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Inhalt
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Heinrich Schule und Kart /Ktn/mf.
Krieg und krankhafte Gristeszastände tm HeWe. j’on B&ifer-Owinsk., 1 t 1 ; '.f r
Unzislänglicne int Kriegsdienst. Von TI' iTirW.em^t^n-Oso.shrücit, ...., 3i- .
Erfahrungen ans d?m Kriege Tiber die jiföotögin ^Sfßh,e|>ÄijK^iogise}lef
K | <• i e $ r n M t f. t r«1 tj'n s e n.
Vereinigung mitteldeutscher Psychiater tuui Neiif otogen m
Zorn 'Andenken A. Alzheimer*. Von Yr/ShHeidefo&rg, *... 'Mi
Frotscher f. Von ßecherßerbara * * • • ■ •. .'•■«- .» • * - v • - t. « e o * . « « | 'ifjf V
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Zweite imtl drittes Heft.
Origioallefi:
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I -
Über unklares Denken und PseudöJogje ha VfitbäTöösblödstnb. Von
/bk. ißen. Jörge * * 4 .* • - V’»r V •> V 4-KrV * ► «-..ivk-t*,» T » # * >1 •» V'* •> »■. * * ;* •> 4 * * * », 4. . m
l iier ein«?« Fall vun Hydmcephaius niaximtts. Von Rutiolf Gnnter-W ormditi. 1 ?ri
Verfeaadltihgeh pkyelri a irisch ct Y#rein£„
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Krinn*c{unw>«» rvüW nKbn Hiv ParrnKiA^tu v» MiWin'hnn *» *1
nnd
?u München am 21.
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IV
Inhalt.
Seite
Afeyer-Königsberg: Uber die Frage der Dienstbeschädigung bei den
Psychosen. 181
Oppenheim- Berlin, Nonne-Hamburg und Gotfpp-Tübingen: Neurosen
nach Kriegsverletzungen. 190
Kleinere Mitteilungen.
Wahnideen im Völkerleben. Von Hana-Laehr . 234
Der Einfluß des Alkohols auf die Treffsicherheit beim Schießen. 300
Personalnachrichten. 301
Viertes Heft«
Originalien.
Zur Pathologie des Querulantenwahnes. Von Hans Seelert- Berlin.303
Die Weiterentwicklung weiblicher Pflege auf Männerabteilungen der
Irrenanstalten, mit besonderer Berücksichtigung der im Königreich
Sachsen gemachten Erfahrungen. Von .dmemonn-Hubertusburg ... 341
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
101. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie in Breslau am
9. Dezember 1916..... v.369
, Ct. Netßer, Eröffnungsansprache ..369
,, 0. 'S. Freund , Tuberöse Gehirnsklerose . 373
Bumke, Zur Paranoiafrage .373
(v. Kunowaki , Zur Theorie der Farbenempfindungen. 376)
Q. Stertz, Zur Pathogenese hysteriformer u. hysterischer Symptome 376
Kleinere Mitteilungen.
Deutscher Verein für Psychiatrie: Rechnungsabschluß. 381
Heinrich LaehrrStiftung ....382
Heinrich Schiile .f. Von Kreuaer. ........382
Fünftes Heft.
Originalien.
Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen.
Von Pieazczek -Kortau.393
Ein typischer Fall von Querulanten Wahnsinn. Von Th. Engelmann-
München.428
Über Tuberkulose in Irrenanstalten. Von H. Löto-Bedburg-Hau.443
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Inhalt.
y
Seite
Kleinere Mitteilnngen.
Selbstmordversuch and Krankenkassenleistang. 485
Nekrolog Grashey. Von SneH-Lüneburg. 489
Deutscher Verein für Psychiatrie. 491
Personalnachrichten.491
Sechstes Heft.
Originalien.
Die Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. Von Harald
Siebert-lAb&n . . 493
Ein epileptisches Mädchen als Rechenkiinstlerin. Von Rudolf Ganter-
Wormditt.. 536
Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse mit besonderer Berück¬
sichtigung der Augensymptone. Von F. Hussels .565
Kleinere Mitteilnngen.
Provinzialheilanstalt Suttrop. 581
Zur Erinnerung an Carl Peknan f. Von Umpfenbach-B onn.681
Leopold Osfer-Konstanz f. Von Max JFwcAcr-Wiesloch.689
Personalnachrichten. 594
Druckfehler. 694
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Rasch hintereinander hat. im Dezember ißl&'.ditf deutsche Psychiatrie,
zwei hervorragende 'Vertreter mlwen. Am starb im t7, Lfebensjahre
infolge eines Schlagaji.faJts ' Heimick ÖßvU in Illenan, am ; nn.lh-*
ftuenzapnernnonie bir laut volieodetea 19, Lebensjahre: K<itl Prlmm tp
Bonn, Beide haben, fast gleichaltrig, jener von Holler in die Psychiatrie
eingefiihrt, dieser aita der Schult',. wenn auch' nicht'der unmittelbaren
Ucterweisiini;, *ifnro&is. her^orgegangen, die 'gewaltige : Entwic.klimg der
psv chiatne m ds>r 3 weiten Hälfte des vnrigen 'J»hrhtnttk'rts: ntcht nur
erlebt, scmdmimich kräftig im ihr mugeurbeiteft beide durch ihre ansy
geprägt«, präehtigi! iVrsöniiehkeit die jüngere» f achgenossen weithin
d«^«ir^'.9n^^et|t|fu9t' Dabei.Wttr:1hre^.gbM^ ; 4(dr^ans verschiede»»
Wehn »cf» iiberi’reitnitifd den Gegensatz rltiutKch inabhen darf, so £t v
scheint mir S'cÄiife sds der begeistert« Seher, der mit scharfem Blick in
die Tiete späht «nd, Optimist im besten Sinne, hinter der Mannigfaltig¬
keit der Krsehemnag. so treu er sie* auffaßt, d&cb'■ zugleich die
Einheit schant, ^ nöd ihm gegenüber JP dm*** als der rphige •
der. im Hinblick auf die Wahrheit tnebscbliehen Wissens voll Zweifel
und nüdtf auf die Widersprüche als auf den Emfcküg gestimmt, die Er¬
kenntnis mehr darauf hin wertet, ob sie als dci$ gondeln» taug«,
und somit hellen Auges wenrget in die Tiefe, als in dje Breite blickt ;
jener daher fruchtbar im Schaffen vo« grüßen ZttsantTnenhängen., dieser
ein Meister der Anwendung, hmdd'.j^8tyd9e; t ^rato^i^v’'|^üsf>-tkf-
schitrfeod und daher in
kUtisches Dunkel zu vertieren v dieser bald \it behagHrki-fo Ptodettmv.
bald in leichter Ironie, Seitener tu scharfer Abweisung oder Spott sich
ergehend, stets aber klar tind vüli sicheren Stilgefühls;.So |ÜMjüütüü■
obwohl er die Berufung au» Universität aussehlug. Von litenab aiisdurch
Sftine$chriften weit über Deutschlands Grenzen hinaus als , wissenschaft¬
licher Lehrer Wirkungen avisgeübt, während Pehmn. erst in höherem
Alter mit seiner Übernahme der Bonner Anstalt zugleich zum Um-
vc?rsitätslehrer ausersehen, auch in diesem Amt mit großem Geschick
und in glücklichster Weise psychiatrisches Interesse und 'psychiatrische
Kenntnisse in weiteten Kreisen verbreitet bat. Beide haben das Glück
gebäht; mit ihrem Lebenswerk vor allem antjh die eügrrre Heimat m
fördern:; blieb AVÄtify .seitdem er als junger Arzt in flleHag'etftttät,
dieser Anstalt bis zu seinem Tode Iren, sohat fiebnan niik .Sueäahßm
von h .lahmt, in denen et aJsLeitgr von St^hatisfMd das cisässfech»?
Irrenwesen im deutschen/'Geiste zu reorganisieren bestrebt svaf;
i iifiniscbeä Heimat erst i« Kic.gburg.' nachher in Grafen borg und Ütuni
gedient, und wie haben beide et verstanden, Vbn didsgu Ausgangte
ptmkien ihrer Tätigkeit die .Spuren ihres Wirkern dem ganze» Land«.'
ifr?r ganzen Provinz einzugraben 1
Oer Deutsche Verein für Psychiatrie betrauert in SrAülc und Hrlnmi-
zewe letzten deutschen öirenmit^lteder. Treu haben sier foit pie itt
jungen Jab red sich dom Verein ansehlosseru an ‘einen Verhandlungen
sich beteiligt und lange dem Vorstand »ngeborf, Ihr Naip.e wird m
JEfwen bleiben, ihre oindruckvftik* d'firsöuiiclikeit nHchhaltig im Ge-
Go, gle
Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
Von
Dr. Baller, Oberarzt der Prov.-Irrenanstalt Owinsk,
zurzeit Assistenzarzt an der Geisteskranken-Station eines Festungslazaretts,
Es ist einmal der Satz ausgesprochen worden, daß dasjenige Volk
im Kriege Sieger sein werde, das über die stärksten Nerven verfüge;
dieser Satz besteht zweifellos zu Recht, und wenn man nach den bis¬
herigen Erfolgen unserer Soldaten in Ost und West und Süd, zur See
und in der Luft auf Grund dieses Satzes zu einem Rückschluß berech¬
tigt ist, so muß man anerkennen, daß es um die Nervenkraft des deut¬
schen Volkes noch gut bestellt sein muß, daß wir noch nicht der De¬
generation anheimgefallen sind in dem Maße, wie vielleicht dieser oder
jener unserer Nachbarn.
Der nun schon fast 2 Jahre tobende Weltbrand ist zweifellos das
gewaltigste Ringen aller Zeiten, zu dem nicht nur alle Zweige der
Wissenschaft und der Technik ihr Bestes hergegeben haben, in dem
auch Lüge und Hinterlist, Grausamkeit und Verletzung aller bisher
geltenden Menschenrechte von seiten unserer Feinde mobil gemacht
worden sind, um unserem Heere und Volke den Untergang zu
bereiten.
Der Krieg ist ein Prüfstein, auf dem alles ausgeschieden wird,
was krank und faul ist, es ist daher kein Wunder, daß im Kriege auch
die Geistesstörungen stärker in Erscheinung treten. Schon in den
letzten Kriegen wurde diese Beobachtung gemacht, und alle Welt war
sich schon im Anfang des jetzigen Krieges darüber einig, daß diese
Tatsache sich in verstärktem Maße auch diesmal wiederholen
werde.
Zeitschrift für Psychiatric. LXXI1I. 1. 1
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2
Baller,
ln der Münchner med. Wochenschrift hat WeygancU 1 ) eine interessante
Zusammenstellung über Geisteskrankheiten im Kriege veröffentlicht. Er
fand im allgemeinen eine Zunahme des Anteils der Psychosen an den Feld¬
zugserkrankungen. Im ersten Halbjahr des Krieges 1870/71 machten die
Geisteskrankheiten 0,37%* der Kopfstärke des Heeres aus, welche Zahl
pro Halbjahr zunahm bis 0,93%o im Jahre 1872, um von da wieder abzu¬
sinken. Im griechisch-türkischen Kriege betrug diese Zahl im türkischen
Heere 2%o', im englischen Heere im Burenkriege 2,5%o ; die China-Ex¬
pedition zeigte sogar an Nerven- und Geisteskrankheiten 8,44%,, eine
enorme Ziffer; der südwestafrikanische Feldzug zeitigte 4,95%, unter
Hinzurechnung der Epileptiker und hysterischen Erkrankungen sogar
8,28%o. offenbar hat das Klima hierbei eine besondere Rolle gespielt.
Im russisch-japanischen Kriege kamen auf 1000 verwundete und kranke
russische Soldaten 3,5 Geisteskranke, auch im japanischen Heere war
die Zahl unverhältnismäßig hoch.
Wenn derartige Erscheinungen zahlenmäßig durch frühere Kriege
festgestellt sind, war eine Zunahme der Geistesstörungen auch in diesem
Kriege zu erwarten. In welchem Maße aber diese Steigerung erfolgt
ist, das festzustellen ist eine interessante Aufgabe, die sich aber nur
dann erst lösen läßt, wenn das ganze Material über Geisteskranke nach
dem Kriege durch Zählkarten zugänglich gemacht worden sein wird.
Die Geisteskrankenstation des Festungslazaretts zeigt daher seit
dem Ausbruch des Krieges keine überraschende Aufnahmeziffer.
Wegen irgendwelcher Vergehen auf kriegsgerichtliche Anordnung
waren von der Gesamtzahl der Aufnahmen zur Beobachtung unter¬
gebracht und sind von uns begutachtet worden 14% der Fälle. Von
den 86% Nichtkriminellen waren 92% geisteskrank und sind mit
entsprechendem Dienstunbrauchbarkeitszeugnis versehen zur Ent¬
lassung gekommen bzw. der öffentlichen Irrenpflege zugeführt worden;
S% waren nicht geisteskrank und konnten dem Ersatztruppenteil als
felddienstfähig, gamisondienstfähig oder arbeitsverwendungsfähig wie¬
der zugeführt werden.
Von den Kriminellen wurden 74% als unzurechnungsfähig begut¬
achtet und zum größten Teile von den Gerichten auf Grund des § 51
RStGB. exkulpiert, bzw. wurde das Verfahren eingestellt. 13%
waren vermindert zurechnungsfähig, 13% waren geistesgesund. Bei
dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäumen, zu betonen, daß
l ) Weygandt , Geisteskrankheiten im Kriege. Münch, med. Wschr.
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
3
gerade von den Kriegsgerichten mit anerkennenswerter Gewissen¬
haftigkeit jedem, auch dem geringsten, Zweifel an der Zurechnungs¬
fähigkeit des Angeklagten Wert beigemessen wird, und daß da, wo
ein entsprechendes Moment auftaucht, auch das Gutachten eines
psychiatrischen Sachverständigen herbeigeführt wird und Beachtung
findet.
Um aber jeden Trugschluß von vornherein auszuschalten, möchte
ich nicht verfehlen zu betonen, daß bei den gewaltigen Menschen¬
massen, die der Krieg erfordert, und bei dem ungeheuren Material,
das bei der Untersuchung auf die Diensttauglichkeit in kürzester Zeit
zu bewältigen war, eher die Möglichkeit vorlag, daß auch ein Geistes¬
kranker zur Einstellung gelangen konnte, als im Frieden; aber diese
Fälle werden auch jetzt zu den Seltenheiten gehören, ebenso wie es
im Frieden nicht möglich ist, trotz sorgsamster Untersuchung, trotz
reichlicher Zeit speziell schwer erkennbare krankhafte Geisteszustände,
wie Dementia praecox im Anfangsstadium, angeborenen Schwachsinn
und epileptische Zustände mit Sicherheit zu erkennen und vor un¬
nötiger Einstellung zu bewahren. Wenn auch die Grenzen der Militär¬
tauglichkeit im Kriege bei der ärztlichen Beurteilung weiter gezogen
sind als im Frieden, so kann doch weder dann noch jetzt auf erbliche
Belastung oder degenerativ verminderte Widerstandsfähigkeit des
Nervensystems des Einzustellenden allzu weitgehende Rücksicht ge¬
nommen werden, und hier liegt der Grund, auf dem sich die Erkran¬
kungsziffer im Kriege auf baut, nämlich, um es kurz zu sagen: Das
degenerierte Nervensystem, das im Frieden und täglichen Leben wie
eine eingearbeitete Maschine ohne Störung funktioniert, gerät in Ver¬
wirrung bei der stärkeren Belastung, die der Krieg auf Energie und
Widerstandsfähigkeit des Individuums ausübt; es bricht zusammen.
ln nachstehender Tabelle bringe ich die Gesamtübersicht, wobei
ich gleich bemerken will, daß ich als Krankheitsbezeichnungen die
Sammelklassen der Kraepelin&chen Nomenklatur aufgeführt habe.
Ich mußte es mir versagen, z. B. bei dem Erschöpfungsirresein oder
der Dementia praecox die einzelnen Unterabteilungen gesondert auf¬
zuführen, ebenso bei den Vergiftungen, dem Irresein des Rückbildungs¬
alters und dem Entartungsirresein; ich komme aber erläuternd in
großen Zügen noch darauf zurück.
Es litten an:
l*
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4
Baller.
“V
Krankheitsbezeichnung
Infektiöses Irresein. (Fieberdelirien
usw.).
Erschöpfungsirresein (Amentia,
Neurasthenie).
Vergiftungen (Alkoholismus).
Dementia praecox.
Dementia paralytica.
Irresein bei Hirnerkrankungen.
Irresein des Rückbildungsalters
Manisch-depressives Irresein.
Paranoia chronica.
Epilepsie.
Hysterie.
Entartungsirresein • (konst. Verst.,
Zwangsirresein usw.).
Psychische Entwicklungshemmung
(Schwachsinn, Idiotie).
Summe: in %
Ge-
Gediente Soldaten |
Unged. Soldaten
samt-
zahl
Davon :
im Felde
gewesen
1 Davon
im Felde
gewesen
1,0 %
0,8 %
0,6 %
0,2 %
—
13,5 %
10,2 %
3,5 %
3,3 %
1,0 %
14,3 %
12,7 %
3,1 %
1,6 %
0,8 %
17,4 %
8,2 %
3,8 %
9,2 %
3,0 %
3,9 %
2,7 %
1,8 %
1,2 %
—
0,6 %
0,4 %
0 2°/
/o
0,2 %
—
0,4 %
0,2 %
0 2 07
y A /o
0,2 %
—
6,0 %
4,7 %
3,0 %
1,3 %
0,4 %
7,6 %
K o o/
°y' y /O
3,2 %
2,3 %
1,2 %
10,7 %
7,7 %
2 2 °A
L 1 L /O
3,0 %
1,2 %
7,8 %
3,6 %
2 4 0/
L y* /oj
4 2 °C
0,4 %
6,8 %
K o/
’l) J /O
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1
3,3 %
0,2 %
10,0 %
4 6 0/
/o
1,8 %
5,4 %
0,6%
O
cP
O
o
T 1 *
27,4 %
35,4 %
8,8 %
Wenn ich zunächst die Diagnosen einer Erläuterung unterziehen
darf, so muß ich bemerken, daß es sich bei dem infektiösen Irresein
um Fälle handelte, die im Anschluß an eine akute Infektion, z. B.
Pneumonie oder eitrige Wundinfektion, erkrankt und ihrer störenden
Unruhe wegen der Geisteskrankenstation von andern Lazaretten über¬
wiesen worden waren.
Die Fälle des Erschöpfungsirreseins werden gebildet vorwiegend
aus der akuten halluzinatorischen Verwirrtheit (Amentia) und schweren
Fällen von Neurasthenie; die Vergiftungen enthalten fast ausschließlich
den chronischen Alkoholismus in seinen verschiedenen Formen mit
Ausschluß der Alkoholepilepsie, bei der ausgesprochene Anfälle
im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen, die der genuinen
Epilepsie zugerechnet worden sind. Das Entartungsirresein, die
Psychopathie, umfaßt vorwiegend Fälle von konstitutioneller Ver¬
stimmung, enthält aber auch, wenn auch vereinzelt, das Zwangs- und
impulsive Irresein sowie die konträre Sexualempfindung. Ein be¬
sonderes Wort will ich noch der Hysterie widmen, die mit 7,8% ver¬
zeichnet steht. Bei kaum einer der angeführten Geistesstörungen
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
O
außer vielleicht den Erschöpfungspsychosen erkennt man so deutlich
die Wirkung des Krieges mit seinen Schädigungen wie hier; denn in
einer großen Zahl sind es gerade Granat- und Minenexplosionen sowie
direkte oder indirekte Geschoßwirkungen, auf die man mit absoluter
Sicherheit den Ausbruch des Leidens zurückführen kann, traumatische
Hysterie im wahrsten Sinne des Wortes, deren interessanteste Fälle
ich in Kürze weiter unten zu erwähnen mir Vorbehalte.
Das Material, das in vorstehender Tabelle vereinigt ist, umfaßt
alle Stände und Berufsklassen des Volkes, alle Lebensalter vom 18. bis
45. Jahre, und stellt somit einen erheblichen Ausschnitt aus dem
Volke im ganzen, selbstverständlich nur in seinem männlichen Teile,
dar. Will man daher ein Vergleichsobjekt heranziehen, so wird man
gut tun, die Statistik einer öffentlichen Irrenanstalt heranzuziehen,
die, soweit der männliche Teil des Krankenbestandes in Betracht
kommt, annähernd ähnliche Verhältnisse darbieten wird, wie das gegen¬
wärtige Material der militärischen Geisteskrankenabteilung.
Eine vorzügliche Arbeit von Weyert *), die soeben erschienen ist,
enthält eine Zusammenstellung aller Fälle von Geisteskrankheit
innerhalb eines Jahres, und zwar vom 1. Oktober 1911 bis 30. September
1912, also im Frieden. Schon der erste Blick auf beide Tabellen zeigt
gewaltige Unterschiede, und zwar besonders bei dem Erschöpfungsirre¬
sein, den Vergiftungen (Alkoholismus), der Paralyse und der Paranoia.
Weyert hat im ganzen 106 Fälle, seine Zusammenstellung darf wohl mit
Eecht als die Normalzahl der Geisteskrankheiten in unserem Friedens¬
heere angesprochen werden, sowohl was die Gesamtzahl im Verhältnis zu
einem bestimmten Aufnahmebezirk und damit zu einem bestimmten
Kopfstärkeabschnitt des Friedensheeres anbetrifft, als auch in ihrem
prozentualen Verhältnis untereinander. Seine Statistik fordert gerade¬
zu zu einem Vergleiche heraus, ein Versuch dazu scheitert jedoch, weil
es auch nicht einmal schätzungsweise möglich ist, das Prozentverhältnis
der Krankheitsfälle zu der Kopfstärke des jetzigen Aufnahmebezirks
anzugeben. Das wird einer Generalstatistik Vorbehalten bleiben
müssen, die das ganze Kriegsheer umfaßt. Nur der Vergleich der
einzelnen Krankheitsfälle der beiden Tabellen gestattet einen gewissen
Rückschluß, und da zeigt sich in meiner Statistik ein gewaltiges Über¬
wiegen des Erschöpfungsirreseins, insonderheit der Neurasthenie,
1 ) Weyert, Militär-psychiatrische Beobachtungen und Erfahrungen.
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6
Baller,
wobei ich gleich bemerken will, daß bei mir unter dieser Rubrik nur
Fälle erscheinen mit durchaus psychotischem Charakter; ferner des Al¬
koholismus, der Paralyse, des manisch-depressiven Irreseins, der Para¬
noia und der Hysterie, und ich glaube nicht fehlzuschließen, wenn ich
diese Tatsache als Folgeerscheinung des Krieges ansehe, wenigsten»
was die Erschöpfungspsychosen, das manisch-depressive Irresein und
die Hysterie, insonderheit die traumatische Form derselben, anbe¬
trifft. Die Paranoia zeigt bei mir ebenfalls eine hohe Ziffer, dagegen
die Dementia praecox verhältnismäßig nicht. Hier muß ich jedoch
zugeben, daß wahrscheinlich andere Beurteiler ein gut Teil Paranoia¬
fälle der Dementia paranoides und damit der Dementia praecox zu¬
gerechnet hätten; es ist dieser Fehler jedoch damit entschuldbar, da&
einmal die scharfe Abgrenzung beider Krankheitsbilder noch nicht von
allen Psychiatern in gleicher Weise durchgeführt wird, anderseits ist die
Differentialdiagnose bei jugendlichen Individuen und damit bei frischen
Erkrankungen leichter als bei alten Fällen, bei denen charakteristische
Symptome schon vielleicht verblaßt oder gar ganz geschwunden sind.
Ich lasse nachstehend die auf hundert umgerechneten Ziffern der
einzelnen Krankheiten folgen und bezeichne Weyerts Statistik mit:
Friedens-, die meine mit Kriegsstatistik; es ergibt sich danach folgende
Gegenüberstellung:
Friedens¬
statistik
Kriegs¬
statistik
Infektiöses Irresein.
—
1,0%
Erschöpfungsirresein.
4,7+0,9% i)
13,5%
Alkoholismus.
8,5%
14,3%
Dementia praecox.
21,7%
17,4%
Dementia paralytica.
0,9%
3,9%
Irresein bei Hirnerkrankungen.
3,8%
0,6%
Paranoia chronica.
0,9%
7,6%
Epilepsie.
10,4% !
10,7%
Hysterie.
3,8%
7,8%
Entartungsirresein.
23,6%
6,8%
Psychische Entwicklungshemmung.
18,9%
i 10,0%
Irresein des RQckbüdungsalters.
—
0,4%
Manisch-depressives Irresein.
1,9%
6,0%
') Weyen hat die Amentia gesondert aufgeführt.
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Krieg and krankhafte Geisteszustände im Heere. 7
Wenn man beide Zahlenreiben vergleicht, so findet man bei Weyeri
den Schwerpunkt auf der Dementia praecox, dem Entartungsirresein
und den psychischen Entwicklungshemmungen liegen, und das ist
kein Wunder. Diese Psychosen treten erfahrungsgemäß in den Ent¬
wicklungsjahren in Erscheinung, also zu einer Zeit, der das aktive Sol¬
datenmaterial entstammt. Es ist daher durchaus ein logischer Schluß,
daß sie prozentualiter zurücktreten müssen und gewissermaßen in
Verdünnung erscheinen bei einem Soldatenmaterial, das sich zum
großen Teil aus weit höheren Lebensaltern zusammensetzt, die ihrer¬
seits neue spezifische Krankheitsformen mit sich bringen, wie das im
Kriegsheere der Fall ist. Trotz alledem trifft auch auf meine ent¬
sprechenden Zahlen ein hoher Prozentsatz, wie er ähnlich nur von dem
Erschöpfungsirresein, dem Alkoholismus, der Paranoia chronica, der
Hysterie und dem manisch-depressiven Irresein erreicht wird. Diese
fikkrankungsformen erscheinen bei Weyert nur mit kleinen Zahlen.
Nimmt man den Jahresbericht einer öffentlichen Irrenanstalt vor,
wie mir ein solcher von Owinsk gerade vorliegt, so wird man ebenfalls
bestätigt finden, daß, abgesehen vielleicht von dem Alkoholismus und
der Paranoia, welche Zahl in Owinsk allerdings besonders hoch ist,
Erschöpfungspsychosen, manisch-depressives Irresein und Hysterie
bei den männlichen Zugängen in Friedenszeiten ein verschwindend
geringes Kontingent stellen, geringer noch, als sie Weyert zu beob¬
achten Gelegenheit hatte.
Wenn ich die mir zur Verfügung stehende Literatur durchmustere,
so muß ich anführen, daß Meyer *) - Königsberg in einer Statistik über
die ersten drei Monate des Krieges zu ähnlichen Resultaten gekommen zu
sein scheint: er fand für Psychogenie oder Hysterie + traumatische Neu¬
rose im ganzen 24%, ich für Erschöpfungspsychosen + Hysterie zusammen
21,3%; er fand für manisch-depressives Irresein 4%, ich 6%; er fand für
Alkoholismus 16%, ich 14,3%. Also auch dort, und zwar im Anfang
des Krieges, eine erhebliche Zunahme der, ich möchte geradezu sagen
spezifischen Erscheinungsformen der krankhaften Seelenzustände gegen¬
über derselben Kategorie im Frieden. Auch Meyers Untersuchungs¬
material umfaßt dieselben Altersklassen wie das meinige, es setzt sich
aus Landsturm, Landwehr, Reserve, Ersatzreserve und aktiven Mann¬
schaften zusammen. Erwähnenswert ist noch, daß er für die Landwehr und
Reserve 60% aller Erkrankungen zu verzeichnen Gelegenheit hatte.
1 ) Meyer, Psychosen und Neurosen in der Armee während des Krieges.
Münch, med. Wschr.
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8
Baller,
Moll *) berichtet in einem Vortrage: Psychiatrisches vom Kriegs¬
schauplatz, über seine Beobachtungen in den Lazarettea Belgiens. Er
spricht sich im allgemeinen befriedigend über den seelischen Gesundheits¬
zustand unseres Feldheeres aus; er habe auf dem westlichen Kriegsschau¬
platz in den Lazaretten Frankreichs und Belgiens nur wenig Geisteskrank¬
heiten, etwas häufiger nervöse Störungen gesehen. Er erwähnt, daß in
Brüssel unter 120 Kranken, der Mehrzahl nach organischen Nervenver¬
letzungen, 5 primäre Alkoholpsychosen, 13 Paralysen, 17 Epileptiker und
16 Hysterische vorhanden waren, ebenso wurden Fälle von Erschöpfungs¬
psychosen beobachtet; Zahlen hierfür sind nicht genannt.
Bonhoeffer *) fand auf 100 psychisch - nervös Erkrankte 33,3 %
psychopathische Konstitution, 10% Schizophrenie (Dementia praecox).
Ich kehre nunmehr zu meiner Statistik zurück.
Von den zur Aufnahme gelangten Kranken waren 64,6% ge¬
diente Leute, das heißt solche, die schon in Friedenszeiten ihrer Militär¬
pflicht genügt hatten oder bei Ausbruch des Krieges gerade dienten.
35,4% waren „ungediente“ Leute, also Kriegsfreiwillige, Ersatz¬
reserven, unausgebildeter Landsturm und ähnliche. Wie groß in
unserem Feldheere gegenwärtig das Verhältnis der gedienten zu den
ungedienten Mannschaften (in oben erwähntem Sinne) ist, wage ich
nicht zu entscheiden, es will mir jedoch scheinen, als entspräche das
Verhältnis 65 :35, in welchem nach vorstehender Tabelle ungefähr
„gediente“ und „ungediente“ Mannschaften als Kranke zur Behand¬
lung kamen, keineswegs dem Kopfstärkeverhältnis beider Kategorien
im Heere, ich glaube vielmehr, daß der Faktor der Ungedienten viel
kleiner sein muß, woraus zu folgern wäre, daß die „Ungedienten“ in
erhöhtem Maße in Gefahr seien, einer Erkrankung anheimzufallen,
als die „Gedienten“; es wäre ja anders auch verwunderlich, da die
Ungedienten doch zum größten Teil diejenigen Individuen sind, die
irgendwelcher Fehler oder Gebrechen wegen seinerzeit zum aktiven
Heeresdienst nicht brauchbar waren, welche zweifellos auch einen
größeren Prozentsatz degenerierter Nervensysteme aufweisen als die
gediente Klasse. Das erhellt auch aus gewissen Einzelzahlen, z. B.
den der Dementia praecox, woran erkrankt waren von gedienten
Mannschaften 8,2%, von Ungedienten 9,2 %;der Hysterie: gedient
3,6%, ungedient 4,2%; dem Entartungsirresein: gedient 3,5%, un-
1 ) Moll, Psychiatrisches vom Kriegsschauplatz. Vortrag.
2 ) Bonhoeffer, Psychiatrisches zum Kriege. Ztschr. f. ärztl. Fort¬
bildung.
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. ÖL
gedient 3,3%, und bei der psychischen Entwicklungshemmung gedient
4,6%, ungedient 5,4%. Alle übrigen Zahlen zeigen entsprechend dem
Gesamtverhältnis der Erkrankungen eine gewisse Minderheit bei den
Ungedienten, die allerdings bei dem Alkoholismus auffallend
niedrig ist.
Von der Gesamtsumme meiner Kranken waren im Felde und
sind vorwiegend dort erkrankt im ganzen rund 36%, das sind etwa
der dritte Teil. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß sicherlich mehr
Truppen an den verschiedenen Fronten im Kampfe stehen, als in der
Heimat bei dem Besatzungsheere, so rechtfertigt diese Tatsache die
Beobachtung Molls (oben zitiert), nämlich daß ausgesprochene Geistes¬
krankheiten in den Lazaretten des Feldheeres im Verhältnis zu den
enormen Truppenmassen verhältnismäßig nicht häufig sind. Geht man
dieser Erscheinung auf den Grund und forscht man nach einer Er¬
klärung, so folgt daraus, daß die Widerstandskraft des Nerven¬
systems unserer Feldsoldaten doch eine recht zähe sein muß, die Ent¬
behrungen und Strapazen, mechanische und psychische Insulte, wie
sie der moderne Krieg in höchster Potenz mit sich bringt, nicht zu
zermürben imstande sind. Anderseits fällt aber auch vielleicht ein be¬
scheidener Teil des Verdienstes auf die Organisation des militarärztlichen
Dienstes und die Truppenärzte in den Heimatgamisonen zurück, die
es verstanden haben, trotz Häufung des Materials bei der Beurteilung
des Ersatzes unsichere Elemente von der Front zurückzuhalten, die
bei der ersten besten Gelegenheit im Felde erkrankt wären und für
die allzeit kampfbereite Truppe nur einen lästigen Ballast, ja sogar
in verantwortungsreichen Momenten eine große Gefahr bedeutet
hätten.
Alkoholismus und chronische nervöse Erschöpfung haben die
meisten Erkrankungen zur Folge gehabt; nächstdem kamen am
häufigsten Hysterie und Paranoia chronica zur Beobachtung. Auch
die ErkrankungsVerhältnisse bestätigen die oben angeführte Ver¬
mutung, daß einmal der Gesundheitszustand an der Front und damit
unseres gesamten Feldheeres ein verhältnismäßig besserer sein muß,
als der des Besatzungsheeres, anderseits bestätigen sie aber auch, daß
nicht die Strapazen und Schrecken der Feldschlacht bzw. des Schützen¬
grabenkrieges allein die Ursache von „Kriegspsychosen“ sind, sondern
daß auch in der Heimat krankmachende Faktoren vorhanden sind,
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UNIVERSETY OF MICHUjAN
.10
Baller,
die ebensowohl deletäre Wirkungen auf ein Nervensystem auszuüben
imstande sind.
Kann man nun bestimmte Begleitumstände des Krieges für das
Zustandekommen von Geistesstörungen verantwortlich machen, und
welcher Weise ist die Zunahme der Krankheitsfälle zu erklären? Ich ,
möchte die zweite Frage vorausnehmen und das näher erörtern, was
ich schon eingangs erwähnte, nämlich daß die Nutzbarmachung aller
wehrfähigen Mannschaften zur Folge hatte, daß auch Elemente zur
Einstellung gelangten, die in Friedenszeiten nicht als tauglich bezeichnet
worden wären.
Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Alkoholismus nor¬
malerweise seine pathologischen Züge im mittleren Mannesalter ent¬
faltet, so wird man verstehen, daß ein Anwachsen der auf ihn zurück¬
zuführenden Krankheitsfälle dann statthaben muß, wenn diese Jahr¬
gänge fast den größten Bestandteil des Heeres ausmachen, nämlich
im Kriege. Die Aushebung kann nicht haltmachen vor jedem, der
vielleicht schon äußerlich die Zeichen eines chronischen Alkoholismus
an sich trägt. Ja es wäre auch durchaus undurchführbar, bei dem
Ersatzgeschäft jeden einzelnen daraufhin zu prüfen, ob er vielleicht
im Vorleben Momente aufzuweisen hat, die den Ausbruch einer geistigen
Störung befürchten lassen könnten. Genau dasselbe trifft für die
Dementia praecox, die Epilepsie, die Psychopathie und den Schwach¬
sinn zu. Kommen doch schon im Frieden trotz sorgfältiger Auswahl¬
möglichkeit gelegentlich derartige Fälle zur Einstellung, wie vielmehr
im Kriege, wo nicht Zeit zu weitgehendster Prüfung vorhanden ist,
wo auch die Grenzen der Tauglichkeit weiter gesteckt werden als im
Frieden. Ich möchte daher die Anzahl der Krankheitsfälle, die ledig¬
lich diesem Umstande zur Last gelegt werden müssen — und es sind
das nicht wenige, aber leider wird man sie in einer Statistik kaum
ganz abtrennen können —, als die physiologische Wirkung des Krieges
bezeichnen, im Gegensatz zu jener andern, der pathologischen Wirkung,
wo nämlich der Krieg mit seinen Begleitumständen das auslösende
oder mindestens das verschlimmernde Moment darstellt, also in den
Fällen, wo gutachtlich „Kriegsdienstbeschädigung“ angenommen wer¬
den muß.
Um diese Frage zu erörtern, will ich jede einzelne Erkrankungs¬
gruppe gesondert besprechen, um darzustellen, in welcher Weise dem
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
11
Kriege Wichtigkeit als auslösendes Moment beizumessen ist. Es
wäre weit gefehlt, wollte man den Begriff: Krieg nur auf die Gescheh¬
nisse und die Tätigkeit des einzelnen an der Front beschränken. Auch
dem Dienste hinter der Kampflinie und in der Heimat drückt er seinen
spezifischen Stempel auf; es sind so viel neue Faktoren, die er mit sich
bringt, daß die Tätigkeit jedes Soldaten gegenwärtig mit derjenigen
im Frieden gar nicht oder nur schwer verglichen werden kann.
Als hervorstechendste Momente nenne ich: Unterkunftsverhält¬
nisse, Intensität des Dienstes und vor allem psychische Momente,
und möchte besonders das letztere vorweg an der Hand eines Beispiels
kurz erörtern, das dem Material der hiesigen Station entnommen
wurde und höchst charakteristisch ist:
Es handelt sich um einen jungen, kräftigen Kriegsfreiwilligen, der
bei einem hiesigen Fußartillerie-Ersatzbataillon eingestellt und ausge¬
bildet wurde. Er stammte aus psychisch gesunder Familie, war zwar stets
gesund gewesen, soll aber stets ein leicht sensibler, ängstlicher Mensch
gewesen sein. Mit Lust und Liebe war er Soldat geworden und zeigte großen
Eifer; plötzlich, als er sich gerade auf Wache befand, kam er abends unter
allen Anzeichen der Angst und des Entsetzens in das Wachlokal gestürzt,
schrie, die Russen seien hinter ihm, er habe sie in hellen Haufen anschleichen
sehen, habe Zurufe und Gewehrfeuer gehört, und grill zu seinen Waffen.
Er zeigte einen durchaus deliriösen Zustand, hatte massenhaft Sinnes¬
täuschungen und lebhafte Angst und Unruhe und wurde in diesem Zu¬
stande am selben Abend noch der Geisteskrankenstation zugeführt. Auch
dort zeigte er noch vollständige Verwirrung und Sinnestäuschungen, be¬
ruhigte sich aber allmählich und wurde wieder klar, so daß er nach nicht
zu langer Zeit wieder entlassen werden konnte.
Das Krankheitsbild, das er darbot, mußte mit Recht der akuten
halluzinatorischen Verwirrtheit, der Amentia, zugerechnet werden. Und
der Grund? Kongenitale Entartung und Mobilmachungserregung.
Derartige Fälle sind schon häufiger beobachtet und beschrieben
worden, für die von Fuchs *) der Sammelname „Mobilmachungspsychosen“
geprägt worden ist, der rein ätiologisch-symptomatologisch aufzufassen
ist. Als Mobilmachungspsychose bezeichnet er jene Fälle, „bei denen aus
einer primären, durch die Mobümachung bzw. Einziehung zur Armee
erzeugten Erregung hilfloser Angst die Psychose hervorwuchs“. Er gibt
im weiteren einen genauen Abriß dieser Erkrankungsform; ich will nicht
weiter darauf eingehen und verweise im übrigen auf die zitierte Schrift,
die alles Nähere darüber enthält.
1 ) Fuchs, Mobilmachungspsychosen. Ärztl. Sachv.-Ztg. 1915, Nr. 3.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
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Baller,
Auch unter der Zivilbevölkerung sind derartige Mobilmachungs¬
psychosen zur Beobachtung gekommen, wenn auch nicht in bedeuten¬
dem Maße; denn eine Umfrage bei allen deutschen Irrenanstalten
darüber, ob in den ersten Kriegsmonaten sich eine Steigerung der
Aufnahmeziffer von frisch erkrankten Geisteskranken aus der Zivil¬
bevölkerung geltend gemacht habe gegenüber demselben Zeitraum
in Friedenszeiten, hat nur aus wenigen Anstalten eine bejahende Ant¬
wort gezeitigt, darunter jedoch einige, die ausdrücklich die Mobil¬
machung und den Krieg als Ursache der Geistesstörung hervorheben 1 ).
Was nun die Unterkunfts- und Dienstverhältnisse der Truppen
im Kriege, und zwar zunächst in der Heimat, anbetrifft, so muß man
anerkennen, daß sie ebenfalls zum Teil andere sind als im Frieden.
Jetzt häufig Unterbringung in Baracken mit einem beschränkten Luft¬
kubus auf den Kopf der Insassen, im Frieden der Aufenthalt in hy¬
gienischen Kasernen. Dazu die erhöhten Anstrengungen der Aus¬
bildungszeit, die bei möglichster Kürze doch so umfassend sein muß,
daß der kämpfenden Truppe ein nach allen Seiten hin durchgebildeter
Ersatz zugeführt werden kann; ich kann mir wohl vorstellen, daß
diese Tatsachen nicht spurlos vorübergehen an Menschen mit labilem
Nervensystem, zumal bei bisher unausgebildeten, älteren Leuten, die
gegen eine gewisse Behaglichkeit ihrer bisherigen Lebensführung nun¬
mehr diesen Kontrast einzutauschen gezwungen sind. Heimweh,
Sorge um das wirtschaftliche Fortkommen der Angehörigen kommt
hinzu und ist sicherlich geeignet, die Psyche bei labilen, sensitiven
Naturen ungünstig zu beeinflussen, so daß durch alle diese Umstände
der Boden wohl vorbereitet erscheint, auf dem psychische Erkrankungen
erwachsen können.
Ich wende mich nunmehr den einzelnen Krankheitsformen zu
und beginne mit dem infektiösen Irresein.
Man versteht hierunter eine Geistesstörung, die durch Infektions¬
gifte erzeugt wird. Schon die kürzesten Infektionskrankheiten können
deliriöse Fieberzustände im Gefolge haben mit Bewußtseinstrübungen,
Sinnestäuschungen und Wahnideen, die aber verschwinden, wenn die
Temperatur sinkt, die daher als echte Geistesstörungen noch nicht
anzusprechen sind. Dazu werden sie erst, wenn sie auch bei normaler
M Psych.-neurol. Wschr. 1915/16, Nr. 29—32.
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
18
Temperatur oder mäßigen Erhöhungen derselben fortbesteh en. Ihre
Erklärung finden sie in der Überschwemmung des Körpers mit Toxinen
einerseits und einer Widerstandsschwäche des Körpers und insonder¬
heit des Zentralnervensystems andrerseits. Anatomisch hat man Ver¬
änderungen der Zellelemente des Gehirns gefunden, von deren Wieder¬
aufnahme der Funktion oder deren Zug-rundegehen die Heilung oder
das Fortbestehen der akuten Psychose abhängig ist.
In 1° 0 der Fälle kam infektiöses Irresein hier zur Beobachtung.
Schwere Eiterungen komplizierter Schußverletzungen sowie akute In¬
fektionskrankheiten (Pneumonie) waren der Anlaß. Wenn auch in der
Infektion selbst ein körperschwäehendes Moment gesehen werden muß.
so darf man sicherlich eine erhöhte Disposition da annehmen, wo durch
Lebensführung oder körperliche und seelische Strapazen die Wider¬
standskraft des Körpers, die bei der Unschädlichmachung irgend¬
welcher Toxine eine so enorme Rolle spielt, beeinträchtigt ist. Dieser
Faktor kommt dem Kriege zweifellos zu. Ich bin weit davon entfernt,
in der durch äußere Einflüsse erzeugten körperlichen und seelischen
Erschöpfung allein die Vorbedingung für diese Geistesstörung zu sehen,
ein begünstigendes Moment ist sie aber unter allen Umständen, und
kein Vorgang ist so zur Schaffung von Erschöpfungszuständen ge¬
eignet wie gerade der Krieg, in erster Linie beim Feldheer, aber auch
in der Etappe und in der Heimat. Das wird am deutlichsten bewiesen
durch die erhebliche Zahl der Erschöpfungsneurosen in den Heimat¬
lazaretten, und auch auf der Geisteskrankenstation erschienen sie in
13.5% mit ausgesprochen psychotischem Charakter.
Unter der Bezeichnung: Erschöpfungsirrespin faßtJV raepelin 1 »
drei Krankheitsgruppen zusammen, als deren Ursache ein übermäßiger
Verbrauch oder ein ungenügender Ersatz von Nervenmaterial in der
Hirnrinde anzusehen ist. Das ist der Fall bei schweren körperlichen
Umwälzungen, wie Krankheit, Blutungen usw., sowie bei körperlichen,
geistigen und gemütlichen Überanstrengungen. Diese drei Krank¬
heitsgruppen sind das Kollapsdelirium, die akute halluzinatorische
Verwirrtheit oder Amentia und die chronische, nervöse Erschöpfung
<>der Neurasthenie. Auf das Kollapsdelirium will ich nicht näher
eingehen, da ich Belege dafür unter meinem Material nicht habe, ebenso
11 Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie.
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14
Baller,
kann ich mir die klinische Schilderung der Amentia ersparen, deren
Symptome ich schon oben in dem erwähnten Fall von Mobilmachungs¬
psychose angeführt habe. Unter meinen 13,5% waren eine erhebliche
Anzahl von akuter halluzinatorischer Verwirrtheit, bei denen die
Causa morbi lediglich in Erschöpfung zu suchen war. Die Sinnes¬
täuschungen drehten sich fast vorwiegend um Erlebnisse aus dem
Dienste, die Kranken hörten Gewehr- und Artilleriefeuer, glaubten sich
im Kampfe, sahen Feinde und ähnliches. Der Ausgang war meist eine
Genesung, sobald der sehr geschwächte, oft blutarme Körper und das
hochgradig reizbare Nervensystem langsam zur Ruhe und Kräftigung
gekommen war.
Die größte Mehrzahl aller Fälle wurde aber durch die schweren
Erscheinungsformen der Neurasthenie gebildet.
Den meisten gebildeten Menschen ist der Begriff Neurasthenie
oder Nervosität aus dem alltäglichen Berufsleben her geläufig. Elin
jeder verbindet damit die Vorstellung von Unlustgefühlen, Reizbarkeit,
schneller Ermüdung und subjektiven Beschwerden mannigfacher Art,
und dieser Symptomenkomplex trifft im allgemeinen das Richtige;
das sind auch die Anzeichen, die eine ungeheure Anzahl von Kriegs¬
teilnehmern mit aus dem Felde bringen, und die eine Lazarettbehand¬
lung notwendig machen. Solange die Erscheinungen sich in diesem
Rahmen halten, hat man keinen Grund, von Psychosen zu sprechen.
Aber die Grenzen, die geistige Gesundheit und Seelenstörung trennen,
sind auch hier, oder gerade hier, flüssig, und man muß Symptome
dann den Geisteskrankheiten zuzählen, wenn sie die freie Willens-
bestimmung beeinträchtigen oder so in den Vordergrund treten, daß
sie alles Denken und Handeln überwuchern.
Geistige und körperliche Anstrengung ohne ausreichende Er¬
holung durch Ruhe und Schlaf sind der Boden, auf dem die chronische
nervöse Erschöpfung erwächst. Kraepelin führt als prädisponierende
Tätigkeit an unter anderem Krieg und Manöver. Was der Krieg und
ganz besonders der gegenwärtige für Anforderungen an Körper und
Nerven stellt, davon kann sich nur der einen wahren Begriff machen,
der tage-, ja wochenlange Verfolgungsmärsche ohne Ruhe und Rast
mitgemacht hat, der stundenlang im Granatfeuer hat ausharren
müssen in dem Bewußtsein, jeden Moment durch einen Volltreffer
zerrissen zu werden. Es ist zweifellos richtig, wenn ich sage, daß der
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
15
jedem Menschen innewohnende Selbsterhaltungstrieb einen schweren
Kampf auszufechten hat mit der Energie und dem Ehrgefühl in Mo¬
menten, wo man im Granatfeuer unbekümmert um alles streng seine
Pflicht zu tun hat.
So ist es denn kein Wunder, wenn sich die gewöhnliche Reizbar¬
keit bis zu raptusartiger Erregung, das Ermüdungsgefühl bis zur
Apathie, die Verstimmung bis zur Melancholie mit Selbstmordideen
steigern kann, sogar Sinnestäuschungen und Verfolgungsideen treten
in schwersten Fällen in Erscheinung. Dazu kommen quälende sub¬
jektive Empfindungen, wie Herzbeschwerden, Parästhesie, Kopf¬
schmerz und Schlaflosigkeit, Angstzustände und Todesfurcht, kurz
Krankheitserscheinungen, die die Bezeichnung Erschöpfungspsychose
durchaus rechtfertigen.
Ein typisches Beispiel möge das Gesagte erläutern:
Ad., ein 21jähriger kräftiger Mann, außer durch Potatorium seines
Vaters erblich nicht belastet, diente bei Ausbruch des Krieges aktiv und
rückte sofort mit seinem Truppenteil aus, zuerst nach dem Osten, dann
an die Westfront. Dort hatte er alle Operationen seines Regiments unver¬
drossen und mit freudiger Begeisterung mitgemacht, war im Bewegungs¬
kriege stets einer der ersten, im Stellungskriege häufig auf den gefährlich¬
sten Posten, hatte Trommelfeuer und Angriffe über sich ergehen lassen
und erfreute sich bei seinen Kameraden allgemeiner Wertschätzung, bei
seinen Vorgesetzten allgemeiner Zufriedenheit, was aus seinem Dienst¬
zeugnis hervorging. Da wurde er selbst durch einen Streifschuß leicht
verwundet und kam ins Feldlazarett, aber nach kurzer Zeit wieder zur
Truppe zurück, wo er wieder allen Strapazen in alter Weise ausgesetzt
war, und da gerade dort und zu jener Zeit wegen drohender Angriffe
des Feindes erhöhte Wachsamkeit und Anspannung aller verfügbaren
Kräfte erforderlich war, war es manchmal mit der notdürftigsten Ruhe
schlecht bestellt. Da traten die ersten Erschöpfungserscheinungen bei ihm
zutage. Er wurde reizbar und unfreundlich, was seinen Kameraden all¬
gemein auffiel, er wurde nachlässig und unzuverlässig im Dienst, was ihm
von seinem Kompagnieführer die Notiz: „Seit seiner Rückkehr aus dem
Lazarett Führung schlecht“ eintrug. Er begann, auf dem vordersten
Grabenposten Unfug zu treiben, schüttete das Pulver aus den Patronen
und verbrannte es, schoß durch einen Baum, um die Durchschlagskraft
seines Gewehres zu probieren, saß oft apathisch da, kurz er wurde zur
Kompagnie zur Bestrafung zurückgeschickt, von da aber mit einem Auftrag
wieder nach vorn. Hier kam er nicht an, war verschwunden und wurde
nach Monaten erst wieder in einem russischen Gefangenenlager entdeckt,
wo er — er hatte sich einen russischen Namen beigelegt — als russischer
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Baller,
Zivilgefangener interniert war. Er wurde unter Anklage gestellt, und da
er dem Gericht nicht zurechnungsfähig erschien, der Geisteskranken¬
station zur Beobachtung überwiesen.
Hier zeigte er bei der körperlichen Untersuchung alle Anzeichen
einer neurasthenischen Erkrankung, gesteigerte Sehnenreflexe, Tremor der
Lider, Zunge und Hände, starke Erregbarkeit der Herztätigkeit mit leichter
Vergrößerung, Hyperhidrosis der Achselhöhlen, sehr starke Gefäßerregbar¬
keit und Schmerzhaftigkeit der Nervenaustrittsstellen. Er war derart
ängstlich erregt, daß er unter das Bett kroch, weil er sich vor der Unter¬
suchung fürchtete, und erst nach Tagen hatte er sich soweit beruhigt,
daß er für eine Exploration zugänglich war. Nun schilderte er seine Er¬
lebnisse und seinen Seelenzustand. Er habe Angstzustände bekommen,
die ihm den Schlaf geraubt hätten, bei jedem Einschlag von Granaten sei
er fast besinnungslos geworden, nirgends habe er Ruhe gehabt, jedes Ge¬
räusch, jede harmlose Spötterei seiner Kameraden habe ihn in tobsüchtige
Wut versetzt. Als er nach Genesung von seiner Verwundung zur Truppe
zurückmußte, seien seine Beschwerden in verstärktem Maße in Erscheinung
getreten. Er habe manchmal nicht mehr gewußt, was er tat, habe maßlose
Kopf- und Rückenschmerzen gehabt und sei im Schlaf oft aufgeschreckt,
weil er sich beim Namen rufen hörte. Seine Verzweiflung habe sich zur
Todesangst gesteigert, ihm sei der Gedanke gekommen, wenn er nur noch
einmal seine Mutter sehen könnte, dieser Gedanke habe alles bessere Gefühl
so überwuchert, daß er ihn habe ausführen müssen, und so machte er sich
auf zu Fuß nach der Grenze und in die ferne Heimat.
Auf der Station war er anfangs sehr erregt, er weinte bei jeder Ge¬
legenheit, beklagte sein Schicksal und wünschte sich den Tod, da er, mit
der Schande der Fahnenflucht bedeckt, sich in seiner Heimat nicht blicken
lassen könne.
Ich habe den Mann als geisteskrank begutachtet, denn zweifellos
befand er sich bei der Begehung seiner strafbaren Handlung in einem Zu¬
stande von krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch welchen die
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Vom Kriegsgericht wurde
daraufhin das Verfahren eingestellt.
Ich habe gerade diesen Fall hier als Beispiel herangezogen, weil die
von dem Kranken gemachten Schilderungen zum größten Teile durch
Zeugenvernehmungen erhärtet waren und das Entstehen der Erkrankung
aus Anlaß der Kriegsstrapazen somit einwandfrei bewiesen ist.
Selbstverständlich zeigen nicht alle Fälle von chronischer, nervöser
Erschöpfung diese Intensität, aber der Symptomenkomplex ist meist
der gleiche, und das auslösende Moment in der Mehrzahl der Fälle die
erhöhte Anforderung des Militärdienstes, wobei ich noch einmal wieder¬
holen will, daß die nervöse Disposition bei dem Zustandekommen eine
erhebliche Rolle spielt.
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
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Auf die psychischen Momente des Schützengrabenkrieges mit allen
seinen Faktoren hat auch Meyer (oben zitiert) bei der Beschreibung
dieses Krankheitsbildes hingewiesen, und man geht zweifellos nicht
fehl, wenn man die chronische nervöse Erschöpfung im Heere als eine
Kriegskrankheit xat ifrzyv bezeichnet.
Ganz anders verhält es sich mit dem Alkoholismus. Es ist
sicher kein Zufall, wenn von meinen Fällen nur der geringere Teil im
Felde gewesen war; Alkoholismus an der Front gehört eben zu den
Seltenheiten, und Moll (oben zitiert) hat ganz recht, wenn er sagt,
er habe im Felde nur wenig Trunksucht oder deren Folgen gesehen.
Die Formen, unter denen der Alkoholismus auf der Geistes¬
krankenstation hier in Erscheinung trat, waren hauptsächlich das
Trinkerdelirium, der pathologische Rauschzustand, die Dipsomanie
und die Alkoholparanoia. Eine spezifische Wirkung des Krieges an der
Front habe ich in keinem Falle konstatieren können, abgesehen von
vielleicht vereinzelten Einflüssen auf die Wahnbildung oder einzelnen
akuten Alkoholdelirien, bei denen man als disponierendes Moment eine
nervöse und körperliche Schwächung durch den Krieg anzunehmen
berechtigt war, auf welcher Grundlage ein gelegentlicher Alkoholabusus
seine toxischen Wirkungen krasser entfalten konnte. Wenn trotzdem
der Alkoholismus mit die größte Anzahl Krankheitsfälle auf sich ver¬
einigt und prozentualiter gegenwärtig so viel stärker vertreten ist als
zu Friedenszeiten, so liegt das lediglich an der gegenwärtigen Zu¬
sammensetzung des Heeres, das vielfach die Lebensalter aufweist, in
denen der Alkoholismus seine Hauptverbreitung auch im bürgerlichen
Leben hat, anderseits daran, daß die Gelegenheit zum Alkoholmi߬
brauch in den Garnisonen eine sehr starke ist, während im Felde auch
der Gewohnheitstrinker, infolge des doch sicher nicht im Übermaß
vorhandenen Stoffes notgedrungen in gewissem Grade abstinent
leben muß.
Ich komme nunmehr zur Dementia praecox, jener Gruppe
von Geistesstörungen, die wohl in den meisten Statistiken am zahl¬
reichsten vertreten ist, die auch in Weyerts Friedenszusammenstellung
21,7% aller von ihm beobachteten Fälle darstellt.
Dementia praecox ist gewissermaßen ein Sammelname für drei
Symptomenkomplexe, die äußerlich betrachtet verschieden sein können,
die aber alle zu dem gleichen Ziele führen, nämlich der vorzeitigen,
Zeitschrift für Psychiatrie. LXX1II. 1. 2
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Origiralfrcm *
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Baller.
mehr oder weniger hochgradigen Verhlödnng. Während bei der kata-
tonen Form, der eigentlichen Katatonie Kahlbaums , Spannungszn-
stände dem Krankheitsbilde das markanteste Gepräge geben, zeigt die
Hebephrenie mehr manischen Charakter, bei der Dementia paranoides
herrschen ausgesprochene Wahnideen und Sinnestäuschungen vor,
so daß eine Scheidung dieser Form von der Paranoia chronica auch
heute noch von vielen Psychiatern speziell der älteren Generation nicht
streng durchgeführt wird und auch häufig mit erheblichen Schwierig¬
keiten verknüpft ist. So ungleiche Geschwister diese drei obenhin be¬
trachtet zu sein scheinen, wird man bei genauer Prüfung doch in jedem
Falle verwandte Züge feststellen können, und zwar in erster Linie die
Störung der Auffassung, der Aufmerksamkeit, der Urteilsfähigkeit und
des Gemütslebens, dazu kommen mannigfache Krankheitserscheinun¬
gen auf dem Gebiete des Benehmens und Handelns, als da sind:
Stereotypien, Negativismus, Manieren und ähnliches mehr. Es würde
zu weit führen, genauer auf die einzelnen Formen einzugehen, es er¬
übrigt sich auch, handelt es sich doch lediglich darum, zu untersuchen,
ob der Krieg auf das Zustandekommen dieser geistigen Störung
Einfluß hat oder nicht. Für die Beantwortung dieser Frage ist die
Erörterung der mutmaßlichen Entstehungsursache der Dementia
praecox unerläßlich. Aber leider ist man zu einer sicheren Erkenntnis,
wie bei den meisten geistigen Störungen, auch hier noch nicht durch¬
gedrungen.
Eine große Rolle spielt bei der Entstehung sicherlich die erbliche
Belastung, die von namhaften Forschern in 60—70% aller Fälle nach¬
gewiesen ist. Der Umstand aber, daß pathologisch-anatomisch zweifel¬
los organische Schädigungen der Zellelemente des Gehirns nachge¬
wiesen sind, hat die Vermutung nahegelegt, daß es sich um eine chemi¬
sche Giftwirkung handelt und vielleicht, da die Anfänge des Leidens
zumeist bis in die Zeit der Pubertät zurückverfolgt werden können,
..um eine Selbstvergiftung, die möglicherweise in irgendeinem näheren
oder entfernteren Zusammenhänge mit Vorgängen in den Geschlechts¬
organen stehen“ (KracpcUn). Es hat diese Hypothese sehr viel Wahr¬
scheinlichkeit für sich, wissen wir doch, daß gerade drüsige Sekretions¬
oder Umsatzprodukte auch anderer Drüsen, ich erinnere nur an die
Thyreoidea, gelegentlich ihre Giftwirkung recht deletär entfalten.
Soviel ist jedoch wohl als sicher anzunehmen, daß es meist minder
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
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widerstandsfähige Nervensysteme sind, die dem schädigenden Agens
erliegen, zu diesem Schlüsse ist man meines Erachtens berechtigt,
wenn man die hohe Prozentzahl der erblichen Belastung ins
• Auge faßt.
Nun stelle man sich vor: ein Mensch, bei dem die eben geschilder¬
ten ätiologischen Vorbedingungen zutreffen, wird starken seelischen
und körperlichen Strapazen ausgesetzt, die ihrerseits an einem voll¬
kräftigen Nervensystem nicht spurlos vorübergehen, muß es nicht da
zum Zusammenbruch kommen? Die Erfahrung lehrt es; zur Illustra¬
tion diene folgender Fall.
X. Y., von Beruf Landwirt, war erblich mit Nervenkrankheiten
mehrfach belastet, machte aber eine normale Entwicklung durch und hat
als Einjährig-Freiwilliger gedient. Bei Ausbruch des Krieges trat er ein
und wurde im Laufe desselben zum Leutnant befördert. Bei dem Regiment
hat er von Anfang an alle Kämpfe desselben mitgemacht und erkrankte
nach etwa 15 Monaten unter Verstimmungs- und Ermüdungserscheinungen,
die durch das Auftreten von Sinnestäuschungen bald einen psychotischen
Charakter annahmen. Er wurde direkt von der Front der Geisteskranken¬
station zugeführt und kam in schwerkrankem Zustande hier an, bei
welcher Gelegenheit schon starke Hemmungszustände und Sinnestäuschun¬
gen festgestellt wurden; so hörte er den Kaiser rufen, hörte Kanonen¬
donner und anderes mehr. Bald verfiel er in einen vollständig negativisti-
schen Zustand; er lag steif im Bett mit fest zugekniffenen Augen, zusammen¬
gebissenen Zähnen und setzte jedem Versuch, ihm Nahrung zu verabreichen
— von selbst aß er nicht —, heftigsten Widerstand entgegen. Er mußte
schließlich mit der Sonde gefüttert werden. Er sprach kein Wort, auch als
seine Mutter und Braut ihn besuchten, verblieb er durchaus mutazistisch
und negativistisch. Dieser Zustand dauerte Wochen und wurde nur ge¬
legentlich durch einen plötzlichen Raptus unterbrochen, in welchem er
einmal durch ein offenstehendes Fenster in den Garten sprang und den
Zaun zu überklettern versuchte. Zurückgebracht, lag er wieder starr
und steif da. Ganz allmählich löste sich diese Spannung, er öffnete die
Augen, nahm selbständig Nahrung zu sich und fing an zu sprechen. Er
schilderte alles, was er mitgemacht hatte, und gab an, in den letzten Tagen
seines Aufenthaltes bei der Truppe viel an Kopfschmerzen gelitten zu
haben, ferner sei ihm eine langsam sich steigernde Denkhemmung auf¬
gefallen, die er nur mit größter Mühe habe überwinden können.
Dieser Fall läßt klar erkennen, daß einzig und allein die Strapazen
des Krieges schuld sind an dem Ausbruche des Leidens. Es ist mit
Sicherheit anzunehmen, daß es zu dieser Erkrankung nicht gekommen
wäre, wenn er in seinem ruhigen Zivilberufe verblieben wäre;
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Baller,
den Anforderungen war sein Nervensystem gewachsen, die größeren
vertrug es auf die Dauer nicht.
Die progressive Paralyse hat mit dem Kriege Verhältnis*
mäßig recht wenig zu tun. Wir wissen, daß sie fast ausnahmslos als
eine Folgeerscheinung der Lues anzusehen ist. Das Alter, in dem sie
am häufigsten zur Beobachtung kommt, ist die Zeit zwischen dem
35. und 50. Lebensjahre, früheres Auftreten gehört zu den Seltenheiten,
ebenso die Erkrankung im späteren Alter. Es wird zwar allgenein an¬
genommen, und das ist auch zweifellos richtig, daß schwere, insbeson¬
dere seelische Strapazen den Ausbruch einer Paralyse begünstigen,
und ohne Frage wirkt auch der Krieg in diesem Sinne; das scheint
schon daraus hervorzugehen, daß alle Fälle bei den gedienten Mann¬
schaften bis auf einen im Felde erkrankt waren bzw. im Felde waren.
Die ersten Anfänge der Paralyse können ja lange verborgen bleiben,
und es können daher auch diese eben erwähnten Fälle schon vor dem
Kriege krank gewesen sein. Man wird aber bei der Frage nach Dienst¬
beschädigung, selbstverständlich nach genauster Prüfung des Zeit¬
punktes der ersten Symptome, nicht umhin können, in einer Anzahl
von Paralysen Dienstbeschädigung anzunehmen, eben in Rücksicht
auf den Erfahrungssatz, daß besondere Anforderungen an Körper und
Geist ein begünstigendes Moment schon im bürgerlichen Leben ab¬
geben, wieviel mehr im Kriege. Einen besonderen Charakter im Ver¬
laufe der Paralysen als Einwirkung des Krieges war ich festzustellen
nicht in der Lage, ebensowenig war ein besonders frühes Auftreten
zu beobachten.
Das Irresein des Rückbildungsalters sowie bei Hirnerkran¬
kungen kann ich übergehen, bei deren Zustandekommen spielte der
Krieg keine spezifische Rolle.
Dagegen kann das manisch-depressive Irresein wieder als
einer derjenigen Symptomenkomplexe bezeichnet werden, in dem die
spezifische Wirkung des Krieges deutlicher zum Ausdruck kommt.
Das manisch-depressive Irresein ist letzten Endes als eine Störung
des psychischen Gleichgewichts aufzufassen mit exzessiven Schwan¬
kungen nach der einen: manischen—und der andern: melancholi¬
schen Seite hin sowie mit freien Intervallen. Nicht stets in buntem
Wechsel spielen sich alle diese Schwankungen ab — die eine oder
andere Phase kann oft fehlen —, wohl aber kann man von Perioden
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Krieg and krankhafte Geisteszustände im Heere.
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sprechen dergestalt, daß einer kranken Phase ein gesunder Abschnitt
folgt, weshalb man auch früher den Namen „periodisches Irresein“
dafür geprägt hatte. Meist sind es degenerierte Naturen, die der
Krankheit verfallen, hat doch Kraepelin in 80% aller Fälle erbliche
Belastung nachzuweisen vermocht. Was den Symptomenkomplex
der Geistesstörung anbetrifft, so ist die manische Phase charakterisiert
durch Ideenflucht, gehobene Stimmung und Beschäftigungsdrang,
während die melancholische Phase unter den Zeichen einer psychischen
Depression und psychomotorischer Hemmung steht. Wahnideen und
Sinnestäuschungen werden in jedem der Anfälle selten vermißt.
Ich will auf die Differentialdiagnose nicht näher eingehen, möchte
aber betonen, daß die Abgrenzung zwischen dem manisch-depressiven
Irresein und der Dementia praecox sowie den ersten Anfängen der
Paralyse gelegentlich recht schwierig ist. Gerade psychomotorische
Hemmungen und katatonische Spannungserscheinungen sind häufig
schwer zu unterscheiden, um so mehr, wenn nur eine kurze Beob¬
achtung möglich ist, wie das in hiesiger Geisteskrankenstation der
Fall war, die darauf bedacht sein muß, möglichst viele Plätze für
Neuaufnahmen freizumachen.
Hat nun der Krieg auf die Entstehung dieser Geistesstörung einen
begünstigenden Einfluß? Diese Frage muß zweifellos bejaht werden.
Wenn ich auch all die schon oben näher erwähnten Erwägungen, die
sich aus der großen Masse und Vielgestaltigkeit unseres gegenwärtigen
Soldatenmaterials ergeben, durchaus für das manisch-depressive Irre¬
sein gelten lassen will, so glaube ich doch schon aus den Zahlen allein
berechtigt zu sein, dem Kriege eine besondere Wichtigkeit zumessen
zn dürfen. Weyer fand 1,9% Erkrankungsfälle im Frieden, ich konnte
6% im Kriege beobachten. Wenn man nun noch in Betracht zieht,
daß nachgewiesenermaßen % aller Erkrankungen an manisch-depres¬
sivem Irresein vor dem 25. Lebensjahre erfolgen, welchem Alter der
Hauptbestandteil der Friedensarmee angehört, so ergibt sich daraus
noch ein Beweismittel mehr für die Einwirkung des Krieges, denn da
der größte Teil der jetzigen Armee höhere Lebensalter umfaßt, müßte
eigentlich die Prozentzahl jetzt geringer sein als bei jungen Truppen.
Was die Erscheinungsform dieser Geisteskrankheit anbetraf, so
herrschten vorwiegend die depressiven Phasen vor. Bange Sorge um
sich und die Angehörigen, Furcht vor etwas Schrecklichem, das jeden
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Baller,
Augenblick eintreffen müsse, beherrschten das ganze Denken der
Kranken. Heimweh und Todesahnung ließ sich überall deutlich nach-
weisen. Bei manch einem der im Felde Erkrankten — es waren das
über die Hälfte — ließen sich deutlich die ersten Anfänge sozusagen
. bis in den Schützengraben zurückverfolgen, bei. manchem war klar zu
erkennen, daß die plötzliche Loslösung aus der Buhe des täglichen
Lebens, aus der gewohnten Umgebung der Familie den ersten Anstoß
zur geistigen Zerrüttung gegeben hatte, die vollkommen wurde, als zu
der Sorge um die Zukunft die Anstrengung des Kriegsdienstes hinzu¬
kam. Oft schlug diese Depression in typische Manie um, oft ging sie
ohne weiteres in Heilung über. Wenn Sinnestäuschungen zur Beob¬
achtung kamen, so drehten sie sich fast ausnahmslos um Kriegsereig¬
nisse und dokumentierten damit die gewaltigen Eindrücke, die der
Krieg auf das Seelenleben der Erkrankten gemacht haben muß.
Die Paranoia chronica im Kraepelimchen. Sinne ist eine ver¬
hältnismäßig seltene Erkrankung. Wenn sie mit 7,6% in meiner
Aufstellung erscheint, so gebe ich, wie schon eingangs erwähnt, zu,
daß alle Fälle einer scharfen Diagnose nicht standhalten würden, es
sind zweifellos manche Fälle von Dementia paranoides sowie manche
Alkoholparanoien dazwischen; den Grund für dieses Versehen habe
ich schon oben auseinandergesetzt. Das Kriterium der Kraepelimohen
Paranoia ist ein unerschüttertes Wahnsystem bei vollkommener Er¬
haltung der Besonnenheit und Ordnung des Gedankenganges, ein
Wahnsystem, das sich gewissermaßen schleichend entwickelt hat, das
schon lange bestand, ehe es von der Umgebung entdeckt wurde. In
einer großen Anzahl von Fällen konnte ich feststellen, daß der Kranke
schon vor seiner Einstellung als Landwehr- oder Landsturmmann
Wahnideen hatte, die aber langsam etwas in den Hintergrund getreten
waren, so daß sie bei der Einstellung nicht entdeckt wurden. Erst der
Krieg mit seinen gewaltigen Eindrücken sowie das enge Zusammen¬
leben und Aufeinanderangewiesensein der Soldaten führte dem Wahn¬
system des Kranken neue Nahrung zu und ließ es deutlicher in Er¬
scheinung treten.
So kommt dem Kriege eigentlich keine nennenswerte Bedeutung
als ursächliches Moment zu, sondern nur als aggravierender Faktor,
der, ich möchte sagen, schon fast eingeschlafene Wahnvorstellungen
neu belebte; und in der Tat fand man häufig neue, aus dem Kriege
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
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mit seinen Ereignissen entlehnte Ideen, die mit dem alten System
verwoben wurden. Ich möchte nur kurz einen Fall erwähnen, der
das deutlich erkennen läßt:
Der Armierungssoldat H., ca. 40 Jahre alt, hatte schon seit Jahren
die religiöse Vorstellung, er sei von Gott berufen, sei ein Auserwählter,
der Stellvertreter Gottes, er las aus der Bibel die göttlichen Befehle. Er
suchte die Welt zu bekehren und war schon einmal in einer öffentlichen
Irrenanstalt gewesen und entmündigt worden. Seine Wahnideen hatten,
da sie mehr und mehr zurückgetreten waren, schließlich niemand mehr
belästigt, er war ein fleißiger Arbeiter, aber allen als merkwürdiger Kauz
bekannt. Er wurde ausgehoben und kam bald mit der straffen Disziplin
in Konflikt, weil er sich weigerte, Sonntags zu arbeiten. Die Zerstörun¬
gen des Krieges, die er rings um sich sah, besonders die zerschossenen und
"verbrannten Kirchen, erzeugten in ihm den Gedankengang, daß es ver¬
ruchte Menschen seien, unter denen er sich aufhalte, die selbst vor dem
Heiligsten keine Scheu hätten; seine Auserwähltheit kam ihm wieder
inehr zum Bewußtsein, und als er irgendeiner Unregelmäßigkeit wegen
scharf angelassen wurde, schlug er die Bibel auf, um göttliche Informationen
zu erhalten. Als sein Auge auf die Worte fiel: „Fliehet aus Babel“, da gab
es für ihn kein Halten mehr, er entfloh.
Bei der Begutachtung im kriegsgerichtlichen Verfahren war es leicht,
seine Unzurechnungsfähigkeit nachzuweisen, das Verfahren wurde ein¬
gestellt.
In 10,7% aller Fälle kamen Epileptiker zur Aufnahme; der
größte Teil derselben hatte schon früher Anfälle gehabt. Bei dem
kleineren Teile waren sie zum ersten Male nach der Einstellung in Er¬
scheinung getreten. Aber auch bei denjenigen, die schon früher an
Krampfanfällen gelitten hatten, war in einer großen Anzahl eine
Verschlimmerung, was Zahl und Intensität der Anfälle anbetraf, nach¬
zuweisen, eine Erscheinung, die man zweifellos den Strapazen des
Heeresdienstes zur Last legen muß. Man ist sicherlich zu dem Schlüsse
berechtigt, daß, wenn ein Leiden unter der Einwirkung irgendeiner
besonderen Veranlassung oder einer aus dem gewöhnlichen Rahmen
heraustretenden Inanspruchnahme der Kräfte entsteht, hierin auch
die Ursache zu sehen ist. Mag es auch richtig sein, daß eine Epilepsie
nur auf degenerativem oder sonstwie vorbereitetem Boden erwächst,
man wird immerhin annehmen müssen, daß der Krieg allein als ursäch¬
liches Moment in Frage ko mm t in den Fällen, wo epileptische Anfälle
oder Äquivalente zum ersten Male im Kriege aufgetreten sind.
Folgendes Beispiel möge zur Erläuterung dienen:
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Baller,
N. N., ein etwa 22jähriger Bauernsohn, aus gesunder Familie, hatte
nie in seinem Leben Krämpfe oder geistige Anomalien dargeboten, wie
sowohl die Eltern als auch die Ortsbehörde bestätigten, und war als aktiver
Soldat bei der Mobilmachung ins Feld gezogen. Bis zum Herbst 1915
hatte er alles mitgemacht und wurde durch einen Streifschuß am Ober¬
schenkel verwundet, der eine mäßige, mit der Unterlage nicht ver¬
wachsene Narbe hinterließ, ohne die Funktion des Gliedes sonst irgendwie
zu beeinträchtigen. Während seines Aufenthaltes im Lazarett bekam er
eines Tages einen Wutanfall, in welchem er brüllte und tobte, so daß er
der Geisteskrankenstation überwiesen werden mußte. Als er dort an¬
langte, war der Erregungszustand abgelaufen, er war freundlich und
geordnet und bat, möglichst bald wieder ins Feld zurückgeschickt zu
werden. Da er selbst angab, er habe im Lazarett kurz vorher etwas ge¬
trunken, so glaubten wir, es habe sich um eine alkoholische akute Erregung
gehandelt, und waren drauf und dran, ihn als dienstfähig zu entlassen,
als er plötzlich, nachdem schon einige Stunden vorher eine gewisse
Reizbarkeit des sonst stets freundlichen, dienstbereiten Mannes aufgefallen
war, unmotiviert auf einen Kameraden einzuschlagen begann. Er wurde
sofort festgehalten, wogegen er sich mit Händen und Füßen unter Brüllen
wehrte, sein Geschrei ging in Stöhnen und Zähneknirschen über, seine
Gliedmaßen krampften sich zusammen, tonisch-klonische Krämpfe traten
aber nicht in Erscheinung. Auf Anrufen reagierte er nicht, das Gesicht
war zyanotisch, die Pupillen waren starr, die Bulbi nach oben gedreht,
die Zunge zeigte einen frischen Biß.
Nach einiger Zeit kam er scheinbar zu sich, sah aber verstört umher
und zeigte einen typischen Dämmerzustand, er war schlafbedürftig und
wachte nach y 2 —1 Stunde völlig klar, aber total amnestisch auf; nur das
Gefühl von Zerschlagenheit im Körper sowie Kopfschmerzen sagten ihm,
daß etwas mit ihm vorgegangen sein mußte, worüber er im unklaren war.
Ganz besonders klagte er über Schmerzen in der Wundnarbe.
Die gleichen Anfälle wiederholten sich etwa alle 8—10 Tage. Er
wurde als dienstunbrauchbar zur Entlassung eingegeben.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es sich hier um echte
epileptische Zustände handelt, zumal auch hysterische Stigmata nicht
vorhanden waren, wenn auch der Anfall selbst kein typischer genannt
werden kann. Aber was heißt typischer Anfall bei der Epilepsie!
Die Erscheinungsformen sind so mannigfach, daß man sagen möchte,
die typischen Anfälle sind Ausnahmen. Ich brauche nur zu erinnern
an all die epileptischen Äquivalente, an Dipsomanie und pathologische
Rauschzustände, die man mehr und mehr geneigt ist, als epileptische
Formen anzusehen; ich erinnere nur an die epileptischen Dämmer¬
zustände, die gerade bei der Militärpsychiatrie solch große Rolle
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
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spielen, und die von Stier 1 ) in mustergültiger Weise durchforscht und
beschrieben sind. Ich möchte nicht verfehlen, auf die Wutzustände
hinzuweisen, die ebenfalls bei der Epilepsie Vorkommen, von denen
ich mehrere zu beobachten Gelegenheit hatte, zwischen welchen und
den „typischen“ Anfällen der geschilderte Fall einen Übergang bildet.
Der Amok der Malayen ist nichts anderes als ein derartiger Wutanfall,
in welchem der Befallene blind und bewußtseinsgetrübt alles nieder-
stößt, was ihm in den Weg kommt.
Während ich bisher nur von sogenannter genuiner Epilepsie ge¬
sprochen habe, die ihre Verschlimmerung oder Auslösung den allge¬
meinen nervösen Schädigungen, die der Krieg und Kriegsdienst mit
sich bringt, zu verdanken hat, möchte ich aber nicht verfehlen, hinzu¬
weisen auf die traumatische Epilepsie, die ihre Entstehung organischen
Schädigungen des Zentralnervensystems selbst verdankt, nämlich den
Schußverletzungen des Gehirns mit ihren Narbenbildungen und den
Gehirnerschütterungen durch Schlag oder Sturz und nicht zum wenig¬
sten durch Granat- oder Minenexplosionen. Denn daß diese Ex¬
plosionen nicht nur psychische Schockwirkungen haben, sondern echte
Erschütterungen der Gehimmasse durch Luftdruck darstellen, ist
zweifellos; darauf werde ich noch einmal bei der Hysterie zurück¬
kommen. Die traumatische Epilepsie ist ein wohl allgemein anerkannter
Begriff, und die Chirurgen werden Gelegenheit haben wie nie, ihre ope¬
rativen Erfolge zu vermehren und die Spezialforschung zu bereichern.
Scheinbar nahe verwandt mit der Epilepsie ihrem ganzen Symp-
tomenkomplexe nach ist die Hysterie, die ja auch von Kraepelm
mit der Epilepsie unter dem Sammelnamen der allgemeinen Neurosen
zusammengestellt ist.
Eine scharfe Definition der Hysterie zu geben ist kaum möglich;
ganz allgemein ausgedrückt, liegt das Wesen der Krankheit in einem
Mißverhältnis zwischen Hemmung und Antrieb oder, wie Kraepelm
sich ausdrückt, in der „außerordentlichen Leichtigkeit und Schnellig¬
keit, mit welcher sich psychische Zustände in mannigfachen körper¬
lichen Störungen wirksam zeigen, seien es Anästhesien oder Par-
ästhesien, seien es Ausdrucksbewegungen, Lähmungen, Krämpfe oder
Sekretionsanomalien“.
1 ) Stier, Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung.
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Baller.
Ich will auf die einzelnen Symptome nicht näher eingehen, das
Krankheitsbild der Hysterie in seiner Vielgestaltigkeit ist zu bekannt,
als daß es einer näheren Schilderung bedürfte, ich will nur hervor¬
heben, daß Dämmerzustände, ängstliche und traurige Verstimmung
sowie läppische Erregung und gelegentliche, massenhafte Sinnes¬
täuschungen die Bezeichnung Psychose durchaus rechtfertigen. Was
die Ursache anbetrifft, so ist mit Sicherheit näheres darüber nicht
bekannt; eine große Rolle spielt hier wie überall die erbliche Belastung,
die mit 70—80% nachgewiesen ist. Schon vor längerer Zeit haben Freud
und seine Anhänger die Theorie aufgestellt und zu beweisen versucht,
daß die Hysterie auf ein sexuelles Erlebnis in frühester Jugend zurück¬
zuführen sei, das im Unterbewußtsein fortlebe; wenn es gelinge, auf
psycho-analytischem Wege dieses Ereignis ins Wachbewußtsein zu
überführen, so verschwinden die hysterischen Symptome. Diese Er¬
klärung erscheint mir recht zweifelhaft, sie hat auch von berufenster
Seite schon recht scharfe Ablehnung erfahren.
Die männliche Hysterie, die man eigentlich immer als eine ver¬
hältnismäßig seltene Krankheit ansah, scheint nun im Kriege recht
häufig aufzutreten. Die Mehrzahl der Hysterien wird aber in den
Lazaretten und den Nervenstationen zu finden sein, dort wird man
die interessantesten Krankheitsbilder zu Gesicht bekommen, weniger
auf den Geisteskrankenabteilungen. Ich konnte auf der Geistes¬
krankenstation 7,8% der Fälle beobachten, von diesen waren etwa
Vs im Felde erkrankt, und zwar meist infolge Einwirkung von Granat¬
oder Minenexplosion, anderseits aber auch als Folge chronischer Er¬
schöpfung. Dämmerzustände und Somnambulismus und schwere De¬
pressionen mit Sinnestäuschungen waren die Symptome; gesichert
wurde die Diagnose Hysterie durch gelegentliche typische Anfälle mit
Sprach-und Extremitätenlähmungen sowie durch herdförmige Sensi¬
bilitätsstörungen oder andere Stigmata.
•
Eines typischen Falles möchte ich kurz Erwähnung tun; es handelte
sich um einen jungen Kriegsfreiwilligen, der zum ersten Male von einem
Anfall betroffen wurde, nachdem er bei Nacht auf einer Felddienstübung
unvermutet bis an den Hals in ein Wasserloch gefallen war. Schwere
Anfälle in großer Zahl waren die Folge, Sprachlähmungen und andere
Symptome einer echten Hysterie vervollständigten das Krankheitsbild.
In diesem Falle war es der unvermutete Schreck, gewissermaßen ein
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
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psychischer Schock, der das Leiden auslöste, wobei man eine gewisse Dis¬
position des Nervensystems wohl annehmen darf.
Bei keiner andern Geisteskrankheit oder Neurose ist das aus¬
lösende Moment des Krieges so klar ersichtlich wie gerade bei der
Hysterie. Mit Sicherheit konnte man in vielen Fällen feststellen, daß
der erste Anfall, das erste andere Symptom nach einer Granatexplo¬
sion, einer Verschüttung oder einem andern Zufall eingetreten war.
Aber auch hysterieartige Krankheitsbilder kommen vor, mit Lähmun¬
gen und ähnlichen Erscheinungen, die tatsächlich Ausfallserscheinungen
sind, denn die Granatexplosionen wirken nicht lediglich als psychischer
Schock, sie sind als wirkliche Gehirnerschütterungen aufzufassen, die
Schädigung der Zellelemente des Nervensystems zur Folge haben
können. Diese Auffassung vertritt v. Sarbo ^-Budapest, wenn er sagt:
„Der durch Geschoßexplosionen hervorgerufene mächtige Luftdruck
kann ohne äußerliche Verletzung zu tödlicher Gehirnblutung führen,
oder es können Läsionen eintreten, die die zytologische Struktur, den
Zustand von Ganglienzelle und Faser derart beeinträchtigen, daß es
zu Ausfallserscheinungen kommt“; er nenpt diese Läsionen mikro¬
organische Veränderungen. Auch Oppenheim 2 ) mißt dem Luftdruck
derartige Fähigkeiten bei und nimmt ebenfalls feinere organische Ver¬
änderungen an, durch die manches rein hysterisch erscheinende Sym¬
ptom eine bessere Erklärung findet; er weist besonders hin auf die Er¬
schütterung des vasomotorischen Nervensystems.
Die konstitutionelle Verstimmung, das Zwangsirresein, das im¬
pulsive Irresein und die konträre Sexualempfindung bilden die Gruppe
der psychopathischen Zustände. Bei keiner andern Seelen¬
störung ist man so von Entartung zu sprechen berechtigt wie hier,
man hat daher auch die Psychopathie geradezu das Entartungsirresein
genannt. Krankhaft angelegte Persönlichkeiten sind es mit starker
erblicher Belastung, Zurückgebliebenheit des Körpers und andern
Bildungshemmungen, die die Träger dieser Psychosen darstellen;
dauernd krankhafte Verarbeitung der Lebensreize, Widersprüche in
der Folgerichtigkeit des Denkens, unvermittelte Stimmungsschwan-
x ) v. Sorbö, Über den sogenannten Nervenschock nach Granat¬
explosionen. Wien. klin. Wschr. Nr. 4.
*) Oppenhain, Über Kriegsverletzungen des peripherischen und zen¬
tralen Nervensystems. Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung.
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Baller,
kungen und Absonderlichkeiten des Handelns, die den Eindruck des
Unausgeglichenen, Verschrobenen machen, sind der Inhalt der Krank¬
heitsbilder (Kraepelin 1 )).
Die konstitutionelle Verstimmung ist gekennzeichnet durch eine
„andauernd trübe Gefühlsbetonung aller Lebenserfahrungen“; die
Kranken kommen eigentlich von Jugend auf nie zur rechten, unein¬
geschränkten Lebensfreude, sie sind mutlos, wankelmütig, unmotiviert
gereizt, zu Selbstquälereien geneigt und sich und ihrer Umgebung
eine Last.
Bei dem Zwangsirresein stehen, wie der Name sagt, Zwangsvor¬
stellungen im Vordergrund; Angstgefühle, Grübelsucht, Befürchtungen
wie Platzangst, Höhenfurcht oder ähnliches mehr sind die Symptome,
die die Kranken nicht zur Ruhe kommen lassen.
Obenhin betrachtet, haben beide Krankheitsbilder viel mit den
chronischen Erschöpfungszuständen gemein, man hat sie daher auch
geradezu mit angeborener Neurasthenie bezeichnet. Dieser Name ist
sehr gut gewählt, er enthält die ganze Differentialdiagnose, er gestattet
auch den besten Ausblick auf die Prognose, die, da es sich hier um an¬
geborene und degenerative Vorgänge handelt, naturgemäß viel un¬
günstiger sein muß wie bei der erworbenen Neurasthenie.
Wenn dem nun so ist, so kann der Krieg oder irgendein anderes
Ereignis niemals das auslösende Moment einer derartigen Psychose
sein. Nur aggravierend können diejenigen Momente, die in dem
Vorhergehenden als auslösend oder schädigend angesprochen sind, in
Betracht kommen. Ich hatte Gelegenheit, 6,8% der Fälle zu beob¬
achten; die größte Mehrzahl litt an konstitutionellen Verstimmungen
und Zwangsvorstellungen.
Die Krankheitsbilder hatten mit schwereren neurasthenischen
Erscheinungen viel Ähnlichkeit, die Differentialdiagnose war aus der
Vorgeschichte jedoch meist nicht schwer. Eine Verschlimmerung
durch den Krieg war sehr oft nachweisbar, es ist das ja auch erklärlich;
denn wer schon an Befürchtungen, Platzangst und ähnlichem leidet
oder dazu neigt, muß in Situationen, wo tatsächlich Grund dazu vor¬
liegt, ganz besonders dadurch alteriert werden.
Was nun schließlich die psychischen Entwicklungshemmun¬
gen, den Schwachsinn (Imbezillität) anbetrifft — die Idiotie kommt
M Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie.
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nicht in Frage, da ausgesprochene Idioten wohl nicht zur Einstellung
gelangen, ich wenigstens habe keinen derartigen Fall zu Gesicht be¬
kommen —, so spielt der Krieg nur insofern eine Bolle, als er, mehr
vielleicht wie der Friedensdienst, auf Grund seiner vermehrten An¬
forderungen, die er an die Selbständigkeit des Handelns und an die
Überlegung des einzelnen stellt, Anlaß zur Straffälligkeit der Schwach¬
sinnigen wird.
Wenn ich nach alledem ein Fazit aus meinen Erörterungen ziehen
darf, so ergibt sich die Tatsache, daß die Strapazen des Krieges einen
nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entstehung und den Verlauf
krankhafter Seelenzustände im Heere ausüben. Den besten Angriffs¬
punkt finden sie überall da, wo auf Grund erblicher Belastung, ange¬
borener Minderwertigkeit und Widerstandslosigkeit des Nerven¬
systems sowie unvernünftiger Lebensführung (Alkoholismus, Lues)
der Boden für geistige Erkrankung vorbereitet ist. Aber auch ein un¬
angekränkeltes Nervensystem sind sie zu schädigen imstande; ich
brauche nur zu erinnern an die Schädigungen der Luftdruckwirkung
bei Explosionen, die als Gehirnerschütterungen wirken und Gewebs¬
veränderungen zur Folge haben können. In welchem Maße nun gar Gas¬
vergiftungen, diese neueste Errungenschaft des Krieges, auf Körper
und Geist wirken, ist mir nicht bekannt, da derartige Kranke nicht
unter unserem Material vorhanden waren. Vielleicht hat man darüber
anderswo mehr Erfahrungen sammeln können.
In der Mehrzahl aller Krankheitsbilder drehten sich die Wahn¬
ideen oder Sinnestäuschungen um Kriegsereignisse oder das, was mit
dem Kriege zusammenhing. Wenn auch als alter psychiatrischer Er-
fahrungssatz die Tatsache angesehen werden muß, daß auch im Frieden
epochemachende Ereignisse, aufsehenerregende Erfindungen und ähn¬
liches ihre Schatten, wenn ich so sagen darf, in den Wahnideen der
Geisteskranken widerspiegeln, so beweist doch die häufige Wiederkehr
von Kriegsereignissen im Wahne zum mindesten die Gewalt der
Eindrücke.
Es ist hier und da die Ansicht geäußert worden, die größte Eigen¬
tümlichkeit der „Kriegspsychosen“ sei eine gewisse Verwaschenheit
der einzelnen Krankheitsbilder. Ich kann nach den hier gemachten
Erfahrungen dem nicht beipflichten. Ich muß unumwunden zugeben,
daß sogenannte allgemeine nervöse Symptome, Anzeichen der chroni-
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Baller,
sehen nervösen Erschöpfung, allerdings bei den meisten Krankheits¬
bildern festzustellen waren, was ja auch kein Wunder ist, wenn man
die Strapazen des Krieges als auslösendes Moment anerkennt. Wenn
man aber diese lokalisierten Erscheinungen, wie Kopfschmerzen,
Schwindel, Ohrensausen, Reizbarkeit, Depression und ähnliches,
herausschält, erhält man so klare Krankheitsbilder, daß man sehr
viele als Schulfall in jedem Lehrbuche anführen könnte. Ich hebe
besonders hervor die Epilepsie, die Hysterie und die Dementia praecox,
von denen ich Beispiele geschildert habe, wie man sie in Irrenanstalten
so rein nie zu sehen bekommt.
Ich möchte in Kürze noch zur Frage der militärischen Begut¬
achtung Stellung nehmen.
Es liegt im Sinne des Volkes, bei der Zubilligung von Entschädi¬
gungen an Kriegsteilnehmer für erlittene Gesundheitsschädigungen
nicht allzu engherzig zu sein. Das Vaterland ist gewillt, denen, die in
seinem Dienste Leben und Gesundheit eingesetzt haben, eine Dank¬
schuld abzutragen. Das muß die Richtschnur sein, die jeden Gutachter
leiten soll, die ihn jedoch nicht verleiten darf, die Vorschriften außer
acht zu lassen, die die Dienstanweisung Mdf. hinsichtlich der Dienst¬
beschädigungsfrage an die Hand gegeben hat: „Dienstbeschädigung
liegt vor, wenn ein Leiden durch den Dienst entstanden oder durch
denselben nachweislich verschlimmert ist.“
Nur zwei geistige Störungen gibt es, bei denen eine Dienstbe¬
schädigung zumeist nicht in Betracht kommt, das sind der Alkoholis¬
mus und die psychischen Entwicklungshemmungen. Mit Sicherheit
kann man behaupten, daß ein Schwachsinn durch den Kriegsdienst
nicht entstanden oder verschlimmert sein kann. Mit Bestimmtheit
darf man behaupten, daß Störungen, die auf Alkoholmißbrauch
zurückzuführen sind, schon lange bestanden haben oder durch Selbst¬
verschulden herbeigeführt sind. Bei allen übrigen Erkrankungen kann
die Möglichkeit nicht von der Hand gewiesen werden, daß sie dem
Kriege zur Last gelegt werden müssen, ja ist die Entstehung bzw.
Verschlimmerung manchmal sogar Tatsache. Man wird zwar stets
von Fall zu Fall zu prüfen haben, wird die allgemein ätiologischen Mo¬
mente der einzelnen Psychosen nicht außer acht lassen dürfen und
wird Nachforschungen anstellen müssen über die geistige Verfassung
des Erkrankten bis zu seiner Einstellung; haben die Nachforschungen
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aber ergeben, oder ist aus andern Anzeichen ersichtlich, daß der Kranke
bis dahin geistig gesund war, so sind die Voraussetzungen für die
Dienstbeschädigung erfüllt, selbst wenn eine gewisse Möglichkeit an¬
genommen werden muß, daß es auch ohne die Einstellung, ohne die
Strapazen zum Ausbruch einer Psychose hätte kommen können. Als
bestes Beispiel hierfür führe ich die Paralyse an. Es ist meines Er¬
achtens nicht angängig, eine Dienstbeschädigung abzulehnen in Fällen,
wo eine Paralyse im Dienste manifest geworden ist, wenn auch in der
Vorgeschichte alle Voraussetzungen (Lues usw.) gegeben sind, die even¬
tuell zur Paralyse führen können. Erfahrungsgemäß wirken Gemüts¬
bewegungen und körperliche Erschöpfung fördernd auf den Ausbruch
des Leidens ein, und da sollte man der erhöhten Inanspruchnahme der
Kräfte im Kriege nicht denselben Einfluß zuerkennen wie im bürger¬
lichen Leben? Das wäre inkonsequent.
Weyert x ) steht allerdings bezüglich der Dienstbeschädigungsfrage
bei der Dementia praecox im Frieden auf einem etwas ablehnenden
Standpunkt. Er ist der Ansicht, daß selbst da, wo es durch weit¬
gehende Ermittlungen nicht gelingt, das Bestehen des Jugendirreseins
bzw. deutliche Vorläufer eines solchen bereits für die Zeit vor dem
Diensteintritt nachzuweisen, Dienstbeschädigung nur dann in Er¬
wägung zu ziehen ist, wenn ganz bestimmte, durch den militärischen
Dienst bedingte Vorkommnisse oder Schädlichkeiten das Jugend¬
irresein unmittelbar ausgelöst haben. Allgemeine Schädlichkeiten als
Überanstrengungen, Witterungseinflüsse, die ganze Unruhe des Militär¬
lebens, die geistige Anspannung usw. werde man nie als Ursache gelten
lassen dürfen. Das mag für Friedensverhältnisse gelten, wenngleich
ich auch da nicht diesen schroffen Standpunkt ganz teilen kann, im
gegenwärtigen Kriege in der Heimat, wie an der Front ganz besonders,
kommen aber ganz andere Verhältnisse in Betracht, die auch Weyert
gelten lassen wird, ebenso wie andere namhafte Vertreter der Psychia¬
trie, unter welchen ich Weygandt 2 ) zitieren will, der sich gerade über
kriegspsychiatrische Begutachtungen in einem Vortrag unter anderem
zur Frage der Dienstbeschädigung wie folgt geäußert hat: „Der Be¬
griff Kriegsdienstbeschädigung soll gewiß nicht engherzig angewandtwer-
x ) Weyert, Militärpsychiatrische Beobachtungen und Erfahrungen.
*) Weygand, Kriegspsychiatrische Begutachtungen. Autorreferat.
Psych.-neurol. Wschr. Nr. 37/38.
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Baller,
den. Auch bei Verschlimmerung eines vorherigen Leidens durch den
Dienst kann er zur Geltung kommen. Streng theoretisch ist es vielleicht
schwierig genug, einen Fall psychischer Erkrankung, von Schock-
und starker Erschöpfungswirkung abgesehen, ohne weiteres als ur¬
sächlich bedingt durch den Feldzug anzusehen. Aber auch wenn man
sich für gewöhnlich selbst bei Paralyse ablehnend verhält, wie es nach
den bisherigen experimentellen Prüfungen angebracht erscheint, wird
man doch dazu neigen, den Kriegsstrapazen einen auslösenden Einfluß
bei luisch Prädisponierten beizumessen. Ebenso ist dies zu bejahen
bei Manisch-Depressiven, und selbst bei Dementia praecox möchte
ich dies nicht in Abrede stellen. Ganz zweifellos trifft nicht selten
für Epilepsie eine derartige Ursache zu.“ Ich pflichte diesen Aus-
* führungen Weygands vollständig bei, ich möchte dieselben nur noch
ausgedehnt wissen auf die chronische nervöse Erschöpfung und ge¬
eignete Fälle der Hysterie. Bei der Paranoia chronica und dem Ent-
artungsirresein wird nur eine eventuelle Verschlimmerung bestehender
Symptome in Frage kommen, aber man wird hier ganz besonders
scharf prüfen müssen und wird, wenn man nicht den unbedingten
Nachweis der Verschlimmerung — nur darum kann es sich handeln —
führen kann, zu einer Ablehnung irgendwelcher Ansprüche kommen.
Um die traumatische Neurose ist ein lebhafter Meinungsaustausch
entstanden, es handelt sich um die Frage, ob man sie in dem Sinne,
wie sie von Oppenheim in die Nomenklatur eingeführt worden ist,
nämlich als selbständiges Krankheitsbild, weiter diagnostizieren, oder
ob man sie nach der jeweils im Vordergründe stehenden Neurose be¬
zeichnen soll. Oppenheim steht auf dem Standpunkte, den er auch
in seinem oben schon zitierten Vortrage wiederholt und nach den
Ergebnissen der jetzigen Kriegsbeobachtungen bestätigt gefunden hat:
„Es gibt Folgen der psychischen und physischen Erschütterung, die
den Charakter der Neurosen und Psychosen tragen“, und leitet daraus
die Berechtigung zur Diagnose der traumatischen Neurose als Krank¬
heitsbild sui generis her. Nonne x ) ist der Ansicht, daß es eine durch
körperliches und psychisches Trauma bedingte charakteristische
Neurose nicht gibt, denn dasselbe aus hysterischen, neurasthenischen
*) Nonne, Traumatische Neurose als Folgeerscheinung von Kriegs-
bcchädigungen. Autoreferat. Psych.-neurol. Wschr. Nr. 33/34, 1915/16.
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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere.
33
und hypochondrischen Symptomen kombinierte Krankheitsbild ko mmt
ebensogut auch ohne Trauma vor. Zweifellos kommt dem körper¬
lichen und psychichen Trauma im Kriege eine ganz erhebliche Be¬
deutung zu, aber nicht in dem Sinne, daß man darauf berechtigt wäre,
ein besonderes Krankheitsbild aufzubauen. Wenn es richtig ist, daß
neurasthenische oder hypochondrische oder hysterische Züge in fast
allen Psychosen erscheinen können, die die Klassifizierung der Psy¬
chose nicht beeinträchtigen, so sehe ich'nicht ein, weshalb man nicht
ein Krankheitsbild wie die traumatische Neurose nach dem Symp-
tomenkomplex benennen soll, der im Vordergründe steht, man erreicht
denselben Zweck und schaltet das Odium aus, das der „traumatischen
Neurose“ als einer auf Begehrungsvorstellungen basierenden Er¬
krankung anhaftet.
Wie steht es nun mit der Dienstfähigkeit der genesenen Geistes¬
kranken ? Die Dienstanweisung schließt alle derartigen Kranken oder
solche, die einmal an einer Psychose oder Neurose gelitten haben, vom
Heeresdienste aus. Das mag unter Friedensverhältnissen durchaus
richtig sein, in gegenwärtigen Zeiten jedoch sollte man nicht so ohne
weiteres über die genesenen Geisteskranken hinwegsehen.
Was hindert einen Epileptiker, wohl gemerkt mit seltenen und
unkomplizierten Anfällen, arbeitsverwendungsfähig zu sein, zumal in
der Heimat? Wie mancher derartige Kranke steht im bürgerlichen
Leben voll und ganz im Erwerb, warum sollte er nicht nach Möglichkeit
beruflich auch als Soldat beschäftigt werden können? Wer eine Er¬
schöpfungspsychose überstanden hat oder von einem Anfall des manisch-
depressiven Irreseins genesen ist, kann im Gamisondienst immerhin
noch verwendet werden, ja selbst leichtere Fälle von Dementia praecox,
die sogenannten geheilten Fälle, wären noch zu leichtem Dienste
brauchbar.
Felddienstfähigkeit wird jedoch durch jede überstandene Psychose
und Neurose ausgeschlossen; denn das Feldheer braucht widerstands¬
fähige Naturen, deren Nerven allen Anforderungen standhalten.
Labile Elemente sind eine Gefahr für die Truppe, deren Stoßkraft sie
hemmen, deren Beweglichkeit sie erschweren.
Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXIII. 1.
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Unzulängliche im Kriegsdienst 1 )*
Von
Oberarzt Dr. W. Tintemann.
Seit Ausbruch des Krieges wird von mehr oder minder berufener
Seite immer wieder betont, daß eine von vielen befürchtete beginnende
Degeneration des deutschen Volkes, die aus einer Reihe von Vorgängen
der letzten Jahre und Jahrzehnte mit einer gewissen Berechtigung
geschlossen werden konnte, unmöglich bestehen könne oder zu be¬
fürchten sei. Diese Schlußfolgerung wurde gezogen aus den außer¬
ordentlichen Leistungen, die das Volk als Ganzes und der einzelne An¬
gehörige des Volkes in einer Zeit der höchsten Anforderungen hervor¬
gebracht haben.
Es muß wohl als verfrüht bezeichnet werden, diesen Satz bereits
jetzt als eine unumstößliche Gewißheit hinzustellen. Eine
solche kann erst werden nach Abschluß des akuten Geschehens dieses
Krieges, wenn es gilt, in friedlicher Arbeit aufzubauen, was zerstört,
und auszubauen, was an Erfahrungen gesammelt ist. Was dann an
minder geräuschvoller Arbeit zu leisten sein wird, wird vielleicht
noch größere und noch höher zu bewertende Anforderungen an die
geistige Leistungsfähigkeit und Gesundheit des Volkes stellen, und
erst dann der Dauerzustand wird erlauben, ein einwandfreies Gesamt¬
ergebnis zu ziehen'aus alle dem Geschehen, das jetzt nur in einzelnen
Teilen zu überblicken ist.
Richtig ist, daß in dieser Zeit im deutschen Volke Höchstleistun¬
gen vollbracht sind und vollbracht werden, die kaum denkbar waren.
Aber Höchstleistungen und Degeneration schließen sich nicht immer
aus. Auch der Degenerierte kann Höchstleistungen vollbringen,
namentlich unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse. Aber sie sind
*) Aus der Provinzial- HeU- und Pflegeanstalt zu Osnabrück, Direktor
Sanitätsrat Dr. Schneider.
ty Google
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
35
vorübergehend. Es fehlt ihm die Stetigkeit in der Verfolgung des
Zieles.
Richtig ist ferner der Gedanke, daß der Krieg bei dem gewaltigen
Umfange, in dem er fast alle Mitglieder des Volkes direkt oder indirekt
in seinen Kreis zieht, als ein Wägen des ganzen Volkes, als eine allge¬
meine Prüfung der Leistungsfähigkeit und Volksgesundheit ange¬
sehen werden kann, wie sie bis dahin kaum vorgekommen. Vor allem
der erwachsene Teil der männlichen Bevölkerung wird in einer Weise
durchgesiebt, daß man versucht sein könnte, übertreibend zu sagen,
nach dem Kriege kann jeder erwachsene Mann unter eine Nummer
eines Schemas untergebracht werden, in dem nicht nur seine körper¬
liche Leistungsfähigkeit, sondern auch seine soziale Brauchbarkeit
festgestellt ist. Es findet hier eine ungeheure Auslese statt. Eine
Auslese nicht nur in der durch die Eigenart der kriegerischen Handlung
bedingten, besonders schmerzlich und unheilvoll empfundenen wider¬
natürlichen Art, durch die gerade vielfach die tüchtigsten und wert¬
vollsten Elemente der männlichen Bevölkerung vernichtet werden,
sondern auch eine Auslese, die die minderwertigen zum Ziel hat. Sie
wirkt allerdings in anderer Weise.
Die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des einzelnen sind
während der Kriegszeit stark gestiegen, die Reibungflächen erheblich
vermehrt, die Möglichkeiten, mit der Umgebung in Konflikt zu kommen,
sind viel größere geworden, und so kommt es, daß ein bei weitem größe¬
rer Teil der minderwertigen und unzulänglichen Elemente, d. h. der
Degenerierten, Psychopathen, endogen Nervösen, Debilen und leicht
Imbezillen, der moralisch Minderwertigen usw., darunter auch ins¬
besondere eine große Zahl von ihnen, die in normalen Zeiten in der
Menge infolge der größeren Möglichkeit des Ausweichens durch¬
schlüpfen, auffallen oder ganz versagen.
Dieses Versagen findet naturgemäß am häufigsten da statt, wo
die größten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit gestellt werden,
d. h. nach Einziehung zum Dienst mit der Waffe, der gerade an diese
Elemente ganz außerordentliche Anforderungen stellt. Das Unter¬
werfen unter die militärische Disziplin schon erfordert einen bestimmten
Grad von Elastizität, der im höheren Lebensalter, zumal bei Unge¬
dienten und nicht Vollwertigen, leicht verloren geht.
Die Formen, unter denen das Versagen der Unzulänglichen statt-
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36
W. Tintemann,
findet, sind im wesentlichen zwei, die ihrerseits wieder untereinander
die mannigfachsten Berührungspunkte haben, es sind Verfall in Krank¬
heit und das Begehen asozialer bis direkt strafbarer Handlungen (Ver¬
fall in Kriminalität).
Die hier in Betracht kommenden Krankheitszustände können
im wesentlichen wieder in zwei Gruppen gesondert werden — Über¬
gänge sind zwischen beiden auch hier mannigfach vorhanden —, in
die der Neurosen und Psychosen (bzw. Psychoneurosen). Namentlich
der Zusammenhang der ersteren mit den Ereignissen des jetzigen
Krieges, das Anschwellen der Zahl der männlichen Hysteriefälle, das
Versagen der ängstlichen Neurastheniker und Endogenen usw. ist
bereits in einer ganzen Anzahl von Veröffentlichungen behandelt
worden (von Borihoeffer, Gaupp , Hoche , Meyer, Weygandt, Wollen-
berg).
Es ist auch bereits darauf hingewiesen, daß bei Erkrankungen an
Hysterie im Felde durchaus nicht immer eine Disposition nachweisbar
bzw. vorhanden ist; nach Hoche ist sogar jeder Feldzugteilnehmer bei
entsprechenden Erlebnissen und Einwirkungen auf seine Psyche
hysteriefähig. Wenn man berücksichtigt, daß der sichere Nachweis
von Belastung und Disposition durch anamnestische Angaben schon
unter normalen Verhältnissen vielfach auf erhebliche Schwierigkeiten
stößt und zurzeit noch schwieriger ist, wird man jedenfalls die An¬
nahme einer dispositionslosen Hysterie streng auf die Fälle beschränken
müssen, wo die Erkrankung im Felde selbst oder nach Aufenthalt im
Felde und nach nachweisbaren, besonders ungünstig einwirkenden
äußeren Momenten, mögen sie akuter oder chronischer Natur sein,
ausgebrochen ist. Wir sehen aber nicht selten Erkrankungen an
Hysterie auch bei Leuten nach der Einstellung auftreten, die gar nicht
bis in die Front gelangt sind, oder bei solchen, die zwar ausgerückt,
aber noch nicht im Feuer waren, und bei denen anscheinend schon die
Erwartung der kommenden Ereignisse genügte, um das Krankheitsbild
hervorzurufen. Je eher nach der Einstellung und je weiter von der
Front die Hysterie eintritt, eine um so größere Disposition werden wir
von vornherein und ohne weiteres annehmen dürfen. Gerade bei
diesen Fällen sehen wir auch jetzt schon gelegentlich „Begehrungs¬
vorstellungen“ das Krankheitsbild ungünstig beeinflussen, ganz ab¬
gesehen von der vielumstrittenen Frage der Übertreibung und Simu-
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l'nxnlängiiche im Kriegsdienst.
04
lation, die an dem einmal aufgestellten Dogma krankt. daß. wer
Simulation diagnostiziert, nicht diagnostizieren kann
Hier handelt es sich zum Teil um Falle, wo nicht nur eine nervöse
Disposition, sondern schon ausgesprochene Defektzustände voihegen.
die hysterischen Erscheinungen diesem Defektzustande supraponim
sind und das Gnmdleiden nun den Erscheinungsformen der sopra -
ponierten Erkrankung ein eigenartiges Gepräge gibt. "Wir haben bei
einem Material von rund 400 Fällen, von denen 150 nervöse und psychi¬
sche Erkrankungen betrafen, solche supraponierten Hysterien 4 mal
gesehen, bei zweien von ihnen bildete die Grundlage ein Schwachsinn,
bei den beiden andern eine anderweitige organische Veränderung im
Zentralnervensystem. In allen handelte es sich um monosymptomati-
sche Hysterieformen, bei dreien um mehr oder weniger ausgesprochene
hysterische Krampfzustände, darunter waren beide Schwachsinnige.
Der eine von diesen ist bereits von Büscher. dessen Material zum Teil
der hiesigen Anstalt entnommen ist, im Archiv für Psychiatrie (Bd. 56)
beschrieben, der zweite bot das folgende Bild:
V. W., 22 Jahre alt, Maurer von Beruf. Keine nachweisbare Be¬
lastung, in der Jugend „gehirnkrank 4 ', Kopfschmerzen und verschiedent¬
lich Ohnmachtanfälle, daher unregelmäßiger Schulbesuch. Hat nebenbei
schlecht lernen können, so daß er im Schulwissen sehr rückständig ist.
Am 28. Juni 1915 eingezogen, hatte des öfteren Ohnmächten, konnte
keine größeren Märsche vertragen. Er rückte mit aus, befand sich mehrere
Monate hinter der Front, auch vierzehn Tage im Schützengraben, ohne
jedoch ein Gefecht mitzumachen. Bekam dann allerlei nervöse Be¬
schwerden, er konnte das „Kanonenschießen“ nicht vertragen und endete
wegen Schwachsinns und nervöser Beschwerden in einem Feldlazarett.
Hier zeigte er häufigen Stimmungswechsel und konnte 6x2 nicht aus¬
rechnen. Zurücktransportiert, kam er in der Heimat zunächst in die
Nervenabteilung eines Reservelazarettes, bekam dort Anfälle, in denen er
Liebesszenen aufführte, bekam einen Anfall, wenn er ein hübsches Mäd¬
chen sah. Die Diagnose wurde auf Imbezillität und Hysterie gestellt. Er
wurde dann im Februar 1916 in ein anderes Lazarett abtransportiert und
dort gleich wieder im hysterischen Anfall eingeliefert. In der Kranken¬
geschichte heißt es darüber:
Heute bei der ersten Untersuchung ein starkes Zucken mit dem
Kopfe, die Sprache war langsam, manchmal kaum verständlich, zeitweise
konnte er kein Wort hervorbringen. Während des Tages lag er leise um
sich schlagend im Bett, sang plötzlich dazwischen, kommandierte: Ganze
Kompagnie kehrt!, schimpft dann: Du Franzmann! Bei Erscheinen im
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W. Time mann.
Arztzimmer hat er einen leichten Tick mit dem Kopfe, hat Sprach¬
störung, starkes hysterisches Rülpsen, ließ sich in einen Stuhl fallen,
schlug mit dem Arme und Beine um sich; stöhnte dann, atmete schneller,
dann wieder Phasen, wo er ganz ruhig atmet, in denen er, wenn auch schwer
verständlich, plötzlich zu singen anfängt: O Straßburg ..., dann typischer
Are de cercle; das Bewußtsein während des Anfalles war wenig gestört;
kratzt sich im Ohr; leckt nach Wasser, das man ihm ins Gesicht spritzt;
auf Aufforderung zeigt er die Zunge, richtet sich auf. Pupillenreaktion
prompt. Dauer des Anfalls etwa 10 Minuten, klagt nach dem Anfall über
Kopfschmerzen. Als am 17. März ein schwerer Erregungszustand ein-
tritt, in dem der Kranke mit Stühlen auf die andern Kranken losgeht, an
den Betten umherreißt und bei Erscheinen des Arztes tief atmend auf der
Erde liegt, wird Überführung in die geschlossene Anstalt beantragt.
Am 13. April 1916 wird W. hier aufgenommen. Er ist ein auffallend
kleiner Mann mit den Zeichen einer alten Rachitis, der Kopfumfang
beträgt 56 cm. Es besteht eine Reihe von Degenerationszeichen am
Schädel. Sensibilitätsstörungen und Lähmungen fehlen, eine Gesichtsfeld¬
einschränkung ist bei Fingerversuch nicht vorhanden. Der Gang zeigt
keine Besonderheiten. Schulkenntnisse und Allgemeinwissen sind außer¬
ordentlich gering.* Zählen vorwärts geht, rückwärts nur mit Schwierig¬
keiten, Rechenaufgaben werden nur im Bereich bis 10 immer richtig
gelöst. Die Zahl der Monate des Jahres wird nicht gewußt. Die Monats¬
namen sind bekannt. Die Uhr wird richtig gelesen, die Zahl der Stunden
des Tages mit 9 y t bezeichnet, „sie hätten auf der Werft immer so lange
gearbeitet“. Schreiben sehr mangelhaft. Über seine frühere Arbeit und
sein Leben kann er genügend Auskunft geben. Er hat bisher beim Vater
gewohnt, derselbe hat für ihn gesorgt.
Am 1. und 2. Tage noch Anfälle, bestehend in krampfartigen Zuckun¬
gen der Körpermuskulatur ohne Bewußtseinsverlust. Dieselben ver¬
schwinden ohne weitere therapeutische Maßnahme, als daß dem Kranken,
der dringend bittet, aufstehen zu dürfen, gesagt wird, nach jedem weiteren
Anfall müsse er 3 Tage Bettruhe halten. Arbeitet seit einer Reihe von
Wochen regelmäßig auf dem Felde. Sein äußeres Benehmen ist vollständig
geordnet. Als Ursache seiner Anfälle gibt er Überanstrengung im Dienst
an, der Dienst bei der Infanterie sei besonders schwer. Er habe auch nicht
vertragen können, wenn die Vorgesetzten ihn tadelten, er habe Befehle
und Übungen oft falsch ausgeführt, da er sie nicht verstanden habe. Nur
wenn er sich aufrege, bekomme er Anfälle. Dem Vorschlag, ihm wieder im
Zivildienst Arbeit zu verschaffen, steht er vorläufig nicht sehr freudig
gegenüber.
Die hysterischen Krampfanfälle, die einzigen Erscheinungen der
Erkrankung, bauen sich bei diesem Kranken auf auf einem ziemlich
erheblichen Schwachsinnszustande. Vielleicht darf man weiter an-
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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nehmen, daß eine psychische Infektion dem Bilde die besondere Rich¬
tung gegeben hat, jedenfalls sind die ersten Anfalle während des Auf¬
enthaltes in einem Nervenlazarett aufgetreten; ob sie Vorläufer in den
schon früher vorhanden gewesenen Ohnmachtsanfällen gehabt haben,
ist nicht zu entscheiden. Die Schwierigkeit, den Kranken wieder hinaus
an die Arbeit zu stellen — er war bis dahin zu einer einfachen selb¬
ständigen Arbeit trotz seiner Intelligenzdefekte fähig —, ist nicht
gering neben dem in der Wirkung auf einen Schwachsinnigen nicht
zu unterschätzenden Umstande, daß er einmal aus ihr herausgerissen
ist; kommt er zunächst in eine ungeeignete Umgebung, so ist der Rück¬
fall voraussichtlich bald da.
Der eine der andern Fälle mit aufgepfropften hysterischen Erschei¬
nungen hatte die folgende Krankheitsgeschichte:
X. Y., 42 Jahre alt, im November 1915 als ungedienter Landsturm¬
mann eingezogen, Landmann im Zivilberuf. Nicht belastet, in den letzten
Jahren schwerhörig, auch sollen Gedächtnis, Lesen und Schreiben in dieser
Zeit schlechter geworden sein. Schon auf dem Transport zu seinem weit
entfernt liegenden Garnisonort erkrankt „mit Schmerzen überall“. Zu¬
nächst 8 Tage Revier-, dann Lazarettbehandlung (16. 12. 15). Diagnose:
Rheumatismus (zentrales Nervenleiden?). Er gab damals starke Schmer¬
zen in der Hüfte an, konnte nicht gehen. In die Heimat zurücktranspor¬
tiert, im Heimatlazarett: unsicherer Gang, Erschrecken bei Anrufen,
Tremor, verstärkte Patellarreflexe. Vereinzelt Angstzustände. Über¬
führung in eine Spezialanstalt. Befund dort: Fragliche Pupillenreaktion
Ataktischer Gang. Diagnose: Organische Gehirnkrankheit. Hysterie.
Am 28. 3. 16 Überführung in die hiesige Anstalt. Aufnahmebefund:
Schwerhörigkeit. Sehr enge Pupillen, die nur eine Spur auf Licht reagieren.
Sehr lebhafte Patellar- und Achillessehnenreflexe. Geschlängelte Schläfen¬
arterien, harte Radialis. Benehmen bei der Untersuchung sehr auffallend,
zuckt zusammen, wenn man ihm mit den Händen zu nahe kommt. Bei
Prüfung der Patellarreflexe zuckt er bereits vorher mit den Beinen. Klappt
mit den Augen, reißt sie auf, blinzelt. Das Ganze wirkt sehr theatralisch.
Beim Aufstehen knickt er in den Knien ein, torkelt hin und her, klammert
sich überall an, geht schwankend ganz nach vorn übergebeugt. Der Gang
bessert sich bei energischem Zureden. Bei einfacher Bettruhe schwindet
die Störung innerhalb einiger Tage fast völlig; der Kranke geht zunächst
nur noch ein wenig nach vorn übergebeugt, zuckt noch bei Berührungen
zusammen. Bereits am 19. 4. kann er völlig Symptom- und beschwerde¬
frei entlassen werden. Bestehen blieb nur die minimale Lichtreaktion der
Pupillen.
Bei dem ganzen Symptomenbilde des vorstehend geschilderten
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W. Tintemann,
Falles hatte man zunächst den Eindruck einer gewaltigen Übertreibung.
Die Überlegung des sicheren Vorhandenseins einer beginnenden organi¬
schen Veränderung im Gehirn ließ uns dann doch schließlich eine auf-
gepfropfte hysterische oder besser psychogene Störung annehmen,
die ihr eigentümliches Gepräge durch das Grundleiden, dessen Art
nicht ganz sicher ist (Arteriosklerose ?), erhalten hat. Daß das hysteri¬
sche Krankheitsbild durch einen komplizierenden Defektzustand
manchmal ein gewisses — man möchte sagen schwachsinniges — Aus¬
sehen erhält, haben wir des öfteren gesehen. (So schrie ein schwach¬
sinniger Hysteriker unserer Beobachtung im Krampfanfall immer:
Papa, Papa!) Wenn hier im Laufe derZeit ein stärkeres Hervortreten
der durch die bereits längere Zeit bestehende organische Gehirn¬
erkrankung hervorgerufenen Beschwerden stattfindet, wird aller
Voraussicht nach — wenn nicht schon vorher — die Rentenfrage
akut werden.
Zu der bereits erwähnten ungeeigneten Umgebung kann in
diesen Fällen auch die Familie gehören, nicht nur insofern, als der
Kranke unter Umständen als der Empfänger einer Rente geschätzt
wird, sondern auch indem seinem Leiden ein zu großes Gewicht bei¬
gelegt und er entsprechend verzärtelt wird.
In dem zweiten der vorstehend erwähnten Fälle, der mehrfach
wegen seiner Krämpfe von der Truppe längere Zeit nach Hause beur¬
laubt war, hatte man den Kranken keinen Schritt allein gehen lassen,
„er war so schwach, daß er keinen Korb mit Eiern tragen konnte“.
Als er ins Lazarett kam, brauchte er geraume Zeit, um sich aus den
verschiedenen Lagen von Wolle herauszuwinden, in die ihn die elter¬
liche Liebe sorgsam eingewickelt hatte. Er selbst war dadurch von
seiner schweren Erkrankung bereits so überzeugt und durchdrungen,
daß es geraumer Zeit bedurfte, um ihn zu leichter Arbeit zu erziehen.
Die Hysterie war mit Liebe gezüchtet worden. Für diese Formen der
Erkrankung kann auch unter Umständen eine ungeeignete Art der
Behandlung schädigend wirken; ich erinnere hier an die namentlich
in den ersten Monaten bei allgemeinen Klagen öfter gestellte Diagnose
des Rheumatismus mit langdauernder, meist erfolgloser Behandlung
bis zu Moor- und Fangobädern, während sich darunter nicht selten psy¬
chogene bzw. hysterische Zustände verbergen. Ein Landwehrmann kam
hier ins Lazarett, nachdem er ungefähr 3 Tage nach der Mobilmachung
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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schon vor dem Ausrücken mit allgemeinen Symptomen — „Magen¬
leiden“ — erkrankt und fast 8 Monate in kleineren Heimatlazaretten
behandelt war ohne jeden Erfolg, er litt an einer schweren hysterischen
Asthenie mit ausgeprägter Willensschwäche und wies mit Vorliebe
jeden nun erfolglosen Versuch, seinen Zustand zu beeinflussen, damit
zurück, daß er auf eine Ansichtskarte hinwies, auf der ihm eine
Schwester bestätigte, daß er Anfälle habe.
Alle diese Punkte dürften meiner Meinung nach auch dafür
sprechen, möglichst nie Hysterische von vornherein mit einer Vollrente
zu entlassen, sondern die Rente möglichst niedrig zu bemessen, denn
nach der Rente beurteilen unter anderem der Kranke und vor allem
die Angehörigen die Schwere des Krankheitszustandes, und eine hohe
Rente wirkt hier geradezu suggestiv bei diesen Kranken. Auf diesen
Punkt, möglichst niedrige Festsetzung der Rente bei hysterischen Zu¬
ständen, Ist schon von anderer Seite aufmerksam gemacht worden
(Lewandowsky, Weygandt).
Daß im übrigen gerade bei diesen Kranken gelegentlich „Be-
gehrungsvorstellungen“ auftreten, ist verständlich und kann auch
wohl jetzt schon nicht mehr bezweifelt werden, wenn auch im allge¬
meinen angenommen wird, daß sie verhältnismäßig selten sind (Wey¬
gandt: nur ausnahmweise) und eine Häufung erst nach Friedens¬
schluß zu erwarten ist, wenn die Kriegsangst wegfällt und die Rente
winkt (Oaupp). Sie treten bei derartig disponierten Individuen sogar
jetzt gelegentlich hervor, die gar nicht einmal die Strapazen des Feld¬
zuges kennen gelernt, sondern noch in der Ausbildung begriffen sind.
So haben wir einen Hysteriker gesehen, der bereits mehrere Jahre vor
der Einstellung Krampfanfälle gehabt hatte, trotzdem eingestellt war
und später Rentenansprüche erhob:
K. L., Arbeiter, 25 Jahre alt. Mit 17 Jahren Fall und Kopfver¬
letzung mit Bewußtlosigkeit. Seit 1912 in längeren Pausen Serien von
Anfällen, jedesmal 2—3 Tage lang hintereinander. Im November 1914
eingezogen, auch im Dienst bis zum 18. März wiederholt Anfälle. Kam
zur Beobachtung ins Revier und dann ins Lazarett, hier Häufung der An¬
fälle, schließlich Erregungszustand, nach seiner Angabe, weil er sich
über das Ausbleiben seiner „Braut“ aufregte. Mit der Diagnose Epilepsie
in die Anstalt. Hier stellten sich die Krampfanfälle als typische, große,
hysterische Anfälle heraus. Es bestand eine hysterogene Zone auf dem
Scheitel, wo sich eine Narbe, angeblich von dem früheren Fall herrührend.
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Original from
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42
W. Tintemann.
befand. Druck auf diese Stelle war empfindlich und löste jedesmal einen
großen Anfall mit Zuckungen und arc de cercle aus. Die Anfälle traten
gewöhnlich nur bei Bettlage auf.
Der Rentenanspruch wurde im Gutachten abgewiesen.
Ein anderer Kranker des Lazaretts, Landsturmmann, Ende der
30er Jahre, seit einiger Zeit eingezogen und in der Ausbildung, kam in das
Vereinslazarett der Anstalt mit der Diagnose eines hysterischen Anfalls.
Eine besondere auslösende Ursache lag nicht vor. Er zuckte rhythmisch
mit Armen und Beinen. Man mußte sich fast Gewalt antun, um in dem
Zustande noch den hysterischen Anfall und nicht die verpönte Über¬
treibung zu sehen. Der Anfall wiederholte sich nicht, aber als der Kranke
aufstehen sollte, hinkte er gewaltig mit dem einen Bein und gab an, jetzt
darin große Schmerzen zu haben. Irgendein objektiver Befund war nicht
zu erheben. Der Kranke war ein kleiner, blasser Mann, den Grund seines
Leidens suchte er darin, daß er bei seinem Alter für die Anstrengungen
des Dienstes zu schwach sei. Sensibilitätsstörungen und sonstige ausge¬
sprochene hysterische Stigmata fanden sich nicht. Bei gebessertem Zu¬
stande nach einiger Zeit als arbeitsverwendungsfähig entlassen, kam er
bereits am zweiten Tage wieder herein in dem gleichen Anfall wie das
erste Mal. Auch diesmal wiederholte sich der Anfall nicht. Es wurde ver¬
sucht, leichte Arbeitstherapie anzuwenden. Schon beim Gartenfegen hörte
der Kranke nach kurzer Zeit immer wieder auf, erklärte, zu schwach zu
sein. Er sollte dann entlassen werden, gab darauf an, er würde wohl
seinen Beruf — er war Zigarrensortierer! — nicht mehr ausüben können.
Er ist dann in ein anderes Lazarett verlegt, was schließlich aus ihm ge¬
worden ist, weiß ich nicht.
Es mag ohne weiteres zugegeben werden, daß der Kranke durch die
seinem Alter und seinem Beruf ungewohnten körperlichen Anstrengungen
in gewisser Weise aus dem psychischen Gleichgewicht geworfen war und
auf sie mit hysteriformen Beschwerden reagierte. Seine Angaben über
Arbeitsunfähigkeit waren aber entschieden, zumal bei seinem Beruf, der
hier nur geringe Anforderungen stellte, unberechtigt und zu weitgehend.
Es fehlte ihm, wie schon der Versuch mit Arbeitstherapie zeigte, der
Wille und Antrieb zur Aufnahme der bürgerlichen Arbeit (Gaupp).
Ich habe vorübergehend noch einige ähnliche Fälle gesehen,
darunter einen, der mit einem ganzen künstlichen Apparat zur Stützung
seiner Wirbelsäule ankam und, wenn man die Finger seinem Bücken
auf 10 cm näherte, über heftige Schmerzen klagte. Es gibt nur wenige
von diesen Zuständen, die man nicht unter den kautschukartigen
Begriff der Hysterie, die zurzeit in gewisser Weise an den alten Begriff
der Dementia praecox in der Psychiatrie, den großen Topf, in den alles
hineingeworfen wurde, mit dem man nicht fertigwurde, erinnert, und
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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der Psychogenie unterbringen kann, schon ist der Satz aufgestellt,
daß es fließende Übergänge von der Hysterie zur Simulation gäbe,
hoffentlich wird dieser Satz nicht noch erweitert.
Weygandt redet an einer Stelle von den geradezu „infantilen
Zügen in der Psyche eines großen Teiles unserer Verwundeten“, diese
infantilen Züge finden sich nicht nur bei den Kriegsverletzten und
-beschädigten, sondern in der Psyche des Volkes überhaupt in einem
größeren Maßstabe, als man im allgemeinen zurzeit anzunehmen
geneigt zu sein scheint. Das Denken namentlich der ländlichen Be¬
völkerung weist viele egozentrische, naiv-kindliche Züge auf, aus ihnen
ergibt sich meiner Meinung nach auch eher ein psychologisches Ver¬
ständnis wenigstens für einen Teil der als unsozial empfundenen
Handlungen, unter denen zurzeit die Allgemeinheit zu leiden hat,
wie Hamstern, Zurückhaltung von Nahrungsmitteln usw., als wenn
man in jedem Bauern, der seine Kartoffeln falsch angibt, einen berech¬
nenden Verbrecher am Volke sieht.
Solche Erkenntnis ist aber wichtig, weil nach dem Maßstabe, den
man hier anlegt an eine Psyche, auch die Mittel gewählt werden müssen,
mit denen auf sie eingewirkt wird. Zu diesen psychisch wirkenden
Mitteln gehört aber eben auch die Rente. Sie ist kein indifferentes
Mittel und wirkt um so einschneidender, je unzulänglicher und labiler
die Psyche des Empfängers ist. Gewiß soll bei ihrer Festsetzung mög¬
lichst human vorgegangen werden. Dabei darf aber nicht von dem
Gesichtspunkt ausgegangen werden, daß die Vollrente die wirklich
humanste Maßnahme gegenüber dem Nervösen darstellt, der im Dienste
des Vaterlandes geschädigt ist.
Er muß auch im eigensten Interesse dahin gebracht werden, daß
er das, was ihm an Arbeitskraft geblieben ist, anzuwenden und auszu¬
nutzen lernt. Daran verhindert ihn, wie die Verhältnisse nun einmal
gerade bei Labilen liegen, nicht selten die Vollrente und die Furcht,
sie auch bei nur bescheidener Betätigung zu verlieren. Dem muß
dadurch entgegengearbeitet werden, daß man diese Kranken so stellt,
daß sie von vornherein sich gewöhnen, mitzuarbeiten an ihrem
Lebensunterhalt. Weygandt betont auch, daß es notwendig ist, gegen¬
über diesen hysterischen Beschwerden und Rentenansprüchen recht¬
zeitig mit Geschick und Bestimmtheit einzugreifen, d. h., sich auch
schon jetzt über die Sachlage und ihre Behandlung klar zu werden
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W. Tintemann,
gegenüber dem „geradezu lawinenartigen Anschwellen der Renten¬
sucht“, die nach dem Ende des Krieges zu erwarten steht. Dahin
gehört auch der bereits bei Unlallkranken früher viel erörterte Vor¬
schlag der Kapitalabfindung für die funktionellen Kriegsneurosen
(JoUy).
Daß es zu einer erheblichen Zunahme der nervösen Erkrankungen,
darunter vor allem der männlichen Hysterie, unter dem Einfluß der
außerordentlichen Anforderungen des Krieges, gekommen ist, stehr
schon jetzt fest, der Beweis ist ja namentlich auch für die Hysterie
leicht zu erbringen. Eine Zunahme ist sicher auch bei den Erkrankun¬
gen an Psychosen vorhanden, wenn auch Zahlen noch nicht feststehen
und sie wohl sicher nicht so erheblich ist, wie man auf Grund der
wachsenden Zahl von Aufnahmen in die geschlossene Anstalt in der
letzten Zeit anzunehmen geneigt sein könnte. In den letzten großen
Kriegen (vgl. 1870/71) ist eine Zunahme der Zahl der Geisteskranken
für die dem Kriege folgenden Jahre festgestellt worden, vielleicht
fällt diese Erhebungszacke diesmal bei der langen Dauer des Krieges
und seinen immensen Anforderungen bereits in die Kriegszeit hinein,
statt zu folgen.
Es wird auch notwendig sein, bei einer späteren Statistik überall
der Vorgeschichte dieser Krankheiten nachzugehen, genauer nach¬
zugehen, als es zurzeit vielfach geschieht und möglich ist, wenn man
feststellen will, wie hoch der Prozentsatz ist, in dem in Wirklichkeit
der Krieg und seine Begleiterscheinungen die Ursache für den Ausbruch
der Seelenstörung sind. Das Resultat wird sich dadurch aller Voraus¬
sicht nach verschieben, und zwar im günstigen Sinne.
Naturgemäß konnten bei dem großen Bedarf an Mannschaften
bei der Musterung nicht die gleichen Anforderungen an die Verwen¬
dungsfähigkeit gestellt werden wie in Friedenszeiten, die Ansprüche
mußten herabgesetzt werden, dazu war es unmöglich, das Musterungs¬
geschäft mit derselben zeitraubenden Vorbereitung und peinlichen
Genauigkeit durchzuführen wie in Friedenszeiten, so kam eine ganze
Reihe von unzulänglichen Elementen ins Heer, von denen eine Anzahl
so labil und aufgebraucht war, daß sie, wenn sie nicht zufällig dem
Heeresdienst einverleibt wurde, mit großer Wahrscheinlichkeit auch
sonst später bei einer andern Gelegenheitsursache psychisch zusammen-
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gebrochen wäre, während andere bereits in der Entwicklung einer
Geisteskrankheit begriffen oder auch schon geisteskrank waren.
Diese letzteren sind offenbar durchaus nicht immer gleich auf¬
gefallen. Ich habe bei einem relativ kleinen Material mehrere gesehen,
die trotz einer sicher bestehenden Psychose schwere Strapazen und
Gefechte mitgemacht haben, bis manchmal bei einer Zufallsgelegen¬
heit ihre Krankheit an den Tag kam. Das Unruhige, Wechselvolle des
Krieges, in dem das Tun und Treiben des einzelnen namentlich im
Anfang oft verschwand, ist für einzelne von ihnen ein gar nicht unge¬
eignetes Milieu. Am lebhaftesten steht mir hier immer ein an einer
vorgeschrittenen Dementia paranoides leidender Kranker vor Augen,
der, ein mehrfacher Brandstifter und wegen seiner Geisteskrankheit
entmündigt, was wohl nicht bekannt gewesen sein wird, es trotzdem
fertiggebracht hatte, ins Feld zu ziehen:
X. Y., Ende der 20er Jahre stehend, in der Jugend Zwangszögling,
wurde, nachdem er aus der Schule entlassen, zu einem Meister in die Lehre
gegeben, dem er das Haus anzündete. Zu einer längeren Freiheitsstrafe
verurteüt, erkrankte er im Gefängnis mit Wahnideen im Sinne der Ver¬
folgung und wurde auf Wunsch seiner Angehörigen ungeheilt zu ihnen ent¬
lassen. Er hat die ganzen Jahre unter Verfolgungs\orstellungen gestanden,
arbeitete aber bald hier bald dort, heiratete, versuchte 1913 seine Woh¬
nungseinrichtung in Brand zu stecken und wurde, nachdem das Verfahren
wegen seiner Geisteskrankheit eingestellt war, entmündigt. Trat nach
Ausbruch des Krieges in das Heer ein, machte mehrere Monate den Feldzug
mit, wurde auch einmal verwundet, kam wegen körperlicher Erkrankung
zurück in ein Heimatlazarett. Hier wurde man auf ihn aufmerksam,
als ein Schutzmann, der ihn kannte, ihn als einen Simulanten bezeichnete.
Er schrieb dann mehrere Briefe voll Wahnideen und wurde nach Beob¬
achtung hier entlassen. Daß er während seiner Dienstzeit immer alle Ge¬
bote der Ethik streng befolgt hat, möchte man bezweifeln. Jedenfalls
wurde er, als er zur Beförderung in die Heimat aus unserem Lazarett ab¬
geholt wurde, von seinem Bettnachbar verfolgt, der heftig ein Paar mit¬
genommener Strümpfe mit Erfolg als sein Eigentum reklamierte. Psy¬
chisch bestanden bei dem Mann ausgesprochene geistige Schwäche und
Wahnvorstellungen im Sinne des Verfolgtseins.
Daß Psychosen mit so weit vorgeschrittenen und ausgesprochenen
Krankheitsbildern sich lange Zeit halten, wird natürlich ein seltener
Fall sein. öfter wird das stattfinden bei Psychosen im Beginn, und
zwar namentlich bei Erkrankungen vom Bilde des Jugendirreseins,
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46 • % Tnitem^an.
die ja in ihren ersten Anfängen vielfach nicht?, bieten ais eine gewi>-
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sein. Gerade einem Teil von ihnen auch mit ihrer Unruhe und Unstet-
beit liegt in gewisser Weise das Milieu. Persönlicher Mut fehlt ihnen
meist nicht. Ob der Kriegsdienst ihnen genützt oder geschadet hat,
ob sie für die Dauer durch ihn gelernt haben, sozial zu denken und zu
handeln, wird erst der Frieden ergeben.
Auf jeden Fall sind unter Umständen auch im Heeresdienst, wo
sie sich freier und selbständiger bewegen können und müssen, für sie
Gefahren vorhanden, die etwa vorhandenen alten unsozialen Neigun¬
gen Vorschub leisten können. Zwei Beispiele seien hier angeführt:
M. N., 20 Jahre alt, Fürsorgezögling. Vater Trinker, Mutter lieder¬
lich. Die Ehe der Eltern ist geschieden, beide Teile sind für schuldig erklärt.
Beim Vater aufgewachsen. Nach der Konfirmation 1909 in eine Bureau¬
stellung gebracht, führte sich anfangs gut, begann 1911 zu bummeln,
schwindelte seiner Großmutter 100 M. ab. Später stahl er ihr erneut 70 M.
und fuhr mit einem Kollegen nach einer Großstadt. Als er, polizeüich zu-
r^ückgebracht, nochmals 50 M. erschwindelte, wurde das Fürsorgeverfahren
eingeleitet, zunächst auf Veranlassung des Vaters aber nochmals der
Versuch gemacht, N. in einer Stellung unterzubringen. Die Folge ist,
daß er der Großmutter nochmals 800 M. entwendet und erneut entweicht.
# Er wird nun in einer Fürsorgeanstalt untergebracht und am 3. 1. 13 von
dort aus bei einem Meister in die Lehre gegeben. Nach 4 Monaten ent¬
weicht er wieder mit der geliehenen Taschenuhr seines Meisters und 6 M.
Nachträglich wird noch bekannt, daß er kurz vorher zusammen mit
andern Lehrlingen einen betrunkenen Mann auf der Straße liegen fand.
Er schaffte ihn mit Hilfe seiner Begleiter in einen naheliegenden Schuppen,
schickte dann die anderen fort, „damit der Mann nicht gestört würde“,
und ging noch einmal zu ihm. Am andern Morgen fehlten dem Manne
60 Mark.
Im Juli 1913 wiedergefaßt, wird er in der Anstalt selbst beschäftigt
und führt sich gut. Im Jahre 1914/15 wird er verschiedentlich wegen einer
eitrigen Knochenhautentzündung am Arm behandelt. Am 17. 5. 15
wird er zum Militärdienst eingezogen und schreibt gefühlvolle Briefe an die
Anstalt aus der Garnison. Im Nationale wird seine müitärische Führung
als gut bezeichnet.
Bereits am 12. 6. 15 wird er wegen erneuter Entzündung am rechten
Unterarm dem zuständigen Garnisonlazarett zugeführt, nach einiger Zeit
entlassen, wegen derselben Erkrankung nochmals aufgenommen, wieder
entlassen, ohne daß völlige HeUung eingetreten. Er wohnte in den Zwi¬
schenzeiten anfangs in der Kaserne, konnte ausgehen, wann er wollte,
nur abends um 6 Uhr mußte er sich melden. Ende November mietete er
sich ein Privatquartier. Im September, nach dem ersten Lazarettaufent¬
halt, war N. auf Urlaub zu Hause gewesen und hatte sich mit der früher
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von ihm bestohlenen Großmutter versöhnt, indem er Reue vorgab. Diese
Versöhnung benutzte er in der Folgezeit, um erneut Schwindeleien zu
begehen. Er brauchte Geld, um sein Privatquartier — er aß auch privat,
verkehrte mit einem Millionär — zu bezahlen. Er schrieb der Gro߬
mutter zunächst, daß ihm sein Waffenrock gestohlen sei und er ihn ersetzen
müsse. Dann schrieb er, daß sein Arm amputiert werden solle, daß sich
aber ein Arzt in X. verbürgen wolle, ihn bei privater Behandlung zu er¬
halten. Er schickte gefälschte Quittungen ein, darunter eine für Röntgen¬
behandlung. Endlich „erbat“ er Geld für Privatunterricht, den ihm seis
Pastor verschafft habe. Er erhielt in allen Fällen die gewünschte Summe-
die von ihm geschriebenen Briefe sind außerordentlich gewandt und raffi¬
niert verfaßt, und die Großmutter, die wieder sein Ausbeutungsobjekt wurde,
sehr alt; im ganzen bekam er fast 1000 M. Im Januar kamen die Verwandten
hinter die Schwindeleien, sie wandten sich mittels der Fürsorgeanstalt an
das Regiment. Ein Onkel schrieb gleichzeitig einen Brief an N., er möge
veranlassen, daß er wieder in die Kaserne komme. N. verbrennt den
Brief sorgfältig, pumpt sich Zivilzeug von einem mit ihm zusammen¬
wohnenden Kameraden und reißt aus. Unterwegs schmückt er sich mil
zwei Ordensbändern und erschwindelt sich, wenn ihm das Geld anfängt
knapp zu werden, solches, indem er an die Ehefrauen von bekannten
Männern, die im Felde stehen, um Geld telegraphiert, vorgebend, daß der
betreffende Ehemann, auf der Urlaubsreise zur Familie begriffen, festsitze.*
da ihm das Geld ausgegangen. Bei der dritten derartigen Schwindelei
wird er verhaftet, da die bereits einmal geprellte Ehefrau zufällig gleich¬
zeitig einen Brief von ihrem Mann aus Belgien erhält.
N. gibt nach der Verhaftung die genauen Einzelheiten seiner Reise
und Taten an, auf den Gedanken zu diesen Schwindeleien sei er gekommen,
weil er ähnliches früher einmal unter „Gerichtssaal“ gelesen habe. Nach
kurzer Haft erkrankt er zweimal mit schweren, kurzdauernden Dämmer¬
zuständen. Die während seiner Dienstzeit erschwindelten Gelder hat er
für gutes Essen und Trinken, Logis, Ullsteinbücher, Gitarre usw. aus¬
gegeben.
N. wurde seinerzeit in einem schnell abklingenden Dämmerzustände
in die Anstalt aufgenommen. Er bot später keine Zeichen einer Geistes¬
krankheit, keine Intelligenzdefekte, hatte aber ein außerordentlich labiles
Gefäßsystem und eine große affektive Anspreehbarkeit. Er ist ein zuvor¬
kommender, fast schüchterner, blasser Mensch, hinter dem man nie den
raffinierten Schwindler vermuten würde. Anhaltpunkte dafür, daß er
seine Tat in einem krankhaften Zustande, der die Bedingungen des § 51
StGB, erfüllte, begangen, ließen sich nicht finden.
Wir haben hier einen ausgesprochen degenerierten Psychopathen
vor uns. der schon mit 16 Jahren schwere asoziale Eigenschaften offen¬
barte, offenbar zurzeit auf dem besten Wege zum Hochstapler ist und
vermutlich in der Irrenanstalt enden wird. In Friedenszeiten wäre er
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voraussichtlich gar nicht in das Heer eingestellt worden. Ob bei seiner
Musterung und Diensteinstellung die Militärbehörde auf seine Vorge¬
schichte aufmerksam gemacht ist, geht aus den Akten nicht hervor.
Jedenfalls haben in der Folgezeit eine Reihe von Momenten, die sich viel¬
leicht wenigstens zum Teil hätten ausschalten lassen, seinen Neigungen
ungewöhnlichen Vorschub geleistet. Es sind das der lange Lazarett¬
aufenthalt, der zurzeit manche Gefahren in sich birgt, vor allem aber das
fast aufsichtlose Nichtstun. N. hat überhaupt fast keinen Dienst getan,
„er konnte ausgehen, wann er wollte“. So kam er nach der strengen Auf¬
sicht in der Fürsorgeanstalt bald ins Bummeln, der Wunsch, es andern
gleich zu tun können, mag auch mitgespielt haben, die alten Neigungen
wurden wieder lebendig.
Manche Schwierigkeiten in der Beurteilung machte der zweite Fall,
der ähnlich lag, auch bei ihm handelte es sich um kriminelle Handlungen
und ihre Beurteilung. Ich gebe die Krankengeschichte so, wie die einzelnen
Tatsachen nacheinander bekannt wurden.
Am 5. April wurde der am 26. 1. 91 geborene Gefreite X. Y. in die
Anstalt aufgenommen mit einem ärztlichen Zeugnis, daß er an Dementia
praecox leide. Sein Zustand habe sich in der letzten Zeit sehr verschlim¬
mert. Er — Inhaber des Eisernen Kreuzes erster Klasse — führe Be¬
trügereien aus, werde dadurch gemeingefährlich und bedürfe der Unter¬
bringung in einer geschlossenen Anstalt. Von seiner Vorgeschichte war
zunächst bekannt, daß seine Eltern gestorben, er selbst nie ernstlich krank
gewesen sei. Er war seit Oktober 1912 aktiver Soldat, im August 1914
ins Feld gerückt. Er war durch einen Granatsplitter am Hinterkopf ver¬
wundet worden, der Knochen war verletzt, eine Hirnverletzung war aber
nicht eingetreten (März 1915). Am 3. Mai war er nach Heilung der Wunde
wieder als felddienstfähig zu seinem Truppenteil entlassen.
Y. war ein sehr tüchtiger Soldat und hat sich im Felde so hervor¬
getan, daß ihm mehrere Kriegsauszeichnungen, darunter das Eiserne Kreuz
erster Klasse, verliehen wurden. Er wurde am 29. 1. 15 zum Gefreiten
befördert, Unteroffizier ist er trotz seiner hohen Auszeichnungen nicht
geworden. Im Oktober 1915 ließ er sich auf seinen Wunsch, um weiter¬
zukommen, zu einer Gebirgs-Maschinengewehrabteilung versetzen. Dort
versagte er und kam am 11. 12. 15 ins Lazarett, nachdem er einige Zeit
vorher ein eigentümliches Benehmen gezeigt und sich in den letzten Wochen
Unregelmäßigkeiten im Dienst hatte zuschulden kommen lassen. Man
hatte den Eindruck, als ob er krank sei. Im Lazarett klagte Y. über Kopf¬
schmerzen, gab an, beim Gehen öfter unsicher zu sein, hatte Aufträge
vergessen.
Er kam am 3. 1. 16 in die Beobachtungsabteilung eines Speziallaza¬
rettes. Hier gab er an, daß er mit 9 Jahren in Fürsorgeerziehung ge¬
nommen, mit 15 Jahren ins Waisenhaus gekommen sei und bis zum
21. Jahre in Erziehung blieb. Er habe in S., wohin er sich hatte versetzen
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIIL 1. 4
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lassen, Schwierigkeiten gehabt, und er glaube, daß der Feldwebel den
Hauptmann beeinflußt habe, ihn nicht zu befördern, so habe er die Lust
verloren, er habe immer mehr beobachtet, daß man einen Grund suchte,
um ihn zu schikanieren. Die Unteroffiziere beachteten seinen Gruß nicht.
Man sprach stets über ihn, er fühlte sich immer mehr beeinträchtigt.
Schließlich sprachen die Unteroffiziere davon, er habe den Größenwahn.
In der Aufregung habe er sich Unregelmäßigkeiten zuschulden kommen
lassen. Er bekam Kasernenarrest und wurde schließlich ins Lazarett
gesteckt. Körperlich wurde außer einer Druck- und Klopfempfindlichkeit
des Schädels im Bereich der Narbe und einer Hyperästhesie am ganzen
Körper nichts Krankhaftes gefunden. Psychisch bestand leicht gehobene,
läppische Stimmung, Y. schwätzte in einem fort, redete oft verworrenes
Zeug, neigte zum Renommieren, vernachlässigte sein Äußeres, suchte
Konnex mit Wärterinnen, schrieb auf Heiratsannoncen. Er sah und
hörte lebhaft Ereignisse aus dem Felde, hörte sich rufen, hörte Granaten
einschlagen. Er näßte nachts regelmäßig ein, suchte das nasse Bettzeug
zu verbergen. Zur Arbeit war er unbrauchbar. Am 26. 1. wurde Y. in die
Irrenabteilung aufgenommen, war dort gehobener Stimmung, bei der
Arbeit unstet, bereits am 1. Februar wurde er gebessert zum Truppenteil
entlassen mit der Diagnose einer Dementia praecox. Er sollte als D. U.
zur Entlassung kommen.
Am 5. April wurde er dann mit dem obenerwähnten Zeugn's in die
hiesige Anstalt aufgenommen. Nach einigen Tagen folgte eine Gerichts¬
akte mit einer Anklage wegen Betruges gegen ihn und Ersuchen um Ab¬
gabe eines Gutachtens. Er war danach nach der Rückkehr aus dem Lazarett
vom Truppenteil beurlaubt worden und hatte einen Teil dieses Urlaubs
in Berlin zugebracht. Dort hatte er am 10. März einem Schuhmacher
einen wertlosen Ring für 120 M. verkauft. Der Käufer hatte sich seiner
Angabe nach durch das sichere Auftreten des ordengeschmückten Soldaten
täuschen lassen. Es wurde an die Anstalt die Anfrage gestellt, ob Y. zur
Zeit der Tat zurechnungsfähig gewesen sei.
Das Bild, das Y. hier bot, wich in manchen wesentlichen Zügen von
den früheren Beobachtungsergebnissen ab. Er war äußerlich geordnet,
in seiner Stimmung leicht gehoben, hatte viele Wünsche, näßte die erste
Nacht, auch später öfter ein; um dies zu vermeiden, gab er schließlich
aus sich selbst heraus der Nachtwache Auftrag, ihn zu wecken. Er schrieb
viele Briefe und Postkarten, erhielt Briefe und Pakete. In den Briefen
betonte er oft, wie schlecht es ihm gehe, gelobte ewige Dankbarkeit für
erhaltene Liebesgaben. Von der Geschichte mit dem Ringverkauf wollte
er die ersten Tage absolut nichts wissen, er habe nie einen Ring außer dem,
den er trage, verkauft oder besessen. Er führte Korrespondenzen mit
mehreren weiblichen Persönlichkeiten, von denen eine seit 4 Jahren seine
Braut war und ein 1 ^jähriges Kind besitzt, das seiner Angabe nach nicht
von ihm stammt, und anscheinend zurzeit wieder gravida ist. „Er hat
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Öl
das Mädchen gerade genommen, weil sie hineingelegt ist.“ Er schätzte seine
Person hoch ein und machte sich wenig Gedanken um die Zukunft, die er
durch die Rente für gesichert hielt. Er schreibt sogar einmal an seine
Braut wegen der Frage der Kapitalabfindung.
Körperlich bestand links hinten am Schädel eine gut verheilte,
glatte Narbe mit einer länglichen, schmalen Knochenrinne darunter. Es
bestanden Klagen über häufigere Kopfschmerzen, zeitweise Unfähigkeit,
intensiv zu denken. Die inneren Organe des sehr kräftigen Mannes waren
gesund. Im Urin sogenannte Tripperfäden in ziemlich reichlicher Menge
vorhanden mit zahlreichen Eiterkörpern und Haufen von Kokken (Gono¬
kokken ?)
Das Nervensystem bietet keine pathologischen Abweichungen, die
Puipillen reagieren prompt, der Augenhintergrund ist [frei, keine Hemi¬
anopsie, kein sonstiger Hirnnervenbefund. Das Wissen des Y. entspricht
nicht seinem Reden, jedoch ist ein gröberer Intelligenzdefekt nicht vor¬
handen (Unterschiedsfragen gehen nicht; Sprichworte, soweit sie be¬
kannt sind). Über seine Jugend machte Y. eine Reihe sehr widersprechen¬
der Angaben, er wollte in Fürsorge gebracht sein, weil seine Eltern tot
waren und man mit ihm nirgend hinwußte, er sei im Waisenhause zu E.
groß geworden. Jemals kriminelle Handlungen begangen zu haben, weist
er weit von sich. Seine Angaben waren so unsicher, daß wir ihnen durch
Einfordern der Akten von E. auf den Grund gehen zu müssen glaubten.
Diese Nachforschungen hatten ein interessantes Ergebnis:
Danach war Y. im Februar 1902 in Fürsorgeerziehung gebracht
worden, weil er im Dezember 1901, noch nicht 11 Jahre alt, eine ganze
Reihe von strafbaren Handlungen begangen hatte, Fundunterschlagung,
Raub, Betrug, Vagabundage, Schulschwänzen. Sein Abgangszeugnis von
der Schule, auf der er bis dahin gewesen war, lautete: Sittliche Führung
tadelnswert, Fleiß nicht befriedigend, Kenntnisse ziemlich genügend.
Die Unterbringung erfolgte auf Veranlassung seines keineswegs ge¬
storbenen Vaters. Der erste Bericht der Fürsorgeerziehung über ihn lautete:
Bettnässer, lügnerisch, neigt zum Zank und zeigt sich schadenfroh. Leistun¬
gen in der Schule mündlich gut, schriftlich genügend bis schwach. Sein
Betragen besserte sich in der Folge, das Schlußzeugnis seiner Schulzeit
lautete im März 1907: Betragen gut, Religion recht gut, Singen gut,
das übrige genügend. Bemerkung: Der schriftliche Unterricht fällt ihm
schwer, im mündlichen sehr rege.
Y. kam dann im März 1907 in die Lehre zu einem Schuhmacher.
Die ersten Berichte über seine Führung lauten gut, er scheint geistig sehr
befähigt, ist freundlich und heiter im Verkehr. Im Mai 1908 findet sich
plötzlich die Mitteilung, daß Y. noch immer in Untersuchungshaft sitzt,
er habe viele Diebstähle begangen. Er sei flink bei der Arbeit, auf der
Straße voll schwärmerischer Gedanken und Schlechtigkeiten. Es ergab
sich dann, daß Y. in der Zwischenzeit nicht weniger als 37 Fälle von Diebe-
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reien begangen hatte, die anscheinend zum großen Teil im Hang zu Näsche¬
reien, Zigarren und Likör ihre Ursache hatten. Der Staatsanwalt erhob
Anklage gegen Y. und Genossen wegen Diebstahls, Hehlerei, Betrugs,
Urkundenfälschung und Sachbeschädigung. Die Strafvollstreckung gegen
Y. wurde auf Veranlassung der Fürsorgebehörde ausgesetzt und ihm Straf¬
aufschub bewilligt (Juni 1908). Die Folge war, daß er sich einige Zeit hielt,
aber Anfang 1910 nach erneutem Diebstahl verschwand. Nach längerer
Zeit aufgegriffen, kam er zunächst ins Fürsorgehaus zurück, beendete dort
seine Lehrzeit, seine Leistungen und Führung waren zufriedenstellend.
Ende 1911 arbeitete er dann bei einem Meister in A. Dieser wandte sich
im Januar 1916 an die Anstalt mit einer Anzeige, daß Y. auf fremden
Namen Zithern bestellt, Stiefeletten und Leder gestohlen habe. Er sei in
allen Sachen höchst liederlich, seine Arbeit sei nur teilweise zu brauchen.
Er schwärme bis früh umher.
Am 26.1.12 ist dann Y. aus der Fürsorge entlassen. Das Erziehungs¬
ergebnis wurde als zweifelhaft bezeichnet, er selbst als frech und unbot¬
mäßig. Er hat im gleichen Jahre eine mehrmonatliche Gefängnisstrafe
verbüßt.
Während des Feldzuges hat er den Konnex mit der Anstalt wieder
aufgenommen, er schrieb frömmelnde Briefe und bekam dafür Liebesgaben.
Der Erfolg, den die Bekanntgabe dieser Nachforschungen an Y.
hatte, war auffallend. Er wurde bei den Visiten mit einem eigentümlich
wehleidig-gezierten Gesicht umherstehend oder auch auf einer Bank
liegend gefunden, antwortete auf Fragen nicht mehr. In Abwesenheit
des Arztes war er nach Angabe des Personals ganz vergnügt. Es wurde
Bettruhe verordnet, und nach einigen Tagen kam Y. von selbst, war
völlig geordnet, fragte kleinlaut, ob er denn für die Ringsache wohl be¬
straft werden würde, ob der Arzt nicht bewirken könne, daß ihm die Strafe
erlassen würde und er wieder ins Feld käme. Er wolle sich auch zusammen¬
nehmen. Seine Streiche habe er immer auf Veranlassung anderer gemacht.
Auf die Frage, warum er nicht die Wahrheit gesagt, meint er, er sei
immer jetzt so vergeßlich, gibt aber zu, sie gewußt zu haben. Er klagt,
daß er immer so viel Kopfschmerzen habe und, wenn er allein sei, seine
Gedanken nicht zusammenkriegen könne.
Seither ist sein Benehmen völlig geordnet. Er macht ausführliche
Angaben über den Ringverkauf und sein Verhalten in S. Vor allem seine
Angaben über den letzteren Punkt sind interessant. Es sind danach
seine Hoffnungen, die er auf seine Versetzung bezüglich Weiterkommens
gesetzt hatte, getäuscht worden. Er fand nicht das Entgegenkommen,
das er erwartet hatte und auf Grund seiner Leistungen im Felde erwarten
zu können glaubte. Er nimmt an, daß sein Eisernes Kreuz erster Klasse
seinen Vorgesetzten Unteroffizieren, die keine Auszeichnungen hatten,
ein Dorn im Auge war, so daß es ihm keinen Vorteil, sondern Nachteil
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brachte. Es kam zu kleinen Reibereien, und er verlor die Lust, schließlich
war ihm alles eins.
Über den Ringverkauf gibt er an, er sei auf seinem Urlaub — den
man ihm anscheinend gegeben hatte, weil man mit ihm in der Garnison,
nachdem er für geisteskrank und dienstunbrauchbar erklärt war, bis zu
seiner definitiven Entlassung nichts anzufangen wußte — auf Grund seiner
Orden sehr verwöhnt worden, man habe ihn bewirtet und freigehalten.
Er hatte keine Angehörigen, zu denen er gehen konnte, brachte die Zeit
daher zum Teil in seiner alten Garnison, teils in Berlin zu. Vor einem
Kleidergeschäft kam er mit dem Schuhmacher ins Gespräch und ver¬
kaufte ihm auf seinen Wunsch den Ring. Er hatte ihn früher von einem
Kameraden erhalten, wußte nicht, ob er etwas wert sei. Es war ihm schon
einmal viel Geld für den Ring geboten, von anderer Seite war ihm auch
schon gesagt, daß der Ring nichts wert sei. Nachdem er erfahren, daß
der Mann ihn anzeigen wollte, hat er versucht, ihn zur Zurücknahme der
Klage zu bewegen, was ihm auch durch Versprechen von Ratenzahlungen
der Kaufsumme — er hatte das Geld inzwischen ausgegeben für seinen
Unterhalt — gelang. Daß das Tatsache ist, geht aus einem Briefe an Y.
hervor. Er hat dann die Ratenzahlungen aber nicht eingehalten, es viel¬
leicht auch nicht können.
Zurzeit bietet Y. in seinem Verhalten nichts Auffallendes. Er ar¬
beitet fleißig in der Schuhmacherei, klagt zeitweise über Kopfschmerzen
und zeigt eine gewisse Eitelkeit.
Die Deutung dieses ganzen Bildes war, nachdem einmal die Diagnose
auf Dementia praecox gestellt und daraus bereits die Folgerungen gezogen
waren, nicht einfach, namentlich bei dem Vorliegen der Komplikation
eines Kopfschusses. Irgendwelche objektive Symptome für Störungen des
Nervensystems durch den letzteren waren nicht vorhanden. Auch aus dem
allgemeinen Verhalten waren Anhaltpunkte für ein Vorliegen von stärke¬
ren Beschwerden infolge der gut geheilten Verletzung nicht zu gewinnen.
Eine wesentliche Klärung brachte die Kenntnis der Vorgeschichte. Es
wurde dadurch zunächst einmal festgestellt, daß die Neigung zu krimi¬
nellen Handlungen nicht etwas dem Y. Wesensfremdes und Unverständ¬
liches oder Neues war, sondern nur ein Rückfall in alte, unsoziale Triebe,
bei dem wahrscheinlich das Milieu — er war in Berlin ohne genug Geld —
viel mitgespielt hat. Weiter auffallend war, daß sein Versagen zeitlich
zusammenfiel mit seiner Versetzung zu einem andern Truppenteil, von der
er sich große Vorteile für sein Weiterkommen versprochen hatte, die sich
nicht erfüllten. Die Entwicklung der Gründe, die zu diesem Versagen
führten, wird von Y. durchaus logisch gegeben, es ist Tatsache, daß er
nicht befördert ist, die hohe Einschätzung der eigenen Persönlichkeit
beruht wenigstens zum Teil auf reellem Boden und kann an sich nicht als
krankhaft angesehen werden. Zudem kann ohne weiteres angenommen
werden, daß er sich zum Zeit seiner Aufnahme in die Beobachtungsstation
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in dem Zustand einer akuten Geistesstörung befand, nur die Diagnose der
Dementia praecox läßt sich nach der weiteren Entwicklung des Fallen
nicht aufrechterhalten. War sie einmal gestellt, so hätten auch die Folge¬
rungen gezogen und Y. zum mindesten längere Zeit in der Anstalt be¬
handelt werden und nicht zum Truppenteil entlassen werden müssen.
Es ist aber nach einer eingehenden Würdigung der ganzen Vorgeschichte
viel wahrscheinlicher, daß es sich bei Y. um eine auf einer degenerativen
Grundlage entstandene, vorwiegend auf äußere Momente aufgebaute
vorübergehende Störung gehandelt hat, und zu dieser Annahme haben
wir uns schließlich auch entschlossen. Auch das Vorliegen einer krank¬
haften Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 StGB, zur Zeit der
speziell in Frage kommenden Straftat ist verneint worden. — Der weitere
Verlauf hat unsere Auffassung bestätigt.
Die Diskussion über die Diagnose könnte müßig erscheinen, ist es
aber keineswegs, denn auf der Auffassung der Erkrankung baut sich, ich
möchte sagen, die ganze Zukunft des Y. auf, nicht nur die Frage der straf¬
rechtlichen Verantwortlichkeit auch für die späteren strafbaren Handlun¬
gen, die er aller Wahrscheinlichkeit nach noch begehen wird, sondern auch
die Frage, was mit ihm zu machen ist. Die Annahme einer Dementia prae¬
cox würde bei den antisozialen Eigenschaften des Y. unbedingt die Unter¬
bringung in einer geschlossenen Anstalt erfordern. Hier ist die Lösung
verhältnismäßig einfach. Viel schwieriger wird sie bei der zweiten An¬
nahme, daß es sich um eine Situationspsychose eines Degenerierten han¬
delte. In den Heeresdienst wird er sich nicht wieder hineinfinden; ihn
zunächst mit einer größeren Rente — wegen der noch geklagten Kopf¬
beschwerden — zu entlassen, wird ihm aller Voraussicht nach verderblich
werden; ihn unterzubringen in einer Stellung, wird sehr schwer sein. Wir
haben ihn, solange er bei uns war, zur Arbeit zu erziehen versucht, sind
aber der Überzeugung, daß er draußen, auf sich selbst gestellt, bald
scheitern wird.
Das Wesentliche und Interessante des Falles, wegen' dessen ich
ihn einer ausführlichen Mitteilung für wert hielt, scheint mir in der kom¬
plizierten Sachlage, der Bedeutung der Vorgeschichte für die Beurteilung
des Falles und der Schwierigkeit der Diagnose zu liegen. Auf die mannig¬
fachen Schwierigkeiten der Differentialdiagnose zwischen den psycho¬
pathischen Konstitutionen, zu denen dieser Fall ja auch gehört, und der
Dementia praecox, namentlich im Beginn der Erkrankung, ist bereits
mehrfach hingewiesen, so von Bonhoeffer und Weygandt und in jüngster
Zeit von Hübner.
Hier handelt es sich um einen Degenerierten, der nach einer bewegten
Jugend unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse einen Anlauf zum Guten
genommen, schließlich aber doch wieder versagte. Auch hier spielen bei
dem Versagen nochmals äußere Momente eine größere Rolle. Y. selbst
hat sie verschiedentlich ganz anschaulich geschildert. Auf der einen Seite
die manchmal etwas sehr überschwängliche Vergötterung des rühm-
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Unzulängliche im Kriegsdienst,
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bedeckten Kriegers, die seiner Eitelkeit schmeichelte und sein Selbst¬
gefühl gewaltig hob, auf der andern Seite das Sichfügensollen unter Vor¬
gesetzte, denen er sich in seinem gesteigerten Selbstgefühl gewaltig über¬
legen fühlte, waren Umstände, die für seine etwas angekränkelte Psyche
einen schweren Konfliktstoff in sich bargen.
Auch seine kriminelle Handlung, die zudem für den Käufer, der bei
seinem Stande einen Ring für 120 M. zu erwerben trachtet, etwas merk¬
würdig aussieht, wurde ihm durch seine Auszeichnungen außerordentlich
leicht gemacht. Hohe Ordensauszeichnungen stellen eben auch an die
Psyche des Trägers eine Reihe von Anforderungen. Er gilt von vornherein
als eine besonders zuverlässige Persönlichkeit, eine Tatsache, die von
Betrügern bekanntlich manchmal ausgenutzt wird.
Wenn man die Gerichtsverhandlungen in den Tageszeitungen
seit Ausbruch des Krieges verfolgt, so findet man nicht so selten Be¬
strafungen wegen unbefugten Tragens von Ordensauszeichnungen, vor
allem auch in Verbindung mit verübten Schwindeleien. Dieses unbe¬
fugte Tragen von Orden wird mit Vorliebe streng bestraft, öfter mit
der Begründung „mit Rücksicht auf die Ehrlosigkeit der Handlungs¬
weise“, auch dann, wenn es nicht zu kriminellen Handlungen mi߬
braucht wird. Ich glaube, daß hier öfter ein Trugschluß unterläuft,
und möchte als Beispiel dazu eine in einer Tageszeitung vor kurzem
veröffentlichte Gerichtsverhandlung hier anführen, deren Bericht
wörtlich folgendermaßen lautet:
„Gefängnis wegen unbefugten Tragens des Eisernen Kreuzes. Das
... Schöffengericht hatte am ... den Kochgehüfen ..., der im Küchen¬
wagen eines Lazarettzuges nach der ... front gefahren war und nach seiner
Rückkehr eigenmächtig das Band mit dem Eisernen Kreuz an seiner
Krankenpflegerlitewka trug, die er auch mit dem Bande der Rettungs¬
medaille geschmückt hatte, ohne dazu befugt zu sein, wegen Vergehens
gegen die Anordnung 1... in Tateinheit mit Übertretung des § 360 des
Strafgesetzbuchs zu 30 M. Geldstrafe verurteilt und beim Strafmaß die
hochgradige Beschränktheit des ... berücksichtigt. Gegen dieses Urteil
hatte der Staatsanwalt Berufung eingelegt. In der gestrigen Verhandlung
gegen ... beantragte er eine Woche Gefängnis. Die Strafkammer ver¬
urteilte ... wegen unbefugten Tragens des Eisernen Kreuzes zu zwei
Wochen Gefängnis im Hinblick auf die Ehrlosigkeit der Handlungsweise.“
In dem Tenor des Schöffengerichtsurteils gibt die bei der
Festsetzung des Strafmaßes berücksichtigte hochgradige Beschränkt¬
heit des Verurteilten zu denken, und man kommt unwillkür¬
lich — natürlich als richtig vorausgesetzt, daß sie, was aus
der Strafkammerverhandlung nicht hervorgeht, wirklich vorhanden
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W. Tinte mann.
war — auf die Vermutung, daß der Täter ein Schwachsinniger war,
bei dem es sich eher um die bei Imbezillen und Degenerierten nicht
selten vorhandene Sucht, sich zu schmücken und zu renommieren, als
um einen beabsichtigten Betrug gehandelt hat, der auf die Erlangung
eines Vorteils angelegt war. Daß aus Eitelkeit von mehr oder minder
Schwachsinnigen unberechtigt Auszeichnungen angelegt werden, wird
voraussichtlich gerade in dieser Zeit ab und zu Vorkommen. Dem
gegenüber beachte man die Steigerung des Strafmaßes im vorliegenden
Fall.
Anders liegt natürlich die Sache in einer Reihe von Fällen, in
denen unberechtigterweise angelegte Auszeichnungen zu betrügerischen
Zwecken verwandt werden. Hier benutzt der Schwindler sein oft
hervorragendes Verständnis für die Denkweise und Psychologie des
Volkes, das, wie schon erwähnt, in dem Tragen einer Auszeichnung
einen Beweis für die besondere Glaubwürdigkeit des Trägers sieht,
systematisch, um zu seinem Zwecke zu gelangen.
Doch liegen auch hier die Sachen oft komplizierter. So endete
auch ein derartiges Unternehmen, das seinerzeit durch alle Zeitungen
ging, es passierte im Anfang des Krieges, als noch die Erregung über —
wirkliche und vermeintliche — Spione groß war, mit einer Beob¬
achtung in der Irrenanstalt:
Im September 1914 wurde in O. ein Mann namens X. verhaftet,
der eine Feldwebeluniform mit dem Bande des Eisernen Kreuzes trug, in
Begleitung einer Dame ein Auto der Heeresverwaltung fuhr und einen
Chauffeur anforderte, sich aber nicht ausweisen konnte über seine Person.
Die sofort eingeleiteten umfangreichen Nachforschungen ergaben, daß
es sich um einen Menschen handelte, der als Proviantmeister in der mili¬
tärischen Verwaltung einer besetzten Stadt tätig gewesen war und sich
unter Mitnahme eines Autos eigenmächtig entfernt hatte. Er hatte sich
diese SteUung seinerzeit in den ersten Kriegswochen mittels falscher An¬
gaben zu verschaffen gewußt. Er hatte seinen Posten anfangs mit Um¬
sicht und zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten verwaltet, hatte eine ziem¬
lich selbständige Stellung eingenommen, zum Zwecke von Einkäufen
mehrere Autofahrten in eine große deutsche Stadt gemacht, sich dort
mit einer Bureauangestellten eines großen deutschen Hotels in aller Ge¬
schwindigkeit verlobt und kriegstrauen lassen, in eine große, angesehene
Zeitung einen Artikel zu bringen gewußt mit einer phantasiereichen Er¬
zählung über den Erwerb des Eisernen Kreuzes, der nachher widerrufen
werden mußte. Es kam dann zu Differenzen mit den Vorgesetzten, als
X. seine kriegsgetraute Frau einfach mit in die besetzte Stadt brachte
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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und unerlaubt einlogierte. Als ihm hierbei seine bevorstehende Entlassung
aus seiner Stellung mitgeteilt wurde, verschwand er plötzlich unter Mit¬
nahme von Frau und Auto, nachdem er sich selbst zum Feldwebel be¬
fördert und mit dem Bande des Eisernen Kreuzes geschmückt hatte. Er
machte dann eine ziemlich abenteuerliche, planlose Fahrt, auf der ihn
überall seine völlig ahnunglose Frau begleitete, verübte noch mehrere
Schwindeleien — unter anderem kaufte er in H. einen größeren Posten
von Reis und Kaffee für die Heeresverwaltung — und wurde endlich
verhaftet. Der Frau ist während der ganzen Fahrt nichts Besonderes
an ihrem Mann aufgefallen.
Die Nachforschungen nach dem Vorleben des X. förderten noch
manches Interessante zutage. Es fand sich dabei, daß er ein mehrfach
vorbestrafter Mensch ist, der mehrfach in Irrenanstalten untergebracht
war und wegen Geistesschwäche entmündigt wurde. Er war von Jugend
auf schwach begabt gewesen, hatte später vor allem moralische Defekte
aufgewiesen und eine Reihe von Krampfanfällen, die als epileptische ge¬
deutet wurden, gehabt. Sein Lebenslauf ist ziemlich abenteuerlich gewesen,
anscheinend war er auch in der Fremdenlegion. Die Beurteilung, die er
in den Irrenanstalten gefunden hatte, war nicht ganz einheitlich, die größte
Anzahl der Begutachter hatte ihn wohl für minderwertig, aber nicht unter
den § 51 StGB, fallend erklärt, er ist auch direkt als Simulant an¬
gesprochen.
Auch die hiesige Beobachtung kam zu dem Schlüsse, daß X. wohl
ein einzelne abnorme Züge tragender minderwertiger Mensch sei, bei dem
gelegentlich epileptische Krampfanfälle auftreten, daß aber eine An¬
wendung des § 51 für die Zeit der fraglichen Straftaten nicht in Frage
komme.
X. ist eine zu den Grenzzuständen gehörende Abenteurer- und
Schwindlernatur, bei der vor allem auch eine erheblich gesteigerte Phanta¬
sietätigkeit auffällt. Es ist nicht richtig, anzunehmen, daß er damals im
Anfang in seine Stellung gleich mit der Absicht, sie zu Betrügereien zu
benutzen, gegangen ist, das geht aus seinem Verhalten in der ersten Zeit
und manchen Aussagen hervor. Er mußte nur dabei sein, das unruhige
Milieu lag seiner Abenteurernatur, er mußte mitmachen, Autofahrten,
Kriegstrauung, .Renommieren, Phantasielügen — alles lag ihm und ging
sehr schön, bis die Verhältnisse geordnet wurden, da kam der Zusammen¬
bruch und als Reaktion darauf, da er nicht wußte, was er recht beginnen
sollte, die ziemlich planlose Autofahrerei.
Es ist, ich glaube von Ritterhaus 1 ), ein sehr treffender Ausdruck
geprägt worden, der die Lage einer kleinen Reihe dieser Unzuläng¬
lichen gegenüber den zurzeit bestehenden Verhältnissen des Dienstes
1 ) Die Originalarbeit war mir leider nicht zugänglich.
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W. Tintemann,
und ihre psychische Leistungsfähigkeit ihm gegenüber ganz außer¬
ordentlich gut charakterisiert, er heißt „felddienstfähig, aber nicht
garnisondienstfähig“. Oft hört man von ihnen den Wunsch, wieder
hinauszukommen an die Front, „in den Schützengraben“. In der
Heimat ist „nichts los“. Der Dienst in der Garnison stellt an ihre
Psyche ganz offenbar größere und von ihnen schwerer zu erfüllende
Anforderungen als der Dienst draußen. Ihre verminderte Anpassungs¬
fähigkeit, ihre hohe Selbsteinschätzung und mangelnde Stetigfaß
lassen sie hier leichter versagen. Sie stoßen sich an den nicht ra
umgehenden Kleinigkeiten des Gamisondienstes offenbar wund, wenn
sie einmal längere Zeit draußen waren, glauben auch wohl manchmal
in einer gerade ihnen liegenden Verkennung ihrer Stellung, als erprobte
Soldaten besondere Rücksichtnahme verlangen zu dürfen, und geraten
dadurch unter Umständen mit Disziplin und Vorgesetzten in Kon¬
flikte. Das geschieht natürlich um so leichter, je näher diese Individuen
der Grenze zur Geisteskrankheit stehen:
X. Y., 22 Jahre alt, Kriegsfreiwilliger. Aus der Vorgeschichte ist
bemerkenswert, daß er mehrmals aus der Lehre entlief, verschiedentlich
Selbstmordversuche machte, im Krankenhaus, wo er wegen einer Hand¬
verletzung untergebracht war, melancholische Anwandlungen abwechselnd
mit zur Tobsucht ausartenden Wutanfällen hatte, zweimal wegen hysteri¬
scher Seelenstörung in einer Irrenanstalt untergebracht war. das letztemal,
nachdem er mit andern einen Einbruch verübt hatte, bei dem er auf einen
Beamten schoß, und im Gefängnis mit Halluzinationen erkrankte. &
handelte sich jedesmal um hysterische Dämmerzustände, die vollkommen
abklangen. Vor dem Kriege hatte er eine Stellung im Auslande inne, die
er bei Kriegsausbruch verlassen mußte. Im .Felde machte er zunächst
einen Typhus im Westen, dann später eine Dysenterie im Osten, angeblich
auch eine Verschüttung, durch. Wegen der letzteren Erkrankung und
nervöser Erscheinungen kam er damals zurück. Nach einem mehrmonat¬
lichen Lazarettaufenthalt in U. wurde Y. einer Sammelstelle zugeführt
und sollte in die Heimatgarnison überführt werden. Er hatte eines Tages
Stadturlaub und überschritt ihn, wobei auch stärkerer Allkoholgenuß
stattfand. Er wurde am andern Tage mit drei Tagen Mittelarrest be¬
straft und ihm bei dieser Gelegenheit wegen seines Verhaltens vom aufsicht-
führenden Leutnant Vorhaltungen gemacht, er erwiderte, mit geballten
Fäusten vor dem Offizier stehend, er sei Kriegsfreiwilliger, brauche keinen
Urlaub und könne zurückkehren, wann er wolle. Auf dem Wege zum
Arresthaus skandalierte und schimpfte er. Als der Adjutant ihn im Wach¬
lokal aufsuchte, holte er mit der Hand zum Schlag aus, als er aufgefordert
wurde, militärische Haltung anzunehmen. In die Arrestanstalt gebracht,
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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verfiel er in einen Weinkrampf. Im weiteren Verlauf des gegen ihn ein¬
geleiteten Verfahrens wurde er einem Lazarett zugeführt, zeigte dort
neben körperlichen Symptomen von seiten des Nervensystems krank¬
hafte Schwankungen der Gemüts- und Affektlage, Amnesie für die Zeit
der strafbaren Handlung, wurde mit der Diagnose Psychopathie und
Hysterie exkulpiert und entlassen zu seinem Ersatzbataillon, um als D. U.
endgültig ausgemustert zu werden. Am Standort seines Bataillons wurde
er einem Lazarett überwiesen, womit er nicht einverstanden war, war
deshalb schon bei der Aufnahme gereizt und widerstrebend. Später beant¬
wortete er die Aufforderung eines Vorgesetzten, stramm zu stehen, mit
Fluchen und Schimpfen, verließ in hochgradiger Erregung das Kranken¬
zimmer, sprang einem zufällig auf dem Gange entgegenkommenden
Kranken an den Hals und hätte ihn erwürgt, wenn nicht schnelle Hilfe
gebracht wäre. Er fiel dann besinnunglos zu Boden, kam nach einigen
Minuten wieder zu sich und konnte allein sein Bett aufsuchen.
Y. kam daraufhin hier in die Anstalt, er war von vornherein völlig
geordnet, bot keinerlei körperliche Symptome der Hysterie mehr, schätzte
sich selbst sehr hoch ein, hatte viel weiblichen Briefwechsel, stellte den
Vorgang, der zu seiner Aufnahme führte, als sehr harmlos hin und ent¬
standen infolge eines rüpelhaften Benehmens des Unteroffiziers, und zeigte
kein rechtes Verständnis für seine Lage. Er mußte nach einigen Wochen
entlassen werden, da nie Krankheitssymptome auftraten.
An dem Fall ist bemerkenswert, daß der schwer hysterische Mensch,
der schon vor dem Diensteintritt mehrmals ausgesprochene Dämmer¬
zustände durchgemacht, schwere Wutausbrüche gehabt hatte, den Kriegs¬
dienst draußen ohne erneute derartige Zustände ertragen hatte, während
er iq der Garnison dagegen bei ungünstigen Einwirkungen auf seine Psyche
zweimal kurz hintereinander mit schwer pathologischen Zuständen
reagierte.
Selbst wenn man den durchgemachten Infektionskrankheiten als
einem schwächenden Faktor einen gewissen Einfluß auf deren Zustande¬
kommen zuschreiben will, so muß doch hervorgehoben werden, daß das
Krankheitsbild der letzten Zeit durchaus den vor dem Diensteintritt
mehrfach aufgetretenen Zuständen weitgehend entspricht und nicht
erklärt wird, warum im Felde, wo doch gewiß eine ganze Reihe viel schwere¬
rer schädigender Momente einwirkten, diese Zustände nicht aufgetreten
sind. Die Annahme einer positiv gefärbten Affektlage draußen, einer
negativ gefärbten in der Garnison erklärt hier vielleicht manches.
Wenn die Vorgeschichte dieses Kranken bei seiner Meldung als
Kriegsfreiwilliger bekannt gewesen wäre, würde er unter allen Um¬
ständen wohl zurückgewiesen sein, da der Arzt die Prognose von vorn¬
herein ungünstig stellen mußte. Unter Umständen aber erlebt man
auch bei Stellung von ungünstigen Prognosen aus der Anamnese Über-
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W. Tintemann,
raschungen, und Leute, die als absolut ungeeignet für den Kriegs¬
dienst angesehen werden mußten, werden brauchbare Soldaten. Diese
Fälle werden nicht so häufig sein. Ein Beispiel, bei dem der Betreffende
im Dienste bereits versagt hatte, sei hier angeführt:
U. V., im 20. Jahre. Stammt von einer nervösen Mutter, ist auf
der Schule bereits aufgefallen, konnte sich in dieselbe, trotzdem er begabt
war, nicht einfügen, verließ sie in Sekunda, wurde Kaufmann, ohne
Neigung zu diesem Beruf zu haben, gab seine Stelle nach einiger Zeit wieder
auf, ging wieder auf die Schule, verließ sie wieder, trieb allerlei Privat¬
studien, zerfiel wegen seines Lebens mit seinen Angehörigen, ging schließlich
mit einem befreundeten Maler, der einen weitgehenden Einfluß auf ihn
ausübte, ins Ausland. Trieb dort Philosophie, dichtete, arbeitete an einem
philosophischen Werke, verkehrte mit Ausländern der verschiedensten
Nationalitäten, mußte bei Ausbruch des Krieges die Stadt verlassen,
wurde Kriegsfreiwilliger. Machte die Kämpfe in Flandern, den Sturm auf
Ypern mit, erhielt dort einen Streifschuß, kam zurück. In der Garnison
wurde sein Benehmen auffällig, er richtete eines Tages ein Gesuch an das
Bataillon, in dem er bat, ihn aus dem Militärdienst zu entlassen, da
seine Lebensanschauungen ihm nicht erlaubten, weiter am Kriege teil¬
zunehmen. Das Gesuch war so auffällig, daß er zur Beobachtung unserem
Lazarett überwiesen wurde.
Hier wurde festgestellt: Körperlich in der Entwicklung zurück¬
gebliebener Mensch, der viel jünger aussieht, als seinen Jahren entspricht.
Ausgesprochene Gefäßbelastung. Von erheblichem Selbstbewußtsein,
überschätzt die eigene Persönlichkeit ganz bedeutend. Glaubt sich be¬
rufen, Welt und Staat zu reformieren. Ganz verworrene Anschauungen
über den Ursprung des Krieges, wirft mit Schlagworten um sich. Meint,
daß der heutige Staat auf ganz falschen Prinzipien aufgebaut sei, er muß
reformiert werden, und er selbst ist nach seinen Fähigkeiten berufen,
einer der Träger dieser Reformation zu sein, die die Staatenbüdung im
heutigen Sinne abschafft. Dieser Idealstaat soll auf einer veränderten
Erziehung aufgebaut werden, die Schule muß abgeschafTt werden, die
Religion durch die Moral ersetzt werden. Der Lehrer muß fortwährend
mit den Kindern in der Natur sein, ihnen „spielend“ beibringen, das ist
recht und das ist unrecht. Es wird dann keine Kriminalität mehr geben,
jeder wird dem andern geben, was er braucht, es wird kein persönliches
Eigentum mehr geben. Unrechttun ist ausgeschlossen, das gibt es eben
nicht mehr, die Erziehung macht das unmöglich.
Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Reformator, dessen in¬
tellektuelle Fähigkeiten nebenbei sehr gute waren, ergab eine sehr leb¬
hafte Phantasietätigkeit und sehr wenig positives Wissen, er hatte vom
Staate, den er bekämpfte, und seinen Einrichtungen, von seiner Entwicklung
kaum eine Ahnung. Der Beweis hierfür, der ihm in einer Reihe von Unter-
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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redungen spielend geliefert wurde, machte auf ihn sichtlich Eindruck, er
wurde nachdenklich und weniger radikal. Er trat in mancher Beziehung
einen verdeckten Rückzug an, bat, wieder zum Bataillon zu kommen,
wollte auch, wenn es bestimmt würde, wieder ins Feld rücken, aber schießen
auf andere werde er nicht, er würde sich ruhig totschießen lassen. Das
Verhalten des V. während der ganzen Zeit zeigte noch viele infantile Züge.
Seine Gedichte waren nicht schlecht. Manchmal klang leise an, daß bei
seinen Anschauungen vielleicht etwas eine verletzte Eitelkeit mitspielte,
er glaubte sich andern gegenüber durch Nichterhalten des Eisernen Kreuzes
zurückgesetzt.
Wir haben V. nach Abschluß der Beobachtung als einen Grenz¬
zustand, als einen degenerativen Phantasten bezeichnet, der wohl stark
verschroben, aber nicht geisteskrank sei, und ihn als arbeitsverwendungs¬
fähig entlassen mit dem Rat, ihn mit schriftlichen Arbeiten auf dem
Bureau zu beschäftigen.
So ist es denn zunächst auch geschehen. Nach einiger Zeit hat er es
dann aber verstanden, wieder hinauszukommen. Er hat die schweren
Kämpfe in Galizien mitgemacht, ist erneut verwundet, mit dem Eisernen
Kreuz ausgezeichnet und befördert worden. Psychisch und körperlich
hat er in der Zwischenzeit einen großen Schritt zur Männlichkeit gemacht,
Anklänge an seine alten phantastischen Ideen leben in seinem Innern wohl
noch, aber in weitgehend gemilderter Form. Er ist im Begriff, seine
Reifeprüfung zu machen und sich positive Grundlagen für seine Studien
zu verschaffen.
Die erfreuliche Entwicklung, die dieser anscheinend ziemlich hoff¬
nunglose Fall genommen .hat, ist wohl in gewisser Weise überraschend,
aber keineswegs unverständlich. Die Pubertätsstürme haben in diesem
etwas phantastisch veranlagten, nicht unbegabten Menschen offenbar
heftiger gehaust als gewöhnlich. Die Entwicklungsperiode war bei dem
auch körperlich unterentwickelten Menschen offenbar noch nicht abge¬
schlossen, unzweckmäßige Umgebung, die ihn für einen außergewöhn¬
lichen Menschen hielt, kritiklose weibliche Anbetung hatten das Ihrige
dazu getan, ihn in abwegige Bahnen zu lenken. Die Idee an sich — trotz
fehlender positiver Grundlagen und ungenügender Lebenserfahrung —,
berechtigt und berufen zu sein, in vielen Dingen des öffentlichen Lebens
mitzusprechen, finden wir ja unter einzelnen Gruppen der heutigen Be¬
wegungen unter jugendlichen Leuten überhaupt vertreten. Hier liegt
natürlich eine Steigerung ins Pathologische vor.
Derartige, einen günstigen Ausgang nehmende Fälle dürften
immerhin zu den Seltenheiten gehören und in der Besonderheit des
Zustandes begründet sein, die schließlich doch ein Einsetzen der not¬
wendigen Hemmungen ermöglicht. Ein auf den ersten Blick in vieler
Beziehung ähnlich liegender weiterer Fall, der in unsere Beobachtung
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W. Tintemann,
kam, nahm schließlich einen etwas dramatischen Ausgang. Die Akten
über ihn sind noch nicht geschlossen, doch scheint er mir wert, hier
angeführt zu werden, auch ohne daß schon eine restlose Auflösung
erfolgt igt:
M. N., 26 Jahre alt, hat seit dem 16. Jahre erheblich Bier getrunken,
war zeitweilig Bettnässer, lernte als Kaufmann, besuchte eine Handels¬
hochschule, hatte eine Reihe von Stellungen inne, verlor sie mehriaeli
durch Unpünktlichkeit und Nachlässigkeit. Die Schuld dafür schieb
er selbst auf den Alkoholmißbrauch, er trank am Abend stark und bliefc
am andern Morgen einfach im Bett, ohne zum Dienst zu gehen. Ver¬
heiratete sich 1913, gründete zugleich ein Geschäft, verkaufte es nach
eiDem Jahre wieder. Im Rausch mehrfach lebensüberdrüssig und Selbst¬
mordabsichten, hatte aber zur Ausführung keine Energie. Im April 1915
als Landsturmrekrut eingestellt, ist er im Juli wegen eigenmächtiger
Urlaubsüberschreitung mit 7 Tagen strengen Arrest, dann noch einmal
mit 48 Stunden Mittelarrest wegen Dienstversäumnis bestraft worden.
Hat im September Gefechte in Rußland und die Champagneschlacht mit¬
gemacht und ist am 29. September durch Granatschuß am Oberarm ver¬
wundet. War deswegen bis zum 30. 11.15 in Lazarettbehandlung, im
Anschluß daran Urlaub bis zum 10. Dezember. Sollte sich an diesem Tage
direkt bei seinem Ersatzbataillon melden. Er erschien nicht und wurde
am 16. des Monats in X. festgenommen, er meldete sich selbst wegen Ur¬
laubsüberschreitung. Auf seinem Fahrschein war das Datum des Reise¬
tages geändert, er gab an, nicht zu wissen, wer die Fälschung vorgenommen.
Er wurde zur Truppe zurücktransportiert, am 23.12. auf freien Fuß gesetit
und verschwand am 25. 12. wieder, indem er als blinder Passagier nach fl
fuhr. 3 Tage später meldete er sich selbst auf der Wache wieder, wur&
zurücktransportiert und zu 3 Monaten Gefängnis verurteüt. Bei da
Verhandlung und auch später erklärte er auf Befragen, er werde sich wieder
entfernen, wenn er auf freien Fuß gesetzt werde. Es wurde beschlossen,
ihn direkt aus dem Arrest dem nächsten Transport ins Feld beizuordnen.
Als er zu diesem Zweck aus der Haft am 16. 2. 16 geholt und eingekleidet
wurde, verweigerte er, die Stiefel zu verpassen, und wiederholte diese
Weigerung vor versammelter Mannschaft. Auf Zureden erklärte er, es sei
ihm alles einerlei, er sei mit sich einig und habe mit dem Leben abge¬
schlossen. Bei einer spezialärztlichen Untersuchung wurden sichere An¬
zeichen einer Geisteskrankheit nicht gefunden. N. begründete seine
Weigerung, nicht wieder ins Feld zu gehen, logisch mit einer Art Grauen,
das er davor habe, er wolle lieber die noch so schwere Strafe auf sieb
nehmen als wieder hinausgehen, trotzdem habe er im Felde selbst keine
besondere Angst gehabt. Es wurde nach weiteren Angaben des N. — er
gab nämlich an, er habe seit der Jugend zu ausgesprochenen, zeitweilig l-- 2
Tage dauernden Trinkexzessen geneigt, erst in den letzten Jahren huldige
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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er eigentlich dauerndem Alkoholmißbrauch — an die Möglichkeit einer
psychischen Epilepsie gedacht.
Die Beobachtung ergab einen kleinen, fetten Mann mit an das Weib*
liehe erinnerndem Körperbau und nicht gerade hervorragender Intelligenz,
sein Allgemeinwissen war dürftig. Das Benehmen war dauernd völlig ge¬
ordnet. Auffallend war eine gewisse affektive Stumpfheit und die Ruhe
und ^Wurstigkeit, mit der er über seine Straftat und über sein ganzes
Leben sprach. Als Grund für seine Gehorsamsverweigerung gab er auch
hier, wie früher stets, an, er habe nicht wieder ins Feld wollen. Er habe
nicht wieder in die Front gewollt, weil er genau wisse, daß er totgeschossen
werde. Manchmal gibt er an, es sei wie ein innerer Zwang gewesen. Das
Unrichtige seiner Handlungsweise gibt er ohne weiteres zu, bleibt aber
dabei, er habe nicht wieder zur Front gehen können. Er meint einmal,
auch im Friedensdienst würde es ihm nicht viel anders gegangen sein, er
passe eben nicht zum Soldaten. Bei der Unterhaltung über diesen Punkt,
seine Weigerung, ins Feld zu gehen,’ und deren Begründung, wurde N.
in seinem Wesen ernst und zurückhaltend, so daß anfangs versteckte Wahn¬
vorstellungen vermutet wurden. Er blieb dabei, daß er genau wisse,
daß er im Felde totgeschossen würde, woher er das so genau wisse, dürfe
er nicht sagen. Weiteres war aus ihm nicht herauszubekommen trotz
aller Bemühungen.
Das blieb auffallend, dagegen fanden die von ihm angewandten
Mittel, sich seiner Zurückführung an die Front zu entziehen, die gleichfalls
etwas auffallend waren, eines Tages durch ihn selbst ihre Erklärung. Auf
die Vorstellung, daß es am Ende doch wohl besser für ihn gewesen sei,
wieder hinauszugehen, als sich jetzt einer langen Zuchthausstrafe auszu¬
setzen, bricht er eines Tages damit heraus: Dazu haben sie mich ja ge¬
trieben. Er erzählt dann, daß er auch die früheren Urlaubsüberschreitun¬
gen lediglich begangen habe, um sich durch die Strafe dem weiteren Front¬
dienst zu entziehen. So habe er absichtlich die Überschreitung über
3 Tage ausgedehnt, damit er strenger bestraft werden mußte. Erst als er
auf diesem Wege sein Ziel nicht erreicht habe, sei er zu schwereren Vergehen
getrieben worden, da er auf alle Weise seine Absicht durchsetzen wollte.
Daß er seinen Plan weitgehend durchdacht hat, geht auch aus seiner Äuße¬
rung hervor, die Strafe würde ja keinesfalls länger als der Krieg dauern,
da beim Friedensschluß jedenfalls eine allgemeine Amnestie erlassen
werden würde.
Auch hier liegt ein Mensch vor, der im bürgerlichen Leben bereits
bis zu einem gewissen Grade gescheitert ist, es jedenfalls nicht vermocht
hat, sich eine dauernde Stellung im Leben zu erringen, sondern sich ziemlich
haltlos und ohne eigene Initiative treiben ließ. Manches ist auffallend in
seinem Lebensgang und bereitet der Erklärung Schwierigkeiten. Für die
aufgeworfene Frage der Dipsomanie fanden sich keine Anhaltpunkte. Er
gab hier an, regelmäßig eigentlich seit dem 16. Jahre getrunken zu haben.
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von Perioden gibt er hier nichts an, auch keine Verstimmungszustände.
Es führten bei ihm nicht solche zum Alkoholgenuß, sondern der Rausch
führte, wie wir es bei Degenerierten nicht so ganz selten sehen, zu Ver¬
stimmungszuständen, die aber wie der ganze Mensch schwächlich waren.
Wahnvorstellungen oder Sinnestäuschungen, die anfangs vermutet wurden
infolge seines Benehmens bei Unterhandlungen über die Frage nach dem
Grunde seiner Weigerung, waren trotz alles Bemühens nicht festzustellen,
das planvolle, genau überlegte Verhalten, um zu seinem Ziele zu kommen,
und seine Begründung sprachen in gewisser Weise dagegen und ließen
schließlich die Vermutung, daß er doch lediglich aus Furcht gehandelt
habe, berechtigt erscheinen; auch sein ganzes, stets geordnetes Verhalten
sprach gegen eine frische Psychose, schizophrene Symptome waren
gleichfalls nicht nachweisbar. So war zunächst keine Tatsache zu ge¬
winnen, die die Anwendung des § 51 rechtfertigen konnte. Die Verhand¬
lung vor dem Kriegsgericht wurde angesetzt, ln derselben wieder dasselbe
Verhalten des Angeklagten bei dem Versuch, über den Grund seiner Weige¬
rung an die Front zu gehen, etwas zu erfahren. Dann plötzlich, nachdem
nochmals vom Verteidiger und Sachverständigen auf ihn eingeredet ist,
gibt er weinend an, daß er seit seinem Aufenthalt im Lazarett Stimmen
höre. Der neugeschaffenen Situation gegenüber wird die Verhandlung
abgebrochen und eine weitere Begutachtung angeordnet.
Die unerlaubte Entfernung bzw. Fahnenflucht, wie sie der An¬
klage des vorhergehenden Falles zugrunde lag, ist ein Vergehen, das
wir auch in Friedenszeiten von unsteten Degenerierten, Debilen und
mehr oder minder Schwachsinnigen nicht so selten begangen sehen;
daß es ein Vergehen ist, das in der jetzigen Kriegszeit häufiger zur
Begutachtung kommt, ist leicht verständlich. Die größeren Anforde¬
rungen, die Aussichten auf die Strapazen und Gefahren des Front¬
dienstes werden gerade bei der größeren Zahl von Minderwertigen hier
öfter zum Versagen führen, die zu Friedenszeiten vom Militärdienst
verschont bleiben. Die allgemeine Wehrpflicht ergreift auch den
Landstreicher auf der Walze und führt ihn dem Dienste zu. Daß er
namentlich, wenn er schon längere Jahre sein unstetes Leben der
Wanderschaft geführt hat, ein schwieriges und unter Umständen un¬
geeignetes Objekt für die militärische Erziehung sein kann, liegt auf
der Hand. Zudem ist es eine natürliche Erscheinung, daß diese Leute
als oft unsichere Heerespflichtige mit einem gewissen Mißtrauen
manchmal von vornherein angesehen werden und infolgedessen der
nicht psychologisch vorgebildete Vorgesetzte in seinen Erziehungs¬
maßnahmen einmal fehlgreift.
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A. B., im 40. Lebensjahre stehend, auf der Schule nicht recht vor¬
wärts gekommen, hat nach der Konfirmation das Schlosserhandwerk
erlernt und ist seit dem 22. Lebensjahre in die Fremde gegangen, hat eine
Anzahl von Jahren im Hafen zu H. als Gelegenheitsarbeiter, meist als
Kesselreiniger, gearbeitet; seit 6 Jahren ist er die meiste Zeit auf der
Walze gewesen und hat seinen Lebensunterhalt kärglich durch Arbeiten
bei Bauern verdient. Vorbestraft ist er, soweit aus seinen Akten ersichtlich
ist, nicht. Seiner Angabe nach hat er damals die Arbeit als Kesselreiniger
aufgegeben und aufgeben müssen, weil er einen Unfall erlitt, bei dem er
mit dem Kopf auf eine Steinplatte aufschlug, und seitdem häufig an Kopf¬
schmerzen und Schwindel litt. Dazu sollen selten (bisher im ganzen
etwa 4—5mal) Krampfanfälle aufgetreten sein. Er wurde am 3. 2. 1915
angehalten und in O. eingestellt. Am 18. desselben Monats verschwand
er aus der Garnison und blieb fast genau ein Jahr, bis zum 9. 2. 16, ver¬
schollen. Damals wurde er festgenommen, weil er keine Papiere hatte
und seine Personalien anzugeben sich weigerte. Bei einer Vernehmung
vor dem Amtsgericht hatte er einen „Veitstanzanfall, der nach Ansicht
des Gerichts nicht simuliert war“. Er gab an, daß er Epileptiker sei und
„häufig längere Dämmerzustände habe“. Vor dem Kriegsgericht erklärte
er, daß er aus Angst fortgegangen sei, weil der Unteroffizier erklärt habe,
er wolle ihn hochnehmen. Er gab die genauen Einzelheiten seiner Entfer¬
nung an, wußte, wo er inzwischen gewesen war, wo er gearbeitet hatte.
Im Verlaufe des Verfahrens wurde Beobachtung beantragt.
ln den Untersuchungsakten findet sich die folgende Charakterisierung
des Angeklagten:
Da B. von Anfang an einen schlechten, ehrlosen Charakter zeigte
und auch sonst einen verkommenen und frechen Eindruck machte, der
Fahnenflucht verdächtig. Auch liegt der Verdacht um so mehr vor, als er
bei Feststellung des Nationales angab, nicht zu wissen, ob seine Eltern noch
lebten und wo sie wohnten.
B. ist ein dürftiger, kleiner Mann, dessen Nervensystem außer einer
Hypästhesie für Schmerz am ganzen Körper, leichtem Tremor der Finger,
Dermatographie und einer nicht sehr ausgiebigen Lichtreaktion der Pu¬
pillen keine Besonderheiten aufweist. Epileptische Krämpfe und isolierte
Krämpfe im rechten Unterarm, wie er sie angab, wurden nicht beobachtet.
Die Einzelheiten seiner Entfernung — er hat unter seine Uniform Zivilzeug
angezogen — wußte er genau, es konnten keinerlei amnestische Defekte
festgestellt werden. Ein Dämmerzustand für die Zeit der Entfernung kam
nicht in Frage. Für das Vorliegen einer krankhaften Störung der Geistes¬
tätigkeit im Sinne des § 51 fanden sich keinerlei Anhaltpunkte. Dagegen
neigte er etwas zu Übertreibungen und war ein leicht unzufriedener Herr,
der verschiedentlich andere Kranke zu veranlassen suchte, bei dem ein¬
fachen Essen der Kriegszeit nicht zu arbeiten.
Zeitschrift für Psyohimtric LXXII. 1. 5
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
66
W. .7isuiin.
Daß man B. beim Militär gewisses Mißtrauen von vornherein
entgegengebracht hat, ist verständlich und geht aus den Äußerungen der
Akten hervor. Wenn sich dieses Mißtrauen aber zu einem Teil daraus
herleitete, daß es bei ihm auch als ein Zeichen seines wenig guten Charak¬
ters angesehen wurde und den Verdacht der Fahnenflucht verstärkte,
daß er angab, nicht zu wissen, ob seine Elltern noch lebten und wo sie
wohnten, so war das zu weit gegriffen. Der auf der Walze lebende B. hatte
nach seinen glaubwürdigen Angaben keine Verbindung mit seiner Heimat,
was auch dadurch bestätigt wurde, daß in seinem Heimatsort ein Spar¬
kassenbuch von mehreren hundert Mark für ihn verwaltet wurde, von des?«
Vorhandensein er keine Ahnung hatte. Der in seinem Nervensystem in-
merhin nicht ganz intakte Mensch hatte bei seinem Alter und dem unstete
Leben der letzten Jahre nicht mehr die notwendige Elastizität für dir
Disziplin des Dienstes und entzog sich ihm, vielleicht besonders noch dazu
getrieben durch die Furcht, daß man ihm besonders genau auf die Finger
passen werde. In einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit
handelte er aber nicht.
Daß derartige Angaben über Dämmerzustände überhaupt nur
vorsichtig bewertet werden dürfen, wo es sich um militärische Rechts¬
brecher handelt, ist erst kürzlich von Hübner betont worden. Der
Autor gibt an, daß bei einer Reihe von ihm beobachteter Fälle sich
eine angebliche Amnesie bei eingehender, wiederholter Prüfung als
nicht vorhanden erwies. „Diese ‘Wahrnehmungen mahnen zur Vor¬
sicht gegenüber den Angaben der Angeklagten.“ Diese Erfahrung
konnten auch wir machen:
E. F., 1883 geboren, dem ungedienten Landsturm angehörend. Am
5. 2.15 in 0. eingestellt, am 1.10.15 ins.Feld gerückt. Bereits am 28.10.15
wegen Magenerkrankung im Lazarett, gesund entlassen, meldet er sich
bereits auf dem Marsch zur Truppe wieder bei einer Leichtkrankenabteüung
■der Etappe. An demselben Tage wieder als gesund entlassen, kommt
plötzlich aus einer deutschen Stadt, die weit rückwärts liegt, die Meldung,
daß F. in einen falschen Zug gestiegen und dort angekommen sei. Er wird
in die Garnisonstadt zurückgebracht, entfernt sich dort noch einmal heim¬
lich und wird am 23.12.15 erneut mit einem Transport in Marsch zur
Truppe gesetzt. Bereits auf einer der nächsten Stationen entschwindet er
dem Transportführer und meldet sich nach einiger Zeit freiwillig auf der
Wache in H. mit der Angabe, daß er sich entfernt habe. Bei dieser Ent¬
fernung befand er sich seiner Angabe nach in einem krankhaften Zustande.
Er sei in R., wo er entwichen, in das Pissoir gegangen, dort seien zwei fein-
gekleideto Herren auf ihn zugekommen und hätten ihm etwas ins Gesicht
gespritzt, worauf er das Bewußtsein verloren habe. Bei dieser Angabe
blieb er auch die erste Zeit während der hiesigen Beobachtung, ließ sie
dann, als er merkte, daß durch diese Darstellung Zweifel an seiner Glaub-
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Unzulängliche im Kriegsdienst. 67
wurdigkeil. eritstanfieili fallen, Utelt aber Harljväö^g M\ der Angabe, festy’G
• laß er an die i£mU die'.zwischen 'seiner- .Entfernung'. und seiner freiwilligen
Meldung lag,. ItdUmrJ«i Eri m uuumghob»;. /'l^t'^^'-^.^lgrholten bird «in»
gVftenjlen Uhteere4img&!> gab- er eines , Tqjjjes zu, da8.SiHne Erimienifig an
♦ ti« Einzelheiten' .dieser %(M sehr \volü erhaiion sei. Als Grund für seine.
-Handlung gab er glaubwürdig F-uVrbi Süd' dem FfnjGdmast an.
F. bot körperlich vhv- U'.’mm 1 von Deg»»era.{it>nszeic4ipn und die
/ •-i-:hfcii einer leichten' XervoMliU. - ,.Die Bedingungen- des g 54 StGB,
\rwren nicht •»Hüllt. die Furch'*.: des- Psychisch-Labilen vor-den -Schrecken
Jgjiegüs ailejn konnte \0?*Anlassung geben.
Daß in andern PjRfteii düs Gefühl, den itiigewohnten An/ortkiungen,
die .der.AüU.tä^iiieast stellt-, mchi gewnchKoit sü sein, apf die Psyche
eines labilen und geistig nidif gaiiähttaktni Mensehim unter üruständen
auch eine« wirklich schwer frrankhaft dttensrefideii Einfluß ausäben
kann, dafür sei'cierfolgende Fall eb Beleg.
ü,. : p.. im Jahre •48*7 geboren, avaj* ayUer ciina; Gütioi'iiit>e e‘or iaogen
••»al«»vo immer gesund, lebt in glücklicher 12h« und ist Vater eines Kinde.'..
| |i .fahrtm f i«.:* erlitt er eineti Unfall in O-^laif. eines 'Falles' auf den
lliuterkepf. Beil dem ist er eivvas vergeßlich gew»»r;lcn. Dafür ist eine
objektiv* -^Tatsache, daß seine Frau .ihm - >:t betreibt selbständig ein
öpit fei kein. -Öw'ii^«föfifbÄig^f ^‘haiffet die GäschättS'
iTief*-, nie vr geschrieben. mmhie.s-’iM! mußte, ob sie in ChMuimg om-u. .Sonst
war er besJchrverdefnü. Er vt'iircte bn Anfahg des dähfhs 191 f> zum Heeres- . ^
dienst eingezogea Hier fiel er auf weil er-srbr häutig di«.-Übungen wieder
’edi falsch machte., er vergoß sie immer wieder Er -vergaß -nu lt die ?*äme»«
; ijSlin’ei* Vbrgpsbl^ten, trotzdeor keine Frau sah ihm -jwj.-'ÄStisb abhörtey
v arf sie immer wieder durcheinander;’* Er mdm> sieh iiniAer vor, die
Suche diesmal rh-hlig zu iu.a£hM> dsdlitwh würde es nor iioeli .seliliiürniir.
Ahm .bekam, Pr Angst, -diese steigerte siel) mehr und pi-ebr, und vines Tage?
brachte er steh einen Messerstich in die Brost bei infolge großen Angst¬
gefühls. Er kam ins Lazarett timt dann in miscrv B'dKindlung. Es fand,
sich körperlich außer einer leieiit verwaschenen Sprache- n k-h'f~< - Besondere*.
Psychisch war eine leicht« Euieugnhg der Merkfähigkeit deutlich vor-
liarideii. Einmal trat >:-ta e»h5tüi)tligcr Attfall vdo Herzklopfen auf, der
mit Piilpb^hldupigütig- imd deni Gefühl Sjn.wbhfaeinH ßniherging::
Der Kranke, der ein sehr ansprechbares, - weiches Gemüt hal te, erholte
sich bald, dt« Angst war bereits tub’h Hbtgen Tagen wrÄcbwuudeo. nach-, y
dem i?r die Sorge .des Dienste« |f*s w»f.; und konnte bereits nach einem >
Awfenthait von 4 Wochen reidlty gsHeift ^fitla^tnüw^ Pfh
y „•?.' i-'.. inpi.r»«.!. ,}.•»• ^r'h-gfivcfi Melancholie durch
-••:•• i :• •').■' a ttk Hu »•<*; tuNtr intakt es Gehirn 2i.i
''itf/niteb- i 0 f[ hyl feyt ':>)iyh» < tmn.k.l gefmirienin
ythy.' .- ;.i; ftf U!fi{.H‘n'ii VG '' SiC IvlaifgCO Sehr
68
W. Tintemann,
schnell ab, nachdem die Einwirkungen des ungünstigen Milieus behoben
waren. Das Insuffizienzgefühl schwand und damit auch die Angst vor
den täglichen Mißerfolgen. Einen ganz ähnlichen Fall einer reaktiven De¬
pression sahen wir bei einem Apotheker, der als Sanitätsunteroffizier ein¬
gezogen war, auch hier handelte es sich um oinen Disponierten, der nervöse
Symptome bot und seinen Beruf immer schwer genommen hatte. Er war
im Sanitätsdienst nicht ausgebildet, wurde einem Feldlazarett zugeteilt,
sollte Verbände machen, was er nicht konnte, Krankengeschichten schreiben
usw. Er besaß nicht die Fähigkeit, sich in diesen ihm ungewohnten Dienst
hineinzufühlen, obwohl er ihm ja eigentlich bis zu einer gewissen Weise
liegen mußte, geriet daher in Konflikte mit seinem Vorgesetzten, brach
dann plötzlich mit einem Ohnmachts- oder Krampfanfall, dessen Natur
nicht feststeht, zusammen und erkrankte an einer mit einem schweren.
Insuffizienzgefühl einhergehenden Depression, die eine längere Lazarett¬
behandlung notwendig machte. Hier war die Heilung schwieriger, da der
Kranke immer fürchtete, wieder in seine Stellung, der er sich nicht ge¬
wachsen fühlte, und vor der er Furcht hatte, zurück zu müssen. Hinzu
kamen leichte Eigenbeziehungen, er glaubt sich um seiner Religion willen,
er war Jude, zurückgesetzt, da andere als Unterapotheker eingestellt
waren. Er machte dann mit unserer Unterstützung eine Eingabe um Ein¬
stellung als Unterapotheker. Sie hatte Erfolg, der Zustand besserte sich,
und der Kranke konnte nach Ablauf aller Symptome als Unterapotheker
in einem Reservelazarett eingestellt werden. Auch hier wirkte die Auf¬
hebung ungünstig auf die Psyche wirkender äußerer Momente außer¬
ordentlich günstig,
Ähnliche reaktive Melancholien oder Depressionszustände scheinen
namentlich auch bei älteren Männern im Dienste nicht so selten vor¬
zukommen; die Veränderung der ganzen Lebensbedingungen, die lange
Abwesenheit von der Familie im Verein mit den ungewohnten körper¬
lichen Anstrengungen dürften hier mitwirken zum Zustandekommen
eines Krankheitsbildes, in dem neben heftiger Angst und infolge der¬
selben die Wahnvorstellung des Erschossenwerdensollens oder Ge-
tötetwerdensollens im Vordergründe steht. Versündigungs- oder
ähnliche Vorstellungen habe ich dabei bei den Fällen, die ich gesehen
habe, nicht gefunden. Hysterische Symptome waren nur in einem Fall
angedeutet. Disposition ist nicht immer nachweisbar, in einem Falle
hatte der Kranke eine ähnliche Attacke im 23. Lebensjahr, als er vor
kurzer Zeit zum Militärdienst eingezogen war, durchgemacht.
Der Einfluß, den eine Versetzung in fremde und schwierige Ver¬
hältnisse auf die Psyche im Einzelfall ausübt, wird naturgemäß ein
ganz verschiedener sein, je nach dem Alter des Betroffenen, je nachdem
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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es sich um einen leichtbeweglichen Städter oder um einen Land¬
bewohner handelt, der nie seine Scholle verlassen, je nachdem ein
widerstandfähiges Zentralnervensystem vorliegt oder ein labiles. Wir
kennen das „Heimweh“ schon lange als eine Ursache — wirkliche oder
angegebene — für kriminelle Handlungen vorwiegend jugendlicher,
psychisch minderwertiger Individuen. Es ist nicht zu verwundern,
daß es auch jetzt gelegentlich einmal als Grund für eine unerlaubte
Entfernung vom Heer angegeben wird und bei geeigneter Lage dea
Falles wohl auch berücksichtigt werden muß:
M. N., 26 Jahre alt, aus einem Dorfe der Provinz Hannover stammend.
Mutter an Phthise gestorben. Hat als Landarbeiter in der Heimat sein
Geld verdient, ist über die engere Umgebung nicht hinausgekommen,
wohnte beim Vater, hatte nie Konflikte mit seinen Arbeitgebern. Vor¬
bestraft ist er einmal wegen Forstdiebstahls und mehrmals wegen Betteins
und Betrugs. Hat nicht gedient, weü er zu schwach auf der Brust war,
er kommt bei schnellem Laufen und bei schwerer Arbeit leicht außer
Atem. Ist im November 1915 als unsicherer Heerespflichtiger eingestellt,
hatte vom 21.—23. Dezember Weihnachtsurlaub, kehrte nach Ablauf
desselben nicht zur Truppe zurück. Er hatte angeblich den letzten Zug
versäumt und war dann aus Angst vor Strafe weggeblieben. Am 3. 2.16
wegen dieses Vergehens zu 43 Tagen Gefängnis verurteilt, entfernt er sich
bereits 3 Tage später wieder von der Truppe, geht zu Fuß in die Heimat,
erzählt die Sache sofort seinem Vater, ist aber nicht zu bewegen, zurück¬
zukehren, er hat Angst vor der Strafe. Er wird am 8. 2. festgenommen
und erneut zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt. Als Grund seiner Ent¬
fernung gibt er Heimweh an: Es sei so über ihn gekommen, er habe nicht
widerstehen können, es müsse wohl Heimweh gewesen sein. Er wird am
11. 3. aus der Haft entlassen, bereits am folgenden Tage ist er wieder ver¬
schwunden und wird am folgenden erneut festgenommen, wieder auf dem
Wege nach Hause begriflen. Er gibt vor Gericht einen unwiderstehlichen
Drang nach Hause als Grund der erneuten Entfernung an und bittet
aus sich selbst heraus, ihn baldmöglichst ins Feld zu schicken, damit er
hinter der Front weiter ausgebüdet werde. Er wird ärztlich untersucht,
zeigt ein leicht erregbares Wesen und gibt an, nachts durch unerklärliche
Stimmen geängstigt zu werden. Darauf wird Beobachtung beantragt
und verfügt.
Die körperliche Untersuchung des gut genährten Mannes ergab eine
leichte Veränderung des Herzens mit einer Neigung zu Pulsbeschleunigungen
nach körperlicher Anstrengung. Subjektiv bestanden Klagen über Druck
in der Herzgegend. Das Nervensystem zeigte außer geringem Fingertremor
und Dermatographie keine Besonderheiten. Der Gesamteindruck, den
der jugendlich aussehende N. von vornherein machte, war der eines be-
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W. Tintemann,
schränkten Menschen. Die Intelligenzprüfung ergab: Einfache Rechen¬
aufgaben werden schnell und richtig gelöst, auch das Schreiben ist leidlich,
Auskunft über sein Vorleben, seinen Arbeitsverdienst und die Heimatsver¬
hältnisse sind durchaus zureichend. Damit ist sein Wissen und Können
aber auch bereits ziemlich am Ende. Vom Kriege weiß er sehr wenig,
von den Heerführern kennt er nur Hindenburg dem Namen nach; daß er
die Russen aus Ostpreußen vertrieben, weiß er nicht, ebensowenig wie, daß
sie jemals darin waren. Von den deutschen Staaten kennt er außer Preußen
nur Oldenburg, wo er in Garnison steht. Unterschiedsfragen, Sprichwört¬
er klären gelingen nicht. Die Orientierung über die neue Umgebung ist
sehr langsam und ungenügend. Der Zweck seines Aufenthaltes hier wird
ihm auch nie recht klar. Die Merkfähigkeit ist ausgesprochen herabgesetzt.
Seine Bitte, möglichst an die Front geschickt zu werden, begründet
er damit, er hoffte, daß ihm dadurch das Weggehen unmöglich gemacht
werde (sein Garnisonort liegt nahe seiner Heimat).
Beim näheren Nachfragen erst kommt er auch hier damit heraus,
daß er früher, nur immer in der Nacht, verschiedentlich sowohl im Massen¬
quartier wie im Arresthaus, im ganzen wohl neunmal Stimmen gehört habe.
„Als wenn jemand bei ihm spreche, es sei aber keiner dagewesen.“ Meist
habe er die Worte nicht verstanden, mehrere Male habe er aus den Stimmen
gehört, daß er nach Hause gehen solle. Die Stimmen seiner Kameraden
seien es nicht gewesen, was es eigentlich war, könne er nicht angeben. Hier
hat er nie mehr dergleichen gehört, Angst hat er nicht. Daß sein Fort¬
laufen unrecht sei, gibt er ohne weiteres zu, man dürfe so etwas nicht, das
sei verboten und werde bestraft, aber er habe nicht anders gekonnt. Er
macht bei diesen Angaben stets einen leicht deprimierten und erregten
Eindruck. Auch bringt er die Stimmen gar nicht in unmittelbaren Zu¬
sammenhang mit seinem Fortlaufen, er gibt stets ausdrücklich an, sie nur
nachts gehört zu haben, nicht unmittelbar vor dem Fortgehen.
Das Vorliegen einer Geistesstörung im Sinne des § 51 zur Zeit der
Tat wurde im Gutachten als vorliegend angesehen.
Daß in diesem Falle die große Veränderung der Lebenslage und ihre
Einwirkungen auf eine unzulängliche Psyche mit der darauf folgenden
Reihe von gleichartigen strafbaren Handlungen in einem kausalen Zu¬
sammenhang stehen, unterliegt wohl keinem Zweifel. N. war schon körper¬
lich nicht voll leistungsfähig. Er war mit seinen Intelligenzdefekten in
den sehr einfachen Verhältnissen der Heimat nicht besonders aufgefallen,
hatte sich im ganzen in ihnen zu behaupten vermocht, wenn auch einzelne
Konflikte mit dem Strafgesetz in einer Form, wie sie bei Imbezillen leicht
gefunden wird, vorgekommen waren. Den fremdartigen Verhältnissen, die
an seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit außerordentlich ver¬
mehrte Anforderungen stellten, war er nicht gewachsen. Die Angaben
über die nächtlichen Halluzinationen können als unbedingt sicher ange¬
sehen werden. Mit der Psychiatrie warN. vorher noch nicht in Berührung
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
71
gekommen. Sie aus sich heraus zu erfinden, dazu war seine Intelligenz
nicht hervorragend genug. Er flüchtete in einem Krankheitszustand
in die Heimat.
Die Lage für einen derartigen Schwachsinnigen oder ähnlichen
Unzulänglichen, der sich schon durch die Einstellung zum Dienst in
schwierigere Verhältnisse versetzt sieht als ein Normaler, kann sich
weiter komplizieren, wenn noch eine spezifische Schädigung durch den
Kriegsdienst, etwa in Gestalt einer namentlich den Kopf treffenden
Verwundung, eines Erschöpfungszustandes und dergleichen hinzu¬
kommt, wie es in einem andern zur Beobachtung kommenden Falle
vorlag:
A. B., 1893 geboren, konnte in der Schule nicht gut lernen und hat
von einer sechsklassigen Bürgerschule nur drei Klassen durchgemacht.
Er hat nach seiner Konfirmation die ganze Zeit in verschiedenen Fabriken
seiner Heimatstadt gearbeitet, es aber nicht weiter als bis zum einfachen
Arbeiter bringen können, weil er an Maschinen nicht arbeiten konnte, er
begriff die Vorschriften ihrer Handhabung nicht. Immerhin hat er selb¬
ständig seinen Lebensunterhalt verdient und zuletzt die Woche 20 M.
bekommen. Mit dem Strafgesetz ist er noch niemals in Konflikt geraten.
Im Herbst 1913 wurde er Soldat, aber nach 3 Wochen wegen eines Ohr¬
leidens wieder entlassen. Im März 1915 wurde er erneut zum Dienst ein¬
gezogen. Während der Ausbildungszeit ist nichts Besonderes vorge¬
kommen, nur hat der Unteroffizier immer zu ihm gesagt, er sei so dumm
und verunziere die ganze Kompagnie. „Dabei habe er immer alles so
gemacht wie die andern, es sei aber doch nie richtig gewesen.“ Anfang
Juli ins Feld gerückt, ist er am 26. desselben Monats durch einen Kopf¬
schuß verwundet worden. Nach Heilung der Wunde habe er zeitweise
heftige Kopfschmerzen gehabt, konnte den Dienst nicht mehr gut ver¬
tragen. Er wurde zum Wachdienst in einem Gefangenenlager komman¬
diert, dort ging es ziemlich gut. Nach den Gerichtsakten war er in der
Kompagnie als anständiger Mensch bekannt und genoß großes Vertrauen.
Ende November bekam B. Konflikte mit dem ihm Vorgesetzten Feld¬
webel, der ihn mehrfach rügte. So rügte er ihn am 18.11. wegen Unrasiert¬
seins, am folgenden Tage stellte er ihm 3 Tage Mittelarrest in Aussicht.
Dies verbat sich B.: Er wisse sonst nicht, was er tue. Dabei nahm er eine
Haltung an, als ob er dem Vorgesetzten das Gewehr vor die Füße werfen
wolle. Er wurde daraufhin im Wachtlokal untergebracht und zog sich
3 Tage später einen erneuten Tadel zu wegen ungeputzter Knöpfe, er er¬
widerte darauf in unangemessenem Tone. Es ist wegen seines Verhaltens
gegen ihn eine Anklage wegen Achtungsverletzung eingeleitet.
In der Hauptverhandlung, aus der noch hervorgehoben sei, daß B.
nach Zeugenaussage die letzte Zeit nachts öfter „schreit und tobt und
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72
W. Tinte mann.
nur durch lautes Anschreien zur Ruhe gebracht werden kann“, beantragen
Vertreter der Anklage und Verteidiger Beobachtung.
Dieselbe ergibt: Alte Mittelohrerkrankung, über dem rechten Ohr
eine Narbe, in deren Bereich der Knochen eine Impression zeigt. Klagen
über zeitweise Kopfschmerzen und Sausen im Kopf, Ohrensausen beson¬
ders rechts. Schwerhörigkeit links. Zunahme der Beschwerden bei Bücken
und Anstrengungen. Leicht stotternde Sprache (bereits seit der Jugend).
Erheblicher Intelligenzdefekt. Schul- und Allgemeinwissen gleichmäßig
beteiligt. Der Allgemeineindruck ist der eines sehr beschränkten, aber
auffallend gutmütigen und offenen Menschen. Von dem nächtlichen
Aufschreien weiß er nichts. Sein Vergehen gibt er ohne weiteres offen zu,
er sei erregt gewesen, nachher habe es ihm leid getan. Der Feldwebel habe
ihn immer als dumm gescholten und ihn dadurch in Ärger und Wut
gebracht. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre alles gut gegangen.
Das Vorliegen einer Störung im Sinne des § 51 StGB, wurde für die
Zeit der Tat bejaht.
Hier haben wir einen Imbezillen, der selbständig im bürgerlichen
Leben stand und zunächst alle Anstrengungen und ungünstigen Einflüsse
des Kriegsdienstes bis zur Verwundung hinauf gut vertragen hat, offenbar
fcum großen Teil eine Folge einer besonders günstigen Charakteranlage,
einem gutmütigen Schwachsinn. Dann wurde die von vornherein mangel¬
hafte Leistungsfähigkeit seines Gehirns weiter beeinträchtigt durch die
Kopfschußverletzung, die offenbar nicht symptomlos geheilt ist. Ob es
sich bei seinem Verhalten dem Vorgesetzten gegenüber rein um durch
eine erhöhte Reizbarkeit ausgelöste krankhafte Eigenbeziehungen gehan¬
delt hat, bleibt dahingestellt. B. hat sich jedenfalls für kleine Unregel¬
mäßigkeiten mehrfach dessen Tadel zugezogen und auf diesen Tadel
pathologisch reagiert. Es liegt eine Affekthandlung eines Schwachsinnigen
vor, die bei der ganzen Sachlage außerhalb der Breite der Gesundheit fällt.
Bei der Beurteilung fällt vor allem das sonstige Verhalten und Benehmen
des B. ins Gewicht, dem übereinstimmend das beste Zeugnis ausgestellt wird.
Eine weitere Gefährdung für das Verhalten der Unzulänglichen
kann auch im Kriegsdienst der Alkohol bilden. Es ist nicht zu ver¬
wundern, daß daher auch Begutachtungen wegen krimineller Handlun¬
gen unter mehr oder weniger Alkoholwirkung zurzeit relativ häufig
sind. Reizbare Psychopathen und sonst Minderwertige, die im Rausch,
auch im pathologischen Rauschzustände Achtungsverletzungen usw.
begangen, haben wir mehrfach zur Beobachtung in der Anstalt gehabt.
Ich will hier nur einen Fall etwas ausführlicher anführen:
Y. Z., 1889 geboren. Vater Trinker, reizbar und aufbrausend. In
der Verwandtschaft Lungenschwindsucht in mehreren Fällen. Als Kind
schwächlich, mehrfach gekränkelt, in der Schule gut gelernt. Später
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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kaufmännische Lehre. Mehrfach Stellung gewechselt, leicht erregbar,
ziemlich regelmäßig nicht geringer Alkoholgenuß. Im Oktober 1911 als
Rekrut in ein Reiterregiment eingetreten. Kurz vor dem Kriegsaus¬
bruch ein harter Schanker, der zunächst mit Quecksilber behandelt worden
ist. Kam im September 1914 ins Feld hinaus, mußte im November wegen
sekundärer Lues zurückgeschickt werden. Nach einer Salvarsankur zum
Ersatztruppenteil. Ende 1915 nochmalige Salvarsankur, dann zunächst
Heimatsurlaub. Auf der Rückreise zum Truppenteil in O. erkrankt mit
dem Gefühl allgemeinen Unwohlseins; 14 Tage in Lazarettbehandlung
Wegen Bronchitis. Am 13. Januar sollte Z. in die Garnison entlassen
werden, am 12. Urlaub in die Stadt, und zwar zum ersten Male. Ging
in Begleitung eines Bekannten am Nachmittag in ein Restaurant, wo er
nach Zeugenaussage etwa 10 Münchner trank. Hieran schloß sich eine
weitere Bierreise, die, nachdem in einer Wirtschaft Abendbrot gegessen
war, schließlich in einem Cafö endete. Dort trank Z. noch etwa zwei
Glas Bier, benahm sich anfangs ganz ruhig und geordnet, unterhielt sich
auch in sachlicher Weise mit den Zeugen. Dann geriet er mit einem Ma¬
trosen, der in weiblicher Begleitung am Nebentisch saß, in Streit. Der
Matrose verließ bald darauf das Lokal, Z. folgte ihm bis auf die Straße,
belästigte ihn auch dort, wurde aber von zwei Zeugen wieder in das Lokal
geholt und ging mit ihnen ans Büfett, wo Portwein getrunken wurde.
Er begann dann, einen Zivilisten zunächst durch Gebärden zu belästigen,
rief ihm endlich zu: Ich schlage Dir gleich eins in die Fresse, sprang dann
plötzlich auf den Zivilisten zu und faßte ihn an die Kehle. Er wurde aber
von seinem Gegner zu Boden geworfen. Der Zivilist verließ das Lokal,
und dem Z. wurde nach diesem Vorfall das Lokal verboten. Er nahm
darauf gegen die Wirtin eine drohende Haltung an und zeigte auch ein
Dolchmesser, das man ihm abnahm. Als er nicht ging, wurde er gewalt¬
sam aus dem Lokal entfernt und hinter ihm die Tür verschlossen. Plötzlich
stürzte er, mit einem blanken Seitengewehr bewaffnet, das er einem Sol¬
daten draußen entrissen hatte, wieder hinein und versetzte dem ersten
Gast, in dessen Nähe er kam, einen Stich in den Oberarm, dann einem
zweiten, der dem ersten zu Hilfe eilte, einen Stich in Arm und Hüfte. Er
wurde überwältigt und fortgeführt. Nach Bekundung sämtlicher Zeugen
war der Täter wohl angetrunken, aber nicht sinnlos betrunken.
Er selbst gibt einen Erinnerungsdefekt für die ganze Zeit des frag¬
lichen Abends an, er erinnert sich nur, daß in einem Restaurant eine
Schüssel herumgereicht wurde. Seine Erinnerung kehrt erst zurück, als
er sich am andern Morgen auf der Wache fand und ihm seine Tat vorge¬
halten wurde. „Er wolle sie nicht bestreiten, er müsse glauben, was ihm
vorgehalten werde.“
Nachdem ein Zeuge in der Verhandlung ausgesagt hatte, daß das
Benehmen des Z. sehr auffällig gewesen sei, daß er an der Tür gestanden
und bleich und zähneknirschend auf den Matrosen gewartet habe, daß er
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74
W. Tintemann,
dann nach der Rückkehr in solcher Aufregung gewesen sei, daß er nicht
ruhig am Tische sitzen konnte, sondern im Lokal hin und herging, als ob
er sich wieder sammeln wollte; daß man ihn draußen toben hörte, nachdem
er aus dem Lokal gewiesen war, und der ärztliche Sachverständige das
Vorliegen einer krankhaften Störung des Bewußtseins im Sinne des § 51
bejaht hatte, indem er ausführte, daß zu einem schweren Rausch ein
starker Zornaffekt getreten sei und den Zustand zu einem sinnlosen ge¬
macht hatte, wurde Beobachtung beschlossen
Dieselbe fand im Mai statt und ergab eine Anzahl Symptome einer
gesteigerten nervösen Erregbarkeit namentlich im Affekt.
Beim Sprechen bestanden häufige feine Zuckungen in der Gesichts¬
muskulatur, es bestand Zittern der Finger, das im Affekt auch auf die
Beine Übergriff, lebhaftes Gestikulieren mit den Händen und häufiges
Reiben der Finger aneinander. Subjektiv wurden Kopfschmerzen geklagt
seit den Salvarsankuren und eine Erinnerungslücke schon für die Vor¬
gänge vor dem Betreten des Gafös angegeben. In den Angaben waren
hier niemals Widersprüche nachweisbar. Ein weiterer Beweis für die
Richtigkeit seiner Bekundungen hierüber konnte darin gesehen werden,
daß Z. infolge* einer Reihe von Umständen anfangs annahm, daß er in der
Hauptverhandlung seinerzeit freigesprochen wäre und sich hier nur zur
Behandlung seines nervösen Zustandes befinde.
Es wurde das Vorhandensein eines pathologischen Rauschzustandes
im Gutachten für vorliegend erachtet. Z. ist in der erneuten Verhandlung
freigesprochen.
Die Überlegungen, die zur Annahme eines komplizierten Rausches
drängten, waren das Vorhandensein einer nervösen Disposition, einer
besonderen schwächenden Ursache in den durchgemachten Salvarsan¬
kuren und dem unmittelbar vorausgegangenen Krankenlager mit einer
völligen Alkoholabstinenz, der plötzliche ganz gewaltige Alkoholgenuß
neben dem auffallenden Verhalten, der vorausgehende Zornaffekt, der
Erinnerungsdefekt.
Die Beobachtung und Begutachtung derartiger Angeklagter, die
im Bausch strafbare Handlungen begangen haben, gehört auch hier
zu den wenig erfreulichen Aufgaben des psychiatrischen Sachver¬
ständigen. Der Täter kommt oft wochenlang oder monatelang nach
der fraglichen Tat in seine Hände, der Zustand bietet dann oft wenig
oder nichts Pathologisches. Er gibt meist einen Erinnerungsdefekt
für die Zeit der strafbaren Handlung an, und das große Kätselraten
beginnt. Die Zeugen, die den Grad der Trunkenheit meist rein nach
den motorischen Erscheinungen, d. h. danach, ob der Täter mehr oder
weniger gewackelt hat, beurteilen, geben oft mit rührender Überein¬
stimmung an, daß der Angeklagte wohl angetrunken, aber nicht sinnlos
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Unzulängliche im Kriegsdienst.
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betrunken war, trotzdem er oft die sinnlosesten Handlungen begangen
hat. So heißt es auch in der Anklageschrift zum vorhegenden Falle:
Nach Bekundung sämtlicher Zeugen war der Angeklagte wohl ange¬
trunken, aber nicht sinnlos betrunken.
Der Erinnerungsdefekt ist eine subjektive Angabe, die oft nur
nach dem Gesamteindruck, den der Täter macht, bewertet werden
kann. Er ist zudem, auch wenn er objektiv nachweisbar wäre, kein
eindeutiges Symptom, denn abgesehen davon, daß er auch im un¬
komplizierten Bausch vorkommt, kann man sich die Deutung noch
erschweren durch die Überlegung, daß er ja auch retrograd, d. h.
natürlich nur insofern, als er sich nicht mit dem pathologischen Teil
des Bausches deckt, sein kann, retrograde Amnesien kommen bei
andern Vergiftungen vor. So beginnt auch im dargelegten Falle die
Erinnerungslücke bereits lange vor dem Stattfinden der strafbaren
Handlung und dem Zornaffekt, der wohl auslösend wirkte, zu einer
Zeit, wo Z. sich noch vollkommen geordnet unterhalten hat. Alles
drängt dazu, die Bauschvergehen von einem andern Gesichtspunkte
zu beurteilen, den Bausch selbst zu bestrafen, der zu Vergehen führt.
Solange die heutigen Verhältnisse bestehen, könnte man daran
denken, ob es nicht möglich ist, wenigstens in einer Beihe von Fällen
ein sichereres Urteil über derartige Vergehen und die Bewertung des
vorhandenen Bauschzustandes für die spezielle Tat zu gewinnen da¬
durch, daß der Täter früher der ärztlichen Untersuchung zugeführt
wird. Eine solche Maßnahme käme natürlich bei den Schwierigkeiten,
die sich ihrer Durchführung entgegenstellen, in erster Linie oder viel¬
leicht nur für die schwereren Bauschvergehen in Frage. Ob bereits
einmal ein dahingehender Vorschlag gemacht ist, weiß ich nicht 1 ).
Für die militärischen Verhältnisse wäre er verhältnismäßig leicht aus¬
zuführen, da in den Truppenstandorten in den meisten Fällen auch
ein Militärlazarett mit geregeltem ärztlichen Dienst ist. Der Täter
müßte nicht, wie es bisher wohl in den allermeisten Fällen statthat —
natürlich wenn er sofort gefaßt ist —, in einer Zelle der Wache bzw.
des Polizeigewahrsams untergebracht werden, sondern im KrankSn-
x ) Anmerkung bei der Drucklegung: Friedenssanitätsordnung S. 83,
Anm. **, schreibt vor, daß hochgradig berauschte Mannschaften, um
Unglücksfälle zu verhüten, ins Lazarett gebracht und dort überwacht
werden, bis Ernüchterung eingetreten ist.
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W. Tintemann, Unzulängliche im Kriegsdienst.
hause, wohin er im Grunde genommen ja auch gehört. Zum mindesten—
ich habe immer vorwiegend die schweren Vergehen im Auge — sollte
eine möglichst umgehende und eingehende ärztliche Unter¬
suchung stattfinden. Daß eine solche eine keineswegs erfreuliche Auf¬
gabe für den Untersucher weder in bezug auf den Zustand des zu Unter¬
suchenden selbst noch auf die Tageszeit sein wird, ist klar, ebenso
daß eine Reihe von Einwänden gegen die ganze Maßnahme erhoben
werden können.
Daß diesen Schwierigkeiten gegenüber die sichere Diagnose des
pathologischen Rausches, namentlich wenn er zur Anwendung des
§ öl geführt hat, gerade auch für die militärischen Verhältnisse einige
Bedeutung hat, geht wohl daraus hervor, daß nach militärärztlicher
Annahme der pathologische Rausch ebenso wie jeder andere aus dem
Rahmen einer gewöhnlichen Trunkenheit fallende Rauschzustand mit
vereinzelten pathologischen Symptomen eine transitorische Geistes¬
störung darstellen und daher unter den Begriff der überstandenen
Geisteskrankheit fallen, d. h. zum mindesten in Friedenszeiten den
weiteren Dienst ausschließen soll (Jüttner).
Die Beurteilung und Bewertung aller dieser Menschen mit einem
in der mannigfachsten Beziehung nicht vollwertigen Zentralnerven¬
system, wie ich sie im Vorstehenden zusammenfassend als Unzuläng¬
liche bezeichnet habe, hat schon in normalen Zeiten manche Schwierig¬
keiten, ich erinnere nur an die Fürsorgezöglinge, unter denen wir fast
alle Gruppen vertreten finden. Der Krieg hat Neues an Krankheits¬
und Zustandsbildem, so ist schon hervorgehoben, fast nicht geschaffen.
Aber er hat ein neues Milieu geschaffen, eine große Summe von gerade
für diese Menschen manchmal besonders ungünstigen Lebensbedingun¬
gen und äußeren Umständen, die außerordentliche Anforderungen an
sie, vor allem an ihre Psyche stellen und in der Beurteilung vorwiegend
auch von kriminellen Handlungen berücksichtigt werden müssen.
Aus diesem Milieu und seinem Einwirken auf diese Unzulänglichen
habe ich im Vorstehenden einige Beispiele rein kasuistisch mitzu-
teifen versucht, wie sie die Beobachtung in Anstalt und Lazarett bot.
Eingehende Literaturangaben entsprachen nicht dem Rahmen der
Ausführungen, sie finden sich im Referat von Birnbaum in der Zeit¬
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie eingehend zu¬
sammengestellt.
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie
psychopathologischer Zustände mit besonderer
Berücksichtigung der Erschöpfung und Emotion 1 ).
Von
K. Bonhoeffer-Berlin.
Wenn ich, wohl unwidersprochen, an die Spitze meines Referates
stelle, daß der Krieg uns keine Erkrankungsform gebracht hat, die wir
nicht auch unter Friedensverhältnissen gesehen haben, und damit
zugleich auch die Diskussion über die Kriegspsychose als erledigt
betrachten darf, so besagt das gewiß nicht, daß der Krieg uns nicht
in vieler Beziehung Neues gebracht hat und uns zahlreiche Fragen der
Psychopathologie noch klären helfen soll. Der Krieg bedeutet für die
Psychiatrie ein ins Biesenhafte gehendes Experiment in der Frage der
Bedeutung der exogenen Schädigungen für die Entwicklung psychi¬
scher Störungen. Die Vorbedingungen, unter denen unsere Wissen¬
schaft an dieses Experiment herantritt, sind heute günstiger, als sie es
zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges gewesen sind. Es ist wohl
keine Selbsttäuschung, wenn wir sagen, daß wir heute eine schärfere
Symptomatologie der Geisteskrankheiten haben und ihrer natürlichen
Einteilung nähergekommen sind. Es besteht doch über die praktisch
wichtigsten Krankheitsformen eine wenigstens so weit gehende Über¬
einstimmung, daß bei einer späteren Bearbeitung des Gesamtmaterials
brauchbare Ergebnisse auch für die Kenntnis der Einzelerkrankun¬
gen erwartet werden dürfen. Einen Erkenntniszuwachs dürfen wir
durch den Krieg überall dort erwarten, wo er uns im großen entgegen¬
bringt, was wir im Frieden nur aus Einzelbeobachtungen kennen.
Durch die ins Große ziehende Wirkung wird er es ermöglichen, das
1 ) Referat erstattet auf der Kriegstagung des Deutschen Vereins für
Psych. zu München am 21. Sept. 1916.
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K. Bonhoeffer,
allgemein Gesetzmäßige aus den individuellen Reaktionen deutlicher
herauszuheben.
Von solchen im großen in Erscheinung tretenden Schädigungen
interessiert uns psychiatrisch vor allem die Erschöpfung und
die Emotion, und es ist die Aufgabe meines Referats, zu zeigen,
was der Krieg zur psychopathogenetischen Bedeutung dieser bei¬
den ätiologischen Faktoren uns gelehrt hat.
Wenn ich sie getrennt bespreche, so bin ich mir dabei im klaren,
daß sie in der Wirklichkeit des Krieges vielfach zusammen wirksam
sind, und daß es sich überhaupt nicht um voneinander stets scharf
scheidbare Vorgänge handelt. Die Emotion zwar kann isoliert in
Wirkung treten, aber der Erschöpfungsbegriff enthält stets einen
emotionellen Faktor, denn von den Einflüssen der Überanstrengung,
Unterernährung und Schlafentziehung lassen sich die mit ihnen ver¬
bundenen emotionellen Vorgänge, die oft recht erheblich sein können,
nicht trennen, und die Häufung emotioneller Schädigungen führt zu
einem Zustande, der wahrscheinlich der körperlichen Erschöpfung
gleichkommt, jedenfalls das Moment der Erschöpfung mit enthält.
Die Tatsache, daß Erschöpfung vorwiegend durch körperliche Leistun¬
gen hervorgerufen wird, während die emotionellen Schädigungen auf
psychischem Wege vermittelt werden, macht aber die Trennung für
die klinische Untersuchung wohl möglich.
Zunächst die Erschöpfung.
Unser Interesse geht hier, wie übrigens auch bei der Emotion,
nach zwei Richtungen. Die erste Frage ist, wie drückt sich die Er¬
schöpfung psychisch und nervös aus, gibt es ein unmittelbar als Er¬
schöpfungssyndrom aufzufassendes psychisches oder nervöses Krank¬
heitsbild, macht die Erschöpfung Psychosen oder Neurosen sui generis ?
Die zweite Frage ist, welche Bedeutung dem Erschöpfungs¬
komplex nach den Kriegserfahrungen für Auslösung und Verlauf von
psychischen Erkrankungen anderer Ätiologie zukommt. Daß der
Krieg gerade für die Frage der Erschöpfungsätiologie entscheidendes
Material bringen mußte, liegt eigentlich auf der Hand. Was in der
Friedenszeit aus den komplizierten ätiologischen Verhältnissen kon¬
sumierender Erkrankungen erschlossen werden muß, kann der Krieg
an jugendlichen und im wesentlichen gesunden Individuen lehren.
Eingehendere Spezialuntersuchungen über die körperlichen
Grundlagen schwerer Erschöpfung hat der Krieg an größerem Ma-
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw.
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terial bis jetzt nicht gebracht. Es liegt dies wohl daran, daß es bei
unseren Truppen dank der Kriegslage zu schweren, ganze Truppen¬
verbände umfassenden Erschöpfungszuständen nicht gekommen ist.
Ich bin aber durch das Entgegenkommen der Medizinalverwaltung
des preußischen Kriegsministeriums in der Lage, über ein große Zahlen
umfassendes Material schwerster Erschöpfungszustände berichten zu
können. Es sind das die serbischen Kriegsgefangenen. Diese be¬
fanden sich, wie sich aus den Mitteilungen der Ärzte der vier größten
Serbenlager einheitlich ergibt, bei der Gefangennahme infolge körper¬
licher Überanstrengung und Unterernährung in schwerster Erschöpfung.
Die Schilderung des körperlichen Verhaltens ist recht einheitlich:
schwerste Abmagerung, und zwar nicht nur Fettschwund, sondern
auch diffuse Atrophie der Muskulatur, Herzschwäche und -dilatation
mit Ödemen der unteren Extremitäten, in der ersten Zeit auch be¬
drohlich aussehende Fälle von Herzschwäche mit Lungenödem und
Bewußtlosigkeit, die eine auffallend schnelle Besserung zeigten. Der
Puls war selten beschleunigt, häufiger verlangsamt und die Herztätigkeit
matt. Ein allgemeines Schwächegefühl war vielfach so groß, daß eine
große Zahl der Leute 2—3 Monate ununterbrochen bettlägerig waren.
Die Morbidität und Mortalität war zu Anfang sehr erheblich. Es ge¬
nügte ein leichter Infekt, um den Exitus herbeizuführen. Die Todes¬
ursache war meist Herzinsuffizienz, Pneumonie und Tuberkulose. Betont
werden einheitlich die großen Unterschiede in der Schnelligkeit der
Erholung bei den älteren Gefangenen gegenüber den jüngeren.
Langsam ging die Erholung bemerkenswerterweise aber auch vielfach
bei den jüngeren Individuen. Die Gewichtszunahme betrug trotz der
schweren Abhungerung, in der sie eingeliefert wurden, und trotz der
Ernährung mit doppelter Ration nach 1 Monat im Durchschnitt nur
2 Pfund. Ein Teil hat sich gut erholt. Von den älteren und auch
vielfach bei den jüngeren wird betont, daß sie noch 7—8 Monate
nach der Einlieferung starke Abmagerung zeigen. Von einem Lager
wird berichtet, daß die Zahl der noch jetzt „chronisch ödemkranken“
über 100 betrage, und daß einige schon monatelang im Bett liegen,
ohne eine wesentliche Besserung zu zeigen. Betont wird weiterhin von
körperlichen Auffälligkeiten die Neigung zu phlegmonösen Entzün¬
dungen und die abnorm lange Heilungsdauer dieser Affektionen und
die starke Neigung zu Tuberkuloseentwicklung.
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K. Bonhoeffer,
Eingehendere Untersuchungen über Organveränderungen im
einzelnen liegen bis jetzt aus diesen Lagern nicht vor, ebensowenig ist
mir Genaueres über Obduktionsbefunde, wo besonders auch das Ver¬
halten der endokrinen Organe interessiert hätte, bekannt geworden.
Auf die Befunde in psychisch-nervöser Hinsicht komme ich später zu
sprechen.
Über die körperlichen Grundlagen leichterer Erschöpfungszu¬
stände hat Brugsch eine klinische Studie gebracht. Sie ist bemerkens¬
wert, weil der Versuch gemacht wird, den Erschöpfungsbegriff seines
unklaren allgemeinen Charakters zu entkleiden und ihn auf bestimmte
Organschädigungen zurückzuführen. Beeinträchtigt wird der Wat
der Untersuchung durch eine zum mindesten nicht unanfechtbare Aus¬
dehnung des Erschöpfungsbegriffs. Brugsch stellt als akute Er¬
schöpfungszustände die unter dem Einflüsse starker akustischer Reize,
z. B. platzender Granaten, entwickelten Schreckemotionsstörungen
als gleichartig neben die auf dem Boden der Überanstrengung und
Unterernährung entwickelten, wogegen sich klinisch manches ein-
wenden läßt. Als wesentlich entnehme ich Brugsch die Feststellung,
daß zum Wesen der Erschöpfung auf körperlichem Gebiete Herab¬
setzung des Blutdruckes und Dilatation des Herzens gehören, ein
Befund, der durch die Beobachtungen an den Serben bestätigt wird.
Nicht ganz damit im Einklang zu stehen scheint eine Bemerkung
Krehis , der wirkliche Erweiterung des Herzens lediglich als Folge von
Überanstrengung nicht gesehen hat.
Wichtig sind die Hinweise Brugschs auf die Störungen der endo¬
krinen Drüsentätigkeit bei der Erschöpfung. Entsprechend dem Er¬
gebnis bei den Tieren in der Tretbahn, bei denen sich der Adrenalin-
gehalt des Blutes erschöpft und die Nebennieren sich schwer verändert
zeigen, nimmt er auch bei der Erschöpfung des Menschen ähnliche
Veränderungen an. Doch fehlt vorläufig, wenigstens bezüglich der
Nebennieren, der Nachweis. Seine Angabe über die relative Häufig¬
keit leichter, mitunter auch ausgesprochener thyreotoxischer Er¬
scheinungen bei Erschöpften entspricht auch meiner und, soweit ich
die Literatm übersehe, auch der Erfahrung mancher anderer. Ins¬
besondere weist auch KreU auf Störungen der endokrinen Drüsen hin.
die sich unter anderem in eigenartigen Abmagerungen äußern sollen.
Vielleicht liegt dem eigentümlichen Verhalten der Erholung bei dm
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw.
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Serben, die sich in vielen Fällen so ganz anders verhält, als die Re¬
konvaleszenz nach akuter Infektion, ähnliches zugrunde.
Die Kriegsliteratur über die Symptomatologie der nervösen Er¬
schöpfungserscheinungen zeigt, daß eine scharfe Trennung von Über¬
müdung und Erschöpfung kaum durchzuführen ist. Wohl lediglich
die Schnelligkeit des Ausgleiches gibt nach der einen oder andern
Richtung die Entscheidung.
Von objektiven nervösen beziehungsweise muskulären Er¬
schöpfungssymptomen ist die Beobachtung Mayerhofers zu erwähnen,
der die uns bisher schon bei konsumierenden Erkrankungen bekannte
Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit, die sich in der
Bildung eines lokalen Wulstes beim Perkussionsschlag auf den Muskel
ausspricht, bei 80 bis 90% der aus dem Felde kommenden Soldaten
antraf und nach 2 bis 3 Wochen schwinden sah. Von dem Vorhanden¬
sein der Erscheinung habe ich mich bei frisch eingelieferten kriegs-
gefangenen Franzosen überzeugen können.
Vasomotorische Störungen werden berichtet, meist allerdings mit
starken emotionellen Schädigungen zusammen. Bei den Serben scheinen
sie, abgesehen von Schweißen, die beobachtet, aber der Tuberkulose
wegen nicht eindeutig waren, keine wesentliche Rolle gespielt zu
haben. Inwieweit das Auftreten leichter neuritischer Erscheinungen
in Gestalt von Parästhesien, Überempfindlichkeit, Einschlafen der
Glieder, gelegentlich auch, nach den Beobachtungen Manns , Gefühls¬
abstumpfungen im Bereiche bestimmter Nervengebiete als Erschöp¬
fungssymptome oder als Komplikation mit infektiösen bzw. rheu¬
matischen Störungen zu betrachten hat, ist nicht sicher. Daß sie
schwere Erschöpfungszustände häufig begleiten, ist wohl kein Zweifel.
Auf das Ausbleiben der matutinen Erektion und der Libido bei
Erschöpften hat Loewy hingewiesen. Wir kommen damit auf die
psychisch-nervösen Symptome.
Über psychische Erschöpfungssymptome im einzelnen enthalten
die Kriegsmitteilungen wenig Neues. Wollenberg berichtet von einem
Kollegen, der ebenso wie verschiedene Offiziere desselben Bataillons
nach sehr ermüdenden Märschen die Vision weißer Häuserreihen am
Straßenrande hatte, und von einem andern Offizier, der Kavallerie
und ein Luftschiff in eigentümlich fließender Bewegung sah.
Zeitschrift für PsyohUtri«. LXXIII. 1. 6
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K. Bonhoeffer,
Es handelt sich hier um ausgesprochene Ermüdungshalluzina¬
tionen, die in eine Linie zu stellen sind mit den Sinnestäuschungen,
die man nach stundenlanger konzentrierter optischer Aufmerksam¬
keitseinstellung auf bestimmte Dinge, z. B. beim Mikroskopieren, beim
Pilzesuchen im Walde oder Bernsteinsammeln am Strande abends
hypnagog an sich beobachten kann. Es treten dann die Gegenstände
der optischen Aufmerksamkeit halluzinatorisch häufig in einer eigen¬
tümlich vorquellenden Bewegung befindlich auf. Auf akustischem
Gebiet hat Weygandt den optischen hypnagogen Sinnestäuschungen
entsprechendes bei Ermüdeten beobachtet, und Rütershaus berichtet
von einem Offizier, der nach starken Anstrengungen und 62stündiger
Telephonbedienung im feindlichen Feuer nachträglich bei Tag und
Nacht das summende Weckzeichen und den Anruf „Herr Rittmeister“
hörte. Bei all diesen Sinnestäuschungen ging der Charakter der sub¬
jektiven Täuschung den Betroffenen nicht verloren.
Wir kommen nun zu dem psychischen Habitus der Erschöpften
nach der Einlieferung. Auch hier fehlen eingehendere psychische
Untersuchungen etwa im Sinne der früheren Versuche von Aschaffen¬
burg und Weygandt. Wer das Bild des tagelang dauernden exzessiven
Schlafbedürfnisses, die auch am Tage in tiefen Schlaf versunkenen
Krankensäle, in denen die eben aus erschöpfenden Feldzugserlebnissen
in die Lazarette verbrachten Soldaten liegen, gesehen hat, versteht,
daß das Interesse wissenschaftlicher Einzelforschung hinter der selbst¬
verständlichen Forderung des Ruhebedürfnisses zurückgestellt
worden ist.
Über das grobe psychische Bild, das diese akut Erschöpften und
Übermüdeten darbieten, besteht eine bemerkenswerte Einheitlichkeit
Zunächst die Beobachtung eines außerordentlich tiefen und lange
dauernden Schlafes. Liegen gleichzeitig stärkere Blutverluste vor, so
kann für einige Tage ein Bild tiefer Somnolenz sich eigeben, das zu
Anfang des Feldzuges öfters zur Annahme einer Komplikation mit
organischer Hirnstörung führte und die Prognose fälschlicherweise
ungünstig stellen ließ. In den wachen Zeiten ausgesprochen mürrisch¬
depressive Stimmung, Denkunlust und geringe Mitteilsamkeit. Die
Nahrungsaufnahme ist meist von Anfang an gut. Ich habe in keinem
Falle die erregte, leicht gehobene Stimmung gesehen, die man bei
toxisch infektiösen Prozessen in der sogenannten Erschöpfungsphase
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw.
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und auch nach großen Marschleistungen gelegentlich beobachtet, da¬
gegen beschreibt Wittermann eine der Situation nicht angepaßte
Euphorie mit Ideenflucht bei Soldaten nach großen Strapazen. Er
meint allerdings, daß das Auslösende dabei die Granatwirkung sei
Die große Mehrzahl der Leute ist nach wenigen Tagen wieder
völlig in Ordnung und hat keine Klagen mehr. Es bleibt aber ein Teil,
der länger zur Erholung braucht. Es wird über schlechten, unruhigen,
traumerfüllten Schlaf, starke Schweißbildung, eingenommenen Kopf,
Konzentrationsunfähigkeit geklagt. Es besteht Überempfindlichkeit
gegen Geräusche, mitunter auch gegen Licht, Reizbarkeit, Parästhe-
sien, nicht selten auch emotionelle Schwäche, die vor allem beim Auf¬
treten von Reminiszenzen an die letzten Erlebnisse oder bei der Not¬
wendigkeit chirurgischer Maßnahmen in Erscheinung tritt.
Unter dieser Gruppe findet man einzelne, die vorher nie an ner¬
vösen Störungen gelitten haben, häufiger vorher schon psychopathisch
veranlagte. Bei den Individuen, bei denen sich die hypochondrische
Depression und willensschwache psychische Einstellung nicht unter
Gewichtszunahme verlor, sondern trotz dieser unverändert blieb, hat es
sich nach meiner Erfahrung ausnahmlos um Psychopathen gehandelt.
Von großer Wichtigkeit ist die Frage: Macht die Erschöpfung,
abgesehen von diesem akuten Bilde der Schlafsucht, einer nervösen
Verstimmung und dem Gefolge eines leichten emotionellen hyper¬
ästhetischen Schwächezustandes, eigentliche Psychosen, gibt
es Erschöpfungspsychosen ? In meiner Bearbeitung der toxisch
infektiösen und symptomatischen Psychosen habe ich vor einigen
Jahren noch betont, daß bisherige Erfahrungen keinen Beweis dafür
geben, daß die akuten erschöpfenden Einflüsse der Überanstrengung,
Unterernährung und Schlafentziehung bei Gesunden Psychosen, ins¬
besondere die Psychose, die man bisher als Erschöpfungspsychose
xax’ 4$oyr'v bezeichnete, die Amentia hervorrufen. Der Krieg hat
uns dies Material nun gebracht. Ich wies aber auch darauf
hin, daß wir über größere Erfahrungen an einem Material von
erschöpften Gesunden nicht verfügen. Ich darf davon absehen,
die Veröffentlichungen im einzelnen zu erörtern, für welche eine Er¬
schöpfungspsychose jede Psychose ist, wenn erschöpfende Einflüsse in
der Anamnese vorhanden waren, auch wenn aus der Schilderung des
Bildes bekannte Typen der Schizophrenie oder, wie es häufig der Fall
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K. Bonhoeffer,
ist, episodische Reaktionen von Psychopathen klar liegen, denen im
besten Falle nervöse Erschöpfungssymptome beigemengt waren, wie
in den Fällen, die der neurasthenischen Depression Aidokratom nahe¬
standen. Wollenberg und ich selbst haben solche Fälle erwähnt.
Weygandt spricht von Fällen psychischer Erschöpfung, die mit Unruhe,
Erregung, deliriöser und halluzinatorischer Verwirrtheit und traum¬
artigen Zügen einhergingen, und solchen, die mit Hemmung, Stupor,
Apathie und auch lebhafter Angst einhergingen. Er betont die Selten¬
heit der Fälle und erwägt die Frage der psychopathischen Anlage.
Steiner beobachtete ohne inneres Leiden im Anschluß an schwere
körperliche Hinfälligkeit erschwerte Orientierung, äußerste Mühselig¬
keit aller Bewegung und verlangsamte Auffassung, leise Sprache und
schnelle Erholung bei Bettruhe, ein bemerkenswertes und sonst nicht
beobachtetes Bild vielleicht endokriner Genese, das mich an psychische
Störungen bei Addison erinnert.
Bei der Sichtung der Literatur ist bemerkenswert das Fehlen der
Amentia, die Verschiedenartigkeit der Bilder und das Vorherrschen
der Reaktionen auf dem Boden psychopathischer Konstitution. Von
erheblicher Bedeutung scheinen mir die Beobachtungen an den er¬
schöpften Serben. Es war mir leider nicht möglich, dort eigene Unter¬
suchungen anzustellen, da zu der Zeit, als ich von dem schwer er¬
schöpften Zustande der Serben hörte, schon einige Monate seit ihrer
Einlieferung vergangen und die wichtigste Beobachtungszeit vorüber
war und die Gefangenen zum großen Teil verteilt waren. Was sich
aus den Berichten der Lagerärzte nachträglich erheben ließ, war be¬
merkenswert negativ. In dem einen Lager, in dem 4500 serbische
Kriegsgefangene waren, bei denen schwerste körperliche Erschöpfungs¬
erscheinungen vermerkt sind, wird das Vorliegen psychischer Störungen
überhaupt verneint. In einem andern von 3000 Gefangenen sind
ein Fall von Demenz und drei vorübergehende Erregungszustände
notiert. In einem weiteren von 1800 kein Fall von Psychose, in einem
vierten endlich, wo mir die absolute Zahl der vorhandenen Gefangenen
nicht bekannt geworden ist, jedenfalls aber auch über 1000 beträgt,
sind zwei Fälle psychischer Störung beobachtet worden. Also bei
mehr als 10 000 Gefangenen mit schwersten Erschöpfungserscheinungen
sind nur 5 Psychosen erwähnt. Da spezialistische Untersuchungen
gefehlt haben, wird man die sich ergebenden absoluten Zahlen nicht
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als exakt ansehen, insbesondere dürften leichtere nervöse Störungen
bei der im Vordergründe stehenden schweren körperlichen Prostration
vielleicht übersehen worden sein, aber man darf wohl sicher sagen, daß
ein irgendwie stärkeres Hervortreten psychischer Störungen sich der Be¬
obachtung nicht entzogen hätte, um so mehr, als von einem Lagerarzt
ausdrücklich berichtet wird, daß das Fehlen „spezifisch nervöser Er¬
scheinungen“ den Ärzten bald aufgefallen sei. Das Ergebnis kann dar¬
nach, wie ich glaube, nicht anders als im Sinne einer Bestätigung der
Auffassung lauten, daß die Erschöpfung als solche keine
Psychosen hervorruft.
Wir kommen nun zur zweiten Frage: Welche pathogenetische
Bedeutung hat nach den Kriegserfahrungen der Erschöp¬
fungskomplex für die Entwicklung psychischer und ner¬
vöser Erkrankungen anderer Ätiologie?
Die Empfänglichkeit gegen Infektionen wird bei Tieren durch
Aushungerung oder durch motorische Erschöpfung gesteigert. Daß
ähnliches beim Menschen zutrifft, gilt fast als ärztliches Axiom. Die
Erfahrungen in den Serbenlagem betonen die außerordentliche An¬
fälligkeit gegen Infektionen, die geringe Widerstandskraft des Organis¬
mus. Besonders die Tuberkulose scheint nach den Berichten, ent¬
sprechend bekannten Erfahrungen, besonders günstigen Boden zu
finden. Es handelt sich vielfach nicht um Neuinfektionen, sondern
um Aufleben alter, zur Buhe gekommener Prozesse.
Für uns ist die Beziehung zwischen Erschöpfung und Infektions¬
krankheit vor allem in der Luesfrage von Wichtigkeit. Von zahl¬
reichen Seiten wird darauf hingewiesen, daß negativer Wassermann
unter Erschöpfungseinflüssen positiv wird. Es ist aber auch noch be¬
sonders betont worden, daß im überanstrengten Organismus sich die
Lues mit besonderer Vorliebe im Nervensystem festsetze und hier vor
allem zu Frühschädigungen des Nervensystems führe. Ich entnehme
diese Beobachtung den Berichten der fachärztlichen Berater einzelner
Korpsbezirke. Sterz und Weygandt haben sich in diesem Sinne aus¬
gesprochen. Auch Steiner, bei dem die Nervensyphilitiker 4,4% seines
ganzen Nervenmaterials ausmachen, weist darauf hin, daß Erschöp¬
fungseinflüssen eine wesentliche Bedeutung für die Lokalisation der Lues
am Nervensystem zukomme. Es handelt sich bei den in dieser Frage
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K. Bonhoeffer.
bisher bekannt gewordenen Mitteilungen nirgends um eine systemati¬
sche Zusammenstellung größerer Reihen, sondern im wesentlichen um
Eindrücke. Es wäre bei der Wichtigkeit der Frage wünschenswert,
daß in dieser Richtung noch weiteres Material gesammelt würde, vor
allem von Fällen, die vor dem Kriege nachweislich nach Wassermann
negativ waren. Mein eigenes, etwa 50 Fälle umlassendes Nervenlues-
mateiial (ausschließlich der progressiven Paralyse) ergibt einen ver¬
hältnismäßig hohen Satz von etwa 30% der Fälle, in denen der Einfluß
chronischer Kriegsstrapazen auf die Lues wahrscheinlich ist. Dagegen
gibt es keinen Anhaltpunkt dafür, daß gerade die frische Lues bei Er¬
schöpfung eine besondere Neigung zur zerebrospinalen Lokalisation
zeigt. Im Gegenteil ist der Prozentsatz der kurz vorangegangenen In¬
fektionen geringer, als der Friedensstatistik entspricht. Es eigab
sich nach meinem Material vielmehr, daß sogar besonders lange In¬
kubationszeiten von 18bi8 25 Jahren Vorlagen, daß also gerade alte, an¬
scheinend längst abgeschlossene Prozesse wieder angeregt wurden,
ein Verhalten, das dem der Tuberkulose entspricht. Bemerkenswert
an meinem Material ist vielleicht noch, daß unter den Fällen, in denen
Epilepsie zum ersten Male im Feldzug auftrat, mehrfach Lues eine
Rolle spielte.
Ein besonderes Kapitel ist dann noch die progressive Para¬
lyse. Auch hier wird erschöpfenden Kriegseinflüssen eine besondere
Bedeutung beigelegt. Während des russisch-japanischen Krieges hat
schon Stieda behauptet, daß die progressive Paralyse eine Verkürzung
der Inkubationszeit erfahren habe. Neuerdings hat Rütershaus über
ausgesprochene Frühformen im Felde berichtet. Ähnlich — ersehe ich
aus einem Korpsarztbericht — ist die Ansicht Knoblauchs, der auch
früheren Ausbruch der Erkrankung in einer Reihe von Fällen beob¬
achtet hat.
Bei der Wichtigkeit der Frage wird es sich sehr empfehlen, ge¬
nauere Nachuntersuchungen bezüglich der Inkubationszeit zu machen.
Da die Nachforschungen bezüglich ihrer bei der Paralyse häufig ver¬
sagen, ist die Feststellung des Lebensalters von Wichtigkeit. Ich habe
vor einiger Zeit mein Kriegsparalysematerial von diesem Gesichts-*
punkte zusammengestellt: 34 Fälle. Es hat sich weder nach Lebens¬
alter noch nach den Inkubationszeiten, soweit diese zu ermitteln waren,
eine Abweichung vom Friedenstypus eigeben. Bemerkenswerterweise
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw.
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überwiegt auch hier die demente Form. Singer teilt mir über seine
Erfahrungen aus einem Nervenlazarett mit, daß er unter den ihm
zur Untersuchung zugegangenen Fällen nur 0,72% sichere Paralytiker
gehabt hat, die hinsichtlich der Inkubation und der Altersverhältnisse
nichts Besonderes boten. Ganz übereinstimmend ist der Bericht, den
ich von Hämisch aus einem andern Nervenlazarett mit 36 Paralytikern
habe. Das Durchschnittsalter der Paralytiker beträgt bei meinem
und Harnischs Material zusammen etwa 38 Jahre, entspricht also den
Durchschnitterfahrungen. Es scheint mir darnach, daß der Krieg
bis jetzt keine ausreichenden Anhaltpunkte dafür ergeben hat, daß
Erschöpfungseinflüsse das Hirn des Luikers frühzeitiger für Para¬
lyse empfänglich machen.
Die Bedeutung der Erschöpfung für die Entwicklung endogener
und anderer psychischer Erkrankungen ist offenbar nicht erheblich, wenn
inan den Psychosezahlen in den Serbenlagern folgen darf. Es wird
hierauf wie auf das Verhältnis der Erschöpfung zu psychopathischen
Reaktionen aus praktischen Gründen zweckmäßiger zusammen mit
der Emotionspathogenese einzugehen sein, zu der wir jetzt
kommen.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Hunger, Strapazen und
Kampf mit Übermüdungsgefühlen an sich stark gefühlsbetont sind, und
daß insofern die Erschöpfung ein emotionelles Moment stets mitent¬
hält. Demgegenüber sehen wir emotionelle Schädigungen isoliert wirk¬
sam. In Betracht kommt zunächst die plötzliche seelische Erschütte¬
rung, wie sie bei unvermittelt auftretender Todesgefahr und plötz¬
lichen heftigsten Sinneseindrücken auftritt, der Symptomkomplex
der Schreckemotion. — Darüber, daß die Schreckemotion eine
plötzliche, mehr oder weniger starke Alteration des Vasomoto-
riums setzt, bestehen wohl keine Meinungsverschiedenheiten. Die
Schädigung kann bis zur Ohnmacht führen. Dafür, daß sie beim
Gesunden bis zum Tode führt, liegen meines Wissens sichere Be¬
obachtungen aus dem Kriege nicht vor. Über unmittelbare psychische
Folgeerscheinungen des Schrecks hat der Krieg nicht so viel ein¬
deutiges Material gebracht, als man wohl denken sollte. Zum Teil ist
daran schuld die Häufigkeit der Komplikation mit Kommotionserschei-
nungen, psychogenen Faktoren und andern ätiologischen Dingen,
andrerseits fehlt im Felde gerade bei den in Betracht kommenden
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K. Bonhoeffer,
Situationen die Ruhe zur Beobachtung und Selbstbeobachtung. Viel¬
leicht hören wir heute in der Diskussion von den Kollegen aus dem
Felde noch Neues. Immerhin hat sich das Bild der Emotionslähmung,
wie sie zuerst Balz an sich selbst als Erdbebenwirkung geschildert
und später Stierlin erwähnt hat, als psychischer Typus der plötzlichen
Schreckwirkung bestätigt. Die Erscheinung einer unter dem Einfluß
des erschütternden Erlebnisses plötzlich einsetzenden völligen affek¬
tiven Indifferenz bei lebhaft weiter funktionierendem intellektuellen
Mechanismus ist mir spontan von Offizieren geschildert worden.
Stransky bezeichnet nach eigenem Erleben den Zustand als den einer
philosophischen Gleichmütigkeit. Ein Offizier erzählte mir, daß er
etwa 3 Stunden lang nach einem plötzlichen Schreck durch uner¬
wartete Granatexplosion in dieser eigentümlich gefühlsleeren Ver¬
fassung gewesen sei. Birnbaum berichtet ähnliches nach einer Zeitungs¬
notiz über einen Flieger. Gaupp spricht von apathischem Stupor und
dem Erloschensein jeder bewußten Gefühlsreaktion und bezieht sich
dabei auf die entsprechenden Beobachtungen von Balz und Stierlin.
Soweit sich die Kriegsliteratur mit dieser Erscheinung beschäf¬
tigt, neigt sie dazu, im Anschluß an Stierlin und neuerdings Hocke,
darin etwa s Teleologisches, eine Art psychischer Selbstsicherung gegen
zu starke psychische Eindrücke zu erblicken. Die Vorstellung eines
derartigen Affektventils mag gerechtfertigt sein. Es liegt aber viel¬
leicht auch — und das interessiert mich in unserem Zusammenhang
mehr — ein pathogenetisch bedeutsames Moment in dieser Loslösbar¬
keit des Affektes vom Vorstellungsinhalt. Abgesehen von dem be¬
merkenswerten Hinweis auf die Selbständigkeit des Affektiven, gibt
die Tatsache, daß unter dem Einflüsse schwerster Emotion eine solche
Abspaltung des Affektes erfolgt, der Vorstellung eine tatsächliche
Unterlage, daß das Auftreten der psychoneurotischen Störungen viel¬
leicht mit pathologischen Affektverankerungen zusammenhängt, die
dieser sejunktiven Störung entstammen. Balz erzählt von sich und
seinem Kollegen, der einen ähnlichen Zustand erlebte, daß sie eine
Stunde nach dem Emotionsstupor schon wieder ärztlich tätig waren
und Verbände anlegten, und daß er nichts von Nachwirkungen spürte.
Der Offizier, der mir von dem dreistündigen derartigen Zustande be¬
richtete, verfiel nachher in einen Zustand abnormer Weichmütigkeit
mit Weinneigung, Depression und starker Sehnsucht nach Hause.
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw.
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Nach 3 Tagen war er wieder in Ordnung. Auch Stransky berichtet
von einer dem Zustande folgenden nervösen Reaktion auf das Erlebte, •
ohne sie genauer zu schildern. Auch sonst ist mir ein solches zeitliches
Verhältnis bekannt geworden. In diesem zeitlichen Intervall
zwischen Schreckstupor und der darauf folgenden nervösen
Abreaktion, die in den normal verlaufenden Fällen das affektive
Gleichgewicht wieder herstellt, liegt offenbar eine Gesetzmäßigkeit,
der in unserer Kriegsliteratur, soweit ich sehe, nicht genauer nachge¬
gangen ist. Aus einer Bemerkung SoUiers entnehme ich, daß in
der französischen Kriegsliteratur die intermediäre Phase zwischen
Emotion mit „tremblement und tachycardie“ und den folgenden
nervösen Störungen diskutiert wird. Sie wird dort als „p&iode
de möditation“ bezeichnet. Ich glaube, daß diese intermediäre Zeit
genetisch für die Pathologie der Granatemotionsneurosen von Be¬
deutung ist. Es scheint mir plausibel, daß während dieser Zeit der
bestehenden Affektabspaltung bei ungünstiger psychischer Konstella¬
tion — hierzu rechne ich Erschöpfung, Fortdauer emotioneller Schädi¬
gungen und vor allem psychopathische Konstitution — pathologische
Affektverankerungen stattfinden können, die sich zunächst vor allem
an die physiologischen Schreckerscheinungen anknüpfen und sich in
einer zeitlichen Verlängerung dieser Erscheinungen äußern können.
In dieser Phase handelt es sich noch um ganz labile Störungen, wie sich
daraus ergibt, daß sie unter dem Einflüsse schnell einsetzender starker,
vom Körperlichen ablenkender Vorstellungen — ich denke bei Balz
und seinem Kollegen an die Dringlichkeit ärztlichen Eingreifens nach
dem schweren Erdbeben und im Kriege an die Gefangennahme in
dieser Phase — anscheinend ganz schnell zum Schwinden zu bringen
sind. Ob man in dieser Phase schon von Hysterie sprechen will, ist
Definitionsfrage. Es ist aber kein Zweifel, daß diese Bewußtseins¬
phase eine eminent hysterophile ist, wenn man das so nennen will,
es mag schon der Wunsch nach Ruhe, das Bedürfnis, sich dem be¬
stehenden Schwächegefühl hinzugeben, sich der augenblicklichen
Situation zu entziehen, genügen, die Symptome zu einer vorläufigen
Fixierung zu bringen.
Das Bewußtsein während dieser Zustände von Emotionslähmung
im Sinne von Balz ist übrigens wahrscheinlich doch nicht so ganz
intakt, wie Balz meint. Aus seiner eigenen Schilderung ergibt sich
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K. Bonhoeffer,
eine Störung des Wahrnehmungsaktes. Während er ganz affektlos
sich innerlich die Erdbebenwirkung in den Einzelheiten vergegen¬
wärtigt, wird er sich zunächst nicht bewußt, daß er von seinem Kutscher
am Arm gezerrt wird. Auch die Angabe, die man von Soldaten, die in
dieser Gemütsverfassung im Kampfe stehen und sich offenbar äußer¬
lich sachgemäß verhalten, bekommt, daß sie wenig von allem im Ge¬
dächtnis behalten hätten, spricht für ein Verhalten des Bewußtseins,
das sich der Bewußtseinsverfassung des Dämmerzustandes nähert.
Vielleicht hängt es mit dieser Bewußtseinslage zusammen, daß im
Gefolge von Emotionsschock epileptoide Erregungen, raptusartige
Handlungen und poriomanische Anfälle nicht so ganz selten berichtet
werden. Was sonst von psychopathologischen Folgeerscheinungen
einmaliger und fortgesetzter Schreckemotionen berichtet wird, sind
vor allem Delirien mit Darstellung von Gefechtsbildern von psycho¬
genem Typus, depressive Zustände mit zwangmäßig sich auf drängen¬
den schreckhaften Beminiszenzen. Gaupp schildert einen akuten
apathischen Stupor mit viel psychogenen Einschlägen, der mit völliger
Amnesie abklingt. Häufig handelt es sich bei den geschilderten Krank¬
heitsbildern neben der emotionellen Pathogenese um Verbindung mit
Erschöpfung und oft auch mit echter Hirnkontusion, vor allem aber
auch um Kombination mit endogen konstitutionellen Momenten und
psychogenen Faktoren.
Die Kriegserfahrung lehrt uns, daß es eine eigentliche Schreck¬
psychose, abgesehen von dem Böfeschen Emotionsstupor, offenbar
nicht gibt.
Wir haben im Kriege noch eine zweite Kategorie emotioneller
Wirkungen erlebt, die wohl am stärksten in der Mobilmachungszeit in
Erscheinung trat. Es hat sich da um ein eigenartiges Gemisch erheben¬
der und bedrückender Affekte gehandelt, wie sie durch die Vorstellung
der kriegsbedrohten Heimat, durch das nach Aktivität drängende
Gefühl des gekränkten Nationalbewußtseins und durch die Erwartung
der schweren Störungen des persönlichen und wirtschaftlichen Lebens
hervorgerufen wurden. Daß die massenpsychologische Wirkung dieser
Affekte nicht ohne pathologische Einschläge war, ist uns allen erinner¬
lich. Wemicke würde, wenn er es erlebt hätte, seine Freude an dem
Riesenexperiment zur Kenntnis des Einflusses der überwertigen Idee
auf den Ablauf des Wahrnehmungsvorganges und Vorstellungsablaufes
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw.
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gehabt haben. Es liegt die Frage nahe, ob jene durch das Volk gehende
starke Affektwelle im einzelnen pathogenetische Wirkungen gehabt hat.
Tatsächlich enthält auch die Literatur eine Anzahl von Mitteilun¬
gen über Mobilmachungspsychosen, und eine Reihe von Beobachtern
haben in den ersten Tagen des Krieges eine Steigerung der Aufnahme¬
zahlen gesehen. Bresler hat durch eine Umfrage gezeigt, daß es keines¬
wegs erlaubt ist, diese Erfahrungen zu generalisieren. Unser Berliner
Material zeigt sogar umgekehrt, daß vom 1. bis 15. August 1914 die
Männeraufnahmen auf die Hälfte, die der Frauen auf den 5. Teil im
Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangen waren. Es sind wohl vor
allem die Gegenden, in denen der Landsturm sofort aufgerufen wurde,
und Orte, wo größere Mengen dieser Landsturmleute Zusammenflossen,
in denen eine Steigerung sich fand. Was beschrieben ist, sind vor allem
pathologische Reaktionen von Psychopathen. Auffällig war bei uns
in jener Zeit eine Zunahme der Alkoholdelirien, die bei dem offenbaren
Seltenerwerden der Delirien in den letzten Jahren besonders augen¬
fällig war und über die in dieser Jahreszeit übliche Prädilektion hinaus¬
zugehen schien. Ich bin zweifelhaft, ob es berechtigt ist, hierbei dem
emotionellen Faktor der Mobilmachung eine ausschlaggebende Be¬
deutung beizulegen. Das Zusammenströmen zahlreicher Landwehr¬
leute, die vor dem Abschied stark gefeiert hatten, die auf der oft langen
Bahnfahrt erzwungene Abstinenz, dazu die Prädilektionszeit des
August könnten eine ausreichende Erklärung abgeben. Auch nach
WoUenberg hoben sich in der Mobilmachungsperiode die Alkoholde¬
lirien besonders hervor und, wie er beobachtete, auch in der
schweren Verlaufsform. Ein nicht geringer Teil starb schnell infolge
Herzschwäche.
Die Frage der Auslösung endogener, schizophrener und organischer
Psychosen im Gefolge von Emotionen kann zahlenmäßig noch nicht
beantwortet werden. Die Statistik hat über Zunahme, Abnahme,
Gleichbleiben dieser Erkrankungen während des Krieges noch nicht
gesprochen. Wir sind auf die Beobachtungen des einzelnen ange¬
wiesen. Abgesehen von den Beobachtungen an Kriegsteilnehmern,
könnten die emotionellen Einflüsse des Krieges auch in der Zivil¬
bevölkerung in den Sammelorten der Flüchtlinge, die schweren Erleb¬
nissen ausgesetzt waren, in Änderungen der Aufnahmeverhältnisse
der Anstalten, vor allem auch der Frauenstationen, sich ausdrücken.
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K. Bonhoeffer,
Spezialuntersuchungen in dieser Richtung sind, soweit ich sehe, bis
jetzt nicht gemacht worden.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen die manisch-depressiven
Psychosen, bei deren Entwicklung die verursachende Bedeutung der
Gemütsbewegungen nach manchen Anschauungen noch immer hoch
eingeschätzt wird. Einheitlich sind die Kriegserfahrungen darüber
in einem Punkte: in der Feststellung der relativen Häufigkeit reaktiver
Depressionen bei konstitutionell Depressiven, was eigentlich nach den
Friedenserfahrungen fast selbstverständlich ist. Im übrigen gehen
die Angaben auseinander. Hübner hat unter den Mobilmachungs¬
einflüssen verhältnismäßig viel Manische und Melancholische gesehen.
Er führt als Zeugen für seine Auffassung von der leichten Auslösbar¬
keit dieser Zustände durch Emotion auch E. Meyers und Weygandts
Kriegserfahrungen an, den ersten, wie mir nach der in Betracht kom¬
menden Arbeit scheint, nicht ganz mit Recht. Aus gelegentlichen
privaten Mitteilungen von Kollegen entnehme ich, daß auch in den
Anstalten der Zivilbevölkerung die Manien häufiger geworden seien.
In meinem eigenen Material waren die manisch-depressiven Erkrankun¬
gen zu Anfang auffällig gering, und auch später schienen sie mir über
das Häufigkeitsverhältnis, in dem wir sie auch sonst innerhalb der
Psychosen vertreten sehen, nicht hinauszugehen. Unter den in meiner
Klinik eingelieferten psychisch kranken Soldaten verhielten sich die
Manisch-Depressiven zu den Schizophrenen wie 1 :4, ein Verhältnis,
das für unsere Aufnahmeverhältnisse keine Häufung der Manisch-
Depressiven bedeutet. Eine leichte Vermehrung würde übrigens kaum
beweisend für den Emotionseinfluß sein, da anzunehmen ist, daß
leichtere depressive oder hypomanische Erregungen in dem Rahmen
der militärischen Disziplin eher auffällig werden und ins Lazarett
gelangen als im Frieden.
Ganz ähnliche Gedankengänge gelten für die Epilepsie. Auch
hier hat die emotionelle Verursachung und Auslösung nicht nur des
Anfalles, sondern der Krankheit, noch immer Anhänger. Ich verweise
auf Weygandt. Eine sorgfältige Analyse von 48 Epilepsiefällen bei
Soldaten hat mir bei keinem einzigen ergeben, daß die Feldzugs¬
emotionen, und ich kann auch gleich die Erschöpfung mit herein¬
nehmen, eine Epilepsie verursacht hätten. Stets hatte, wenn kon¬
stitutionelle Epilepsie im Felde zum ersten Male auftrat, eine deutliche
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw.
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Anlage in dieser Richtung schon bestanden. Zu demselben Resultat
ist Hauptmann gelangt, und wenn er noch weiterhin betont, daß für
die Epilepsie die Unabhängigkeit des Auftretens der epileptischen
Anfälle von emotionellen Momenten geradezu charakteristisch und
differentialdiagnostisch verwertbar sei, so kann ich dem im allgemeinen
nur zustimmen. Die häufige Fehldiagnose Epilepsie anstatt Hysterie
würde bei Beachtung dieser Tatsache seltener werden. Das Vor¬
kommen reaktiver epileptischer Anfälle bei vorhandener Konstitution
auf emotionelle Anlässe hin vollständig in Abrede zu stellen, scheint
mir aber nicht zulässig.
Bezüglich der schizophrenen, paranoischen mufparanoiden
Erkrankungen hat der Krieg über auslösende Einflüsse der Emotion
nichts ergeben, was die Auffassung, die wohl schon im Frieden allgemein
war, daß für die Entwicklung dieser Erkrankung Gemütsbewegungen
unwesentlich sind, umzustoßen Veranlassung geben könnte. Auch für
das Zusammentreffen von Erschöpfungs- und Emotionseinflüssen gilt
dasselbe. Die Erwägung, daß die Schizophrenie vielleicht auf Funk¬
tionsstörungen endokriner Art beruht, und daß durch Erschöpfung
und fortgesetzte Emotion wahrscheinlich endokrine Störungen hervor¬
gerufen werden und infolgedessen vielleicht auf diesem Wege eine Ver¬
mehrung der schizophrenen Prozesse denkbar wäre, eine, wie ich glaube,
von Wümanns diskutierte Möglichkeit, hat vorläufig durch die Beob¬
achtung noch keine Unterlage bekommen. Einzelne Fälle, die an¬
scheinend anschließend an solche Schädigungen ausgebrochen sind,
hat natürlich jeder gelegentlich beobachtet. Sie beweisen aber nichts,
solange der Prozentsatz nicht über das hinausgeht, was bei den in
Betracht kommenden Altersklassen ohnehin an Erkrankungen zu
erwarten steht.
Die Bemerkung AU s, daß der schnellere und günstigere Verlauf
gewisser im Felde entwickelter schizophrener Störungen Schlußfolge¬
rungen auf die exogene Auslösung erlaube, bedeutet vorläufig wohl
lediglich eine Anregung, in dieser Richtung an größeren Reihen
weiter zu untersuchen.
Wie verhält sich endlich Emotion und Erschöpfung zur psycho¬
pathischen Konstitution? Fast allerseits wird eine enge Beziehung
angenommen, und die Kriegserfahrungen, welche die relative Häufig¬
keit der episodischen Zufälle der Psychopathen zeigen, scheinen das
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K. Bonhoeffer,
zu bestätigen. Und doch lehrt uns gerade hier der Krieg etwas Wichti¬
ges. Das Ausbleiben solcher psychopathischen Reaktionen bei den
Serben trotz Fortbestand ihrer schweren Erschöpfungszustände im
Gefangenenlager, die entsprechenden Beobachtungen über das Fehlen
psychisch-nervöser Erscheinungen bei den aus schwerstem Granatfeuer-
Erlebnissen kommenden kriegsgefangenen Franzosen im Gegensatz
zu der Häufigkeit dieser Störungen hinter der französischen Front,
auf die ich in anderem Zusammenhang hingewiesen habe, und die
neuerdings von Märchen an großem Material bestätigt worden sind,
weisen darauf hin, daß der Erschöpfung und Emotion auch hier nicht
die angenommene direkte pathogenetische Bedeutung zukommt. Erst
die Fortdauer der Anforderungen an die Willensleistung, wie sie der
Krieg und der Zwang der Disziplin mit sich bringen, der Konflikt der
Pflicht mit den andersgerichteten Wünschen und Bestrebungen des
psychopathischen Individuums löst die Mehrzahl der krankhaften Re¬
aktionen aus. Es liegt in diesen Beobachtungen ein wichtiger Hinweis
auf die praktische Bewertung der psychopathischen Reaktion. Die
Bedeutung der Erschöpfung und Emotion ist nur eine vorbereitende,
indem sie die der psychopathischen Anlage entstammenden Antriebe
leichter auslösbar macht, aber doch auch in dem Sinne, als sie die
Toleranz auch der psychisch Robusten vorübergehend herabsetzen
kann, als sie leichter Disharmonien zwischen affektiver, Willens- und
intellektueller Sphäre, wie sie wohl in jedem Gesunden vorhanden
sind, verstärken kann und so einen psychischen Zustand herbeiführen,
der, wie ich glaube, allerdings nur vorübergehend der psychopathischen
Konstitution in seiner Reaktionsweise gleichkommen kann. So sind
während des Krieges pathologische Räusche, plötzliches Fortlaufen,
Affektkrisen, Dämmerzustände auf diesem Boden auch bei bis dahin
Gesunden beobachtet worden.
Zum Schluß ist noch ein Punkt zu berühren. Wir wissen aus der
somatischen Pathologie, daß Erkrankungen, die erschöpfte Individuen
treffen, im Verlauf Besonderheiten zeigen. Der Typhus verläuft
beim Erschöpften schwerer, aus dem Serbenlager hören wir von abnorm
langer Heilungsdauer der Phlegmonen. Es fragt sich, haben sich
ähnliche Einflüsse auch im Verlauf psychischer Erkrankungen gezeigt ?
Aus der Friedenspathologie ist mir nichts hierher Gehöriges bekannt.
Es ist mir vielmehr das Gegenteil aufgefallen, wie völlig unbeeinflußt -
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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 95
ein schizophrener oder manisch-depressiver Prozeß beispielweise neben
einer konsumierenden Tuberkulose einhergeht.
Die Kriegsliteratur bringt zu dieser Frage einiges. WoUenberg hat,
wie ich schon erwähnt habe, ungünstigen und schweren Verlauf der
in der Mobilmachungszeit zur Behandlung gekommenen Alkoholdeli¬
rien gesehen. An den mir zur Beobachtung gekommenen ist nichts Auf¬
fälliges gewesen, es ist aber wohl denkbar, daß die stärkere Inanspruch¬
nahme de3 Alkoholistenher zens unter den Emotionen der Mobilmachungs¬
zeit ein schnelleres Versagen zur Folge hat. In den letzten Tagen ist
mir noch eine Arbeit von Weygandt zugegangen, der die Auslösung
der progressiven Paralyse durch Kriegsschädigungen auch ablehnt,
aber von einer Kriegsparalyse in dem Sinne spricht, als er einen
schnelleren Verlauf unter dem Einflüsse erschöpfender Kriegserlebnisse
glaubt feststellen zu können. Ich bin leider nicht mehr in der Lage
gewesen, zur Nachprüfung der Frage unsem zur Entlassung gekomme¬
nen Paralytikern weiter nachzuforschen. In den Paralytiker-Kranken¬
geschichten und meinem augenblicklichen Paralytiker Material aus
dem Heere habe ich ein Überwiegen schnell verlaufender Formen
nicht feststellen können. Bei der theoretischen wie praktischen Wich¬
tigkeit der Frage scheint es geboten, vor Anerkennung dieser Kriegs¬
paralysen im Sinne Weygandts noch weitere Beobachtungen an großem
Material abzuwarten.
Ich möchte damit meinen Überblick beschließen. Wie Sie
sehen, ist noch manche Frage offen, die vielleicht durch die Diskussion
geklärt werden kann. Was sich schon jetzt, noch ehe die Statistik
gesprochen hat, mit ziemlicher Sicherheit ergibt, ist etwas Erfreu¬
liches. Der Krieg hat uns gezeigt, daß die Widerstandsfähigkeit des
gesunden Gehirns sehr hoch eingeschätzt werden darf, und daß die das
kämpfende Heer am meisten in seiner Allgemeinheit treffenden und
am wenigsten vermeidbaren Schädigungen der körperlichen Er¬
schöpfung und der gemütlichen Erschütterung einen irgendwie wesent¬
lichen Einfluß auf die Entwicklung eigentlicher Geisteskrankheiten
nicht haben.
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Kleinere Mitteilungen.
Die auf den 22. Oktober 1916 angesetzte Kriegstagung der Ver¬
einigung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen (s.
Bd. 72, S. 372) ist auf vielseitigen Wunsch verschoben worden und findet
am 6. Januar 1917 in Dresden statt.
Zum Andenken A. Alzheimers. — Es hat keinen Zweck, mit
dem Schicksal zu hadern, welches uns allzu früh einen Forscher entriß, der
unserer Wissenschaft so viel gegeben hat, und von dem wir noch viel zu er¬
warten berechtigt waren. Wir sind uns dessen vollkommen bewußt, was wir
an Alzheimer verloren haben. Sein Bild als Mensch ist in unseren Herzen
eingegraben, sein Wirken als Forscher hat er selbst in seinen Arbeiten ver¬
ewigt. Gewiß: die Woge des unaufhaltsamen Fortschritts wird auch über
seine Leistungen hinwegziehen, und unter neuen Erkenntnissen^werden
dieselben verblassen. Trotzdem besteht kein Zweifel, daß Alzheimers
Anteil am Fortschritt unserer Wissenschaft nicht verweht werden wird.
Mögen neue und bessere Erkenntnisse alte und anfechtbare Anschauungen
verdrängen, Alzheimers Arbeiten werden für immer Marksteine in der
Geschichte unserer Wissenschaft bleiben. Hierin ist seine Bedeutung als
Forscher eingeschlossen.
Diese Arbeiten gehören der Histopathologie des Gehirns und seiner
Rinde an. Nichts wäre jedoch irriger als zu glauben, daß er nur Histo-
pathologe, bloß Anatom war. Wenn auch der Schwerpunkt seiner Lebens¬
arbeit in seinen histopathologischen Forschungen liegt, so war er doch in
seiner wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweise in erster Linie Kliniker,
ein Psychiater, welcher „der Psychiatrie mit dem Mikroskope weiter¬
helfen wollte“.
Mündlich und schriftlich hat Alzheimer immer wieder darauf hin¬
gewiesen, daß nicht der Grund einzusehen ist, warum es der pathologischen
Anatomie unmöglich sein sollte, der klinischen Psychiatrie ebenso zu Hilfe
zu kommen wie allen übrigen Gebieten der Heilkunde, indem einmal
Krankheitserscheinungen aus Schädigungen der Organstruktur erklärbar
werden, und indem zweitens die pathologische Anatomie als Ursache von
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Kleinere Mitteilangen.
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klinisch nicht immer leicht trennbaren Krankheitsgruppen histologisch
verschiedene Krankheitsvorgänge kennen gelehrt hat. Namentlich diesen
zweiten Punkt hat Alzheimer mit besonderem Nachdruck betont. Hier
setzte seine eigene Arbeit ein. Wie sich mit der Möglichkeit der Nach¬
prüfung der klinischen Diagnose durch die histologische Untersuchung in
der übrigen Medizin „eine genauere Bewertung der einzelnen Symptome
für DiiTerentialdiagnose und damit schließlich auch eine zuverlässigere
klinische Abgrenzung der einzelnen Krankheitsformen erreichen ließ“,
so wollte er auch der Psychiatrie mit dem Mikroskop weiterhelfen.
Treffend hat Spielmeyer als den Grundzug seiner Forschungsweise
gekennzeichnet „das Zusammenarbeiten der Anatomie mit der Klinik,
die histologische Forschung unter klinischen Gesichtspunkten und unter
der Leitung klinischer Erfahrungen, wie auch umgekehrt die Klärung
klinischer Probleme unter Führung anatomischer Tatsachen“.
Immer und immer wieder hat Alzheimer die Aufstellung scharf
umgrenzter Krankheitsbilder in der Psychiatrie verteidigt. Nur durch
eine scharfe Umgrenzung von Krankheitsbildern sei es möglich, das Wesen
einer Krankheit zu verstehen, ihre Prognose vorauszusagen, ihre Ursachen
zu ergründen und schließlich prophylaktisch oder therapeutisch auf sie
einzuwirken. Als Wege, die ihm heute möglich erschienen, diesem Ziele
näherzukommen, bezeichnete er denjenigen der histologischen Unter¬
suchung und den einer Gruppierung nach klinischen Gesichtspunkten.
Obschon ihrer Natur nach prinzipiell voneinander verschieden, waren für
ihn diese beiden Wege nicht unabhängig voneinander; wie ein neben dem
Flußbett einherziehender Landweg sollten sie Berührungen haben, sich
ergänzen, vor allem aber zum gleichen Ziele führen. Charakteristisch für
sein Forschen ist, daß er bei seinen anatomischen Untersuchungen stets
von klinischen Beobachtungen ausgegangen ist, daß er, um bei unserem
Bilde zu bleiben, vom Flußbett aus den Landweg festzustellen und zu
finden suchte. Immer wieder hat er mit Nachdruck betont, daß der Histo-
pathologe der Führung der Klinik bedarf; an klinisch sichergestellten
Fällen seien die kennzeichnenden histopathologischen Veränderungen zu
ermitteln und diese denjenigen gegenüberzustellen, die bei klinisch wesent¬
lich anders verlaufenden Fällen erhoben werden: auf diese Weise unter
Führung der Klinik zu einer histologischen Differentialdiagnose gelan¬
gend, sollte die letztere für die klinische Forschung verwertbar gemacht
werden. Was Alzheimer für die Psychiatrie anstrebte, war das gleiche
Programm wie überall in der Medizin: die Auffindung natürlicher
Krankheitsformen auf Grund engster Zusammenarbeit zwischen Kliniker
und Anatomen.
Wohl ohne Widerspruch wird zugegeben, daß man von einer patho¬
logischen Anatomie der Geistesstörungen da zu sprechen berechtigt ist,
wo geistige Störungen sich bei greifbaren anatomischen Veränderungen
einstellen oder wo, wie man zu sagen pflegt, eine organische Erkrankung
Zeitschrift fOr Psychiatrie. LXXIII. 1 . 7
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Kleinere Mitteilungen.
des Gehirns vorliegt. So übereinstimmend man den Begriff einer patho¬
logischen Anatomie der Geistesstörungen in diesem beschränkten Sinne
zulassen wird, so groß dürfte wohl der Widerspruch gegen diesen Begriff
in ganz allgemeinem Sinne sein. Man wird vielleicht schon den von Alz¬
heimer gebrauchten Begriff der pathologischen Histologie der Geistes¬
störungen beanstanden, wenn auch jedermann weiß, was damit gemeint
ist: die pathologische Histologie derjenigen Organteile, ohne deren Funk¬
tionen geistiges Leben unmöglich ist.
Alzheimer war trotz seines unverwüstlichen Optimismus sein ganzes
Leben lang in seinem wissenschaftlichen Denken gewissermaßen Real¬
politiker. Er, der so wesentliches beigetragen hat, auf dem Gebiete der
„organisch“ bedingten Psychosen scharfe Begrenzungslinien zwischen ver¬
schiedenen Krankheiten zu ziehen, war fest davon überzeugt, daß einer
der Wege, die uns auch auf dem Gebiete der sogenannten funktionellen
Psychosen weiterzuführen geeignet sind, die pathologische Anatomie ist.
Trotz dieser festen Überzeugung war, wie Gaupp in seinem Nachruf
schreibt, „das Spekulative seinem anschaulichen Denken fremd, und wenn
er, wie z. B. in seiner Vorlesung über „Gehirn und Seele“ in München,
erkenntnistheoretische Probleme zu behandeln hatte, so geschah es mit
der gleichen innerlichen Bescheidenheit gegenüber dem Unerforschbaren,
die sein ganzes Wesen erfüllte und ihn im wahren Sinne des Wortes zu
einem toleranten Manne gegenüber allen Dingen des Ahnens und Glaubens
machte“. Ich selbst habe mit Alzheimer niemals über dergleichen Dinge
diskutiert und auch nicht diese Vorlesung gehört; ich weiß nur, daß er
Erörterungen über den Zusammenhang von Seele und Leib lieber andern
überließ und sich lediglich auf den Boden der Tatsache stellte, daß ohne
lebendes Gehirn seelische Äußerungen ein Nonsens sind. Kein Verständi¬
ger wird zweifeln, daß jeder eigentümliche seelische Vorgang auch seine
eigentümliche körperliche Bedingung hat. Erkennt man aber diesen Satz
als zu recht bestehend an, so wird man, um mit den Worten Alzheimers
zu sprechen, nicht über die Forderung hinwegkommen können, daß jede
pathologische Äußerung unseres Seelenlebens mit materiellen Veränderun¬
gen im Rindengewebe einhergehen muß. Obwohl Alzheimer praktisch
an der Einteilung von funktionellen und organischen Psychosen festge¬
halten hat, war er sich doch vollkommen bewußt, daß die Bezeichnungen
organische und funktionelle Seelenstörungen mißverständlich und unvoll¬
kommen sind. Wollen wir dieselben trotzdem noch weiter gebrauchen,
„dann müssen wir jedenfalls unter die organischen Psychosen alle solche
rechnen, bei welchen Nervenmaterial zugrunde geht oder Veränderungen
nachgewiesen sind, die über Veränderungen, welche die normale Funktion
begleiten, hinausgehen.Damit erweitert sich aber der Begriff der
organischen Psychosen gegenüber der älteren Zusammenfassung sehr
erheblich“.
Also aus Alzheimers Umgrenzung dessen, was er unter die „organi-
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sehen“ Psychosen rechnet, geht hervor, daß er weit über das hinausgeht,
was man für gewöhnlich als organisch bezeichnet. Es war daher ganz
folgerichtig, wenn er die pathologische Anatomie als einen der Wege be-
zeichnete, die uns auch auf dem Gebiete der sogenannten funktionellen
Psychosen noch weiterführen können. Auch hier, „wo man heute noch
überall Übergänge zu sehen glaubt, ist zu hoffen, daß wir mit dem Fort¬
schritt unserer Erkenntnis zur besseren Abtrennung einzelner Krank¬
heiten und zur Gliederung der schon vorhandenen besonders großen
Krankheitseinheiten in verschiedene durch Besonderheiten der Symptome
und des Verlaufs charakterisierte Typen gelangen werden“.
Das war für Alzheimer das ideale Ziel, welches ihm vorschwebte.
Aber er war sich auch der Grenzen seines Könnens bewußt. Wenn er auch
davon ausging, „daß schon mit den physiologischen Leistungen Verände¬
rungen im Nervengewebe vor sich gehen“, so war er doch weit davon
entfernt, uferlosen Problemen nachzujagen. „Wir wissen davon noch
ungemein wenig vom Allergröbsten, und wer sich die Schwierigkeiten,
solche funktionelle Veränderungen zu erkennen und abzugrenzen, klar¬
gemacht hat, wird einsehen, daß wir in aller absehbaren Zeit damit nicht
fertig werden.“ An einer andern Stelle sagt er: „Die Kenntnis der außer¬
ordentlichen Schwierigkeiten des Arbeitsgebietes haben mich aber auch
abgehalten, je zu hoffen, daß das Mikroskop in naher Zeit der Psychiatrie
alle Rätsel lösen wird.“
Als lösbare Aufgabe bezeichnete Alzheimer vor allem die Feststellung
der anatomischen Grundlage der Dementia praecox. „Bei den Infektions¬
und Intoxikationspsychosen häufen sich immer mehr charakteristische
Befunde. Hin und wieder begegnen uns heute noch nicht bekannte histo¬
logische Krankheitsprozesse, so daß wir hoffen können, mit Hilfe der Histo¬
logie klinisch nicht oder noch nicht herausgehobene Krankheiten ab¬
grenzen zu lernen. Die Epilepsie werden wir immer mehr auflösen können,
die Idiotie ist heute schon in zahlreiche verschiedene Krankheiten ab¬
trennbar. Auch auf dem Gebiete der organischen Erkrankungen lassen
sich neue Krankheitsprozesse erkennen und bekannte noch weiter auf¬
klären, namentlich verspricht das Studium der verschiedenen Lokalisa¬
tionsformen der letzteren im Vergleich zu den klinischen Bildern weitere
interessante Ergebnisse. Wenn alle diese lösbaren Aufgaben gelöst sein
werden, wird auch der klinischen Psychiatrie mancher Vorteil für die Ab¬
grenzung ihrer Krankheiten zugeflossen sein. Überall aber kann die Ana¬
tomie nicht helfen.“
Das Programm der modernen Histopathologie der Rinde, daß das
zunächst zu erreichende Ziel nicht in der möglichst scharfen lokalen Ab¬
grenzung der erkrankten nervösen Elemente und nicht in dem Bestreben
besteht, die einzelnen klinischen Krankheitszeichen mit dem anatomischen
Befunde in Einklang zu bringen, sondern unter klinischer Leitung in der
zielbewußten Ermittlung der einzelnen histopathologischen Gesamt-
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prozesse sowie in der möglichst scharfen Auseinanderhaltung der ver¬
schiedenen histopathologischen Vorgänge voneinander und in der Ver¬
wertung der hieraus sich ergebenden Differentialdiagnose für die klinische
Differentialdiagnose, — dieses Programm hat Alzheimer nicht nur mit
schönstem Erfolge durchgeführt, sondern er hat auch in vorbildlicher
Weise gelehrt, wie man diese Aufgabe anpacken und durchführen muß.
Er selbst, der nie uferlosen Problemen nachjagte und als echter
Forscher sich stets wirklich erreichbare Aufgaben stellte, ist in den letzten
Jahren seines Lebens gelegentlich über das ursprüngliche Programm
hinausgegangen, indem er die Möglichkeit andeutete, daß die Histopatho¬
logie auch „für die Beziehungen der Symptomenkomplexe zu den Krank¬
heiten mancherlei lehren“ könne. Aber auch selbst bei diesem kühnen
Schritte blieb er gewissermaßen mit beiden Füßen auf dem Boden. Es
ist außerordentlich charakteristisch für ihn, daß er hierbei sich an Symp¬
tomenkomplexe hält, deren körperliches Korrelat histologisch untersuchbar
ist. Eine der anziehendsten Schilderungen Alzheimers betrifft seine Aus¬
führung über einen stuporösen Katatoniker, der ohne irgendwelche An¬
zeichen einer Erkrankung körperlicher Organe plötzlich tot zu Boden
gefallen war, und bei dem er zunächst vergeblich nach entsprechenden
Befunden suchte, schließlich aber doch sehr tiefgreifende Störungen in
der Hirnrinde nachweisen konnte, die dem Falle „etwas von dem Rätsel¬
haften genommen haben“. Von den anfallartigen Störungen der De¬
mentia praecox geht er über auf diejenigen der Paralyse und der Epilepsie
und sucht darzulegen, daß die epileptischen und epileptiformen Anfälle wahr¬
scheinlich „durch einen im Gehirn vorbereiteten Mechanismus zur Aus¬
lösung gebracht werden, und daß den Anstoß zu diesen Auslösungen sehr
verschiedenerlei Schädigungen geben können“. Ein Teil dieser Schädi¬
gungen sei aber heute schon histologisch faßbar. Den Hinweis auf die Ver¬
wendbarkeit der Histopathologie für die Beziehungen von Symptomen-
komplexen zu den Krankheiten begründete er weiter dahin, daß „experi¬
mentelle Untersuchungen, wie das Studium der Infektionspsychosen,
darauf hindeuten, daß bestimmte Reaktionsformen nicht von der Art des
Giftes, sondern von dessen Dosierung abhängen. Bei den amentiellen
Zuständen und leichten Delirien finden sich andere Veränderungen als bei
den schweren und wieder andere bei den schwersten, den delirium acutum-
artigen Verlaufsformen. Weiterhin zeigt sich, daß bei bestimmter Do¬
sierung nicht jedes Gift gleich verbreitete Schädigungen im Zentral¬
nervensystem setzt, sondern elektiv die einen Teile schwerer, die andern
geringer schädigt. Diese elektive Giftwirkung läßt erwarten, daß durch
die verschiedene Lokalisation der Hirn- und Rindenschädigung auch ver¬
schiedene Krankheitsbilder erzeugt werden“. Andrerseits ließe sich der
Gedanke nicht abweisen, daß Krankheitsprozesse, die, wie z. B. die Korssa-
Arowsche Psychose und die Presbyophrenie, ihrem Wesen nach verschieden,
aber in ihren, Symptomenbildern einander sehr ähnlich sind, den gleichen
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Angriffspunkt in der Rinde besitzen. Mit vollem Rechte schließt Spiel¬
meyer als ebenfalls hierher gehörig den Hinweis darauf an, daß Alzheimer
schon vor Jahren die Notwendigkeit der Erforschung atypischer Formen
der verschiedenen Krankheitsprozesse betont habe, da gerade eine Ver¬
gleichung solcher Fälle mit den gewöhnlichen Bildern der betreffenden
Krankheit zu einer anatomischen Erklärung der Symptome verhelfen könne.
Überblickt man das Lebenswerk Alzheimers, so kommt man zu dem
Ergebnis, daß er durch das innige Zusammenwirken anatomischer und
klinischer Arbeit die Psychiatrie wie wenige gefördert hat. Der Schwer¬
punkt seines histopathologischen Schaffens lag, wenn ich so sagen darf,
in der speziellen Histopathologie des Zentralnervensystems. Was
er auf diesem Gebiete, namentlich in der scharfen Umgrenzung der soge¬
nannten organischen Psychosen, geleistet hat, ist bereits Allgemeingut
geworden. Sein Verdienst besteht darin, daß er gewissermaßen die Ergeb¬
nisse der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems unter
Führung der Klinik für die spezielle Histopathologie der Geisteskrank¬
heiten verwertet und in dieser Richtung begonnen hat, zahlreiche Bau¬
steine zusammenzutragen. In den letzten Jahren seines Lebens war er
damit beschäftigt, die Ergebnisse jahrelanger Arbeit in lehrbuchmäßiger
Darstellung den Lesern des von Aschaffenburg herausgegebenen Handbuchs
der Psychiatrie zugänglich zu machen. Leider hat er diese Arbeit nicht
vollenden können.
Niemand als Alzheimer hat es besser gewußt, „daß wir noch ganz
im Anfang der Entwicklung einer pathologischen Anatomie der Psychosen
stehen“. Ohne Schwierigkeit sind wir imstande, eine Paralyse, eine senile
Demenz, eine Arteriosklerose und einige Formen der Hirnlues voneinander
zu unterscheiden, aber bei dem Gros der in Irrenanstalten zur Sektion
kommenden Fälle hat bis jetzt die Histopathologie versagt. Zwar finden
wir auch hier regelmäßig, oft sogar recht greifbare Veränderungen an
den einzelnen Gewebsbestandteilen, allein man kann damit nicht viel an¬
fangen; man ist außerstande, dieselben entsprechend den verschieden¬
artigen klinischen Verlaufsformen in verschiedenartige wohl gekennzeichnete
histopathologische Gesamtbilder auseinanderzuhalten. Von dem Ziel der
Histopathologie der Rinde, ohne Kenntnis des klinischen Falles aus¬
schließlich aus dem Ergebnis der histopathologischen Untersuchung des
Gehirns zu erkennen, daß der Besitzer des untersuchten Gehirns an einer
geistigen Störung gelitten hat, welche im allgemeinen einer bekannten
klinischen Verlaufsweise entspricht, sind wir noch sehr weit entfernt.
Trotzdem kann man Alzheimer durchaus verstehen, wenn er sagte: „Ein
Gefühl der Resignation hat mich nie beschlichen.Wenn ich zusam¬
menstelle, was die pathologische Anatomie des Zentralnervensystems seit
dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts geleistet hat, kann ich
wohl sagen: ein gut Stück Arbeit.“
Vergleicht man den Stand der pathologischen Anatomie bei den übri-
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Kleinere Mitteilungen.
gen Organen mit demjenigen der Histopathologie der Hirnrinde, so haben
wir wahrhaftig nicht die geringste Ursache, kleinlaut zu werden. Man
betrachte doch einmal nur beispielweise die pathologische Anatomie der
Niere und stelle an sie die gleichen Fragen, die man an die Histopathologie
der Rinde hinsichtlich ihrer Leistungen für die klinische Psychiatrie zu
richten pflegt. Obschon wir es bei der Niere mit einem gegenüber der
Hirnrinde unvergleichbar einfachen Organ zu tun haben, brauchen wir,
wenn wir nur einmal dieses Beispiel wirklich durchdenken, diesen Ver¬
gleich wahrhaftig nicht zu fürchten.
Wir dürfen bei der Histopathologie der Geisteskrankheiten nicht
vergessen, daß wir erst angefangen haben mit dem Anfang, und nichts
wäre verkehrter, als verzagt und mutlos zu werden, nachdem nach den
anfänglich glänzenden Erfolgen der Histopathologie der Geistesstörungen
diese Forschung ins Stocken geraten ist.
Als Alzheimer erkannt hatte, daß die bisherigen Feststellungen und
Methoden der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems zur
Fortführung der Histopathologie der Geistesstörungen nicht mehr aus¬
reichen, hat auch er sich den Problemen der allgemeinen Histopatho¬
logie des Zentralnervensystems zugewandt. Ich weise auf die 4 letzten
Bände der „Histologischen und histopathologischen Arbeiten“ hin, deren
Inhalt fast ausschließlich aus seinem Laboratorium hervorgegangen ist.
Ein beträchtlicher Teil dieser Arbeiten ist der allgemeinen Histopathologie
des Zentralnervensystems gewidmet. Die hervorragendste Abhandlung
unter den letzteren, die „Beiträge zur Kenntnis der pathologischen Neuro-
glia und ihre Beziehungen zu den Abbauvorgängen im Nervengewebe“
stammt aus seiner Feder. So oft ich zurückdenke an die Stunden, in
denen er mir im Münchener Laboratorium seine Anschauungen über die
Glia, über ihre Beziehungen zum Saftstrom und den Gefäßen an Hand
von Präparaten auseinandersetzte, tritt vor mein geistiges Auge in greller
Klarheit seine große Bedeutung auch als allgemeiner Histopathologe des
Ze ntralnervensystems.
Ein Eingehen auf Alzheimers Arbeiten über die Histopathologie der
Geistesstörungen und auf seine Studien über allgemein histopathologische
Fragen des Zentralnervensystems ist hier nicht beabsichtigt; wie ich schon
an anderer Stelle erklärte, habe ich mir Vorbehalten, im nächsten Hefte der
„Histologischen und histopathologischen Arbeiten“ die Ergebnisse seiner
histopathologischen Forschungen und deren Bedeutung kritisch darzu¬
legen 1 ).
Hier kommt es mir darauf an, festzulegen, daß zwar die Forschungs¬
ergebnisse, durch welche er im In- und Ausland weiten Kreisen bekannt
l ) Ein Verzeichnis der wichtigsten Veröffentlichungen Alzheimers
bringt Spielmeyer am Schluß seines Nachrufes: tr Alzheimers Lebenswerk"
(Zeitschr. f. d. gesamte Neurologie und Psychiatrie Bd. 33, Heft 1/2).
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geworden ist, der Histopathologie der Geisteskrankheiten angehören, daß
er aber auch auf dem Gebiete der allgemeinen Histopathologie des Zentral¬
nervensystems Großes geleistet hat. Gerade deshalb ist sein früher Tod
ein so unersetzlicher Verlust, weil er, wie kein anderer, befähigt war, der
ins Stocken geratenen Histopathologie der Geistesstörungen Neuland
zuzuführen durch Aufstellung und Lösung neuer Probleme auf dem Ge¬
biete der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems.
Es ist durchaus begreiflich, daß der Psychiater den Fragestellungen
der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems nicht allzuviel
Interesse entgegenbringt. Erörterungen und histologische Detailarbeiten
über die pathologische Neuroglia, über die Frage der sogenannten peri¬
vaskulären Räume, über die Beziehungen zwischen den ekto- und meso¬
dermalen Gewebsanteilen, die Forderung, daß man den letzteren genau
ebensoviel Sorgfalt widme wie dem Aufbau und Veränderungen von
Nervenzellen und Fasern, die Probleme des in der Entwicklung begriffenen
Nervengewebes und seiner pathologischen Abwandlungen und noch un¬
endlich viele andere Fragen wie auch die Heranziehung des Tierexperi¬
mentes zur Lösung allgemeiner histopathologischer Fragen des Zentral¬
nervensystems haben in der Tat keine Berührungspunkte mit der klinischen
Psychiatrie. Für den Einsichtigen aber sind es notwendige Umwege,
die er vernünftigerweise machen muß, um das Ziel zu erreichen, zu dem
ein direkter Weg noch nicht hinführt.
Diese Umwege, diese notwendigen Umwege geben eine Erklärung
dafür, warum vielfach Alzheimer als „bloß Anatom“, als „nur Histo-
pathologe“ bezeichnet wurde.
Als er für den Lehrstuhl in Breslau in Frage kam, zweifelte niemand
an seiner überragenden Bedeutung als Histopathologe des Gehirns, aber
es wurden doch auch Stimmen laut, die meinten, der Professor eines klini¬
schen Lehrstuhles müsse in erster Linie Kliniker sein. Es war Alzheimer
nur eine kürze Spanne Zeit vergönnt, in Breslau seines Amtes zu walten.
Aber diese kurze Zeit genügte vollauf, um auch die Zweifler zu überzeugen,
daß der angebliche „bloße Anatom“ auf den richtigen Platz gestellt war.
Wenn man schon gegenüber dem glänzendsten Vertreter der histo-
pathologischen Forschungsrichtung in der Psychiatrie Zweifel hegte, ob
er für einen Lehrstuhl der Psychiatrie der geeignete Mann sei, so ist die
Besorgnis nicht ganz unbegründet, daß solche Zweifel zukünftig noch in
viel höherem Grade bei denjenigen Kollegen Platz greifen könnten, welche
die Bearbeitung dieser Forschungsrichtung sich zur Lebensaufgabe machen.
Diese Besorgnis ist um so mehr berechtigt, als mit der unaufhaltsam fort¬
schreitenden Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel die Forschungs¬
aufgaben immer größer, als mit jeder besseren Einsicht in die Struktur
des Nervengewebes dieses immer verwickelter wird, als bei jedem Schritt
vorwärts sich stets neue Hindernisse auftürmen, mit einem Worte, als der
Umweg, von dem ich gesprochen, immer gewaltiger wird. Dazu kommt
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noch, wie Alzheimer sagte, „die sehr verschiedene und zum Teil recht
niedrige Einschätzung des Wertes der pathologischen Anatomie als Hilfs¬
wissenschaft der Psychiatrie“.
Allerdings ist dieser Umstand kein objektiver Maßstab für deren
Bewertung. Trotzdem muß diejenigen unter uns, die den Wert dieser Hilfs¬
wissenschaft hoch einschätzen, die es für bedauerlich halten würden, wenn
nicht auch die histopathologische Forschungsrichtung in der Psychiatrie
unter den Inhabern der Lehrstühle Vertretung fände, namentlich aber die
wenigen Kollegen, welche diese Forschungsrichtung eingeschlagen haben,
in der Erinnerung an den allzu frühen Tod Alzheimers ein wahrer Jammer
ergreifen. Denn er war unbestritten der geeignetste Mann, dieser For¬
schungsrichtung immer mehr Anhänger zuzuführen. Rein sachlich in seinen
Darlegungen, abhold jeder Übertreibung und phantastisch-spekulativen
Hirngespinsten, frei von persönlicher Schärfe im Bekämpfen fremder
Anschauungen, dabei von einem glühenden Eifer erfüllt für das, wofür er
kämpfte, war er nicht nur Verteidiger, sondern auch Werber für diese
Forschungsrichtung.
Mit ihm haben wir nicht nur einen ihrer autoritativen Vertreter
verloren, auch einen Mann, der, wie selten einer, die Fähigkeit besaß,
Schule zu machen und Schüler heranzuziehen. Sein Laboratorium in
München genoß einen Weltruf. Von allen Kulturstaaten strömten zu ihm
junge Ärzte. Man kann, um einen Ausdruck Gaupps zu gebrauchen, in
der Tat von seiner internationalen Arbeiterschar sprechen. In der Er¬
innerung an diese Lehrtätigkeit meines Freundes beschleicht mich freilich
auch ein wehmütiges Gefühl. Ich kann mich nicht von dem Gedanken an
den Propheten,, im eigenen Lande“ freimachen. Ob die vielen Ausländer,
insbesondere die Italiener, unsere Bundesgenossen seligen Angedenkens,
sich wohl des deutschen Barbaren und dessen, was er ihnen gegeben hat,
noch erinnern?
Es wäre unrecht, wollte man über den hervorragenden Eigenschaften
des akademischen Lehrers und Forschers den Anstaltsarzt vergessen. Ich
habe bereits an anderer Stelle betont, daß Alzheimer zu dem immer seltener
werdenden Genus der alten Irrenanstaltsärzte gehörte, die nicht nur zu
den Kranken in ein persönliches Verhältnis treten, sondern für welche auch
die technische Seite des Abteilungsbetriebes eine persönliche Angelegen¬
heit ist.
Bald nach seiner Approbation wurde er 1888 Assistenzarzt an der
städtischen Irrenanstalt zu Frankfurt a. M. Nach meinem Weggange von
Frankfurt im Jahre 1895 rückte er in die Stelle des II. Arztes ein und
versah dieselbe bis 1903. 14 Jahre lang hat er also Anstaltsdienst getan.
Durch Sioli wurde er in die Psychiatrie eingeführt. Er kam nicht in einen
geordneten Anstaltsbetrieb. Denn als er seine Stelle antrat, war er zunächst
mit seinem Direktor allein. Sioli hatte die Aufgabe übernommen, die
damals vom no-restraint, von Wachsälen, Bettbehandlung und Arbeits-
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therapie noch unberührte Anstalt zu reorganisieren. Jahrelang wurde der
Anstaltsbetrieb durch bauliche Veränderungen erheblich erschwert. Trotz
dieser äußerlichen Schwierigkeiten hat er neben seiner Berufsarbeit sich
bemüht, „auch die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie zu
fördern“. Bis zum Jahre 1895 war ich Zeuge, mit welchem unübertrefl-
baren Eifer, Ernst und Gewissenhaftigkeit er seine Berufspflichten als
Assistenzarzt erfüllt hat. Ein anderer Zeuge — Raecke — schreibt über
seine Tätigkeit nach meinem Weggange: „Als Oberarzt . hat Alz¬
heimer eine erstaunliche Arbeitskraft entfaltet. Unermüdlich war er auf
den Krankenabteilungen tätig, indem er noch außerhalb der Visitenzeit
den ihn interessierenden Fällen immer wieder nachging, sie stundenlang
untersuchte und in ihrem Gebaren beobachtete. Neben seinen sorgfältigen
Krankengeschichten erledigte er Stöße von Akten, unterzog sich den zeit¬
raubenden Aufgaben eines vielbeschäftigten Gerichtsgutachters und be¬
handelte persönlich zahlreiche Privatpatienten, ohne doch darum je seine
geliebten histologischen Studien zu vernachlässigen. Fast noch bewun¬
dernswerter war die ewig liebenswürdige Ruhe, mit der er mitten unter
diesem Hasten und Treiben den mannigfachen Ansprüchen, Fragen und
Wünschen jüngerer Kollegen entgegenkam.“ Und trotz dieses
Hastens und Treibens, trotz seiner unermüdlichen Berufsarbeit als An¬
staltsarzt ist er in den 14 Jahren seiner Frankfurter Tätigkeit der führende
Histopathologe der Hirnrinde geworden. Seine grundlegende klassische
Arbeit: „Histologische Studien zur Differentialdiagnose der progressiven
Paralyse“ ist die reife Frucht der Frankfurter Anstaltstätigkeit.
Ein Mann wie Alzheimer durfte sich mit vollem Recht erlauben, am
Schlüsse seines Aufsatzes „25 Jahre Psychiatrie“ zu schreiben: „Man
kann nur wünschen, daß Siolis Anstalt auch in der Förderung wissen¬
schaftlicher Arbeit ein nachgeeifertes Beispiel werde. Neben manchen
Anstalten, die heute schon den Bedürfnissen wissenschaftlicher Forschung
gleiche Fürsorge angedeihen lassen, findet sich eine viel größere Zahl, in
der sie ganz hinter den täglichen Dienst und die Verwaltungstätigkeit
zurücktreten muß. In Wirklichkeit ist aber nicht einzusehen, warum nicht
der bessere Anstaltsarzt der sein sollte, der neben seiner Berufsarbeit auch
die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie zu fördern bemüht ist.
Jedenfalls wird er dadurch vielerlei Anregungen und Freude für seinen
Beruf erhalten. Eis gibt viele Fragen, die nicht oder nur viel schwerer in
den Kliniken gefördert werden können als unter Benutzung des reicheren
und stabileren Materials großer Anstalten. Dann würde sich allmählich
wieder eine innigere Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis in der
Psychiatrie anbahnen, die wir heute vielfach vermissen, und die sicherlich
beiden Teilen von Nutzen sein und eine raschere Lösung der Aufgaben
ermöglichen würde, die uns für die nächsten 25 Jahre bevorstehen.“
Möchten doch diese an die Kollegen gerichteten goldenen Worte
Alzheimers den lebhaftesten Widerhall finden 1 Er durfte diese Worte
Zeitschrift für Psyohistrie. LXXIII. 1. 8
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schreiben, verkörpern sie doch sein eigenes Beispiel während einer 14jähri-
gen emsigen Anstaltstätigkeit. Was er in diesen schlichten Sätzen sagt,
ist der Wunsch und die Hoffnung, daß die ruhmvolle Tradition der alten
Anstaltspsychiatrie fortgeführt werde.
Freilich haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten
wesentlich geändert. Durch die Errichtung der psychiatrischen Kliniken
ist die Führung in den wissenschaftlichen Fragen auf diese übergegangen.
Andrerseits haben die Irrenanstalten einen immer größeren Umfang ange¬
nommen, ja solche Umfänge, daß es ihren Leitern bei der außerordent¬
lichen Häufung der Verwaltungsarbeit und der ärztlichen Inanspruch¬
nahme in so großen und vielseitigen Betrieben fast unmöglich ist, für
wissenschaftliche Arbeit Zeit zu erübrigen. Alzheimers Worte richten sich
daher in erster Linie an die jüngeren Kollegen. Wenn ich an sein leuchten¬
des Vorbild erinnere, so weiß ich sehr wohl, daß nicht in jedem Anstalts¬
arzt ein Alzheimer steckt, und daß nicht jeder Irrenanstaltsdirektor auf
die klinische Durcharbeitung des Krankenmaterials und auf die wissen¬
schaftliche Förderung seiner Ärzte so bedacht ist, wie das in der Frank¬
furter Anstalt der Fall war. Auch soll nicht verkannt werden, daß leider
die meisten großen Anstalten weitab von wissenschaftlichen Zentren
liegen, so daß auch von außen her auf den Zufluß wissenschaftlicher An¬
regungen nicht zu rechnen ist.
Und doch müßte sich gerade in den ganz großen Anstalten ein Weg
finden lassen, den Wunsch Alzheimers zu verwirklichen. Warum sollte in
solchen Anstalten nicht eine wissenschaftliche Kraft angestellt werden
können, welche die jüngeren Kollegen zu wissenschaftlicher Tätigkeit
anzuregen und darin zu unterweisen hätte? Die Schwierigkeiten eines
solchen Weges liegen ganz gewiß nicht in der Vermehrung der Kosten,
denn die Verwaltungsbehörden haben wahrhaftig das größte Interesse,
das Niveau ihrer Anstaltsärzte zu heben und zu wünschen, daß diese in
ihrer praktischen Tätigkeit die richtige Befriedigung finden. Die Schwierig¬
keiten liegen vielmehr in der Auswahl geeigneter Persönlichkeiten, in der
Abgrenzung ihrer Kompetenzen gegenüber dem Leiter der Anstalt und
in der Gewohnheit, nur Ärzte anzustellen, die aus Anstalten des gleichen
Verwaltungsbezirks hervorgegangen sind. Sollten diese Schwierigkeiten
bei gutem Willen unüberwindlich sein? Aus den Ärzten der Kliniken
würden sich wohl Persönlichkeiten finden lassen, die das Zentrum für die
wissenschaftliche Tätigkeit in den großen Anstalten zu bilden imstande
sein würden. Ganz bescheidene Anfänge sind ja in dieser Richtung schon
gemacht. Alzheimer hat es nicht mehr erlebt, daß einer unserer gemein¬
schaftlichen Freunde eine solche Stelle erhalten hat.
Als Alzheimer sich 1902 um das Direktorat einer Landesanstalt
bewarb, entführte ihn Kmepelin der Anstaltspsychiatrie. Nachdem ich
in Frankfurt mit ihm 7 Jahre lang zusammengearbeitet hatte, führte uns
das Schicksal noch einmal in Heidelberg zusammen. Durch die Berufung
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Kleinere Mitteilangen.
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Kraepelins nach München wurden wir bereits nach einem halben Jahre
wieder getrennt. Alzheimer siedelte mit Kraepelin im Herbst 1903 nach
München über, wo er sich §904 habilitierte. Er leitete hier das große ana¬
tomische Laboratorium der neuen Klinik bis zu seiner 1912 erfolgten Be¬
rufung nach Breslau. Schon bei der Übersiedlung nach Breslau befiel ihn
eine schwere septische Erkrankung, von der er sich nie mehr ganz erholte.
Obwohl er selbst fühlte, daß seine Körperkraft gebrochen war, arbeitete er
unermüdlich weiter. 1913 besuchte ich ihn in Wiesbaden, wo er sich
wegen seiner Herzbeschwerden ärztlich behandeln ließ. Als er auf der
Heimreise durch Heidelberg kam, konnte ich mich innig über seine Er¬
holung erfreuen. Es war die letzte Begegnung. Der Weltkrieg brachte
ihm ein vermehrtes Maß von Arbeit. Er wollte aber von Schonung nichts
wissen und aushalten, solange es ging. Im Oktober 1915 wurde er bett¬
lägerig. Ende November entwickelte sich ein urämischer Zustand mit
wachsender Atemnot, von dem ihn, den erst 52jährigen, am 19. Dezember
1915 der Tod erlöste.
So still und einfach sein Leben dahingeflossen ist, so prunklos war
sein Leichenbegängnis. Er hatte es sich verbeten, daß an seinem Grabe
gesprochen würde. Am 23. Dezember begleiteten wir den unvergeßlichen
Freund zur letzten Ruhestätte. Er wurde nach seinem Wunsche auf dem
Frankfurter Friedhof an der Seite seiner ihm viele Jahre vorangegangenen
Gattin bestattet, mit der es ihm nur wenige Jahre beschieden war, in
glücklichster Ehe vereint zu sein.
Der Art seines Wirkens als Anstaltsarzt, als akademischer Lehrer
und Forscher entsprach seine Persönlichkeit. Er war eine ausgeglichene
Persönlichkeit. Eine Reihe schönster menschlicher Eigenschaften ver¬
einigten sich bei ihm zu einer seltenen Harmonie: absolute Zuverlässigkeit,
Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Menschenliebe, Gemütstiefe, natürliche
Einfachheit, gepaart mit vornehmem Denken, dabei eine herzerquickende
Fröhlichkeit, und anderseits eine ihn nie verlassende köstliche Ruhe kenn¬
zeichnen sein Wesen als Mensch. Nicht allzu selten pflegt man Ver¬
storbenen Eigenschaften nachzurühmen, die während des Lebens nicht
beobachtet werden konnten. Bei Alzheimer weiß ich, daß alle, die ihn
kannten, mir rückhaltlos zustimmen. Seine Angehörigen und jene, deren
persönlicher Freund er war, bestätigen die Worte Gaupps : „Unser Leben
ist ärmer, um uns ist es kälter geworden, als wir ihn in Frankfurt zu Grabe
trugen. ‘V Franz Nißl.
I Frotscher j\ — Am 15. September dieses Jahres starb im Sanatorium
Wehrawald bei Todtmoos der Oberstabsarzt d. R. Dr. Rud. A. Frotscher ,
bis zum 1. Juli dieses Jahres tätig gewesen am Kgl. Reservelazarett in
Speyer und in seinem Zivilberuf Oberarzt an der Landesirrenanstalt
Weilmünster in Nassau.
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Kleinere Mitteilungen.
Die psychiatrische Literatur der Jahre 1908—1913 verdankt dem
Verstorbenen eine Reihe wertvoller Aufsätze; die beamteten Ärzte des
Bezirksverbandes Wiesbaden verlieren in ihm einen geraden und auf¬
richtigen Kollegen, voll von sittlichem Ernst und kollegialen Gefühlen,
gleich anregend als Gesellschafter wie als Psychiater, die Kranken einen
wohlwollenden Abteilungsarzt, der Stand der praktischen Ärzte in ihm,
der selber 15 Jahre lang frei praktiziert hatte, einen ständigen, noch
als er bereits zweiter Oberarzt war, warmen Vorfechter, der sowohl die
Ideale wie die Miseren des Medicus practicus durch und durch kannte.
Elin treues Andenken bei allen, die ihn dienstlich oder außerdienst¬
lich als Mensch und als Arzt kennen gelernt haben, wird ihm sicher sein!
Wern. H. Becker- Herborn.
PersoruUnachrichten.
Dr. Ferdinand Hügel, Oberarzt der Kreisanstalt Klingenmünster, ist zu
deren Direktor,
Dr. Amandus Menche, Abt.-Arzt der Landesanstalt Hildburghausen, zum
zweiten Arzte daselbst,
Dr. Emil Kräpelin, Prof, in München, zum Geh. Hofrat,
Dr. Ewald Stier, Priv.-Doz. in Berlin,
Dr. Otto Klieneberger, Priv.-Doz. in Königsberg, und
Dr. Werner Runge, Priv.-Doz. in Kiel, zum Professor ernannt worden.
Dr. Amandus Bott, Direktor der städtischen Anstalt St. Getreu in Bam¬
berg, und
Dr. Georg Laehr, San.-Rat in Schweizerhof, haben die Rote Kreuz-
Medaille 3. Klasse,
Dr. Karl Oßwald, Med.-Rat, Direktor der Landesanstalt Gießen, das
Hessische Militärsanitätskreuz am Bande der Tapferkeits¬
medaille,
Dr. Albert Wagner, Med.-Rat, Obercrzt derselben Anstalt,
Dr. Ludwig Alefeld und
Dr. Edgar Michaelis, Ass.-Ärzte der Klinik in Gießen, das Hessische
Militärsanitätskreuz am Friedensbande erhalten.
Dr. Fritz Seile, San.-Rat, Direktor der Landesanstalt Neuruppin, ist am
21. September,
Dr. Hans Kurelia, Nervenarzt in Kudowa, nach der Rückkehr aus dem
Felde in Dresden am 25. Oktober, 58 Jahre alt, gestorben.
Dr. Paul Przedownik, Oberarzt in Lüben, ist auf dem Felde der Ehre
als Bataillonsarzt gefallen, und ebenso ist
Dr. William Kölle, seit 1913 Besitzer und Leiter des früher Dr. ReAmschen
Sanatoriums in Blankenburg a. H., Inhaber des Eisernen Kreuzes,
am 30. September im 37. Lebensjahre als Bataillonsarzt eines Res.-
Inf.-Reg.s durch einen Granatschuß getötet worden.
Dr. V. Magnan, früher am Asile Sainte Anne in Paris, ist, 80 Jahre alt,
gestorben.
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Über unklares Denken und Pseudologie bei
Yerhältnisbl'ddsinn %
Von
Dr. Joh. Ben. Jürger, I. Assistenzarzt der Klinik.
1914 hat Bleuler in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie
den Begriff des „Verhältnisblödsinns“ aufgestellt und ihm an Hand
einiger Fälle die kasuistische Grundlage gegeben. Im gleichen Hefte
der Zeitschrift gab Lothar Büchner einen klinischen Beitrag zur Lehre
Bleulers, nach welcher ein Mensch verhältnisblödsinnig ist durch ein
ungünstiges Verhältnis verschiedener psychischer Eigenschaften unter
sich, oder „wenn Triebe dem Verstand Aufgaben stellen, denen dieser
nicht gewachsen ist, während er unter gewöhnlichen Verhältnissen
genügen würde“.
Die vorliegende Arbeit soll nun einen Beitrag zur Vermehrung des
klinischen Materials bilden und einige weitere Fragen zur Diskussion
stellen.
1. Der Doktor Zett, Moritz 2 ), geh. 1892, stammle aus einer
einfachen Familie, der Vater war Feinmechaniker, die Mutter verdiente
mit Waschen und Putzen etwas Taschengeld, eine Schwester war Bureau¬
listin und ein Bruder Eisenbahnangestellter. Über hereditäre Belastung
war nichts zu eruieren.
Pat. wuchs seinen Verhältnissen entsprechend auf, war angeblich
in der Schule ordentlich, wurde wohl als Jüngster von Hause aus etwas
verwöhnt. Nach der Schulzeit trat er bei einem Zahntechniker in die
Lehre, der seine Leistungen „als ausnahmweise gute"! bezeichnele. der
sagen mußte, „daß Zett sehr viel Talent sowie außerordentliche Fähig¬
keiten besitze und auch mit einer großen Intelligenz begabt ist“. Ander-
J ) Aus der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich: Prof. Dr.
E. Bleuler.
*) Es handelt sich natürlich hier wie später um Decknamen.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 9
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Jörger,
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seits aber, schrieb der betreffende Zahnarzt, leide der junge Mann an
„Größenwahn“ und besitze eine Kunst, „ganz hervorragend lügen zu
können“.
Nachdem Zett 2 y 2 Jahre Praxis getrieben, verwirklichte er seinen
alten Plan, „Doktor zu werden“, und ging im Herbst 1911 nach München, um
dort zu studieren. Objektiv nachzuweisen war, daß er in einem Hotel
I. Ranges wohnte und 11 000 M. einbezahlt erhielt. Er lebte als „Doktor
Zett“ auf ziemlich großem Fuße und war öfter verreist. Ende Februar
1912 verließ er München, und die Testierende Rechnung von 1420 M.
bezahlte später der Vater.
Im Oktober 1912 war Zett in seiner Vaterstadt und erhielt 5 Tage
Gefängnis und 30 M. Geldbuße wegen Führung falschen Titels. Er war als
„Dr. Zett“ aufgetreten.
Ende des Monats reiste er nach Paris, um dort seine Studien weiter¬
zubetreiben, wohnte im Hotel, pumpte Geld, schrieb falsche Schecks, so
daß Klage erhoben wurde.
Er lebte offenbar auch dort auf hohem Fuße, machte z. B. über die
Winterfeiertage einen Sporlausflug nach Davos, wo er großartig auftrat,
aber nicht entsprechend bezahlte.
Mit Semesterschluß zog er von Paris fort, fand es offenbar für ange¬
zeigt, inkognito zu Hause zu bleiben, bis er im Juni 1913 nach Zürich kam.
Hier war er bei einem Zahnarzt als Techniker beschäftigt, gerierte sich als
Dr. Zett, übte als solcher unerlaubterweise ärztliche Praxis aus und wurde
im Dezember 1913 verhaftet, weil er sich wiederholten Betruges, Unter¬
schlagung und Diebstahls von ca. 4900 Franken schuldig gemacht hatte.
Zum Schlüsse kam Zett ins Burghölzli zur Begutachtung, und es
sei nun das obige objektiv dargestellte Tatsachengerippe nochmals im
Sinne des Exploranden mit den nötigen Randbemerkungen dargestellt.
In den Akten sowie in der Klinik schilderte Zett mündlich und
schriftlich mehrfach seinen Lebensgang. Nach seinen Angaben war sein
Vater Direktor von Maschinenfabriken in Moskau und Nancy — wo er in
Wirklichkeit als Arbeiter gewesen war — und hatte nach Verlust seines
Vermögens sich in seine Vaterstadt zurückgezogen, bald als leitender Di¬
rektor der Maschinenbaugesellschaft, bald als Abteilungschef oder auch
nur als Vorarbeiter oder Feinmechaniker. Entsprechend diesen Angaben
passierte es Zett aucli sehr leicht, von der Sommervilla seiner Eltern in
Luzern zu berichten, und sah er sich einmal veranlaßt, wie in den Akten
beschrieben wurde, einem Gaste anläßlich eines Besuches eine fremde
Villa mit der Dienerschaft als die seines Vaters vorzuzeigen.
Entsprechend dem Vater gab Zett seine Mutter als aus einer alt ein¬
gesessenen, ehemals reich begüterten Familie der Vaterstadt stammend
an, die, „sowohl die Stellung ihrer Familie als auch ihre angenehme musi¬
kalische Bildung zur gefeiertsten Dame der Stadt stempelten“.
Es genossen darum er und seine Geschwister die vorzüglichste Er-
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. Hl
Ziehung, die Kinder der ersten Kreise waren gewohnt gewesen, ihm, dem
Moritz Zett, zu gehorchen. Eis wurde auch sein Bruder nicht nur Eisenbahn¬
angestellter, wie die trockene Wirklichkeit ergab, sondern Ingenieur,
Reserveleutnant eines Unterseebootes, später Vize-Korvettenkapitän,
und die Schwester Dr. phil., Inhaberin eines Anwaltbureaus (sic!).
In München als Student habe Zett hauptsächlich Chemie bei Ex¬
zellenz v. Baier studiert, nebenbei zahntechnische Ateliers besucht und gesell¬
schaftlich in den ersten Kreisen Münchens verkehrt. Die Kosten sollte
ein von ihm erfundener „Apparat für chirurgische und zahnärztliche
Zwecke“ decken, der tatsächlich von ihm konstruiert und von einer Firma
hergestellt worden war, aber nicht die erhofften jährlichen 25 000 M. ein¬
brachte, da er seiner Unvollkommenheit wegen nur ein kurzes Leben hatte.
Nach allem handelte es sich wohl um ein beweglicheres Modell schon
bestehender Apparate.
Zett ließ sich aber trotz der etwas getäuschten Erwartungen nicht
nehmen, ein recht teures Semester zu genießen. Er wohnte, wie schon be¬
richtet, in einem Hotel I. Ranges, hatte ein Zimmer, das täglich 8 M.
kostete. Seine Monatsrechnung habe sich auf ca. 1400 M. belaufen, und
da er als Sohn eines steinreichen Fabrikanten gegolten habe, fühlte er sich
mit Recht verpflichtet, nebst den Hotelausgaben sonst noch viel Geld
zu verbrauchen.
Bei ihm habe man auf Ehrenwort pumpen können. Nicht nur Offi¬
ziere und Studenten hätten das benutzt, sondern daneben habe er auch
arme Talente, z. B. einen Heldentenor, reichlich unterstützt. 300—400 M.
au einem einzigen Abend in Freundes- oder Künstlerkreisen auszugeben,
sei für Zett ein leichtes gewesen. 4000 M. hätten mindestens die meist
ä fonds perdu ausgeliehenen Gelder betragen, und da die Fama wohl reichlich
für den wachsenden Ruhm seines Besitzes sorgte, hätte er, wie er berichtete,
bald Grafen, Barone, Rittergutsbesitzer und sogar arg verschuldete Spröß-
linge aus fürstlichen Geschlechtern zu den Freunden und Klienten seines
allzeit offenen Geldbeutels gezählt.
Zett hat natürlich auch Sport getrieben; bei einem Pferderennen
gewann er den ersten Preis, bezahlte ihn aber mit dem tot hinfallenden
kostbaren Pferde. Den Wintersport in Berchtesgaden dokumentierte er
uns mit einer Postquittung von der Post in Garmisch.
Die Strapazen des Semesters in München will Zett durch eine Orient-
reise nach Konstantinopel unterbrochen haben. Er habe damals einen
wunderschönen Pudel besessen, den er sich verpflichtet fühlte, nach Wien
zu einer Hundeausstellung zu bringen. Von da ergab sich dann der Ab¬
stecher nach dem Orient leicht, zumal er in Gesellschaft eines Legationsrates
«ler französischen Gesandtschaft dort habe hinreisen können.
Von der Reise zurück, studierte Zett noch bis April in München,
Wirte dann nach Hause zurück, wohin auch allmählich recht viele Rech¬
nungen nachgefolgt seien, me der Vater alle aus seinen Ersparnissen
9 *
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Jörger.
bezahlt habe, ohne freilich zu wissen, daß der Sohn schon 15 000 M. aus¬
gegeben hatte, die Früchte seiner Erfindung. Er hat auch, wie oben be¬
richtet worden, nachweislich per Post 11 800 M. bezogen.
Zu Hause trieb Zett bei einem Zahnarzt Praxis, pumpte, lebte im
Münchner Stile weiter, empfing Freunde und Bekannte, aufs gastfreund¬
lichste sie bewirtend, reiste mit „Schwesterlein“ herum und habe sich nebst
eifrigen Vorbereitungsstudien für die Ecole dentaire in Paris auch mit
Spiritismus und Okkultismus abgegeben.
Im Oktober 1912 mußte Zett wieder nach München reisen. ,.pour
disputer sa these“. Hocherfreut begrüßten kurze Zeit darauf die guten
Eltern ihren Sohn als „Doktor“, der hohe Lohn für seinen eisernen Fleiß!
Hatte man ihn doch oft nachts 3, 4 Uhr von seinen Büchern weg zu Bett
schicken müssen!
Die Dissertation trug den Titel: „Beiträge zur Emanationstherapie
oder zu der vom Radium ausgehenden Emanation und der induzierten
Aktivität. Ihre Wirkung und Anwendung in der Heilkunde.“
Sie war seinem lieben „Schwesterlein“ gewidmet und prangte mit
dem Motto:
„Wer da fährt nach hohem Ziel,
Lern’ am Steuer ruhig sitzen,
Unbekümmert, ob am Kiel
Lob und Tadel hoch aufspritzen.“
Am Schlüsse der Arbeit steht ein Curriculum vitae in lateinischer
Sprache abgefaßt, in dem er berichtet, daß er sich „potissimum ciiirurgiae
singulari et cynaecologiae“ gewidmet habe. — „Postea vere veniture
medicinae me dederem et Universitatem Friburgum pertinerem; ibi
propter studiis medicis etiam philosophiam audirem maxime allieerem
me pro spychiartria. Novembero MCMXI Universitate Monacensis se-
mestrum nonam contegerem, et ibi nosocomio feminae cum medicus volun-
tarius recipebar. Hic usque fini semestris decimae permanerem. Junio
MCMXII examen rigorosum consiterem.“ (Sic!)
Es fehlte auch nicht die Genehmigung der medizinischen Fakultät
in München, nachdem Prof. Dr. Max Ritter von Gruber über das Opus re¬
feriert hätte. Dieses habe auf eifrigem Studium der einschlägigen Literatur
und auch auf Vorlesungen der Mme. Curie gefußt, die er im Juli 1912 an¬
läßlich eines Besuches in Paris gehört habe.
Die Früchte seines Aufenthaltes in München waren nun aber nicht
nur die Doktorpromotion, sondern auch die Bekanntschaft mit einem
Baron v. Zerberg. Diesen hatte Zett eines Nachts um 1 Uhr von einer
Bubenbande jämmerlich verprügelt zu sich ins Hotel in Pflege genommen.
Zerberg zeigte sich sehr erkenntlich für diesen Liebesdienst christlicher
Barmherzigkeit; zahlreiche Besuche, gegenseitige Geldgeschäfte und Dar¬
lehen in München dokumentierten dies, und kurze Zeit darauf auch der
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. H3
Besuch des Barons in der Vaterstadt Zetts, gerade als dieser im Begriffe
war, nach Paris ins Semester abzureisen. Zett verschob dies nun, empfing
seinen Gast standesgemäß im ersten Hotel seiner Stadt. Unglücklicher¬
weise mußte aber die Polizei gerade auf die Idee kommen, sich nach den
Adelspapieren des Herrn Baron v. Zerberg erkundigen zu wollen, und sie
schrieb nach eingehender Prüfung diese Titel auf einen höchst einfachen
bürgerlichen Namen zurück und fand es angezeigt, auch Zett wegen
Führung falschen Doktortitels die oben erwähnte Strafe zuzudiktieren.
Nach diesem unerfreulichen Intermezzo reiste Zett im Oktober nach
Paris. Er zitiert eine bunte Menge von Vorlesungen, die er alle besucht
habe, ohne aber nebenbei den Sport, Studien über Okkultismus und spiri-
tistischc Phänomene und Reisen zu vergessen.
Auf der Rückfahrt nach einem angeblichen Aufenthalt in London
will er sich mit einer ebenfalls nicht nachgewiesenen reichen Amerikanerin
verlobt haben, die er später in Wiesbaden, Zürich und Rotterdam noch
getroffen haben wollte. 3 Millionen sollte die Morgengabe sein, aber dazu
eine fabelhafte Verschwendungssucht, so daß Zett es für besser befunden
habe, sich von der reichen Braut loszusagen.
Im Januar 1913 reiste er zum erwähnten Kuraufenthalt in Davos.
Er war wirklich dort in Begleitung einer Dame, die als „Schwiegermutter“
figurierte, und mit der er auf Kosten des Concierge kostspieligen Sport
betrieb, täglich ausritt und vierspännig ausfuhr. Zum Schluß aber ließ er
einen Teil speziell der Rechnungen des Concierge unbeglichen und zog sich
wieder mit unbekannter Adresse nach Paris zurück.
In Paris will Zett auch die Gründung der „Nobles lettres de France“
in Szene gesetzt haben. Objektiv sprach nur ein Brief mit Titelkopf für
deren Existenz. Die berühmtesten Mitglieder der Academie fran$aise und
« ine Menge hochtönender Namen aus den ersten Kreisen der Gesellschaft
waren auf diesem als Mitglieder verzeichnet, und Zett wollte den Kardinal-
Erzbisehof Amette dafür interessiert haben. Es sollte eine literarische
Zeitschrift sein, deren administrative Leitung „docteur Zett“ zu über¬
nehmen hatte. Das ganze Unternehmen aber zerschellte angeblich am
Mangel von 10 000 Fr., die der administrative Directeur nicht habe ein-
zahlcn können.
Nicht nur diese Enttäuschungen, sondern die schon erwähnten ge¬
richtlichen Scherereien wegen unbezahlter Rechnungen ließen es Dr. Zelt
angezeigt finden, auf Ostern nach Hause zu kehren und sich dort inkognito
bis Juni 1913 aufzuhalten, in welchem Monat er sich nach dem gastfreund¬
lichen Zürich wandte.
Er nahm hier Stellung bei einem Zahnarzt. Er hatte sich als „Zahn¬
arzt Zett“ präsentiert, der noch etwas Praxis zu machen wünschte, dann
das Staatsexamen bestehen, sich verheiraten und dem Prinzipal das Ge¬
schäft abkaufen wollte. Auf das Gehalt verzichtete er generös, weil er,
wie er dein Prinzipal angab, es nicht nötig habe, wie er uns berichtete,
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weil er mit nur 200 Fr. nichts hätte anfangen können. Nach den Angaben
<les Prinzipals verstand er gewisse Sachen wirklich sehr gut zu machen,
andere aber gar nicht. Er sei sehr unregelmäßig ins Geschäft gekommen,
sei oft Tage weggeblieben, weil er im Kantonspital, wo er nebenbei As¬
sistent zu sein angab, sehr viel mit Operationen beschäftigt gewesen sei.
Ein eifriges Telephonieren in die chirurgische Klinik dokumentierte diese
Beschäftigung bestens, die in Wirklichkeit nur in der Phantasie Dr. Zetts
existierte.
Zett hatte bei seinem in Zürich wohnenden Paten Wohnung genom¬
men. Er hatte sich bei diesem als Dentist mit Doktorgrad des Pariser
Instituts Pasteur ausgegeben, berichtete, wie er auf der „Kronprinzessin
Cecilie“ nach Amerika fahren werde, und demonstrierte auch die dies¬
bezüglichen Billette; er erzählte vom demnächst zu bestehenden Staats¬
examen in Zürich, von seinem Patent, seinem großen Honorar von 500 Fr.
monatlich, zahlte selbst aber Zimmer und Pension sehr unregelmäßig.
Zett, der im Anfänge seines Aufenthaltes in Zürich nach eigenen An¬
gaben und auch nach den Bestätigungen seines Paten sehr solid lebte,
ein „Modell der Tugend“ war, machte sehr bald Bekanntschaften. Darunter
die eines Pastors, dem „Dr. med. Zett“ in kurzer Zeit sympathisch durch
die religiösen Gespräche wurde, die er führte, und durch den Standpunkt,
den er dabei einnahm. Obwohl vieles, was er behauptete, sehr unwahr¬
scheinlich gewesen sei, so interessierten doch die Gespräche über Okkultis¬
mus, Magie und Spiritismus den guten Pastor; es schien ihn zu bestechen,
daß das Geld, das Zett durch gewisse Manipulationen hervorzaubem
wollte, wohltätigen Zwecken zugewendet werden sollte, und auch die
Absicht, Edler von Zollstein zu werden, um im titelsüchtigen Frankreich
mehr Erfolg zu haben, schien ihm berechtigt. Natürlich gingen neben¬
her die Berichte von den väterlichen Reichtümern, dem 30 OOOfränkigen
Semester in München, von der Schwiegermutter in Davos usw.
Jeder auftauchende Zweifel von der Echtheit des Dr. Zett zerfiel
jeweilen dem frommen Herrn bei den Operationen, zu denen ihn Zett ein¬
lud, und die er jeweilen „absolut kunstgerecht und mit sicherer Hand“
vornahm. Wir werden in anderem Zusammenhang sogleich darauf zurück¬
kommen.
Dr. Zett kam nun leider bald nach der Bekanntschaft mit dem Herrn
Pastor durch einen fälligen Wechsel aus der Münchner Studienzeit in
etwelche Geldverlegenheit, und da der Herr Pastor beim Reichtum seines-
Bekannten wohl nichts zu fürchten brauchte, half er gern aus den momen¬
tanen Nöten und gab 750 Fr. Es entstanden dann aber Schwierigkeiten
mit der Rückerstattung, entweder war Zett nicht zu sprechen, oder es
war der Herr Pastor gerade verreist, wenn Zett das Geld bringen wollte,
oder es nahm eine Ehrenschuld vom Spieltisch den Betrag in Beschlag,
oder auf der betreffenden Bank, auf welche der Wechsel lautete, war eben
das Konto ausgegangen, so daß die geistliche Langmut und Geduld des-
Pfarrers sehr hart auf die Probe gestellt wurde.
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Auch bei seinem Paten und Logisherrn waren allmählich allerlei
Schwierigkeiten wegen des Zählens entstanden. Zett vertröstete immer,
berichtete von seinen großen Ausgaben. Das „Modell von Tugend“ war
flatterhaft geworden, es blieb häufiger bis Mittag zu Bett, arbeitete wenig,
mußte sich von seinen Gelagen und Champagnerschmausereien erholen
und auch auf Reisen gehen.
Dabei wollte Zett seine amerikanische Millionenbraut getroffen haben,
und die Sorgen seines Paten nach den unbezahlten Pensionsgeldern wurden
mit Einladungen nach Amerika, mit Versprechungen von Fabrikgründun¬
gen usw. beschämend zurückgedrängt. Den positiven Beweis für alles
lieferte ein Telegramm aus Montreal, wohin sich angeblich die Braut aus
Philadelphia begeben, des Inhaltes: „Lettre re$uc, vous serez acceptö.
Dubeau.“ Überzeugender konnte der Beweis nicht sein.
Ende August verreiste das liebe Patenkind schnell nach Paris, es
waren Briefe einer Sängerin angekommen, er mußte noch schnell ein
Examen bestehen und einen Prozeß wegen einer sehr teuren Linse ver¬
fechten. Als er zurückkam, brachte er die Kunde, er habe das Examen
glänzend bestanden und erwarte nun das „blaue Band der Legion d’hon-
neur“. Da kamen natürlich seine Logisgeber aus dem Staunen nicht
heraus.
Auf diese Reise nach Paris nahm Zett aus dem Atelier seines Prinzipals
einen jungen Zahntechniker mit, dem er schon lange seine Gunst geschenkt
hatte, da er ganz arm und mittellos und von zu Hause verstoßen war, von
«lern Zett sagte: „er sah aus wie eine Leiche“. Dem jungen Menschen
wollte Zett in Paris eine Stelle nach Holland vermitteln und ihn selbst
hinbringen. Sie stiegen in einem Hotel in Paris ab. Zett hatte auch
einen odontologischen Kongreß zu besuchen, der 5 Tage dauerte, dann
einen Ball der Internes des höpitaux und zudem Geschäfte für die „Nobles
lettres de France“ zu erledigen. Der Mann der Patientin Zetts, von der
wir sogleich berichten werden, hatte für die Reise in Zürich schon 600 M.
und 300 Fr. bezahlt, telegraphisch schickte er dann noch 250 Fr. nach
Paris, und als trotzdem das Geld bald ausging, ließ Dr. Zett seinen Schütz¬
ling quasi als Bürgen im Hötel zurück, versprach baldigst Geld zu senden
und verschwand. Den armen Jungen spedierte man dann aber als un¬
brauchbar nach einiger Zeit per Schub nach Zürich zurück.
Hier hatte unterdessen Dr. Zett das Atelier seines Prinzipals ver¬
lassen und sich hauptsächlich auf seine Privatpraxis verlegt. Es war dies
eine operative Tätigkeit, die er an einer Klientin seines zahnärztlichen
Meisters, an deren Mutter und Tochter, vornahm.
Da er das Recht zu praktizieren nicht hatte, verzichtete er von vorn¬
herein auf Honorar oder Geschenk, hingegen nahm er 640 M. Vorschuß
auf einen zu bestellenden Apparat, der sich aber in der Folge nach dem
vorzüglichen Resultat der Operation nicht mehr als nötig erwies. Es hatte
sich um eine teilweise Entfernung des Nasenknorpels mit Naht und Ver-
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Schluß eines Yorbindungsgangcs der Nasenscheidewand gehandelt, .\lles
war kunstgerecht gemacht, die Narkose war von der Patientin verlangt
worden, ein Stud. med. im ersten Semester und der Herr Pastor assistierten,
und der Ehemann hatte seine schriftliche Einwilligung gegeben.
I)r. Zett ließ sich im Oktober, nachdem er das Geld für die Pariser
Reise erhallen, für den Ankauf von Instrumenten 200 Fr. leihen und bald
darauf 200 M. und 150 Fr. Im November weitere 200 M., die zur Ein¬
lösung eines Wechsels dienen sollten. Er hatte ihn angeblich bei seinem
Besuch in Paris unterschrieben anläßlich eines Krankentransports Paris—
Zürich, hervorgerufen durch ein Duell. Gern gab ihm seine dankbare
Patientin in der Zwischenzeit noch eine Reihe kleinerer Beträge, und an¬
fangs Dezember sollte sie für die Kosten einer Expedition nach Venezuela
zur Er forschung von medizinischen Pflanzen 10 000 Fr. bezahlen.
Nun, Dr. Zett hatte sich auch wirklich Mühe gegeben; abgesehen
von der Nasenoperation in 2 Sitzungen, wurde die Schwiegermama am
linken Augenwinkel operiert, und auf dem rechten Backen von einer Drüse
befreit. Die kleine Tochter wurde \on einem schmerzhaften Karbunkel
am Schlüsselbein erlöst, und zum Schlüsse kam die Mama wieder an die
Reihe, der Dr. Zett aus der Mittellinie der Bauchwand ein „Atherom 1 '
entfernte, das er hocherfreut dem Eheherrn als „Eierstock“ präsentierte,
an dem speziell der eigentümliche Geruch mächtigen Respekt einflößte.
Nachkuren mit Spülungen verschiedenster Art waren natürlich notwendig,
auch eine kleine Schlußoperation, die aber dann durch das Einschreiten
der Polizei leider unangenehm unterbrochen und gestört wurde.
Durch seine Finanzoperationen mußten nebst seinem Prinzipal noch
verschiedene Leute mit kleineren Beträgen bluten. Auch blieben eine
Reihe von Rechnungen unquittiert, vor allem die bestellten chirurgischen
Instrumente im Betrage von 654 Fr.
Moritz Zelt trat ain 6. B. 1914 ins Burghölzli ein, er hatte etwas von
einem Hochstapler an sich, sah elegant aus, benahm sich wie ein Mann
von Manieren und berichtete gleich in leisem, schnellem Ton, daß man
anfänglich Verdacht auf Abtreiberei gehabt habe, daß es sich aber nur
um Betrug handle, den er auch zugebe.
Körperlich hatte Zett nichts Auffälliges, an seinem Tun und seinem
Benehmen war nichts auszusetzen. Mit seinen langen, schlanken Händen
begleitete er die meist prompten Antworten und recht schlagfertigen und
gewandten Reden, die er ohne Mühe deutsch und französisch führen konnte.
Aus allen Zeugnissen und Aussagen, die für die Untersuchung zu
sammeln waren, ging einstimmig hervor, daß Zett als sehr intelligenter
Mensch imponierte. Dies zu erscheinen gelang ihm offenbar leicht, denn
mit seinem tadellosen Benehmen und seiner großen Wortgewandtheit
verstand er ausgezeichnet eine Unterhaltung zu leiten und in Fluß zu er¬
halten. Kam man auf einen Gegenstand zu sprechen, der ihm nicht ge¬
läufig war, so pflegte er geniert einen Augenblick den Mund zusammen-
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Über unklares Denken nnd Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. H7
7.uziehen, im nächsten Augenblick war aber die Antwort gefunden, und
sie wurde mit einer geschickten Handbewegung überzeugend gemacht
und vorgebracht.
Es zeigte sich aber recht bald, daß hinter der Fülle der sprudelnden
Worte sich nur ein sehr kleines Häufchen wirklichen Wissens eingehüllt in
einen großen Ballast von unklaren Begriffen versteckt hielt.
Er verfaßte in der Klinik eine Lebensgeschichte von 36 Folioseiten,
wovon 32 Seiten die Erlebnisse bis zu seiner Münchener Zeit beschreiben.
Der Stil ist schwülstig, bandwurmartig, gespickt mit unverstandenen
Fremdwörtern und banalen Zitätchen und Phrasen.
Er schreibt z. B.: „Es hätte für mich nicht des Engels mit dem feuri¬
gen Schwert bedurft, ich wäre aus freien Stücken wieder fortgegangen
(aus Frankreich), fort in das liebe Elsaß, in seine Berge, in die Vogesen
zurück. — Das charakteristische, monotonische Provinziallehen Frank¬
reichs trat im Vergleich zu andern Städten in dieser Stadt < Xancy i nicht
so eigentümlich zutage: da Xancy eine Reihe von Vorzügen aufweist, die
da wären, daß Xancy zuerst einmal Universitätsstadt ist. zweitens aber
auch eine Menge Museen besitzt, die für Frankreich sowohl von-künst¬
lerischem als von historischem Wert sind, und drittens einen Reichtum von
gebildeten Bewohnern, deren Vermögen, Rang, Titel, Würden, Orden und
dergleichen in ganz Frankreich bekannt sind, die aber bezüglich der Rück¬
sichten der allgemeinen Gesellschaft untergeordnet sind, daher erklärt das
kleinstädtische und kleinbürgerliche Gepräge der Stadt.“
Einfache Rechnungen löste Zett sehr schnell und prompt. Er hatte
aber schon große Schwierigkeiten, einen gemeinen in einen Dezimalbruch
zu verwandeln, bei Bruchrechnungen versagte er, und er war z. B. auch
nicht imstande, zu sagen, was bei der Rechnung 868 : 163 = 5.32 die Zahl
nach dein Komma, 32, bedeuten sollte.
In Geschichte wurstelte er eine Menge Tatsachen unklar unterein¬
ander: Wann der 30jährige Krieg war. konnte er nicht sagen: es zeichnete
sich in demselben vor allem der Kurfürst der Mark Brandenburg aus, der
dadurch den Beinamen „der Große“ erhielt und der die Kartoffeln nach
Deutschland brachte. — „Friedrich der Große um die Zeit des 7- und 30-
jährigen Krieges war ein Preußenkönig, mal erstens, und hat sehr viele
Schlachten gegen Österreich und Frankreich geschlagen, z. B. gegen die
Russen bei Zorndorf.“ ,,16iO—46 war der 7jährige Krieg, er riß Schlesien
an Deutschland unter Maria Theresia.“
„Das Mysterium von Christus kann man nicht fassen. Ein Mysterium
ist ein verschleiertes Geheimnis, eine Sache, in die das Licht der Wissen¬
schaft noch nicht gedrungen ist, um eine Erklärung abzugeben: Das
Radium ist z. B. kein Mysterium, weil man es ganz genau kennt, da es ein
Körper ist, der die Eigenschaft hat, binnen kurzem so beleuchtet zu werden,
daß die Wissenschaft bestimmte Annahmen darüber abgeben kann. Ein
Mysterium ist z. B. die Geburt Christi, weil man sich eine Befruchtung
ohne Coitus nicht erklären kann.“
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Zum Staunen war sein Wissen in Geographie naiv und einfach: „Kon¬
stantinopel liegt an der Bai von Konstantinopel gegenüber einer Insel im
Adriatischen Meer; Pera ist ein Stadtteil. In Sofia wohnt der Regent von
Serbien.“ — Dabei wollte Dr. Zett eine Orientreise gemacht haben. — Er
konnte nicht angeben, wohin man nach Italien kommt, wenn man den
Weg über Graubünden nimmt. Nach einer graphisch dargestellten Skizze
der Situation mußte man ihn auf Venedig stoßen, und er meinte dann
Triest, die Stadt gegenüber sei Wien — Budapest — Konstantinopel, und
nahm schließlich den Einwand, es sei doch Bagdad, allen Ernstes an. —
„Nördlich grenzt Preußen an Schweden, Schleswig-Holstein, Dänemark,
die Ost- und Nordsee. Hessen ist in Nassau, dort liegt Wiesbaden, Darm¬
stadt liegt in den thüringischen Staaten, hat eine berühmte Hochschule,
von dort aus werden Radiotelegramme geschickt. Das ist die Ausnutzung
von Funkentelegraphie, es gibt verschiedene Systeme des Radiosystems,
das der Schuckertwerke, das Marconi-System, das Herzsche System,
durch verschiedene Apparate ausgezeichnet, im Grunde alles nur auf der
Fortpflanzung der elektrischen Wellen beruhend.“
Zett war nicht imstande, auch nur annähernd einen Situationsplan,
z. B. der Umgebung des Bahnhofs in Zürich oder z. B. der Ile de Paris, zu
geben, er hatte keine Ahnung von der Notre Dame, die er sicher gesehen
haben mußte.
Nicht weniger unklar war das Wissen Zetts auf andern Gebieten:
„0 Grad ist der Mittelpunkt des Thermometers, bedeutet gleichviel Wärme
wie Kälte, ist der Ausgangspunkt der Grade nach oben und unten. Es
friert bei etwa 20 Grad Kälte, es kommt dabei auf die Verhältnisse des
Wassers an, z. B. würde ein Waschbecken voll Wasser bei etwa — 5°, ein
kleines Gläschen bei — 2° gefrieren. Es ist allgemein bekannt, daß der
Gefrierpunkt unter 0° besteht.“ — Tag und Nacht entstehen durch die
Drehung der Erde. Dabei wird aber das Verhältnis der Sonne zur Erd¬
achse falsch skizziert, horizontal und vertikal verwechselt und Meridiane
wie Sektoren gezeichnet.
Eine Textprobe aus seinen lateinischen Kenntnissen gaben wir bei
Erwähnung der Dissertation. Die mündliche Prüfung ging noch viel
schlechter. Er leistete sich z. B. einen Abscessus zygomaticum!
Was die Bedeutung von H t O ist, wußte er nicht; über Gase und
Elemente überhaupt hatte er nur ganz verschwommene Kenntnisse. Er
wußte von einigen Experimenten zu berichten, hatte aber deren Be¬
deutung gar nicht kapiert. „Emanation ist die Vorstellung des Gases, das
ist der Begriff des Wortes Emanation. Man kann dies Wort umändern
zur Bezeichnung der Gase, die aus verschiedenen Quellen, Flüssigkeiten
und dergleichen entsteigen. Man kann es auch auf Gespräche, Diskussio¬
nen u. a. weiter beziehen, wenn der betreffende Geist aus einer andern
Partei die Vermutung emanieren läßt. Von Röntgen hat man die ganze
Geschichte abgeleitet. Die Durchleuchtungskraft der X-Strahlen ist weiter
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Yerhältnisblödsinn. 119
nichts als 'die künstlich hervorgerufene Eigenschaft des Radiums, nämlich
undurchsichtbare Körper zu durchleuchten und zu durchdringen. Bei
dieser Strahlung unterscheidet man verschiedene Gattungen, nämlich
X-Strahlen, Kathodenstrahlen und Kanalstrahlen. Beim Radium a-, ß-, ~-
Strahlen, vermöge deren Kraft sie mehr oder weniger dicke Körper zu
durchdringen vermögen. Röntgenstrahlen erzeugt man dadurch, daß man
hochgespannte Ströme, die sich im RhumkorfT-Apparat sammeln, durch
den Unterbrecher leitet und auf der Kathode und der Antikathode zum
Ausbruch kommen läßt. Es ist lediglich ein elektrisches Phänomen.“ Mit
solchem Wissen ausgestattet, hatte er sich eine Dissertation aus dem Ge¬
biete der modernsten Chemie und Physik geleistet! Irgend etwas Brauch¬
bares über die Lichtbrechung in einem Linsensystem wußte Dr. Zett
nicht vorzubringen, obschon er auch einen Beleuchtungsapparat er¬
funden hatte.
Weder graphisch noch mündlich konnte er die Lage einer Gebär¬
mutter darstellen, trotzdem er eine Ovariektomie vorgespiegelt hatte, und
selbst über die Anatomie der Zähne war er so sehr im unklaren, daß er
jedem Zahn, wenigstens jedem Unterkieferzahn, eine Drüse beigeben
wollte, mit der löblichen Pflicht, bei einer Infektion anzuschwellen. Er
dachte dabei offenbar an die Drüsen des Mundbodens und des Halses, die
er in seiner Unklarheit sehr generös umherschob und verteilte. Aus seinen
Studien am Institut Pasteur rettete er nicht einmal den Begriff der Erythro¬
zyten, und seine Dissertation war ein unverstandener Haufen zusammen-
getragener Zitate aus einschlägigen Büchern, den er mit einer Brühe
tönender Phrasen reichlich übergossen hatte.
Den Abschluß mögen noch einige Stichproben aus den Gesprächen
mit Dr. Zett bilden: „Der Stil Louis XV. besteht in einem Flügel, von dem
mehrere kleinere ausgehen; das Burghölzli ist kein Louis XV. (obwohl er
obiger Definition entspräche!), weil es nicht zur selben Zeit erbaut worden
ist, weil kein Irrenhaus in einem solchen Stil gebaut wird, und weil es das
sogenannte Gangsystem ist.“ — „Fresken sind Girlanden und Ornamente
und verschiedene Physiognomien.“ — „Am Tage sieht man keine Sterne,
weil unsere Erde davon gedreht ist, und den Mond nicht, weil er zur andern
Erdhälfte hinüberscheint, die nicht beleuchtet ist.“
Die weitere Untersuchung förderte nichts Auffälliges zutage. Seine
Affektivität war gut, durchaus der Lage entsprechend und sehr moduliert.
Die Gedächtnisfunktionen wiesen nichts Krankhaftes vor.
Auch konnte er nicht moralisch defekt genannt werden, denn soweit
er die Situation verstand und beherrschte, zeigte er richtige Gefühle der
Reue, versprach Änderung seines Lebens, systematische Arbeit und Ein¬
kehr in sich selbst.
Das Gutachten wurde auf Geisteskrankheit und Unzurechnungs¬
fähigkeit abgegeben.
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12U
J ö rger.
Das erste, was an Dr. Zett auffiel, war seine krankhafte Sucht zu
Schwindeleien. Überall, wo er hinkam. suchte er den Leuten etwas
vorzumachen, er war sich oft selbst nicht bewußt, was er dabei alles
sagte und tat. er ging häufig so weit, sich ganz und gar zu vergessen,
allein seinen erdichteten Titeln und Reiehtümern zu leben, selbst dort,
wo nach den gewöhnlichen Regeln der Klugheit und Vorsicht eine
weise Mäßigung angezeigt gewesen wäre. So unterließ er es auch in
der Anstalt nicht, von seiner Familie usw. Unwahres zu schreiben und
anzugeben, obwohl er wußte, daß inan genau nachprüfen werde. Er
schwindelte, wo es keinen Sinn hatte, Falsches anzugeben, er schwin¬
delte. wo man ihm die Unwahrheit direkt beweisen konnte, er schwin¬
delte selbst noch dann, wo es ihm direkt schadete. Wir erklärten darum
den Zustand unter dem Namen der Pseudologia phantastica als krank¬
haft im forensischen Sinne.
Hand in Hand damit ging ein gewisser Tätigkeitsdrang, eine ge¬
wisse Aktivität der Persönlichkeit, vielleicht nicht allzufem von einer
chronischen manischen Verstimmung. Freilich war letztere in der
Anstalt nicht zu sehen. Aber das aktiv Treibende ging aus der ganzen
Schilderung seines Lebenslaufes hervor. Er war nicht nur der träu¬
mende. sondern der tätige Phantast, der das Leben genoß, arbeitete,
operierte, studierte, schrieb. Gesellschaften gründete, Reisen unter¬
nahm, Bekanntschaften anbändelte und seinen erdichteten Stellungen
und Berufen nach allen Seiten hin tätigen Glanz verschaffte.
Diese krankhafte Phantasietätigkeit, verbunden mit der Aktivität
der Persönlichkeit, setzte sich nun auf die Denkschwäche besonderer
Art gleichsam als Grundstörung hinauf. So entstand ein krasses Mi߬
verhältnis der Ansprüche der Phantasietätigkeit und des aktiven
Diebes einerseits und der intellektuellen Fähigkeiten anderseits.
Fs seien hier nur ein paar Beweise nochmals hervorgehoben für
die Art der Auffassung und Verarbeitung von Begriffen.
Kr will das ..blaue Band der Ehrenlegion" erhalten haben, hat
vielleicht auch einmal etwas vom blauen Hosenbandorden gehört,
wutt dann wohl beide Begriffe durcheinander, verarbeitet sie unklar
zu einem neuen Ehrenzeichen, mit dem er mit großer Selbstverständ¬
lichkeit Leichtgläubigen imponiert.
Er macht Operationen, ist kein ungeschickter Zahntechniker, hat
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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 121
aber von anatomischen Grundlagen, Zahnanatomie, Munddrüsen u. a.
die unklarsten Vorstellungen.
Sein Elaborat von Dissertation ist ein Sammelsurium von unver¬
standenen wissenschaftlichen Begriffen. In der Geschichte wurstelt er
den Großen Kurfürsten, den 30jährigen, den 7jährigen Krieg und
Friedrich den Großen zusammen. Er weiß wohl im einzelnen, daß
diese Dinge nicht zusammengehören, aber doch hat er hinwieder die
einzelnen Begriffe nicht so fertig verarbeitet, daß er sie genügend
auseinanderhalten könnte.
Was ihm mit Begriffen, passiert ihm auch mit Worten: er spricht
von einem „monotonischen“ Provinzialleben. Er will wohl das Wort
„monoton“ gebrauchen, hat es aber unklar aufgeschnappt und ge¬
braucht es, falsch geformt, nur nach seinem ungefähren Klang.
In noch deutlicherem Grade tritt diese Unklarheit des Denkens
bei einem andern Falle zutage, dessen Historie nicht weniger inter¬
essant ist, und die betitelt sei: „Der Schriftsteller“.
2. Der Schriftsteller WolfgangNamlos stammte aus einer einfachen
Familie, die in geordneten Verhältnissen lebte. Der Vater war Besitzer
einer kleinen Buchdruckerei. Eine Tante väterlicherseits war nervenkrank.
In der Familie der Mutter herrschte Tuberkulose. Die Mutter selbst starb
mit 21 Jahren an dieser Krankheit.
Als Kind machte Namlos eine normale Entwicklung durch, in der
Schule soll er gut gewesen sein. Er besuchte Volks- und Realschule, war
2 Jahre im Welschland und kehrte mit 15 Jahren ins Elternhaus zurück.
Über diesen Lebensabschnitt schreibt Namlos: „Von diesem Zeit¬
punkt an beginnt mein eigentliches geistiges Leben. Meine Frühreife
brachte mich in einen markanten Widerspruch mit meinen Eltern, die,
durchaus materiell veranlagt, keine Spuren eines höheren Idealismus für
mich erkennen ließen, und die von diesem Zeitpunkt an die direkten Feinde
meines geistigen Lebens waren.“
Schon mit dem 12. Jahre habe er die ersten Gedichte gemacht, und
anknüpfend an die Erzählung des Vaters, der einmal von Goethe im
Gartenhaus gesprochen, habe ihn die Idee, ein Dichter zu werden, 2 Jahre
lang verfolgt. Er habe die wunderbare Größe Goethes instinktiv gefühlt,
ohne etw'as von ihm zu wissen. Mit 15 Jahren wäre er in eine Vorstellung
von „Kabale und Liebe“ gegangen. Da habe er geglaubt, Schauspieler¬
talente zu haben, und dann habe er sich in der Folge dieser Kunst zuge¬
wandt.
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122
J ö r g e r.
Der Vater, den der Sohn als „kleinliche, aber gescheite, natürlich
intelligente“ Persönlichkeit schildert, hatte offenbar etwas realere An¬
schauungen. Er verlangte, daß Wolfgang erst ein solides Handwerk erlerne,
und ließ ihn in seinem Geschäft eine 3 ^jährige Lehrzeit als Buchdrucker
durchmachen, was der Sohn zur Befriedigung des Vaters auch tat.
Daneben nahm er Stunden in der Schauspiel- und Rezitationskunst
bei einem bekannten Schauspieler und einem geschätzten Rezitator, und
nach vollendeter Lehrzeit reiste er mit ersterem und im Einverständnis
des Vaters, der auch die nötigen Mittel gab, nach Berlin, um sich dort
ganz fürs Theater ausbilden zu lassen.
Was Namlos in Berlin tat und leistete, war objektiv nicht festzu¬
stellen, für den Vater waren als positive Ergebnisse nur die Kosten von
3000 Fr. sichtbar. Der Aufenthalt schloß nach einem Jahr mit einem Auf¬
enthalt in Rheinsberg ab, worauf Namlos nach Zürich zurückkehrte. Sein
Lehrer schrieb in jener Zeit, sein Schüler werde es nie über die Mittel¬
mäßigkeit hinausbringen. Namlos selbst fand auch, er habe genug von
der lorbeerreichen Kunst der Mimen, und erklärte nun dem Vater, er wolle
Journalist werden.
Er war jetzt 20 Jahre alt geworden.
Mit wenig Lust und Eifer arbeitete er vorläufig für einige Zeit im
Geschäft des Vaters, schrieb daneben kleine Artikel für Zeitungen, manö¬
vrierte in der ernsten Kunst des Dramas herum, zog sich immer mehr von
den Eltern zurück, da sie nicht imstande waren, seinen hohen Plänen
zu folgen.
Nach seinen eigenen Schilderungen litt er auch in dieser Zeit seelisch
fortwährend Ungeheuerliches. Er schilderte, wie sein Vater gar nicht das
geringste Verständnis für seine künstlerischen Aspirationen gehabt habe,
daß er ihm kaum einen freien Nachmittag für seine Neigungen gegeben
hätte. Er erzählt immer wieder, wie er frierend und schlotternd, in Decken
gehüllt, auf der einsamen Dachkammer Literatur studierte, wie er sich
mit dem Gedanken abgegeben, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, wie
er einen Revolver gekauft habe und sich schon in Gedanken im Sarge liegen
sah, „den Dichterkranz auf dem Haupte“, schwarz verhüllt das Zimmer,
den trauernden Genius mit der erloschenen Fackel ihm zur Seite. Aber
treue Freunde hätten ihn rechtzeitig vom Äußersten zurückgehalten.
In seiner Lebensgeschichte schreibt Namlos:
„Völlig gebrochen kam ich heim (von Berlin). Vom Theater, dem
Herrlichsten in meiner Idealwelt, nun angeckelt und doch übervoll mit
künstlerischen Ambitionen, Sehnsüchten und dem Bewußtsein meiner Be¬
sonderheit, erwachte nach einer grausigen seelischen Depression meine
neue künstlerische Energie und die Reife zu einer produzierenden Kunst,
der Dichtkunst. Ich schrieb die ersten Gedichte noch im Zustande der
Metamorphose, sie hatten Erfolg, und in rapider Entwicklung erkannte
ich jetzt — nach einem qualvollen Laborieren — meine eigentliche Mission.
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verbältnisblödsinn. 123
Ich mußte Dichter werden und war dazu geboren. Aber ich konnte mich
und wollte mich nicht zu Konzessionen hergeben, die kleine Arbeit des
Tages: Feuilletons, Essays «sw., war mir in der Seele zuwider, ich durfte
die Kraft nicht für den Tag verbrauchen, und das ist der Hauptgrund
meiner Tragik.“
Es war nun auch die Zeit gekommen, da Namlos dem Vaterlande
dienen sollte. Er habe Freude am Militär gehabt und hätte Offizier werden
wollen. Er rückte zum Rekrutendienst ein. Aber es war auch hier schon
wieder nicht so, wie er es sich vorgemalt hatte, die harte Wirklichkeit
griff mit roher Hand ein. Einige Wochen hätte er heroisch gekämpft,
dann sei er zusammengebrochen, sei lange krank im Spital gewesen. Man
sah ein, daß er nicht fürs rohe Kriegswerk geschaffen, und schickte ihn
nach Hause. In der Rekrutenprüfung hatte er sich lauter 1 erworben.
Die Diagnose der Spitalärzte war auf Neurasthenie gewesen.
Es war mittlerweile das Jahr 1912 geworden, und Wolfgang Namlos
erklärte nun seinem Vater, er wolle sich selbständig machen.
Er verließ das Elternhaus und zog in eine Pension. Er hatte zu Hause
,,diesen entsetzlichen moralischen Druck“ nicht mehr ausgehalten.
Das Eröffnungsspiel zu einer Selbständigkeit gedachte er durch den
Ankauf eines Magenpräparates zu geben, mit dem ein alter Fremden¬
legionär hausierte, und das dieser selbst durch Kochen von Kräutern nach
indischer Manier herstellte. Da der Mann ihm aus den Büchern einen jähr¬
lichen Ertrag von 2000 Fr. nachwies, da selbst Vater Namlos und die ganze
Bekanntschaft aus eigener Erfahrung die Güte des Präparates priesen,
wollte Namlos Sohn das Geheimnis für 500 Fr. erstehen und es dann nebst
Profitanteilen einem Amerikaner für den Vertrieb jenseits des großen
Wassers um den doppelten Ankaufpreis weiter verhandeln. Da der
Amerikaner, eine Bekanntschaft aus dem Kaffeehaus, zu seinen Plänen
„very well“ gesagt hatte, mußte das Geschäft gut sein. Aber die Unter¬
handlungen mit dem Vater um Ausbezahlung von ca. 1000—1500 Fr.
kamen zu keinem Abschluß. Unglücklicherweise sollte nun ein Hauptteil
dieses Geldes zur Deckung der aufgelaufenen Pensionsschulden dienen.
Da es nicht zu erhalten war, Namlos aber wegen eines großen Kraches
aus der Pension verschwand, erfolgte eine Klage auf Kostgeldbetrug, die
der Vater aber doch noch rechtzeitig durch Bezahlung der Rechnungen
rückgängig machte.
Diese Unannehmlichkeiten des kleinlichen Lebens lähmten aber den
begeisterten Jüngling nicht in seinen hohen Zielen, und er trat in jener Zeit
in eine Gesellschaft „pro India“ ein, ließ sicli im „Indischen“ Unterricht
erteilen, gedachte daneben Sanskrit zu studieren und ließ sich auch ver¬
schiedenen exulierten indischen Fürstlichkeiten vorstellen, die in einem der
ersten Hotels in Zürich abgestiegen waren. Dies alles, weder im Sinne hatte,
später einmal in jenes Märchenland zu gehen, „um dort als Künstler Stim¬
mungen aus Indiens alter und neuer Zeit zu sammeln“.
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124
Jörger,
Seitdem Xarnlos aus Berlin zurückgekehrt war, sprach er nur noch
ein gewähltes Hochdeutsch, da er den vulgären Schweizerdialekt haßte.
Diesem Ehrgefühl für das echte, hohe Deutsche gab er auch Ausdruck,
indem er einem Deutsch-Nationalen Weltbund beitrat, „der vor allen
Dingen die Pflege des germanischen Gedankens“ bei den Auslanddeutschen
bezweckte. Als Gründer und Präsident fungierte ein Herr v. Gunbar, und
Xarnlos war ganz hingerissen, denn Gunbar hatte Zuschriften und Sym¬
pathiekundgebungen der höchsten, allerhöchsten Herrschaften vorzu¬
weisen. Gelder flössen ein, Marken wurden gedruckt, Xarnlos sollte deren
Vertrieb übernehmen, kurz es war „fabelhaft inszeniert“, und es war etwas
zu erwarten. Er selbst sollte als Schriftführer engagiert werden und
später in Amerika der Leiter der dortigen Hauptsektion werden. Von der
amerikanischen Filiale versprach man sich selbstverständlich goldene Berge.
Doch der Deutsch-Nationale Bund hatte ein kurzes Leben, er fand
einen stillen, lyrischen Tod in einer tiefen Depression, die Namlos’ Seele
erfaßte und ihn so sehr lähmte, „daß er tatsächlich nichts arbeitete“.
Trotzdem verlor er den Kontakt mit der realen Welt nicht. Er raffte
sich wieder auf und trat in Unterhandlung, für geringes Geld eine Buch¬
handlung zu erwerben. Aber es sei ihm Herr v. Gunbar just zuvorge¬
kommen. Das hinderte Xarnlos nicht, sehr viel in jener Buchhandlung zu
verkehren und mit dem Besitzer eine Zeitschrift „Kritische Umschau“
herauszugeben. Doch auch hier folgte das Schicksal bitterlich schnellen
Fußes. In der Buchhandlung entstand ein angeblich freiwilliges Schaden¬
feuer. Die „Kritische Umschau“ erstarb nach den ersten Nummern an
angeborener Lebensschwäche. Es gingen Klagen ein wegen Betrug von
Inseratengeidern, die Namlos eingezogen. Herr v. Gunbar klagte zugleich
mit der Zimmerfrau wegen Betrug und Diebstahl eines wertvollen Ge¬
mäldes, und schließlich habe auch v. Gunbar ein unrühmliches Ende ge¬
nommen.
Es ist klar, daß, wenn Hoffnungspläne so durchkreuzt und verdorben
wurden, Namlos nicht verhindern konnte, daß ein Wirt wegen Kostgeld¬
betrug Klage einreichte. Das war im Januar 1913, und der Vater hatte
noch ein Einsehen und bezahlte die Rechnung. Aus den Akten ging hervor,
daß Namlos damals tat, als sei er Medizinstudent. Er bestritt dies aber des
entschiedensten. Der Wirt habe gewußt, wer er sei, und habe auch seinen
Vater gekannt. Er habe nur gesagt, daß er studiere, was auch insofern der
Wahrheit entsprochen hätte, als er Kollegien an der Universität gehört
habe. Dabei aber wußte Namlos auch anderswo den Glauben zu erwecken,
er sei Medizinalstudent.
Auch einem großen Tragiker kann mitunter die Muse in lächelnder
Laune ein kleines Komödienspiel zuflüstern, als welches unser Dichter im
Februar 1913 einen großen Handel mit einem Studenten erlebte. Dieser
trug einen Hut, der Namlos gefiel, und den er vorläufig auf Kredit hin
kaufte. Da der Student aber verreisen mußte, drängte er auf Bezahlung,
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 125
die ihm Namlos in Form einer Reihe Bücher anerbot, unter der Bedingung,
noch 5 Fr. zu erhalten. Des war der Student einverstanden, nahm die
Bücher mit, die aber zufällig einem andern Studenten gehörten, in dessen
Zimmer Namlos sich vorübergehend einlogiert hatte.
Im August 1913 klagte die Firma gegen Namlos, der bei ihr als
Provisionsreisender in Kondition war, auf Betrug von 39 Fr., die sie für
gefälschte Bestellungen an ihn in Form von Provision ausbezahlt hatte.
Namlos wollte selbst das Opfer eines Betruges geworden sein, indem er
einen andern habe sammeln lassen, an jenen Orten, wo er selbst nicht habe
hingehen wollen in der Eigenschaft eines Inseratenakquisiteurs, da er
dort sonst als Schriftsteller verkehrt habe. Begreiflicher Stolz eines
Künstlers! Die Polizei konnte jedoch den eigentlichen Betrüger nirgends
auftreiben, und darüber, ob wirklich eine andere Person als Namlos die
Inserate aufgenommen, oder ob es nur Namlos unter anderem Namen
gewesen war, sprachen sich die Akten nicht aus.
Nun befand sich Namlos eine Zeitlang in einer Periode seines Lebens,
von der er sagte: „Es war in meiner vegetarischen Epoche.“ Darum ent¬
zückte er sich an einer süßen Frucht, die auf dem dunklen Boden Afrikas
reift, und er schrieb eine Broschüre „Die Banane“, ließ auf dem Titelblatt
„Eden Verlag“ drucken und sang darin das Lob der edlen Frucht als
Volksspeise.
Eine Zeitlang betrieb er weiter ein Heiratsvermittlungsbureau, nach
seinen Angaben nur vertretungsweise für 14 Tage.
Mittlerweile war das Jahr 1914 angegangen. Dieses begann mit der
Klage eines Buchhändlers, bei dem Namlos 1912 in der Bestellung von
Meyers Konversationslexikon seinem Wissensdurst Befriedigung gewährt,
aber bis dahin an die 320 Fr. nur dreimal 7 Fr. bezahlt hatte. Man konnte
es nicht verargen, wenn nun der Buchhändler Klage einreichte, nachdem
er so und so viele Mahnungsschreiben, Rechnungen und Zahlungsbefehle
an Namlos abgeschickt hatte. Er konnte aber nicht wissen, wie fortwährend
sein Schuldner mit des Schicksals Mächten kämpfte. Vom Lexikon war
schon lange jede Spur ausgetilgt, es war und blieb mit der mystischen
Person des Indischlehrers verschwunden, von dem ebenfalls kein Mensch
etwas zu berichten wußte.
Namlos war nun nach all dem Erlebten die Großstadt Zürich zuwider
geworden, er war dringend der Ruhe bedürftig und begab sich darum in
den Kanton Thurgau.
Er reiste inkognito mit dem Namen eines Freundes als Cand. med.,
verliebte sich in das Verhältnis seines Freundes und sammelte Stoff und
Eindrücke für einen dreibändigen Roman. An den bestrickenden Reizen
des Mädchens fing er Feuer, zumal sie die Schwester eines wegen Wechsel¬
fälschungen berühmten Bankiers gewesen sei, der 2 Jahre Gefängnis
erhalten hatte. Sie gab ihm das Vorbild zu einer Heldin „Bianca“ im
Roman, der in Mailand spielen sollte.
Zmtaohrift (Br Psychiatrie. LXXIIT. 2/3. 10
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126
J ö rger.
Namlos, wie er angab, erwartete immer Geld von der „Kritischen
Umschau“, und weil es nicht kommen wollte, konnte er nicht länger
warten. Er mußte nach München verreisen und tat es, ohne dem Wirt
Lebewohl zu sagen. Das war circa Ende Juni 1914. Seine Rechnungen
im Thurgau erbat er sich poste restante Zürich und fühlte sich damit
weiteren Verpflichtungen enthoben.
Was nun geschah, konnte allein aus seinen Berichten er¬
fahren werden. In München habe er dem „Delphin“-Verlag einige Kapitel
aus seinem Roman vorgelesen, und in Erkenntnis der werdenden Größe
des Werkes habe ihm der Verlag 50 Fr. zum voraus daran bezahlt. Mit
dem Gelde sei er nach Wien gereist, wo er bei einer Tante gewohnt und
nebenbei noch Unterstützungen vom Schriftstellerverein bezogen habe.
Als dann der Krieg ausgebrochen sei, wäre er unter dem Schutz eines
hochstehenden Offiziers über Budapest nach Przemysl gereist, habe dort
alles Grandiose und Furchtbare des Krieges gesehen, sei zurückgefahren
und habe in verschiedenen Städten Deutschlands Vorträge über die öster¬
reichische Mobilmachung gehalten.
Als Beleg aus dieser Zeit zeigte Namlos eine Einladungskarte zu
einem solchen Vortrag vor mit der Tagesordnung: Herr W. Namlos.
Wien, über „Mobilmachung in Österreich“.
Dann wollte er von Neujahr bis März 1915 in Zürich gewiesen sein,
habe sich darauf schriftenlos auf nicht zu verratende Weise im April in
Paris aufgehalten, um Stimmung und Leben in der französischen Kapitale
für eine deutsche Zeitung zu studieren. — Bei den Akten lag eine Nummer
der „Kölnischen Zeitung“ mit einem Artikel „Pariser Kriegsfrühling“.
Autor nicht gezeichnet, der aus seiner Feder stammen sollte. Von diesen
abenteuerlichen Reisen erschöpft, wieder angeekelt von der Großstadt
Zürich, „kränklich und deprimiert und matt“, immer in Gefahr, von der
Polizei belästigt zu werden, verspürte er nun von neuem das dringende
Bedürfnis nach Ruhe. Er ging darum, es war Ende Mai 1915, zu einem
Schneidermeister und bestellte sich ein neues Kleid. Der Schneider lobte
ihm aber auch seine Regenmäntel, er hätte wohl auch in diesem Artikel
gern ein Geschäft gemacht; Namlos habe ihm den Gefallen getan,
wie er erzählte, und hätte sich einen solchen „aufschwatzen“ lassen, so daß
der Schneider für Kleid und Mantel die Rechnung auf 195 Fr. schreiben
konnte. Die Rechnung blieb aber unbeglichen.
Also neu ausstaffiert, begab sich unser Schriftsteller anfangs Juni
an einen Kurort am romantischen Wallensee, anfänglich nur in der Ab¬
sicht, 8 Tage zu bleiben, da er nachher nach Italien fahren wollte, um dort
Stimmungsbilder zu studieren.
Aber es hielten ihn Künstler fest und eine Serbin, die ihn zu einer
„serbischen Novelle“ entflammte, und er konnte ungestört an einem
großen Roman Tag und Nacht arbeiten, doch das Honorar von deutschen
Zeitungen wollte immer nicht kommen, so daß aus 8 Tagen 5 Wochen
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 127
wurden. Es war peinlich, aber in der Verlegenheit setzte schließlich „Stud.
phil. Richard Schuhein“ seine Hoffnungen auf einen reichen Onkel, der
hingegen auch kein Geld schicken wollte. Da ging dem freundlichen Wirt
doch die Geduld etwas zu früh aus, ehe Namlos seine Italienreise beginnen
konnte: es mischte sich schnell die hohe Justiz des Kantons St. Gallen
ein, und sie war Ende Juli 1915 der Meinung, Namlos habe wegen falscher
Namensangabe und Betrug von 278 Fr. nebst Kosten 2 Monate zu sitzen.
Namlos war des einverstanden und sprach sich anerkennend aus über Be¬
handlung und Verpflegung als Gast bei der St. Gallischen Justiz.
Weniger gut habe es ihm in Thurgau gefallen, speziell die Kost sei
sehr monoton gewesen und habe von wenig feiner Küche gezeugt. Es
hatte ihn nämlich nach dem Aufenthalt in St. Gallen auch der Kanton
Thurgau zu einem Ferienaufenthalt gebeten, und zwar für 7 Wochen.
Dies für seine Erholungskur im Thurgau im vergangenen Jahre.
Nach dieser Gastfreundschaft wollte Zürich nicht nachstehen; die
Bezirksanwaltschaft nötigte den Dichter zu sich, und so reiste denn Namlos
Ende Oktober 1915, dem Rufe folgend, mit einem biederen Landjäger
nach Zürich, um im Untersuchungsgefängnis Selnau Logis zu nehmen.
Hier in Zürich hatte sich während seiner Studien und Ferienreisen
sachte, langsam ein Aktenstück ums andere beim Bezirksanwalt einge¬
funden, jedes wollte neue Schuld zu alten fügen.
Eine Frau, bei der Namlos im Jahre 1913 l 1 /* Monate gewohnt hatt'%
klagte um ihr Logisgeld. Gleiches taten auch andere Zimmervermiete¬
rinnen und Pensionen. Überall war Namlos als Schriftsteller und Journa¬
list aufgetreten und wollte Geld für Artikel und Feuilletons erhalten, die
,,kleine Arbeit des Tages“, die er einst so verpönt hatte. Aber selbst die
hatte ihn im Stich gelassen.
Das meiste Papier aber hatte sich als Folge einer wunderbaren Idee
angesammelt, deren Inhalt und Geschichte wir alsogleich im Zusammen¬
hang darstellen wollen.
Im Januar 1912 war unser Dichter in einer milden Frühlingsnacht
um die 12. Stunde am Zürichberg gelustwandelt. Es sei düster und ge¬
heimnisvoll gewesen, und da wären zwei Buben ihm über den Weg gelaufen
und hätten den Straßenmist zusammengelesen. Das wäre für ihn wie die
Konzeption einer Novelle gewesen, eine Idee, die plötzlich aufsteigt, dann
verschwindet, um später wieder aufzutauchen und ausgearbeitet zu werden.
Die Idee ging vorläufig in Liebeskämpfen unter, die Namlos damals
führen mußte. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, das für ihn „wie
eine Heldin kämpfte“. — Deren Eltern wollten aber nichts von der Ver¬
bindung wissen, weil Namlos noch nichts im Leben geleistet hätte. Uni
dies zu widerlegen, kam ihm nun zur rechten Zeit die Idee wieder, die er
in jener frühlingslauen Mitternachtsstunde konzipiert.
Er hatte einmal in einer nationalökonomischen Zeitschrift gelesen,
daß man in München vermittelst einer chemischen Verbrennung von Holz,
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J ö r g e r,
Papier und Lumpen eine Art „Luzerne“ herstelle. Warum sollte es nicht
auch mit Mist gehen, dachte Namlos, und es schwebten ihm die mist-
sammelnedn Knaben jener Frühlingsnacht vor Augen. Er entwickelte
einigen kaufmännischen Kaffeehausfreunden seine Ideen, die schienen
davon begeistert; ein Chemieprofessor war ihm für geleistete Dienste
verpflichtet, den gedachte er für den chemischen Teil des Unternehmens
zu gewinnen. So begann er, obwohl er eine Zeit „schrecklicher Seelen¬
qualen“ durchgemacht, unter den „denkbar schlechtesten Verhältnissen
materieller und anderer Natur“ sein „Schweiz. Institut für Naturdünger¬
vertrieb“ zu gründen und in Betrieb zu setzen.
Das erste, was er tat, war die Monopolisierung seiner Idee für den
Platz Zürich, von dem aus Filialen in allen bedeutenden Schweizerstädten
gegründet worden sollten. Er suchte die größeren Fuhrhaltereien und
Pferdebesitzer in Zürich auf und schloß mit ihnen Verträge ab. 16 Fuhr¬
haltereien gingen darauf ein, denn die Verträge waren günstig. Nach
einem Exposö war die geschäftliche Basis folgende: „Das Schweiz. In¬
stitut für Naturdüngervertrieb bezieht auf Grund ein- und mehrjähriger
Abmachungen usw. von sämtlichen Fuhrhaltern, Pferdebesitzern und
Stallinhabern Zürichs den Dünger zum durchschnittlichen Preise von
2 Fr. pro Pferd und Monat, bei kostenloser Abfuhr desselben. Der Pferde¬
dung wird hierauf in eine noch zu mietende oder später zu bauende
Räumlichkeit außerhalb des Stadtgebietes geführt, wo er dann gelagert,
nach Qualität sortiert und hierauf noch mit einer chemischen Substanz
vermengt wird, so daß seine Triebkraft eine noch größere wird und er daher
bedeutend mehr Gehalt und Kraft aufweist als der bisherige Kunst- und
Naturdünger. Mit dieser Bearbeitung des Naturdüngers ist eine neue Art
von rationellem Dünger erzielt, und zwar ohne die teuren komplizierten
Maschinen, die zur Herstellung von Kunstdünger erforderlich sind. Eine
geeignete geringe Reklame in landwirtschaftlichen Blättern wird genügen,
um einen großen Teil der verschworenen Kunstdüngerkäufer als Abnehmer
zu gewinnen. Die Nachfrage nach Naturdünger ist gegenwärtig eine so
eminent große, daß in den Monaten März, April und Mai genug geliefert
werden kann.
Eine Konkurrenz ist ausgeschlossen, da die jetzt abgeschlossenen
Verträge so viel wie das Monopol für Zürich und Basel bedeuten. Wir
sind daher in der Lage, die Preise selber anzusetzen.
Ein Parallelgeschäft ergibt sich für das Institut für Naturdünger¬
vertrieb aus dem Wiederverkauf des getrockneten Strohs. Es wird neben
der Räumlichkeit zur Umarbeitung des Düngers noch eine Strohtrocknerei
eingerichtet. Das im Strohmist befindliche Großstroh wird durch eine
Schotter- und Siebeeinrichtung herausgeholt, chemisch gespritzt, d. h.
desinfiziert und dann getrocknet. Dieses getrocknete Stroh wird ausschlie߬
lich an die Landwirtschaft verkauft, die es dem neuen, doppelt so teuern
vorziehen wird, weil es geschmeidiger und daher für das Vieh geeigneter ist*
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Yerhältnisblödsinn. 129
Dasselbe wird zum Preise von 4,50 Fr. der Doppelzentner abgegeben.
Nach den bisher abgeschlossenen Verträgen kann das Institut für Natur¬
düngervertrieb monatlich ca. 2500 Zentner Pferdemist ankaufen, und
zwar zum Preise von 450 Fr. bzw. 500 Fr. monatlich und vierteljährlich
zahlbar. Aus dieser Masse können ca. 280 Doppelzentner Stroh hergestellt
werden; das ergibt noch einen Düngerbestand von ca. 1900 Zentner. Die
Bruttoeinnahme beträgt also 2850 Fr. abzüglich Fourage, Zins und Ar¬
beitslöhne. Diese Unkosten können aber 1500 Fr. inkl. Ankaufkosten
niemals übersteigen, so daß jetzt schon ein monatlicher Reingewinn von
1350 Fr. zu verzeichnen ist. Dieser Gewinn kann natürlich durch hinzu¬
kommende Abschlüsse und durch Erhöhung des Düngerpreises noch um
mehr als die Hälfte vergrößert werden.“
In den Akten befand sich auch ein erweitertes ,Expos6 für for¬
cierten Geschäftsbetrieb“. Darnach waren zu erwarten:
Einnahmen : Zürich 200 Gruben = 15 000,
Basel 150 „ = 12 000,
Bern 130 „ = 10 000,
Genf 120 „ = 9 800,
600 Gruben = 46 800 Zentner Mist p. Monat.
46 800 Zentner Mist ergeben 15 600 «= 7800 Doppel¬
zentner Stroh 4 4,50 Fr. = 35 100 Fr.
Es bleiben Dünger, reiner Rest, 31 200 Zentner zu 45 Fr.
per 50 Zentner
28
080
»>
Totalrest per Monat:
63
180
Fr.
Ausgaben: Totalbeschäfti^ung für 4 Städte 20 Ar¬
beiter per Monat =
2
400
Fr.
Fuhre für 46 800 Zentner 4 10 Fr. per Zentner
9
630
>1
Zins für 4 Lagerhäuser
1
500
»r
Auslagen für Geräte und sonstiges
1
000
»>
14
530
Fr.
600 Gruben kosten monatlich
4
000
f»
18
530
Fr!
Bilanz: 63 180 Fr. Einnahmen,
18 530 „ Ausgaben,
44 650 Fr. Reingewinn.
Ein anderes Exposö rechnete mit 63 000 Zentner, ergab 130 580 Fr.
Wert und hatte 22 000 Fr. Unkosten verzeichnet.
Durch glänzendere Ergebnisse hätte Namlos seine Geschäftstüchtig¬
keit nicht beweisen können! Er schloß seine Verträge auf den Monat März
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130
Jörgcr,
1913 ab. In einem Vorort Zürichs mietete er einen leerstehenden Lager¬
schuppen, wo der Fabrikbetrieb auch tatsächlich begann.
Er verpflichtete sich noch einen Arbeiter, dem er 80 Rp. die Stundo¬
versprach. Der mußte an verschiedenen Orten die in den Verträgen fest¬
gesetzte Stallreinigung morgens zwischen 5 und 6 Uhr vornehmen und
den Mist aufladen helfen. Während 4 Tagen war er auch in der Fabrik
beschäftigt, hatte dort aus dem Mist das Stroh auszusondern und dasselbe
an der Sonne zu dörren und dann auf einen Haufen zu legen. Da die
maschinellen Einrichtungen noch nicht vorhanden waren, kaufte er sich
im Aufträge seines Arbeitsherrn aus eigenem Gelde eine Mistgabel und
bezahlte einem andern Mistarbeiter auch 2 Fr. So wurden 6—8 Fuhren
in den ersten Tages des Betriebes verarbeitet und .vom sortierten Mist
bereits einem benachbarten Landwirt verkauft.
Auch Namlos habe sich 14 Tage in seiner Fabrik aufgehalten und
mitgearbeitet. Tragischeres Los konnte wohl einem Poeten nicht pas¬
sieren, daß er, statt auf herrlichem Pegasus in die himmlischen Weiten
der Kunst zu reiten, den Mist klappriger Erdengäule im perlenden Schweiße
seines Angesichtes sortierte.
Dies gräßliche Geschick nahm auch recht bald ein Ende. Die Gärtner
in Zürich waren mit dem nötigen Dünger in kürzester Zeit versorgt; auch
die Bauern, die ihn kaufen wollten, waren nicht so leicht aufzutreiben,
andere Leute hatten keine Verwendung für dies köstliche Produkt, und
der Dichter selbst wollte in seiner Fabrik keine Berge davon türmen, uni
auf ihnen mit den Musen zu kosen, und er ließ darum einfach den Mist
dort liegen, wo er ursprünglich hinfiel.
Des waren aber die Lieferanten nicht zufrieden, weil sich infolgedessen
der Dünger bei ihnen aufhäufte, da der Poet ihn nicht abholen ließ.
Die Fuhrhalter reklamierten, weil sta morgens ihre bestellten Wagen
schickten, die aber niemand belud. Die Arbeiter reklamierten, weil keine
Geräte vorhanden waren und ihnen die Fuhrhalter wüst sagten, wenn sie
den Mist nicht wegschaffen konnten. Ein Vertrag nach dem andern wurde
gekündigt, eine Klage nach der andern' lief bei der Bezirksanwaltschaft ein,
und ehe noch der Frühling ins Land geflossen, w^ar aus dem Mistgeschäft
dem Dichter eine Untersuchungshaft erblüht, aus der er aber bald wieder
entlassen wurde.
Alles bisher Dargestellte war das Wichtigste aus den Leiden und
Freuden unseres Dichters, Schriftstellers und Düngerfabrikanten, ehe er
in die Klinik zur Beobachtung kam.
Namlos trat am 18. 11. 1915 in diese ein. Er war bei der Aufnahme
höflich, zeigte sich völlig orientiert über die Situation. Er glaube krank
zu sein, da das ihm zur Last gelegte Delikt in einem so enormen Kontrast
zu seiner bisherigen Lebensführung stehe, daß er denken müsse, er sei
krank. Er sei Schriftsteller, arbeite zugleich an 5 dramatischen W'erken,
sei früher Schauspieler gewesen, habe die schwersten Rollen mit Erfolg
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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 131
gespielt, er verfüge eben nicht nur über stimmliche, sondern auch über
geistige Qualitäten, was bei Schauspielern selten sei, da darunter die größten
Idioten die besten Stellen hätten. Sein Lieblingsphilosoph sei Nietzsche.
Körperlich fiel nichts an ihm auf. Namlos war ein mittelgroßer,
schlank gebauter Jüngling, hatte fein gekämmtes, blondes Haar, hellblaue
Augen, ein blasses, glattrasiertes, scharfzügiges Gesicht. Er hatte das
Tun und Benehmen eines weit- und formgewandten Menschen, er sprach
ein reines und gewähltes Hochdeutsch, denn seitdem er in Berlin gewesen,
war ihm sein heimatlicher Schweizerdialekt ein Greuel. Sein Handeln war
ruhig, gemessen, so wie einer, der in vornehmer Erhabenheit weiß, was er
ist und bedeutet.
Jede Untersuchung entsprach ihm einer Causerie, wie man sie im
Kaffeehaus führt, vielleicht in einem schöngeistigen Cercle von Künstlern
und Literaten. Er saß in lässiger, vornehmer Eleganz hin, schlug die
Beine übereinander und wußte alsbald mit großer Gewandtheit über jeg¬
liches Ding, vor allem über Kunst, Künstler und psychologische Themata
in fremdwortreichen, gewählten Reden eine lange Unterhaltung zu führen
und zu leiten.
Mit auffallender Offenheit berichtete er alles über seine Persönlich¬
keit, ohne weiteres erzählte er von seinen äußeren und seelischen Erleb¬
nissen, von seinem Werdegang als Künstler, von seinen Kämpfen und
Seelenqualen. Seine Dichtergröße war ihm unumstößliche Tatsache,
mochte alles schief gehen, mochte die Welt noch so schlecht an ihm han¬
deln, die sichere Zuversicht auf seine Bestimmung, Berufung und seinen
einstigen Sieg halfen ihm über alles hinweg. Sich als Dichter zu fühlen, gab
ihm folgendes das Recht, das er uns in die Feder diktierte: „Das Bewußtsein,
die Kraft zu haben, was ich mit meinem geistigen Auge und mit meiner
Psyche künstlerisch erlebe, auszudrücken, vor allem aber, das intuitive
Ahnen von künstlerischen Formen, die mich zwingen, auf irgendwelche
Weise sie von mir abzuschütteln, und zwar durch die Niederschrift.“ „Ich
habe das Bewußtsein einer Sonderstellung als Mensch, weil ich weiß, daß
meine Empfindung im Verhältnis zu den Empfindungen anderer schöpfe¬
rischer Menschen in einer persönlichen Eigenart besteht, und weil ich weiß,
daß diese Eigenart meiner Gesichte und meines Seelendaseins die Welt
sind, aus der die dichterische Produktion entspringt, und weil ich darin
ein beglückendes Machtbewußtsein empfinde, das mich in schmerzhafter
Weise von der Wirklichkeit und der Umgebung unterscheidet, mir aber
das Leben um diese eigenartige Welt und des Bewußtseins willen erträglich
und zuweilen auch liebenswert macht.“ Er hat noch nicht entsprechendes
produziert, „weil ich noch kämpfe mit der Form, und weil ich in einer
grausamen Selbstdisziplin, diese Form betreffend, bisher immer zerstörend
auf meine Arbeiten gewirkt habe, aber dennoch erkenne, daß ich künst¬
lerisch vorwärts komme, und daß sich alle Mühsale für mich gelohnt
haben. Ich habe das unumstößliche starke Bewußtsein des Berufenseins
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Jörger,
ohne irgendwelche Abstellungen der Welt gegenüber“ usw. Dieses dichte¬
rische Selbstbekenntnis füllte einige Seiten.
Ein Urteil über seine dichterische Befähigung wagten wir nicht zu
fällen; wie oft ist es, daß die Zeitgenossen nur Hohn und mitleidigen Spott
hatten für einen Künstler, den erst die Nachwelt bewundernd feiert. Wir
setzen darum aus dem ersten Kapitel eines Romans, den Namlos als sein
Hauptwerk bezeichnete, einige Proben zur Beurteilung durch den ge¬
neigten Leser selbst hin. Es enthält dies Kapitel aus „Balthasar Heftis
Werdegang“ die einfache Tatsache, daß der Held des Stückes „an einem
der ersten erwachenden Vorfrühlingstage“, „an einem so zweifelhaften
und doch ein wenig hoffnungsreichen Morgen“, „am Ende eines harten
Winters, dessen letztes Röcheln kaum verendet war“, in die Ferien geht
und von Zürich per Dampfschwalbe nach Erlenbach fährt. Von Kilchberg
schien es, als müßten Konrad Ferdinand Meyers „wasserblaue, halykonische
Augen sich mit dem Seespiegel verschmelzen oder Zwiesprache führen“:
Heftis „vitaler Geist hatte trotz der wiederholten Lektüre des tiefsinnig
und weltlich-bürgerlichen „Grünen Heinrich“ zu der nüchternen Formen¬
kunst und vielleicht reineren Klassizität des einsam stolzen Kilch-
bergers seinen Weg gefunden. Und diese erfreuliche Erkenntnis sollte an
diesem Morgen nur ihre zeitliche Bestätigung finden, und nur in einem
Dichterherzen konnte dieses Geschehnis eine so jähe Gefühlserregung
hervorrufen, daß er für eine Weile, aller Erdenschwere enthoben, mit
seinem eigenen Phantasiegeblüt in höheren Hemisphären schwebte“.
„Über dem Säntis stieg die Sonne in gelber Glut zum Himmel, die Schäfer¬
wolken am südlichen Horizont verschwammen im Azur des Morgens, und
die Glarneralpen erhoben sich mit segantinischer Plastik aus dem Dunst
der Dämmerung“. „Balthasar Hefti wurde ans Zeitliche erinnert.“ „Das
unscheinbare Männlein am Bug des Schiffes“ „gewahrte nun zu seinem
nicht geringen Erstaunen, daß noch einige fremde Allerweltsmenschen es
gewagt hatten, ins Frühlingswetter hinauszufahren, während es in der
noch winterlich toten Stadt und im Hotelfoyer zu langweilig war“. „An
diesem Morgen vergaß er die Skrupeln seiner eidgenössischen Gesinnung
und liebäugelte in weltmännischer Gelassenheit mit den schlank gewachse¬
nen Söhnen Amerikas.“ „In dem strengen, plastischen Ausdruck ihrer
Gesichtsformen glaubte er die gemeisterte Geistigkeit einer reineren Rasse
und in diesen lichtumsonnten Augen den anakreontischen Frohsinn der
Zukunftsmenschen zu erblicken, ja es schien ihm, als müßten diese freien
Söhne Kaliforniens über alle kleinlichen Ränkespinnereien des bürgerlichen
Lebens erhaben sein.“ „Eine Dame befand sich nun auch bei dieser über¬
seeischen Gruppe“, die mit „vornehmer Neugier das Männlein musterte,
und ihre märchenhaft träumerischen Augen an seiner niedlichen Gestalt
weidete, wie an einem Dürerschen Bilde, das die Lieblichkeit selbst
darstellt, während der Duft der Historia schon seine Geistigkeit ver¬
klärt hat“.
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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 133
# Da fuhr die Schwalbe in Erlenbach an. „Die Amerikaner schleuder¬
ten ihre hageren Glieder vornehm lässig über das Trittbrett des morschen
Steges, und die Dame trippelte in einigem Abstand hinter ihnen her über
das unangenehme Verbindungsvehikel.“ Balthasar Hefti ließ seine „glück¬
blinzelnden Augen auf dem Oval des schönen Weibes spielen, herumirren
und versinken, als stünde er wieder wie vergangenen Sommer im Palazzo
Pitti vor dem anmutverklärten Botticellischen Frauenkopf, nur mit dem
Unterschiede, daß es jetzt lebendig und in einem zauberischen Frühlings-
rnorgen zu pulsierendem Leben erwacht war, um ihm die Sinne zu ver¬
wirren mit dem fleischlichen Atem seiner Nähe, seiner greifbaren Schönheit.
So geschah es, daß er im Sturme einer jäh aufsteigenden Aspiration so
etwas wie eine Verzeihung stammelte, mit der Hand an die breite Schlapp¬
hutkrempe griff und im Verlauf einiger sinnverwirrenden Sekunden mit
der schönen Dame in ein veritables Gespräch verwickelt war, aus dem es,
so schien ihm, für seine preisgegebene Männlichkeit keine Rettung mehr
gab. Aber die jetzt mit dreifacher Milde lächelnden und liebreiz verheißen -
den Augen setzten ihn bald über die nachhinkenden Bedenken hinweg“.
„So war der erste Schritt zu einer Anbahnung einer neuen Gemütsbeziehung
in aller Schlichtheit vollzogen, und was sich des ferneren ereignen wird,
sind nur die natürlichen Wechselwirkungen zweier grundverschiedener
Menschenkinder, die sich auf dem Lebensweg ihres jungen, sehnsüchtigen
Dranges und in einer besonderen Stunde gefunden haben.“
Vielleicht interessiert es den werten Leser, auch noch das Gedicht
„Glyzene“ zu lesen, mit dem Namlos seinerzeit, als er von Berlin zurück¬
kehrte, den ersten „Erfolg“ errang.
Glyzene.
(Indisches Gedicht aus dem Jahre 1913.)
Glyzene meines frühlingsmilden Traumes:
Glyzene, Indiens allerschlankste Tulpe.
Düfteschwangrer Wind am Gangesufer
Dehnte deiner Glieder weiche Formen.
Deine Wangen, o Glyzene, glühten
Und du lächeltest, wie nur die Blumen,
Wenn sie lieben, lächeln mögen.
Und du schwiegest, wie die Bläue überm Eden,
Wenn sie trunken und voll Liebe träumet,
Wenn die Tropensonne deine Schwestern überflutet.
Meines Heizens Süchte und dein Gleißen
Und die Seufzer eines sel’gen Wander’s
Gingen in dem schwülen Abend unter
Unberührt, jungfräulich und phantastisch.
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Jörger,
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Meine Wünsche und das süße Schwingen
Einer halb betörten trunk’nen Stunde
Glitten aus dem Traumland, o Glyzene
In das starre Licht Europens Sonne.
O Glyzene meiner hellen Tagei
Warum lliehtest du aus Indiens Fluren
In das Nordland deiner blonden Haare?
Warum bist du schlankste aller Blumen
Mir gleich in das süchtge Licht gestiegen,
Das dir blendet deine zarten Augen
Und du weinest ob* des Tages Lügen?
Weine nicht Glyzene meiner Tagei
Lächle wie die blonden fernen Schwestern
In dem Himmelsgarten deiner Heimat
Und wie Menschen, die sich glücklich wähnen.
Bewundernswert die Bescheidenheit eines Dichters, der die Publi¬
kation des Gedichtes allein als „Erfolg“ betitelt!
Er fühlte sich in erster Linie Flaubert am nächsten, aber auch Mau-
passant und Oskar Wilde standen ihm nicht ferne. Unausgesprochen,
aber doch der einzig richtige Vergleich war der mit Goethe.
Technisch schien uns—wenn wir eine kleine Meinung wagen durften —
die göttliche Länge der Sätze und Perioden an Kleist zu erinnern, und
darum kamen Untersuchungen zu keinem Ende, weil alles mit epischer
Breite und Umständlichkeit umschrieben und dargestellt wurde, und man
am Schlüsse noch nicht wußte, was Namlos eigentlich gemeint hatte.
Aber es kommt schließlich nicht auf die Form an, sondern den Geist,
den sie umschließt. Da wir selbst keine Dichter sind, um über hohe Kunst
ein richtiges Urteil zu haben, so unterhielten wir uns mit Namlos auch
über anderes. Es seien hier einige Proben aus diesen Gesprächen zitiert:
„Frühling und Sommer sind bedingt durch die verschiedenen Sonnen-
und Erdstellungen zueinander, dadurch verändern sich die klimatischen
Verhältnisse der Atmosphäre, indem die Sonne weniger Wärme ausstrahlt.
Das langsame Zurückweichen der Erdwärme ist ein Parallelismus zum
langsamen Zurückweichen der Sonne zur Erde.“ Er habe seiner Zeit
das Kant-Laplacesche System studiert. Aber da es lange her ist, ist er¬
klärlich, daß die Stellung und Bewegung der Himmelskörper ihm nicht
mehr so ganz klar sind und er die Tages- und Jahresdrehungen der
Erde durcheinanderwirft.
Auch in irdischer Geographie gerät er leicht abseits; in der Richtung
Zürich—Rapperswil geht es vorzüglich bis nach Sargans, dann aber kann
er die Richtung nur mit Mühe einhalten, kommt ins bayerische Alpenland,
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 135
wirft Görz und Verona, Bologna und Mailand usw. durcheinander. Auf
einer stummen Karte kann er die Grenzen des Kantons Freiburg nicht
umfahren.
Napoleon hat ihm als Parvenunatur imponiert, er schätzt seine Leb-
zeit um ca. 1700, weiß dann, daß er vor Goethe lebte, der 1830 starb.
Irgendein wichtiges Ereignis aus Napoleons Leben kann er nicht angeben,
außer daß er mit größter Rücksichtslosigkeit die Völker seinen Zwecken
opferte. Elba ist ihm St. Helena und St. Helena Elba, wo die Inseln liegen,
ist nicht weniger unklar usw.
1291 war die „erste definitive Konstitution“ des Bundes der Eid¬
genossen, zu dem damals Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus und Bern
gehörten. Circa ums Jahr 1000 lebte Wilhelm Teil „friedlich seinen Weg,
ein guter, dummer Mensch“. Er erlebte dann die Affäre mit Geßler von
Grüningen regelrecht nach Schiller. Was seither in unserem lieben Hel-
vetien noch geschehen, hat den Dichter Namlos nicht mehr berührt.
Darum hat er auch keine blasse Ahnung über Zweck, Zusammensetzung,
Zahl usw. des Bundes-, Stände- und Nationalrates wie auch anderer eid¬
genössischer oder kantonaler Behörden.
über Christus wußte unser Poet folgendes zu berichten: „Der Heiland
lebte ungefähr 500 Jahre nach der griechischen Blütezeit. Unsere Zeit¬
rechnung, von der Geburt Christi an gezählt, dürfte etwa zu der Zeit, da
Paulus in Rom predigte, begonnen haben. Christus hat als Prophet der
Menschheit durch seine Handlungen das neue Evangelium verkündet, er
hat uns die lebendige Kraft Gottes in seinen Handlungen gezeigt, indem
er sich als Sohn Gottes ausgab und somit auch mit göttlichen Kräften
geweiht war und das Volk Israel aus dem Dunkel seines religiösen Zu¬
standes befreite.“
„Die Pharisäer kreuzigten Christus, weil er sich als Sohn Gottes aus¬
gab, weil er ihre tote, dogmatische Wissenschaft mit seinen Handlungen
widerlegte und sie als Heuchler hinstellte und er ihnen sagte, daß sie Buße
tun müßten. Christus ist gestorben für die Idee seiner neuen Ideale. Er
ist gestorben, weil die Konsequenzen seiner Lehre ihn vernichtet haben.
Er ist der Erlöser, er hat uns von der Schuld des Unglaubens erlöst!“
Trotz aller dieser schönen und trefflichen Phrasen, die nach außen
hin sehr richtig sind, konnte aber Namlos auch auf langes Fragen nicht
angeben, wo der Kernpunkt der ganzen Erlösungslehre liegt, nämlich im
Opfer für die Schuld des Sündenfalles. Und besser konnte unser Poet die
Auffassung und Verarbeitung eines Begriffes nicht dokumentieren, als
wie er oben unsere Zeitrechnung und das Leben Christi in Zusammenhang
brachte.
Das hinderte ihn aber nicht, über Psychologie und Psychanalyse zu
sprechen, zumal da er bei Freud in Wien empfangen worden sein will.
Das Fundamentale der ganzen Lehre Freuds sei, ins Unterbewußtsein ein-
dringen zu können. „Das Unterbewußtsein ist meines Erachtens das
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Jörger,
schlummernde. unbewußte Seelenleben in chaotischem Zustande des
Gehirns. Ich .lenke mir dieses als eine Kugel, in der das Unterbewußtsein
ist. Alle Sinneseindrücke sind hier gebannt. Die Kugel wäre ein psychi¬
scher Raum, und der l. bergang aus dieser Kugel zum Oberbewußtsein
wäre die psychische Zeit. Das Mittel dieses Überganges ist der Traum.
Alle Gefühle des Unterbewußtseins sind für den Menschen tot. solange sie
nicht durch eine Reizung geweckt und durch den Traum zur psychischen
Zeit werden. Psychische Zeit ist das Produkt des Überganges eines Ge¬
fühles oder Gedankens des ünterbewußtseins in den Zustand des Traumes
oder des Oberbewußtseins. Theoretisch ist der Traum eine Loslösung und
Widerspiegelung eines unterbewußten Gefühls. Der Traum ist die un¬
willkürliche Betätigung des Gehirns und unterscheidet sich von dem Ober¬
bewußtsein in den meisten Fällen durch das Fehlen einer Kontrolle durch
den Verstand des Träumenden. Es gibt allerdings Fälle, wo der Träumende
im Traume selbst retlektiert. ihn verstellt oder abändert, nach seiner schein¬
baren Willkür gestaltet, aber diese Traumart ist m. E. nur typisch und
das Kennzeichen für hervorragende Intelligenz.“
Wie die Anführungszeichen zeigen, ist dies ein wörtlich wieder¬
gegebenes Diktat unseres Dichters. Er stellte sich überhaupt seine dichte¬
rischen Themata in die Lösung irgendeines psychologischen Problems.
Und er ging so sehr in der Psychologie auf, daß er seinem eben ernannten
Vormund angab, er leide an ,.psycho-physischem Paralellismus“. Diese
neue Krankheit entsprang bei ihm, wie er erklärte, der Beobachtung, daß
er jedesmal, wenn eine Depression sein Gemüt psychisch bedrückte, auch
physisch Schmerzen empfand, in Form von Rheumatismus! —
Vielleicht sind Begriffe, die seinem hohen Berufe inneliegen, klarer?
Es definiert darum unser Poet, „der gewohnt sei, streng dramatisch
zu fühlen“, den tragischen Helden folgendermaßen: „Der tragische Held
ist das leidende Wesen, die Konsequenz einer Handlung, die zu seinen
Ungunsten endet, und die in ihm durch menschliche Einflüsse und Schick¬
sale und eigene Fehler Leiden machen.“ „Ödipus ist tragisch, weil er
seine Mutter geliebt hat, ohne es zu wissen, und weil die sittliche Kon¬
sequenz in ihm nachher diese Liebe wider seinen Willen zerstörte.“
„Lyrisch ist die Einfachheit eines Gefühls ohne Komplikationen,
das von außen oder von innen auf den künstlerischen Geist einwirkt und
in demselben eine Stimmung auslöst, die eine ruhige Melodie oder ein un¬
kompliziertes Moment in seiner Reinheit und Tiefe darstellt und in seiner na¬
iven Empfindungsweise unmittelbar zum Herzen drängt. Ich betrachte die
Lyrik künstlerisch und seelisch als die einfachste, vielleicht auch naivste
dichterische Form, die auch ohne qualitative Fähigkeiten, sprachliches
Ausdrucksvermögen usw. möglich ist und in ihrer Art das Einfache,
Schlichte, Persönliche des Menschen äußern kann. Die Poesie hat ihren
Ursprung in dem primitiven Volkslied, und ihre höchste Entwicklung ist
wiederum in einer reinen Primitivität des Ausdrucks erreicht worden —
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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 137
z. B. Goethe — das Heideröschen —. Meine Ansicht ist die, daß jede
lyrische Betätigung einem unschuldigen Dilettantismus entspringt, nur
bei künstlerisch stark begabten Menschen das Niveau des Durchschnittes
übersteigt, und viele Menschen, die sehr lyrisch begabt sind und dort
Künstlerisches erreicht haben, sind meines Erachtens als Dichter, wenn sie
nicht auf andern Gebieten, Prosa, Novelle, Homogenes erreicht haben,
keine eigentlichen Dichter, sondern nur Gelegenheitsdichter, deren Be¬
gabung entweder aus dem Volksliede hervorging“ (sic!).
Vielleicht ist ein geneigter Leser Fachmann und kann eher beur¬
teilen, ob diese Definition dem Begriff des Lyrischen entsprechend sei. Auf
jeden Fall ist sie recht tief in ein schwer zu durchdringendes Gewirr bom¬
bastisch aufgeschossenen Phrasengesträuchs verborgen. Sie ist für den
Leser nicht recht klar, und noch weniger hat man den Eindruck, daß
sie dem Dichter selbst klar sei.
Kehren wir uns zur prosaischen Realität, die möglicherweise dem
Dichter geläufiger war. Er möge etwas von der Dampfmaschine sagen, und
er berichtet: Eine Dampfmaschine „beruht auf der treibenden Kraft des
siedenden Wassers, d. h. der Dampf sucht sich zu verdrängen (sic!) und
bewirkt durch Einschließung einen Druck an die Wände eines verschlossenen
Raumes, der dann durch die Öffnung in lebendige Kraft umgewandelt
wird“. „Am Ort der Öffnung, wo der Dampf ausströmt, muß die Ma¬
schinerie angebracht werden.“ — „Kupfer ist ein Metall. Ich glaube, die
Gelehrten wissen es selbst nicht, denn ich habe einmal im „Caf§ Terrasse“
einem sehr gelehrten Gespräch mit Prof. W. zugehört, in dem man sich
stritt, warum es Elektrizität leite.“
Ebenso kann er nicht plausibel erklären, warum man Vorfenster hat.
„Es ist geschützterl“, aber warum, weiß er nicht, usw.
Wir könnten noch verschiedene Proben aus dem Wissen unseres
Dichters anführen, aber es dürfte genügen. Mit überlegenem Lächeln
bezeichnet er dies alles als einen Wissenskram, der einen großen Dichter
nur belästige. Auch Goethe habe z. B. nicht gewußt, was eine Lerche
sei, er habe es eben in den Gesprächen mit Eckermann gelesen.
Auf was seine Düngerfabrikation aufgebaut war, haben wir oben
schon dargestellt, und ebenso, was er zu seinen verschiedenen Taten zu
bemerken hat. Es schien, als ob die Dinge, je konkreter sie waren, ihm
um so ferner lagen.
In der Klinik war Namlos’ Stimmung stets eine gleichmäßig ruhige,
lächelnd überlegene, gefaßte, selbstbewußte. Auf ihr spielten Affekte,
freilich nicht sehr ausgiebig, nicht weil sie ungenügend stark waren, sondern
weil des Dichters würdevolles Benehmen sie unterdrücken mußte. Er
vermochte über den Unsinn seiner Düngerfabrikation zu lachen, „sie werde
ihn sein Leben lang als eine lächerliche Episode verfolgen“. Es berührte
ihn unangenehm, sein Wissen so minim sehen zu müssen, auch wenn es
äußerlich durch das überlegene Lächeln und den Vergleich mit Goethe
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Jörger.
verdeckt wurde. Er verlor seine Fassung ganz und gar, errötete zornig
verlegen und weinte schmerzvolle Tränen, als er nach einer Reihe längerer
Unterredungen merkte und erfahren mußte, daß wir von seiner Künstler¬
schaft gar nicht berührt und überzeugt waren, daß wir ihn nicht für einen
Dichter, aber wohl eher für einen Schwindler halten mochten.
Unerschöpflich war seine Phantasie. Alles wußte er in wohlgesetzter
Rede aufs schönste auszuschmücken und zu berichten. Alles strahlte
im Abglanz seiner dichterischen Persönlichkeit und wurde vom modern¬
sten psychologischen Standpunkt aus betrachtet und erfaßt. Im Dienste
dieser Dichterpersönlichkeit modelte er auch alles um und setzte es sich
zurecht. Seine Liebesverhältnisse wuchsen sich aus zu den Beziehungen
literarischer und künstlerischer Art nach den besten Vorbildern der Welt¬
geschichte. Er hatte mit allen Größen verkehrt: Schnitzler, der Dichter,
ist ihm gewogen, bei Freud, dem berühmten Psychologen, geht er zu Gast,
er verkehrt in Berlin mit Moissi und Reinhard; Maler und Künstler sind
seine Bekannten, dieser und jener hat die besten Urteile über seine Tätig¬
keit; indische Fürsten empfangen ihn usw.
Ähnlich in seinen geschäftlichen Beziehungen.
An den Funktionen seines Gedächtnisses war uns nichts aufgefallen.
Über seine moralischen Qualitäten war zu sagen, daß er nicht als
moralisch defekt bezeichnet werden konnte. Aber weil sein Verstand
klein, seine überbrodelnde Phantasie im Verhältnis dazu übergroß war,
ermangelte er der Einsicht in seine Handlungen.
Wir fanden keine Anhaltpunkte für krankhafte Sinnestäuschungen
irgendwelcher Art. Ebenso nicht für krankhafte Wahnideen, wie sie bei
erworbenen Geisteskrankheiten Vorkommen.
Während seines hiesigen Aufenthaltes fiel uns nichts auf im Sinne
einer Periodizität seiner Stimmungslage.
Er beschäftigte sich in der Klinik mit seinen Werken, schrieb uns
zum Beweise seiner Künstlerschaft verschiedene Bruchstücke aus seinen
Schöpfungen auf, ein bestimmt gegebenes Thema novellistisch zu bear¬
beiten, gelang ihm in mindestens 2 Wochen nicht, die Umstände wirkten
zu lähmend auf sein dichterisches Schaffen. Begreiflich und verzeihlich!
Körperlicher Arbeit schien er sehr abhold zu sein, jeder Anlauf brach am
1. Tage in quälendem „Rheumatismus“ zusammen.
Dieser Fall fügt sich trefflich zum erst beschriebenen. Beide Jüng¬
linge treten in einer sich vorphantasierten Persönlichkeit auf. der eine
als „Doktor“, der andere unter der Firma „Schriftsteller“.
Beide besitzen eine sehr große Fähigkeit der Rede und des Auf¬
tretens, beide verbergen dahinter eine fast unglaubliche Unklarheit.
Oberflächlichkeit und Leere der Auffassung; ihre Begriffe sind ohne
Abgrenzung, gasförmig, unfaßbar. Der reale Untergrund dessen, mit
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 139
dein die beiden operieren, ihre Rolle durchführen, die Leute blenden
und bestechen, ist eine zerfließende hohle Blase, über welche eine viel¬
versprechende Sauce großartiger Redegewandtheit gegossen ist.
Dem Doktor kommt eine gewisse technische Fähigkeit in seinem
Berufe zuhilfe, und der Schriftsteller ersetzt dies durch Pose.
Der Doktor wie der Schriftsteller scheitern. Jeder hat einen
praktischen Beruf, den er ausüben kann, der ihn ehrlich durchs Leben
zu bringen vermöchte, freilich in bescheidenen Grenzen, der eine als
Buchdrucker, der andere als Zahntechniker. Beide aber lassen sich
durch ihre krankhafte Phantasie und einen ebenso krankhaften Trieb
und Tätigkeitsdrang verleiten, über die Grenzen ihrer Fähigkeiten
weit hinauszugehen und schließlich mit den Gesetzen in Konflikt zu
geraten.
Die Unklarheit und Oberflächlichkeit der Begriffsverarbeitung
zeigt sich beim Dichter Namlos vor allem in seiner Fabrikations¬
gründung.
Mit dem Wunsche, seine Selbständigkeit zu dokumentieren, mehr
oder weniger getrieben von einer Liebesaffäre, greift er die Idee einer
vorteilhafteren Verwertung von Pferdemist auf. Es genügt ihm dazu,
in einer Zeitschrift einmal einen Artikel über ein derartiges chemisches
Verfahren gelesen zu haben, um die Idee zur Tat werden zu lassen.
Ohne jegliche Vorkenntnisse in geschäftlicher und technischer Be¬
ziehung stellt er ein Expose auf, berechnet glänzende Einnahmen und
schließt mit allen Pferdebesitzern der Stadt Verträge ab. Weder weiß
er, ob sein Verfahren überhaupt möglich ist, noch was er dazu braucht,
ob er überhaupt Abnehmer für seine Fabrikationsprodukte finden
wird — dies alles wird nicht im entferntesten in Erwägung gezogen;
irgend jemand im Kaffeehaus hat ihm gesagt, die Idee sei glänzend,
und ein anderer stellte ihm Geld in Aussicht, falls die Fabrik gehe: dies
genügt, um ihn ein riesiges Geschäft inszenieren zu lassen, das monat¬
lich Tausende Franken von Reingewinn abwerfen soll, in dem aber der
einzige Arbeiter noch aus der eigenen Tasche die Werkzeuge beschaffen
muß!
Für ihn war die ganze Geschichte kein Bluff, mit dem er eine
Reihe Leichtgläubiger hineinlegen wollte; die Sache war das ehr¬
lichste Unternehmen, das er in seinem Leben angepackt hatte, und den
größten Schaden trug er selbst in jeder Beziehung davon.
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J ö r g e r,
Auch der Handel mit dem Magenpräparat war auf einer ähnlichen
Denkunklarheit basiert. Er wollte sich goldene Berge damit erwerben
und wußte nicht einmal, aus was es bestand und wie das Mittel herzu¬
stellen wäre.
Die Aussicht, irgend etwas unternehmen zu können, z. B. beim
„Deutsch-Nationalen Weltbund“ beschäftigt zu werden, ließ ihn die
Wirklichkeit der Idee schon als vorhanden erscheinen, der
Plan, Filialen zu gründen, machte ihn zum Leiter derselben.
Noch deutlicher erscheint nun die Unklarheit des Denkens bei
einem dritten Fall, der in seinen Unternehmungen weniger phantastisch
und sich überhebend war als die beiden eben dargestellten Fälle. Um
so deutlicher tritt dafür das Mißverhältnis zwischen Trieb und Kön¬
nen hervor, die Diskrepanz zwischen Scheinen und Sein in den
intellektuellen Fähigkeiten.
3. Der Kaufmann Albert Nichtgenannt hatte außer einer seit 20
Jahren geisteskranken Stiefschwester keine Fälle von psychischer Er¬
krankung in seiner Familie. Als er zur Welt kam, war sein Vater, ein
häßlicher Apotheker, schon 60 Jahre alt. Als Kind war Ungenannt nervös,
litt in den Entwicklungsjahren an Nachtwandeln und war in der Schule
schlecht, zum Teil wohl aus Faulheit. Auch viele Nachhilfestunden trieben
die Leistungen des Jünglings nicht so in die Höhe, daß man ihn hätte
studieren lassen können. Nach der Schulzeit trat er darum in die Lehre
als Drogist, übernahm später die Apotheke des 80jährigen Vaters, machte
eine Drogerie daraus, wurde selbständig und wandelte schließlich seine
Firma in ein Kompagniegeschäft um. Um seinem Geschäft eine solidere
Basis zu geben, heiratete er ein reiches Mädchen, aber schon nach 5 Jahren
ging jeder Teil seine eigenen Wege, ohne freilich zur Scheidung zu schreiten.
Von jeher zeichnete ihn nach Bericht der Schwester eine große Lügen¬
haftigkeit, Feigheit und grenzenlose Gutmütigkeit aus.
Es brannte ihm sein Haus ab, und da schickte er nachher seiner
Schwester eine Ansichtskarte mit der Brandstätte, auf der er nebst einigen
Feuerwehrleuten abgebildet war. Darunter standen die Worte: „Das
größte Brandunglück, das je gesehen wurde“, und er berichtete mündlich
mit Tränen der Rührung, wie selbst die Töchter des reichen Weberei¬
besitzers in Kanonenstiefeln mitten im Trubel hilfreich Hand ans Werk
gelegt hätten, was gar nicht wahr gewesen war.
Seinen Verdienst im Geschäft schätzte er nach seinen Berichten auf
10—20 000 Fr., meist für jeden seiner Teilhaber; er gründete Filialen,
schaffte sich ein Lastauto an, verdoppelte und vervielfachte das Personal,
trieb aber so seine Firma, die früher guten und regelmäßigen Verdienst
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Ober unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 141
geboten hatte, in Konkurs, trotzdem ihm seine Frau 180 000 Fr. gebracht
hatte.
Kurz vor dem Ruin mietete er in der benachbarten Stadt noch
zwei Bureaux, lud seine Verwandten zu Autofahrten ein, berichtete von
seinem neuen Luxusauto und von großartigen Geldgeschäften.
12 Jahre nach der Verheiratung reichte die Frau des Nichtgenannt
Scheidungsklage ein, und obwohl auch sie seit Jahren Beziehungen zu
Angestellten ihres Mannes gehabt hatte, ließ sich Nichtgenannt von dem
Advokaten bereden, alles auf sich zu nehmen, er willigte in sämtliche Ver¬
träge ein und verpflichtete sich, die 180 000 Fr. Frauen vermögen zurück¬
zubezahlen und monatlich für seine Kinder 300 Fr. Alimente zu entrichten.
Nichtgenannt blieb natürlich jegliches schuldig, denn er hatte längst
abgewirtschaftet. Er siedelte nach der Großstadt über, übernahm Ver¬
tretungen, mietete eine Vierzimmerwohnung, nahm eine Haushälterin,
einen Prokuristen und ein Bureaufräulein. Der Betrieb war fidel, herzlich
und sorglos. Autos fuhren vor, Gäste wurden empfangen, der Ruf des
reichen Kaufherrn verbreitete sich bald, seine Haushälterin kaufte Seide
und Samt, er dinierte im Hotel.
Einmal freilich wollte die Sittenpolizei das fröhliche Haus näher
besehen, aber sie zog sich wieder zurück, ohne etwas Tadelnswertes zu
rügen. Bald wollte auch der neidische Klatsch am Glanze des Hauses
nagen, man sprach von unbezahlten Rechnungen und wollte den reichen
Mitteln mißtrauen. Da bezog Nichtgenannt eine andere Wohnung und
gründete eine Lebensmittelgesellschaft „Cerealia“, wurde Direktor der¬
selben, alleiniger Verwaltungsrat und Inhaber. Die stets heruntergelasse¬
nen Rolladen seines Magazins verbargen dessen reich aufgestapelte Vor¬
räte, die 50 Säcke Gerste ausmachten, man nahm an, Kaufmann Nicht¬
genannt mache in Kommission.
Im Drange der Geschäfte vergaß Herr Nichtgenannt immer seinen
Verpflichtungen der geschiedenen Frau und den Kindern gegenüber nach¬
zukommen; darum legte der Anwalt dieser mit Recht Klage ein, zumal
man im Glauben war, er verdiene bei seinem großartigen Betriebe viel Geld.
Alsbald zeigte sich aber die Kehrseite des Bildes: außer Schulden
und 50 Säcken Gerste war nichts da, und es häuften sich auf diese Ent¬
deckung hin Klage um Klage. Es ergab sich, daß er seine Wohnungs¬
mieterin mit Schecks vertröstet hatte, für die fälligen Termine aber keine
Gelder auf der Bank lagen, daß er als Vertreter einer ausländischen Pe¬
troleumfirma die schuldigen Beträge wohl einkassiert, aber nicht weiter¬
gegeben hatte, daß er im Namen von Fabriken als deren angeblicher Ver¬
treter Bestellungen ausgeführt und auf eigene Rechnung weiter verwertet
hatte. Kurz, es kam so viel zusammen, daß Herr Nichtgenannt, der auch
durch ziemlich reichen Alkoholgenuß schon mitgenommen war, schwer
nervös wurde und in der Klinik des Burghölzli Ruhe und Erholung zu
suchen sich gezwungen sah.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. *
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Jörger,
Die Untersuchung und Beobachtung in der Klinik ergab weder för
Dementia praecox noch Epilepsie Anhaltpunkte. Ebenso war ein Suchen
nach Paralyse resultatlos. Im Vordergründe der Symptome stand seine
Willensschwäche, verbunden mit einer Pseudologia phantastica, die ihn
von jung an ausgezeichnet hatte, und für die wir oben, um nicht zu lang
zu werden, nur einige kurze Belege gaben.
Was aber für die vorliegende Arbeit das meiste Interesse beansprucht,
war die Art und Weise, wie seine intellektuellen Fähigkeiten sich äußerten.
Er beschreibt z. B. den Unterschied zwischen Kind und Zwerg
folgendermaßen: „Der Zwerg bleibt, wenn er auch älter wird, verhältnis¬
mäßig immer in der gleichen Größe, währenddem das Kind mit dem Alter
wächst und eine normale Größe durch die fortwährende Entwicklung
erhält. Ein Zwerg (der nicht mehr wächst) mit einem Kinde verglichen:
Ein Kind ist in Gedanken und in den Handlungen stark zurück und 6ieht
noch seiner Entwicklung entgegen. Man kann es gut „defilieren“ (sic!):
ein normales Kind entwickelt sich nach und nach im Geist und im Körper,
und ein ausgewachsener Zwerg, der eventuell die gleiche Größe hat wie ein
kleines Kind, ist im Geist und Körper total entwickelt.“ —
Die Definition wird rein äußerlich schon unklar durch die Länge,
die Wiederholung, die Unverständlichkeit. Der Beisatz „wenn er auch
älter wird“, ist unnötig, denn im Begriff „Zwerg“ ist das „alt“ schon
enthalten. Das gleiche gilt von der Bemerkung in der Klammer („der
nicht mehr wächst“). Beide Nebensätze werden auch unnötig durch die
Formulierung: „Der Zwerg bleibt“. Mit „verhältnismäßig“ will er aus
einem andern Gedankengang das Mißverhältnis zwischen Größe und andern
Eigenschaften, wohl den geistigen, angeben, wendet dann aber dieses
Mißverhältnis nachher falsch an, indem er vom Kinde sagt, „ist in Ge¬
danken und Handlungen stark zurück“. Das Beiwort „normales“
ist wieder aus einem andern Gedankengang hergenommen, indem der
Zwerg nicht normal ist, der Vergleich mit einem normalen Kinde aber
selbstverständlich. Auch „ausgewachsen“ liegt schon im Begriff „Zwerg“,
und der Satz „der eventuell die gleiche Größe hat“ ist überhaupt als der
Ausgangpunkt des Vergleiches, der doch von der Größe bzw. Kleinheit
ausgeht, wieder überflüssig. —
„Ein Strauch ist ein Gebüsch, während der Baum einen Stamm mit
Ästen und Blüten hat.“ — „Strauch“ und „Gebüsch“ ist im Sinne der
Unterschiedsfrage ungefähr das gleiche. Der eigentliche Unterschied, der
..Stamm“, wird beim einen Vergleichsobjekt gar nicht erwähnt, beim
andern nur in der Nebensache und zum Vergleich nicht ausgenutzt, dafür
aber der Hauptwert auf „Äste und Blüten“ gelegt, was keine Vergleichs¬
eigenschaft ist, da auch der Strauch oder das Gebüsch „Äste und Blüten“
hat. —
„Die gegenwärtige Kriegslage (März 1916): Deutschland, Österreich,
Japan und Türkei gegen Frankreich, Rußland, Serbien, England und
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Ober unklares Denken und Psendologie bei Verhältnisblödsinn. 143
Portugal. Die jetzige Situation ist die, daß seit Kriegsbeginn kein großer
Fortschritt erklärt werden kann, als daß eine Unmasse militärpflichtiger
Personen zum Opfer gefallen sind.“ — Einmal zeigt diese Antwort, wie ober¬
flächlich und unklar auch aktuelle Dinge aufgefaßt werden, die sonst jeden
Menschen, gar von dem Tätigkeitsdrang und dem Unternehmergeist
des Nichtgenannt, interessieren. „Japan“ ist am falschen Orte aufgezählt
und ist inhaltlich gleichgültig. Ebenso ist „Portugal“ für die Beant¬
wortung der Frage gleichgültig, es wird nur hergesagt, weil es gerade in
'den Zeitungen steht, dafür aber werden Italien, Belgien, Montenegro, deren
Anteilnahme am Kriege gerade für uns eine viel wichtigere Bedeutung
hatte, nicht erwähnt. Von den großen Ereignissen wird nichts genannt.
„Fortschritt erklären“ ist schwülstig, vom Biertisch hergenommen, im
Zusammenhang der Examensituation deplaciert, ersetzt wohl den Aus¬
druck „man kann sagen“. Das Wort „militärpflichtig“ ist in diesem Ge¬
dankengang, der von Krieg spricht, in erster Linie selbstverständlich,
weil jeder sofort in diesem Zusammenhang an „Militär“ assoziiert. In der
Zusammenstellung mit „Personen“ wirkt es dann wieder unvollständig
und verwaschen, weil mit „Personen“ die „Zivilisten“ in die Nähe des
Gedankengangs gerückt werden. Es sollte darum wohl heißen „militär¬
pflichtige und andere Personen“ zum Opfer gefallen.
„Petroleum ist Rohöl, das aus der Erde gewonnen wird. Es kommt
aus Gegenden, wo viel Steinkohle, wo verkohlter Boden ist. Steinkohlen,
sind in der Erde verbrannte, verkohlte Steine, davon ist schon der Name,
in den Gegenden, wo gewisse Gasentwicklung existiert. Es ist ein Ver¬
brennungsprozeß von Substanzen in der Erde. Die Erde ist gashaltig und
die Gruben, und mit den Jahren und mit dem Druck sind feste Erdmassen
und Steine eben verbrannt.“ Bei dieser Antwort ist nicht zu vergessen,
daß Nichtgenannt mit Petroleum und Benzin Engrosgeschäfte betrieb.
Dann auch, daß er als Sohn eines gebildeten Apothekers eine Reihe physi¬
kalischer und chemischer Begriffe kennen mußte. Dies zeigt auch der
Gebrauch von „Verbrennungsprozeß“, „Gasentwicklung“, „Druck“ usw.
Trotzdem hat er die Assoziation von der Unverbrennbarkeit des Bodens
und der Steine nicht, und erklärt er „Steinkohle“ den einzelnen Begriffen
der Wortzusammensetzung nach, wie höchstens einer tun kann, wenn er
zum ersten Male mit diesem Wort zusammenstößt und von „Stein¬
kohle“ in keiner Richtung eine Ahnung hat.
Ein bestes Beispiel ist folgende Antwort: „Katholisch ist gleich¬
bedeutend mit „konservativ“; die vertreten den katholischen Glauben.
Bei den Protestanten hat es Liberale, Demokraten, aber auf der konserva¬
tiven Seite hat es auch Demokraten. Sozialisten hat es bei den Konserva¬
tiven und bei den Protestanten. Juden sind vom hebräischen Stamm;
dort gibt es keine Konservative“ (letzteres mit herzlichem Lachen, weil
ihm die entsprechende Frage wohl gar zu naiv vorkamI).
Ein langer Kommentar ist da nicht nötig. Nichtgenannt lebte immer
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144
Jöiger,'
in einer paritätischen Gemeinde und in einer eifrig politisierenden Gegend,
machte selbst sicher schon als Handelsmann ex officio in politicis eifrigst
mit. Trotzdem konnte er die Begriffe „katholisch“ und „protestantisch“
nicht so verarbeiten, um zu begreifen, daß sie mit politischen Parteien
im Grunde gar nichts zu tun haben; anderseits wieder ist ihm nicht bewußt
geworden, daß es Vertreter von beiden Konfessionen bei den Liberalen wie
bei den Demokraten, Konservativen und Sozialisten geben kann und gibt.
Daß in „Juden“ ein Religionsbegriff ist, wollte er mit „vom hebräischen
Stamm“ ausdrücken und wohl einen Gegensatz gegen „Christen“ bilden.
Weil er „konservativ“ und „katholisch“ gleichsetzt, kommt ihm darum die
Frage lachhaft vor, ob es bei den Juden auch „Konservative“ gebe. Dafür
hat er aber nicht gemerkt, daß alle politischen Parteien bei den Juden
vertreten sein können, eben weil „Juden“ ein religiöser Begriff ist, der
wieder mit den politischen Richtungen und Bekenntnissen nichts zu tun hat.
Noch einige Antworten aus seinem Fachgebiet als Drogist und Ge¬
hilfe in der Apotheke seines Vaters. „Spiritus ist ein Destillat aus Kar¬
toffeln. Es gibt auch denaturierten Spiritus, der nur einfach destilliert ist.“
„Destillation ist ein Auszug von einer Frucht oder einer Pflanze ver¬
mittelst Weingeist. Es kann auch gewöhnliches Quellwasser überdestilliert
oder ausgezogen werden. Dazu braucht man keinen Weingeist (lachend 1).
Es bleiben die Salze zurück.“ — Hier sind eine Reihe von Begriffen, die
er praktisch gelernt, deren eigentlichen Inhalt er aber nicht verarbeitet hat.
So nimmt er vom „Destillat“ nicht das Wesen des Verdampfens und Über¬
führens, sondern einen Nebenfall, bei dem zuerst ein alkoholisches Extrakt
hergestellt wird, und verallgemeinert damit. Anderseits weiß er aber, daß
bei der Destillation von Wasser der Weingeist nicht in Betracht kommt, •
kann aber daraus nicht folgern, daß darum nicht der Weingeist, sondern
etwas anderes das Wesentliche der „Destillation“ sein muß. —
Unterschied zwischen Tinktur und Destillat: „Tinktur wird auf
kaltem Wege bereitet, während bei der Destillation die Zubereitung per
Dampf oder per Holz- oder Kohlenfeuerung, je nach dem System, vor sich
geht.“ Nach der Formulierung seiner Antwort kann „Tinktur“ mit „De¬
stillation“ nicht mehr verglichen werden. „Tinktur“ ist der fertige Zustand,
der mit dem Prozeß in „Destillation“ verglichen wird. Der Kernpunkt
des Unterschiedes, die Extraktion, wird aber nicht gegeben, dafür wird
ein Bestandteil beim Prozeß der Destillation in den Vordergrund gehoben,
nämlich „Dampf oder Holz- oder Kohlenfeuerung“. Beim Vergleich ist
die Art der Wärmeerzeugung ganz unwesentlich, die Häufung der Aus¬
drücke wird schwülstig, zudem ist die Reihe „Dampf — Holz — Kohle“
keine gegensätzliche Reihe. —
„An der Dampfmaschine ist der Kolben die Hauptsache, worin der
Dampf „gewechselt“ wird.“
„Dampf ist aus gekochtem Wasser, er wird erzeugt durch Erhitzen
von Wasser. Wenn das Wasser kocht, entsteht schon Dampf bei 40—50°;
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Yerhältnisblödsinn. 145
2 . B. in einem Baderaum wird die Decke naß vom Dampf. 60—70° ist
der Siedepunkt. Das Wasser gefriert bei 10° Kälte.“ Die letzten Zitate
brauchen nach den obigen keiner weiteren Bemerkungen.
Die oben angeführten und kommentierten drei Fälle zeigen beson¬
ders deutlich das „unklare Denken“, das den Verhältnisblödsinn zu
begleiten pflegt. Einmal operieren diese Leute mit Begriffen und
Worten, denen ein reales Wissen gar nicht entspricht. Wenn der
„Kaufmann“ als Sohn eines Apothekers und als Drogist und Handels¬
mann mit ausgedehntem Geschäft von Petroleum, von Steinkohlen,
von Destillat und Tinktur spricht, so sollte man füglich annehmen
können, daß er seiner Bildung und Stellung gemäß die Dinge auch
einigermaßen verstehe, von denen er redet, und auch die entsprechen¬
den chemischen und physikalischen Kenntnisse, die etwa drum und
dran hängen, beherrsche. Dies ist aber nicht der Fall, er manövriert
freilich in größter Sicherheit mit den Worten herum, hinter ihnen
steckt aber kein Wissen und kein abgegrenzter Begriff.
Nichtgenannt konnte freilich bei vielem, das er gefragt wurde,
behaupten, er habe es längst vergessen, z. B. Tatsachen des allge¬
meinen Wissens, Tellsage, Religionsfragen, Geographie usw. Hätte
•er es wirklich nur vergessen, so müßte er die nicht vergessenen Bruch¬
stücke wenigstens in richtiger Art und Weise darstellen und die Un¬
sicherheit zeigen, die man halb entschwundenen Dingen gegenüber hat.
Dem ist aber nicht so; was vorgebracht wird, erscheint mit der Sicher¬
heit des festen Besitztums und zeigt, daß nicht nur das Übriggebliebene,
sondern auch das Vergessene nur ungenau, nebelhaft aufgefaßt und be¬
griffen worden ist. Darum auch das „Vergessen“ so vieler Tatsachen,
die sonst sogar zum geistigen Besitz selbst des einfachsten und unge¬
bildetsten Mannes gehören!
Die gleiche Unklarheit der Begriffsauffassung und Verarbeitung
erscheint auch bei den Dingen, die ihn alltäglich umgeben, und mit
denen er jederzeit arbeiten muß. Es sei nur nochmals auf seine De¬
finition von „Baum“ und „Strauch“ hingewiesen, auf seine Ausein¬
andersetzungen über „katholisch und reformiert“.
Bei solchen Leuten mit unklarem Denken wird zur Regel, was
• jeder Klardenkende schon ausnahmsweise an sich beobachtet haben
wird: man hört oder liest irgend in flüchtiger Weise ein Fremdwort,
piaßt es nur halb auf und trägt es so unverarbeitet mit sich herum.
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146
Jörger,
Der Normale versichert sich nun des Wortes bei der nächsten Gelegen¬
heit und nimmt es in richtigen und dauernden Besitz, oder aber er tut
es nicht und schleppt es geniert als Ballast mit, den er sich nie recht
zu gebrauchen getraut, weil er seiner nicht sicher ist. Leute mit un¬
klarem Denken aber versichern sich des schlecht aufgefaßten Begriffes
nicht, weil ihnen das Gefühl der Unsicherheit mangelt, und sie genieren
sich darum auch nicht, den Begriff nur halb oder gar nicht verstanden
zu gebrauchen.
Alle die beschriebenen Fälle erscheinen klinisch in erster Linie
nicht als Imbezille, sondern als Pseudologen und Verhältnisblödsinnige,
worüber später noch einiges gesagt werden soll.
Ihre Unklarheit des Denkens und der Auffassung ist für unser
jetziges Wissen ganz analog derjenigen Störung, die oft bei erethischen
Imbezillen vorkommt.
Als Beispiel dienen Bruchstücke aus der Kenntnisprüfung bei
einem 15jährigen Knaben.
4. Aus der Krankengeschichte des Hermann Bleng war zu be¬
merken, daß der Vater Potator gewesen, die Mutter nervös und Geschwister
an Tuberkulose leidend.
Körperlich war der Junge für sein Alter sehr hoch aufgeschossen,
zeigte sonst nichts Auffälliges. In der Schule mußte er 2mal sitzen bleiben;
er war in letzter Zeit faul geworden, oberflächlich, flüchtig, gehorchte nicht
mehr, machte eine Reihe loser Streiche, lief weg und stahl an mehreren
Orten Geld und allerlei Kleinigkeiten, auch eine Uhr. Die Zustände zu
Hause wurden unhaltbar, und schließlich sahen sich die Behörden veran¬
laßt, den Psychiater um Beobachtung und Rat zu bitten.
Der Knabe hielt sich in der Klinik gut. Er zeigte sich munter, auf¬
geweckt, tätig. Eine genauere Prüfung seiner Kenntnisse und geistigen
Fähigkeiten ergab, daß, abgesehen von wenig entwickelten moralischen
Gefühlen, er als debil zu bezeichnen war. Es kam dabei, wie die folgenden
Beispiele zeigen werden, auch hier die unklare, oberflächliche, verwischte
Auffassung der Dinge zutage.
Von Wilhelm Teil berichtete der Knabe folgendes wörtlich Notierte:
„Wilhelm Teil und sein Bruder schritten einst durch einen Fußweg. Sie
sahen, daß an einer Stange Geßlers Hut aufgehängt war. Der Knabe
sagte zu Wilhelm, was das bedeuten sollte, der Hut auf der Stange, der
Vater sagte, Geßler hat gesagt: Wer diesen Weg durchzog, muß sich vor
ihm beugen. Wilhelm Teil neigte sich aber nicht. Hinter dem Gesträuch
waren ein paar Kriegsknechte, sie nahmen Teil gefangen und führten ihn
vor Geßler. Geßler befahl dem Wilhelm Teil sein Bruder Walter ein Apfel
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über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 147
vom Haupte zu schießen: „Ich mußte meinem Bruder so ein gefährliches
Ding in den Kopf schießen. Mein Blut soll fließen, nicht Walters!“ Er
nahm die Flinte und schoß. Glücklich war der Pfeil durch den Apfel.
Mit lautem Jubel wurde Teil begrüßt. Der Geßler befahl einige Kriegs¬
leute (sic!), sie sollen ihn auf Küsnacht mit dem Schiff überführen und
dort in den Keller werfen, weil er den Hut nicht gegrüßt hatte, und weil
er nun den Apfel getroffen hatte, kam er noch in den Kerker“ usw.
Nicht nur zeigte es sich, daß er die Geschichte bloß teilweise ver¬
standen hatte, sondern daß er die Begriffe Flinte und Armbrust ver¬
wechselte, trotzdem er von beiden wußte, was sie bedeuten. Ebenso machte
er ein Durcheinander aus den Persönlichkeiten der Geschichte. Er wußte,
daß Wilhelm Teil der Vater des Knaben war, dem er den Apfel vom Haupte
schoß, zugleich mußte ihm aber auch vorschweben, daß es ein Bruderpaar
Walter und Wilhelm gab, und darum setzte er in einer Erzählung „Bruder“
für „Vater“, ohne es zu merken.
Ähnliches zeigte der Knabe auch ein andermal, da er von Jesus be¬
richten sollte: „Der Jesus ist auf einem Spaziergang gewesen und ist ver¬
raten worden von einem Juden. Sie führten ihn dann vor Petrus und
zeigten ihn an und verleugneten ihn. Petrus fand aber keine Schuld an
ihm. Petrus rief: Jesus, sollen wir mit dem Schwerte dreinhauen,nahm
das Schwert aus der Scheide und hieb einem Soldaten ein Ohr ab. Jesus
heilte es wieder. Petrus schickte Jesus dann zu Pilatus. Der fand auch
keine Schuld und geht auf die Treppe und rief: Ich finde keine Schuld.
Die Juden riefen: Jesus habe den Knechten gesagt, sie wollen alle kleinen
Kinder von den Weibern wegnehmen. Jesus wurde dann in einem Keller
gepeitscht und die Kleider beraubt. Sie zogen ihm einen Purpurmantel
an, damit sie ihn auslachen können, und eine Dornenkrone auf den Kopf
gesetzt. Das war das Leiden Christi. Sie taten es, weil sie gesagt haben,
' er sei der König der Juden. Sie ziehen ihn vor das Volk, spien ihn an und
schlugen ihn. Die Juden hatten noch mehr an ihm machen wollen und
führten ihn vor Petrus und fragten ihn, was muß ich jetzt machen mit
diesem Menschen. Die Juden riefen: Kreuzigen ihn, kreuzigen ihn. Petrus
sagte: Ich muß so einen Menschen, so einen unschuldigen Menschen
kreuzigen lassen, und sagte, sie sollen mit ihm zu Pilatus gehen, und er
' sagte, er gebe ihnen die Erlaubnis zu kreuzigen. Nun wurde er genommen
und mußte das schwere Kreuz auf die Schulter nehmen und ging auf den
^ Klavarienberg“ usw.
Aus dieser Erzählung geht hervor, daß der Fehler nicht in einem
^' mangelhaften Gedächtnis liegt, dagegen spricht schon die Menge der vor-
" gebrachten Details. Diese sind aber ungenau aufgefaßt und werden unver-
r J Ständen mehr gefühlsmäßig als in einer durch den Verstand kontrollierten
'"^Reihenfolge wieder zusammengesetzt und vorgebracht.
'* Schon äußerlich zeigt sich die Unschärfe der Begriffsauffassung.
: ‘ üinem deutschgeborenen Knaben von 15 Jahren, der am Endo der Volks-
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148
Jörger,
Schulzeit steht, passieren sonst keine solche grammatikalischen Fehler,
wie sie oben in Menge wiedergegeben sind. Ähnlich wie er die grammati¬
kalische Wortbildung mangelhaft verarbeitet, hat er auch Worte selbst
unrichtig und nur oberflächlich erfaßt und sagt darum u. a. „Klavarien-
berg“.
Inhaltlich vermischt er die Personen des Petrus und Pilatus. Er
vermengt den bethlehemitischen Kindermord des Herodes in die An¬
klagen gegen Christus, schiebt aber den Ausspruch vom „König der Juden“
den Juden selbst in den Mund. Dies sind Begriffe, die gleichsam klang¬
lich aufgelesen wurden, die aber unverarbeitet und unverstanden blieben
und darum in falscher Zusammensetzung, oft sogar in sinnloser Zu¬
sammenstellung wiedergegeben werden.
Diese Störung der Auffassung der Verarbeitung von Begriffen ist
dem gleichzusetzen, was der Kaufmann tat, wenn er „katholisch“ und
„konservativ“ zusammenstellt, wenn der Schriftsteller von „höheren
Hemisphären“ schreibt, der Doktor seine Dissertation über Radium und
Emanation zusammenschmiert, Büchners Philosoph über die Vor-
sokratiker sich ausläßt und Bleulers „Naturheiler“ seine medizinischen
Schriften verfaßt.
Diese Störung bleibt aber nicht nur bei theoretischen Dingen stehen,
sie greift ins praktische Leben hinein und macht sich auch in den Werken
und Taten unsrer Helden bemerkbar. Durch sie wurde das „Schweiz.
Institut für Naturdüngervertrieb“ gegründet, die Gesellschaft „Cerealia“
konstituiert, die kosmetischen Operationen des „Doktors“ ausgeführt und
die Pläne für die „Nobles lettres de France“ verfaßt.
Dies unklare, man möchte sagen nur anfangende, aber nicht
vollendende Denken, dem gleichsam in der Zielrichtung zu wenige, in
den Nebenwegen zu viele nebensächliche oder gar falsche Assoziationen
zur Verfügung stehen, nähert die gewöhnlichste Erscheinungsweise des
Verhältnisblödsinns der erethischen Oligophrenie. Diese beiden
Krankheiten haben außerdem noch einige Eigentümlichkeiten gemein¬
sam, namentlich die Aktivität.
Unsere Fälle zeigen auch deutlich das Mißverhältnis zwischen
Wollen und Können. Der eine will Großkaufmann werden, gründet
Filialen, vermehrt sein Personal und kauft Automobile, er kann aber
nicht einmal das vom Vater übernommene Geschäft führen und halten.
Der Doktor will Arzt sein, es genügen seine praktischen Fähigkeiten
kaum zum Zahntechniker, und der Schriftsteller will ein Geschäft
gründen, er kann aber nicht einmal die primitivsten Grundlagen für
seine Gründung verstehen.
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 149
Das Aktive und Tätige in ihnen ist nun nicht so stark entwickelt
und nicht so geartet, daß man daraus eine chronisch submanische Ver¬
stimmung konstruieren könnte. Wenigstens war in der Anstalt bei
keinem dieser Fälle diese Diagnose zu machen; möglich aber, daß
draußen im Leben in ungehemmter Bewegungsfreiheit manische Züge
zu beobachten gewesen wären. Immer muß bei diesen Leuten etwas
laufen. Pläne über Pläne werden geschmiedet und entworfen und so
und so viele davon ausgeführt.
Kommen sie zur Tat, zeigt sich bald, daß das Streben einer ge¬
nügenden intellektuellen Leitung entbehrt; diese Leute scheitern über
kurz oder lang im praktischen Leben. Alle drei unserer Helden kommen
mit den Gesetzen in Konflikt, sie hatten sich größerer oder kleinerer Be¬
trügereien schuldig gemacht, nur zum kleinen Teil in doloser Absicht; sie
hatten, selbst von der Güte ihrer Pläne überzeugt, mit ihrer glänzenden
Beredsamkeit auch andere davon zu überzeugen vermocht, und diese
gaben ihr Geld oder unterschrieben Verträge für die gewinnverheißende
Sache.
Während nun Bleuler auf dieses Scheitern im praktischen Leben
einen großen Wert legt, möchte Büchner in seinem klinischen Beitrag
dies Symptom in den Hintergrund drängen und legt den Schwerpunkt
auf die Minderwertigkeit der Intelligenz.
Diese ist nun bei den drei beschriebenen Fällen sicher vorhanden:
es handelt sich um angeboren schwachsinnige Leute, die nicht einmal
imstande waren, ein mittleres Wissen eines Sekundaschülers zu be¬
herrschen, sich aber trotzdem den Anschein einer höherwertigen
Intelligenz, den Anschein vom gebildeten Arzt, feinsinnigen Künstler
und großen Geschäftsmann zu geben wußten.
Außerdem erscheint aber bei unseren drei Fällen eine Störung,
die weder Bleuler noch Büchner bei ihrem Material zeigen, die Pseudo¬
logia phantastica. Auf den ersten Anschein hin sind sowohl der
Arzt wie der Schriftsteller und Kaufmann Pseudologen. Sie schwindeln
und phantasieren, leben in ihren Träumen, verfechten sie allenthalben,
zu fremdem und eigenem Schaden, sie können einsehen, daß sie schwin¬
deln, aber nicht davon lassen, selbst dort, wo sie sich dadurch direkt
schaden.
Diese Beobachtungen machen es wahrscheinlich, daß ein Teil der
bisher als Pseudologen beschriebenen Kranken im Bleulerschen Sinne
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Jörger,
Verhältnisblödsinnige waren, ja man muß sich fragen, ob es nicht
bei allen der Fall ist.
Letzteres kann man insofern bejahen, als jeder krankhafte Pseudo¬
loge im Leben daran scheitert, daß seine Phantasie stärker ist als ihre
Zügel 1 ), und so im „Verhältnis“ seiner psychischen Fähigkeiten
abnorm ist. Doch resultiert gerade aus dieser Anomalie nicht etwas,
was man „Blödsinn“ nennen möchte, auch nicht im Sinne Bleulers.
Wir möchten also einen Pseudologen nicht deswegen, weil er Pseudologe
ist, als verhältnisblödsinnig bezeichnen, werden aber festhalten, daß
viele dieser Kranken verhältnisblödsinnig sind, und daß umgekehrt
mancher Verhältnisblödsinn mit Pseudologie verbunden ist. Es handelt
sich um Symptomenkomplexe, die nicht notwendig zusammengehören,
aber offenbar eine so große genetische Verwandtschaft haben, daß sie
in Wirklichkeit sich häufig beim gleichen Individuum finden.
Eine weitere Frage drängt sich auf: Sind die Pseudologen
auch Unklare? Es stehen leider keine genügend weitgehenden
Untersuchungen in dieser Hinsicht zur Verfügung. Allein schon rein
theoretisch betrachtet kann ein Phantast noch so sehr schwindeln, noch
so sehr im Leben durch seine Phantastereien scheitern, braucht aber des¬
wegen nicht unklar zu denken. Er kann wie unser Schriftsteller eine große
Fabrik gründen wollen und sich als Besitzer derselben ausgeben, ohne
daß auch nur ein einziger Ziegelstein seiner Fabrik in Wirklichkeit da ist,
das einzelne aber, die kommerziellen, technischen und chemischen Grund¬
lagen, kann er deshalb gleichwohl vollkommen beherrschen.
Es kam kürzlich ein Fall von Pseudologie in unserer Klinik zur
Begutachtung. Er war draußen unmöglich geworden, indem er sich
als Detektiv aufgespielt hatte, in dieser Eigenschaft Standespersonen
anrempelte, Verhaftungen vornahm, Zeitungen konfiszierte; er schwin¬
delte Fabelhaftes von seinen Geschäften, seinen Millionen, warf Geld
Die letzteren sind nicht ganz einfach zu beschreiben: die Intelli¬
genz im allgemeinen sollte die Verwechslung von Phantasie und Wirklich¬
keit verhindern; außerdem besteht eine für sich wandelbare, also in ge¬
wissen Beziehungen selbständige Funktion, die schon als „Wirklichkeits-
sinn“ bezeichnet worden ist, und wichtig ist natürlich, auch der
Zustand der Affektivität, die durch qualitativ richtige und namentlich
auch durch andauernde Betonung des Dealen ein Sichhingeben an Phanta¬
siegebilde verhindern kann.
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Ober unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 151
mit vollen Händen zum Fenster hinaus, berichtete von seinen Be¬
ziehungen mit den höchsten Kreisen bis hinauf zum Deutschen Kaiser,
war Flugkünstler, Student, Bräutigam usw.
Die Untersuchung ergab keine Anhaltpunkte für eine Dementia
praecox oder Paralyse;- seine Affekte waren durchaus moduliert und
adäquat, und seine Intelligenz war gut, zeigte seiner Bildung und
Lebensstellung ganz entsprechende Kenntnisse und wies vor allem
nichts von der Unklarheit und Unfertigkeit der Auffassung vor, sondern
er wußte genau und klar, was er wollte und tat.
Wie es sich aus dem Verlauf der Krankheit zeigte, war hier die
Pseudologia auf dem Boden einer manischen Verstimmung gewachsen,
die freilich nie so stark gewesen war, daß man sie in der Klinik
während der Beobachtung und aus der Anamnese hätte nachweisen
können. Erst das Eintreten einer Depression mit Suizidideen ließ
später diese Grundlage diagnostizieren.
Liest man die Beschreibungen Delbrücks in seiner grundlegenden
Arbeit über Pseudologia phantastica, so wird man finden, daß er selbst
bei Fall Z. „eine gewisse Art von Schwachsinn“ konstatiert, daß er
bei Fall N. findet: „bei N. stehen Verstand und Phantasie nicht in
rechtem Verhältnis zueinander“, und „daß er trotz verhältnismäßig
guter Urteilsfähigkeit sich kein klares Urteil über seine Lage bildet“.
Es ist nun leider aus der wiedergegebenen Krankengeschichte die
„Unklarheit des Urteils“ nicht ersichtlich und darum nicht erlaubt,
diese Fälle direkt als verhältnisblödsinnig zu bezeichnen, aber man
möchte es doch nach allem gern tun.
Es fehlen auch bei den andern Fällen die entsprechenden Intelli¬
genzprüfungen und somit die Beweise, aber nach allem möchte man
diese hingegen nicht zu den Verhältnisblödsinnigen, sondern in erster
Linie zu den Pseudologen zählen.
Auch den Fall Georg Grün, den mein Vater seinerzeit in der Viertel¬
jahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen
XXVII beschrieb, und der noch in den verschiedensten schweizerischen
Anstalten, u. a. auch im Burghölzli, zu Gaste war, zeigt nichts von
einer Unklarheit des Denkens und der Auffassung der Begriffe. Er
galt allgemein als sehr intelligent, und das einzelne seiner phantasti¬
schen Schwindeleien führte er nach allem sehr klar und zielbewußt aus.
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152
J örge r,
Mein Vater schätzte ihn in intellektueller Beziehung als gut, „ja
sogar über das gewöhnliche Mittel hinaus beanlagt. Das beweisen
außer den Zeugen auch seine ungewöhnlichen Leistungen im Studium
und die tatsächlich vorhandenen achtunggebietenden Kenntnisse auf
'allen Gebieten, über die sich sein bloß lückenhaftes und vielfach
unterbrochenes Studium erstreckt“.
Das Gutachten des Burghölzli bemerkt: „Die Intelligenz des
Exploranden ist eher über dem Durchschnitt stehend. Wir hatten
mehrmals Gelegenheit, ihn in recht komplizierten Diskussionen über
seine verwickelten rechtlichen Verhältnisse mit bewunderungswürdiger
Schärfe und Kaschheit des Denkens reden zu hören. Auch aus seinen
vielen Schreibereien ergibt sich eine völlig von seinem Standpunkt
aus richtige und für ihn vorteilhafte Auffassung der Situation.“
Auch die Begutachter in Basel fanden, daß „seine Auffassung und
Kombinationsfähigkeit entschieden einen überdurchschnittlichen Ent¬
wicklungsgrad“ zeigten.
Es fehlen ja freilich auch in diesem Falle genauere Darstellungen
der Intelligenz- und Kenntnisprüfung. Es ist aber nicht anzunehmen,
daß eine solche Störung, wie sie die Unklarheit des Denkens dar¬
stellt, einer Reihe von psychiatrischen Untersuchern und Beobachtern
entgangen wäre.
Es darf also wohl mit einigem Recht der Fall Georg Grün zu den
reinen Fällen von Pseudologia phantastica gezählt werden, die mit
einem Verhältnisblödsinn nichts zu tun haben.
Ich wäre am Schlüsse meiner Ausführungen. Ich wollte erst nur
einen rein klinischen Beitrag zu der Lehre Bleulers vom „Verhältnis¬
blödsinn“ geben. Es zeigte sich dann aber im Verlaufe der Unter¬
suchung, daß meine Fälle sich durch eine ausgesprochene Pseudologia
phantastica sowohl von den Fällen Bleulers als von denen Büchner s
unterscheiden. Daneben zeigen sie aber auch besonders deutlich das
unklare Denken. Die bisher beschriebenen Formen des Verhältnis-
blödsinns, Pseudologie und unklares Denken bilden eine Gruppe von
Syndromen, die sich so häufig beisammen finden, daß sie eine innere
Verwandtschaft haben müssen.
Ähnliche Beziehungen zu dieser Gruppe hat eine übertriebene
Aktivität bis zu erkennbarer manischer Dauerverstimmung. Sie ist
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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 153
insofern ein notwendiger Bestandteil dieser Verhältnisblödsinnsformen,
als das falsche Verhältnis hier gerade auf der Stärke der Aktivität und
der relativen Schwäche des Verstandes beruht. Sie ist auch notwendig,
um eine bestehende Pseudologia in der Art des beschriebenen Bildes
in die Erscheinung treten zu lassen; denn eine Pseudologie ohne den
Trieb, im Sinne der Phantasiegebilde zu handeln, macht ihren Träger
nur zum Träumer, nicht zum pathologischen Schwindler.
Übergroße Aktivität und Unklarheit haben wir in enger Ver¬
bindung auch bei den meisten'der erethischen Oligophrenien.
Lockerere, aber doch noch recht deutliche Beziehungen, die indes
noch studiert werden sollten, haben alle diese Syndrome auch zu morali¬
schen Defekten und zum hysterischen Symptomenkomplexe.
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Über einen Fall von Hydrocephalus maximus.
Von
Dr. Rudolf Ganter, Wormditt.
Fälle von Hydrocephalus birgt jede Idiotenanstalt, so daß es
einer gewissen Rechtfertigung bedarf, wenn man mit einem derartigen
Falle vor die Öffentlichkeit treten will. Unser Fall ist bemerkenswert
durch sein Alter, die Größe des Schädels, die Degenerationszeichen und
den pathologisch-anatomischen Befund.
F. Sch. wurde am 16. 11. 1872 geboren. Über Erblichkeit weiß seine
Schwester nichts anzugeben. Der Vater ist mit 33 Jahren gestorben, die
Mutter, 76 Jahre^alt, lebt im Armenhause. Pat. hat noch 2 Schwestern,
die älter sind als er. Die eine Schwester starb im Alter von 10 Jahren an
„Wassersucht“, die andere ist 43 Jahre alt, gesund und verheiratet. Die
erste Schwester war eine Zangengeburt, die Entbindung des Pat. dagegen
ging leicht vonstatten. Pat. war bis etwa zum vierten Monat gesund, dann
wurde er schwer krank, hatte große Schmerzen und schrie viel. Allmählich
gingen die Kopfknochen auseinander. Pat. lernte anfangs etwas an der
Hand gehen, die Beine jedoch verkrümmten nach und nach, es bildete sich
ein Buckel aus. Erst nach einigen Jahren lernte Pat. etwas sprechen.
Hören und Sehen war gut, der Verstand schwach, doch war ein gewisses
Erinnerungsvermögen vorhanden. Kein Schulbesuch. Seine Bedürfnisse
meldete er an.
ln die Anstalt aufgenommen am 18. 10. 1913. Kopfumfang 74 cm.
Glabella — Prot. occ. ext. (Bandmaß) 46 cm, Ohr — Ohr (Bandmaß) 43 cm.
Glabella — Prot. occ. ext. (Zirkel) 24 cm, größte Breite 19,5 cm. Haar¬
grenze — Nasenwurzel 10 cm, Länge des Gesichtes 14 cm. Körperlänge
ungefähr 140 cm (Kyphoskl., Kontraktur der Extrem.). Körpergewicht
40 kg. Nasenbeine eingesunken, Nase stumpf, knollig. Große Lidspalte.
Augen etwas vorstehend. Großer Mund, vorstehender Unterkiefer, gutes
Gebiß. Ein großer Zwischenraum zwischen den mittleren oberen Schneide¬
zähnen.
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Uber einen Fall von Hydrocephalos maximus.
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Anthelix wulstig, sehr große, tiefe Concha. Fossa navicularis sich
ins Läppchen fortsetzend, links vom Antitragus unterbrochen. Ohrläppchen
angewachsen.
Starke, nach rechts konvexe Kyphoskoliose. Ober- und Unterschenkel
kontrahiert, aktiv nicht, passiv nur ganz wenig beweglich. Die Oberschenkel
säbelscheidenartig, nach vom konvex, verbogen. Die Flexoren der Ober¬
schenkel sind als derbe Wülste zu fühlen. Die Unterschenkel sind dünn.
Umfang der Oberschenkel in der Mitte 43 cm, der Unterschenkel 26 cm,
Plattfüße, Zehen volarwärts flektiert.
Hals kurz und dick. Haut grobfaltig, geringer Grad von Struma.
Die Kopfhaare sind ziemlich dünn gestellt. Oben auf dem Kopfe fehlen
sie ganz, nur vorn über der Stirn thront eine Kleine Haarinsel. Die Bart¬
haare sprossen reichlich. Die Unterarme und unteres Drittel der Oberarme,
die Beine und die Kreuzbeingegend tierartig mit langen dichten schwarzen
Haaren besetzt. Auf dem Brustbein einige lange Haare, ebenso auf dem
Rücken und der Schulterhöhe. Auch in der Achselhöhle lange schwarze
Haare. Die Pubes zeigen die gleiche Art dichter Behaarung.
Kniereflexe wegen der Kontraktur nicht auslösbar, Fußsohlen¬
reflex Kremaster-, Bauchreflex 0 (fette faltige Bauchdecken). Schmerz -
und Berührungsempfindung +, Pupillenreaktion +.
Pat. sitzt im Bett so, daß die gekrümmten Extremitäten etwas nach
rechts liegen und die Unterschenkel nach rechts hinten außen gerichtet
sind. Beim Sitzen im Lehnstuhl am Tisch ruhen die Beine auf einem hohen
Schemel. Die Arme kann Pat. aktiv etwas bewegen, doch nicht so, daß
er allein zu essen imstande wäre. Die Hände legt er auf den Tisch, ähnlich
wie die artigen Schulkinder auf die Bank. Sein gewaltiges Haupt ruht
gewöhnlich auf der linken Hand. Vorübergehend, wenn man ihn anredet,
hebt er den Kopf. Seine Bedürfnisse meldet er an, nur nachts näßt er ein.
Wenn er zum Sprechen ansetzt, öffnet sich ganz langsam der Mund, langsam
und etwas mühsam kommen auch die wenigen Worte heraus, die er spricht.
Ebenso langsam geht auch der Kauakt vor sich. Die Bewegungen des
Unterkiefers erscheinen dabei viel zu ausgiebig.
Pat. ist im allgemeinen heiteren, zufriedenen Gemüts und freut sich
über Annehmlichkeiten. Als er, mangels eines andern Vehikels, von der
Bahn mit einem Auto in die Anstalt gebracht wurde, erzählte er immer
wieder freudig: „Das war aber hübsch.“ Sein Alter, Ort und Zeit weiß
er nicht anzugeben, wohl aber, woher er kommt. Die gewöhnlichen Gegen¬
stände und die Namen verschiedener Kranken kennt er. Morgens bei der
Visite grüßt er erst dann, den Kopf erhebend und lächelnd, wenn ich ihm
auf die Schulter klopfe oder ihn frage, ob er schlafe: „Nein. Guten Morgen,
Herr Doktor.“ Ob er je aus eigenem Antrieb gesprochen hat, ist mir
zweifelhaft. Seinem Nachbar soll er erzählt haben, was seine Schwester
ihm bei einem Besuch mitgebracht hatte. Als einmal ein Kranker ihn
nach seiner Schwester frug, soll er gesagt haben: „Der Herr Doktor soll
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156
Ganter,
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schreiben, daß seine Schwester ihn besuche.“ Gelegentlich war er auch
verdrießlich: „Ich will nichts von euch haben“, „ich will keinen Kaffee“.
Am meisten scheint ihn geärgert zu haben, wenn er zur Nacht eine Unter¬
lage bekam: „Ich will keine Unterlage, ich mach’ mich nicht naß.“ Diese
Worte wiederholte er dann hintereinander immer wieder, auch nachts,
- wenn er erwachte. Wenn der Pfleger ihn stille sein hieß, wies er ihn ab
mit den Worten: „Was willst du von mir, geh’ weg!“
Anfang Juni 1916 wurde Pat. bettlägerig, aß wenig und starb
schließlich unter zunehmender Benommenheit am 20. 6. 16.
Sektion: Herzmuskel blaßbraun. Hypostase der rechten Lunge,
Emphysem ihres Oberlappens. Atelektase der linken Lunge. Die übrigen
Organe o. B. Organgewichte: Herz 201, rechte Lunge 433, linke 307,
Leber 743, Milz 187, rechte Niere 104, linke 106 g, Körpergewicht 34 kg
(in den letzten 3 Wochen um 6 kg zurückgegangen).
Die Dura haftete in ziemlich großer Ausdehnung am Schädeldach
an, ließ sich aber leicht ablösen. Unter der Dura fand sich über dem linken
Scheitellappen ein handgroßer Blutkuchen von 2—3 cm Dicke, bestehend
aus eingetrockneten roten krümeligen Massen. Die Dura war auch sonst
verdickt und ließ sich an der Basis auffallend leicht ablösen. Das Gehirn
selbst bildete einen großen, schwappenden, etwa 3 1 seröser Flüssigkeit
enthaltenden, 4—5 mm dicken Sack. Die Windungen hatten eine breite
und platte Form angenommen, die Furchen zeichneten sich nur noch als
Linien ab. Balken und große Ganglien waren platt gedrückt. Pia zart.
Gewicht des Gehirns nach Abfluß des Wassers 1129 g. Todesursack’.
Durhämatom.
In manchen Punkten gleicht unser Fall dem von Tuczek und
Gramer veröffentlichten, so auch in der Größe des Schädels 1 ). Wir
haben darum die dort (für das Schädelskelett) angegebenen vielseitigen
Schädelmaße unsern Schädelmessungen zugrunde gelegt. Die von
Tuczek und Gramer gefundenen Maße fügen wir den unsrigen in Klam¬
mern bei.
Schädelumfang:
Horizontaler Umfang ( H): Glabella bis zur Prot. occ. ext. 72 cm (71,2 .
Sagittalumfang ( S ): Von der Sut. naso-lab. bis zum hinteren Rande de ;
Foramen magnum 54 (53,7).
Querumfang (Q): von dem oberen Rande des einen Meatus aud. ext. bi-
zum andern 46 (45,5).
Lineare Maße:
Größte Länge (L): Glabella bis zur Prot. occ. ext. (Zirkel) 23 (23,9).
*) Archiv für Psychiatric 1889, Bd. 20, S. 354.
Go^ 'gle
Original from
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Ober einen Fall von Hydrocephalus maximus.
157
Breite:
Größte Breite ( B ): Interparietaldurchmesser, in unserem Falle mehr nach
vorn gelegen, also Interfrontaldurchmesser 19 (20,3).
Stirnbreite (B'), geringster Abstand der Schläfenlinie am Stirnbein dicht
über der Wurzel der Proc. zygom. 13 (11,7).
Koronarbreite, zwischen den Schnittpunkten der Koronarnaht und der
Linea semicircularis 17 (17,5).
Abstand der Stirnhöcker (rechter mehr ausgebuchtet) 10 (7,3).
Höhe:
Höhe ( H ), von der Mitte des vorderen Randes des Foramen magnum,
senkrecht zur Horizontalebene bis zur Scheitelkurve 16,5 (17,1).
Ohrhöhe (OH), vom oberen Rande des Meatus aud. ext. bis zum senkrecht
darüber stehenden Punkte des Scheitels, senkrecht zur Horizontal¬
ebene des Schädels gemessen 15,5 (15,2).
Länge und Breite der Basis:
Länge (LB), von der Mitte des vorderen Randes des Foramen magnum
bis zur Mitte der Sut. naso-front. 11,5 (11,0).
Breite, Entfernung der Spitzen der beiden Proc. mastoidei 13,0 (12,2).
Lineare Maße des Gesichtsschädels:
Gesichtsbreite (GB), Entfernung der beiden Sut. zygomat.-maxillares, von
ihrem unteren Rande gemessen 9,5 (10,3).
Jochbeinbreite (J), größter Abstand der Jochbogen voneinander 14,5 (15,1).
Gesichtshöhe (GH), von der Mitte der Sut. naso-front. bis zur Mitte des
unteren Randes des Unterkiefers 12 (12,7).
Obere Gesichtshöhe (G' H), von der Mitte der Sut. naso-front. bis zur Mitte
des Alveolarrandes des Oberkiefers zwischen den mittleren Schneide¬
zähnen 8,5 (7,9).
Höhe der Nase (NH), von der Mitte der Sut. naso-front. bis zur Mitte der
oberen Fläche des Nasenstachels 6,0 (3,7).
Breite der Nase (NB), größte Breite der Nasenöffnung 2,6 (3,0).
Breite der Orbita (OJ, größte Breite des Augenhöhlenrandes, in der
Lichtung zwischen den Augenhöhlenrändern gemessen r. 5,0, 1. 4,3
(4,2).
Höhe der Orbita (O,), größte Höhe des Augenhöhlenrandes, senkrecht
zur größten Breite, zwischen den Rändern gemessen 3,8 (r 3,1,
1 3>2) - . „
. Gaumenlänge (G x ), von der Spina nasalis post, bis zur inneren Lamelle
des Alveolarrandes zwischen den mittleren Schneidezähnen 4,7 (5,6).
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI1I. 2/3. 12
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158
Ganter,
Gaumenbreite (G t ), zwischen den inneren Alveolarwänden, an den 2 Mo¬
laren gemessen 3,7 (4,1).
Profillänge des Gesichtes, von dem am meisten vorspringenden Punkt der
Mitte des äußeren Alveolarrandes des Oberkiefers bis zum vorderen
Rande des Foram. raagnum 10,2 (10,1).
Profilwinkel 90° (95°).
öcnaaeiinaizes:
, 100 x 19
Längen-Breitenindex (L:B) -—-= 82,6 (85,6).
Breiten-Höhenindex (B : ff)
Gesichtsindex (GH : GB)
23
100
X
16,5
23
100
X
16,5
19
100 X
12
9,5
= 71,7 (72,1).
= 86,8 (84,2).
= 126,3 (123,3).
100 v ft
Obergesichtsindex ( G'H : GB) — -—— = 89,4 (76,6).
9,5
100 x 12
Jochbreiten-Gesichtsindex (J : GH) -= 82,7 (84,1).
14,5 ’ ’
Jochbreiten-Obergesichtsindex (J : G' H) —- X 8,5 = 58,6 (52,3).
14,5
100 x 3 5
Augenhöhlenindex (O t : O a ) --—— = 70,0 rechts (73,8).
5
100 x 3,5
Nasenindex (NH : NB)
4,3
100 x 2,6
35
= 81,4 links (76,1).
= 74,3 (81,0).
100 X 3 7
Gaurnenindex (G t : G t ) -’ = 78,7 (73,2).
4,7
Gewicht und Schädelinhalt:
Gewicht des Schädels 1210 (1395).
Gewicht des Unterkiefers allein 63 (92).
Gewicht des Schädels ohne Unterkiefer 1147 (1303).
Gewicht des Schädeldaches 527.
Inhalt des Schädels (mit Wasser gemessen) 4000 (3750, mit Erbsen
gemessen).
Zur besseren Veranschaulichung möge den Zahlenangaben ein©
Beschreibung des Schädels folgen:
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Über einen Fall von Hydrocephalns maximns.
169
Zunächst springt am Schädel die gewaltige Ausdehnung der Stirn -
höcker in die Augen, wobei vor allem der rechte sich vorbauscht, während
der linke mehr verstrichen ist. Von der Kranznaht an fällt der Schädel
schräg nach hinten und seitlich ab, so daß man eigentlich kaum von
Scheitelhöckern reden kann. Die größte Breite des Schädels (19 cm)
liegt seitlich an der Kranznaht. Würde man das Schädeldach ohne nähere
Kenntnis der Verhältnisse in die Hand nehmen, so würde man sicher den
hinteren Teil des Daches für die Stirngegend halten. Die Linea nuchae,
die am unteren Rande des Überganges des absteigenden Teiles des Hinter¬
hauptsbeines in den horizontalen Teil liegt, springt stark vor. Dagegen ist
die Prot. occ. ext. nicht besonders ausgebildet. Die ihr entsprechende
Prot. occ. int. liegt auf dem Boden, nicht an der Hinterwand.
Die Stirnnaht ist verstrichen. Über die Höhe des rechten Stirn¬
höckers hinweg zieht eine Naht, die an der rechten Kranznaht, 3 cm vom
Ausgangspunkt der Stirnnaht entfernt, beginnt und über der Mitte der
rechten Orbita endet. Ihre größte Entfernung von der Stirnnaht beträgt
7 cm. Diese Naht schließt offenbar einen großen Schaltknochen ein, der
an der breitesten Stelle bis zur Kranznaht 10 cm mißt, ln der Gegend der
rechten seitlichen Kranznaht sind zahlreiche Schaltknochen eingelagert.
Ebensolche Knochen Anden sich auch im unteren seitlichen Teil der rechten
Hinterhaupt-Scheitelbeinnaht und gegen die Schläfenbeinnaht zu.
Die über den rechten Stirnhöcker verlaufende Naht enthält ein etwa
linsengroßes Emissarium. Ein kleineres liegt am hinteren Ende der Pfeil¬
naht. Zwei kleine, unregelmäßig gestaltete Öffnungen sind im hinteren
seitlichen Teil des linken Scheitelbeins zu sehen.
Das Schädeldach ist, abgesehen von der Umgebung des Sulcus,
mehr oder weniger durchscheinend. Die dickeren Stellen des Sägeschnittes
messen 5, die dünneren 3 mm. Hier Andet sich nur Compacta. Die Im-
pressiones digit. sind nur gering ausgebildet.
Im Innern springt die Crista Galli als dreieckiger Dorn 2 cm vor
und verliert sich erst in der Höhe des Daches. Alle Schädelgruben sind
natürlich vergrößert. Doch ist die hintere verhältnismäßig am größten,
sie nimmt etwa die Hälfte der Basis ein. Auch die Sella turcica ist sehr
breit. Die Öffnungen für den Durchtritt der Nerven sind ebenfalls in die
Breite gezogen.
Große Orbita, rechte etwas breiter. Nasenbeine ziemlich lang
(2,5 cm), so daß die Apertura pyriformis ziemlich niedrig ist (3,5 cm).
Die Zähne des Unterkiefers stehen vor denen des Oberkiefers.
Im ganzen betrachtet erscheint das Gesicht im Vergleich zu dem
gewaltigen Hirnschädel nicht einmal besonders klein, die großen Orbitae
schaffen einen gewissen Ausgleich.
•i’r Der Unterkiefer ist ziemlich niedrig, die Seitenäste laufen breit aus¬
einander (Parabel), der Unterkieferwinkel ist sehr stumpf.
12 *
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160
Ganter,
Glüh und Ritterhaus geben eins Zusammenstellung der in der
Literatur bekanntgewordenen Fälle von Hydrocephahis 1 ). Suchen
wir diejenigen Fälle heraus, die einen Kopfumfang von über 70 cm
und ein Alter von über 30 Jahren auf weisen, so erhalten wir folgende
kleine Tabelle:
Kopfumfang
cm
Alter
Jahre
Autor
88
50
cTAstros.
85
60
Kellner.
83
31
Büttner .
82
30
Weichselbaum.
75
32
Tuczek und Gramer .
74
44
unser Fall.
71
46
RosenthaL
70
38
Christian .
Unter diesen 8 Fällen ist der unsrfge dem Kopfumfang nach der
sechste, dem Alter nach der vierte. Wie die Tabellen von Glüh und
Rüterhans zeigen, erreichen nur recht wenige Fälle mit großem Hydro-
cephalus ein höheres Alter. Die meisten sterben in früher Kindheit,
manche darunter mit einem etwas sagenhaften Kopfumfang. Immer¬
hin ist es merkwürdig, daß da, wo das Gehirn zu einer großen Wasser¬
blase ausgedehnt ist, nicht nur ein höheres Alter erreicht wird, sondern
auch noch ein Fünklein Intelligenz zu glühen vermag.
Unser Pat. besaß ein gewisses Auffassungs- und Erinnerungsver¬
mögen für die alltäglichen Vorgänge seiner Umgebung. Er kannte die
gebräuchlichen Gegenstände und die Namen verschiedener Kranken.
Zeitlich kannte er sich gar nicht, örtlich nur insofern aus, als er wußte,
wo er herkam. Als er einmal in eine andere Anstalt übergeführt und nach
kurzer Zeit wieder zurückgebracht worden war, machte das keinen weiteren
Eindruck auf ihn, nur über das Autofahren äußerte er seine Freude. Hem¬
mend auf seine psychische Entwicklung, wenn eine solche überhaupt
möglich gewesen wäre, mußte auch der Umstand wirken, daß er durch
seine Kontraktur an seinen Platz gefesselt war und sein gewaltiges Haupt
nur für kurze Zeit vom Tisch zu erheben vermochte. Im ganzen legte Pat.
l ) Glüh, Über Hydrozephalie. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Beh. des
jugendl. Schwachsinns, 1912, Bd. 5; Ritterhaus, Zur Frage der Hydro¬
zephalie. Ebenda 1914, Bd. 7.
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Ober einen Fall von Hydrocephalus maximus.
161
«ine große Gleichgültigkeit an den Tag, stellte auch nie selbst eine Frage,
grüßte nur, wenn er dazu angeregt wurde. So bestand sein Leben in einem
ruhigen, zufriedenen, nur gelegentlich von Äußerungen des Mißbehagens
unterbrochenen Hindämmern.
Dem anfänglichen Staunen, daß ein solches Hirn überhaupt noch
eine gewisse Tätigkeit entfalten konnte, machte die Wage ein Endet
1129 g Hirngewicht, ohne Wasser. Das Gewicht liegt also nur 58 g
unter dem Durchschnittsgewicht von 1187 g, das wir bei 16 erwachse¬
nen männlichen Schwachsinnigen gefunden haben. Ja, die Zahl fällt
noch innerhalb des Normalen, denn nach Kaufmann läßt erst das
Gewicht unter 1000 g bei männlichen Individuen mittleren Alters auf
geistige Erkrankung schließen*). Es wird sich also in unserem Falle
kaum um einen Ausfall nervöser Substanz gehandelt haben: diese war
nur ausgereckt. Hierbei scheint allerdings die motorische Funktion
mehr gelitten zu haben als die psychische. Das Gehirn war offenbar
nicht mehr imstande, seinen zügelnden Einfluß auf die Vorderhorn¬
zellen des Rückenmarkes auszuüben, so daß die Muskeln dem spasti¬
schen Zustande mit all seinen Folgeerscheinungen anheimfielen. Die
motorischen Hiranerven hingegen litten weniger, Sprechen und Kauen
war möglich, wenn auch der Apparat mühsam und langsam arbeitete.
Die Sensibilität im ganzen Körper war erhalten. Leider haben wir
die mikroskopische Untersuchung des Nervensystems unterlassen.
Wie mag z. B. die motorische Rinde beschaffen gewesen sein ?
Die meisten Schwierigkeiten in der Hydro cephalusfrage bereitet
die Erklärung über das Zustandekommen des Hydrocephalus. Die
Dehnung einer Hülle kann erfolgen, entweder wenn der Innendruck
zu hoch wird, oder die Hülle zu leicht nachgibt, oder beides eintritt.
Manche nehmen an, daß es durch Verlegen des Foramen Monroi, des
Aquaeductus Sylvii oder des Foramen Magendie zu einer Druck¬
erhöhung im Schädelraum komme. Andere wieder geben auf diese
Verlegung nicht viel, da zum Abfluß des Liquor der Subarachnoideal-
raum genügend Raum gewähre (Kausch). In eine? Reihe von Fällen
spielen Entzündungsvorgänge unzweifelhaft eine Rolle. Weiter suchte
man die Ursache in einer verminderten Widerstandsfähigkeit der
Hemisphären, wodurch bei Hydrocephalus internus die Ventrikel stark
erweitert und die Hirnrinde plattgedrückt würden (Weber). Auch die
infolge von Rachitis auftretende Widerstandslosigkeit der Kopf-
*) Lehrb. der spez. path. Anat. 6. Aufl. Berlin 1911.
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162 Ganter, Über einen Fall von Hydrocephalns m&ximns.
knochen wurde zur Erklärung herangezogen (Huguenin). Schließlich
glaubte man, auf eine Anlageanomalie zurückgreifen zu müssen. Auch
Tuberkulose und Lues sollten eine gewisse Disposition schaffen 1 ).
Was unsem Fall betrifft, so liegt anamnestisch und klinisch nichts
vor, was für den letzteren Punkt spricht. Die Geburt ging ohne Störung
vonstatten. Erst nach einigen Monaten traten krankhafte Erscheinun¬
gen auf: das Kind schrie viel, die Kopfknochen gingen auseinander.
Es handelte sich zweifellos um entzündliche Vorgänge. Man müßte
nun annehmen, daß eine so straffe Haut wie die Dura einer durch die
Entzündungsprodukte angestrebten Ausdehnung beträchtlichen Wider¬
stand entgegensetzen könne. Anders freilich, wenn diese selbst in den
Entzündungsprozeß mit einbezogen wird, oder an sich schon, infolge
einer Bildungsanomalie, weniger Widerstandskraft besitzt. Auch die
Rachitis darf nicht übersehen werden, indem durch sie die Knochen¬
bildung verzögert wird. Und daß unser Patient an einer schweren
Form von Rachitis gelitten hat, beweisen die Kyphoskoliose und die
säbelscheidenartig verkrümmten Oberschenkel. Wie so oft in der
Medizin haben wir es hier nicht nur mit einer Ursache, sondern mit
mehreren zu tun. Die letzte Ursache sehen auch wir in einer Anlage¬
anomalie, und daß eine solche vorhanden war, zeigt die als Degenera¬
tionszeichen anzusprechende abnorme Behaarung des Patienten. Auf
einem solchen ab ovo geschädigten Gewebe finden Entzündungserreger
einen günstigen Nährboden. Es kommt zu einer Meningitis mit Ex¬
sudation und Drucksteigerung. Die Dura gibt nach, sei’s weil sie an
dem Entzündungsprozeß beteiligt ist, sei’s daß sie an sich wenig
Widerstandskraft besitzt. Die Rachitis verzögert die Knochenbildung.
All das wirkt zusammen, und als Ergebnis haben wir den gewaltigen
Hydrocephalus vor uns, wie wir ihn geschildert haben. Ob die bei der
Sektion gefundene Pachymeningitis, die zuletzt durch Bildung eines
Durhämatoms den Tod verursacht hatte, auf die in frühester Kindheit
entstandenen entzündlichen Vorgänge zurückgeführt werden kann,
wagen wir nicht zu entscheiden. Schließlich muß sich der Prozeß recht
ungleich abgespielt haben, da nur die Stirnhöcker, und von diesen
wieder der rechte, jene auffallende Ausbuchtung zeigten, während die
hintere Hälfte des Schädels breit und flach sich abschrägte.
l ) Misch, Zur Ätiologie und Symptomatologie des Hydrocephalus.
Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1914, Bd. 35.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine
Kriegstagung
des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu München
am 21. und 22. September 1916.
Sitzung am 21. September im Hörsaal der psychiatrischen Klinik.
Anwesend die Herren: EArens-Teupitz, Eigner-München, Elt-Ucht-
springe, Andernach-D uisburg, EnAalt-Merxhausen, Est-Conradstein, Bak-
AenAdAler-Aplerbeck, BarAo-Pforzheim, BartscA-Hannover, Becker- Düren,
BendücsoAn-München, BergentAal-Düsseldorf,Berliner-Gießen, Beyer-Roder -
birken, Binswangen- Jena, Birnbaum- Buch, BlanA-München, Böhmig-
Dresden, Roland-Tübingen, Bött iger- H am bürg, Bon Aö^er-Berlin, Bott-
Bamberg, Braunert-Ückermünde, Broxner-München, Brügelmann- Konstanz,
Br üAl-Kiedrich, Brunner-Neuemühle, Bruns- Hannover, Bulassa- Budapest,
BumAe-Breslau, Cimbal- Altona, CoAen-Hamburg, Cohen (Mil.-Arzt), Coüa-
Bethel, DamAöAler-Günzburg, Daniel- Kassel, David {Mil.-Arzt), Dees-
Gabersee, Deet/en-Wilh elmshöhe, RiuAoscA-Obrawalde, Dobrick- Kosten,
Domalip- Pola, Dreschfeld-München, DuAAers-Allenberg, v. Ehrenwall-
Ahrweiler, FicAelAerg-Hedemünden, FisatA-Hall, Fisen-Regensburg, Elias¬
berg (Mil.-Arzt), Engelhardt- Straßburg, Fnnen-Merzig, FrA-Herbom,
Frlenmeyer-Bendorf, Faas- Kutzenberg, FaAricius-Düren, Facklam- Sude-
rode, Filser (Mil.-Arzt), FiscAer-Wiesloch, Flatau-Dresden,Flügge-Bedburg-
Hau, Förster- Berlin, Freund-Breslau, FürnroAr-Nürnberg, Gallus-Potsdam,
Gdupp-Tübingen, GierlicA-Wiesbaden, Goldstern-Frankfurt a. M., Goldstein-
Halle, Gregor- Leipzig, Gro/?-Gleiwitz, Groß- Schussenried, Gudden- München,
GücAel-Nümberg, Güntz-Erfurt, Gutekunst- Weißenau, Haake- Berlin, Haärdt-
Emmendingen, RaniseA-Stettin, Hagmann- Koblenz, //aAn-Frankfurt a. M.,
//aüeroorden-Landsberg a. W., Harlander- Regensburg, Harlwich-E'ickel-
born, Haßmann- Bretten, Hauptmann- Freiburg i. B., Havemann-T apiau,
Haymann- Krcuzlingen, Min.-Dir. ReinA-Dresden, ReinricA-München, Ren-
Ael-Hadamar, Herhold- Breslau, Herfeldt- Ansbach, Hermkes- Eickelborn,
Rerting-Galkhausen, Rewig-Marsberg, Rey/nann-Süchteln, RocAe-Freiburg,
v. Hößlin- Eglflng, RomAurger-Heidelberg, Hübner- Bonn, Hügel- Klingen¬
in ünster, Ipsen- Innsbruck, Jacob- Hamburg, /acoAsoÄn-Berlin, Jirzik-7Aegen-
hals,/olly-Halle, Fästner-München, Kalb-Müller-München, FeAr-Hamburg,
FeArer-Freiburg, Fern-Stuttgart, F irchgraber- München, FlüAer-Erlangen,
Fnörr-Teupitz, FocA-Ingolstadt, Fönig-Bonn, Föster-Flensburg, Kohn-
stamm- Königstein, FoscAella-Stuttgart, Fröpelin-München, Frouse-GehlK-
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164
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
heim, Areuser-Winnental, Laudenheimer- Alsbach, Letunstein-Schöneberg,
Levy-Suhl-Berlin, Lewy- Werneck, Liebermeister- Düren, Liebers- Dösen, Lieb-
mann-Cöln, Zienau-Hamburg, Zalienstein-Nauheim, -Löfcy-Marienbad,
ZuAas-München, ZütgerafA-Neustadt i. Holstein, Mann- Breslau, Mann-
Mannheini, MartAen-Landsberg a. W., Mar<m-Neubabelsberg, Martineck-
Berlin, Mayer-Tübingen, Meier-München, Meier- Köppern, Mendel-Berlin,
Moeli-Berlin, Möller-Zehlendorf, Märchen- Wiesbaden, Münzer-Charlotten¬
burg, jVügeli-Tübingen, iVeißer-Bunzlau, JVeuAaue-Düsseldorf, Nißl-Heidel-
berg, Osman- Konstantinopel, Oster- Konstanz, Payst-Eglfing, Paulus-Eßlin¬
gen, Peltzer- Bremen, Peretti-Grafenberg, P/ei/er-Nietleben, Pfersdorff-Tübin¬
gen, Piltz- Krakau, Pilzecfter-Heidelberg, Plange-München, Plaut-München,
Pönitz-Halle, v. Poray-Madeyske-BrixleB, Prager- Kassel, Prinzing- Kauf¬
beuren, Quensel-Leipzig, v. Rad- Nürnberg, PanAe-Münehen, PeAm-Bremen,
PeAm-München, Reichardt-Würzburg, Reichmann- Königsberg, Reischauer-
Magdeburg, Peiyü-Tübingen, Remertz (im Felde), Repkewitz-Schleswig,
PieietA-Görden, Rieder- Koblenz, Römer- Illenau, Punge-Kiel, Samuel-
Stettin, Sauermann- Merzig, Schäfer-Roda, Schedtler-Merxhausen, Scheiber-
Mainkofen, Scheven-Danzig, Schmidt-Lehe, Schmidt-Platterode, Schmidt-
Sorau, Schnitzer-Stettin, Schröder-Greifswald, iScAröder-Hildesheim, Schulte-
Marsberg, Schultheis - Littenweiler, Schuster- Berlin, Schwabe - Plauen,
NcAwwz-München, Schweighofer-Salzburg, *Seige-Partenkirchen, Sichel-
Frankfurt a. M., «SieAerf-Galkhausen, Siemens- Stettin, iSpielmeyer-München,
Spliedt- Görden, 5tamm-Ilten, Steinberg- Krefeld, Stern-Kiel, Stertz-Breslau,
Stier-Berlin, Stöckle-Lohr, Stöeesanrft-Bremen, Stransky-Wxen, Strasmann-
Düsseldorf, Strüppler-München, Pesdorp/-München, Thumm-Haar, Többen-
Münster, TuezeA-Marburg, V ierzigmann-Regensburg, V ix.-Darmstadt, Vor-
kastner- Greifswald, Fo/?-Düsseldorf, WaeAsmutA-Eichberg, Wagner-Gießen,
Wallenberg-J) anzig, Warda-Blankenburg i. T., WeAer-Chemnitz, Weiler-
München, Weiler- Westend, Weinberger (Mil.-Arzt), Weinland-Zwiefalten,
Werner-Heppenheim, Weygandt- Hamburg, Weyland-Marburg, Wietfeldt-
Kuxhaven, Willige- Halle, Wittgenstein-Kassel, Wörnlein- Sorau, Zinn-
Eberswalde. Zusammen 241 Teilnehmer.
* Am Vorstandtisch: Bonhöffer, Kraepelin, Kreuser, Moeli, Siemens,
Tuczek (verhindert: Laehr).
Schriftführer: Gail-München, Papst-Eglfing.
Der Vorsitzende Moeli-Berlin begrüßt die Versammlung und weist
auf die neuen Aufgaben hin, die durch die Beteiligung großer Massen
an den unmittelbaren Kriegsereignissen für die Psychiatrie erstanden
sind. Die Zeit mahnt, auch hier alle Kräfte einzusetzen. Daher schien
es erwünscht, die in zwei Kriegsjahren gewonnenen Erfahrungen auszu¬
tauschen und sie im Hinblick auf praktisch wichtige Maßregeln und Be¬
stimmungen zu erörtern. Für die Wahl des Ortes und den Zeitpunkt der
Tagung ausschlaggebend war das Entgegenkommen des Vereins deutscher
Nervenärzte, auf der von ihm angesetzten Jahresversammlung eines der
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
165
-wichtigsten Themata gemeinsam zu behandeln. M. spricht den Wunsch
aus, es möge eine gewisse Einheitlichkeit der Auffassung erzielt werden,
die der Allgemeinheit zugute kommen wird.
Sodann gedenkt der Vorsitzende der Verluste, die der Verein seit
seiner letzten Tagung zu beklagen hat. Zunächst nennt er die 11 Mit¬
glieder, von denen bis jetzt bekannt ist, daß sie in treuer Pflichterfüllung
für das Vaterland ihr Leben hingegeben haben. Es sind dies Rud. Bund-
scAuA-Ulenau, Hans Dieckert-Schleswig, Jos. v. ü’Ärenw'aM-Ahrweiler, Hugo
Ermisch- Treptow a. R., Franz Afeimmger-Neustadt (Holstein), Friedr.
Plaseüer- Hall (Tirol), Wilh. Siebert-MarsbeTg, Am. .Stegmann-Dresden,
Vikt. Vogel- Kolditz, G. Zander-Nietleben und ZirAef-Bamberg. „Ihrer
gedenken wir an erster Stelle. Aber es gibt unter uns wohl kaum eine
größere Familie, die nicht einen nahen Angehörigen zu den Opfern zählte,
die der Krieg uns auf erlegt hat. Sie zu nennen vermag ich deshalb nicht,
aber auch den gefallenen Söhnen und Brüdern unserer Mitglieder widmen
wir heute inDankbarkeit undEhrfurcht unser Erinnern.“—Noch29Namen
sind zu nennen, eine lange Reihe, wenn auch seit unserer letzten Zusammen¬
kunft längere Zeit verstrichen ist, als sonst zwischen unseren Jahres¬
sitzungen lag. Besonders müssen wir beklagen, daß neben älteren Mit¬
gliedern, die der Zeit ihren Tribut zahlten, darunter auch eine Anzahl
solcher sich finden, die noch nicht im vorgeschrittenen Alter standen und
die sich wiederholt in schätzenswertester Weise an unseren Besprechungen
beteiligt haben und so ihre wissenschaftliche und praktische Erfahrung
uns unmittelbar zugute kommen ließen: Hofrat Lochner , Dir. d. städt.
Privatanstalt Thonberg b. Leipzig, San.-R. Rob. Walter, Dir. d. Privat¬
anstalt Deutsch-Lissa b. Breslau, Geh. Rat Minist.-Rat a. D. Prof. Hub.
Grashey in München, Prof. Karl Heilbronner in Utrecht, Priv.-Doz. Eugen
Haüervorden in Königsberg, Prof. Robert Thomsen, Dir. d. Hertzschen
Privatanstalt in Bonn, Geh. Med.-Rat Franz Fischer, Dir. d. Landesanstalt
Pforzheim, Geh. Med.-Rat Wilh. Tigges, früherer Dir. des Sachsenbergs,
Oberarzt Ernst Veit in Wuhlgarten, San.-Rat Leopold Laquer in Frankfurt
a. M., Geh. San.-Rat Ad. Knecht, früherer Dir. d. Landesanstalt Ücker¬
münde, Geh. Med.-Rat Prof. Martin Bernhardt in Berlin, Geh. San.-Rat
W. Reiß in Arendsee, San.-Rat A. Lilienfeld in Lichterfelde, Prof. Max
Rothmann in Berlin, Med.-Rat Gust. Rabbas, Dir. d. Pfov.-Anstalt Neu¬
stadt W.-Pr., Hofrat Paul Länderer, früher Leiter d. Privatanstalt Kennen-
burg, Prof. Alois Alzheimer in Breslau, San.-Rat Theod. Schneider, Oberarzt
in Eickelborn, Prof. Max Koppen in Berlin, Paul Schürmann, Dir. d.
Landeshospitals Haina, Priv.-Doz. Ernst Storch in Breslau, Priv.-Doz.
Oberarzt R. Walker in Bern (Waldau), Staatsinspektor Jan van Deventer,
früher Dir. von Meerenberg, San.-Rat Paul Werner, Oberarzt d. Prov.-
Anstalt Andernach, San.-Rat Joh. Longard in Sigmaringen, Oberarzt Luther
in Lauenburg, Med.-Rat Ferd. Karrer, Dir. d. Kreisanstalt Klingenmünster,
u. Obermed.-Rat Dr. Karl Rank, früher Dir. d. Landesanstalt Weißenau.
Zur Ehrung der Toten erhebt sich die Versammlung von den Sitzen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
166
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Der Vorsitzende begrüßt sodann als Ehrengäste die Vertreter des
Sanitätsamts des I. Bayr. Armeekorps Oberstabsärzte Dr. Lucas and
Dr. Schwarz, des Kgl. Sächsischen Ministeriums des Inneren Ministerial¬
direktor Geh. Rat Heink und des Kgl. Preuß. Kriegsministeriums Ober¬
stabsarzt Dr. Martineck. Der preußische Herr Minister des Innern wird
sich ebenfalls berichten lassen.
Moeli teilt ferner mit, daß Geheimrat Laehr am Erscheinen ver¬
hindert ist, die Versammlung herzlich grüßen und ihr guten Verlauf
wünschen läßt. Auch Kollege Rüdin ist zum großen Bedauern durch Er¬
krankung am Erscheinen verhindert. Die Versammlung wünscht ihm
baldige und völlige Genesung.
Begrüßungstelegramme sind eingelaufen von Sanitätshauptmann
Hans Afaier-Bellinzona, Prof. Sommer-Gießen und von der Anstalt Illenau,
ferner ein schriftlicher Gruß des Ehrenmitglieds Geheimrat Schule und
von Prof. Specfa-Erlangen.
Geschäftliche Angelegenheiten waren, da es sich um eine außerordent¬
liche Versammlung handelt, bis zur nächsten ordentlichen Jahresversamm¬
lung zurückgestellt. Nur zwei Punkte wurden kurz erwähnt. 1. Kraepelin
teilt mit, daß die Errichtung eines Forschungsinstitutes für
Psychiatrie finanziell gesichert ist, wenn auch zunächst in bescheidener
Form; bei Ende des Krieges soll es eingerichtet werden. Er bittet, der Sache
weiterhin Interesse entgegenzubringen. Es ist in Aussicht genommen,
daß ein Mitglied des Vereins in das Kuratorium aufgenommen wird.
2. Zu der Anregung des Vorstandes, es möchten die Vorkommnisse an den
einzelnen Anstalten gesammelt werden, um sie nach dem Schlüsse des
Krieges zusammenzustellen und bekanntzumachen (s. diese Zeitschrift
Bd. 72 S. 247—249), schlägt Afayser-Hildburghausen in einer brieflichen Mit¬
teilung vor, in dem in Aussicht gestellten Fragebogen sub IIA zwischen
„Wieviel Kranke im ganzen verpflegt?“ und „Wieviel entlassen?“ sowie
sub II B zwischen 2. und 3. die Frage einzuschalten: „Welche Krankheits¬
formen ?“ Der Einheitlichkeit wegen bei Stellung der Diagnose empfehle
er, das von Vocke ausgearbeitete Schema zu benutzen. Der Vorsitzende
bringt diesen Wunsch zur Kenntnis der Versammlung. Alsdann wird in
die Tagesordnung eingetreten.
Bericht von Bonhöffer- Berlin: Erfahrungen aus dem Kriege
über die Ätiologie psychopathologischer Zustände.
Der Vortr. bespricht die Erschöpfung und Emotion in ihrer
psychopathogenetischen Bedeutung nach den Kriegserfahrungen. Er be¬
richtet zunächst über schwere körperliche Erschöpfungserscheinungen,
wie sie sich bei den kriegsgefangenen Serben fanden. Diese zeigten sich
in schwerster Abmagerung, diffuser Muskclatrophie, Herzdilatation,
Ödemen der unteren Extremitäten, außerordentlicher Schwäche, die in
einzelnen Fällen zu monatelangem Bettliegen führte, gesteigerter Mor¬
bidität und Mortalität, Neigung zu Tuberkulose und schwer heilenden
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Deutscher Verein für Psychiatrie. 167
Phlegmonen und in einer besonders bei den älteren Gefangenen sehr
ausgesprochenen Unfähigkeit zur Erholung.
Es werden sodann einzelne Erschöpfungssymptome auf nervösem
Gebiete, die im Kriege hervorgetreten sind, besprochen: die Mayerhofsche
Feststellung der Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit als
lokale Wulstbildung beim Perkussionsschlag, das Auftreten leicht neuriti-
scher Symptome, die Ermüdungshalluzinationen auf optischem und akusti¬
schem Gebiete.
Das akute nervöse Erschöpfungsbild, wie es sich bei den aus
erschöpfenden Feldzugserlebnissen Eingelieferten zeigt, kennzeichnet sich
zunächst als Schlafsucht mit moroser Verstimmung und dem Gefolge
eines leichten hyperästhetisch-emotionellen Schwächezustandes. Für das
Vorkommen eigentlicher Psychosen als Ausdruck der Erschöpfung — also
für eigentliche Erschöpfungspsychosen — hat der Feldzug keine
Beweise erbracht. Es wird besonders auf das Fehlen von Psychosen bei
den Serben in irgend belangreichen Zahlen hingewiesen.
In zweiter Linie wird di'e pathogenetische Bedeutung der Er¬
schöpfung für die Entwicklung von psychischen und nervösen Erkran¬
kungen anderer Ätiologien untersucht.
Die Entwicklung der zerebrospinalen Lues wird anscheinend durch
Erschöpfungseinflüsse begünstigt. Doch hat Vortragender an seinem
Material keine Beweise dafür gefunden, daß gerade die frisch akquirierte
Lues unter Erschöpfungseinflüssen sich mit Vorliebe am Nervensystem
festsetzt. Mehrfach hat der Vortragende gesehen, daß hinter einer im
Feldzug entwickelten Epilepsie sich eine Lues verbarg, die sonst keine
neurologischen Symptome machte. Eine Verkürzung der Inkubations¬
zeit der progressiven Paralyse infolge Erschöpfung hat der Vor¬
tragende an seinem Material nicht nachweisen können.
Von den emotionellen Faktoren wird zunächst die Schreck¬
emotion besprochen. Als psychischer Ausdruck der Schreckemotion
ist die Bä'/zsche Emotionslähmung zu betrachten. Es wird die patho¬
genetische Bedeutung der bei der Emotionslähmung eintretenden Affekt-
abspaltung und der daran anschließenden intermediären Phase für die
Entwicklung der Granatemotionsneurosen besprochen.
Die als Schreckpsychosen geschilderten Erkrankungen zeigen zumeist
die Kriterien psychogener Erkrankung. Die Emotion der Mobilmachung
hat pathologische Reaktionen bei Psychopathen ausgelöst. Ob bei den
während der Mobilmachungszeit häufiger beobachteten Alkoholdelirien
emotionellen Einflüssen eine Bedeutung zukam, ist dem Vortragenden
zweifelhaft.
Bezüglich der Frage der Bedeutung der Emotion für die Auslösung
endogener und anderer Psychosen wäre das Studium der Aufnahmever¬
hältnisse der Anstalten der Zivilbevölkerung, besonders auch der Frauen¬
stationen, der Sammelorte von Flüchtlingen aus besetzten Gebieten
geboten.
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Xßg Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Eine Zunahme der manisch-depressiven Erkrankungen, die behauptet
wird, ist dem Vortragenden aus eigenem Material nicht bemerkbar ge¬
worden. Dagegen ein häufigeres Auftreten depressiver Reaktionen bei
konstitutionell Depressiven.
Wichtig ist das Verhältnis der Emotion und Erschöpfung zur psycho¬
pathischen Konstitution. Hier sind bemerkenswert gegenüber der relativen
Häufigkeit psychopathischer Reaktionen bei den Armeen aller am Kriege
beteiligten Nationen die geringen Zahlen bei den kriegsgefangenen Serben
und Franzosen. Das weist darauf hin, daß zu den erschöpfenden und
gemütserschütternden Feldzugserlebnissen noch die Anforderungen an die
Willensleistung, die der Krieg mit sich bringt, hinzutreten müssen, um die
krankhaften Reaktionen in größerem Umfange auszulösen. — Der Er¬
schöpfung und Emotion kommt eine vorbereitende Bedeutung zu, sie ver¬
stärken die Labilität der Psychopathen und sie sind auch bei den psychisch
Robusten imstande, vorübergehend einen Zustand herbeizuführen, der der
psychopathischen Konstitution in der Reaktionsweise gleichkommt und
zu episodischen Störungen (pathologische Räusche, Affektkrisen, patho¬
logische Verstimmung usw.) führen kann.
Der Einfluß der Erschöpfung auf den Verlauf körperlicher Er¬
krankungen ist bekannt. Über entsprechende Beobachtungen an Psycho¬
sen hat der Krieg wenig Sicheres gebracht.
Von den Alkoholdelirien ist gesagt worden, daß sie unter Emotions¬
einflüssen schwerer verlaufen. Weygandt spricht von „Kriegsparalyse“
in dem Sinne, daß die im Felde zur Entwicklung gekommenen Paralysen
einen schnelleren Verlauf nehmen. Der Vortragende hält diese Angabe
nach seinen eigenen Erfahrungen noch weiteren Beweismaterials für be¬
dürftig. Der Gesamtüberblick über die Kriegserfahrungen zeigt eine große
W’iderstandfähigkeit des gesunden Gehirns und die Unerheblichkeit der
Erschöpfungs-Emotionseinflüsse auf die Entwicklung eigentlicher Geistes¬
krankheiten. (Ausführliche Mitteilung in dieser Zeitschrift Heft 1, S. 77.)
Besprechung. — Stransky-Wien betont die Notwendigkeit, aus¬
drücklich auszusprechen, daß es „eine Kriegspsychose“ nicht gibt. — ln
der Erschöpfungsfrage ist das Moment der Anpassung zu berücksichtigen,
die eine sehr große Rolle spielt; davon zu sondern ist die Reaktion etwa
auf Infektionen. An eine Erschöpfungsneuritis glaubt Str. nicht. Str.
betont besonders die depressive Erregung und deren Bedeutung zumal
für die Auslösung gewisser pathologischer Affekte (speziell den „Kriegs-
knall“ Stranskys), die auch forensisch von Bedeutung sind; besonders bei
Rückzügen ist sie eine der vorherrschenden Stimmungen. Nach seiner
eigenen Emotionslähmung, die Bonhöffer zitiert hat, war Str. sehr erregt,
ungeduldig u. a. Dies und andere Erscheinungen bildeten das, was Str.
nervöse Reaktion nannte. — Str. sieht jetzt viele Luiker, rezente und alte
Lues, aber wenig Nervenlues oder Paralyse; freilich sind es meist degenera-
live (forensische) Fälle.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
169
Weygandt- Hamburg: Daß bei Dementia praecox trotz endogener
Grundlage auslösende Umstände in Frage kommen, ergibt sich in somati¬
scher Hinsicht für die vielfach im Puerperium ausgebrochenen Fälle. Psy¬
chische Auslösungsfaktoren können bei manchen in der Haft ausgebroche¬
nen Fällen in Betracht gezogen werden. Einzelne Kriegserfahrungen sowie
die Hinweise von Wilmanns und Alt lassen wenigstens die Aufmerksamkeit
auch in jener Richtung für die Kriegsfälle einstellen. —Bei der Abgrenzung
von Dementia praecox und anscheinenden Erschöpfungszuständen kommt
es darauf an, wie hoch man den Wert der Abderhaldenschen Abbaureak¬
tion einschätzt. Galoppierende Verlaufsformen bei Paralyse von Kriegs¬
teilnehmern finden sich in unserem Material wesentlich häufiger als in
Friedensfällen. Das in letzter Zeit zugeflossene Material hat dies weiterhin
bestätigt. Die histologische Nachuntersuchung sicherte die Diagnose;
nur in einem Falle handelt es sich wohl um eine Mischinfektion durch
Kokken, die meningeale Erscheinungen hervorriefen. Daß die Inkuba¬
tionszeit verkürzt würde, war zu verneinen, ebenso wie es auch durch einen
so erfahrenen Autor wie Pilcz geschah.
Zoew’y-Marienbad verweist als Beispiel von Erschöpfungsfolgen auf
das Erlebnis eines Stabsarztes, der nach erschöpfendem Reiten und Hun¬
gern das „Riesenrad“ aus dem Prater, aber feurig, und Zweige von Weih¬
nachtsbäumen sah, ferner auf einen Fall, der ohne persönliche Gefahr in
einer schweren Schlacht nach dreitägigem Munitionsverladen delirant
erkrankte, eine mehrmonatige Verwirrtheit bot, an welche sich ein De¬
pressionsstadium anschloß. Als wichtig betont er auch die Differenz
zwischen der Wirkung des Kleingewehrfeuers und der Artilleriebeschießung;
er bringt als Beispiel die Feuertaufe seines Landsturmregiments durch
plötzlichen, ganz unvermuteten Feuerüberfall in der Nacht mit schwerstem
Kugelregen ohne Artilleriebeschießung und ohne einen Fall von psychischer
Schädigung im Gegensatz zu dem, was wir von der Granatwirkung wissen.
Er bringt dann seine parallele Tabellierung der Symptome und der ätio¬
logischen Momente der Kriegsfälle, welche ausführlich publiziert werden
sollen.
Aschaffenburg-Cöln hält es für einen besonderen Gewinn, daß durch
die Kriegserfahrungen endgültig festgestellt ist, wie wenig die Erschöpfung
zur Entstehung psychisch abnormer Zustände beiträgt. Daß die Anforde¬
rungen des Kriegsdienstes die Kräfte in einer Weise anspannen, die weit
über das hinausgeht, was man für möglich gehalten hat — man denke nur
an die Riesenmärsche ohne ausreichende Nahrung und Schlaf bei dem
Vormarsch in Belgien und in Rußland —, ist nicht zu bezweifeln; aber
gerade in dieser Zeit haben auch schwächliche Menschen, darunter recht
viele Nervöse, allen Strapazen standgehalten, ohne zusammenzubrechen,
ein Beweis, wie sehr psychische Erlebnisse: die Begeisterung und die Freude
über den Erfolg, überwiegon gegenüber den Schädigungen der Überan¬
strengung.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
170
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Gelegentlich eines Besuches an der Front habe ich Truppen, die
unmittelbar aus schwersten Kämpfen zurückkamen, besucht und zum
Teil untersucht, und zwar bevor die Soldaten Gelegenheit hatten, sich
auszuruhen. Von nervösem Zusammenbruch war nichts zu entdecken.
Ich fand sogar eine derartig frische und heitere Stimmung und eine solche
Beweglichkeit und Lebendigkeit, daß ich unwillkürlich an die Erscheinun¬
gen erinnert wurde, die nach körperlicher Anstrengung mittels psycho¬
logischer Experimente nachgewiesen worden sind. Wie man aber auch
diese Beobachtung deuten mag, es hat sich auf alle Fälle im Verlauf dieses
Krieges erwiesen, daß unser Körper und unsere Psyche eine erfreuliche
Befähigung besitzen, sich gegebenen Verhältnissen anzupassen; sie macht
es verständlich, weshalb auf der einen Seite die Soldaten, soweit sie
psychisch gesund sind, trotz der größten Anstrengungen nicht erliegen,
auf der andern Seite in der Ruhe schnell die alte Lebensfrische und
Leistungsfähigkeit wiedergewinnen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß diese glückliche Eigenschaft stets
und immer vorhanden ist; der konstitutionell Nervöse wird leichter zu¬
sammenbrechen als der Gesunde; aber auch ein Gesunder kann schließlich
ans Ende seiner Kräfte gelangen. Dann aber zeigt sich gerade der große
Unterschied: der Gesunde — abgesehen von solchen außergewöhnlichen
Fällen, wie sie Bonhoeffer von den Serben berichtet — kommt schnell
wieder in die Reihe, er schläft seine Erschöpfung aus, und die psychische
Erregung verblaßt bald, während der Nervöse meist schon erheblich
längere Zeit braucht, um körperlich wieder in die Höhe zu kommen, die
psychischen Eindrücke aber erst recht sehr viel langsamer, häufig über¬
haupt nicht mehr überwindet.
Was ich, Bettmann, Weygandt u. a. experimentell nach körperlicher
und geistiger Ermüdung, nach Schlaf- und Nahrungsentziehung gefunden
haben, darf wohl auch heute noch als zutreffend erachtet werden; aber in
der klinischen Verwertung der Ergebnisse unserer Versuche für das Pro¬
blem der Überarbeitung und zur Erklärung der Krankheitsbilder und
Krankheitssymptome sind wir wohl vorsichtiger geworden und in vielem
zu andern Anschauungen gekommen. Meine — von der Doktorarbeit
abgesehen — erste psychiatrische Veröffentlichung behandelte die soge¬
nannten Kollapsdelirien. Die Deutung dieser Zustände als eine eigen¬
artige psychische Reaktionsweise auf schwere körperliche Erschöpfung
war falsch, und ich habe meine Auffassung schon lange zugunsten der
Intoxikationshypothese aufgegeben. Ich habe mich im Laufe der Jahre
mehr und mehr davon überzeugt, daß ernstere psychische Störungen nur
in ganz seltenen Fällen durch körperliche Erschöpfung entstehen, und daß
auch dann den nie ganz fehlenden Gemütserregungen wahrscheinlich die
größere Bedeutung zukommt. Die körperliche Erschöpfung ist nur als ein
besonders geeigneter Boden zu betrachten, auf dem die psychischen Er¬
lebnisse leichter Wurzel schlagen und sich eher in krankhafte Formen um-
gestalten können.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
171
Die Wandlung unserer Auffassungen ist klinisch und praktisch von
außerordentlich großem Wert. Besonders für die Scheidung der kon¬
stitutionellen Nervosität von der akuten Erschöpfung und für die Be¬
handlung der „Neurastheniker“. Ich halte es für überaas erfreulich, daß
man in Zukunft den „Überarbeiteten“, den Nervösen, die glauben, mit
dem „Kapital ihrer Kräfte“ äußerst schonend umgehen zu müssen, und
schließlich auch der allgemeinen Befürchtung, sich durch zu viel Arbeit
schädigen zu können, durch den Hinweis auf die Kriegserfahrungen mit
größerer Sicherheit und erfolgreicher entgegentreten kann.
9. Hößlin Eglfing: In der ausschließlichen Betonung endogener Mo¬
mente gegenüber den exogenen, erschöpfenden und emotionellen Schädlich¬
keiten für das Zustandekommen psychopathologischer Zustände scheint
mir eine Gefahr für die richtige Beurteilung bestimmter krankhafter Er¬
scheinungen zu liegen, namentlich in forensischer Hinsicht. Wenn auch
der Meinung des Berichterstatters insofern beigepflichtet werden kann,
daß Psychosen im engeren Sinne des Begriffes exogenen Ursprungs selten
sein mögen, so entwickeln sich doch nach zahlreichen Beobachtungen, die
ich machen konnte, insbesondere durch akute Schreckwirkung sowohl als
infolge erschöpfender Wirkung lange dauernden Trommelfeuers nicht
selten sowohl bei bis dahin gesunden, als besonders bei Psychopathen
psychische Ausnahmezustände, die die Willensfreiheit der Betreffenden
nicht nur einzuschränken, sonderu gänzlich aufzuheben imstande sind.
Ausnahmezustände können ihrer Natur nach vorübergehend sein, können
sich jedoch auch wiederholen und bei gewissen Vergehen, wie besonders
-unerlaubter Entfernung bzw. Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung und
dergleichen von bestimmender Bedeutung für die Handlungen der Täter
werden.
Gofdsfem-Frankfurt a. M.: Es ist von forensischer Bedeutung im
Trommelfeuer eine hochgradige Apathie, ein starkes Ermüdungsgefühl,
das zum Einschlafen führen kann. Die Pflicht wird mechanisch getan,
die Schaffenskraft braucht nicht herabgesetzt zu sein. Der Puls ist zu¬
nächst beschleunigt und gespannt, später eher verlangsamt. Der Sinn
für die Zeit, für die Abschätzung von Zeitspannen, geht verloren, während
z. B. der Raumsinn gut erhalten bleiben kann. Das Gedächtnis ist im
Trommelfeuer nicht nur für die Zeit desselben vermindert, sondern hinter¬
her oft tagelang im allgemeinen herabgesetzt; die Wortfindung wird er¬
schwert. — Epileptische Anfälle habe ich nach vieljähriger Pause wieder
auftreten sehen. Halluzinationen und Illusionen habe ich besonders bei
Imbezillen beobachtet, was diese Leute natürlich durchaus dienstunfähig
für die vorderen Linien macht. Die Halluzinationen, die ich bei Gas-
vergifteten zu sehen Gelegenheit hatte, glaube ich auf Atropininjektionen
zurückführen zu müssen. Organische Psychosen waren selten, dagegen
traten im Anschluß an Erschöpfung und Schreck hochgradige Verwirrt¬
heitszustände mit vollkommenen Analgesien (auch Amoklaufen) auf. -—
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172 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Neuritis und Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit fand sich
häufig bei stark Erschöpften, bei Typhus abdominalis und Dysenterie.
Weber- Chemnitz: Eine besondere Form der Erschöpfung ist nicht
körperlicher Natur, sondern liegt auf psychischem, speziell intellektuellem
Gebiet: die lange andauernde intellektuelle, zum Teil auch affektive An¬
spannung als Beobachtungsoffizier. Beispiel: Bis dahin gesunder, 33jähri-
ger Offizier, Ballonsportsmann von Haus aus, war 3 Monate im Ballon¬
dienst im Fesselballon. Danach Erkrankung an echt epileptischen An¬
fällen, die etwa alle 2 Monate auftreten. Sie haben insofern einen affekt-
epileptischen Charakter, als die Anfälle besonders dann nachts kommen,
wenn der Patient bei Tag eine affektive Erregung erlitten hat (Nachrichten
aus dem Felde). Der Patient hat eine Gehirnerschütterung durch Sturz
aus dem Ballon im 25. Lebensjahr erlitten, ohne danach an Epilepsie zu
erkranken, und ist jetzt — im 33. Lebensjahr — in einem Alter, in welchem
Epilepsie auf genuinem Boden nicht mehr aufzutreten pflegt.
E. Meyer- Königsberg berichtet von den Flüchtlingen in Ostpreußen.
Ein wesentlicher Einfluß der Erschöpfung und Emotion auf die Entstehung
psychischer Störungen im Sinne der „Erschöpfungspsychosen“ des Frie¬
dens war nicht festzustellen, trotzdem diese Schädigungen sehr stark
waren. M. weist darauf hin, daß in der Diskussion pathologische Reak¬
tionen, psychopathische Konstitutionen und psychische Störungen im
Sinne der „Erschöpfungspsychosen“ nicht genügend getrennt sind. Was
Stransky, v. Hößlin usw. berichtet haben, gehört nach seiner Ansicht durch¬
weg dahin. Einzelbeobachtungen dürfen nicht überschätzt werden.
Rehm- Bremen hat an frisch aus dem Gefecht kommenden Kranken,
welche nach schweren, zum Teil körperlichen, zum Teil psychischen
Schockwirkungen ins Lazarett gebracht wurden, Additionsversuche nach
Kraepelin und Messungen des Pulses und Blutdruckes vorgenommen. Es
hat sich herausg^stellt, daß es sich um eine schwere Ermüdung, Willens¬
störungen und Herabsetzung der Leistungen handelt. Der Puls und Blut¬
druck ist erhöht. Die körperlich schwer Geschädigten und konstitutionell
Nervösen zeigen die ungünstigsten Resultate. Eine Gruppe mit Neigung
zur Erholung steht einer Gruppe mit anscheinend ungünstigen Aus¬
sichten gegenüber.
Hellpach- Karlsruhe beobachtet bei den angeblich „normal“ ge¬
bliebenen Kriegsdiensttuern eine Gruppe von 4 Symptomen, die er als
Elemente der pathologischen Umwandlung des Seelenlebens durch den
Kriegsdienst anspricht: .Gedächtnisschwäche, Interessenstumpfheit, er¬
regtes Traumleben, Stimulantiensucht (namentlich Nikotinismus). Dies
sieht zum Teil nach Erschöpfung aus, ist aber in der Hauptsache Erregungs¬
folge, Folge der chronischen Emotion des Kriegslebens, die selber wieder
Mitursache der schleichenden Erschöpfung ist. Diesen schleichenden
Emotionen als psychogenetischen Ursachen ist mehr Beachtung zu schen¬
ken, da sie mit wachsender Kriegsdauer an Bedeutung zunehmen und auch
bei der Wiederkehr des Friedens eine sehr wichtige Rolle spielen dürften.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
173
Hübner -Bonn hat im Anfang des Krieges eine Häufung von zirku¬
laren Psychosen gesehen, später nicht mehr. Er weist darauf hin, daß die
Emotions- und Erschöpfungspsychosen oft mit der Dementia praecox ver¬
wechselt werden, obwohl durch das Vorhandensein von körperlichen
Symptomen (vasomotorische Erscheinungen, Sensibilitätsstörungen usw.)
die Möglichkeit der Differentialdiagnose häufig gegeben ist.
Bonhöffer (Schlußwort): Im Hinblick auf die weitere Tagesordnung
möchte ich mich kurz fassen. Bezüglich der Schilderungen einzelner
psychotischer* Bilder kann ich mich auf das von Herrn E. Meyer und
Aschaffenburg Gesagte beziehen. Es hat sich dabei wohl ausnahmlos
um psychopathische Reaktionen gehandelt. Was uns der Krieg in
seinen Massenwirkungen gelehrt hat, ist die Unerheblichkeit der Er¬
schöpfung und der Emotion für die Entwicklung von Psychosen.
Ich freue mich besonders der Zustimmung des Herrn Aschaffenburg. Ich
möchte aber seiner heutigen Beurteilung seiner früheren Arbeiten über Er¬
schöpfungspsychosen doch nicht zustimmen. Daß das, was er damals auf
Erschöpfung bezog, toxisch-infektiöse Schädigungen waren, hebt den Wert,
den seine Arbeiten über die Kollapsdelirien seiner Zeit hatten, nicht auf.
Es wird auch das Los unserer heutigen Arbeiten sein, daß sie, sagen wir,
in spätestens 30 Jahren, überwunden sein werden. — Herrn Webers An¬
schauungen über Epilepsie und Erschöpfung stehen doch die Mehrzahl der
Kriegserfahrungen entgegen. — Herr Heüpach hat auf ein Gebiet hinüber¬
gegriffen, das wir nach unseren Beschlüssen erst morgen behandeln wollen.
Ich möchte mich deshalb mit der Bemerkung begnügen, daß ich seinen
Schilderungen nicht so pessimistisch gegenüberstehe. Die Arbeitsnöti¬
gung der kommenden Friedenszeit wird auch diese Schädigungen über¬
winden helfen.
Bericht von Wilmanns- Heidelberg: Dienstbrauchbarkeit der
Psychopathen.
Seine Ausführungen gründen sich auf Kranke, die in den Beobach-
tungs- und Behandlungslazaretten für Nervenkranke im Dienstbereich
des XIV. Armeekorps — fachärztlich geleiteten Reservelazaretten —
beobachtet und behandelt und deren ärztliche und militärische Schick¬
sale weiterverfolgt wurden.
Die Kranken wurden in folgende 5 Gruppen geteilt:
1. Die Imbezillen, Psychopathen im engeren Sinne und Hysterien.
2. Die Erschöpften, akuten Neurastheniker und vasomotorischen
Neurotiker.
3. Die Kriegsneurotiker im engeren Sinne.
4. Die Epileptiker.
5. Die Alkoholiker.
Das Ergebnis der Feststellungen ist in folgenden Tabellen wieder¬
gegeben:
Zoitaohrift für PsyohUtrie. LX3III. 2/8. 13
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
• ffi M • - m » ■ ■ r ,•• \ f. i- s 6 . - 1 ! »' .
V«?rl!aiiUitrageri psychiatrischer Vereine.
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J f *>yri 'iJy
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ÜNtäß'ftstef .9f>'MjCBFeAH
Digltized-b;
Deutscher Verein für Psychiatrie,
Tabelle 2.
K/afökfroüs
i-nipJKV,
I / 5yel.i (]■().; jjrie
4 ••AKiii-h $%uf
0 Vasomet. Neurose;
<>• Palbolugisclie
Reaktion
7. f -hroniacher
■MWmlisujo
H-. Epiten.sjie
Zu jrinn diuoJneu Gruppen wird bemerkt:
..Dfe Beurteilung 4er miUiäriricliien VervceutÜ/arkeit der Vertrete»'
*Vr er«.len Gruppe-'stößt am h hoi längerer■'.Rfeö.b.achtnng im Lazarett auf
Sc.hwimgki'ilrft, »Ja auf j>ev\i?se t lüfsmitlet. — Aktendnrehsielit. Pest--
Stellungen iifi 4er lieMftüp ätisj ZeiftrfArig^i werden itttfßv
tvteü : ißfih uw». <Ie*i Ättgabeu de*
Wawrlws anftwof »«vstr: ??«d. Infolge
4*r-.«:n h;u die TfiipjKS: Mutig die in ikn7tbel.r.c» &nf*v.}K-kli>!(g<>n nicht, an-
erkaeät.UHü sieb, oft um gutem- Etfalgty iii-«»er dndervmUgcn V er wen •
düng des Mrtimes M'd-y.lilosywi.
Von den eirt/efiu ?» liob>'>’g (, fijf>p‘'n gilt leigendes:.
Imbezille nut nnübgrtg Vorwiegend infeilekiuefieu Mängeln -
passive Imbezille aitt^^^^^:-^|g<iitt'#n'ispe«‘e.b ; cfid ihrer körperlichen
iginai-frorw.
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176 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Leistungsfähigkeit und beruflichen Ausbildung in den verschiedensten
Stellen in der Garnison, der Etappe und unter Umständen auch in der
Front zu verwenden.
Gegenstand fachärztlicher Begutachtung wird der Imbezille erst
dann, wenn er an einen Posten gestellt wird, dem er nicht gewachsen ist.
Die Mehrzahl der Imbezillen versagt im Heeresdienst nicht wegen intel¬
lektueller, sondern wegen gemütlicher Mängel, wegen ihrer Reizbarkeit^.
Widersetzlichkeit und ihres Unvermögens, sich in die strenge Ordnung
und Manneszucht einzufügen. Imbezille mit ausgesprochenen gemütlichen
Mängeln — erethische Imbezille — sind dienstunbrauchbar.
Das gleiche gilt von Psychopathen, die zu ausgesprochenen
Stimmungsschwankungen, reizbaren und depressiven Verstimmungen
neigen: von epileptoiden Psychopathen, Poriomanen und Dipsomanen.
Sehr viel schwieriger ist die Beurteilung der Psychopathen, die
unter den umfassenden Begriff der konstitutionellen Neurasthenie fallen,
der chronisch Nervösen, der habituell Deprimierten, der Übersensiblen
und der krankhaft ängstlichen Persönlichkeiten. Es soll zugegeben werden,
daß diejenigen von ihnen, bei denen sich diese Schwächen mit einem hohen
Maße von Verantwortlichkeits- und Pflichtgefühl verbinden, bisweilen
wertvolle Dienste an der Front zu verrichten vermögen. Im allgemeinen
sind sie jedoch nicht als k. v. zu bezeichnen. Ob es im Interesse der Truppe
liegt, sie zu Garnison- oder Arbeitsdienst heranzuziehen, hängt wesentlich
von ihrer beruflichen Ausbildung ab.
Ähnlich sind die hysterisch veranlagten Psychopathen zu beur¬
teilen, die schon vor ihrer Einstellung oder unter den geringen Anforde¬
rungen der Ausbildung an Krampfanfällen, Dämmerzuständen und andern
hysterischen Erscheinungen erkranken. Sie versagen unter den körper¬
lichen Anforderungen und seelischen Erschütterungen des Felddienstes
sehr bald, während sie auf ruhigeren Posten in der Etappe und der Garnison
Ersprießliches leisten können.
Wie die Tabellen zeigen, ist das Ergebnis der Feststellungen über
das militärische Schicksal der ersten Gruppe unerfreulich. Die Hälfte
der Leute ist aus dem Heere ausgeschieden: 58% der Imbezillen, 44% der
Psychopathen, 53% der Hysteriker sind bereits entlassen oder beurlaubt
in den Beruf bzw. zur Beendigung des D. U.-Verfahrens. Im Felde steht
etwas mehr als Vto der Leute, nämlich 14% der Imbezillen, 12% der
Psychopathen und 10 % der Hysteriker. Doch auch diese werden zumeist
nur zum Arbeitsdienst herangezogen; als k. v. in den vordersten Reihen
sind nur 7 der Psychopathen festgestellt.
Bei der Bewertung dieser unerfreulichen Ergebnisse muß jedoch
berücksichtigt werden, daß die in die Nervenlazarette Eingewiesenen eine
Auswahl besonders minderwertiger Psychopathen darstellen, von Mann¬
schaften, die bereits während der Ausbildungszeit oder draußen in der
Etappe oder im Felde versagt haben und deshalb in das Heimatgebiet
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abgeschoben worden sind. Die zahlreichen Psychopathen — die kon¬
stitutionell Erregten, sanguinisch Minderwertigen usw. —, die in Friedens¬
zeiten sich schwer in die wirtschaftliche Ordnung einzufügen vermochten,
in der Front aber sich durch ihr Draufgängertum auszeichnen, kommen
naturgemäß nicht in ärztliche Beobachtung.
2 . Die zweite Gruppe umfaßt die akuten Neurastheniker und
vasomotorischen Neurosen.
Unter die akutenNeurastheniker sind auch die wegen körper¬
licher oder seelischer Erschöpfung in die Lazarette Eingewiesenen gezählt.
Die akute Neurasthenie des körperlich und seelisch Rüstigen bietet günstige
Heilungsaussichten. Ist das Heilergebnis der in den Nervenlazaretten
behandelten Neurastheniker unerfreulich, so liegt das an der ungünstigen
Auswahl der Eingewiesenen. Von 123 akuten Neurasthenien sind 31%
als d. u. entlassen bzw. zur Arbeitsaufnahme oder bis zur Beendigung
des D. U.-Verfahrens beurlaubt. Im Felde stehen 21, d. i. 17%; davon
sind allerdings eine große Anzahl k. v. Die übrigen 52 % werden als g. v.
oder a. v. im Heimatgebiet verwandt.
Die Herzneurosen, Thyreotoxie und ähnliche Zustände sind als vaso¬
motorische Neurose der akuten Neurasthenie angegliedert. 42% von
ihnen sind in das bürgerliche Leben ausgeschieden; 45% werden im
Heimatgebiet verwendet; nur 13 % stehen im Felde, und auch diese werden
sämtlich nur als g. v. oder a. v. dort verwendet. Auch dieses ungünstige
Ergebnis ist auf die besondere Auswahl zurückzuführen, die in die Nerven-
lazarette eingewiesen wird.
3. Die Epilepsie ist in ihrem Kern eine organische Erkrankung.
Da der Kreis der Epilepsie jedoch von vielen sehr weit gefaßt wird und
Zustände darunter begriffen werden, die zweifellos funktionellen Ursprungs
sind, so wird auch ihrer in diesem Zusammenhänge gedacht.
Nachgewiesene Epilepsie macht d. u. Die Fachärzte haben sich in
ihren Entscheidungen nicht streng an diese Bestimmung gehalten: von
47 Epileptikern wurden in den Beobachtungsabteilungen 25 als d. u., die
andere Hälfte als g. v. und a. v. bezeichnet. Die Truppe ging teilweise noch
weiter: Zwar wurden 34, also 72%, aus dem Heeresdienst entlassen bzw.
beurlaubt, 8,5% jedoch ins Feld geschickt. 3 von ihnen stehen in Ar-
mierungsbataillonen, einer tut sogar Felddienst. Als k. v. ist jedoch der
Epileptiker in keinem Falle zu bezeichnen; andrerseits läßt sich darüber
streiten, ob es bei dem jetzigen Mannschaftsbedarf gerechtfertigt ist, jeden
Epileptiker als d. u. zu erachten. Geistig rege Epileptiker mit seltenen,
zumal nächtlichen Anfällen und ohne seelische Störungen könnten ohne
Bedenken als g. v. oder a. v. für leichten Dienst bezeichnet werden.
4. ChronischeAlkoholiker machen der militärärztlichen Beur¬
teilung ihrer Verwendbarkeit oft große Schwierigkeiten. Die Entscheidung
des Facharztes wird davon abhängen, ob er den Mann für durch disziplinäre
Maßnahmen besserungsfähig oder unbeeinflußbar hält, ob er ein Laster,
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178 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
die Trunkfälligkeit, oder eine Krankheit, die Trunksucht, bei ihm an¬
nimmt. Der Trunksüchtige, der degenerierte Alkoholiker, ist wie der
Geisteskranke zu behandeln und für keinen Dienst verwendbar, der Trunk¬
fällige hingegen entsprechend seiner körperlichen und seelischen Anlage,
seinem Wissen und Können als g. v., a. v., gegebenenfalls auch k. v. Die
Truppe neigt dazu, den Trinker als lasterhaft, nicht als krank zu bezeichnen.
Nur 36% wurden entlassen und beurlaubt, 25 stehen im Felde, allerdings
nur einer als k. v., die übrigen bei Armierungsbataillonen und im Arbeits¬
dienst.
5. Die militärische Verwendbarkeit der Kriegsneurotiker läßt
sich nur von demjenigen beurteilen, der sich über Ursprung und Wesen
ihrer Störungen klar ist.
Die Kriegsneurosen im engeren Sinne unterscheiden sich nicht von den
aus Friedenszeiten bekannten, als hysterisch bezeichneten Störungen, die
sich aus geringem Anlaß bei krankhaft veranlagten Persönlichkeiten ent¬
wickeln. Sie sind pathologische Reaktionen zumeist auf gemütliche Er¬
schütterungen — auf Explosionen, Verschüttungen, langdauernde Be¬
schießung —, Schreckneurosen, die sich naturgemäß besonders leicht auf
dem Boden krankhafter seelischer Veranlagung entwickeln, von denen
aber auch Persönlichkeiten nicht verschont bleiben, die bis dahin keine
Abweichungen vom Durchschnittlichen erkennen ließen.
Die Schreckneurose hat an sich sehr günstige Heilaussichten. Ver¬
läuft sie ungünstig, wie z. B. die Schreckneurose nach Unfällen Ver¬
sicherter, so ist die Ursache für die Verschleppung der Heilung in Renten¬
begehrungsvorstellungen und andern Einflüssen zu suchen.
Auch die Erfahrungen der an der Front tätigen Ärzte lehren, daß die
Mehrzahl der Schreckneurosen in den Kriegslazaretten in kurzer Zeit zur
Heilung kommt. Im Heimatgebiet freilich ist die Voraussage der Schreck¬
neurose schlecht. Hysterische Störungen, die im Anschluß an gemütliche
Erschütterungen im Felde zum Ausbruch kommen, verschlimmern sich
trotz aller ärztlichen Bemühungen; häufig treten sie bei Leuten auf, die
wegen harmloser Verwundungen oder innerer Erkrankungen ins Heimat¬
gebiet verbracht wurden; ja gar nicht selten auch bei solchen, die nie im
Felde waren, und ohne daß eine auslösende Ursache dafür erkennbar wäre.
Es liegt nahe, die Entstehungen dieser Störungen im Lazarett auf sug¬
gestive Einflüsse zurückzuführen, die von andern Hysterischen auf krank¬
haft Veranlagte ausgeübt werden. Es ist nur erstaunlich, daß nur Sol¬
daten, nicht auch das weibliche Pflegepersonal davon befallen wird.
Klarheit über die Verschleppung der hysterischen Reaktionen im
Heimatgebiet und über ihre Entstehung in den Lazaretten geben uns
folgende Tatsachen:
a) Hysterische Störungen sind bei Schwerverletzten verhältnis¬
mäßig selten. Die weitaus größte Zahl der Neurotiker ist überhaupt nicht
oder nur leicht verwundet. Da gerade bei Schwerverletzten die gemtit-
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liehe Erschütterung als besonders heftig angenommen werden darf, kann
nicht sie allein die auslösende Ursache für die große Masse der Neurosen
sein.
b) In den Kriegsgefangenenlagern ist die hysterische Neurose eine
äußerst seltene Erscheinung. Unter 80 000 Kriegsgefangenen der Ge¬
fangenenlager im XIV. Armeekorps wurde nur eine einzige, ein hysteri¬
scher Mutismus nach Verschüttung, beobachtet. Auch unter den sämt¬
lichen zur Internierung in der Schweiz bestimmten Gefangenen befand
sich keine Schreckneurose. Das ist nicht etwa darauf zurückzuführen, daß
die germanische Rasse mehr als andere zu derartigen Störungen geneigt
sei; denn
c) auch unter den in der Schweiz internierten deutschen Gefangenen
ist die Schreckneurose unbekannt. Und anderseits steht es
d) fest, daß die hysterischen Reaktionen in den Lazaretten Frank¬
reichs zum mindesten ebenso verbreitet sind wie bei uns.
Die Feststellung, daß die Schreckneurosen bei Kriegsgefangenen ihre
natürliche baldige Heilung finden, bei Mannschaften jedoch, deren mili¬
tärische Verwendung noch in Frage kommt, zu chronischen Leiden sich
entwickeln, läßt keinen Zweifel, daß gewisse Begehrungsvorstellungen für
ihre Verschleppung verantwortlich zu machen sind, mit andern Worten,
daß die Fixation, in vielen Fällen auch die Entstehung der hysterischen
Neurose, eine Abwehrreaktion gegen die militärische Verwendung ist.
Die Tatsache löst den scheinbaren Widerspruch zwischen den günsti¬
gen Heilaussichten der Schreckneurose in der Front und den ungünstigen
im Heimatgebiete. Sie gab dem Sanitätsamt XIV. Armeekorps den
Anstoß, die Nervenkranken den schädlichen Einflüssen der Stadt zu ent¬
ziehen und sie in ländlichen, fachärztlich geleiteten Lazaretten zu ver¬
sorgen. Die Erfolge waren bei den hysterischen Kranken zunächst nicht
günstig; ein Umschwung trat erst ein, als ihre Behandlung mit starken
elektrischen Strömen allgemein eingeführt wurde. Die Lazarette haben
bisher über 300 Kranke behandelt: während die jährlichen Renten vor
der Behandlung etwa einer Summe von 127 000 M. entsprachen, wurde
ihre Höhe nach der Behandlung auf etwa 13 000 M. veranschlagt. Die
jährliche Ersparnis beträgt daher etwa 114 000 M.
Mit Rücksicht auf das Wesen und die Ursache dieser Störungen
war jedoch von vornherein zu erwarten, daß der Wert dieser Behandlungs^
weise vorwiegend in einer wesentlichen Hebung der Erwerbsfähigkeit
derjenigen Mannschaften bestehen würde, die in ihren Beruf entlassen
werden. Da die Kriegsneurose eine unbewußte Abwehr gegen den Kriegs¬
dienst ist, kann es nicht überraschen, daß die Zahl der wieder k. v. werden«-
den Neurosen verschwindend klein ist.
Von hysterischen Kriegsneurosen sind mittlerweile aus dem Heeres¬
dienst als entlassen oder beurlaubt ausgeschieden 64%. Von den dem
Heere noch Angehörenden befinden sich 5% wieder im Lazarett, 25 % als
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g. y. oder a. v. im Heimatgebiet. Diese warten zum Teil noch in den
Genesendenkompagnien ihre endgültige Verwendung ab. Die übrigen
werden im Grenzschutz, in den Gefangenenlagern, in Depots und Bureaus,
als Ordonnanzen und Burschen zu leichter Arbeit verwendet. Zum Teil
genügen sie auch diesen Anforderungen nicht; bei 3,9% hoffen zwar die
Truppenärzte auf Wiederherstellung der Felddienstfähigkeit, 10,4% sind
jedoch als d. u. zur Entlassung vorgemerkt. Nur 6 % stehen im Felde,
doch auch von diesen ist der kleinste Teil k. v. Abgesehen von 9 Fällen,
wo Näheres nicht festgestellt werden konnte, tun vollen Dienst nur 5, die
übrigen verrichten Arbeits- und Garnisondienst in Landsturmbataillonen
hinter der Front usw. K. v. im engsten Sinne sind demnach von den
Fällen sicher nur 1,1% bzw. 3,2%; aus dem Heeresdienst entlassen oder
in absehbarer Zeit zu entlassen sind 74%. Dieses unerfreuliche Ergeb¬
nis gestaltet sich noch ungünstiger, wenn berücksichtigt wird, daß von
den im Jahre 1915 in den Lazaretten behandelten Hysterikern 36%, von
den 1916 behandelten 17 % mit Versorgung aus dem Heeresdienst entlassen
wurden. Es ist daher zu erwarten, daß noch eine erheblichere Anzahl
der zurzeit als g. v. und a. v. Geführten schließlich doch noch als d. u.
entlassen wird.
Das Ergebnis der Feststellungen ist äußerst ungünstig. Es soll nicht
verhehlt werden, daß ein oder der andere Imbezille, Psychopath, Neur¬
astheniker, Alkoholiker, vielleicht auch einzelne der eigentlichen Kriegs¬
neurotiker, zumal in dem ersten Kriegsjahre, auf Grund fachärztlicher
Zeugnisse entlassen wurden, obschon sie bei entsprechender Berücksichti¬
gung ihrer seelischen Eigenart doch noch irgendwie verwendungsfähig
gewesen wären.
Es kann nicht ausdrücklich genug betont werden, daß die mili¬
tärischen Anforderungen in verschiedener Beziehung wesentlich andere
als in Friedenszeiten sind. In Friedenszeiten macht mehr oder weniger
jeder Soldat (mit Ausnahme der Ökonomiehandwerker, der Militär-
Krankenwärter usw.) eine längere gründliche Ausbildung mit der Waffe
durch, die erfahrunggemäß und gerade wegen der zwar notwendigen,
von vielen aber als kleinlich und schikanös empfundenen Gründlichkeit
und Pünktlichkeit, wegen des „Kommiß“ manchen seelisch Regelwidrigen
straucheln läßt. Im übrigen sind die Anforderungen an körperliche und
seelische Widerstandsfähigkeit bis auf gewisse Ausnahmefälle mäßig und
werden an alle Mannschaften in gleicher Weise gestellt. Die Verwendungs¬
möglichkeiten für den körperlich oder seelisch weniger Leistungsfähigen
sind gering; wer nicht den allgemeinen Anforderungen genügt, paßt nicht
in das Heer, und es ist bekannt, mit welcher Weitherzigkeit gerade der
seelisch Regelwidrige in den letzten Friedensjahren vom Dienst befreit
wurde.
Im Kriege sind, zumal bei unserem großen Bedarf an Mannschaften,
die Verhältnisse ganz anders geworden. Auf der einen Seite sind an der
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Frönt die Anforderungen an körperliche Leistung und seelische Wider¬
standsfähigkeit ganz außerordentlich hohe, viel höhere, als irgendeiner
von uns zu ahnen gewagt hat. Auf der andern Seite sind aber die Ver¬
wendungsmöglichkeiten für den nicht voll Leistungsfähigen wesentlich
mannigfaltiger als in der Friedenszeit. Die Riesenorganisation im Heimat¬
gebiet, in der Etappe und in der Front verlangt eine Unmenge von Leuten
in den Bekleidungsämtern, den Depots, den Bureaus, den Gefangenen¬
lagern, dem Grenzschutz, den Armierungsbataillonen, Schlächtereien,
Bäckereien usw., wo neben dem körperlich Schwachen oder Geschwächten
auch der seelisch regelwidrig Veranlagte oder Gewordene seinen Posten
auszufüllen vermag Also was in Friedenszeiten nur ganz beschränkt
möglich war, jetzt ist es Gebot und Voraussetzung, um den Anforderungen
zu genügen, die der Krieg an uns gestellt hat, die Individualisierung.
Ebenso wie wir jetzt Kranke mit körperlichen Mängeln im Heeresdienst
behalten und ihren Kräften entsprechend verwenden, Mannschaften, die
wir nach den Friedensbestimraungen für dienstunbrauchbar erklären
müßten, ebenso dürfen auch die seelisch Regelwidrigen nur dann aus dem
Heeresverbande entlassen werden, wenn für sie auch bei weitgehender
Rücksichtnahme auf ihre Leistungsfähigkeit keine geeignete Tätigkeit
gefunden werden kann.
Die Frage, die dem Facharzt vorgelegt wird: „Verhindert die krank¬
hafte seelische Veranlagung die Ausbildung oder Ausübung des militäri¬
schen Dienstes“, läßt sich demnach dahin umschreiben: „Entspricht es
dem Interesse des Heeres, daß der Mann militärisch eingezogen wird oder
bleibt?“ Daraus geht schon hervor, daß nicht ausschließlich der Grad
der seelischen Regelwidrigkeit für die Entscheidung über die Dienstfähig¬
keit maßgebend sein darf, sondern auch die berufliche Ausbildung des
Psychopathen, sein Wissen und Können, denn, wie der einarmige Offizier
oder der lungenkranke Arzt im Rahmen ihres Berufes bei entsprechender
Rücksichtnahme auf ihre Gebrechen arbeitsverwendungsfähig sind, so ist
auch bei gleicher seelischer Regelwidrigkeit der Rechtsanwalt anders zu
beurteilen wie etwa ein ungelernter Arbeiter oder Landwirt. —
Gaupp-Tübingen bittet bei der Besprechung das Thema über Kriegs¬
neurosen mit Rücksicht auf die Erörterung dieser Frage am folgenden
Tage nicht zu behandeln.
Binswanger -Jena schlägt vor, wegen Zusammengehörigkeit der
Themata und um Wiederholungen zu vermeiden, den nächsten Bericht
der Tagesordnung jetzt anzuschließen und die beiden Berichte gemeinsam
zu besprechen. Der Vorschlag findet Anklang.
Bericht von E. Meyer - Königsberg: Über die Frage der
Dienstbeschädigung bei den Psychosen.
Der Bericht beschränkt sich auf die Dementia praecox, das
manisch-depressive Irresein, die Paralyse, die Epilepsie und
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Verbandlangen psychiatrischer Vereine.
das arteriosklerotische Irresein, weil der psychopathischen Kon¬
stitution in den andern Berichten schon so vielfach gedacht wird.
M. weist zuerst darauf hin, daß die Sonderverhältnisse des Krieges
oder außergewöhnliche Vorkommnisse in dieser Zeit nur Bedeutung für die
Kriegsdienstbeschädigung nach dem Gesetz haben können, wenn ihr
ursächlicher Einfluß erwiesen oder ausreichend wahrscheinlich gemacht ist.
Dem Bericht liegt zugrunde das Beobachtungsmaterial der Königs¬
berger Klinik vom 1. August 1914 bis 31. Juli 1916; außerdem standen
die schon erledigten Dienstbeschädigungsakten bei Geisteskranken aus
dem Bereich des I. Armeekorps zur Verfügung.
Unter 2561 Soldatenaufnahmen gehörten 194 Fälle, also 7,5%, der
Dementia praecox an. Es ergab sich, daß die Zahl der Dementia
praecox-Fälle anfänglich sehr gering war, dann anstieg und im zweiten
Kriegsjahr 7 bis 8% der Aufnahmen ausmachte; gegenüber dem Friedens¬
prozentsatz von 12 und mehr Prozent eine verhältnismäßig geringe Zahl.
Was das Alter anbetrifft, so ergab sich hierin eine große Übereinstimmung
mit der Bleulerschen und in der Hauptsache auch mit der Kraepelinschen.
Statistik aus Friedenszeiten.
In mehr als der Hälfte der Fälle waren schon vor dem Kriege
nervöse oder psychische Störungen vorhanden gewesen. 65 % der Kranken
waren länger oder kürzer im Felde, doch bei nur 33 von ihnen, also 17 %,
hatten besondere Schädigungen, wie Verwundungen, körperliche Er¬
krankungen und ganz vereinzelt Granatexplosionen und dergleichen
eingewirkt. Der Verlauf und die Art der Erkrankung zeigten nichts Be¬
sonderes.
Was die Kriegsdienstbeschädigung bei Dementia praecox angeht,
so kommen für diese nach M.s Ausführungen Kopfverletzungen, Infek¬
tionskrankheiten, Granat- und Minenexplosionen und ähnliche äußere
Schädigungen in Betracht, jedoch nicht die einfache Tatsache,
daß jemand im Felde, selbst längere Zeit, war.
Dem manisch-depressiven Irresein gehörten 43 Fälle an, von
denen 27 schon früher krank waren. Von besonderen Schädigungen waren
zu nennen 3mal Verwundungen, 2mal Hirnerschütterungen und 2mal be¬
sonders schwere seelische Erregungen. Der Verlauf ergab keine Be¬
sonderheiten. Alles sprach dagegen, daß dem Kriegsdienst als solchem
eine ursächliche Bedeutung für die Entwicklung des manisch-depressiven
Irreseins zukommt.
66 Fälle waren progressive Paralysen. Das Alter derselben
entsprach den Beobachtungen in Friedenszeiten. Bei 27 Kranken war
frühere nervöse oder geistige Störung nachweisbar. Soweit syphilitische
Infektion zugegeben wurde, lag sie zumeist 10 bis 20 Jahre zurück. Von
besonderen Ereignissen wurden 5mal Verwundungen, einmal Sturz mit
dem Pferde angegeben. Anhaltpunkte für die Annahme einer „Kriegs¬
paralyse“ im Sinne von Weygandt ergaben sich nicht. Auch bei der Para-
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lyse wird Kriegsdienstbeschädigung nur bei Feststellung besonderer
Schädigungen anzunehmen sein, nicht, wenn nur die allgemeinen Kriegs¬
dienstverhältnisse eingewirkt haben.
63mal handelte es sich um genuine Epilepsie. In 93% der Fälle
waren schon früher Störungen von seiten des Nervensystems beobachtet,
zumeist Anfälle, selten psychische Störungen. Nur V* der Kranken waren
im Felde gewesen; besondere Schädigungen wurden nur- sehr selten ange¬
geben.
Das arteriosklerotische Irresein erwies sich für die Dienstbeschädi¬
gung ohne Belang.
Zusammenfassung: Für die Frage der Kriegsdienstbeschädigung
kommen vorwiegend die Dementia praecox, das manisch-depressive Irre¬
sein und die Epilepsie in Betracht. Das Krankheitsbild und der Verlauf
waren dabei die aus Friedenszeiten her bekannten. In einem großen Teil
der Fälle waren krankhafte Erscheinungen psychischer oder nervöser Art
schon vor dem Kriegsdienst nachzuweisen. Äußere Schädigungen waren
verhältnismäßig selten feststellbar. Kriegsdienstbeschädigung kann nach
den bisherigen Erfahrungen bei den genannten Geisteskrankheiten nur
angenommen werden, wenn die Kranken Einzelschädigungen von beson¬
derer Schwere ausgesetzt waren, nicht aber deshalb schon, weil sie über¬
haupt im Felde gewesen waren. (Ausführliche Veröffentlichung im Arch.
f. Psych.)
Besprechung. — Weygamfe-Hamburg glaubt, wenn von Para¬
lytikern, deren Anzahl etwa der des Herrn Referenten entspricht und die
dauernd beobachtet werden konnten, mehrere nach 1 bis 3 Monaten und
über 20 % schon im 1. Jahre starben, wohl eine Beschleunigung des Krank¬
heitsverlaufs annehmen zu dürfen. Es ist aber auch nicht prinzipiell
abzulehnen, daß ebensogut wie einzelne Schädlichkeiten auch die chroni¬
schen Kriegsschädlichkeiten die Paralyse zu einem schweren Ausbruch
drängen können. Gerade hinsichtlich der Auslösung einer Paralyse durch
ein Trauma scheint ihm die von dem Herrn Referenten angegebene zu-
längige Zw'ischenfrist von 2 Jahren zu hoch anberaumt. Der Ausdruck
„Kriegsparalyse“ ist natürlich nur cum grano salis zu verstehen. — Wenn
jetzt gegenüber dem im wohlwollendsten Sinne ,,in dubio pro aegroto“
gehaltenen § 151 der Dienstanweisung hinsichtlich der Dienstbeschädigung
deutlich gebremst wird, so ist das bedingt durch die unheimlichen finan¬
ziellen Konsequenzen der Ansprüche der Kriegsneurotiker; diesen gegen¬
über spielen die Kriegsparalytiker numerisch nur eine kleine Rolle; zudem
läuft bei ihnen, wenn sie ledig sind, die Unterstützungspflicht ohnedies
bald ab. Verpflegt müssen sie sowieso werden, überdies bilden sie keinen
psychischen Infektionsherd wie die Kriegsneurotiker. — Daß Epilepsie
nach langjähriger Latenz wieder im Krieg ausbrechen kann, ist auch aus
der heutigen Diskussion zu entnehmen. Die Fälle, in denen anscheinend
eine Epilepsie bei einem bisher ganz Gesunden hervorgerufen wurde, sind
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wohl anamnestisch nicht hinreichend geklärt. Um Dauerschädigungen
handelt es sich jedoch dabei nicht. Daß unter Umständen ein Epileptiker
felddienstfähig sein kann, ergibt sich aus dem Beispiel zweier berühmter
Epilepsiefälle, Napoleons und seines Gegners von Aspern, des Erzherzogs
Karl. — Hinsichtlich der Diensttauglichkeit sollte man auch die Kategorie
berücksichtigen, für welche die von Rittershaus angewandte Bezeichnung
gilt: „felddienstfähig, aber nicht garnisondienstfähig“. Es sind das nicht
nur einzelne Abenteurer, Phantastiker, reizbare Imbezille und solche
Minderwertige, die durch den Alkohol und andere schädliche Umstände
der Garnison, Verwöhnung, Sexualverkehr, Bummelei, gefährdet sind;
an der Front ist der Alkohol immerhin leichter zu dosieren. Freilich ist
auch seine gegenwärtige Verwendung noch reichlich, wie sich aus der
Tätigkeit der Kriegsgerichte ergibt, die Fälle von Entfernung, Gehor¬
samsverweigerung, Widersetzlichkeit, Gewalttätigkeit und Sexualdelikte
bekommen, bei denen der Alkohol die Hemmung der Minderwertigen
hinweggeräumt hat. Es wäre höchst segensreich, wenn diese Versamm¬
lung ilire Autorität nach dieser Richtung hin zur Geltung brächte.
Stransky■'Wien läßt entsprechend der Anregung Gaupps die Neu¬
rosen zunächst aus dem Spiel. Er stimmt Wilmanns zu, nur in einem
Punkte muß er von ihm abweichen. Die wesentlich nur kriminellen Ele¬
mente (zumal die Gewalttätigen) wären, wie Str. schon vor langer Zeit
vorgeschlagen hat, vor allem als frontdiensltauglich zu erklären. Jeden¬
falls sind sie nicht garnison- bzw. kaderdienstfähig, im Hinterlande be¬
währen sie sich minder, in der Front aber bewähren sie sich vortrefflich.
Gewisse Elemente sind unter der straffen Feld zucht etwa zu Armierungs¬
arbeiten gut zu verwenden, aber aus selektiven Gründen sind diese Ele¬
mente, wie Stransky auch vor längerer Zeit betont hat, besser jetzt nicht
im Hinterlande zu halten. Sie sollen nicht mehr Gelegenheit zur Fort¬
pflanzung als schon im Frieden haben. Epileptiker möchte Str. keineswegs
im Wachdienst verwenden.
.Stier-Berlin weist zunächst darauf hin, daß wir nicht, wie der Bericht¬
erstatter meinte, die schweren psychogenen Reaktionen erst seit dem
Kriege bei Soldaten sehen, sondern daß sie auch in ganz der gleichen
Form im Frieden dawaren; des weiteren, daß nach der D. A. Epilepsie
nicht schon nach einem, sondern erst nach dem Auftreten wiederholter
Anfälle von Bewußtlosigkeit anzunehmen ist, daß dann aber völlige Dienst¬
unbrauchbarkeit mit Recht angenommen wird wegen der fast nie fehlenden
gesteigerten Reizbarkeit, Unfügsamkeit und Alkoholintoleranz dieser
Leute. — Bei den Psychopathen mit psychogenen Reaktionen ist tunlichst
völlige Beseitigung der akuten Symptome anzustreben, dann aber sind
diese Leute — N. B. nicht wegen Nervenkrankheit, sondern nach
1 U 15 wegen krankhafter seelischer Veranlagung — sofort für unbrauchbar
zu jedem Dienst zum mindesten nur für a. v. zu erklären. Letzteres er-
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scheint besonders angebracht, wenn die Betreffenden durch ihre beruf¬
lichen Kenntnisse für den Krieg in der Heimat nutzbringend verwendet
werden können. Keinesfalls sind sie als g. v. zu erachten, da dann das
Damoklesschwert der Wiederhinaussendung in den Krieg dauernd über,
ihnen schwebt und Rückfälle der Krankheitserscheinungen sofort aufzu¬
treten pflegen. — Dienstbeschädigung ist nach Beseitigung der akuten
Erscheinungen grundsätzlich nicht anzunehmen, da die Erwerbsfähigkeit,,
wie die Erfahrungen des Friedens und der Unfallgesetzgebung zeigen, bei
diesen Leuten in ihrem alten Beruf durchaus gut ist und durch den bei
Ablehnung der D. B. geschaffenen Zwang zur Arbeit der Rest der Be¬
schwerden bald verschwindet. Eine solche Stellungnahme ist gesetzlich
möglich, da D. B. nicht vorliegt bei Gesundheitsstörungen, die „ihrem
Wesen nach vorübergehender Art“ sind; eine Härte liegt darin nicht, da.
in Ausnahmefällen, w r enn tatsächlich nach einiger Zeit noch eine wesent-,
liehe Einbuße an Arbeitsfähigkeit bestehen sollte, nachträgliche Annahme
der D. B. durchaus möglich ist. — Der Hauptvorzug der Ablehnung der,
D. B. gegenüber der Bewilligung einer kleinen Rente aber besieht in der
endgültigen Beruhigung des Mannes, da eine Klage gegen die Ablehnung
der D. B. nicht zulässig ist.
IFoWenterg-Straßburg: Mit den allgemeinen Schlußfolgerungen des.
Herrn Wilmanns bin ich einverstanden. Im einzelnen wird morgen in der
Diskussion der Kriegsneurosen noch einiges zu sagen sein, insbesondere
mit Bezug auf die Therapie. In dieser Beziehung ist Herr Wilmanns bei,
der Besprechung der Hilfsmittel, die wir für die Beurteilung der Psycho¬
pathen im Lazarette besitzen, auf die Arbeitstherapie nicht eingegangen.
Diese gewährt jedoch bei richtiger Behandlung mit Überwachung recht
gute Anhaltpunkte. Ein als Ncrvenheilstätte eingerichtetes Lazarett in
Preßburg hat sich in dieser Hinsicht recht gut bewährt und wird auch von
andern Lazaretten vielfach in Anspruch genommen. — Was die Psycho¬
pathen betrifft, die der von Herrn W. genannten ersten Kategorie ange¬
hören, so scheint es mir, als würden diese von Nichtpsychiatern gegen¬
wärtig nicht selten als Simulanten angesehen. Hinsichtlich der Epi¬
leptiker stehe ich auf dem Standpunkte des Herrn W., daß man Leute
mit den von ihm geschilderten Eigenschaften nicht gar zu schematisch
vom Dienst ausschließen soll.
Binstvanger-Jena, will nur auf zwei Punkte aufmerksam machen.
1. Die Behandlung der Kriegspsychoneurotiker mittels des faradischen
Stromes ist vor 30—40 Jahren Gemeingut der militärärztlichen Therapie
gewesen in allen Fällen der Hysterie, die dem Begriff der Simulation ein¬
geordnet war. Die Erfolge von damals sprechen nicht für Dauerheilungen.
Viel nützlicher sind individualisierende Isolierkuren (psychische Ab¬
stinenzkuren), die in */» der Fälle — es wurden nur langwierige und sym-
ptomatologisch schwere Fälle auf diese Weise behandelt — einen guten,
dauernden Erfolg hatten. — 2. Man soll mit der D. U.-Erklärung bei den
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Psychoneurotikern objektiv und zurückhaltend sein. Herstellung der
Arbeitsfähigkeit — nachdem den Patienten strikte erklärt worden ist,
daß eine Dienstbeschädigung nicht vorliegt — muß in kürzer oder länger
dauernden Arbeitsbeurlaubungen und Arbeitsleistungen erprobt und be¬
festigt werden. Mißlingt dieser Urlaub, so sind diese Leute in die Spezial¬
lazarette zurückzuführen, um später den Versuch zu wiederholen. Auf
diesem Wege gewinnt man für die Armee einen, wenn auch kleinen, Bruch¬
teil kriegsverwendungsfähiger Mannschaften und einen sehr großen Pro¬
zentsatz arbeitsverwendungsfähiger Leute. G. v. sind diese Psycho-
neurotiker nicht zu schreiben, denn in dem Garnisondienst geht jeder
Gewinn der spezialärztlichen Behandlung wieder verloren.
LieÄers-Dösen hat ebenfalls zur Heilung psychoneurotischcr Affekt¬
symptome (Zittern, Mutismus, Aphonie), wenn andere Mittel versagten,
starke sinusoidale Wechselströme angewendet, und zwar mit gutem Erfolg.
Da die Methode aber, um wirksam zu sein, starke, sehr schmerzhafte Ströme
erfordert, so hält er, genau so wie zu größeren Operationen, die vorherige
Einwilligung des Kranken für notwendig. Es ist ihm bisher immer ge¬
lungen, diese Einwilligung zu erlangen, wenn auch oft durch suggestive
Vorbereitung, durch Appellation an ihr Ehrgefühl usw. Die Heilung
erfolgte immer in der ersten Sitzung.
A’eige-Partenkirchen macht zum Vortrage des Herrn W. einige Be¬
merkungen nach seinen feldärztlichen Erfahrungen. Er hat mit der Ein
Stellung der weichlichen Psychopathen, geheilten Zitterneurotikern usw.
im Etappendienste sehr gute Erfahrungen gemacht; sie haben hier eines¬
teils nicht die schlechten Einflüsse des Lebens in der Heimat, auch nicht
den deprimierenden Eindruck, daß sie wegen ihres Leidens aus dem Kriege
nach Hause geschickt wurden; auf der andern Seite sind sie den schädi¬
genden Einflüssen in der Front entrückt. Zur Frage der Dienstbeschädi¬
gung bei Epilepsie ist zu erwägen, daß im Kriege sicherlich eine große
Anzahl Epileptiker entdeckt werden, die selbst nichts von ihren Anfällen
wissen. Bei dem jahrelangen engen Zusammenleben der Mannschaften
im Schützengraben kann kein Anfall übersehen werden, eine exaktere
Überwachung wie im Kriegsdienst ist gar nicht denkbar. So erklärt sich
eine Anzahl der Fälle von scheinbarer Entstehung der Epilepsie im Kriege.
Wenn Herr Str. meint, daß die erethischen Psychopathen sich an der Front
bewähren, so trifft dies wohl nur für den Bewegungskrieg zu, im Stellungs¬
kriege scheitern sie an der Disziplin. — Im Gegensatz zu dem Vorredner
hat S. den Ganserschen Symptomenkomplex im Kriegslazarett äußerst
selten gesehen, während er im Heimatlazarett sehr häufig zu sein scheint.
Bei/J-Tübingen betont seine guten Erfahrungen auch mit schweren
Psychopathen als Frontarzt, sobald eine individualisierende Behandlung
stattfindet, die im Stellungskriege wohl durchzuführen ist. Allerdings ist
eine weitgehende Unterstützung und Verständnis von seiten der Offiziere
erforderlich, das man aber unschwer findet. Sind Psychopathen einmal in
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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Heimatlazarette gelangt, so trifft die ungünstige Schilderung des Wilmanne *
sehen Referates unbedingt zu. Die Aussicht auf Kriegsverwendungsfähig*
heit ist dann außerordentlich gering. Es kann nicht genug Wert darauf
gelegt werden, auch psychopathisch Minderwertige mit allen Mitteln in
der Front zu erhalten.
Hübner- Bonn betont, daß nach den gegenwärtig geltenden Bestim¬
mungen die Dienstunbrauchbarkeitserklärung der Epileptiker verlangt wird.
Wümanns bemerkt zur Frage der Dienstbeschädigung bei den
Psychosen:
Es sei sehr erfreulich, daß E. Meyer sich in so entschiedener Weise
gegen die Annahme von D. B. bei den endogenen Psychosen ausgesprochen
habe. Die Ärzte pflegen in fast allen Fällen von Psychosen, die im Felde
zum Ausbruch kamen, einen ursächlichen Zusammenhang mit den An¬
strengungen und Erregungen des Dienstes anzunehmen, obschon sich das
wissenschaftlich in keiner Weise stützen läßt. So liegen keinerlei Anhalt¬
punkte dafür vor, daß die Schädigung durch den Kriegsdienst eine Para¬
lyse auslöst oder in ihrem Verlauf beeinflussen kann. Die von Weygandt
vertretene Anschauung, die im Felde entstandene Paralyse verlaufe
schneller als gewöhnlich, ist nicht überzeugend. Zu derartigen Schlu߬
folgerungen reicht sein kleines Material nicht aus. Aber selbst wenn
Weygandt recht hätte, würde eine andere Erklärung für den schnelleren
Verlauf der Erkrankung einleuchtender sein: näher liegt, die jetzigen Er¬
nährungsverhältnisse und die mangelhafte Schulung des verfügbaren
Pflegepersonals dafür verantwortlich zu machen. — Daß echte Epilepsie,
d. h. die fortschreitende organische Gehirnerkrankung, durch die besonde¬
ren Verhältnisse des Feldzuges entstehen kann, ist durchaus unwahr¬
scheinlich. Hingegen muß zugegeben werden, daß sich infolge von seeli¬
schen Erregungen und auch wohl körperlichen Anstrengungen epileptische
Anfälle bei Epileptikern häufen können. Ähnliches ist z. B. bei Anstalts¬
festlichkeiten in Epileptikeranstalten beobachtet. Hierbei handelt es sich
jedoch nicht um eine Verschlimmerung der Erkrankung, sondern nur um
eine vorübergehende stärkere Neigung zu epileptischen Krampfreaktionen.
D. B. in derartigen Fällen anzunehmen, ist daher nicht gerechtfertigt.
Die verbreitete Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen
Kriegsschädigung und Epilepsie ist übrigens weniger auf solche Fälle als
auf die außerordentlich häufige Verkennung von affektepileptischen und
besonders hysterischen Anfällen zurückzuführen. — Praktisch am wich¬
tigsten ist die Frage der D. B. bei Dementia praecox. Fachärzte pflegen
wohl durchweg die Erkrankung als eine endogene, durch äußere Schädi¬
gungen wie körperliche Anstrengungen und seelische Erregungen nicht
beeinflußbare anzusehen. Faßt man die Dementia praecox in ihrem Kern
als eine organische Gehirnerkrankung auf, die letzten Endes auf inner¬
sekretorische Störungen zurückzuführen ist, so könnte darauf hinge¬
wiesen werden, daß der Ausbruch von derartigen Erscheinungen im Felde
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
nicht ganz selten ist — Kriegsbasedow —, und daß mithin auch die
Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen sei, daß auch die für die De¬
mentia praecox kennzeichnenden innersekretorischen Störungen durch die
Besonderheiten des Feldzuges erzeugt werden können. Auch könnte
daran erinnert werden, daß unter den lebenslänglich Verurteilten eine
ungewöhnlich große Zahl an fortschreitenden Geistesstörungen erkrankt,
die sich von den jugendlichen Verblödungsprozessen symptomatologisch
nicht unterscheiden, und auch diese Tatsache als Stütze für die Annahme
herangezogen werden, daß die seelischen Schädigungen und vielleicht auch
die Ernährungsstörungen im Feldzuge ähnliche Wirkungen ausüben können.
Allein das sind fernlicgende Möglichkeiten, die auf unsere wissenschaft¬
lichen Entscheidungen keinen Einfluß ausüben können. Auch das Trauma
kann als auslösendes Moment für die Dementia praecox nicht angesehen
werden. Derartige Schädlichkeiten sind im Felde ungemein häufig, und
die Dementia praecox ist die verbreitetste geistige Störung, so daß mit
einem zufälligen Zusammenfallen beider von vornherein gerechnet werden
muß. Die Veröffentlichungen über den kausalen Zusammenhang von
Trauma und Dementia praecox sind um so weniger überzeugend, als es
traumatische Geisteskrankheiten gibt, die katatonische Zeichen aufweisen
und zu Verwechslungen mit der Dementia praecox häufig Anlaß geben. —
Auch bei Psychopathien wird viel zu häufig D. B. angenommen. Es gibt
zahlreiche Fälle, in denen Nervenschwächlinge in den ersten Tagen nach
ihrer Einstellung unter den mäßigen Anforderungen des Garnisondienstes
von hysterischen Krämpfen befallen werden und mit namhaften Renten
zur Entlassung vorgeschlagen werden. Derartige Zustände sind jedoch —
wie Stier bereits betonte — ihrer Natur nach vorübergehende, und die
Annahme von D. B. ist daher nicht berechtigt. Die Einigkeit der Fach¬
ärzte in diesen Fragen ist sehr erfreulich, und es darf daher gehofft werden,
daß die Medizinalabteilung den Sanitätsämtern sachgemäße Anleitung in
diesen Fragen geben wird, um die wissenschaftlich nicht zu begründende
und daher durchaus unberechtigte Gewährung von Renten in diesen
Fällen zu verhindern.
Gallus- Potsdam: Aus den Potsdamer Provinzialanstalten ist eine
größere Zahl, fast 70, von Psychopathen zum Heere eingezogen worden,
zumeist Fürsorgezöglinge teils mit intellektuellen, teils mit affektiven
Mängeln. Gegenüber den Feststellungen des Herrn Wümanns, die die
mangelnde Brauchbarkeit der Psychopathen für den Heeresdienst be¬
tonen, wird bemerkt, daß von diesen 70 die meisten zum Teil seit 2 Jahren
nach den bisher erlangten Auskünften sich im Heere gehalten haben, wenn
sie auch wohl manchen Anlaß zum Anstoß gegeben haben mögen. Es
sind einige gefallen, andere wegen Verletzungen ausgemustert, im übrigen
ist keiner bisher wegen Unzulänglichkeit ausgeschieden worden. Immerhin
gibt das kleine Material, das nur eine Ergänzung des Wilmanns sehen, aber
nicht vom gleichen Gewicht ist, Anlaß zu der Annahme, daß die mili-
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tärische Brauchbarkeit der Psychopathen vielleicht doch im Durchschnitt
größer ist, als Referent angegeben.
Bonhöffer -Berlin hofft, daß Herr Meyer die Frage der Dienstbeschädi¬
gung der Psychopathen noch in seinem Schlußwort bespricht, da gerade
hier in der Praxis vielfach noch zu häufig Dienstbeschädigungen ange¬
nommen werden, während es sich lediglich um eine Reaktion auf unge¬
wohnte Verhältnisse handelt. Tatsächlich ist der Prozentsatz der als dienst¬
beschädigt anzunehmenden Psychopathen gering. Die Durcharbeitung
meines Materials hat mir nur eben 5—8 % ergeben. Gerade bei der Psycho¬
pathie ist es wichtig, die Dienstbeschädigung nur in sicheren Fällen zu
bejahen, da mit der Anerkennung der Dienstbeschädigung dem Psycho¬
pathen der Prozeßweg offen steht, dessen Schädlichkeit für viele dieser
Invaliden klar liegt. Dem Gedankengang, der bei Herrn Weygandt mehr
oder weniger ausgesprochen unterläuft, daß man einem Paralytiker, der
doch nur kurz lebt, die Dienstbeschädigung ohne allzu große Bedenken
gewähren kann, muß ich widersprechen. Es liegt darin doch ein Über¬
schreiten der ärztlichen Kompetenz. Es ist gerade davor zu warnen, daß
diese sozialen Gesichtspunkte in die ärztliche Begutachtung hineinkommen.
/sserfm-München: Ich möchte an die Bemerkung des Herrn Wollen-
berg anschließen und gegenüber Herrn Wümanns festhalten, daß doch viel
eindringlicher als der Truppenarzt der Psychiater imstande ist, die
Leistungsfähigkeit — militärische und bürgerliche — des von ihm behan¬
delten psychisch und nervös Erkrankten zu begutachten. Es muß durchaus
betont werden, daß es nicht genügt, die Entlassenen dem Truppenarzt
mit einer psychiatrischen Diagnose zu übergeben, der fachmännische
Begutachter muß vielmehr zu allen Möglichkeiten der Verwendung bzw.
Nichtverwendung Stellung nehmen. Hierüber zu urteilen ermöglicht uns
neben genauer anamnestischer Nachforschung, klinischer Beobachtung,
psychologischem Versuch (insbesondere Arbeitsversuch), die Arbeitsbe¬
handlung, wie auch Herr Wollenberg betont hat. In der von mir geleiteten
Abteilung werden fast alle Kranken zunächst mit Bettruhe behandelt,
mit Medikamenten, larvierter und offener (auch hypnotischer) Suggestion,
und kommen, sobald es zweckmäßig erscheint, in die Werkstätten. Es
sind Werkstätten für Schreiner- und Kunstschlosserarbeit eingerichtet.
Die Arbeit gilt nicht als Dienst, sie wird den Kranken als Heilmittel
dargelegt; die Kranken werden nur mit ärztlich pädagogischen Mitteln
zur Arbeit ermuntert. Es wird im großen ganzen sehr gern gearbeitet,
zum Teil Vorzügliches geleistet; gerade die Art, wie die Kranken sich bei
«ler Arbeit verhalten, liefert uns einen sehr wertvollen Einblick in das
iCönnen und Wollen und gibt unserem Urteil über ihre militärische und
bürgerliche Leistung sichere Grundlagen. Sobald es ratsam erscheint,
tv'erden die Kranken dann zur Arbeit in heimatlichen oder fremden Be¬
trieben — landwirtschaftlichen und industriellen — beurlaubt, nach
Zeitschrift für Peyohistrie. LXXÜI. 2/3. 14
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einiger Zeit wieder im Lazarett beobachtet, wieder beurlaubt usw.; bei
Behörden, Betriebsvorständen werden Erkundigungen eingezogen. So
kann man bei der Entlassung des Mannes ein ziemlich sicheres Urteil
fällen. So gewinnt man auch befriedigende Behandlungserfolge, wenig¬
stens was die bürgerliche Leistungsfähigkeit der Leute anbelangt. Die
Prognose mit Bezug auf Felddienstfähigkeit allerdings ist ungünstig, und
diö Zahlen, welche Herr Wilmanns brachte, dürften wohl recht behalten.
Zweifellos gibt es genug Psychopathen, die eine Zeitlang mit Erfolg Feld¬
dienst machen, und wenn man sie bei den ersteren stärkeren Störungen
nicht zu weit ab von der Front behandelt, dürfte es auch in vielen Fällen
gelingen, sie wieder für einige Zeit nach vorn zu bringen. Sind sie aber
erst einmal gründlich oder mehrfach zusammengebrochen, dann darf
man nicht mehr sehr viel erhoffen. Wir haben eine Zahl alter Bekannter
der Klinik aus dem Felde wiederkommen sehen. Sie waren zum Teil frei¬
willig hinausgezogen, waren nicht selten mit Auszeichnungen zurückge¬
kehrt. Nunmehr erschien allerdings der Versuch einer Wiederverwendung
im Felde bei den meisten nicht mehr ratsam. Betonen möchte ich auch
gegenüber einer Diskussionsbemerkung, daß gerade eine Anzahl chronisch
Verstimmter und Zwangskranker aus meiner Beobachtung eine Zeitlang
im Felde Gutes leisteten. Sie empfanden zum Teil den Krieg als eine
Erlösung von dem dauernden Druck, freilich immer nur für einige Zeit.
Besonders lehrreich war mir hier ein Kranker mit schweren Phobien. Er
war mir lange vor dem Kriege bekannt, durch seine Krankheit in seinem
bürgerlichen Berufe schwer gehemmt. Bei Ausbruch des Krieges einge¬
zogen, hielt er sich etwa y 2 Jahr lang sehr gut, schrieb frohe Briefe, er
habe „keine Zeit“ zum Angsthaben, die wechselvollen Geschehnisse und
Gefahren lenkten ihn von seinen Befürchtungen ganz ab. Er wurde wieder
unsicher, als in seiner Nähe ein Kamerad geisteskrank wurde, und brach
völlig zusammen, als er wegen einer körperlichen Erkrankung (Dysenterie)
ins Lazarett kam. Also es geht auch bei Psychopathen — besonders bei
solchen mit „intaktem Gesundheitsgewissen“ — eine Weile, und man soll
gewiß versuchen, zu erreichen, was nach Lage des Falles möglich erscheint.
Aber man sollte nicht durch unnütze Versuche die mit Bezug auf die Ar¬
beitsfähigkeit bestehenden Aussichten verschlechtern. Zur richtigen Be¬
handlung gehört es auch, im gegebenen Moment den Versuch auf Wieder¬
erlangung der Felddienstfähigkeit aufzugeben und sich mit Garnison-
dienstfähigkeit oder Entlassung in den bürgerlichen Beruf (N. B. Stellen¬
vermittlung) zu begnügen. Äußerste Strenge muß hingegen dauernd bei
der Anerkennung der Dienstbeschädigung und der Rentenerteilung walten.
Nur bei 4% der als d. u. entlassenen Kriegsneurotiker habe ich — nach
einer kürzlich gemachten Zusammenstellung — über 20% Rente zu¬
erkannt.
7a/cofc-Hamburg berichtet über die Erfahrungen im Nervengene-
sungsheim Malonne (Belgien) in zwei Punkten: die Behandlung der dort
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relativ frisch eingelieferten funktionell-nervösen Bewegungs- und Sprach¬
störungen geschieht zunächst mit Ruhe und Isolierung, jedoch bald kom¬
biniert mit aktiver Behandlung (Hypnose und Strom). Refraktär ver¬
halten sich vor allem Schwachsinnige. — Was die Dienstbrauchbarkeit
der Neurastheniker und Psychopathen angeht, so kann Jakob von einigen
Fällen berichten, die vor dem Kriege jahrelang in Behandlung standen und
im Kriege Mieder das Selbstvertrauen gewannen. Man kann hier von
Kriegsheilung sprechen. — Ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz der
hier zur Behandlung kommenden nervösen Schwächezustände wird geheilt
Mieder als k. v. zur Front geschickt. — Das in der Heimat zur Behand¬
lung kommende Material muß sich wesentlich von dem unsrigen unter¬
scheiden.
Martineck-Ber\in : Die Frage der Dienstbeschädigung bei Geistes¬
krankheiten und Psychoneurosen ist bereits eingehend in einer Sitzung
des Wissenschaftlichen Senats an der Kaiser Wilhelms-Akademie erörtert
worden, desgleichen die Bedeutung der Arbeitstherapie bei Nervösen.
Das Ergebnis der Beratungen Mrird in einer besonderen Anleitung zu¬
sammengestellt und den Ärzten zugänglich gemacht werden. Dabei werden
natürlich die Ergebnisse dieser Versammlung entsprechend mitberück¬
sichtigt werden.
Äau/mann-Mannheim-Ludwigshafen bestätigt Herrn Binswanger, daß
die Behandlung hysterischer Lähmungen mit schmerzhaften elektrischen
Strömen so alt ist wie die Elektrotherapie selbst. Das, was er für sein
Vorgehen bei der Behandlung der veralteten motorischen Kriegsneurosen
für charakteristisch hält, ist die Kombination der elektrischen Behandlung
mit der Erteilung der Suggestionen in Befehlsform, die • Übungstherapie
unter militärischer Willensüberwältigung, die zum Verschwinden der
Symptome in einer Sitzung führt, und zwar nicht nur bei Lähmungs-,
sondern auch bei Reizerscheinungen. Er betont, daß das Elektrisieren
jeweils nur ganz kurz ausgeübt ward, und daß das Üben und Exerzieren,
das, was Kehrer sehr richtig als Gewaltexerzieren bezeichnet, im Vorder¬
gründe steht. Er hält dieses Vorgehen jedenfalls für weniger eingreifend-
als die „psychische Abstinenzkur“ und für berechtigter als die Isolierung
in einer Irrenabteilung. In einem K. zur Kenntnis gekommenen Exitus
bei Behandlung mit starken Wechselströmen hatte der betreffende Arzt
in fehlerhafter Weise starken Wechselstrom in der Herzgegend angewandt,
die Autopsie hat Status thymicus ergeben. (Vgl. im übrigen die Dis¬
kussionsbemerkung K .s in der Sitzung vom 22. September, S. 205.)
Gaupp-Tübingen stimmt Herrn Wilmanns in allem Wesentlichen zu,
nur nicht in der Auffassung, daß der Truppenarzt die Frage der Dienst¬
fähigkeit manchmal besser beurteilen könne, weil er den Mann bei der
Arbeit sehe, als der Fachmann im spezialistischen Lazarett. Im ganzen
ist doch das Gegenteil so überwiegend der Fall, daß mir die Einrichtungen
im Mdirttembergischen Armeekorps besser erscheinen, nach denen der
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Truppenarzt beim Ehrsatztruppenteil einen Nervenkranken, der vom lach¬
ärztlichen Beirat begutachtet wurde, nicht kurzerhand anderweitig ver¬
wenden lassen kann, ehe nicht dem fachärztlichen Beirat noch einmal
Gelegenheit zur Gegenäußerung gegeben wurde.
Hahn-Frankfurt a. M. glaubt, daß chronische Alkoholisten noch am
ehesten in der Front zu verwenden sind, weil im Etappen- und Heimat-
gebiet die Versuchung zu groß ist.
Älüher-Erlangen berichtet kurz über die im allgemeinen guten Er¬
fahrungen, die mit Psychopathen der Erlanger Anstalt im Heeresdienst
gemacht wurden. Er teilt kurz einen Fall mit, der als klassisches Beispiel
für die Richtigkeit der Erfahrung gelten kann, daß Psychopathen nicht
als garnisondienst-, sondern als felddienstfähig zu verwenden sind, und
auch da wieder mehr für den Bewegungskrieg als für den Stellungskrieg.
Äosfer-Flensburg: Zu der vielerörterten Elektrotherapie möchte ich
ein vor ca. 14 Tagen erlebtes Beispiel anführen als Beweis dafür, daß das
Faradisieren mit hohen Strömen nicht immer unbedenklich ist. Bei einem
kräftig gebauten Manne, der früher stets gesund gewesen sein soll, zurzeit
eine hysterische Lähmung hatte, trat sofort beim Elektrisieren, das ein
Flensburger Kollege vornahm, Angstgefühl ein; der Kranke sagte kurz:
„Ich fühle, daß ich sterbe“ und starb. Sektionsbefund: Vergrößerte
Thymus. Status thymicolymphaticus. Sonst normaler Befund.
Stransky -Wien stellt mit Genugtuung fest, daß seinen schon früher
erstatteten und jetzt wiederholten Anregungen und Vorschlägen bezüglich
der Kriminellen — und er kann in Beantwortung einer Anfrage hinzu¬
fügen, auch der Alkoholiker — von Praktikern zugestimmt wird; vielfach
haben diese Elemente selber das richtige Gefühl dafür, daß sie nicht garoi-
son-, wohl aber frontdiensttauglich sind, und verlangen geradezu dorthin,
wo sie sich nicht selten auszeichnen. Bei den Neurotikern sehen die Wiener
(p. Wagner und Redlich) von Elektrotherapie und Kombination mit Iso¬
lierung und Diätbeschränkung oft überraschende und anhaltende Erfolge;
selbst in verschleppten Fällen.
Liebermeister -Düren hat ebenfalls einen Fall von Thymustod bei
Faradisation gesehen; er rät, mit den ganz starken Strömen etwas vor¬
sichtig zu sein und durch gründliche Massensuggestion die Patienten so
vorzubereiten, daß sie vor dem Elektrisieren solchen Respekt haben, daß
die angewandten Ströme dann nicht so stark genommen zu werden brau¬
chen. Zweckmäßig ist gleichzeitige Behandlung gleichartiger Fälle.
Nach IFiet/eW-Kuxhaven stellen die Psychopathen nach Alkohol¬
genuß eine besondere Gefahr für die Truppe dar. Die schweren Trinker
sind weniger gefährlich, da diese auch von den nicht ärztlichen Vorge¬
setzten richtig beurteilt werden. Die Psychopathen werden durch Al¬
koholabstinenz in den meisten Fällen dienstbrauchbar, zum mindesten a. v.
Man überweist zum Zwecke der Erziehung zur Abstinenz die Psycho-
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pathen dem Blaukreuzverein oder der Guttemplerloge. In der Marine
sieht man damit gute Erfahrungen.
Witmanns (Schlußwort): Nach einigen Bemerkungen könnte es
scheinen, als ob die Anforderungen der Fachärzte und Truppenärzte des
XIV. Armeekorps an die militärische Verwendbarkeit der Psychopathen
zu hoch gewesen wären, mit andern Worten, als ob das Ergebnis der Fest¬
stellungen ungünstiger gewesen wäre, als es bei sachlicher Entscheidung
hätte sein dürfen. Es soll zugegeben werden, daß, zumal in dem ersten
Kriegsjahre, Mannschaften als d. u. entlassen worden sind, die den be¬
scheidenen Ansprüchen in der Garnison und der Etappe wohl noch hätten
.genügen können. Im allgemeinen sind jedoch die Entscheidungen sachlich
und dem Interesse des Heeres gemäß gefällt worden. Daß das Ergebnis
-der Erkundigungen so ungünstig ist, und kein klares Bild über die mili¬
tärische Verwendbarkeit des Psychopathen im allgemeinen gibt, liegt an
-der besonderen Auswahl des eingewiesenen Materials, wie wiederholt betont
wurde. Daß gewisse Psychopathen, z. B. die konstitutionell Erregten,
.sanguinisch Minderwertigen und dergleichen in den engen Verhältnissen
der Garnison versagen und im Frontdienst unter Umständen Ungewöhn¬
liches leisten können, habe ich erwähnt. Zahlreiche Beispiele aus den
Kreisen der Fremdenlegionäre, der Zwangszöglinge und der Kriminellen
beweisen, daß die Anschauung Stranskys und Weygandts richtig ist, daß
«in Mann k. v., aber nicht g. v. sein kann. Seige hat aber mit Recht darauf
hingewiesen, daß diese Typen wohl „bewegungskriegsverwendungs¬
fähig“, nicht aber „stellungskriegsverwendungsfähig“ sind, und damit
gezeigt, welche Verantwortung der Truppenarzt auf sich nimmt, wenn er
derartige Psychopathen als k. v. bezeichnet und damit der Truppe gegebe¬
nenfalls große Lasten und Scherereien aufbürdet. — Stier hat natürlich
recht, wenn er hervorhebt, daß wir psychogene Reaktionen auch in Frie¬
denszeiten bei Soldaten gekannt haben. Neu war für uns jedoch ihre un¬
gewöhnliche Häufung, besonders der abenteuerlichen Formen, vor allem
aber die Tatsache ihres Auftretens bei Personen, die bis dahin krankhafte
Abweichungen vom Durchschnitt nicht gezeigt hatten und erst auf die
ganz außerordentlichen seelischen Erschütterungen hysterisch zusammen¬
brachen. — Herrn Wottenberg gegenüber bemerke ich, daß — wie ich
auch in meinem Bericht kurz gestreift habe — der Arbeitstherapie in den
Nervenlazaretten des XIV. Armeekorps von Anfang an die größte Be¬
achtung geschenkt worden ist, daß aber der Erfolg dieser Behandlung bei
den hysterischen Neurosen sehr unbefriedigend war und eine Besserung
der Heilungsergebnisse erst mit der Einführung der Behandlung mit starken
elektrischen Strömen erzielt wurde. Die Todesfälle, über die berichtet
worden ist, sind sehr bedauerlich, geben uns aber nicht das Recht, über
dieses Verfahren zur Tagesordnung überzugehen. Mißerfolge dieser Art
hafteten vielen 'ärztlichen Verfahren an, die mittlerweile Gemeingut der
Ärzte geworden sind; und ich bin der sicheren Überzeugung, daß bei richti-
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Verhandlnngen psychiatris eher Vereine.
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ger Anwendung der Methode Unglücksfälle sich in Zukunft vermeiden
lassen werden. — Jsserlin und Gaupp gegenüber betone ich, daß selbst¬
verständlich der Facharzt ein sachlicheres Urteil über den Seelenzustand
eines Mannes abgeben wird als der in der Seelenheilkunde unerfahrene
Truppenarzt, daß aber andrerseits der Facharzt in den seltensten Fällen
Gelegenheit haben wird, sich einen tieferen Einblick in die zahllosen Ver¬
wendungsmöglichkeiten zu verschaffen, die die militärische Organisation
für seelisch Regelwidrige bietet. Der Truppenarzt wird dem fachärztlichen
Gutachten die ihm gebührende Achtung entgegenbringen, trotzdem aber
das Urteil unter Umständen umstoßen dürfen. Die Erfahrung lehrt, daß
in zahlreichen Fällen Mannschaften in bestimmten für sie geeigneten
Posten Nutzenbringendes zu leisten vermochten, die der Facharzt aus
Unkenntnis dieser Möglichkeiten als dienstunbrauchbar zur Entlassung
vorgeschiagen hatte.
Das Ergebnis der Besprechung zeigt, daß in allen wesentlichen
Punkten erfreuliche Einigkeit herrscht. Es ist als unbedingt notwendig
erkannt worden: die Schaffung von Nervenlazaretten hinter der Front
zur Aufnahme der Erschöpften und Schreckneurotiker, die Vermeidung
der Verlegung dieser Kranken in das Heimatgebiet, die Sammlung und
sachgemäße Behandlung der aus irgendwelchen Gründen trotzdem ins
Heimatgebiet Verlegten in besonderen fachärztlich geleiteten und am
zweckmäßigsten in ländlicher Umgebung gelegenen Nervenlazaretten.
Auch darin besteht Einigkeit, daß die in das Heimatgebiet verlegten
Kriegsneurotiker nur in verschwindenden Ausnahmen wieder k. v. werden,
und daß es sich im allgemeinen empfiehlt, sie, ohne sie erst zur Truppe
zurückzuschicken, als a. v. in die Kriegsindustrie oder den eigenen Arbeits¬
betrieb zu entlassen, ferner, daß auf jede Weise versucht werden muß,
den Kranken nicht vor Erreichung des höchstmöglichen Grades von Er¬
werbsfähigkeit aus dem Lazarett zu entlassen, und endlich, daß Renten
für Neurotiker möglichst gering zu bemessen und, wenn irgend zu verant¬
worten. überhaupt nicht zu gewähren sind.
E. Mryer (Schlußwort): Die Aussprache hat <o \iel gezeigt, daß
offenbar die Versammlung mit den Ausführungen über die Kriegsdienst¬
beschädigungen bei Geisteskrankheiten im wesentlichen einverstanden ist.
Es steht zu hoffen, daß auch die Beurteilung in der Praxis sich danach
lichten wird, wenn, wie mitgeteilt, das Kriegsministerium entsprechende
Anleitung gibt.
Was die psychopathischen Konstitutionen angeht, so hat M. anfangs
die Neigung gehabt, Rente in weiterem Umfange zu gewähren; mit Rück¬
sicht auf den Nachweis, daß die Kranken mindestens zum großen Teil
früher schon nachweislich nervöse Störungen hatten, und es sich zumeist
um vorübergehende pathologische Reaktionen handelt, und im Hinblick
auf die große allgemeine praktische Bedeutung ist M. jetzt ebenfalls der
Meinung, daß solche Kranken ohne oder jedenfalls mit sehr gering* r
Rente zu entlassen seien. ,
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Antrag von //oc/»e-Freiburg über die Kapitalabfindung von
Kriegsneurosen:
Hoche begründet kurz im Sinne seinem Veröffentlichung „Über Wesen
und Tragweite der Dienstbeschädigung bei nervös und psychisch erkrank*
ten Feldzugsteilnehmern“ {Monatschrift f. Psych. u. Neur. Heft 6, 1916)
die Notwendigkeit, von neurologischer und psychiatrischer Seite ge¬
schlossen für die Einführung der Kapitalabfindung für die genannten
Kategorien Verletzter einzutreten. Er schlägt folgende Resolution vor:
„Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß unter den gesundheitlichen
Nachwirkungen des Krieges, welche den Feldzugsteilnehmern den Anspruch
auf eine Entschädigung gewähren, Störungen nervöser Art eine zahlen¬
mäßig sehr bedeutende und in ihrem Einfluß auf die Volksgesundheit und
die nationale Arbeitskraft verderbliche Rolle spielen werden. ;
Die tatsächlichen nervösen Kriegsbeschädigungen werden, wie wir
das aus tausendfacher Berührung mit nervösen Unfallsfolgen im Fneden
ableiten können, in ihrer Tragweite vervielfacht werden durch die Ver¬
quickung mit den seelischen Einwirkungen des Entschädigungsverfahrens.
Insbesondere werden wir mit einer großen Anzahl von Neurosefällen
zu rechnen haben, bei denen durch die Form der Entschädigung in einer
fortlaufenden Rente (die nach den Militär-Pensionsgesetzen ausschließlich
in Frage kommt), eine Wiederkehr der Arbeitsfähigkeit verzögert oder
gänzlich verhindert wird („traumatische Neurosen“, „Kentenneurosen M
usw.).
Für Erkrankungen dieser Art ist im Interesse der einzelnen Geschä¬
digten wie der gesamten Volksarbeitskraft die endgültige Erledigung der
Entschädigungsansprüche in Form der Kapitalabfindung als das wirk¬
samste Heilmittel zu erstreben.
Es ist ein dringendes Erfordernis, daß durch gesetzliche Regelung
die Möglichkeit der Kapitalabfindung für diejenigen Fälle nervöser und
psychischer Kriegsschädigung geschaffen wird, deren Heilungsaussichten
auf diesem Wege besser sind als auf dem des fortlaufenden Rentenbezuges.“
Diese Resolution wurde von der Versammlung einstimmig ange¬
nommen.
Um 5 Uhr schließt der Vorsitzende Moeli die Versammlung, wobei
er den Berichterstattern, dem Ortsausschüsse und den Schriftführern dankt.
Er sagt weiterhin Dank der Klinik sowie deren Verwaltung, die trotz der
Kriegszeit die Verpflegung während der Frühstückspause und die damit
verbundene Mühewaltung übernommen hat.
Sitzung am 22. September — gemeinsam mit der Gesellschaft Deutscher
Nervenärzte — im Hörsaal der I. med. Klinik.
a) Vormittagsitzung.
Vorsitzender: Oppenheim-Berlin, später Saenger- Hamburg. Schrift¬
führer K. Mendel- Berlin. Lokaler Schriftführer: .Spiefmeyer-München.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Herr Oppenheim begrüßt die Versammlung, er gedenkt der in den
letzten 3 Jahren verstorbenen Ehrenmitglieder, korrespondierenden Mit¬
glieder und Mitglieder: Ehrlich, Horsley, Gowers, Mitchell, Bernhardt,
v. FrankUHochwart, Friedmann, Heilbronner, Hey, Hoenißer, Kaes, L. La -
quer, Matthes, Oberndorfer, Rothmann, Thomsen.
Bericht: Neurosen nach Kriegsverletzungen.
I. Oppenheim- Berlin:
1. Hysterie und Neurasthenie sind verschiedene Krankheiten. Die
Begriffe Neurasthenia cordis, vasomotoria, sexualis etc. sind aufrechtzu¬
erhalten. Auch der Tic, die Hemikranie, die Quinckesche Krankheit, die
Akroparästhesien, die Crampi usw. sind selbständige Affektionen. Es gibt
also eine Gruppe von Neurosen.
2. Da sich die Mehrzahl derselben im Gefolge eines Traumas ent¬
wickeln kann, ist es berechtigt, von traumatischen Neurosen zu
sprechen, auch dann, wenn das Trauma nur die auslösende Ursache bildet.
3. Ihre genauere Klassifizierung scheitert oft an der Neigung zu
Kombinationen. Schon aus diesem Grunde kommt man oft über die
Diagnose „traumatische Neurose“ nicht hinaus.
4. Der Begriff des Traumas schließt die psychische und mechani¬
sche Erschütterung ein. Beide können dieselben Funktionsstörungen im
zentralen Nervensystem hervorrufen.
5. Die psychotraumatische Ätiologie schafft nicht nur psychische
Krankheitsbilder.
6. Die „Schreckneurose“ bedarf der schärferen Begriffsbestim¬
mung. Ihre Anerkennung und mehr noch die der Kommotionsneurose
involviert auch die der traumatischen Neurose.
7. Das peripherisch angreifende Trauma kann ohne psychische Ver¬
mittlung Neurosen hervorbringen; oft tragen aber psychische Vorgänge
zu ihrer Fixierung bei.
8. Auch „das freie Intervall“ ist kein Beweis gegen die Wirksamkeit
des körperlichen Traumas.
9. Die Hyperthermie kann zu den Symptomen der traumatischen
Neurose gehören.
10. Eis gibt vasomotorisch-trophisch-sekretorische Störun¬
gen bei t. N.,die weder hysterischer Natur sind, noch sich aus der Inaktivität
und Druckverbänden erklären. Das Zustandsbild kann sich dem der
Sklerodermie nähern.
11. DieZeichendes Hyperthyreoidismus können zum Symptom¬
bild der t. N. gehören.
12. Der Begriff Akinesia amnestica ist ein symptomatischer
(etwa wie der der Akinesia algera). Sie kann sich auf dem Boden der
Hysterie entwickeln, und ihre Entstehung wird durch die hysterische Dia-
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these begünstigt. In der typischen, von mir geschilderten Ausbildung ist
der Zustand kein hysterischer in dem bisher gebräuchlichen Sinne.
13. Die völlige Ausschaltung der Bewegungen, auch unter Bedingun¬
gen, die von der Psyche unabhängig sind, verleiht der Akinesia am-
nestica und Reflexlähmung ihre Sonderstellung gegenüber der
Hysterie. Die Grenze zwischen der Akinesia amnestica und Reflexlähmung
ist nicht immer eine deutliche, es gibt aber eine Form der letzteren, die
der arthrogenen Muskelatrophie nahesteht.
14. Die Rückbildung der Lähmungszustände vom Typus der Akinesia
amnestica unter dem Einfluß starker Willensimpulse und peripherer Reize
(Methode Kaufmann usw.) steht nicht im Widerspruch zu der ihnen von
mir gegebenen Deutung.
15. Die Innervationsentgleisung kommt sowohl bei organischen
wie bei funktionellen Lähmungen vor.
16. Die Crampusneurose (Myotonoclonia trepidans) hat innige
Beziehungen zur Hysterie, ohne mit ihr identisch zu sein; sie steht etwa
auf gleicher Stufe mit den Halsmuskelkrämpfen.
17. Die Verbreitung der Hysterie unter den Kriegsverletzten ist
von mir unterschätzt worden.
18. Tr. Neurosen kommen auch in Lazaretten der Gefangenenlager,
wenn auch anscheinend viel seltener wie in andern gemischten Lazaretten,
vor. Die bisher für die Seltenheit versuchten Erklärungen halten zum Teil
der Kritik nicht stand.
19. Die tr. N. vom Typus der Hysterie und Neurasthenie gehören
zu den in der Regel heilbaren Nervenkrankheiten. Wie bei allen Neurosen
wird ihre Heilung durch die Hoffnung auf und den Willen zur Genesung
wesentlich gefördert. Es muß deshalb alles vermieden werden, was den
Willen zur Gesundung schwächt und das Haftenbleiben der Krankheit
begünstigt. Die Rente ist also im allgemeinen niedrig zu bemessen und
die Kapitalsabfindung zu befürworten.
II. iVo/me-Hamburg:
1. Der Krieg hat bewiesen, daß auch in bezug auf das Nervensystem
bisher vollwertige Individuen einen neurasthenischen Symptomkomplex
erwerben können. Die Ansicht über die Neurasthenie als eine Ermüdungs-
krankheit im weiteren Sinne ist durch die Kriegserfahrungen bestätigt
worden.
2. Wenn man die Hysterie dahin kennzeichnet, daß bei ihr Gemüts¬
bewegungen abnorm leicht auftreten und wieder schwinden und daß die
seelischen Zustände abnorm leicht in körperliche Symptome sich pro¬
jizieren, die Gemütsbewegung oft lange überdauernd, so hat der Krieg
Igelehrt, daß Hysterie auch bei bisher Vollwertigen nicht selten ist. Außer¬
dem hat sich gezeigt, daß katastrophale Ereignisse jene Form der Hysterie
in die Erscheinung treten lassen, die in Form von Abwehrbewegungen
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Reminiszenzen an jedem Individuum angeborene und im normalen Leben
latente Schutzmechanismen darstellt. Im übrigen sind häufig die ver¬
schiedenen Formen der monosymptomatischen und oligosymptomatischen
Hysterie im Sinne Charcots. Die Grenzen zwischen gewissen Formen
von Hysterie und Schreckneurose sind keine scharfen. Bei vielen Fällen
von Hysterie im Kriege spielt die Art und Wertigkeit des Traumas eine
größere Rolle als die Persönlichkeit des Kranken.
3. Die lokalisierten Kontrakturen und Klonismen, die Akinesia
amnestica, die Reflexlähmung, Myotonoclonia trepidans (pseudospastische
Parese mit Tremor) sind bei den Kriegsfällen als Ausdruck der Hysterie
aufzufassen. Die Psychogenie ist in vielen Fällen nachzuweisen, in andern
Fällen nicht auszuschließen. In ihrer klinischen Erscheinungsweise bieten
die Kriegsfälle nichts unseren bisherigen Erfahrungen über Hysterie prin¬
zipiell Widersprechendes. Alle Formen können auch ohne somatisches
Trauma auftreten.
4. Die — schon im Sanitätsbericht des Heeres 1870/71 erwähnte —
Auffassung von einer mechanischen Erschütterung der peripheren Nerven
und von da ausgehendem Reiz auf die zerebralen oder spinalen Zentren
lassen sich nicht beweisen und nicht bindend widerlegen. Plötzliche, auf
rein suggestivem Wege erzielte-Heilungen sprechen mehr im letzteren Sinne.
Partielle funktionelle Lähmungen im Bereich organisch gelähmter
Nerven sind aufzufassen zum Teil als funktionelles Fixiertbleiben einer
abgeheilten leichten organischen Lähmung, zum Teil ideagen zu erklären.
5. Die alkohologene Form der Hysterie spielt im Kriege nach den
bisherigen Erfahrungen keine Rolle.
Die „Granatexplosions“-Neurosen sind, soweit somatisch-organische
Symptome auf neurologischem und psychischem Gebiete fehlen, funktio¬
neller Natur. Länger dauernde Bewußtlosigkeit schließt die Annahme
einer funktionellen Grundlage keineswegs aus. Auch die Psychogenie ist
durch Eintritt von Bewußtlosigkeit nicht ausgeschlossen. Auch solche
Fälle können, auch nach einem Bestehen von vielen Monaten, akut durch
Suggestion (insbesondere hypnotische Suggestion) geheilt werden, ebenso
wie in Hypnose ganz dieselben Formen wieder akut hervorgerufen werden
können. Die Umstände vor der Katastrophe spielen in vielen Fällen eine
Rolle.
Die Annahme organischer Veränderungen irgendwelcher Art im
Zentralnervensystem ist für solche Fälle nicht berechtigt. Somatische
Traumen sind für die Entstehung auch der schweren klinischen Bilder nicht
nötig; akute und chronische psychische Traumen können sie ebenfalls
hervorrufen. Auffallend häufig entwickeln sich dieselben Bilder im Kriege
nach Infektionskrankheiten.
6. „Traumatische Neurose“ ist keine besondere Krankheit. .Die
unter diesem Namen beschriebenen Symptombilder sind unterzubringen
unter die bisher bekannten Neurosebilder bzw. ihre Kombinationen. Diese
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Erkrankungsform ist weniger bedingt durch die aus dem Unfall bzw. aus
der Verletzung resultierenden direkten Folgen als durch die in der Per¬
sönlichkeit des Verletzten liegenden Eigenschaften und die sich dem „Ver¬
fahren“ anschließenden Begleitumstände. Die Störungen sind als eine
Reaktion des Verletzten auf die durch den entschädigungspflichtigen Unfall
für ihn neu geschaffene Situation anzusehen. Ein somatisches Trauma
ist für das Auftreten dieser Symptombilder keine Vorbedingung. Organi¬
sche Veränderungen irgendwelcher Art liegen den Symptombildern nicht
zugrunde. Diese Lehre ist auch praktisch bedenklich, weil eine solche
Auffassung die Begutachtung und praktische Bewertung der Unfallsfolgen
sowie die wirtschaftlichen Interessen des Staates und die gesundheitlichen
Interessen der Erkrankten ungünstig beeinflussen würde.
7. Die Prognose der im Kriege erworbenen Neurosen ist an sich die¬
selbe wie in Friedenszeiten, erhält aber eine besondere Färbung durch die
Verhältnisse des Krieges.
8. Die Therapie ist dieselbe, wie sie sonst geübt wird. Auch hier
spielt die Psychotherapie im weitesten Sinne die Hauptrolle. In der Be¬
seitigung von Symptomen leistet die hypnotische Suggestion viel, ln der
Prophylaxe des Auftretens sowie der Rezidive von Neurosen sowie für die
eigentliche Behandlung der Neurosen bleibt Werte schaffende Arbeit das
hauptsächlichste Moment.
III. Gaupp-Tübingen: (In Übereinstimmung mit Nonne erweitert G.
den Begriff „Kriegsverletzungen“ zu „Kriegsschädigungen“.)
Eine besondere Kriegsneurose gibt es ebensowenig wie eine be¬
sondere traumatische Neurose. Die in der Literatur zutage tretenden
Gegensätze und Mißverständnisse rühren hauptsächlich von unklarer Be¬
griffsbestimmung, von verschiedenem Gebrauch medizinischer Begriffe her.
Es ist deshalb eine kurze Definition der neurologischen Grundbegriffe in
bezug auf die Neurosen vorauszuschicken.
Organische Erkrankung heißt jede anatomisch nachweisbare
krankhafte Veränderung des Nervensystems; im Gehirn und Rückenmark
ist die organische Erkrankung in der Regel gleichzeitig auch eine un¬
heilbare Erkrankung, weil das Zentralnervensystem zum Unterschied
von den peripheren Nerven keine nennenswerte Regenerationskraft besitzt.
Funktionelle Erkrankung heißt die anatomisch nicht oder noch nicht
nachweisbare Krankheit, deren materielle, physikalisch-chemische Grund¬
lage unbekannt ist. Der Kreis des Funktionellen verengert sich mit dem
Fortschritt der hirnpathologischen Forschung'(vgl. die Epilepsie, die Para¬
lysis agitans, die Chorea). Die funktionellen Erkrankungen sind in der
Regel die leichteren, nicht unheilbaren, die ihnen zugrundeliegen¬
den Hirnvorgänge sind meist ausgleichsfähig, führen nicht zum anatomi¬
schen Zerfall, nicht zum klinischen Defekt. (Die Begriffe „mole¬
kular“, „mikroorganisch“, „mikrostrukturell“ sind entbehrliche Hills-
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explosive, hypochondrisch-depressive Anlage) kann sich verstärken, die
Neigung zu seelischer Dissoziation (Dämmerzustände) ist auch ohne akute
Schädigung groß. Die psychiatrische Analyse des Einzelfalles weist die
psychopathische Grundlage der meisten neurotischen Erkrankungen im
Kriege auch da häufig nach, wo die übliche Erhebung der Anamnese
versagt.
3. Die akuten psychogenen und hysterischen Zustände.
Massigkeit der hysterischen Symptome, Überwiegen der motorischen Ex¬
pressivsymptome. Kurze Übersicht über die klinische Symptomatik auf
körperlichem und seelischem Gebiet. Die Bedeutung der prämorbiden
Persönlichkeit auch hier unverkennbar. Der flüchtige schreckneuroti¬
sche Symptomkomplex als Ausdruck ungewöhnlich starker seelischer
Erschütterung und die Fixation der Symptome unter dem Einfluß des
Willens zur Krankheit, der ängstlichen Spannung und Erwartung.
Gleichartigkeit der schreckneurotischen Bilder nach akutem schweren
Schock (Minenexplosion, Granatexplosion, Verschüttung, Granatsplitter¬
verletzung, Kopfstreifschuß) und nach subakuter Einwirkung seelischer
Erregungen (Einstellung zur Truppe, Ausbildung, Fahrt zur Front, erster
Tag im Schützengraben, Ansage des Sturmangriffs, Vorgehen zum Sturm,
Anblick schwer verletzter oder toter Freunde und Kameraden). Die all¬
mähliche Entwicklung vieler neurotischer Zustände in den Stunden,
Tagen und Wochen nach dem akuten Schock, auf dem Wege zur Heimat,
im Heimatlazarett, unter der Einwirkung ärztlicher Fehldiagnosen, falscher
Behandlung, Angst vor erneuter Dienstleistung, Erinnerung an die Feld¬
erlebnisse. Die mechanische Erschütterung wird bei den Neurosen
nach Granatexplosion oft überschätzt. Die Explosion kommt meist
nicht so überraschend, daß zu einer seelischen Wirkung auf den Betroffenen
keine Zeit wäre. Das nahende Geschoß wird meist vorher gehört. Schutz¬
maßregeln können sogar noch manchmal getroffen werden. Angstvolle
Spannung geht der Explosion und daran sich anschließenden Bewußtlosig¬
keit in der Regel voraus. Die Bewußtlosigkeit ist häufiger eine psychogene
Ohnmacht als eine mechanogene Commotio cerebri. Natürlich kommt
aber auch diese vor. Anfangs oft organische Veränderungen (Commotio.
Contusio und Compressio, Monoplegien, Hemiparesen, Trommelfellrup¬
turen, Labyrintherschütterung, Commotio medullae spinalis); manche
dieser Störungen sind unheilbar, andere heilen rasch, wenn keine psycho¬
genen Störungen hinzu treten.
Die Mehrzahl der klinischen Bilder sind rein psychogen: sehr
häufig ist ein flüchtiger schreckneurotischer Komplex, der in der Ruhe
rasch abklingt (Zittern, Schwäche der Beine, Spracherschwerung, Lachen
und Weinen, dumpfe Apathie). Häufig fixieren sich die akuten schreck¬
neurotischen Bilder; oft kombinieren sie sich mit ideogenen hysterischen
Symptomen. Die Abtrennung der Schreckneurose von der Hysterie ist
eine Frage der Definition: Die „Akinesia amnestica“, die „Reflexlähmung“.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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die „Myotonoclonia trepidans“ sind psychogene Zustandsbilder. Bei der
Hysterie finden sich alle Grade der Lähmung von der leichten, eben noch
dynamometrisch nachweisbaren Parese bis zur absoluten schlaffen Läh¬
mung mit vasoparalytischen und trophischen Begleitsymptomen. Die
tiefe Wirkung des Psychischen auf die Körperlichkeit teilt die Hysterie mit
der Hypnose. Die Heilung ist auf dem Wege akuter seelischer Beein¬
flussung möglich. Die Kriegsneurotiker sind meist unverwundet;
die gegenteilige Behauptung Oppenheims wird durch die Erfahrungen an
sehr großem Material absolut sicher widerlegt. Die Kriegsneurosen sind
bei den Kriegsgefangenen, auch wenn sie schwer verschüttet waren,
selten. Es besteht bei ihnen, namentlich da, wo Austausch nicht in Frage
kommt, ein positiver Wille zum Gesundbleiben, weil dieses Gesundbleiben
für sie die wichtigste Voraussetzung für die Erfüllung ihres liebsten Wun¬
sches, der Rückkehr in die Heimat, darstellt.
Die Determinierung der jeweiligen Symptome der akuten
psychogenen Zustände ist vielseitig: Fortdauer der akuten Schreckwirkun¬
gen, Wiederaufleben früherer neurotischer Symptome (z. B. Aphonie,
Stottern, Tic), familiäre Anlage zu bestimmten Reaktionen, Bereitliegen
gewisser biologisch vererbter Abwehrmechanismen im Sinne der Kraepelin-
sehen Hysterielehre. Festhalten einer im Moment des Schreckens ein¬
genommenen Haltung, Verfall in offensichtliche Zustände der Hilflosigkeit,
in Infantilismus, Puerilismus, Agrammatismus, Aufpfropfung massiver
Symptome auf bestehende leichtere Übel, so der Taubstummheit und
Taubheit auf alte Otitis oder organische Schwerhörigkeit, des Mutismus
auf Stottern, Nachwirkung erst kurz vorher durchgemachter Krank¬
heit (Pseudotetanus nach früher durchgemachtem Tetanus), Fixation
bestimmter Haltung nach anfänglichen Schmerzen durch Kontusion usw r .
Dazu kommen manchmal unbestimmtere, der schon vorher bestehenden
nervösen Erschöpfung entstammende Beschwerden, die dann mit den
hysterischen Symptomen das Bild der sogenannten „Hysteroneurasthenie“
ausmachen. Symptomfixierend und variierend wirken auch ärztliche Rat¬
schläge und Fehldiagnosen, falsche Behandlung mit orthopädischen Ap¬
paraten.
4. Die sogenannte ,, Kommotionsneurose“ bleibt außer Betracht,
sie ist keine Neurose, sondern ein organisches Hirnleiden, dessen klinische
Symptome sich freilich namentlich in leichten Fällen nicht immer von
neurasthenischen und hysterischen Bildern unterscheiden lassen. Auch
kann die organische Invalidität des Gehirns wie jeder geistige Schwäche¬
zustand (Imbezillität, Sklerose, Alkoholismus, beginnende Dementia
praecox usw.) dem Auftreten psychogener Symptome den Weg bahnen.
Die Frage der Simulation ist während des Krieges nicht öffentlich
zu besprechen. Man geht heute in ihrer Ablehnung vielleicht eher zu weit.
Die Prognose der kriegsneurotischen Zustände hängt hauptsächlich
von der prämorbiden Persönlichkeit, ihrem Charakter und ihrer seelischen
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Stellungnahme zum Kriege, vom Ort und von der Behandlung, von der
Dauer des Krieges, der Gestaltung des Arbeitsmarktes und der Lösung
der Renten* und Abiindungsfragen ab. Die Wege der Heilung sind
zahlreich. Langsame und brüske Beseitigung der hysterischen Symptome,
Einfluß der militärischen Disziplin und Autorität. Heilwirkung des
Schreckens. Die Erfahrungen des Rückfalls. Grenzen unseres Einflusses
bei der Frage der Wiederkehr der Dienstfähigkeit. (Vgl. meinen Aufsatz
über Hysterie und Kriegsdienst in der Münch, med. Wschr. 1915, S. 361.)
Notwendigkeit der Beseitigung von Dauerrenten. Abfindung oder zeitlich
begrenzte automatisch endende Gewöhnungsrente. Der Heilwert der
Berufsarbeit.
Herr Hoche-Freiburg schlägt der Gesellschaft deutscher Nervenärzte
die gleiche Resolution vor wie dem Verein für Psychiatrie am Vortage
(s. S. 195). Die Resolution wird angenommen.
b) Nachmittagsitzung am 22. September 1916.
Vorsitzender: Obersteiner- Wien.
Besprechung. — Stransky -Wien unterbreitet der gemeinsamen
Versammlung der deutschen Psychiater und Neurologen folgende An*
regung zur ev. Beschlußfassung:
Unbeschadet der zurzeit erst im Stadium vorläufiger Erwägungen
eines ganz kleinen Kreises befindlichen Aktion eines engeren Zusammen¬
schlusses der deutschen und österreichisch-ungarischen Psychiater bzw.
ihrer Organisation wird es für wünschenswert erklärt, daß anstatt der
wohl für lange Zeit ausgeschalteten, wissenschaftlich übrigens meist minder
ergiebigen internationalen Kongresse künftighin ev. periodische wissen¬
schaftliche Zusammenkünfte der Psychiater und Neurologen Mittel¬
europas untereinander stattfinden mögen, zu welchem Behufe die nötigen
Vorarbeiten in die Wege zu leiten bzw. die bereits im ersten Entwicklungs¬
stadium befindlichen nach Kräften zu fördern wären.
Diese Anregung wurde von der Versammlung beifällig begrüßt.
Bunnemaran-Ballenstedt (zu Protokoll gegeben, nicht vorgetragen)
vertritt die Ansicht, daß über das besondere kriegsneurotische Problem
keine Einigung zu erzielen ist, wenn man sich nicht vorher über die allge¬
meinen Daseinsprobleme ins Einvernehmen gesetzt hat. Es ist nach ß.
ein erkenntnistheoretischer Irrtum, wenn man mit mechanischen oder
physikalischen Vorgängen, als an sich vorhandenen, rechnet und darin
eine zureichende Begründung für gewisse Erfahrungstatsachen sieht.
Ebensowenig kann in den unserem Bewußtsein sich darstellenden Kom¬
plexen für neurotische Symptome ein zureichender Grund gesehen werden.
Es gibt keine Erkrankungen, die nur somatogen, und auch nicht solche,
die nur psychogen sind, sondern die Ursächlichkeit aller Lebenserscheinun¬
gen kann nur voll erfaßt werden, wenn man sie für somatogen und psycho-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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gen zugleich ansieht, wenn man mit objektiv-subjektiven elementaren
Rückbezüglichkeitsprozessen rechnet, aus denen sowohl die materiellen,
als auch die psychischen Folgeerscheinungen abgeleitet' werden können.
In diesen Elementarprozessen liegt aber das Abweichende bei den Neurosen
auf der subjektiven Seite. Es besteht da eine subjektive Uberwertigkeit,
die in bestimmten ideellen Richtungen nachzuweisen ist und in ihren
graduellen Verschiedenheiten sich nach dem Aradtschen biologischen
Grundgesetze richtet (wie in Nr. 5, 1916 des Neurol. Ztlbl. genauer ausge¬
führt ist). Im Gegensätze dazu halten wir uns für berechtigt, mit körper¬
lichen Erkrankungen zu rechnen, wenn wir materielle Folgeerscheinungen
vorfinden, die dieselben von andern körperlichen Erkrankungen unter¬
scheidbar machen. Wir klassifizieren eben nicht danach, was ist, sondert*
danach, was uns zunächst auffällt und was für uns in den erkennbaren
Folgeerscheinungen den besten Unterscheidungswert besitzt.
Röttiger-Hamburg macht auf die Verschiedenheit des zur Beob-.
achtung gelangenden Neurosenraaterials aufmerksam, je nachdem es sich
um Fälle handelt, die bereits eine Reihe von Lazaretten, durchwandert
haben, oder um solche, die frisch von der Front bzw. nach Beginn ihrer
Erkrankung ankommen. Bei den ersteren, die dann auch zum großen
Teil schon Hypnose, elektrische Ströme .und anderes ohne Erfolg über¬
standen, sind weitere therapeutische Versuche meist zwecklos; für sie wird
voraussichtlich erst der herannahende Friedensschluß Besserung bringen.
Eine HeilungszifTer von fast 100% dagegen erreichte B. bei den seiner
Lazarettabteilung zugehenden frischen Fällen von Neurosen, besonders
Hysterien, und zwar (Jurch verschiedenste therapeutische Maßnahmen,
die großenteils prophylaktisch einer festen Fixierung der beginnnden
hysterischen Symptome entgegenarbeiten. Bei allen therapeutischen Ma߬
nahmen liegt die Wirksamkeit in der suggestiven Wirkung des Arztes und
der Umwelt. Bezüglich der Schreckneurosen und der Reflextrophoneurosen
nähert sich B. dem Standpunkt Oppenheims ; er hält ihre Symptome nicht
für hysterisch, gibt aber zu, daß sie beim Abklingen allmählich von hysteri¬
scher Fixierung abgelöst werden können. Die hysterischen Sensibilitäts¬
und Gesichtsfeldstörungen betrachtet er nach seiner nunmehr 22jährigen
Erfahrung als größtenteils durch die ärztliche Untersuchung erzeugt.
B. selbst findet sie trotz darauf gerichteter Untersuchung, allerdings unter
vorbeugenden Suggestionen, selbst bei hysterischen Mono- und Paraplegien,
niemals mehr.
Aau/mann-Mannheim-Ludwigshafen betont, daß er die Behandlung
der motorischen Reiz- und Ausfallerscheinungen mittels der Methode
der militärischen Willensüberwältigung unter. Unterstützung durch den
elektrischen Strom (vgl. Münch, med. Wschr., feldärztl. Beilage 1916, 22)
ausschließlich bei veralteten Fällen anwendet. In frischen. Fällen genügen
die konservativen Methoden bei richtiger Anwendung fast immer. Die
Hartnäckigkeit der verbummelten Fälle erhellt aus der Feststellung von
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII- 2/3. 16
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Wilmanns, wonach 71 % der ein Jahr vorher entlassenen Kranken mit
psychogenen motorischen Störungen bei der Nachprüfung ungebessert
waren. Zur Beseitigung des Tremors benötigt K. selten mehr als % Stunde,
meist weniger, und auch während dieser Zeit wird nur wenig elektrisiert,
mehr mit energischer Wortsuggestion gearbeitet; er benutzt übrigens bei
dem Tremor nicht mehr die labile Behandlung, vielmehr setzt er die Elek¬
troden auf einen der bekannten Nervenreizpunkte, je nach Lage des Falles,
und immobilisiert das zitternde Glied durch den tetanisierenden Strom.
Oft ist ein allgemeiner Tremor von einem Punkt aus zum Schwinden zu
bringen. Über Rheostatenstärke 7 geht er bei Benutzung des Wechsel¬
stroms des Erlanger Pantostaten so gut wie nie hinaus (außer bei peri¬
pheren Anästhesien), und das ist eine Stromstärke, die sehr wohl zu er¬
tragen ist. Selbstverständlich dürfen die Elektroden nicht an differenten
Stellen aufgesetzt werden. Die Rezidive der Tremores und Tics, die be¬
sonders gern auf akustische Reize folgen, sind nur sehr selten Dauerrezidive,
öfters sieht man nach Beseitigung groben psychogenen Zitterns einen
feinen Tremor; die Anamnese solcher Fälle ergibt meist, daß die Kranken
schon früher bei Aufregungen bzw. Anstrengungen etwas gezittert hatten. —
Eine besonders wichtige Rolle spielt die militärische Willensüberwältigung
bei den Dysbasien bzw. Abasien. Auch hierbei wird die elektrische Bürste
nur relativ spärlich gebraucht und der Hauptwert auf die für jedenFall
vorher genau überlegten Frei- und Gehübungen nach scharfem (aber nicht
grobem!) militärischem Kommando gelegt. Dabei braucht man meist
mehr als y 4 Stunde, oft bis zu einer Stunde, selten länger. Von „stunden¬
langem Faradisieren“, das manche als charakteristisch für K. s Vorgehen
angeben, kann also keine Rede sein. Ausführliches über seine bisherigen
Erfahrungen wird K. in der Münch, med. Wschr. veröffentlichen.
Schüller- Wien schlägt bezüglich der Begriffsbestimmung der „Rücken¬
markserschütterung“ vor, als „Commotio spinalis“ — analog der Com-
motio cerebri — nur das der Gewalteinwirkung unmittelbar folgende Zu¬
standsbild (Phase des Schocks) zu bezeichnen. In den späteren Stadien
handelt es sich entweder um Neurosen nach Trauma der Wirbelsäule oder
um Mischformen von funktionellen mit organischen Symptomen (Reflex¬
anomalien, Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit). Letztere Formen
wären nach Analogie mit der Contusio cerebri als „Contusio spinalis“ zu
bezeichnen. Als anatomisches Substrat der Contusio spinalis kommen
zweierlei Veränderungen in Betracht, nämlich das ödem der Medulla
(Borchard) und zirkumskripte Liquoransammlungen ( Ranzi und Marbxirg),
während Blutungen (nach Borchard) meist fehlen. In allen hierher ge¬
hörigen Fällen kommt die Lumbalpunktion als diagnostisches und thera¬
peutisches Hilfsmittel in Betracht. Sch. erwähnt ferner die von ihm auf
der Abteilung Redlichs gesehenen Röntgenbefunde von Spondylitis de-
formans bei zahlreichen Fällen von Contusio spinalis und verweist dies¬
bezüglich auf eine bevorstehende Publikation von Kreutfuchs und Redlieh.
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Es wäre übrigens möglich, daß durch weitere Untersuchungen der Wirbel¬
säule von Kriegsteilnehmern, die niemals ein akutes Trauma der Wirbel¬
säule erlitten haben, eine Spondylitis deformans festgestellt werden könnte,
da ein großer Teil der Kriegsteilnehmer chronischer Überbelastung der
Wirbelsäule ausgesetzt ist.
Mörchen- Wiesbaden: In 1% Jahren hat M. als Lagerarzt des Darm¬
städter Kriegsgefangenenlagers unter mehr als 60 000 französischen Ge¬
fangenen 8 Fälle gesehen, die zur „traumatischen Neurose“ gerechnet
werden können. Ein großer Teil der Gefangenen ist direkt aus schwerstem
Trommelfeuer bei Verdun ins Lager gekommen. Es steht fest, daß die
Leute in zahlreichen Fällen schwere somatische und psychische Kom-
motionsschädigungen erlitten haben. Diese Zustände, die wir „primären
Innervationsschock“ nennen (Münch, med. Wschr. 33, 1916 und Mtschr.
f. Psych. u. Neurol. 1916) , sind aber bei und unmittelbar nach der Ge¬
fangennahme abgeheilt. In der Gefangenschaft fehlen die psychischen
Bedingungen für Konservierung des primären Innervationsschocks oder
die Entwicklung eines „sekundären Innervationsschocks“. Wir haben uns
in den genannten Zeitschriften über die aus psychologischer Betrachtungs¬
weise sich ergebenden Gründe für das Fehlen des sekundären Innervations¬
schocks bei Gefangenen eingehend geäußert und nach Ausschluß aller
organisch-nervösen Möglichkeiten in dem durch die Gefangennahme be¬
dingten „Entlastungsgefühl“ den Mächtigsten, direkt therapeutisch wirken¬
den Faktor gefunden. Die Gefangenenbeobachtungen geben uns in viel¬
facher Hinsicht Aufschluß über das Wesen der nervösen Kriegsschädigun¬
gen, vor allem ihrer fixierten Formen. Eis handelt sich zum Teil um Ana¬
logien zu posthypnotischen Suggestionsvrirkungen. Hier liegt eine
psychische (nicht psychogene) Blockierung bestimmter psychomotori¬
scher und psychosensibler Mechanismen, meist mit Beziehung auf eine
ganze Funktionseinheit (Arm, Bein) vor. Die andern Formen des sekun¬
dären Innervationsschocks stellen aber unseres Erachtens individuelle
psychotische Reaktionen auf den erlittenen Unfall vor, wobei psychogene
Einflüsse bewußt und unbewußt ^Verdrängung)) eine große Rolle spielen.
Wir unterscheiden ja nach der individuellen Anlage hysterische, katatone
und einfach neurasthenisch-depressive Reaktionen. Auch hinsichtlich
der Prophylaxe dieser Zustände geben uns die Gefangenenbeobachtungen
Mächtige Hinweise. Wenn wir feststellen konnten, welche äußere Um¬
stände und psychische Bedingtheiten bei Gefangenen die Fixierung oder
Spätentwicklung von Innervationsschock verhindern, so ergeben sich
daraus von selbst die Maßnahmen, die bei Nichtgefangenen prophylaktisch
zu treffen sind. Das Gleiche gilt in vieler Beziehung von der Therapie
dieser häufig verkannten und falsch behandelten Zustände. Die Prognose
ist in .manchen Fällen mit schwerer individueller Disposition hysterischer
oder katatoner Art sicher ungünstig; zahlreiche andere Fälle aber, so hart¬
näckig sie erscheinen, sollten nicht vor dem Kriegsende prognostisch de-
16*
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
finitiv ungünstig beurteilt werden, weil mit jenem ein therapeutisch viel¬
versprechender Faktor in Rechnung steht. Zu frühzeitig abschließende
Dienstunfähigkeits- und Rentenbegutachtungen können die Prognose an
sich noch gutartiger Fälle einschneidend und dauernd verschlechtern.
Eine Aufklärung nicht nur der Ärztewelt, vor allem der mit der militäri¬
schen Begutachtung und Behandlung beschäftigten, sondern bis zu einem
gewissen Grade au*'h des Publikums erscheint dringend notwendig.
./oloaics-Dresden: Neurosen sind offenbar in den Heimatiazaretten
absolut häufiger als im Felde. Die in der Heimat an Neurose Erkrankten
rekrutieren sich aus drei Gruppen: den Felderkrankungen, den nervösen
Erschöpfungszuständen, den unter der Diagnose Verschüttung und Granat¬
explosionsschock eingelieferten psychisch akut Geschädigten und den
Halbsimulanten. Für alle bedeutet der Abtransport in die Heimat einen
Eingriff von umstimmender Bedeutung, der die Symptome erst manifest
macht. Die in den besonderen Verhältnissen des Stellungskrieges be¬
gründete ,.Bereitschaft zur Neurose“ bildet den breiten, fruchtbaren Boden
für die nervösen Erkrankungen. Das Schicksal der Erkrankung ist, wie
bei den chirurgischen Kriegsverletzungen, wesentlich abhängig von der
ersten Versorgung. Daher ist eine Behandlung möglichst bei andern
Formationen und möglichst mit allen Mitteln anzustreben.
P. Förster- Breslau: Bei der Frage nach dem Wesen der Symptome
bei den Kriegsneurosen sind zwei Punkte scharf zu trennen, erstens, welche
Ursachen erzeugen primär im Einzelfalle die jeweiligen Symptome, und
zweitens, welcher Faktor führt zur Fixierung der Erscheinungen, die bei
nicht neurotischen Individuen mehr oder weniger rasch wieder ver¬
schwinden. Die Ursachen für die Entstehung sind sehr mannigfaltige,
somatische und psychische: erstere sind ihrerseits wieder unendlich mannig¬
faltig: Trauma. Infektionskrankheiten, Ermüdung, alle möglichen organi¬
schen Erkrankungen des Nervensystems, Ischias, Kehlkopfkatarrh. Blasen¬
leiden usw. Von den Symptomen, die durch sie primär erzeugt werden,
wird das eine oder andere funktionell fixiert; ein großer Teil ist primär
psychisch bedingt, auf den Schreck folgt reflektorisch Zittern, Stimm¬
verlust, Urinabgang usw. Aus der ungeheuren Mannigfaltigkeit der pri¬
mären Ursachen folgt die ungeheure Mannigfaltigkeit der Symptome,
folgen die vielen bunten Bilder, die zum Teil ganz neu sind. Welcher
Faktor führt nun zur Fixation der Erscheinungen? In der Fixation liegt
erst das Pathologische, spezifisch Neurotische. Es ist ein psychischer
Faktor, welcher fixiert ; man hat die Begehrungsvorstellung, die Furcht
vor dem Schützengraben u. a. herangezogen. So bewußt ist der fixierende
psychische Vorgang aber nicht. Höchstens wirken diese Vorstellungen
auslösend für den eigentlichen fixierenden Faktor, denn er ist ein Affekt;
ich habe dieselbe Auffassung wie Kraepelin, ein unbewußter, phylogenetisch
immanenter Instinkt — Trieb zur Selbsterhaltung, zur Erlangung von
Vorteilen usw. In den Dienst dieses Instinktes treten die Krankheitser-
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scheinungen, richtiger gesagt, er hält sie fest, und erzeugt sie immer da
wieder, wo es zweckmäßig ist; charakteristisch ist auf der einen Seite die
enorme Paratschaft der Symptome im Dienste des Instinktes, wie durch
Druck auf einen elektrischen Knopf springen die Symptome an. Aber sie
verschwinden auch anderseits dann nur dadurch, daß Umstände auftreten,
unter denen das momentane Aufgeben zweckmäßiger ist. Letzteres sehen
wir besonders bei der Therapie, Übertrumpfung durch starken Schmerz,
durch Abstinenzkur (Binswanger), Urlaubsverweigerung usw.
Querwei-Leipzig: Nach den Erfahrungen bei den Friedensunfall¬
verletzten halte ich den Krankheitsbegriff der traumatischen Neurosen
für unzweckmäßig und verwirrend. Der Vergleich der Kriegsneurosen mit
denen der Friedensunfallverletzten ist zweckmäßig, da wir hier über ein
abgeschlossenes Material verfügen. Tatsächlich findet man bei den Unfall¬
verletzten mit funktionell nervösen Störungen folgende 3 Gruppen, die
zur Annahme von Neurosen führen: 1. Intern chirurgische Krankheiten
mit lebhaften subjektiven Erscheinungen, 2. organische Nervenkrank¬
heiten, darunter speziell Kopfverletzungen mit unsicherem organischen
Befund und vorwiegenden subjektiven Beschwerden, 3. echte Neurosen.
Ihre traumatische Entstehung ist meist nicht einfach und eindeutig, aber
nicht zu bezweifeln; auch eine psychotraumatische Entstehung im Sinne
des Herrn Oppenheim halte ich zwar nicht für häufig, aber doch für gegeben.
Alle drei werden kompliziert durch die normal psychologische Einwirkung
äußerer Umstände, z. B. der Entschädigungspflicht der Betriebsunfälle,
die aber nicht nur als Begehrungsvorstellung eine verständliche Reaktion
hervorruft und psychogen krankmachend wirkt, weil und soweit sie mit
Krankheitszuständen zusammentrifft. Ein reines isoliertes Krankheitsbild,
das lediglich die Folgen der normalen Unfallreaktion darstellt, gibt es nicht.
Die Kombination derselben mit den verschiedenen Krankheitsarten ergibt
relativ charakteristische Bilder, am meisten mit den echten Neurosen,
zumal bei Psychopathen und konstitutionell Hysterischen infolge der
Wesensverwandtschaft. Keines dieser Bilder ist aber an sich spezifisch und
erschöpfend. Auch die Kriegsneurosen zeigen eine gleichartige, wenn auch
im einzelnen abweichende und eigenartige Mischung von Krankheits¬
zuständen mit den Erscheinungen einer psychologischen Reaktion auf
besondere äußere Verhältnisse. Das wird außer sonstigen Erfahrungen
besonders bewiesen durch die Notwendigkeit einer nicht nur medizinischen,
sondern zugleich psychologischen, pädagogischen, militärischen, recht¬
lichen und sozialen Behandlung. Auffallend gegenüber den Friedensunfall¬
verletzten ist das häufige und überaus massive Auftreten sehr ausge¬
sprochener Hysterien, das vielleicht zusammenhängt mit der Häufigkeit
und Intensität psychotraumatisch wirkender Traumen einer- mit der
besonderen Bedeutung der psychogen wirkenden Faktoren anderseits.
Beachtenswert scheint mir aber doch, daß wir nach den Friedenserfahrun-,
.gen dringend mit der Möglichkeit organischer Komplikationen zu rechnen
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210 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
haben. Die Lehre von der traumatischen Neurose ist keine rein medizinisch
wissenschaftliche Frage. Der Begriff der traumatischen Neurosen könne
also höchstens als äußerlicher Sammelbegriff weiter behalten werden, wie
das Herr Oppenheim dankenswerterweise selbst jetzt anerkennt; am besten
ist es, ihn ganz fallen zu lassen.
Wollenberg- Straßburg: Inbezug auf die Hysterie stehe ich auf dem
Standpunkte, den Herr Gaupp eingenommen hat. Zu den Wirkungen der
akuten Emotion kommt die der chronischen, die oft noch lange Zeit im
Lazarett nachwirkt und einen günstigen Boden für die hypochondrische
Verarbeitung von Mißempfindungen und auch tatsächlich bestehenden
peripherischen Veränderungen (Angioneurosen) bildet. Diese Auffassung
der Hysterie eröffnet so viele Möglichkeiten, daß wir auch für ungewöhn¬
liche Symptome eine andere Erklärung nicht brauchen. Es liegt deshalb
meines Erachtens kein Qrund vor zu der Annahme eines neuen Momentes,
und ich bin der Meinung, daß die Erschütterungstheorie des Herrn Oppen¬
heim durch die Erfahrungen über Kriegsneurosen nicht gestützt wird und
dadurch nicht haltbarer geworden ist als die erste war. Wenn wir aber
dieser Meinung sind, dann sollten wir auch den letzten Schritt tun und den
Ausdruck „traumatische Neurose“, der sicher doch immer wieder mißver¬
standen werden wird, durch einen passenderen zu ersetzen suchen. Was die
Therapie betrifft, so sind wir wohl darüber einig, daß jede Einseitigkeit zu
vermeiden ist, daß insbesondere frische Fälle in Ruhe gelassen werden
müssen. Vor allem kommt es aber darauf an, die betreffenden Kranken
so schnell wie möglich in die richtige Umgebung zu bringen und sie nicht
erst lange in andern Lazaretten, medikomechanischen Instituten herum¬
sitzen zu lassen. Hierfür kommen als besonders geeignet Behandlungs¬
lazarette in Betracht, wie sie in Baden bereits vorhanden sind. Bei den
hier konzentrierten Kranken müssen dann die verschiedenen Methoden
sorgfältig ausgewählt werden, also zunächst Ablenkung durch Arbeit,
Wachsuggestion, weiterhin Hypnose, Überrumpelung, endlich die energi¬
schen elektrischen Methoden. Unter allen Umständen müssen aber diese
energischen Eingriffe solchen Stellen Vorbehalten bleiben, die über neuro¬
logische und psychiatrisch hinreichend erfahrene Ärzte verfügen. —
Durchaus erforderlich scheint es mir übrigens, die Stellung kennen zu
lernen, welche die Sanitätsämter zu den letztgenannten Methoden ein¬
nehmen.
Rumpf- Bonn: Die fast einstimmige Annahme des Antrags Hocke hat
gezeigt, daß die Kriegsneurosen im wesentlichen der Hysterie zugerechnet
werden und eine günstige Prognose angenommen wird. Ich brauche des¬
halb auf die Arbeiten von Wimmer, Nägeli, mir und meinem Assistenten
Horn über Kapitalabflndung nicht einzugehen. Auch die Schreckneurose
betrachte ich nur als eine Unterabteilung der Hysterie. Ich betone aber,
daß schon Oppenheim 1889 die Mehrzahl seiner Krankheitsbilder als.
Hysterie betrachtet hat. Von Hysterie abzutrennen sind aber meines.
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Erachtens die Kontusions- und Kommotionsneurosen. Herr Gaupp, dem
ich ebenso wie Wollenberg in der Auffassung der Hysterie beistimme,
möchte die Kontusions- und Kommotionsneurosen nicht anerkennen.
Wenn man aber darunter Schädelverletzungen oder Gehirnerschütterung
mit nachfolgenden nervösen Symptomen versteht, so wird Herr Gaupp
mir recht geben, daß dieselben abzutrennen sind. Ihr Verlauf kann ja
ähnlich der Hysterie sein, ist es aber häufig nicht, indem schwerere Störun¬
gen nachfolgen. Die Fälle von Reflexlähmung nach peripheren Verletzun¬
gen rechne ich der Hysterie zu, die zu organischen Störungen hinzugetreten
ist. Alle diese Fälle mit organischen Verletzungen bedürfen naturgemäß
einer andern Beurteilung als die einfach hysterischen Störungen, die
leichter ausfallen, aber in der Folge vielfach Simulationserscheinungen
zeigen.
L. Mann-Breslau erwähnt Fälle von Akinesia amnestica, die durchaus
der Schilderung Oppenheims entsprechen und die sich besonders dadurch
auszeichnen, daß bestimmte Muskelgruppen funktionell erhalten waren
und stets von den Kranken innerviert werden konnten, während die ge¬
samte übrige Muskulatur ausfiel, in welcher Situation auch immer der Pat.
beobachtet wurde. Durch diese Konstanz unterscheiden sich diese Läh¬
mungen prinzipiell von den hysterischen Lähmungen. Ebenso gibt es
meines Erachtens Tremorformen, die durchaus von dem hysterischen
Tremor abzugrenzen sind: sie zeigen eine absolute Konstanz und gleich¬
bleibenden Rhythmus (240 bis 300 Schwingungen in der Minute), während
die hysterischen Tremorformen nach den jeweiligen psychischen Einflüssen
wechseln. Ich bin mit Oppenheim durchaus der Ansicht, daß diese Fälle
von der Hysterie abzutrennen sind (die pseudospastische Parese mit
Tremor betrachte ich dagegen mit Nonne als ein exquisit hysterisches
Krankheitsbild). — Zur Therapie möchte ich bemerken, daß die von
Kaufmann empfohlene Methode von mir, wie wohl von allen Neurologen,
von jeher im Prinzip ausgeübt wird. Das Wesen liegt in einer Kombination
von suggestiver Übungstherapie und Schmerzerregung. Das Neue in den
Kaufmannsche n Mitteilungen liegt in der Rigorosität und Dauer der An¬
wendung des elektrischen Stroms. Ich halte es für wohl möglich, daß
dadurch in manchen Fällen besseres geleistet wird, wie mit der bisherigen
Methode, halte jedoch die allgemeine Empfehlung für bedenklich. Beson¬
ders möchte ich warnen vor sehr starker Anwendung des sinusoidalen
Stroms, wie ihn der Pantostat liefert, und möchte unter allen Umständen
raten, nur den Induktionsstrom anzuwenden. Die Schmerzerregung kann
mit diesem ebensoweit getrieben werden, es sind aber wegen seiner physi¬
kalischen Eigenschaften üble Zufälle nicht zu befürchten. Wenn in einigen
Fällen der Exitus eingetreten ist, so wäre dieser traurige Ausgang vielleicht
bei Anwendung des Induktionsstroms zu vermeiden gewesen. Bedenklich
erscheint bei einer allgemeinen Empfehlung der Kaufmannschen Methode
die naheliegende Gefahr, daß von neurologisch nicht geschulten Ärzten
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aus d$m Erfolge dieser Therapie geschlossen wird, daß Simulation Vor¬
gelegen habe. Dieser Auffassung muß energisch entgegengetreten werden.
.SeAuster-Berlin bespricht einige seltene Symptome der Neurotiker:
Bulbuszittern, entfernt an Nystagmus erinnernd, träge Reaktion der er¬
weiterten Pupillen auf Lichteinfall, erhebliche Herabsetzung der Knie¬
reflexe; er erwähnt ferner die auf ein Glied beschränkte myotonische Nach¬
dauer der willkürlichen Muskelinnervation sowie schließlich eine eigen¬
tümliche Kontraktur der langen Fingerbeuger, welche zwar sehr an die
hysterische Kontraktur erinnert, aber doch nicht ganz mit ihr identisch
ist; sie tritt auf bei Weichteilverletzungen der Beugeseite und beruht
möglicherweise auf einer direkten traumatischen Muskelreizung. Die
Frage, ob ein völlig gesundes Nervensystem im Kriege neurotisiert werden
könne, bejaht Sch. Bezüglich der Genese der Reflexlähmung und der
andern psychischen Lähmungen verweist er auf seine Ausführungen im
Neurol. Ztlbl. Schließlich betont er noch das enorm wichtige Moment
des Habituellen auf motorischem und sensiblem Gebiet und erwähnt die
durch Nervenverletzungen (besonders Medianusstamm) erzeugte erheb¬
liche allgemeine Erregbarkeitssteigerung des gesamten Nervensystems.
K. Gohfetei'n-Frankfurt a. M. empfiehlt zur Behandlung der hysteri¬
schen Symptome der Soldaten die Behandlung einer Scheininjektion in
leichtem Chloräthylrausch. Die Erfolge sind sehr gute. (Nach dem Vor¬
schlag von Rothmann.) Er empfiehlt weiter, den Behandelten zur Er¬
leichterung des Wiedereintritts ins Leben und in ihre regelmäßige Arbeit
eine relativ größere Rente zu geben, die aber nicht als „Rente“, sondern
als Unterstützung auf eine gewisse kurze Zeit (etwa 1 Jahr) gedacht ist.
Afa/m-Mannheim: Die Unterbringung der Kriegsneurosen in Nerven-
lazaretten ist zweckmäßig. Die Behandlung Kaufmanns ist nicht so
grausam, wie es nach den Veröffentlichungen erscheint.
Liftenstein-Nauheim bringt folgenden Antrag ein, der angenommen
wird:
„Mit Rücksicht auf die schlechten Heilerfolge bei Kriegsneurosen
in den Heimatlazaretten einerseits und die günstigen Erfahrungen mit
diesen Erkrankungen an der Front und in den Feldlazaretten anderseits
regt die Versammlung an, im Stellungskrieg bei mobilen Formationen umi
in der Etappe psychiatrische und neurologische Genesungsheime zu er¬
richten.“
Curschmann-Hostock : In der Diskussion der Referate ist bereits
mehrfach hervorgehoben worden, daß ein deutlicher Unterschied sowohl
bezüglich der Krankheitsbereitschaft und -flxierung als auch der thera¬
peutischen Prognose je nach psychischer Beschaffenheit, Bildung und
ethischer Veranlagung des betroffenen Kriegsteilnehmers besteht. Wenn
nun völlig identische schwere Einwirkungen psychischer und somatischer
Art bei psychisch verschiedenartigen Individuen prinzipiell verschiedene
Krankheitseffekte schaffen, so spricht das sehr gegen die materielle (re-
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rem
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
213
flektorische, molekulare usw.) Einwirkung und für die mehr oder weniger
rein psychogene; es gilt dies auch für die Formen, die Oppenheim von der
Hysterie abgrenzen möchte, die Reflexlähmungen, verschiedenartige
Hyperkinesen, wie Tic, Torticollis u. a. m. Mein Satz wird am deut¬
lichsten illustriert durch das völlig differente Verhalten der Offiziere und
der Mannschaften nach schweren Kriegstraumen. Ich habe sowohl statio¬
när als auch als fachmännischer Beirat stets beobachtet, daß naive grobe
Äußerungen der Hysterie (Mutismus, schwere Tremor- und Ticformen,
Kontrakturen usw.) bei Offizieren auch nach dem Erleben all der oft
zitierten Granat- und Minenschocks ganz außerordentlich selten sind. Eine
Rundfrage an eine größere Reihe von Kollegen mit ausgedehnter Offiziers¬
praxis bestätigte das vollauf, fast ohne Ausnahme. Auch zahlreiche Kol¬
legen aus dem Felde äußerten sich in demselben Sinne. Wenn aber aus¬
nahmsweise einmal ein Offizier erkrankt, handelt es sich stets um einen
ausgesprochen degenerativ Belasteten. Trotzdem ist die Prognose dieser
seltenen „Offiziershysterien“, wie meine Rundfrage und eigene Erfahrung
erwies, durchweg viel besser als die der Mannschaft, auch ohne Hypnose
und heroische Prozeduren. Die Mehrzahl dieser (nervös doch schwer be¬
lasteten) Offiziere wurde nach einigen Wochen wieder kriegsverwendungs¬
fähig. Das alles spricht stark gegen die Oppenheimsche Anschauung und
für die mächtige Wirkung des von Kohnstamm zitierten Gesundheits¬
gewissens (mit den Komponenten des Ehrgeizes, der Selbsterhaltung usw.).
Zu der Böttigerschen. Negierung der Wirklichkeit der hysterischen Gefühls¬
störungen bemerke ich, daß ich, wie Nonne und viele andere, diese These
B. s für falsch halte. Die Realität, das primäre Vorhandensein der hysteri¬
schen Gefühlsstörungen läßt sich dadurch beweisen, daß man vor der
Prüfung der Gefühlsqualitäten ganz stillschweigend die sensiblen Reflexe
durchprüft, vor allem auch solche, die auch der „ausgepichteste“ Trauma-
tiker nicht kennt, z. B. den sensiblen Reflex des äußeren Gehörgangs (den
ich übrigens meines Wissens lange vor Fröschel geprüft und publiziert habe,
1906). Fehlen die sensiblen Reflexe halbseitig ganz oder zum Teil, so wird
das für die Realität später gefundener Gefühlsstörungen von Wichtigkeit
sein. Weiter habe ich durch meine Prüfung der Schmerz-Blutdruckreak¬
tion an hysterisch analgetischen Teilen fast stets das Ausbleiben dieser
Reaktion, d. i. dasselbe Verhalten, wie bei grob organischen Gefühlsstörun¬
gen, feststellen können. Nach Heilung der Analgesie wird die Blutdruck¬
reaktion bei Schmerzreizen dann stets positiv. Auch diese Tatsachen
sprechen unbedingt für die Realität der hysterischen Gefühlsstörungen.
Sie kann uns ja auch angesichts der mächtigen vasomotorischen, sekretori¬
schen und trophischen Störungen, die die rein psychogene Neurose be¬
wirken kann, gar nicht wundernehmen. In der von Oppenheim als neu be¬
zeichnten Beobachtung des fehlenden Hervortretens der Sehnen bei
hysterischen Lähmungen (im Stehen) bemerke ich, daß ich ähnliches, das
Fehlen der auxiliären Mitbewegungen (sowohl der gleichen wie der Gegen-
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214
Verhandlangen psychiatrischer Vereine.
»eite) als ein wichtiges Hysteriesymptom bei hysterisches Lähmungen
bereits beschrieben habe (vgl. D. Ztschr. f. Nerveoheilk. 1906). Auch das
von Oppenheim demonstrierte Phänomen des Ausfalls der Hypothenar-
kontraktion bei Ulnarabduktion bei hysterischer Lähmung erklärt sich
durch meine Beobachtungen. Bezüglich der Therapie bemerke ich gegen¬
über Böttiger, daß nicht jede Therapie gegenüber den schweren hysterischen
Störungen (speziell den Hyperkinesen) zum Ziele führt, sondern daß die
Hypnose einerseits, die Überrumpelung anderseits die durchaus domi¬
nierenden Methoden sind. Denn die Raschheit des Erfolges ist die absolute
Conditio sine qua non.
A achaffenburg- Köln hält mit Gaupp die Folgen von Granatkommotio-
nen nicht für wesensgleich mit den sonstigen psychisch-nervösen Störungen
nach Schreck und dergleichen. Es treten jedenfalls in weit höherem Grade,
als meist bekannt ist, organische Veränderungen im Zentralnervensystem
durch Platzen von Granaten auf, auch unabhängig von grober Verletzung
des Schädels durch Erdmassen, Baumstämme. Ich habe dadurch, daß ich
von Kriegsbeginn an Gelegenheit hatte, als Chefarzt eines Festungslaza¬
retts, dem eine Augen- und Ohrenabteilung angegliedert war, viele Fälle
von Granatschädigung dieser Organe, zum Teil ohne nervöse Störungen
gesehen. Dabei fanden sich fast ausnahmlos auch im Bereich des Zentral¬
nervensystems Erscheinungen, die nicht anders zu erklären sind wie durch
die Annahme lokalisierter organischer Schädigungen, wenn auch der Um¬
fang der dadurch bedingten Funktionsstörungen glücklicherweise in
der Regel nur sehr gering ist. Da es von Wichtigkeit schien, festzustellen,
wodurch diese Erscheinungen entstehen, habe ich eine große Zahl von ge¬
sunden Soldaten in Flandern untersucht, und zw r ar die meisten schon in
den ersten 24 Stunden nach dem Verlassen des Schützengrabens; von
74 Untersuchten fehlten nur bei 3 unverkennbare organische . Zeichen.
Eine Ergänzung meiner Beobachtungen durch Dr. Petssch, der nach
schweren Granatbeschießungen die Beteiligten (Unverletzten) am Tage
nachher und später untersuchte, ergab, daß die Erscheinungen zum Teil
innerhalb 8 Tagen verschwinden, aber nur zum Teil, daß aber außer¬
dem andere erst dann zum Vorschein kamen. Wahrscheinlich handelt es
sich um nekrotische Schädigungen durch den Luftdruck. Auf meine An¬
regung durch Dr. Nicol im Priesterwalde gemachte Blutprüfungen zeigten
wenigstens, daß die CO-Vergiftung von nebensächlicher, sicher nicht
von ausschlaggebender Bedeutung ist. — Wenn ich nun aber bei den
Granatexplosionsfolgen organische Veränderungen annehme, so trete ich
damit doch nicht auf die Seite Oppenheims, daß die dabei nicht eelten
zu beobachtenden und oft. im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen¬
den psychisch-nervösen Symptome auf diese zurückzuführen sind. Da¬
gegen spricht vor allem, daß gerade die ausgeprägtesten hysterischen
Granatfälle im allgemeinen am wenigsten organische Symptome aufwetses^
Ich hielt es an dieser Stelle nur deshalb für zweckmäßig, auf diese
organischen Symptome hinzuweisen, weil wir durch solche Beobachtu n g «*
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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endlich ein wirkliches Verständnis für die uns bisher unerklärliche soge¬
nannte traumatische Demenz gewinnen. — Dann möchte ich noch ein Wort
für die nervenkranken Soldaten einlegen. Mir will es nicht in den Kopf,
weshalb wir den Menschen, deren Nervensystem durch eine unglückliche
Veranlagung überhaupt nicht oder nicht auf die Dauer die notwendige
Widerstandsfähigkeit gegenüber den unerhörten Anforderungen des Krieges
besitzt, von vornherein solche Vorwürfe machen sollen, die sich hier, und
besonders im Verlaufe der gestrigen Besprechung, in Worten wie: Be¬
gehrungsvorstellungen, Rentensucht, Defekt des Gesundheitsgewissens usw.
verdichten. Und ebensowenig kann ich mich damit einverstanden erklären,
wenn man gegen einen Mann, der längere Zeit Frontdienst getan und seine
Gesundheit dabei eingebüßt hat, von vornherein den Verdacht der Simu-.
lation hegt, weil die Symptome zufälligerweise künstlich, gemacht, unge¬
wöhnlich sind. Niemand wird zweifeln, daß auch Schwindler und Betrüger
in unserem Heere sind, die ihre nervösen Symptome zur Erlangung persön¬
licher Vorteile ausnutzen und vielleicht sogar erfinden. Wenn ich auf einen
solchen Fall stoße, dann bin ich wirklich nicht geneigt, den Kerl mit Samt¬
handschuhen anzufassen. Aber ich möchte doch davor warnen, diese, nach
meiner Erfahrung sogar recht wenig häufigen Ausnahmen mit den übrigen
Kranken zusammenzuwerfen, bei denen die Übertreibung nur der Ausdruck
der verkehrten, krankhaften psychischen Einstellung ist. Ich bin wirklich
der letzte, der nicht alles aufbieten würde, um jeden so weit zu bringen, daß
er im Rahmen seiner Kräfte seine Pflicht tun kann; aber ich glaube, man
kann das Ziel auch erreichen, ohne in so schrofTer Weise vorzugehen, wie
hier so warm empfohlen worden ist. Ob wir schließlich nicht auf unseren
bisher schon eingeschlagenen Wegen das gleiche erreichen können und
dabei weniger Gefahr laufen, die Grenzen dessen aus dem Auge zu ver¬
lieren, was bisher als ärztlich zulässig erschien?
/aAofr-Hamburg betont die Wichtigkeit der genauen anamnestischen
Erhebungen, ob wirklich eine Commotio cerebri der nervösen Schädigung
zugrunde liegt, und erinnert an seine experimentellen histologischen Unter¬
suchungen, die die klinische Abgrenzung der postkommotionellen nervösen
Schwächezustände von den übrigen Neurosen fordern. Sehr häufig finden
sich unter den Kriegsneurosen hysterische Zustandsbilder bei früher Ge¬
sunden; diese bieten gute Prognose.
Lihenstein-Nauheim nimmt Bezug auf die von ihm als Chefarzt des
Kriegsgefangenenlagers Gießen schon im ersten Kriegsjahr festgestellte
Tatsache des Fehlens der Granaterschütterungen bei Kriegsgefangenen.
Auch die Herzneurosen sind bei ihnen sehr selten. Erscheinungen von
Angstzuständen am Herzen, Herzunruhe usw. wurden von Kriegsgefange¬
nen zum erstenmal gemeldet, als sich mit dieser Meldung ein Zweck ver¬
binden ließ: nämlich bei der Ausmusterung durch Schweizer Ärzte für
einen Kuraufenthalt in der Schweiz. Die Herzneurosen der Soldaten
nehmen ebenso wie der allgemeine Nervenschook mit der Entfernung von
der Front, nach den Kriegs- und Reservelazaretten hin zu und kommen
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Verhandlungen psychiatrischer ^Vereine.
vielfach in den letzteren erst zur Entwicklung. Bei der Truppe und im
Feldlazarett heilen sie leichter.
Pappenheim-Wien führt an, daß er in den letzten 14 Tagen bei mehr
als 50, zum Teil seit Monaten in Spitälern befindlichen, zum Teil schon
im Rentenbezuge stehenden Kranken in kürzester Zeit teils durch bloßes
Zureden — dies namentlich bei Offizieren —, teils durch andere Maßnahmen
— Franklinisation, Isolierung, faradischen Pinsel, von Zivilärzten ange¬
wandt und oft in y 4 Minute wirksam — die auffälligen Symptome — Myo-
tonoklonie, Gangstörungen, Halsmuskelkrämpfe, Stummheit usw. — be¬
seitigt hat. Zu erwägen ist, ob nicht die strengere Behandlung prophylak¬
tisch wirksamer ist, d. h. Rückfälle eher verhütet als die schonenderen
Behandlungsmaßnahmen. Bei russischen Kriegsgefangenen, von denen P.
einige Zeit alle in Österreich-Ungarn zum Invalidenaustausch bestimmten
zu sehen bekam, fand er nicht selten geringen organischen Läsionen über¬
lagerte funktionelle Störungen, die teilweise wohl mit dem Wunsche nach
Austausch zusammenhingen, dagegen nur ganz ausnahmweise schwere
Astasie, Abasie und Myotonoklonie, die aber durch Faradisation behoben
wurden, also auch psychisch beeinflußbar waren.
Setge-Partenkirchen schließt sich den Ausführungen des Herrn Jolo-
wicz über die Erscheinungsformen sowie die Behandlung der Kriegs¬
neurosen im Felde völlig an. Bemerkenswert erscheint ihm, daß bei
Kriegsgefangenen kurz nach dem Gefechte schwere psychoneurotische
Störungen nicht zu beobachten sind; ebenso konnte S. bei Zivileinwohnern
französischer Ortschaften, die häufigen Beschießungen ausgesetzt sind,
Kriegsneurosen nicht feststellen. £j v*
Fortsetzung der Besprechung und^Schlußworte am
23. September 1916.
Trömner -Hamburg erinnert, obwohl er in der traumatischen Neurose
keine klinische Einheit sehen kann, doch an zwei weder der Neurasthenie
noch der Hysterie zuzurechnende epitraumatische Zustände, 1. an die
Folgezustände von direkter Concussio cerebri, welche er vor 8 Jahren als
traumatische Hirnschwäche umgrenzte (Merkunfähigkeit, Indolenz, In¬
toleranz gegen Nervengifte und Insuffizient bei höheren psychischen
Leistungen), und 2. an die nicht selten traumatisch, rheumatisch oder
postinfektiös entstehenden motorischen Zwangszustände (Tics, Torti-
collis). Beide können sich in mannigfacher Weise mit sekundären nervösen
Folgen komplizieren und oft schwer trennbar sein. Bezüglich der Reflex¬
lähmungen sieht T. in Lähmungen, welche mit dem Maße der auch sonst
bekannten reflektorischen Muskelatrophien in erheblichem Mißverhältnis
stehen, psychogene Auflagerungen. Die von Mann angegebenen Merk¬
male amnestischer Akinesien kann T. nicht als solche ansehen, welche
hysterischen Lähmungen nicht gelegentlich zukommen.
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.Liefer/neister-Tübingen: 1. Es ist von dem Absinken des Kriegstonus
der Psyche bei der Überführung ins Heimatgebiet gesprochen worden.
Wir sehen m diesem Absinken des Tonus einen Teil der Erholung und sind
froh darüber. Wir müssen aber verlangen, daß diese Fälle von Kriegs¬
neurosen auf die Nervenstationen verlegt werden, weil sie in diesem „kriti¬
schen Stadium der Rekonvaleszenz“ besonders psychisch labil und un¬
günstigen Suggestionen zugänglich sind. Auf Nervenstationen heilen die
frischen Fälle meist rasch aus, wenn man zur rechten Zeit nach der Ruhe¬
behandlung die Übungsbehandlung einsetzen läßt. 2. Zur Therapie: Der
maßgebende therapeutische Faktor bei den Kriegsneurosen ist die Energie
des Arztes. Die funktionellen Neurosen sind heilbar, also müssen sie
geheilt werden. Grundsatz: „Fortiter“, ja „fortissime in re“, „suaviter“,
aber militärisch „in modo“. Direkte Suggestion erweckt im Kranken
leicht konträre Autosuggestionen, die wir dann unter Umständen mit
heroischen Mitteln bekämpfen müssen, während für die indirekte Sug¬
gestion ein weites Feld der Betätigung bleibt, wenn der Arzt neben Energie
auch die nötige Phantasie besitzt, an die listenreiche Kriegsneurosenseele
im Einzelfalle anzupochen. Es gibt ja tausend Möglichkeiten. 3. Die
schlechten Resultate bezüglich der Dauer der Heilung und Dienst¬
brauchbarkeit lassen sich durch guten Konnex zwischen Lazarettarzt
und Truppenteil wesentlich verbessern. Wo dieser Konnex hergestellt
ist, sind Dauerheilungen und Kriegsverwendungsfähigkeit häufig.
Stransky-Wien möchte, wie schon bei einer früheren Gelegenheit,
einen Gesichtspunkt hervorheben, der ihm in dieser Aussprache bis jetzt
zu kurz gekommen zu sein scheint: die Bedeutung des inneren Krankheits¬
konsenses. Insbesondere der Feldarzt kennt diese Fälle: es gibt neuro-
pathische Individuen, die unter dem suggestiven Einfluß des „Kriegstonus“,
wie man es treffend genannt hat, sich zusammennehmen, oft Hervorragen¬
des leisten, bis dann endlich, nicht selten durch irgendein äußeres Moment
gebahnt, der dem Außenstehenden alsdann unerwartet scheinende Zu¬
sammenbruch erfolgt, unter Hervorbrechen eines Heeres nervöser Symp¬
tome: der Dampf im überhitzten Topf, dessen normales Ventil verschlossen
gehalten blieb, bricht sich ein „falsches“ Ventil; man denke an das, was
man den richtigen Kern der sogenannten „Verdrängungslehre“ nennen
könnte. Hierher gehört auch ein anderes Zusammentreffen: Der Soldat,
zumal aber der Offizier im Felde draußen, unterdrückt oft alles Krank¬
heitsgefühl bei den zahllosen Erkrankungen, an denen es im Schützen¬
graben zumal nicht mangelt (man denke etwa nur an die Feldneuritis, an
die Tibialgie usw.), eben wieder aus Scham -und Ehrgefühl bzw. mit Hilfe
der gesteigerten Energie, die aus dem Kriegstonus erwächst; erfolgt dann
aber schließlich doch der innere Krankheitskonsens bei ihm, dann werden
sich sozusagen kompensatorisch oft neurotische Symptome einstellen, als
quasi Reaktionserscheinungen auf die frühere Überenergie, welche dann
den organischen Kern der Erkrankung überlagern. — Diese dem Feldarzt
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psychiatrischer Vereine.
sicherlich nicht anbekannten Dinge erklären vielleicht einen Teil dessen,
worüber wir uns hier auseinandersetzen: die organischen Befunde bei vielen
unserer Neurotischen. — Wir dürfen, diese Binsenwahrheit wäre vielleicht
wieder zu unterstreichen, nicht die Verschiedenheiten des Materials ver¬
gessen, die manches Widersprechende erklären. So ist auch das Material,
das in Deutschland zur Beobachtung gelangt, sicherlich nicht restlos ver¬
gleichbar mit dem ethnographisch und auch psychologisch so mannig¬
fachen Material Österreich-Ungarns. Zum Beispiel sieht St. in Wien gar
nicht selten Alkoholhysterie, die Nonne in Hamburg vermißt. Es folgt
daraus, daß auch die therapeutischen Grundsätze elastischer sein müssen,
nicht starr sein dürfen. Als Su vor fast i y z Jahren nach seiner Rückkehr
vom Felde den Gedanken aussprach, daß neurologisch-psychiatrische Be-
obachtungs- bzw. Genesungsstationen nahe der Front zweckmäßig wären
(im Verein f. Psych. u. Neur. in Wien), fand er damit so wenig Beifall,
daß er die Publikation dieser Anregung unterließ: ein Jahr später hat dann
im Anschluß an ein Referat Redlich s derselbe Verein sich dafür ausge¬
sprochen. und auch in unserer heutigen Versammlung ist wohl die com¬
munis opinio die nämliche. So wandeln sich die Ansichten, und sie werden
sich wohl auch bezüglich der Therapie noch mannigfach ändern. Eines
aber mochte Ar. besonders betonen: daß sich der Arzt bei der Behandlung
der Fälle, welche therapeutischen Maßnahmen immer die besondere
Situation zweckmäßig erscheinen lassen möge, als Kardinalgesichtspunkt
in dieser ernsten Zeit nicht in erster Linie die Wohlfahrt des Einzelfalles
vor Augen halten soll, sondern das Wohl unserer so eng verbündeten Vater¬
länder und die Schlagfertigkeit unserer verbündeten Heere!
.-I. Aarfcö-Budapest verwahrt sich dagegen, je behauptet zu haben,
daß der Hintergrund aller Kriegsneurosen in organischen Veränderungen
zu suchen wäre. Überzeugt ist er von dem materiellen Hintergründe der
sogenannten Granatfernwirkungen. Das beweisen auch Sektionen. Seine
Fälle von Granatfemwirkungen heilen und gehen zur Front zurück. Werden
solche Falle als Hysterien, traumatische Neurosen bezeichnet, so schafft
man lYrseverierende. Letztere sind mit welcher Methode immer zu heilen.
Er selbst ubt in solchen Fallen Aufklärung. Überredung. Die verschieden¬
sten Methoden sind gut. aber keine einzige hilft im Anfang der Erkrankung
{Mohr. K aut mann ■: warum ? Wenn sie Hysterien wären, so müßten sie
von Anfang an suggestiv zu heilen sein, so wie die Friedenshysterie.
Yoß- Düsseldorf: Das VII. Armeekorps hat seit 1 Y Jahren in Kre¬
feld eine Spezialklinik für Nervenkranke eröffnet, an der ich, daneben
auch als fachärztlicher Beirat, tätig bin. Die Klinik steht in enger Wechsel¬
beziehung mit der Düsseldorfer chirurgischen Klinik, deren Leiter, Geheim¬
rat iYitzel. uns zahlreiche interessante Falle < Schädelverletzte!) zur Beob¬
achtung und Nachbehandlung überweist. Zu den prinzipiellen Fragen
ubergehend, bemerke ich. daß nach meiner Überzeugung die Schreckneurose
als primäre hysterische Reaktion aufzufassen ist. die meist mono- oder
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oligosymptomatisch auftritt. An der traumatischen Neurose halte ich
fest; sie umfaßt einen durch die Mischung hysterischer und neurasthenischer
Erscheinungen mit charakteristischen psychischen Störungen gekenn¬
zeichneten Symptomenkomplex. Die nervösen Beschwerden nach Schädel-
verletzungen möchte ich aus den traumatischen Neurosen ausschalten.
Wir können das Vorhandensein organischer Schädigungen kaum je mit
völliger Sicherheit ausschließen, darauf weisen die häufig nachzuweisenden
Reflexstörungen, die Röntgenbilder u. a. hin. Unter die wichtigen Zeichen
organischer Störungen auf motorischem Gebiet gehört nach meiner Er¬
fahrung der Aossoltmo-Reflex. Das Verhalten der Sensibilitätsstörungen
erleichtert die Unterscheidung organischer und funktioneller Zustände nur
wenig; das scheint mir aus den demonstrierten Tafeln hervorzugehen. Zum
Kapitel der Therapie: Die Goldsteinsche Äthermethode lehne ich für mich
ab. Auch wenn es eine pia fraus ist, ziehe ich den geraden Weg der Wahr¬
heit vor. Kaufmanns energische Behandlung ist sicher für einzelne Fälle
geeignet, nur glaube ich, daß sie eine vorsichtige Auswahl verlangt, die
von nicht einwandfrei vorgebildeten Ärzten kaum erwartet werden kann.
Die Hypnose leistet Vorzügliches; nur stehe ich persönlich auf dem Stand¬
punkte, daß sie nicht zu, wenn auch nur ganz vorübergehender, Hervor-
rufung von Krankheitszuständen benutzt werden sollte. Die Methode der
Wahl ist die Arbeitsbehandlung, und zwar durch Heranziehung der Nerven¬
kranken zur Tätigkeit in ihrem eigenen Beruf und gegen entsprechendes
Entgelt. Ich weise auf die Ausgestaltung der Arbeitstherapie durch das
Sanitätsamt des VII. Armeekorps durch die Schaffung von Arbeitsver¬
mittlungsstellen usw.
Saenger- Hamburg konstatiert mit Freude, daß Oppenheim seinen
Standpunkt schon in einigen Punkten nicht mehr so scharf vertreten hat
wie nach Erscheinen seiner jüngsten Monographie. S. hat die ganze Ent¬
wicklung der traumatischen Neurosenfrage von Anfang an mitgemacht.
Er erinnert an die schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
gemachten Einwendungen von Friedrich Schultze, Jolly, Eisenlohr und
Mendel. Daß Oppenheim jezt wieder auf seinen alten Standpunkt zurück¬
gekommen ist, erklärt S. durch den Umstand, daß O. sich viele Jahre, wie
er selbst sagte, mit den Unfallnervenerkrankungen nicht mehr befaßt hat.
Die in der Diskussion zutage getretenen Erfahrungen der Militärärzte
(an der Front, in den Etappen und Gefangenenlagern), die überraschend
schnellen Heilungsresultate mittels der Hypnose oder des Verfahrens von
Kaufmann, Jendrassik u. a. sprechen überzeugend für die rein funktionelle
Natur auch der lange bestehenden Kriegsneurosen und gegen die von O.
aufgestellte materielle Erschütterungstheorie. S. hofft, daß O. unter dem
Eindruck des sich immer mehr häufenden Tatsachenmaterials seinen
Standpunkt aufgeben wird, analog wie einst Michel und Pflüger in den von
ihnen jahrelang vertretenen Lehren, deren Unrichtigkeit sie schließlich
selbst zugegeben haben.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Simons-Berlin: Wer lange genug psychogen akinetisch ist (schlaffe
Lähmung, Kontraktur), bekommt eine mehr oder minder starke Knochen¬
atrophie. Sie unterscheidet sich gar nicht oder nur unwesentlich von der
durch passive Ruhigstellung (z. B.Fixationsverbände), der bei peripheren
Lähmungen oder traumatischen Hemiplegien (Vorzeigen entsprechender
Röntgenaufnahmen). Die Knochen Veränderungen bei den genannten
psychogenen Zuständen ist ein reine Inaktivitätsatrophie, ebenso wie die
starke Muskelatrophie, die man nach längerer psychogener Akinesie sieht.
Die Röntgenbefunde werden an anderer Stelle genauer beschrieben. Bei
Schußverletzungen der Arme oder Beine pfropft sich die psychogene Kon¬
traktur oder Lähmung meist auf die Seite der Verletzung. Wer unverletzt
ist (z. B. uneingezogener Landsturm, Verschüttete), bekommt, wie S.
schon vor einem Jahre betont hat, meist die Lähmung der Kontraktur
links. Von 22 Rechtshändern bekamen z. B. 4 eine Rechts-,18 eine Links¬
lähmung. Ob die Verhältnisse überall so liegen, weiß S. nicht; in seinen
Kriegserfahrungen war jedenfalls das Überwiegen der natürlich unbe¬
wußten oder instinktiven Linkswahl bei Unverletzten bemerkenswert. Die
Abschwächung der Reflexe an den Beinen, die Schuster bei der Hysterie
fand, sah S. nur bei organischen Veränderungen, besonders nach der so
häufigen, unbemerkt überstandenen leichten Polyneuritis und Poliomye¬
litis. S. sah erst vor wenigen Tagen auf einer Station für Ruhrkranke
mehrmals bei Genesenden Fehlen oder Differenz der Achillesreflexe, Druck¬
schmerz der Waden und Nervenstämme; Trägheit der Pupillenreaktion,
die Schuster sah, wurde mehrfach gesehen, aber so lange nicht im dunklen
Raume oder bei genügender psychischer Ablenkung untersucht wurde.
Wenige Male wurde schnellster, kleinschlägiger Klonus der Recti intemi
beobachtet. Die Augen flogen so schnell wie Libellen gegeneinander. Bei
Offizieren sah S. wie auch H. Curschmann niemals Taubheit oder Blind¬
heit, sehr selten psychogene Lähmungen und Kontrakturen, meist Pseudo¬
ischias, Pseudolumbago. Nach Äthernarkose schwand in keinem Falle
eine psychogene Lähmung. S. warnt vor stundenlanger Faradisation, die
von einzelnen zum Teil noch durch „roborierende“ Maßnahmen (Verlegen
auf den psychiatrischen Wachsaal) verstärkt wird. Der Einfluß auf die
nicht ärztliche Assistenz ist entschieden ungünstig, auch sind auf ent¬
sprechende Beschwerden kriegsgerichtliche Maßnahmen gegen die Behand¬
ler nicht ausgeschlossen.
Antrag von C. S. Freund-Breslau: Im Interesse der Verhütung einer
Verschlimmerung bzw. einer Fixierung psychogener Krankheitssymptome
ist es eine dankenswerte und notwendige Aufgabe der an der Front bzw.
in den vordersten Kriegslazaretten tätigen Psychiater und Nervenärzte,
die in ihren Truppenverbänden stehenden Nichtfachärzte über den Nutzen
und die Notwendigkeit einer frühzeitigen sachkundigen psychischen Ein¬
wirkung auf Kriegsbeschädigte durch beruhigenden und aufmunternden
Zuspruch zum Zwecke der Zurückdrängung und Ablenkung krankmachen-
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Deutsche* Verein fü* Psychiatrie.
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der Vorstellungen zu belehren. Unter Hinweis auf die Lehren von BHUi&r
und von Bdbinski sind die Nichtfachärzte anzuhalten, die erste Unter¬
suchung auf ;Nervensymptome den Fachärzten zu überlassen. Es wird
dadurch die Gefahr des Ansuggerierens psychogener Krankheitssymptome
durch den Arzt möglichst vermieden werden. Zur Durchführung einer
solchen prophylaktischen Therapie ist eine Vermehrung der Fachärzte an
der Front bzw. in den vordersten Kriegslazaretten im Sinne des Lilien*.
Einsehen Antrags notwendig.
Xiefters-Dösen hat auch sehr gute Erfolge mit der Anwendung starker
Wechselströme erzielt, hält aber, da die Methode doch gewisse Gefahren
mit sich bringen kann, die vorherige Einwilligung des Kranken für Un¬
bedingt notwendig. Nach seinen Erfahrungen ist aber nur ein beschränkter
Teil der Patienten, eben nur ein Drittel, der Hypnose zugänglich. Auch
empfiehlt es sich, das Wort Hypnose möglichst den Kranken gegenüber
zu vermeiden, da es bei vielen Kranken störende Gegenvorstellungen aus-
lösen kann und da viele sich gegen eine „Vergewaltigung ihrer Psyche“
sträuben.
Meyersohn weist darauf hin, daß der Krieg nicht bloß Neurosen
schafft, bzw. Neurotiker zu schädigen imstande ist, sondern auch im -
Gegenteil sie günstig zu beeinflussen vermag. Er erwähnt als Beispiel
einen hysterisch psychopathischen Menschen mit Tic, der es mit Mühe
durchgesetzt hat, überhaupt dem Militärdienst überwiesen zu werden,
dann aber alle Strapazen des Krieges mit dem besten Erfolg durchgemacht
hat. Bemerkenswert ist es, daß er während eines Urlaubes unter dem
Einfluß seiner altgewohnten Umgebung in der Familie bald seinen alten
Tic wieder bekam, ihn aber sofort wieder los wurde, als er von neuem ins
Feld zog.
Lienau- Hamburg berichtet über die Erfahrungen, welche er als
Oberarzt der Nerven- und psychiatrischen Abteilung der Ostseestation
Kiel während der ersten 20 Monate des Krieges gemacht hat: 1. Krank-
heitsformen, die man als Kriegsneurosen sui generis bezeichnen könnte,
wurden nicht beobachtet. 2. In ätiologischer und symptomatologischer
Beziehung sind außer dem selbstverständlichen Marinekolorit neue Mo¬
mente nicht zu nennen. 3. In fast allen Fällen war die Psychogenie der
Symptome offenbar. 4. Kräftige, einwandfreie Leute erkrankten unter
der Gewalt der Ereignisse gelegentlich auch. 5 Schußverletzte zeigten
auffallend selten neurotische Symptome. 6. Der Begriff „traumatische
Neurose“ sollte als eine interessante und dankenswerte wissenschaftliche
Episode der Vergangenheit überliefert werden. 7. Die Hypnose wurde
mehrfach mit glänzendem Erfolg angewendet und war auffallend leicht.
Sie ist indiziert, wo andere Methoden versagen oder nicht genügend
schnell zum Ziele führen.
Wilmanns- Heidelberg: Oppenheims Angabe, wonach die Zahl der
Neurosen in den Gefangenenlagern größer sei als von Lilienstein u. a. an-
Zeitschrift for Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 16
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
gegeben sei, trifft nicht zu. Unter 80 000 Gefangenen in den Lagern des
XIV. Armeekorps befanden sich 5 Hysterische, darunter nur eine hysteri¬
sche Schreckneurose (nach Verschüttung). Beachtenswert ist: unter 20 000
zur Internierung in der Schweiz vorgeschlagenen Kranken befand sich
nach Bericht der militärärztlichen Austauschkommission kaum eine
Neurose, und das gleiche gilt von den in der Schweiz internierten Deut¬
schen, unter denen sich zahllose Neurastheniker, vasomotorische Neurosen
usw. finden, aber keine Schreckneurosen. — Die Vermehrung von Laza¬
retten für Nervenkranke hinter der Front ist dringend nötig. Die Verlegung
der Neurotiker in das Heimatgebiet wirkt äußerst ungünstig und krank¬
heitfördernd. Besonders ungünstig wirkt ihre Verlegung in das Lazarett
des Heimatortes; diese sollte grundsätzlich verboten werden. — Die Ver¬
kennung hysterischer Störungen als organische ist etwas ganz Gewöhn¬
liches: es ist unbedingt erforderlich, daß die fachärztlichen Beiräte für
Psychiatrie und Neurologie in enger Fühlung mit den Ärzten in orthopädi¬
schen Lazaretten (Kontrakturen, Lähmungen usw. hysterischer Natur),
den urologischen Lazaretten (hysterische Blasenstörungen), den Lazaretten
für Ohrenkranke (hysterische Ertaubung) stehen. Daß hysterisch Erkrankte
Berufsumschulungen durchmachen und Anstellungen bekommen, ist recht
gewöhnlich. Das wirkt krankheitfördernd und muß vermieden werden.
Forschungen über das Schicksal der aus dem Heeresverbande entlassenen,
zumeist in Sonderlazaretten behandelten Kriegsinvaliden haben gezeigt, daß
etwa 75 % nicht gebessert, zum Teil verschlechtert sind. Von ungünstigen
Einfluß waren hier die Angehörigen, oft auch die Ärzte; Begehrungsvor¬
stellungen, Kriegsangst u. a. verstärkten die Krankheit. Es ist dringend er¬
forderlich, diese Kriegsinvaliden wieder einzuziehen und einer sachgemäßen
Behandlung zu unterwerfen. — Die Speziallazarette haben sich bewährt.
Die Gefahr der Ansteckung im Frontlazarett ist geringer als die Gefahr der
Verschleppung der Störungen in Heimatlazarette. Die Art der Behand¬
lung wird sich nach dem Wesen der Persönlichkeit der Ärzte richten müssen.
Die Hypnose wirkt in zahlreichen Fällen günstig, liegt aber vielen Ärzten
nicht. Das Ergebnis der Behandlung mit starken Strömen ist äußerst
günstig: die Rentenhöhe betrug bei 317 Neurotikern vor der Behandlung
etwa 130000, nach der Behandlung 13000 M.— Bewußte Übertreibung und
Vortäuschung von Beschwerden und wahrheitwidrige Angaben über die
Entstehung der Läsionen sind recht häufig. Die Ärzte werden daher
den Mitteilungen der Kranken über Verschüttung, Granatkontusion und
dergleichen die nötige Kritik entgegenbringen müssen.
Rieder- Koblenz: Die zur Behandlung gewisser hysterischer Störungen
empfohlenen Methoden (Hypnose, die sogenannte Kaufmannsche) führen
selbstverständlich an der Hand des erfahrenen Facharztes zu einer gewissen
Heilung. Ich bevorzuge in der jetzigen Zeit, in der die Ärzte nicht nur dem
einzelnen Kranken gegenüber verantwortlich sind, sondern ebenso der
Allgemeinheit, in der Mehrzahl der Fälle in der Heimat die Kaufmann -
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
223
sehe, und zwar so, daß ich die Kranken in Einzelkabinen bringe, psychana-
lytisch vorbereite. Der Kaufmanns chen Methode liegt vom militärischen
Standpunkt eine enorm wichtige Tatsache zugrunde, die im Wach¬
zustände herbeigeführte Wiedererziehung zum Gehorsam,
die Unterordnung des eigenen Willens unter einen andern. Wichtig ist
die Nachbehandlung. Hier besonders geeignet, wie bei den Arm- und
Beinverlu6ten, das militärische Turnen unter ausgebildeten Turnlehrern.
An die Hypnosebehandlung muß fast in allen Fällen eine militärische Hand
wieder angelegt werden. Offiziere eignen sich schwerer zur Kaufmann-
Behandlung, da das Subordinationsverhältnis fehlt. Die Behandlung darf
nur durch erfahrere Fachkraft erfolgen. Das militärische Turnen wird
mit anschließender Arbeit unter Bezahlung bis zur V. G.-Erklärung fort¬
gesetzt. Zur Behandlung der Hysterie stets Einverständniserklärung des
Kranken in Gegenwart von Zeugen. Attestprüfung der funktionellen
Neurosen bei den Sanitätsämtern nur durch Fachärzte. Einrichtung von
Nervenlazaretten in der Nähe der Front bzw. der Etappe richtet sich nach
Lage der kriegerischen Verhältnisse. Hinweis auf die vom preußischen
Kriegsin in isler gegebenen Gesichtspunkte, die recht oft und genau gelesen
werden müssen.
AfoAr-Koblenz will die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen
Physischem und Psychischem und des daraus entstehenden Circulus
vitiosus stärker hervorgehoben wissen und glaubt, daß dadurch eine Ver¬
ständigung in manchen Streitpunkten möglich wäre, weil so die Schwere
mancher Neurosen erklärbar wird. Ein solcher Circulus vitiosus kann nur
von der psychischen Seite her in Angriff genommen werden. Ein wesent¬
liches Ergebnis aber der heutigen Verhandlungen ist nun gewiß die all¬
gemeine Erkenntnis der absoluten Überlegenheit einer wesentlich psychi¬
schen Behandlung, und es wäre von großer Wichtigkeit, wenn diese Er¬
kenntnis einem möglichst weiten Kreis von Ärzten zugänglich würde. Das
hätte zugleich auch auf das Laienpublikum und die Allgemeinheit eine
günstige Wirkung.
Weiß -Wien schließt sich Stransky im allgemeinen an.
A/ageb-Tübingen: Eine sehr große Zahl Neurosen bietet keinerlei
grobe äußerliche Erscheinungen; diese Gruppe ist hier entschieden zu
kurz gekommen. Solche Leute können aber kaum anders als durch Psycho¬
therapie im üblichen Sinne, nicht durch zu eingreifende Verfahren be¬
handelt werden. Vielleicht noch mehr Neurosen als in Nervenlazaretten
liegen aber auf medizinischen Abteilungen unter allen möglichen Diagnosen
(Herz-, Lungen-, Magen-, Darmleiden, Ischias, Rheumatismus). Der
psychologisch denkende Arzt wird sie nicht verkennen. Schwierigkeiten
entstehen hier, weil unter diesen Leuten zweifellos Aggravation und Simula¬
tion nicht selten sind, zumal es sich fast immer um Leute handelt, die nie
an der Front waren. Auch hier muß später einmal noch genauer darüber
gesprochen werden, wie denn überhaupt die Endresultate in vielen Fragen
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224 Verbandluftgen psychiatrischer Vereine.
erst weitere Klärung bringen werden. Ein lebhafteres Zusammenarbeiten
zwischen Neurologen und Internen sollte aber in bezug auf manche Symp-
toroe stattfmden. Ich habe das unlängst im Neurol. Ztlbl. betont. Natür¬
lich sieht der Interne z. B. auch Fieber bei seinen Neurosen, aber er deutet
den Befund auf Grund seiner anderweitigen Untersuchungen (Röntgen,
Tuberkulin usw.) anders und berücksichtigt die physiologischen Schwan¬
kungen viel mehr. Für das Verschwinden des Radialpulses in einem ge¬
lähmten Gliede käme beispielsweise in Betracht, daß neben den sehr
häufigen Abnormitäten des Radialisverlaufs der Puls weniger fühlbar wird
durch niedrigen Blutdruck, vasomotorische Verhältnisse (die Gefäße der
juvenilen Sklerose Rombergs werden z. B. bei Fieber weich und sind nicht
mehr zu fühlen). In gleicher Weise kann rascher Puls einwirken, und es
kommt in Betracht, daß bei Inaktivität die Blutversorgung allmählich
wesentlich geringer wird. Die Kritik Oppenheims gegen die Endresultate
bei Unfallneurosen.kann ich nicht unwidersprochen lassen. Die Ergebnisse
sind nicht vom Neid der Nachbarn abhängig. Hier sind durch die genaue¬
sten Erhebungen über die Erwerbsverhältnisse (Lohnliste') über Jahre hin
die Verhältnisse in bezug auf Verdienst in unangreifbarer Weise klar¬
gestellt.
M. Goldstein- Halle: Bei der französischen Bevölkerung kommen
keine traumatischen Neurosen zur Beobachtung, trotzdem viele Ort¬
schaften häufig wochenlang fast täglich von schwerem Artilleriefeuer
heimgesucht werden. Die Truppen, die sich aus Industriekreisen rekru¬
tieren, werden leichter von Neuroseepidemien heimgesucht als die aus der
Landbevölkerung. Es muß das Ziel sein, die Neurotiker möglichst bald
nach Entstehung ihrer Krankheit durch Suggestions- und Übemunpe-
lungsverfahren von ihren Symptomen zu befreien.
Longe-Breslau: Ich möchte nur mit einigen Worten darauf eingehen,
was Mohr über den Circulus vitiosus zwischen den klinischen Erscheinun¬
gen der Neurosen bei Kriegsbeschädigten und latenten organischen Krank¬
heitszuständen gesagt hat. Zweifellos spielen diese Zusammenhänge eine
große, viel zu wenig betonte Rolle, und es muß meines Erachtens unsere
Aufgabe sein, ihnen so weit als irgend möglich nachzugehen. Es ist doch
in vielen Fällen so, daß der hysterische Symptomenkomplex gewisser¬
maßen in den erwähnten Circulus vitiosus eingeschaltet ist und der Be¬
handlung trotzt bzw. nach ursprünglicher Beseitigung rasch rezidiviert,
solange jener Zirkel nicht gesprengt ist. Mohr hat bedauert, daß wir da
oft keinen sicheren Punkt zum An- bzw. Eingreifen hätten. Ich möchte
mir nur erlauben, Ihre Aufmerksamkeit auf einen krankhaften körper¬
lichen Reizzustand hinzulenken, der bei Kriegsneurosen nach meiner Er¬
fahrung ganz außerordentlich häufig vorkomint, nämlich eine ganz unge¬
wöhnliche Druckempfindlichkeit der sogenannten Druckpunkte am
Schädel. Es sind dies die Ansatzstellen besonders des M. orbicularis oculi,
levator palpebrae, temporalis, masseter, sterno-cleideo-mastoideus und der
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Nackeumuskeln. Die Empfindlichkeit ist oft so groß, daß schon bei leise¬
stem Druck die Kranken zurückzucken. Ich habe es mir angelegen sein
lassen, diese Zustände durch manuelle bzw. instrumenteile Vibrations¬
massage systematisch zu behandeln, und kann Sie nur dringend bitten,
auch ihrerseits darauf zu achten. Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Neigung
zu Schwindel und andere, auch nur wenig ins volle Bewußtsein tretende
Beschwerden verschwinden bei dieser Behandlung zusehends, und damit
steigt die Raschheit, Sicherheit und Dauerhaftigkeit der Hysteriebehand¬
lung. Bezüglich dieser letzteren bemerke ich, daß wir das Gute nehmen,
wo wir es finden, und alle möglichen Behandlungsarten wahlweise an¬
wenden. Alle geben gute Resultate. Wichtig erscheint mir nur, daß vor
dem eigentlichen therapeutischen Schlußakt der Kranke so gut suggestiv
vorbereitet wird, daß es gleichsam nur einer Einschaltung des schon —
wieder — paraten gesunden „Komplexes“ bedarf. Wenn wir hierzu uns
des faradischen Pinsels bedienen, so wenden wir, wie ich hervorheben
möchte, nur Stromstärken an, wie wir sie tagtäglich bei unseren organischen
Lähmungen ohne Schaden anzuwenden gewöhnt sind. Gewiß ist das manch¬
mal schmerzhaft, aber der springende Punkt ist doch, daß eben der Hysteri¬
sche viel stürmischer darauf reagiert. Wenn solcher Kranker also bei
Strömen, wie sie Dutzende von organisch Gelähmten tagtäglich ohne
ernstes Sträuben ertragen, erklärt:* „Das halt’ ich nicht aus, das ist für
mich zu stark“, so, meine ich, sollte man hierauf nicht allzu viel geben
und sich dadurch von der energischen Durchführung seiner ärztlichen Ab¬
sicht keinesfalls beeinflussen lassen.
Löwent/uiZ-Braunschweig hält den Zeitpunkt für eine Entscheidung
in Sachen der traumatischen Neurose nicht für gekommen, hofft aber für
die Zukunft auf eine Anerkennung nervöser Symptome mit organischem
Hintergrund, da solche Zwischenglieder zwischen ausgesprochen organi¬
schen Läsionen und psychogenen Störungen a priori existieren müssen.
Bezüglich der Therapie lobt L. das Kaufmannsche Verfahren, nur in der
Form der ärztlichen (nicht disziplinären) Handhabung und mit sorg¬
fältiger Nachbehandlung.
Araauer-München hat an der Front gute Erfahrung mit der Behand¬
lung von Kriegsneurosen gehabt, konnte 68 % geheilt zur Front entlassen.
Wichtig ist die Fühlung mit den Truppenärzten. An der Front können
alle Angaben der Kranken gut kontrolliert werden, was im Heimatlazarett
kaum mehr möglich ist. Wichtig ist auch die forensisch-psychiatrisch-
neurologische Tätigkeit der Fachärzte. A. fand ebenfalls eine wesentliche
-Verschiedenheit der einzelnen Volksklassen gegenüber der neurotischen
Erkrankung.
Kohnstamm -Königstein weist auf die Bedeutung des „Katatonus-
versuchs“ für das Verständnis der Entstehung von Kontrakturen usw.
hin. Es entsteht hier an der betreffenden Innervationsstelle eine „Sejunk-
tion“. Auch neurasthenische und disharmonische Symptomenkomplexe
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226 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
können auf Sejunktion beruhen. Was in der Art der Katatonuskontraktur
nicht psychogen, aber psychisch beeinflußbar ist, nenne ich „psychoklin“.
Hinweis auf den Hocke sehen Fall von Blitztrauma, in dem Schmerzen und
vasomotorische Störungen jedesmal 2 Tage vor einem Gewitter auftraten.
Empfehlung der „poliamnestischen“ (Abreaktions-) Methode bei gut
hypnotisierbaren Fällen. Sofern anamnestische Komplexe mitwirken,
erscheint der Fall als „schizothym“. Warum ein Redner das „defekte
Gesundheitsgewissen“ mit seinem Bannfluch belegte, ist mir unerfindlich
angesichts der allgemein anerkannten Wirkung der Begehrungsvorstellun¬
gen, wofür ich lieber „Sekurität“ sage. Bei Leuten mit strammem oder
durch die Situation geschärftem Gesundheitsgewissen (Gefangenen) werden
hysteroide Erscheinungen selten auftreten. Daß der Katatonusversuch
die Brücke zum Organischen bildet, geht daraus hervor, daß bei gewissen
Großhirnherden, die hinter den motorischen Zentren liegen, auf der ge¬
lähmten Seite der kataleptische Typus des Katatonus auftritt, ganz ähn¬
lich, wie man ihn auch bei psychisch Labilen erzeugen kann. Wahrschein¬
lich sind die Stammganglien das Zentrum der tonischen Komponente, die
beim Katatonusversuch zur Demonstration kommt.
Oppenheim (Schlußwort): Ich hatte in der Einleitung zu meinem
Referat gesagt, daß mir die schwerste Aufgabe zufällt. So schwer hatte
ich sie mir freilich nicht vorgestellt. Und es gehört schon die ganze Kraft
der durch ernste Arbeit errungenen Überzeugung dazu, um diesem Ansturm
von Gründen und Beweisen gegenüber standzuhalten. Ich habe immer
das Prinzip gehabt: „Verwende den Stein, mit dem man dir dein Haus
zerschmettern wollte, zum Bau deines Hauses.“ Ich werde das wieder
versuchen, glaube aber, daß ich über die Zugeständnisse, die ich in meinem
Referat gemacht habe, nicht hinauskommen werde. Zunächst habe ich
Saehger zu begegnen. Er hat versucht, durch Anwendung des Kaufmann-
schen Verfahrens eine völlige Umstimmung bei mir herbeizuführen. Ich
weiß nicht, was ich an dem Vorgehen Saengers am meisten bewundern soll,
aber doch wohl am meisten die Naivität, daß er wähnt, nach allem, was ich
hier vorgetragen und demonstriert habe, könnte ich in dem Kern der Sache
zu einer andern Anschauung gelangen als der von mir bisher vertretenen.
Ich beuge mich auch keinen Majoritätsentscheidungen. Und es ist eine
vollkommen unrichtige Wiedergabe meiner Darlegungen, wenn S. es so
hinstellt, als hätte ich in den wesentlichsten Punkten etwas zurückgenom¬
men. Ich habe nur gesagt, daß ich die Verbreitung der Hysterie unter den
Kriegsverletzten früher unterschätzt hätte. Daß sie häufig vorkommt,
habe ich schon in meiner ersten Arbeit gesagt. Aber die weiteren Erfahrun¬
gen haben gelehrt, daß die hysterische Diathese doch noch viel verbreiteter
ist, als ich ursprünglich gedacht hatte. Ferner habe ich in den praktichen
Konsequenzen, in der Rentenfrage, den allgemeinen Erfahrungen Rechnung
getragen. Das ist alles, und mehr vermag mir auch der Angriff «S.s nicht zu
entlocken. Es ist mir freilich schmerzlich, daß meine so überzeugenden
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Demonstrationen so wenig Eindruck gemacht haben, und daß es fast scheint,
als ob ich in den Wind gesprochen habe. Aber da es S. so hinstellt, als ob
ich mit meiner Meinung vollkommen isoliert dastände, will ich Ihnen aus
vielen Zuschriften nur einen Brief Bruns' vorlesen, in dem er bezüglich der
Akinesia amnestica, der Reflexlähmung und Innervationsentgleisung alle
meine Beobachtungen bestätigt (geschieht). Das ist doch eine Stimme,
die sich hören lassen kann. . Erwünschter wäre es mir gewesen, wenn S.
auf meine Frage, was er unter Kommotionsneurose versteht, eine
Antwort erteilt hätte. In den Referaten von Nonne und Gaupp und in
dem, was die Mehrzahl der Diskussionsredner vorgetragen hat, hat zweifel¬
los die Lehre triumphiert, welche alles, was die Kriegstraumen an funktio¬
nellen Neurosen hervorbringen, auf psychogenem, und zwar vorwiegend
auf ideogenem Wege vermittelst der Begehrungsvorstellungen und des
Timor belli entstehen läßt. Dabei ist mein Hinweis auf den Doppelsinn
des Wortes „psychogen“ leider kaum berücksichtigt worden. Es ist jeden¬
falls eine Erscheinung, die den Unbefangenen aufs höchste überraschen
muß, daß in einer Versammlung der kompetenten Neurologen und Psychi¬
ater die gewaltigen Insulte des Krieges so gering geschätzt werden, daß man
ihnen — soweit sie nicht organische Schädigungen verursachen — aller-
höchstens einen flüchtigen Eindruck auf Seele und Körper zuschreibt. Ich
schmeichle mir natürlich nicht, daß ich mit meiner entgegenstehenden
Meinung hier im Kreise noch durchdringen werde, aber ich halte es für
meine Pflicht, hervorzuheben, daß ich von der Berechtigung dieser An¬
schauung keineswegs überzeugt worden bin, und daß ich nach wie vor der
Ansicht bin, daß die psychischen und mechanischen Angriffe auf das Ner¬
vensystem dieses zwar sehr oft nur in leichter, flüchtiger, aber ebenso auch
in tiefgreifender, nachhaltigster Weise schädigen können. — Nun zu einzel¬
nen Fragen. Nonne hat uns ja im Bilde und am Objekt gezeigt, daß ein
Teil dieser Zustände durchaus dem längstbekannten Verhalten der hysteri¬
schen Krankheitsformen entspricht, ebenso leicht produziert wie hinweg¬
gezaubert werden kann. Das war sehr schön und lehrreich, aber nicht ein¬
mal notwendig. Denn das wußten wir und ist nie, auch nicht von mir,
geleugnet worden, daß echte Hysterie unter diesen Verhältnissen vor-
koramt und eine große Rolle spielt. Und das, was wir hier in der Hypnose
entstehen sahen, war echte Hysterie, konnte durchaus willkürlich nach¬
gemacht werden. Ich muß es aber unbedingt beanstanden, daß N. diese
Zustände als Akinesia amnestica und Reflexlähmung bezeichnet hat. Die
geringe Muskelatrophie allein macht die Reflexlähmung nicht aus, die
absolute Atonie mit dem völligen Zurücktreten der Sehnen ist es, welche
dem Bilde der Hysterie, wie wir es bisher kannten, durchaus fremd ist und
auch willkürlich nicht einmal einen Moment hervorgebracht werden kann.
Wir finden es nur bei den schwersten organischen Lähmungen peripheri¬
schen oder poliomyelitischen Ursprungs. Und gerade dieses Symptom
hat in den Bildern N .s völlig gefehlt. Auch dieses Fehlen aktiver Muskel-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
leistungen unter allen Umständen, auf das ich so viel Gewicht lege. Sie
müssen doch zugeben, daß das mit unseren bisherigen Anschauungen von
der hysterischen Lähmung in vollem Widerspruch steht, und Sie hätten
wenigstens das eine Zugeständnis machen müssen, daß das ein neuer Ge¬
sichtspunkt ist. Nun sagt N.: Ja, wer kann das so bestimmt behaupten,
daß nicht doch einmal eine aktive Muskelleistung vorhanden ist. Mit
diesem Mißtrauen kommen wir nicht weiter. Es genügt vollkommen, zu
wissen, daß es ein leichtes ist, bei der echten hysterischen Lähmung diese
Inkonsequenz festzustellen, während es auch bei sorgfältigster Beob¬
achtung nicht gelingt, etwas Derartiges bei den von mir besprochenen Zu¬
ständen nachzuweisen. Das sind essentielle Unterschiede, die man nicht
mit einem: „Ja wer weiß?“ abtun kann. Nonne hat nun auch historische
Studien über die Reflexlähmung angestellt und gezeigt, daß auch das
schon dagewesen ist. Der Name Reflexlähmung ist, wie ich von vornherein
betont habe, ein alter; die Reflexlähmung bildet seit dem ersten Er¬
scheinen meines Buches ein stehendes Kapitel in demselben; aber das
waren doch ganz andere Dinge. Die Bezeichnung^Reflexlähmung, wie ich
sie seit Kriegsbeginn gebrauche, stellt etwas Neues dar, man mag die
Deutung bekämpfen, aber das bescheidene Verdienst, das ich da für mich
in Anspruch nehme, sollte man mir nicht bestreiten. Auch ich bitte die
Herren, die von der Gewohnheitslähmung Ehrets, von dem Habituell¬
werden der Lähmung (ein Wort, mit dem ja nur die Tatsache umschrieben
wird) sprechen, nicht zu vergessen, daß das wesentliche Element derselben
— das Verlernen von Bewegungen — lange vor Ehret von mir beschrieben
ist. Ehret hat ja auch nur einen speziellen Typus herausgegriffen. Aber
etwas ganz Neues gibt es bekanntlich nicht. Eine ähnliche Theorie lag
aber als Erklärung für die bemerkenswerte Erscheinung vor, daß junge
Kinder nach lange bestehendem Blepharospasmus blind werden können.
Doch genug von den Prioritätserörterungen, die gewiß nicht das Wesent¬
liche sind. Ich muß trotz aller Mitteilungen und Demonstrationen dabei
bleiben, daß die Myotonoklonie nicht immer ein hysterischer Zustand
ist, sondern daß sie genau wie die Halsmuskelkrämpfe eine durchaus ver¬
schiedene Genese haben kann. Daß es einen echt hysterischen Typus
dieser Art gibt, habe ich selbst gelehrt, aber ich habe in einer im Anfang
dieses Jahres erschienenen Abhandlung auch die Beweise dafür erbracht,
daß es eine nichthysterische Form gibt, bei der das Symptom des Crampus
und der Klonismen durchaus unabhängig von mechanischen Momenten
ist. Übrigens hat selbst Strümpell, der Ihnen in seinen Anschauungen
näher steht wie mir, die Crampusneurose für einen nichthysterischen
Zustand erklärt. Und Schultze, auf den sich Saenger beruft, ist in vielen
Punkten ganz auf meiner Seite, besonders auch in der Ablehnung der
psychogenen Entstehung aller Symptome und Symptombilder. Gegenüber
Voß — einem der wenigen meiner Getreuen — muß ich bemerken, daß
man natürlich die Bezeichnung Myotonoklonie nicht auf organisch-spasti-
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sehe Zustände anwenden darf, und diese werden durch Rossolimos Zeichen
immer bewiesen. Nägeli muß ich erwidern, daß natürlich ein abnormer
Verlauf der Arleria radialis nicht in Frage kam. Die Erklärung, die er
in bezug auf seine Schweizer Statistik machte, läßt meinenEinwand hin¬
fällig erscheinen. Als ich Nonne gegenüber bei seiner Mitteilun g über die
hypnotischen Heilerfolge beim Zittern den Zwischenruf machte: Alle? —
wollte ich wahrlich nicht daran Anstoß nehmen, daß die Heilung nur in
einem Prozentsatz der Fälle gelungen sei. Im Gegenteil, ich bin ganz über¬
rascht von den Erfolgen und kann sie nur bewundern. Aber gerade unter
den 50 % Nichtgeheilten mögen die Fälle stecken, die eben nicht zur Hysterie
gehören. Man soll doch nicht verallgemeinern und das Kind nicht mit
dem Bade ausschütten. Es ist so viel von der Fixation als einem Kriterium
der Hysterie gesprochen worden. Das verkenne auch ich nicht. Aber ver¬
gessen Sie doch nicht, daß der Fixation eine viel allgemeinere Bedeutung
zukommt. Ich will gar nicht von der Perseveration der Aphatiker sprechen.
Aber ich will an die Zwangsvorstellungen erinnern, ebenso an die Fixation
der Schmerzen bei den Neuropathen (nicht nur bei Hysterie), auf die ich
vor einigen Jahren hingewiesen habe. Wenn Sie das alles hysterisch
nennen, wo sind dann die Grenzen zu finden ? Und nun ein Wort zu den
Begehrungsvorstellungen. Es ist doch eine beachtenswerte Er¬
scheinung, daß von dem Mutismus und dem Stottern ganz vorwiegend
die Jugendstotterer, von der Incontinentia urinae die Kindheitsenuretiker
betroffen werden. Also die Erschütterung ergreift den Locus minoris re-
sistentiae. Das deutet nicht auf Begehrungsvorstellungen. So erkläre ich
ja auch die Bevorzugung der linken Hand. Noch ein anderes. Ich will
mich nicht auf meine eigenen Mitteilungen berufen, aber in ganz gleich¬
mäßiger Weise wird doch von Muck, Kaufmann u. a. das Glück der Leute
geschildert, das sich nach gelungener Heilung kundgibt. Läßt sich denn
diese Tatsache mit den Begehrungsvorstellungen und dem Timor belli in
Einklang bringen? Ich muß dabei bleiben, daß als Folgen der Granat¬
explosionen und Verschüttung zwar sehr oft nur leichte, aber gelegentlich
auch recht schwere nervöse Krankheitszustände Vorkommen, die zunächst
jeder Therapie trotzen und nur sehr allmählich weichen. Gerade da habe
ich die entgegengesetzten Erfahrungen wie Förster gemacht bezüglich des
Einflusses der Begehrungsvorstellung, in das Heimatlazarett entlassen zu
werden. Gewiß ist das ein mächtiger Impuls, aber auch er hat nicht die
Macht, die schweren Krankheitserscheinungen, zum Weichen zu bringen,
die wir unter diesen Verhältnissen in einem Teil der Fälle beobachteten.
Und nun die Dispositionsfrage. Sie ist ja eigentlich eine rein theo¬
retische. Denn wir haben kein Recht, in unserer praktischen Beurteilung
einen andern Maßstab anzulegen, wenn sich nachweisen läßt, daß irgendein
Qroßonkel des Patienten ein schrullenhafter Mann gewesen ist oder einen
Hohlfuß gehabt hat. Ich möchte wohl wissen, wieviel Menschen vor dem
Urteil dieser gestrengen Herren als Nichtpsychopathen übrig blieben.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Meine Herren! Zwei große Übel galt es zu vermeiden: die Überschätzung
und die Unterschätzung der uns beschäftigenden Krankheitszustände.
Die erste Gefahr ist dank der Gesinnung der Majorität, wie sie hier ver¬
treten ist, sicher vermieden worden. Aber ich sehe in bezug auf die andere
Klippe mit großer Besorgnis der nächsten Zukunft entgegen. Hysterie
— Begehrungsvorstellungen — Simulation, das ist jetzt die be¬
queme Fahrstraße für jeden Praktiker und Gutachter. Ja, und wäre es
noch die alte harmlose Hysterie, wie wir sie früher kannten. Wenn ich so
sehe, was jetzt mit dem Namen „Hysterie“ gedeckt wird, drängt sich mir
immer der Vergleich mit dem Knabenhemd auf dem Körper eines ausge¬
wachsenen Mannes auf. Zwei Drittel der Körperoberfläche bleiben unbe¬
deckt. — Die Hysterie ist jetzt über alle Ufer getreten, und nichts ist vor
ihr sicher. Die dauernde Zyanose, das Schwinden des Radialpulses, die
trophischen Störungen an den Knochen und Nägeln, die Hyperidrosis und
Anidrosis, die Alopecie, das fibrilläre Zittern und die Myokymie, die
Crampi, die weiten, trägen Pupillen — und von da ist nur ein Schritt bis
zur Pupillenstarre —, die Abschwächung der Sehnenphänomene — und
von da ist nur ein Schritt bis zum Schwinden derselben —, alles das darf
und muß jetzt Hysterie genannt werden. Wollenberg hat es so dekretiert:
Fort mit dem Namen „traumatische Neurose“!, und Sänger hat mich zu
einem „Pater peccavi“ aufgefordert. Daß die Hysterie eine Krankheit ist,
wird dabei allenfalls zugestanden, aber ebenso bestimmt wird betont, daß
sie ohne scharfe Grenzen in die Simulation übergeht. Und Jolowia — ein
Arzt an der Front — hat uns gelehrt, daß zum Nachweis der Simulation
schon die Feststellung genügt, daß irgendeine Angabe unwahr ist; von
kranken Simulanten scheint er überhaupt nie gehört zu haben. Begreifen
Sie, meine Herren, daß ich den Folgen unserer heutigen Diskussion mit
schweren Bedenken entgegensehe, und daß es mich zum Schluß noch
einmal zu einem Mahnwort drängt? Wenn ich auch die Ansicht hege,
daß meine Lehren einmal zu einer trivialen Wahrheit werden, so mag
doch eine lange Zeit darüber vergehen. Mögen deshalb die Herren, die
auf mein Wort bisher einiges Gewicht gelegt haben, insbesondere meine
Schüler, es nicht aus der Erinnerung verlieren, daß ich gegen einen großen Teil
der Anschauungen, welche auf dieser Jahresversammlung vertreten worden
sind, zwar in aller Bescheidenheit, aber auch mit der ganzen Bestimmtheit
der innersten Überzeugung Einspruch erhoben habe.
Nonne (Schlußwort): Die Verhandlungen haben bewiesen, daß die
Befürchtung, das Thema sei schon allseitig oft genug behandelt worden,
unbegründet war. Wir alle haben Neues gelernt. Aschaffenburg gegen¬
über betont N., daß im Bereich seiner Wirksamkeit in Stadt und Provinz
von einer inhumanen oder engherzigen oder Mangel an Anerkennung
tragenden Behandlung der Kämpfer nicht im entferntesten die Rede sein
könne; der beste Arzt für jeden Kranken sei der, der ihn heile — auch
wenn der Weg zur Heilung dornig sei. Zur Methode von Kaufmann ist zu
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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sagen, daß sie keineswegs „brutal“ sein muß; diese Bezeichnung lehnt N.
ab; die „Uniform“ ist nicht nötig, aber eine gute Hilfe; die Hauptsache
bleibt auch bei dieser Methode der Arzt und sein fester Wille, den Kranken
nicht aus den Händen zu lassen vor erzielter Heilung. N. läßt nur mit
dem faradischen Strom arbeiten. WohLvitt heilte von 11 Fällen 6 , Paschin
von 15 Fällen 13; dabei hat N. erst vor wenigen Wochen diese Methode
auf seiner Abteilung eingeführt; die Bezeichnung „pia fraus“ paßt für die
Methode, die das Gegenteil von „fraus“ darstellt, nicht. Für Offiziere
eignet sich die Methode wahrscheinlich nicht, das ist Sache des „Taktes“;
Frühbehandlung ist nur da gestattet, wo alle körperlichen Erschöpfungs¬
zustände fehlen. Nach dem Kriege wird die Methode voraussichtlich vom
Schauplatz abtreten. — Zur „Reflexlähmung“ entgegnet N. Oppenheim,
daß die zwei von N. im Bilde vorgeführten Fälle beweisen, daß diese Läh¬
mungen, auch wenn sie alle die von O. beschriebenen Merkmale — ein¬
schließlich Hypotonie und Knochenatrophie — bieten, auf psychischem
Wege geheilt werden können; es handelt sich demnach umTunktionelle
Lähmungen; ob man das „hysterisch“ nennen will, ist offen zu lassen; die
Fälle verdienen weiteres Studium. Bei den Fällen von „Akinesia am-
nestica“ — das hat auch die Debatte ergeben — ist ein Wesensunterschied
gegenüber hysterischen Monoplegien nicht erwiesen. Die Granatexplo¬
sionsschädigungen stellen sich — das ist ebenfalls jetzt erwiesen —in vielen
Fällen auch da, wo langdauernde Bewußtlosigkeit bestanden hat, als
funktionelle Neurosen dar, das beweist die prompte Heilbarkeit auf
psychischem Wege, wie sie auch in der Diskussion vielfach betont wurde.
Streng zu sondern sind die Fälle mit somatischen Störungen, sei es mit,
sei es ohne Kombination mit funktionellen Störungen. Zur Hypnose sich
die Erlaubnis zu erbitten, ist, wie N. vom Sanitätsamt eines Korps weiß,
nicht nötig; das Reden mit den Kranken über das, was man will, kann den
Weg zur Heilung nicht sperren. Es ist eine theoretische Erwägung am
grünen Tisch, wenn man sagt, die Hypnose macht „weich“; N. exemplifi¬
ziert auf 4 Fälle, die bei Verdun, an der Somme und an der galizischen Ost¬
front seit Monaten in schweren und schwersten Kämpfen stehen, ohne
rückfällig geworden zu sein, sowie auf viele Fädle, die wieder im bürger¬
lichen Leben stehen. N. warnt noch einmal, irgendwie mit den Leuten zu
experimentieren; Heilsuggestion und damit Schluß! Sicherlich ist eine
Nachbehandlung im Sinne der Re-Edukation (militärische Disziplin}
nötig; dazu mag das militärische Turnen ein treffliches Mittel sein. All¬
gemein anerkannt ist, daß die Arbeit heilt, die Werte schafft, d. h. die
dem Mann Verdienst bringt; daß aber auch dann nicht immer Neigung
für Arbeit besteht, beweisen schon heute praktische Erfahrungen, die
Arbeitgeber gemacht haben. N. wirft keineswegs alles zur Hysterie, ebenso¬
wenig wie Gaupp, sondern N. hat dargelegt, daß viele Krankheitsbilder in
ihrer Entstehung zu begreifen sind, wenn man auf die Kraepelinsche Auf¬
fassung von der Reminiszenz von uralten Schutz- und Abwehrmechanis-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
men zurückgreift. N. berechnet, daß unter diesem Gesichtswinkel
der Begriff der Hysterie ein viel weiterer werden würde und den Begleitton
des „nicht Standesgemäßen“ verlieren würde. Die Hauptsache aber bleibt
— und das ist viel wichtiger als der Streit um die Einordnung einzelner
Symptomgruppen in bestimmte Kategorien mit neuen Namen —, dafi
nach dieser Debatte und gerade auch infolge dieser Debatte die Tatsache
zu Recht bestehen bleibt, daß der Krieg im denkbar größten Stile be¬
wiesen hat, daß das schwere somatische Trauma mit der Entstehung
der allgemeinen „traumatischen Neurose“ im Sinne Oppenheims nichts zu
tun hat, daß dieses Krankheitsbild ein spezifisches nicht ist, daß ursächlich
wirken psychische Traumen im weitesten Sinne, und daß die Begehrungs-
vorstellungen (das beweisen auch die Darlegungen von Weiß über die
Bosnier) im modernen Kriege von einer früher nicht gedachten Vielseitig¬
keit sind. N. tritt noch einmal — mit Wollenberg und Moser — dafür ein,
den Namen „traumatische Neurose“ fallen zu lassen.
Gaupp 1 Schlußwort): Die Vorträge und Diskussionsbemerkungen
der Redner dieser Tagung geben mir kaum Anlaß zu Nachträgen oder
Berichtigungen meines Referats. Wie sehr der Affekt die klare Erfassung
fremder Meinung erschwert und trübt, zeigt mir Oppenheims Schlußwort,
in dem er behauptet, ich halte alles für Hysterie, in der Hysterie fast
alles für ideagen und führe fast alles nur auf Begehrungsvorstellungen
zurück. Das Wort „Begehrungsvorstellungen“ kommt in meinem
Referat überhaupt nicht vor, den Bereich des Ideagenen habeich
deutlich eingeschränkt, und daß ich nicht alles bei den Kriegsneurosen
für Hysterie halte, hat sicher der erkannt, der mich ruhig angehört hat.
Ich bitte Oppenheim , er möge mein Referat, wenn es im Druck vorliegt,
noch einmal in Ruhe zu Hause studieren, dann wird er mir recht geben.
Auch den Vorwurf, daß ich Steine nach ihm geworfen, lehne ich ab. Mir
liegt natürlich alles Persönliche fern (— es ist schlimm, daß man dies über¬
haupt sagen muß —), es handelt sich nur um die Sache, und ich würde es
namentlich in jetziger Zeit für ärmlich und kleinlich halten, wollte ich
jetzt beim Kampf um die Klärung wichtiger Fragen der Wissenschaft
und des Volkswohls irgendwelche persönlichen Interessen oder Stimmun¬
gen zu Worte kommen lassen. Das Mißliche bildlicher Ausdrucksweise
zeigten mir die Ausführungen Löwenihals, vor allem sein Gleichnis vom
Lichtstrahlenbündel. Erkenntnistheoretische Unklarheiten führen hier
zur völligen Verkennung der wirklichen Sachlage. In der Frage der
Hysterie stößt man immer wieder auf den gleichen Denkfehler: zuerst
bestimmt man doktrinär, daß „dies und das“ bei Hysterie nicht vorkomme,
dann findet man „dies und das“ bei Neurotikern und erklärt nun, es könne
sioh nicht um Hysterie handeln, weil eben „dies und das“ bei Hysterie
nicht vorkomme. Was aber bei Hysterie vorkommt, ist Sache der Er¬
fahrung, nicht beliebiger Theorie. Wie tief seelische Vorgänge ins Körper¬
liche hinabwirken, sahen wir in den Erfahrungen der Hypnose, die ja in
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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dieser Richtung den hysterischen Zuständen wesensverwandt ist. Als
ich zur Tagung nach München kam, wußte ich genau, daß wir hier keine
völlige Einigung erzielen würden. Was wir gesehen und erlebt haben,
stimmt zwar weitgehendst überein, aber in der Deutung des Gesehenen
sind wir Ärzte durch unsere eigene Entwicklung und Schulung bestimmt.
Oppenheim sucht als verdienstvoller Meister exakter, gewissenhafter und
zuverlässiger neurologischer Detailuntersuchung im neurologi¬
schen Zustandsbilde das Hauptmittel zur diagnostischen Klärung, wir
Psychiater ergänzen dies durch die psychologisch-psychiatrische Gesamt-
analyse der Persönlichkeit und durch die nachdrücklichere Be¬
wertung der allgemeinen Erfahrungen soziologischer und
statistischer Art. Meine Herren! Wenn wir jetzt auseinandergehen,
so wollen wir uns eines vornehmen: wir wollen unsere Kranken so gründ¬
lich und sorgfältig neurologisch untersuchen, wie es uns Oppenheim, Nonne
und Förster in diesen Tagen so trefflich vor Augen geführt haben, wir
wollen sie auch in ihrer ganzen seelischen Struktur studieren, genau kennen
lernen, wollen uns die Erfahrungen auf dem Gebiete der Kriegsneurosen
in ihrer Gesamtheit stets vor Augen halten, wollen bei der Behandlung
uns nicht von unwissenschaftlichen Gesichtspunkten leiten lassen, sondern
den Weg einschlagen, der am sichersten zur Heilung führt, gleichgültig,
ob wir ihn früher gern betraten, und wollen niemals vergessen, daß wir
Ärzte unser ganzes Handeln jetzt in den Dienst der einen Aufgabe zu
stellen haben: unserem Heere, unserem Vaterlande zu dienen.
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Kleinere Mitteilungen.
Wahnideen im Völkerleben 1 ).
Im vorigen Bande dieser Zeitschrift (S. 270 f.) habe ich Friedmanns
„Wahnideen im Völkerleben“ kurz berührt, eben nur so weit, als mir zur
Abwehr der Vorstellung einer Psychopathia gallica nötig schien. Aber
die Zeit des jetzigen Völkerringens bringt nicht nur „Wahnideen“, die
unsern Gegnern den Krieg gegen uns als notwendig für das Wohl ihrer
Staaten und für die Sicherung der Zivilisation gegen deutsche Barbarei
vorspiegeln, sondern auch „gesunde Ideen“, die aus dem Drange der Not
eine gewaltige Kraft erlangen, in solcher Fülle hervor, daß sie die Auf¬
merksamkeit immer wieder auf Friedmanns gedankenvolle Abhandlung *)
zurücklenkt und geradezu auffordert, sich mit ihrem Inhalt auseinander¬
zusetzen.
Jene „Wahnideen im Völkerleben“, die „teils in ihren Folgen sich
als grauenhaft und verderblich erwiesen haben, teils mehr lächerlich und
kindisch uns anmuten“, und die zunächst als übernatürliche Wunder¬
wirkung, später; als epidemische Geistesstörung aufgefaßt wurden — die
Besessenheits- und ähnliche Epidemien —, führt Friedmann unserem Ver¬
ständnisse näher, indem er im Anschluß an Bernheim u. A. zur Erklärung
ihrer Erscheinungen den Begriff der hypnotischen Suggestion und der
Hysterie heranzieht. Jene tiefergreifenden Störungen „konnten aber nur
erwachsen auf dem Boden von allgemein in den Massen des Volkes sich
ausbreitenden erregenden Geistesströmungen absonderlichen Inhalts“
(S. 206), wie sie auch jetzt noch überall entstehen können, „wenn die
Agitatoren nur verstehen, die richtige Seite des Volksgeistes anzuschlagen,
und wenn ihnen die Regierung dabei lange genug freie Hand läßt“ (S. 207)
(Dreyfushandel, Ritualmordhetzen, Anarchismus, Spiritismus usw.). Uns
beschäftigt hier nur die Frage, wie solche Geistesströmungen ent-
*) Stark abgekürzt am 6. Juni 1916 in der Berliner Gesellschaft für
Natur- und Heilkunde vorgetragen.
*) M. Friedmann , Über Wahnideen im Völkerleben. Grenzfragen
des Nerven- und Seelenlebens, herausgegeben von Löwenfeld u. Kurelia,
Heft 7 u. 8. Wiesbaden 1901.
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stehen, und nicht ihre gelegentliche Verbindung mit Ekstase, hypnotischer
Überreizung, hysterischen Zuständen und ausgesprochener Geistesstörung
Einzelner, wie sie Friedmann bei den Schamanen, in den Besessenheits-und
Lykanthropieepidemien usw. aufweist. Friedmann beantwortet die Frage,
wie Oberhaupt solche geistigen Massenwirkungen entstehen, mit Hilfe des
Begriffe der Wachsuggestion, die ihre Wirkungen „in jeder Stunde in inten¬
sivster Art auf das ganze Menschengeschlecht ausübt“. „Nicht nur die
schon berührten fanatischen Geistesströmungen, die eigentlichen Wahn¬
gebilde der Völker, beruhen auf der gewöhnlichen Wachsuggestion, sondern
alle Ideale, der ganze religiöse Glaube und selbst ein bedeutender Bestand¬
teil des wissenschaftlichen Denkens sind ihr entsprungen. Ich hoffe unserer
heutigen Psychologie nicht zu nahe zu treten, wenn ich mit einem gewissen
Vorwurf ausspreche, daß sie den epochemachenden neuen Gesichtspunkt,
der in der Suggestionsdoktrin enthalten ist, doch kaum annähernd nutzbar
gemacht hat für das Verständnis dieser geistigen Massenerscheinungen.
Was hat uns denn für das gewöhnliche wachgeistige Leben der Sug¬
gestionsbegriff Neues gelehrt? Er hat gezeigt, wie man einfach
durch Erregen starker Vorstellungen das Denken der Menschen
beherrschen und ihm absichtlich und künstlich einen bestimmten
Inhalt aufdrängen kann, und zweitens, daß die Vorstellung an
sich und allein eine selbständige geistige Macht bedeutendster
Art ist. Das sind doch die beiden wesentlichen Momente, welche
die Wachsuggestion gemeinsam mit der hypnotischen besitzt“ (S.
213). Nur dürfe man die Macht der Wachsuggestion nicht auf eine Art
von Fesselung der geordneten Überlegung oder auf eine Einengung des
Blickfeldes der „Apperzeption“ zurückführen, und auch der Hinweis auf
die Affekt- und Gemütseinwirkung lasse noch recht wenig erkennen vom
eigentlichen Wesen des Suggestivdenkens: „Die suggestive Vorstellung
erregt nicht nur direkt eine subjektive Überzeugung, sondern sie ist lebhaft
sinnlicher, anschaulicher Art, sie entsteht ohne Reflexion und ist geeignet;
in Andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt zu werden (zum
Unterschiede von der Überredung), und sie erzeugt weiter einen starken
Impuls zur Aktivität“ (S. 215). So entstehe die Überzeugung bei allen
großen Ideen. „Gründe, Motive sind an und für sich überflüssig und
können sie etwa nur zu stützen helfen. Gegengründe bleiben unwirksam
und werden ohne weiteres als Irrlehre verworfen“ (S. 118). Den Gegen¬
satz zum suggestiven Denken bildet das forschende, das reflektierende,
das kritische Denken; bei ihm gehört zum Urteil „stets das Bewußtsein
der Gründe, sowohl derer, die für, als derjenigen, die gegen das Urteil
sprechen können. Die Forschungsresultate sind unabhängig vom sub¬
jektiven Element, und sie müssen für jeden, der zu reflektieren versteht,
gleich verbindlich sein.“ Beim Forschen soll also „jede subjektive Über¬
zeugung aufgehoben sein und nur der logische oder objektive Wert der
Argumente und Tatsachen entscheiden. Unter kritischem Denken ver-
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steht man somit die Hemmung, die Abwehr jeden subjektiven .Faktors
beim Urteilen, sie ist das Resultat der Erziehung, der Einübung, so gut
wie die Selbstbeherrschung beim Handeln, nicht aber angeborene Eigen*
schaft des Geistes“ (S. 219). „Mit andern Worten heißt es: gerade das
kritische überlegte Urteilen beruht nicht auf einer primären geistigen
Kraft, einem Organ der Intelligenz (Verstandeskraft, aktive Apperzep¬
tion); wo ein Bedürfnis besteht nach Begründung aller von einer Person
aufzunehmenden oder festzuhaltenden Ideen, da ist dieses Bedürfnis an¬
erzogen, und zugleich ist die Suggestibilität der Person von Haus aus
eine geringe“ (S. 220). Es bedarf also einer gewaltsamen Ausschließung
der intellektuellen Kräfte gar nicht, um beliebige Vorstellungen zur sub¬
jektiven Überzeugung zu bringen; „einzige Bedingung ist ..., daß keine
kontrastierenden Vorstellungen notwendig mit der aufzunehmenden auf¬
tauchen“ (S. 221).
So können zahlreiche Ideen ohne positive Motivierung vom mensch¬
lichen Geiste Besitz ergreifen und ihn zu leidenschaftlicher Betätigung
treiben. „Die einzige Bedingung, daß keine offenen Widersprüche solchen
Ideen beiwohnen dürfen, hat offenbar um so geringeren hemmenden Wert,
je kleiner die Summe positiver Errungenschaften ist, welche auf dem
Gebiete der geistigen Forschungsarbeit vorliegt, oder welche der einzelne
Mensch besitzt“ (S. 232). Bei den die Massen erregefiden Ideen kommen
aber drei besonders wichtige Faktoren hinzu:
1. Intellektuelle Hemmungen pflegen nur so lange wirksam zu sein,
als die Bewegung wenige Anhänger hat. „Denn die weitaus stärkste Hem¬
mung für jeden einzelnen Menschen ist die Rücksicht auf die Um um¬
gebende öffentliche Meinung; durch dieses in erster Linie wieder suggestive,
aber doch auch sehr starke praktische Moment wird der einzelne von der
Geltendmachung, ja sogar VQn der eigenen Verfolgung solcher Ideen abge¬
halten, die für töricht oder verwerflich gelten würden. Und darin scheint
mir auch ein sehr wesentlicher Grund zu liegen, warum wir abnorme Ideen¬
bildungen, die bei Einzelnen sich ereignen, in intensiver und die Person
durchaus beherrschender AusbUdung eigentlich nur auf geistig krank¬
hafter Basis zu treffen pflegen, während eine noch physiologische Ex¬
altation genügt, um ganz ähnliche Gedankenrichtungen in einer kom¬
pakteren Gruppierung von Personen zum voUen Durchbruch zu bringen“
(S. 233).
2. „Ein zweiter, ziemlich ebenso starker unterstützender Faktor bei
den Massenbewegungen findet sich in der suggestiven Gewalt des unmittel¬
bar vor den Augen jedes Beteiligten stehenden Vorbildes und Beispieles“
(S. 234). Besonders am Beispiele Muhammeds erläutert Friedmann, „wie
wenig selbständig gerade die tonangebenden Ideen im Geiste der Massen
zum Auftauchen und zur Geltung gelangen, wie fast alles, was wir denken,
seinen Ursprung teils der einfachen Übertragung, teils der Suggestion
von Person zu Person verdankt, somit ohne^unsere geistige Initiative in
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uns aufgenommen wurde“ (S. 238). Nicht die Masse, sondern Einzelne
schaffen neue Ideen, die dann in das Volk eingepflanzt werden und die
Richtung der Bewegung bestimmen. Zum Teil bilden sich zum Zwecke
der Einpflanzung besondere Berufe, wie der der Priester und neuerdings für
politische Ideen der der Parlamentarier, der Berufs- und Zeitungspolitiker.
3. Das wirksamste Moment bei Massenbewegungen ist die Suggesti-
bilität der Volksmassen. Diese, nicht Idealismus und Vernunft, bildet die
Grundlage für die erstaunliche werbende Kraft neuer Ideen selbst in den
Kulturvölkern, die zu eigenen Herren und Lenkern ihrer Geschicke ge¬
worden sind, und in denen die öffentliche Meinung eine sieghafte Macht
besitzt; das zeigen die bedenklichen Abwege des Volksinstinktes, der
Mangel an Kritik, das Vorherrschen des Radikalismus, der den Vorzug
starker Gefühlsbetonung und zugleich plastischer Klarheit und Schärfe
in seinen Endzielen hat.
Die Suggestion wirkt also dadurch, „daß sie eine mächtige Vorstellung
in den Geist des Menschen einführt; aber sie hemmt ihn in diesen Fällen
ganz und gar nicht“. „Ich erinnere nur als besonders beweisend an die
Ideen, welche, wie die anarchistische oder mahdistische, eigentlich gar
keine positive Begründung erfuhren; und welche beispiellose Agitation,
welches Übermaß von impulsiver Tatkraft haben sie entzündet! Die be¬
sondere Bedeutung der Massenbewegung für die Psychologie ist hier
offenbar die, daß sie gleichartige Wirkungen bei einer großen Zahl von
Personen zeitigt, daß sie damit unabhängig macht von jenen irreführenden
Analysierungsversuchen in dem Labyrinth der individuellen Psyche. Die
Idee als solche hat eine werbende Kraft, und darum war es die Hauptsache
in unserer Darstellung, klarzulegen, daß gerade die perversen Ideen ihre
Macht nicht ihrem logischen Werte, d. h. einer Anzahl von Beweisgründen,
verdanken. — Nur zugänglich, suggestibel mußten die Personen für die
Idee sein, die Suggestivwirkung selbst mußte durch die Art und Weise
der Einpflanzung, der Übertragung besorgt werden“ (S. 279). „Manmuß
die eigene, selbstempfundene Gewalt der Idee, nicht ihre theoretische Be¬
gründung auf die andern wirken lassen, überzeugungvoll, imponierend
und vor allen Dingen plastisch anschaulich und bestimmt, reich in den
Sinnen vorstellbarem Detail (Schilderung von Verelendung bei den So¬
zialisten, von Hölle und Himmel, bestimmte Prophezeiungen bei religiösen
Dingen usw.), so muß der Ausdruck sein. Ein Mann, der das vermag,
wirkt auf die Massen, er ist ein Agitator. — Bedingung der Suggestibilität
dagegen ist, daß die Idee in ihrer allgemeinen Richtung vorhandenen Denk-
gewohnheiten entspricht oder doch nicht widerspricht, daß sie in der Person
plastisch anschaulich zu werden vermag, und daß sie lebhaftes, leiden¬
schaftliches Interesse in ihr erwecken kann. Sache der Agitation Anderer
ist es, dies stets zu steigern, eine immer intensivere Beschäftigung mit der
Idee anzuregen“ (S. 280).
„Die Suggestivvorstellung war für uns schließlich nichts anderes
Zeitsebritt für Psyohatrie. LXXIII. 2 / 3 . 17
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als eine für das Subjekt eindruckvoll, mächtig oder intensiv gewordene
Vorstellung, freilich aber eine wirkliche plastische Vorstellung, nicht etwa
eine abstrakte Idee wie die der Unendlichkeit oder ein allgemeiner Lehrsatz
in Begriflsform. Diese letzteren repräsentieren keine psychische Kraft
oder Macht, ein Begriff überzeugt überhaupt nie; niemand glaubt an sich
den Lehrsatz, daß z. B. Tugend glücklich mache, wohl aber mag er erlebt
haben, daß brave und gewissenhafte Menschen glücklich geworden sind.
Solche rein abstrakte Ideen wirken also nie suggestiv. Nun könnte aber der
Einwand naheliegen: Hat es denn einen besonderen Zweck, für solche elemen -
tare psychische Tatsachen den Begriff der Suggestion zu verwenden, der doch
ursprünglich an den speziellen Vorgang der Hypnose geknüpft war?
Genügt es nicht, einfach von starken und eindruckvollen Vorstellungen
zu sprechen? — Darauf ist zu erwidern: Die Tatsache der psychischen
Wirkung starker Vorstellungen auf das ganze Denken der Menschen,
speziell auf die Willens- und Intelligenzprozesse, birgt eine wesentlich neue
Erkenntnis in sich und zeigt sich in der Völkerpsychologie von einer ganz
eminenten Tragweite. Erst das Studium der geistigen Massenbewegungen
einerseits und die experimentelle Psychologie der Suggestivmethoden
andererseits hat gelehrt, welche werbende Kraft und welche die andern
Personen beherrschende Wirkung der Übertragung eindruckvoller Vor¬
stellungen zukommt. Mit einem Wort, erst da konnte man lernen, daß
wir hier eine psychische Macht vor uns haben. Man hatte bisher auf dem
ganz ungenügenden Wege der Analyse der individuellen Psyche einer Theorie
den Vorzug gegeben, welche eigentlich nur eine psychische, speziell in¬
tellektuelle Kraft zuließ, das war der Verstand oder moderner die Apperzep¬
tion, eine Kraft, welche angeblich nur auf Grund von Motiven überzeugende
Urteile bildete, während die einzelne Vorstellung und die Assoziation ledig¬
lich inaktiv waren, d. h. der Apperzeption nur als Material dienten. Mit
den längst bekannten Tatsachen des religiösen Glaubens und der Vor¬
urteile fand man sich — etwas oberflächlich — in der Weise ab, daß man
der Apperzeption gleichsam zwei Nebenherrscher beigab, den Affekt und
die Phantasie (mit Gemüt). Sie sollten die Apperzeption mit beeinflussen,
sozusagen bestechen. Die Phantasie als psychische Kraft existiert aber
in der modernen Psychologie überhaupt nicht mehr; was man damit be¬
zeichnen wollte, das ist eben der Tatbestand, daß die plastische Vorstellung
eine intellektuelle Wirkung ausübt, also daß sie suggestiv wirkt. Plastisch
denkende Personen, das sind die Künstler und Naturvölker, sind immer
stark suggestibel“ (S. 301).
Aber nicht nur bei Naturvölkern, sondern überall und stets ist in den
Massen starke suggestive Empfänglichkeit vorhanden, „und als viel
schwächer erweist sich der Einfluß der intellektuellen Hemmungen; und
deshalb hängt es zum großen Teile von äußeren Umständen und Zeitver¬
hältnissen und fast ebensosehr von dem Auftreten bestimmter bedeutender
Führer und von der Entwicklung einer folgerichtigen Agitation ab, nach
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Kleinere Mitteilungen.
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welcher Richtung hin die geistige Bewegung eines Volkes geleitet werde“
(S. 305). —
Den Mittelpunkt der Friedmannschen Erörterung bildet die „starke
Vorstellung“. Von ihr wird also eine Beurteilung seiner Ansicht auszu¬
gehen haben. Stark im Sinne Friedmanns ist eine Vorstellung nicht des¬
halb, weil sie ihren Platz im Bewußtsein lange behauptet oder in ihm
immer wieder erscheint, sondern weil sie ohne logische Begründung Über¬
zeugung mit sich führt und widerstreitende Vorstellungen daher entweder
überhaupt nicht neben ihr hervortreten oder, wenn sie auftauchen, von
ihr überwunden werden, so daß sie in ihrem Bereich das Denken und
Handeln bestimmt. Vorstellungen können sich aber nur widerstreiten,
wenn sie nicht bloße Erinnerungsbilder oder Begriffe, sondern eine Ver¬
bindung solcher in Form von Urteilen darstellen. Es handelt sich also um
Urteile oder um solche Vorstellungen, denen ein Urteil zugrunde liegt.
Unter diesen werden die Urteile, die zur Beschreibung oder Bewertung
eines Erlebnisses dienen, selten Anlaß zum Widerstreit geben, sondern im
allgemeinen nur solche, die einen Zusammenhang zwischen Erlebnissen
herstellen, namentlich ein Erlebnis auf eine Ursache zurückführen und
seine möglichen Folgen aussprechen. Nicht das, was an und bei einer
Sonnenfinsternis zu sehen ist, oder welchen Eindruck sie macht, sondern
was die Sonnenfinsternis bedeutet, wie der Vorgang sich erklärt, und weiter,
was seine möglichen Folgen sind, wie der Mensch diese abwehren kann,
und dergleichen kann Gegenstand der Erwägung und des Streites werden.
Den Stoff aber, der in dieser Form zur Erwägung kommt, bilden neben dem
Erlebnis Einfälle, wie sie im Assoziationsspiel auftauchen, und bisweilen
auch das Ergebnis der aus ihnen hervorgehenden Handlungen. Das gilt
für das wissenschaftliche wie für das suggestive Denken. Der Unterschied
zwischen beiden besteht in dieser Hinsicht nur darin, daß das wissenschaft¬
liche Denken viel mehr Arbeit darauf verwendet, die Einfälle zu prüfen,
d. h. mit den Folgerungen aus dem dem Einzelnen überkommenen Wissen
und seinen eigenen Erfahrungen zusammenzuhalten. Wissenschaftliches
Denken kann also erst dann einen Einfall widerlegen, wenn ein genügender
Schatz von anerkanntem Wissen und persönlicher Erfahrung gesammelt
ist, der den Stoff des wissenschaftlichen Denkens abgibt. Friedmann führt
als Beispiel unmittelbarer Assoziation und primärer Eigenbeziehungen an:
„Kommt ein Europäer, der die Neger stark aufregt, neu an einen Ort und
wird gleichzeitig — aber viele Meilen entfernt — ein Häuptling von einem
Elefanten auf der Jagd verwundet oder gar getötet, wurde eine Frau von
einem Krokodil zerrissen an einem Fluß, an dem der Europäer geweilt
hatte, in allen solchen Fällen wird das erlittene Unglück verknüpft mit
dem Erscheinen des Europäers, dieser ist schuld daran, er ist, wie man da
und dort sagt, ein Seelenesser. Es genügt, daß der Europäer ein mächtiger
Mann ist, also kann er das machen“ (S. 223—224). Friedmann hat recht:
das genügt und muß genügen. Der Neger hat keine Möglichkeit, das
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Kleinere Mitteilungen.
Können des Weißen abzugrenzen; er weiß nur, daß der Weiße als Fremder
sein Feind ist, und daß die Weißen sehr vieles können, was er selbst und
seine Genossen nicht vermögen, unter anderem auch in die Ferne wirken,
und er hat andrerseits die Denkgewohnheit, für jeden Unglücksfall einen
Schuldigen zu suchen; der Einfall hat also doch eine gewisse Begründung
im Wissen des Negers, und Hemmungen gegen den Fehlschluß können bei
ihm in der Tat nur soweit aufkommen, daß die Richtigkeit des Einfalls
zweifelhaft erscheint, nicht aber, daß der Einfall widerlegt wird. Ebenso
steht es mit der Vorstellung, die Sonnenfinsternis beruhe darauf, daß ein
großer Vogel vor die Sonne fliege oder ein Wolf sie verschlinge. Dieser
Einfall erklärt die Verdunkelung der Sonne, und das Höchste, was wissen¬
schaftliches Denken auf dieser Stufe vermöchte, wäre der Zweifel an der
Richtigkeit der Erklärung. Diese wird aber hier sogar durch den Versuch
bestätigt, denn die aus dem Einfall sich ergebende Handlung, das Lärmen
und das drohende Zusammenschlagen der Waffen, verscheucht das Untier
und befreit die Sonne. Daß solche Erklärungen angenommen werden, sich
behaupten und das Handeln bestimmen — also die Stärke dieser Vor¬
stellungen —, liegt nicht etwa allein darin, daß zunächst dem Ersten, der
sie bildet, oder seinen Genossen keine anderen oder doch keine gleich
passenden Einfälle kommen, und später in der Gewohnheit, so zu denken;
der Mangel an andern Erklärungen und die Macht der Gewohnheit befreit
den Einfall nur von Hemmungen, Hemmungen können aber die Stärke
einer Vorstellung ebensowenig erzeugen, wie ihr Fehlen das vermag, son¬
dern sie können sie nur steigern oder schwächen, je nachdem sie über¬
wunden werden oder sich mächtiger erweisen. Auch das Anschauliche und
Plastische einer Vorstellung kann wohl zu ihrer Stärke beitragen, aber
nicht den Grund zu ihr legen. Es mag im zweiten Beispiel besonders wirk¬
sam sein, fehlt dagegen ganz im ersten, denn die Verbindung der beiden
Erlebnisse, der Ankunft des Weißen und des Unfalls, ist gewiß nicht an¬
schaulich.
Nun könnte man aus der Stärke des äußeren Eindrucks, an den die
Vorstellung sich anschließt, deren Stärke ableiten. Friedmann sagt: „Jeder
starke äußere Eindruck, jede Wahrnehmung, deren Einwirkung oder
Wirkungsweise nicht ohne weiteres zu erkennen ist, wird beinahe immer
und ohne jede begründende Überlegung auf das Subjekt und dessen Er¬
lebnisse bezogen. Es gehört nur dazu, daß der Eindruck ein kräftiger ist,
und das ist dann der Fall, wenn er an sich stark und schreckhaft ist, wie
etwa Blitz und Donner, das wogende Meer, ein tätiger Vulkan, oder aber,
wenn er auffällt durch seine Ungewöhnlichkeit, so z. B. eine Sonnen- oder
Mondfinsternis“ (S. 223). Das ist sicher richtig und erklärt sich daraus,
daß es zweckmäßig ist und sich im allgemeinen bewährt hat, alles Unge¬
wöhnliche als möglicherweise schädlich anzusehen und zu fürchten, solange
seine Unschädlichkeit nicht erwiesen ist. Nur paßt der Hinweis auf die
Stärke des äußeren Eindrucks nicht auf alle Fälle. „Der Indianer in Peru,
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der auf die Reise geht, speit einen Kokaballen, wie er ihn stets im Munde
führt, an eine Felswand. Findet er bei seiner Rückkehr dieses Zeichen
noch intakt, so war seine Frau ihm inzwischen treu geblieben; ist der
Kokaballen herabgefallen, so war die Frau untreu, und das steht für ihn fest.
Ferner: Läßt man sich von einem für klug und mächtig gehaltenen Europäer
anspeien, oder kann man gar Haare von dessen Haupt erhalten, so ist damit
dessen Kraft und Verstand ebenfalls übertragen worden. Kann umgekehrt
ein Anderer Haare, Nägel, Reste der genossenen Speise eines Australiers
oder Negers erlangen, so ist der frühere Besitzer überzeugt, daß jener Macht
über ihn erlangt habe, daß ihm alles passieren werde, was seinen Effluvien
widerfährt; werden diese verbrannt, so muß er sterben, und er ist zu großen
Opfern bereit, um etwas der Art abzuwehren“ (S. 224—225). Hier ist
nicht die Stärke eines äußeren Eindrucks, sondern die einer Vorstellung
maßgebend für die Stärke der Verbindung zwischen Eindruck und Vor¬
stellung, die Stärke der Vorstellung liegt aber zunächst in ihrer Gefühls¬
betonung, in der Hoffnung, klüger und kräftiger zu werden, in der Besorgnis
vor der Untreue der Frau oder vor Krankheit und Tod oder aber, wenn
diese Besorgnis so groß nicht ist, im Gefühl des Zweifels, was zu tun ist.
„Er muß etwas tun, wenn die Sonne sich verfinstert, wenn der Verstorbene
ihm eine Krankheit schickt, er muß denjenigen ermitteln, der seine Haare
oder Nägel verbrannt hat, er muß Sorge tragen, wenn der nötige Regen
ausbleibt. Was geschieht, das ist an sich gleichgültig und ist Sache des
Herkommens. Genug, es geschieht in der Absicht, das Schädliche abzu¬
wehren, das Nützliche herbeizuführen“ (S. 225). Damit nähere ich mich
dem Grunde der Sache. Der äußere Vorgang oder die innere Vorstellung
beunruhigt den Menschen, er hat das Bedürfnis, diese Unruhe loszuwerden,
und dies Bedürfnis bestimmt ihn, einem Einfall zu folgen, der geeignet ist,
seinem Handeln oder auch nur seinem Denken die Richtung zu weisen.
Daß der Einfall hierzu nur geeignet ist, wenn nicht andere Einfälle, die
ihm widerstreiten, einleuchtender sind, ist selbstverständlich, und daß
namentlich bei Naturvölkern, aber durchaus nicht nur bei ihnen, der
Einfall um so kräftiger wirkt, je anschaulicher er ist, ist schon darin be¬
gründet, daß anschauliches Denken ursprünglicher ist und im allgemeinen
viel leichter vor sich geht als begriffliches Denken. Ich möchte den Zu¬
sammenhang so ausdrücken: Das Ausbleiben widerstreitender Einfälle
.bewirkt, daß die das Bedürfnis befriedigende Vorstellung von äußeren
Hemmungen, die Anschaulichkeit der Vorstellung, daß sie von inneren
Hemmungen frei die Richtung des Handelns oder Denkens bestimmen
kann; die Stärke der Vorstellung aber rührt vom Bedürfnis her und ist
um so größer, je stärker das Bedürfnis ist, und je mehr die Vorstellung
zur Denkgewohnheit geworden ist und damit die Richtung festlegt, in
der das Bedürfnis sich auswirken kann.
Diese Betrachtung trifft jedoch auch für das wissenschaftliche Denken
zu. Das Bedürfnis, dem Handeln oder Denken eine bestimmte Richtung
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Kleinere Mitteilungen.
zu geben, der Zweifel, welche Richtung zum Ziele führt, treibt Einfälle
hervor oder läßt Einfälle benutzen, die eine Verbindung zwischen ver¬
schiedenen Vorgängen oder Vorstellungen schaffen. Widerstreitende Vor¬
stellungen oder die Folgen von Handlungen, die aus den Einfällen hervor¬
gehen, können diese Verbindung als ungangbar erweisen, und widerstrei¬
tende Vorstellungen werden dies besonders auch dann vermögen, wenn sie
selbst einem stärkeren Bedürfnis entsprechen. Hätte Darwin einen Wider¬
spruch zwischen seiner ursächlichen Erklärung der organischen Zweck¬
mäßigkeit und Art Verschiedenheit und seinem Gottesglauben gefunden,
und wäre in ihm das Bedürfnis, an Gott zu glauben, stärker gewesen als
das Bedürfnis nach einer ursächlichen Erklärung jener Erscheinungen, so
würden die Gegengründe gegen seinen genialen Einfall diesen zur Unfrucht¬
barkeit verdammt haben, oder er hätte jenen Widerspruch für scheinbar
gehalten und vielleicht so lange gesucht, bis er ihn aufgelöst hätte. Fried¬
mann folgert aus dem Verhalten vieler Theologen und theologisch Denken¬
den, die den Darwinismus teils von vornherein als unmoralisch verwarfen,
teils als falsche Hypothese bekämpften: „Offenbar schließt erstlich im
Geiste dieser Personen die teleologische Idee kontrastierende Vorstellungen
(hier die kausale Deutung) aus, es besteht ein förmlicher Impuls, sie abzu¬
wehren. Zweitens die Überzeugung selbst ruht auf einer Gewohnheit, so
zu denken, aber nicht auf logischem Raisonnement; denn man hat von
vornherein den Darwinismus abgewiesen und hat gar keinen Versuch ge¬
macht, die vielen Tatsachen, welche für ihn sprechen, abzuwägen gegen¬
über den Beweisgründen für die Teleologie. Diese letztere stand fest, der
Darwinismus war ein Angriff, den es abzuwehren galt. Und der Haupt¬
grund für diese differente Behandlung ist ein nichtwissenschaftlicher, die
moralische Bewertung beider Ideen“ (S. 218). Ich kann dem nicht ganz
zustimmen; denn daß die teleologische Idee die kausale Deutung aus¬
schließe, ist auch im Sinne jener Personen nur soweit richtig, daß die
teleologische Idee eine restlose kausale Deutung ausschließe, dagegen geben
jene Gegner der Entwicklungslehre ganz allgemein zu, daß die kausale
Naturbetrachtung durchaus berechtigt sei, und betonen nur, daß sie nicht
alles erklären könne, und daß die Betrachtung unter dem Gesichtspunkt
des Zwecks ihr übergeordnet sei. Sie könnten also auf diesem Boden
sehr wohl, ohne ihrem Standpunkt etwas zu vergeben, zur Annahme der
Darwinschen Entwicklungslehre gelangen, wenn — ja wenn bei ihnen ein
Bedürfnis nach einer kausalen Naturerklärung der Zweckmäßigkeit im
Tier- und Pflanzenreich bestände. Dies Bedürfnis ist es ja allein, was den
von der Denkweise der heutigen Naturwissenschaft Durchdrungenen trotz
der großen Beweislücken und der vielen bei näherem Eingehen noch
wachsenden Schwierigkeiten zur grundsätzlichen Annahme der Abstam¬
mungslehre in dieser oder jener Form zwingt. Wo jenes Bedürfnis nicht
besteht, nötigt nichts, sich über jene Lücken und Schwierigkeiten hinweg¬
zusetzen, denn Lamarck, Darwin und ihre Nachfolger ermöglichen zwar
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durch Aufstellung von Richtlinien, die sich in manchen Fällen als zutreffend
ergeben, die Überzeugung, daß nur unsere Unkenntnis zumal der Ver¬
gangenheit jene Lücken und Schwierigkeiten schaffe, aber die Ergebnisse
ihrer Forschungen sind keineswegs „für jeden, der zu reflektieren ver¬
steht, gleich verbindlich“, sondern hier entscheidet ein subjektives Ele¬
ment, das Vorhandensein oder Fehlen des Bedürfnisses nach einer kausalen
Naturerklärung der organischen Zweckmäßigkeit. Wie gering ein ebenso
scharfsinniger wie besonnener Naturforscher, der von jenem Kausalitäts¬
bedürfnis getrieben die Darwinsche Lehre als einer der ersten in Deutsch¬
land annahm und mit Nachdruck vertrat, wie gering E. du Bois-Reymond
von den Beweisen für Darwins Abstammungslehre dachte, zeigen seine
bekannten Worte: „Mögen wir immerhin, indem wir an diese Lehre uns
halten, die Empfindung des sonst rettunglos Versinkenden haben, der
an eine ihn nur eben über Wasser tragende Planke sich klammert: bei der
Wahl zwischen Planke und Untergang ist der Vorteil entschieden auf seiten
der Planke“ *)• Hiernach braucht bei dem, der Darwins Lehre verwirft,
die teleologische Idee die kausale Deutung nicht auszuschließen oder ein
förmlicher Impuls zu bestehen, sie abzuwehren: wer nicht vom Bedürfnis
gezwungen wird, sich auf das Meer kausaler Ableitung der organischen
Zweckmäßigkeit und Artverschiedenheit zu wagen, kann dazu nicht durch
den Hinweis auf die Plankentragfähigkeit der Abstammungslehre bestimmt
werden. Dagegen hat Friedmann darin gewiß recht, daß die Überzeugung
von der Unrichtigkeit des Darwinismus wenigstens anfangs vielfach auch
auf Gewohnheit beruhte, und daß zu seiner Verwerfung häufig ein nicht
wissenschaftlicher, sondern moralischer Gesichtspunkt führte. Nur sehe
ich den Hauptgrund dafür, daß in jenen Männern die Gewohnheit siegte
und die moralische Wertung zu keiner neuen Denkarbeit führte, die viel¬
leicht mit der Überwindung des Gegensatzes zwischen naturwissenschaftlich¬
kausaler und teleologischer Denkweise geendet hätte, im Mangel eines
hinreichend kräftigen Bedürfnisses nach ursächlicher Erklärung auf diesem
ihnen ursprünglich fremden Forschungsgebiete.
Daß die Anschaulichkeit einer Vorstellung auch das wissenschaftliche
Denken erleichtert, dafür brauche ich nur an die Atomlehre, die Struktur¬
chemie und Ehrlichs Seitenkettentheorie zu erinnern. Wie der Vogel, der
zwischen Sonne und Erde schwebt und so die Sonnenfinsternis hervorruft,
nicht selbst gesehen, sondern nur aus seinen Wirkungen erkannt wird,
so sind die Atome, der chemische Bau der Moleküle und deren Riesen¬
wachstum in Seitenketten von keinem Auge gesehen und nur aus den
Wirkungen, zu denen sie führen könnten, erschlossen worden. Ein an¬
schauliches und deshalb bequemes Bild für eine unbekannte Ursache,
vorzüglich geeignet, eine große Anzahl von Tatsachen übersichtlich an¬
einanderzureihen, und schon aus diesem Grunde ein ausgezeichnetes
1 ) E. du Bois-Reymond, Darwin versus Galiani, Berlin 1876.
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Hilfsmittel der Forschung, hat jede dieser Lehren das Bedürfnis nach
ursächlicher Erklärung soweit befriedigt, als es eben durch eine bildliche
Darstellung befriedigt werden kann, aber keine dieser Lehren ist auch dem
Schicksal entgangen, daß das in ihnen gegebene Bild als Wirklichkeit
angesehen wurde. Die Folge war, daß die Entdeckung von Widersprüchen,
zu denen die Atomlehre, die Mutter der beiden andern, führte, ihre Ver¬
werfung und ihren Ersatz durch eine andere, die energetische Theorie, zu
fordern schien, während die Vorzüge eines Bildes vor einer begrifflichen
Bestimmung so groß sind, daß man es wegen kleiner Unvollkommen¬
heiten, die man beim Gebrauch berücksichtigen kann, nicht aufgeben
wird. Es ist die gleiche Unklarheit, die auch das Bild des Vogels, der die
Sonne verdeckt, zu einem wirklichen Vogel machte, und die auf religiösem
Gebiete Bilder und Symbole so leicht zum Ausdruck tatsächlicher Ver¬
hältnisse erstarren läßt.
Also auch wissenschaftliche Ideen verdanken ihre Entstehung
und häufig auch ihre Geltung nicht allein der Macht ihrer Gründe und
dem Fehlen widerstreitender Vorstellungen, sondern vor allem dem Be¬
dürfnis, zu dessen Befriedigung sie geschaffen wurden, mag dies Bedürfnis
mehr ein praktisches oder theoretisches sein und mehr von einem auf¬
fallenden Ereignis oder von einer mit Zweifel verbundenen Vorstellung
ausgehen. Daß äußere Ereignisse praktische Bedürfnisse erzeugen und
diese das wissenschaftliche Denken in Bewegung setzen, davon hat uns
der jetzige Weltkrieg mit seiner Absperrung der Mittelmächte vom Welt¬
handel zahlreiche Beispiele in den Bemühungen um Gummi-, Stickstoff-,
Eiweißersatz usw. geliefert. Und wie der Indianer im Bedürfnis, sich die
Sonnenfinsternis zu erklären, zur nächstliegenden Vorstellung eines Vogels
greift, der, ein Bewohner des himmlischen Luftmeers, die Störung im Ver¬
halten des andern Himmelsbewohners herbeiführt, so schloß Le Verrier
von der Beobachtung auffallender Unregelmäßigkeiten der Uranusbahn
auf das Dasein eines andern, noch unbekannten Planeten. Dasselbe aus
dem Innern stammende Bedürfnis, mächtiger und klüger zu werden, das
den Wilden dazu treibt, zu diesem Zwecke sich Haare vom Haupte eines
Europäers zu verschaffen, hat wissenschaftliche Untersuchungen über
Wasser- und Luftströmungen, Geschoßbahnen, die Wirkung von Arznei¬
mitteln und unzähligen andern Dingen veranlaßt. Und wie der Peruaner
im Drange, die Treue seiner Frau festzustellen, auch ein Mittel dafür
findet, so hat z. B. das Bedürfnis nach Anzeichen, ob eine geistige Störung
heilen werde, zur Aufstellung der Dem. praecox und des manisch-depres¬
siven Irreseins geführt. Der Unterschied liegt eben darin, daß dort jede
nur einigermaßen passende Vorstellung Leben gewinnen kann, während
hier nur die tauglichste Vorstellung im harten kritischen Kampfe ums
Dasein zur Reife kommt, nicht aber darin, daß hier das Ergebnis von
subjektiven Elementen unabhängig sei: ein subjektives Element, die Stärke
des Bedürfnisses, ist hierfür sogar von oft ausschlaggebender Bedeutung.
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Das erhellt schon daraus, daß, je stärker der Widerstand des kritischen
Denkens, um so kräftiger das subjektive Bedürfnis sein muß, um zum
Durchhalten und zur Bewältigung der Arbeit auszureichen.
Das Bedürfnis treibt aber nicht nur zum Auftauchen und zur Prüfung
von Vorstellungen, die geeignet scheinen, die Unlust des Zweifels zu beseiti¬
gen und eine Sicherheit, sei es vorzugweise des Denkens oder des Han¬
delns, zu gewähren, sondern es bestimmt auch den Abschluß der Prüfung,
sei es, daß es befriedigt wird, oder daß es vor der Befriedigung erlahmt,
oder daß es keinen längeren Aufschub duldet und zugunsten einer nur
scheinbaren oder unvollkommenen Lösung auf weitere Prüfung vorläufig
oder ganz verzichtet. Letzteres kann auch im Lichte strenger Wissen¬
schaftlichkeit berechtigt sein, wenn das Bedürfnis nämlich nicht etwa ein
äußeres, z. B. das nach einer raschen Veröffentlichung des Untersuchungs¬
ergebnisses ist, wenn vielmehr das Wissen zu einer Lösung des Zweifels
nicht ausreicht, sondern nur bis zu einer nicht voll befriedigenden, mehr
oder weniger begründeten Annahme führt. Mag solche Annahme auch
manchmal nach E. du Bois-Reymonds Worten einer Planke gleichen, die
durch den Ozean tragen soll, und das hemmende, kritische Denken mit
gutem Rechte sich dem Bedürfnis entgegenstemmen und ihre Ablehnung
fordern: sobald das Bedürfnis stark genug ist, wird man nicht auf eine
vielleicht ferne Zukunft warten, die die Mittel zum Bau eines sicheren
Fahrzeugs möglicherweise gewähren wird, sondern man wird sich auch
der Planke anvertrauen, die wenigstens den Stillstand überwindet und
weiter zu tragen vermag. So kann selbst eine nur unter dem Drucke eines
starken Bedürfnisses emporgetriebene Annahme viel fruchtbarer sein als
ein verständiger Verzicht auf sie, indem sie neue Bedürfnisse weckt und
damit weitere Untersuchungen veranlaßt, die, mögen sie jene Annahme
stützen oder zu ihrer Abänderung zwingen, ja, mögen sie ihre Unrichtigkeit
erweisen, doch häufig dem wissenschaftlichen Denken einen frischen
Anstoß und eine neue Richtung geben.
Im Bedürfnis liegt also die Quelle sowohl des suggestiven wie des wissen -
schaftlichen Denkens. Wie steht es nun mit den Unterschieden zwischen
beiden, vor allem mit Friedmanns „Postulat, daß jede subjektive Überzeugung
beim Forschen aufgehoben sein soll, und daß nur der logische oder objektive
Wert der Argumente und Tatsachen entscheiden soll“(S. 219)? Gewiß, „zum
Urteil beim forschenden Denken gehört stets das Bewußtsein der Gründe,
sowohl derer, die für, als derjenigen, die gegen das Urteil sprechen können“,
oder sollte es doch gehören, aber nicht nur bewußt müssen diese Gründe sein,
sie“ müssen auch gegeneinander abgewogen werden, und ihr Gewicht, ihre
Bewertung hängt meist von subjektiver Überzeugung ab und muß sogar
in vielen Fällen davon abhängen, weil eine rein logische, rein objektive
Feststellung nicht auf allen Gebieten möglich ist. Und der Wert der Tat¬
sachen? „Real sind doch hier (d. h. beim wissenschaftlichen Forschen)
nur die sinnlichen Tatsachen selbst.“ Aber die sinnlichen Tatsachen geben
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nur den rohen Stoff zum Denken ab, jede Formgebung, jede ursächliche
Verknüpfung, jede Folgerung ist schon subjektive Zutat und wird von der
Überzeugung des Einzelnen beeinflußt, „entscheidend“ sind also nicht die
bloßen sinnlichen Tatsachen selbst, sondern sie erhalten ihren Wert erst
durch den Zusammenhang, in dem sie gedacht werden. Und kann denn
ein Forscher für gewöhnlich allein auf eigenen Wahrnehmungen fußen?
Muß er nicht auch die Beobachtungen Anderer heranziehen ? Wer bürgt
ihm aber, daß diese richtig in seinem Sinne sind ? Ich will damit gar nicht
sagen, daß der andere Beobachter leichtfertig vorgegangen sein oder gar
bewußt Falsches in seine Darstellung eingemischt haben könnte, wohl aber,
daß er anderes beachtet und eine andere Auswahl nicht nur seiner Beob¬
achtungen, sondern auch der in einer Beobachtung zusammengefaßten
sinnlichen Tatsachen getroffen, manches, was jenem wichtig scheint, aus¬
gelassen, manches, was zufällig miteinander vereint war, in ursächlichen
Zusammenhang gebracht hat, kurz, daß seine Auffassung eine andere
gewesen ist. Ein Zusammenhang kann jemandem, der die Tatsachen nur
aus der Beschreibung kennt, sehr deutlich und beweisend scheinen, auch
wenn dieser Schein nur der Zusammenstellung der Tatsachen entspringt.
Und ebenso kann in einer Beschreibung ein Zusammenhang ausgeschlossen
scheinen, den ein anderer Beobachter, von andern Voraussetzungen aus¬
gehend, vielleicht herausgefunden hätte. Ob und mit welcher Beweiskraft
jemand also Beobachtungen und Feststellungen eines Andern als Unter¬
lage seines Denkens heranzieht, wird sich nicht nur nach deren Inhalt,
sondern auch nach seiner Ansicht von der Begabung und der Sorgfalt
des Andern richten; eine rein objektive Bewertung der Zuverlässigkeit eines
Andern ist eben nicht möglich. Diese Schwierigkeiten werden sich auf
einem neuen Forschungsgebiete und bei der Aufstellung und Prüfung neuer
Gesichtspunkte viel mehr geltend machen und die subjektive Überzeugung
deshalb hier eine viel größere, aber notwendige Rolle spielen als da, wo die
Grundlagen allgemein anerkannt werden und die Beobachtungen daher
von gemeinsamen Voraussetzungen ausgehen. Aber auch hier läßt sich
die Überzeugung nicht ganz ausschalten und erweist sich sogar unter Um¬
ständen als sehr förderlich.
Als die Beobachtungen über die Uranusbahn unzweifelhafte Ab¬
weichungen von derjenigen Bahn ergaben, die der Uranus nach allen auf
Grund der Gravitationstheorie angestellten Berechnungen hätte nehmen
müssen, da dachte kein Astronom daran, daß die Gravitationstheorie falsch
sein könne, sondern man schwankte nur zwischen der Möglichkeit, daß
ein noch unbekannter Himmelskörper die Abweichungen bewirke, und der,
daß außer der Gravitation noch eine andere unbekannte Ursache den Lauf
des Uranus bestimme. Heißt das nicht: man war von der Geltung des
Gravitationsgesetzes überzeugt? Diese Überzeugung bestimmte dann den
weiteren Gang der Untersuchungen. Le Verrier fand, daß ein noch unbe¬
kannter Planet die Ursache der Uranusabweichungen sein müsse, und be-
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rechnete dessen Stellung und Bahn, seine Masse und sogar seine Helligkeit
so genau, daß Galle hiernach den damals noch unbekannten Planeten
Neptun entdecken konnte. So ward die Überzeugung der Astronomen
von der Gültigkeit des Gravitationsgesetzes glänzend gerechtfertigt. Was
lehrt uns aber diese Geschichte? Hätten Le Verriers Rechnungen ergeben,
daß ein anderer Himmelskörper die Störungen der Uranusbahn nicht
hervorrufen könne, oder wäre der Neptun nicht gefunden worden, so
würde man deshalb die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes nicht bezweifelt
haben; man würde vielleicht zunächst versucht haben, durch Abänderung
des Gravitationsgesetzes jener widersprechenden Tatsache Rechnung zu
tragen, wie denn schon Le Verrier selbst die Möglichkeit erwogen hatte,
daß die Wirkung der Schwerkraft in großer Sonnenferne eine Abänderung
erleide, ohne aber die Erscheinungen mit dieser Annahme genügend er¬
klären zu können. Schließlich aber hätte man sich mit der Vorstellung
einer noch unbekannten Ursache geholfen, die in diesem Falle eine schein¬
bare Abweichung vom Gravitationsgesetz bewirke. Weshalb hätte nun
hier die anerkannte Tatsache, daß die Uranusbahn nach dem damaligen
Umfang des Wissens dem Gravitationsgesetze widersprach, nicht als ent¬
scheidend gegolten, obwohl eine andere Ursache, die diesen Widerspruch
aufgelöst hätte, sich nicht finden ließ? Die Antwort ist klar: das Gravita¬
tionsgesetz hatte sich in unzähligen Fällen bewährt, die Überzeugung,
daß es richtig sei, konnte durch einen Fall, der es nicht bewährte, nicht
umgestoßen werden; mit andern Worten: das Gewicht der Gründe, die
dafür sprachen, überwog bei weitem; die eine Tatsache, die dagegen sprach,
konnte nicht entscheiden, der Widerspruch mußte ein scheinbarer sein und
seine Beseitigung von der Zukunft erwartet werden.
Was unterscheidet nun diese Überzeugung, daß die Gravitations¬
lehre richtig sei, von der im Mittelalter ebenso allgemeinen Überzeugung
von der Richtigkeit des Wunderglaubens? Friedmann sagt: „Wenn ein
Naturforscher überzeugt ist, daß noch nie ein Wunder vorgekommen sei,
so bedeutet das nur: nach aller seitherigen Erfahrung läßt das Naturgesetz,
so wie wir es kennen, keine Ausnahme zu, wohl aber hat der Glaube und
die Tradition der Menschen unzählige Male irrtümlich solche Abweichungen
postuliert.“ Diese Berufung auf die Erfahrung ist aber doch nicht stich¬
haltig. Die Erfahrung führt in solchen Fällen oft zu ganz verschiedenen
Ei*gebnissen, je nachdem man von vornherein von der lückenlosen Geltung
des Naturgesetzes ausgeht oder ein Wunder da annimmt, wo ein natür¬
licher Zusammenhang der Vorgänge nicht nachgewiesen werden kann.
Auch der Wunderglaube konnte und kann sich auf unzählige Erfahrungen
berufen, und hätte die Wissenschaft ihn beibehalten, bis seine Widerlegung
oder vielmehr, da diese im strengen Sinne nicht möglich ist, eine wenigstens
annähernde naturwissenschaftliche Erklärung etwa der Wunderheilungen
festere Unterlagen fand, so wäre sie bis zur genaueren Erforschung der
hysterischen und hypnotischen Erscheinungen, also bis zum vorigen Jahr-
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Kleinere Mitteilungen.
hundert, vom Wunderglauben nicht losgekommen. Daß das Naturgesetz
keine Ausnahme zuläßt, ist eine Voraussetzung, die die Forschung machte,
lange bevor eine auch nur einigermaßen ausgedehnte Erfahrung ihr ein
Recht dazu gab. Nicht die Erfahrung, die erst langsam gesammelt werden
konnte, sondern die Anwendung der Mathematik, die keine Ausnahme
kennt, auf die Erfahrung und damit deren Unterstellung unter allgemein*
gültige, jede Möglichkeit des Zufalls ausschließende Denknotwendigkeiten,
so geringen Raum sie auch namentlich anfangs im ungeheuren Gebiet
des Naturgeschehens sich unterwerfen konnte, so verhältnismäßig gering
auch heutzutage noch ihr Geltungsbereich ist, hat doch wie mit einem Schlage
den Glauben an Wunder und Zufall aus der Wissenschaft entfernt. Schon
der fromme Kepler sprach es aus, daß Gott an die Gesetze der Geometrie
gebunden sei. Und die Idee der Allmacht Gottes brauchte dieser Auf¬
fassung nicht mehr hemmend in den Weg zu treten, sondern konnte ihr
sogar als Stütze dienen, seit die Philosophie, zunächst gleichfalls von der
Mathematik ausgehend, Gottes Wesen als Notwendigkeit, Widerspruch-
losigkeit begreifen lehrte, am umfassendsten und folgerichtigsten zunächst
bei Spinoza, der nicht nur der außermenschlichen Natur, sondern auch
der Natur im Menschen Notwendigkeit zuschrieb und deshalb den freien
Willen leugnete.
Ergibt aber die Berufung auf die Erfahrung keinen Unterschied
zwischen Wunderglauben und der Überzeugung von der ausnahmlosen
Geltung des Naturgesetzes, so mag uns in dieser Frage gerade der eben
erwähnte Spinoza als Wegführer dienen. Nach ihm ist alles richtige
Wissen positiv und schließt höchste Gewißheit in sich, wie die Mathematik
zeigt. Denn richtiges Wissen ist Vernunfterkenntnis, und diese bleibt
nicht am Einzelnen und Vergänglichen haften, sondern sucht das Gemein¬
same und Bleibende, betrachtet die Dinge als notwendig, erfaßt sie dem¬
nach unter der Form der Ewigkeit. Gegenstand dieser Vernunfterkenntnis
ist die Natur. — Hiermit ist die Form des Naturgesetzes umschrieben, die
aus der Vernunft stammt, während den Inhalt des einzelnen Naturgesetzes
nur die Erfahrung geben kann. Dem Naturgesetz gegenüber steht das
Wunder oder der Zufall. Auch das Wunder führt die Tatsachen auf eine
Ursache zurück, seine Annahme befriedigt somit mehr als die des Zufalls,
aber die Erklärung durch ein Wunder setzt neben die natürlichen Ur¬
sachen eine außernatürliche Ursache, die im Zusammenhang des Natur¬
geschehens dem Zufall gleichkommt, beschränkt daher zwar nicht die
Grenzen der Naturerkenntnis nach außen, aber schafft Lücken ihres inneren
Zusammenhangs und ist somit für die Naturwissenschaft negativ; sie hat
ferner zur Voraussetzung, daß der Vorfall, der mit einer außernatürlichen
Ursache ausgestattet wird, auf natürliche Weise nicht erklärt werden kann,
bringt also nicht im einzelnen Falle, sondern seinem Wesen nach Ungewi߬
heit jn die Naturerkenntnis und haftet — im Rahmen der Naturerkennt¬
nis — am Einzelnen und Vergänglichen, das nicht als notwendig, sondern —
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im Rahmen der Naturerkenntnis — als zufällig aufgefaßt wird. Also der
Wunderglaube und die Überzeugung von der ausnahmlosen Gültigkeit
der Naturgesetze sind beide nicht der Erfahrung entnommen, sondern be¬
stimmen die Erfahrung und können sich dann freilich auch auf die von
ihnen beeinflußte Erfahrung stützen; die Verschiedenheit ihres Inhalts
läßt jedoch auf eine Verschiedenheit der Bedürfnisse schließen, die zu ihrer
Aufstellung und Annahme führten: hier ein starkes Bedürfnis nach Natur¬
beherrschung sei es im Handeln oder Erkennen, wie es in der Renaissance¬
zeit die fortschreitenden praktischen Ziele der bürgerlichen Gesellschaft
schufen, die in der städtischen Industriearbeit, im Handel, in der Medizin
überall neue Aufgaben enthielten 1 ), dort das Bedürfnis nach einem mög¬
lichst persönlichen Verhältnis zu Gott und nach einer anschaulichen
Vorstellung von Gott und seinem Wirken. Und wie der Ursprung, so sind
auch die Wirkungen beider Überzeugungen verschieden. Während die
Annahme des Wunders das besondere Bedürfnis, in dem sie wurzelt, und
zugleich das allgemeine Bedürfnis nach ursächlicher Erklärung rasch be¬
friedigt, stellt die Annahme durchgehender Naturgesetzlichkeit vor immer
neue Aufgaben und zwingt zu unablässiger Arbeit, um dem Bedürfnis zu
genügen. Diese Arbeit hat nun zu immer neuen Erfahrungen und zur Auf¬
stellung und immer genaueren Anpassung der Naturgesetze an die Er¬
fahrung geführt. Die Überzeugung von der Richtigkeit des einzelnen
Naturgesetzes, etwa des Gravitationsgesetzes, ist daher anders begründet
als die Überzeugung, daß im Zusammenhang des Naturgeschehens eine
Gesetzlichkeit erscheine, die keine Ausnahme zulasse, oder als ihr Wider¬
spiel, der Wunderglaube. Dort, bei der Überzeugung von der Gültigkeit
des einzelnen Naturgesetzes, spricht die Erfahrung das entscheidende Wort,
aber nicht hier, bei der grundsätzlichen Entscheidung zwischen Wunder¬
glauben und durchgängiger Naturgesetzlichkeit. Was folgt hieraus ? Das
Naturgesetz, nicht „wie wir es kennen“, sondern wie wir es grundsätzlich
auffassen, läßt keine Ausnahme zu. Zeigt sich solche bei einem einzelnen
Naturgesetz, so ist sie scheinbar, oder das Naturgesetz ist falsch aufgestellt.
Friedmann hat recht: „Alle sogenannten Naturgesetze und Naturkräfte
gelten nur als Regeln und Hypothesen, um die Tatsachen unter einen ver¬
ständlichen Gesichtspunkt zu bringen, besten Falles als eine Näherung
an den wirklichen Zusammenhang der Dinge.“ Aber daß ein solcher
wirklicher Zusammenhang, und zwar lückenlos, existiert, daß in den einzel¬
nen vergänglichen Erscheinungen etwas Gemeinsames und Bleibendes,
nämlich das — nicht dieses oder jenes — Gesetz enthalten ist, ist nicht
Folge, sondern Voraussetzung der wissenschaftlichen Erfahrung, ist Sache
nicht der Erfahrung, sondern der Überzeugung oder, wenn es als Vernunft¬
erkenntnis in Spinozas Sinne begriffen wird, Gewißheit.
*) Vgl. W. Dillhey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit
Renaissance und Reformation. Teubner, 4914, S. 257.
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Kleinere Mitteilangen.
Wir haben die Überzeugung nicht nur als grundsätzliche Voraus¬
setzung aller Wissenschaft, sondern auch beim wissenschaftlichen Denken
selbst als wirksam befunden, Friedmann will sie beim wissenschaftlichen
Forschen überhaupt ausgeschlossen haben und vertritt hiermit eine weit
verbreitete Ansicht. Woher diese Verschiedenheit?
Fragen wir zunächst: Was ist unter dem logischen oder objektiven
Wert der Argumente und Tatsachen zu verstehen, der nach Friedmann
beim Forschen allein entscheiden soll? Ich führte schon aus, daß man
vom objektiven Wert eines Grundes oder einer Tatsache offenbar nur
dann sprechen kann, wenn die Vorstellung des Grundes oder der Tatsache
bereits einen Zusammenhang von Vorstellungen oder — eigenen oder
fremden — Wahrnehmungen enthält. Ihr objektiver Wert läge dann
in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit, und das Werturteil stellte fest,
ob jener Zusammenhang — ganz oder z. B., wenn er in Zahlen ausge¬
drückt ist, mehr oder weniger annähernd — der Wirklichkeit entspricht.
So einfach liegt jedoch die Sache nicht. Denn den wirklichen Zu¬
sammenhang kennen wir nicht und können also an ihm den Wert der
Vorstellung, die wir an seine Stelle setzen, nicht messen. Je mehr eine
Vorstellung aber in ähnlichen Tatsachen einen bestimmten Zusammenhang
aufweist und je mehr die Abweichungen, die ihm zunächst widersprechen,
dadurch als Ausnahme begründet werden, daß in ihnen zugleich ein anderer
bestimmter Zusammenhang zum Ausdruck kommt, der ihre Abweichung
erklärt und damit den Widerspruch aufhebt, je mehr also die Vorstellung
„die Tatsachen unter einen verständlichen Gesichtspunkt bringt“, um so
mehr objektiven Wert, d. h. also um so mehr Wahrscheinlichkeit, daß sie
den wirklichen Zusammenhang ausdrückt, werden wir ihr zubilligen.
Je weniger widersprechende Tatsachen schließlich übrigbleiben, deren
Abweichung sich nicht einem andern bestimmten Zusammenhang gleicher
oder ähnlicher Art einordnen und dadurch erklären läßt, um so wahr¬
scheinlicher wird es, daß wir es bei ihnen überhaupt nicht mit gleichartigen
Tatsachen zu tun haben, sondern z. B. bei astronomischen Fragen mit
Beobachtungsfehlern, die ihrer Art nach in den Bereich der Physiologie,
der Optik, der Instrumentenkunde und dergleichen gehören. Der objektive
Wert eines Vorstellungszusammenhangs richtet sich also nach der Wahr¬
scheinlichkeit, mit der dieser Zusammenhang die Wirklichkeit darstellt.
Wir können ihn auch als Wirklichkeitswert der Vorstellung bezeichnen.
Dagegen liegt der logische Wert einer Vorstellung, die in diesem Falle
einen Begriff oder einen Zusammenhang von Begriffen darstellt, darin,
daß der Begriff oder das Begriffsverhältnis richtig gebildet ist. Mit andern
Worten, die Wahrscheinlichkeit, daß die in einem Vorstellungszusammen-
hange vorkommenden Begriffe richtig gebildet und angewendet sind,
macht den logischen, die Wahrscheinlichkeit, daß der Vorstellungszusam-
menhang den wirklichen Zusammenhang wiedergibt, den Wirklichkeitswert
des Vorstellungszusammenhanges aus; der logische Wert einer Vorstellung
ist also in ihrem Wirklichkeitswert schon enthalten. Welchen Grad der
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Kleinere Mitteilungen.
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Wahrscheinlichkeit wir aber annehmen, ist nie völlig frei von subjektiver
Beimischung, so daß auch am wissenschaftlichen Forschen, wenn auch in
sehr verschiedenem Maße und in seltenen Fällen kaum merkbar, die Über¬
zeugung beteiligt ist. Der logische Wert beruht auf der Gewißheit, daß
das eigene Denken und das Denken Anderer, die sich mit dem gleichen
Gegenstände beschäftigt haben, bisher keinen logischen Fehler bemerkt
hat, und der hieraus geschöpften Überzeugung, daß auch künftige Über¬
legung das gleiche Ergebnis haben wird; die Wahrscheinlichkeit richtet
sich also hier nach dem Vertrauen, das dem Denken der Beteiligten gezollt
wird. Und nicht besser steht es mit der Wahrscheinlichkeit, daß der ge¬
fundene Vorstellungszusammenhang der Wirklichkeit entspricht. Soweit
Zahlen in ihm eine Rolle spielen, können diese durch Wahrscheinlichkeits¬
rechnung bewertet werden. Aber schon in der Astronomie, also einer
Wissenschaft, die vor andern auf Mathematik aufgebaut ist, machen die
Zahlen nicht alles aus, und wenn sie auch einen objektiven Maßstab ab¬
geben, an dem der Zusammenhang der gefundenen Tatsachen geprüft
werden kann, so stimmen doch schon die gefundenen, der Berechnung zu¬
grunde gelegten Zahlen nie vollkommen überein, und ihre Bewertung ist
insofern subjektiv, als der Einlluß der Bedingungen, die einen Fehler hervor¬
gebracht haben können, verschiedener Abschätzung unterliegt, von dieser
Abschätzung aber das gegenseitige Wertverhältnis der Zahlen abhängt.
Freilich verschwindet die Bedeutung der einzelnen Zahl und ihres Wertes
immer mehr, eine je größere Zahl von Beobachtungen zu Gebote steht,
und so kommt schließlich die subjektive Überzeugung praktisch kaum noch
in Betracht. Daß aber in andern Wissensgebieten die Wahrscheinlich¬
keitsrechnung oft nur auf stark subjektiver Grundlage anwendbar ist,
brauche ich vor Psychiatern nicht erst näher auszuführen. Und wenn es
andrerseits heißt: „EinResultat muß sofort aufgegeben werden, sowie eine
entscheidende Tatsache dagegen bekannt wird“, so erhebt sich gleich die
Frage: Welche widersprechende Tatsache ist entscheidend, und welche
widerspricht nur scheinbar? Und die weitere: Was ist als — gleichartige —
Tatsache und was als irrtümliche oder ungenügende Beobachtung zu
werten? Je mehr eine Wissenschaft im Wachstum und eine Frage im
Fluß ist, um so weniger pflegt es möglich zu sein, den Wert der Argumente
und Tatsachen völlig objektiv zu bemessen und somit die subjektive
Überzeugung auszuschalten.
Ich möchte es demnach nicht als „Postulat“, sondern als Ideal auf¬
stellen, „daß jede subjektive Überzeugung beim Forschen aufgehoben sein
soll, und daß nur der“ auf rein objektiver Grundlage gefundene „logische
und objektive Wert der Argumente und Tatsachen entscheiden soll“.
Der Forscher wird sich bemühen, diesem Ideal so nahe als möglich zu kom¬
men ; dagegen würde, als unbedingte und bindende Forderungaufgefaßt, jener
Satz weite Wissensgebiete zur Unfruchtbarkeit verdammen. Und ebenso¬
wenig kann ich der vorhergehenden Fried/nannschen Behauptung in ihrem
.zweiten Teile beistimmen, daß „die Wissenschaft über eine große Zahl von
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Kleinere Mitteilungen.
Lehrsätzen verfügt, die beim heutigen Stande der Erkenntnis für jeder¬
mann feststehen, der wissenschaftlich denkt, die aber dennoch keiner für
Wahrheit oder für einen Gegenstand seiner Überzeugung erklärt“. Wenn
ich mit Friedmann als Merkmal der Überzeugung ansehe, „daß die Idee,
d. h. die gebildete Assoziation, in Zukunft festgehalten wird, daß sie bei
verwandten neuen Vorkommnissen sich als wirksame Analogie für das
Subjekt bewährt, und daß nicht notwendig dabei kontrastierende Vor¬
stellungen auftauchen“, so bin ich von der Geltung des Gravitationsgesetzes
überzeugt, d. h. ich bin davon überzeugt, daß dies Gesetz oder meinet¬
wegen diese Regel oder Hypothese den wirklichen Zusammenhang der
Dinge ausdrückt, wie der Reliquiengläubige davon überzeugt ist, daß der
Reliquienglaube den wirklichen Zusammenhang zwischen Reliquie und
Krankenheilung ausdrückt. Gewiß bin ich bereit, die Geltung des Ge¬
setzes einzuschränken, falls Tatsachen ermittelt werden, die diese Ein¬
schränkung erfordern, aber das bezeichnet keinen grundsätzlichen Unter¬
schied, denn auch der Reliquiengläubige ist im allgemeinen bereit, auf
neue, von ihm anerkannte Tatsachen hin die Geltung des Reliquien¬
glaubens einzuschränken, und wird nur darauf bestehen, daß derselbe für
viele Fälle zutriflt und somit einen Wahrheitskern enthält. Wenn wir
sagen, daß die wissenschaftliche Überzeugung viel sorgfältiger und genauer
begründet ist, jederzeit nach Bedarf auf ihre Grundlagen untersucht werden
kann, und daß sie ihre Stärke, soweit allgemein angenommene Lehren in
Betracht kommen, namentlich auch daraus schöpft, daß etwaige Beob-
achtungs- oder Denkfehler, die auch dem angestrengten Bemühen des
Einzelnen entgehen könnten, von Andern schon gefunden und aufgezeigt
wären, so macht dies alles keinen grundsätzlichen Unterschied aus, denn
das Streben nach Gründlichkeit und die Zuversicht, daß alles geschieht,
um die Wahrheit zu ermitteln, dürfen wir auch denen, die heutzutage eine
Wunderheilung von Amts wegen feststellen oder an eine kirchlich aner¬
kannte Wunderheilung glauben, nicht absprechen. Auch die katholische
Kirche hat von der Wissenschaft gelernt und umgibt die Anerkennung
eines Wunders mit weitgehenden Vorsichtsmaßregeln, um Betrug und
gutgläubigen Irrtum auszuschließen 1 ). Wissenschaftliche Arbeit ist in
den Dienst religiösen Denkens getreten. Ich komme somit zum Schluß:
Nicht die Form und Stärke, sondern der Inhalt der Überzeugung ist hier
das Unterscheidende, dieser aber rührt von der Verschiedenheit des das
Denken bestimmenden Bedürfnisses her.
Der Grund, weshalb Friedmann die Überzeugung beim wissen¬
schaftlichen Denken ausgeschlossen haben will, liegt also darin, daß er
nicht den tatsächlichen Hergang, sondern ein Ideal im Auge hat, aber ein
Ideal, das streng genommen nur für die Überlieferung und die Anwendung
feststehender Lehren paßt und hier zu einem sicheren und rein sachlichen
‘) S. FamiUer, Das Heiligenleben in der modernen Psychopatho
graphie. Regensburg, 1915.
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Kleinere Mitteilungen.
263
Vorgehen verhilft, aber ein Fortschreiten auf neuen Bahnen verhindert,
wenn es als Postulat, als Forderung aufgestellt wird. Daß Friedmann
diese Forderung erhebt, zeigt, daß er das Verhältnis verkennt, das zwischen
Überzeugung und Wirklichkeitswert besteht: ich bin von der Wahrheit
einer Vorstellung überzeugt, wenn ich ihr einen so hohen Wirklichkeits¬
wert beimesse, daß ich geneigt bin, einen abweichenden Befund als nur
scheinbar widersprechend aufzufassen. Was Friedmann mit seiner Forde¬
rung meint, ist offenbar: nur auf sorgfältiger Abwägung der Gründe, die
dafür und dagegen sprechen, soll ich den Wirklichkeitswert einer Vor¬
stellung aufbauen; ich soll nicht Wünsche und Befürchtungen, auch nicht
den Wunsch nach raschem oder glattem Abschluß der Untersuchung mit¬
sprechen lassen, keine Mühe scheuen und nur nach möglichst vollständigem
Beobachten und reiflichem Durchdenken einen Abschluß herbeiführen,
der nicht mehr aussagt, als ich nach ehrlicher, gewissenhafter Prüfung der
Sachlage verantworten kann.
Hiermit ist der Gegensatz, den Friedmann zwischen suggestivem und
forschendem Denken aufstellt, beibehalten, aber auf andere Grundlage
gestellt: der Vorgang ist in beiden Fällen gleichartig, indem eine von
Andern übernommene oder als eigener Einfall auftauchende Vorstellung
das Denken oder Handeln bestimmt, falls nicht hemmende Vorstellungen
dazwischen treten, der Gegensatz aber liegt darin, daß dort kein Bedürfnis
nach sorgfältiger Begründung besteht und deshalb die Arbeit, die diese
kostet, nicht in Frage kommt, während hier aus dem Bedürfnis nach ge¬
nauer Erfassung der Wirklichkeit heraus immer neue und nie abschließende
Arbeit geleistet wird. Dem suggestiven wie dem wissenschaftlichen Denken
liegt also das Bedürfnis zugrunde; zunächst dem suggestiven Denken das
Bedürfnis, dem Handeln die Richtung zu weisen, weiterhin als Beginn des
wissenschaftlichen Denkens das Bedürfnis, diese Richtung dem Zwecke
entsprechender zu gestalten und hierzu die Voraussetzungen des Handelns
genauer zu erforschen, dem ausgebildeten wissenschaftlichen Denken
endlich das hieraus abgeleitete Bedürfnis, den wirklichen Zusammenhang,
dessen Kenntnis allein den Erfolg des Handelns gewährleistet, in allen
seinen Teilen und mit allen Mitteln zu ergründen, die die Überlegung an
die Hand gibt. So wird also Bedürfnis und Arbeit immer umfangreicher,
und deshalb ist die Überzeugung, die die Forschung über einen Gegenstand
abschließt, um so schwerer zu erlangen, je wissenschaftlicher das Denken
wird, während das Suggestivdenken sie vergleichweise mühelos hervor¬
bringt. Schließlich führt das Forschen, wenn es nicht zu einem voll be¬
friedigenden Abschluß gelangt, statt zur Überzeugung nur zur Annahme
oder vorläufigen Annahme. Je mehr der Forscher aber diese durch den
Erfolg bestätigt findet, um so überzeugter wird er von ihrer Richtigkeit.
Und je mehr solche Annahme sich auch Andern und auf andern Gebieten
bewährt, um so mehr wird sie Gegenstand allgemeiner Überzeugung, so
daß Tatsachen, die ihr widersprechen, zunächst als scheinbar wider-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 18
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Kleinere Mitteilungen.
sprechend aufgefaßt werden. Mag man sie auch dann noch als Annahme
bezeichnen, um damit die Bereitwilligkeit auszudrücken, sie jederzeit ab¬
zuändern, wenn die Gegengründe überwiegen sollten, oder wenn auch nur
eine Tatsache bekannt wird, die entscheidend, nicht scheinbar dagegen
spricht, sie hat trotzdem die Eigenart der Überzeugung angenommen.
Solche — zum Unterschied vom Suggestivdenken: begründete oder doch,
da wir dem Suggestivdenken nicht jede Begründung absprechen dürfen,
viel fester begründete — Überzeugungen geben, gleichviel ob sie von Andern
auf Treu und Glauben übernommen werden oder zugleich auf eigener
Prüfung beruhen, die Möglichkeit, an etwas Festes anzuknüpfen, und
bilden so gleichsam das Knochengerüst der Forschung, das dieser ein Fort¬
schreiten gestattet, wobei es sich wohl ereignen kann, daß gerade bei diesem
Fortschreiten sich ein Mangel der Unterlage herausstellt und zu ihrer
Abänderung zwingt. Zu fordern ist also nicht, daß der Forscher frei ist
von wissenschaftlichen Überzeugungen, sondern daß er gegebenenfalls
stets bereit ist, deren Grundlage von neuem auf ihre Tragfähigkeit zu
untersuchen und eine Überzeugung aufzugeben, wenn ihre Begründung
sich hierbei mangelhafter zeigt, als er geglaubt. Diese Forderung drängt
sich erst da auf, wo das Bedürfnis besteht, den wirklichen Zusammenhang
in allen Teilen soweit als möglich zu erforschen, weil hier erst ein Teil von
allen ihn berührenden Teilen abhängig wird und deshalb das Ergebnis
einer Untersuchung alle damit zusammenhängenden Gebiete beeinflussen
kann. Diese allseitige Verknüpfung ist dem Suggestivdenken fremd und
daher die Überzeugung dort im allgemeinen fester, so daß Widersprüche
viel leichter als scheinbar aufgefaßt und damit abgetan werden, ja ur¬
sprünglich, wo nur das Bedürfnis, dem Handeln die Richtung zu weisen,
die Suggestivvorstellung hervorgetrieben hat, überhaupt nicht hervor¬
treten. Der Weg zur Überzeugung ist also beim forschenden Denken viel
länger und die Überzeugung viel leichter zu erschüttern als beim Suggestiv¬
denken, sonst aber ist der Sachverhalt derselbe. Auch beim Indianer,
der die Treue seiner Frau durch Anspeien des Kokaballens an die Felswand
prüft oder die Sonnenfinsternis auf den Zwischenflug eines Vogels zurück¬
führt, trägt zur Überzeugung von der Richtigkeit dieser Vorstellung sehr
wesentlich bei, daß sie der herrschenden Denkgewohnheit entspricht und
sich in vielen Fällen anscheinend bewährt hat. Wenn man dies außer acht
läßt, entsteht der Anschein eines so starken Gegensatzes, wie er bei Fried¬
mann sich darstellt, zumal wenn auch das Bedürfnis als gemeinsame Quelle
nicht klar hervorgehoben wird. Das Bedürfnis, neue Vorstellungen zu
bilden, wo ältere, die sich bewährt zu haben scheinen und allgemein ange¬
nommen sind, sich zu bequemem Gebrauche darbieten, entsteht bei primi¬
tiven wie bei Kulturvölkern nur in den verhältnismäßig Wenigen, die zu
selbständiger Auffassung neigen und ihr mehr als der überlieferten ver¬
trauen, und diesen wird es nur selten gelingen, einen einleuchtenderen Zu¬
sammenhang als den geltenden zu finden.
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Kleinere Mitteilungen.
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Lehrreich für die Art, wie anscheinend ganz in der Luft schwebende
Vorstellungen aus dem Bedürfnis entstehen können, ist auch Friedmanna Er¬
örterung über den Animismus. Friedmann macht darauf aufmerksam (S. 229),
daß „wir auf der primitiven Stufe des menschlichen Denkens nur zwei Gebiete
haben, die wir wenigstens theoretisch voneinander trennen können. Das eine
ist das Gebiet der praktischen und technischen Lebensfürsorge, Kleidung,
Nahrung, Schutz vor feindlichen Angriffen usw. Hier ist alles, was erlebt und
entsprechend vorgestellt wird, unmittelbar sinnlich, erfahrungmäßig ... Wir
treffen aber noch auf ein zweites mächtiges Gebiet, das, wie die Ausgrabun¬
gen aus der Urzeit mit ihren reichen Gräberbeigaben beweisen, ebenfalls
schon vom ersten Dämmern des Menschengeistes ab bestanden hat. Auch
hier macht die umgebende Welt und Natur Eindrücke auf den Menschen,
aber sie nützen ihm weder, noch schaden sie ihm direkt, er bemerkt sinnlich
gar keine Wirkung... Nichts bezeugt, daß es noch andere als natürliche,
d. h. übernatürliche Wirkungen gibt... Tritt man dieser zweiten Kategorie
von Vorstellungen näher, so bemerkt man, daß der Mensch viel mächtiger
von ihnen erregt wrird als von den ersteren, und daß er ganz ungleich
größere Opfer an wertvollem Besitz für sie hinzugeben pflegt als da, wo er
praktische Ziele im Auge hat, z. B. Erwerb eines wichtigen Gerätes, Schutz
vor Hunger usf. Nun zeigt sich weiter, daß die gebildeten Vorstellungen
tatsächlich nicht theoretischer Natur sind, sie entspringen einem instink¬
tiven assoziativen Impulse der persönlichen Eigenbeziehung, d. h. alle
eigenen Erlebnisse des primitiven Menschen, die ihn schrecken, und deren
Herkunft er nicht kennt, z. B. Krankheit oder Mißernte, werden von dem
dem Menschen nahestehenden Toten, aber auch von einem durch sein Er¬
scheinen ihn aufregenden Europäer abgeleitet. ... Aber wie das geschehen
sein 6oll, darüber hat der primitive Mensch nie auch nur sporadisch nach¬
gedacht. Die einzige Hilfsvorstellung ist die, daß er sich den Toten noch
irgendwie als Geist lebend denkt, und daß er ähnliche Geister in die Natur¬
dinge versetzt (aniraistische Vorstellung). Wie mechanisch diese Eigen¬
beziehung auf den Toten geübt wird, ersieht man auch daraus, daß man
ihn nicht für an sich mächtig erachtet, und daß man .sich daher so gut
wie nie hilfesuchend an ihn wendet. Das aber, was so auf den Menschen
wirkt, das sind immer starke, aufregende Sinneseindrücke, wie der Tod
eines nahen Verwandten, Sonnenfinsternis, Blitz und Donner.“ Dazu Ist
zweierlei zu sagen. Einmal: der primitive Mensch kennt jenen Unterschied
zwischen natürlichen und übernatürlichen Wirkungen nicht, weil er Natur¬
gesetze, die jenen Unterschied begründen, nicht kennt. Sodann die ani-
mistische Vorstellung oder vielmehr, da von dieser im eigentlichen Sinne
erst da gesprochen werden kann, wo zwischen Leib und Seele unterschieden
wird, die Übertragung des Erlebnisses der eigenen Handlung auf Ver¬
storbene und Naturdinge mußte als „einzige Hilfsvorstellung“ auftreten,
sobald überhaupt ein kausaler Zusammenhang gebildet wrurde, da nur die
Erinnerung an das eigene Wirken dem primitiven Denken den Rahmen
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darbot, in dem zunächst auffallende Ereignisse als voneinander abhängig
aufgefaßt werden konnten. Erkrankt jemand innerlich oder stirbt eines
natürlichen Todes, so wird dies auf primitiver Stufe ganz allgemein als
Angriff eines andern aufgefaßt, wie ja noch im Troerkriege Apollon mit
Bogen und Pfeil die Pest im Griechenheer hervorruft. Ein solcher Zusam¬
menhang muß aber gefunden werden, damit sich das Schutzbedürfnis be¬
tätigen kann. So muß, da Krankheit und Mißernte Erlebnisse sind, die
dem regelrechten Ablauf der Dinge fremd scheinen, ein anderes ungewöhn¬
liches Erlebnis mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden, also etwa
der kürzlich erfolgte Tod eines angesehenen Verwandten oder Häuptlings.
Die Art des Zusammenhangs kann verschieden gedacht werden, nur muß
sie eine Schutzhandlung ermöglichen, um jenes Bedürfnis zu befriedigen.
Daraus, daß der Zusammenhang und die Art desselben aus diesem Schutz¬
bedürfnis entstanden ist, erklärt sich erstens, „daß man den Toten nicht
für an und für sich mächtig erachtet, und daß man sich daher so gut wie
nie hilfesuchend an ihn wendet“, und zweitens, daß der primitive Mensch
nie auch nur sporadisch darüber nachgedacht haben soll, wie Krankheit
oder Mißernte vom Toten abzuleiten sind. Diese Ableitung fehlt nämlich
nur insofern, als der primitive Mensch sich darüber keine Ansicht bildet,
wie der Tote den Angriff machen kann. Naturgesetze sind ja nicht bekannt,
und daher ist alles möglich, gegen alles zugleich kann aber keine bestimmte
Art der Abwehr gefunden werden. Dagegen weiß auch der primitive Mensch,
daß nur der angreift, der zornig ist oder sich rächen oder etwas erzwingen
will ; es gilt also, den Toten zu besänftigen und seine Wünsche zu erfüllen.
Damit ist dem Schutzbedürfnis die allgemeine Riohtung gewiesen, die nun
weiter auf verschiedenen Wegen verfolgt werden kann. Hierüber hat nun
zweifellos der primitive Mensch sogar recht eingehend bis ins einzelne
nachgedacht und ist dementsprechend auch vor großen Opfern nicht
zurückgeschreckt. Übrigens zeigen doch manche Bestattungsgebräuche,
daß auch das Nachdenken über die Möglichkeit, den Toten an der Rück¬
kehr zu den Lebenden und damit am Angriff zu verhindern, nicht überall
gefehlt hat. Die Überlegung ist also keineswegs ausgeschaltet, nur ist sie
durch die Art der Kausalvorstellung und durch das Schutzbedürfnis in
ihrer Richtung und in ihren Grenzen bestimmt. Sie fehlt erst dann, wenn
solche Schutzhandlungen zur Gewohnheit geworden sind und demnach
die Überzeugung von der Richtigkeit der ihr zugrunde liegenden Vor¬
stellung weiterer Begründung nicht bedarf. Daß endlich der primitive
Mensch „ganz ungleich größere Opfer an wertvollem Besitz“ für Schutz¬
mittel gegen die ihm seiner Ansicht nach drohende Gefahr „hinzugeben
pflegt als z. B. für den Erwerb eines wichtigen Geräts, Schutz vor
Hunger usf.“, begründet ebensowenig einen Unterschied des suggestiven
vom wissenschaftlichen Denken, denn wichtigen Erwerb hinzugeben und
nötigenfalls auch Hunger zu leiden, um sich vor Krankheit und Tod zu
retten, gilt auch dem wissenschaftlich Denkenden nicht als unverständiges
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Kleinere Mittnhmgen-
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Opfer. Immer wieder zeigt sich: die Richtung des Denkens und Handelns
wird im allgemeinen vom Bedürfnis, im besonderen von Denkgewohn¬
heiten und Überzeugungen bestimmt, und Überzeugung entsteht, wenn
das Bedürfnis eine Vorstellung hervorgetrieben hat, die, weil sie sich be¬
währt, zum mindesten darin bewährt, daß der Druck des Bedürfnisses
aufhört, dem wirklichen Zusammenhang zu entsprechen und damit auch
ferner dem Handeln den Erfolg zu sichern scheint. Das gilt für das sug¬
gestive wie für das wissenschaftliche Denken.
Ist dies richtig, so muß auch in der besonderen Art des Bedürfnisses
der Grund liegen, weshalb die starke Vorstellung auch das letzte der von
Friedmann so nachdrücklich betonten Merkmale aufweist: ..Die suggestive
Vorstellung erregt nicht nur direkt eine subjektive Überzeugung, sondern
sie ist lebhaft sinnlicher, anschaulicher Art. sie entsteht ohne Reflexion
und ist geeignet, in Andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt
zu werden, und sie erzeugt weiter einen starken Impuls zur Aktivität“
(S. 215). Das zuletzt angeführte ist zugleich das wichtigste Merkmal, denn
auch wissenschaftliche Vorstellungen können unter Umständen wenigstens
annähernd die übrigen Kennzeichen an sich tragen, ermangeln aber gerade
dann völlig des letzten. Wenn in der Physikstunde etwa die doch sicher
recht anschauliche Atomlehre vorgetragen wird, so kann die subjektive
Überzeugung von ihrer Wahrheit auch ohne — noch dazu logische — Be¬
gründung dem Schüler eingepflanzt werden, der sie ohne Reflexion hin¬
nimmt, auch wenn er sich nicht erst besonders überlegt, daß der Lehrer
ihm keinen Unsinn vormachen dürfe und werde: aber einen starken Impuls
zurAktivität erzeugt sie gerade in diesem Falle gewiß nicht. Dagegen „beim
religiösen Denken hat diese Seite des Suggestivvorstellens den Drang und
Zwang zu einem Kultusdienst einerseits, und den starken Impuls zur Über¬
tragung auf andere, d. h. den Fanatismus, fast immer im Gefolge gehabt.
Das liegt ganz gewiß sonst nicht in dem Vorstellen an sich begründet, am
allerwenigsten in der Idee des Unendlichen (mit der man die religiöse Sug¬
gestivwirkung glaubte in Zusammenhang bringen zu können), wohl aber
in der psychologischen Wirkung nachhaltigen starken, d. h. suggestiven
Vorstellens“ (S. 215).
Aber nicht jedes religiöse Denken führt zum Kultusdienst und Fana¬
tismus;, sondern nur das, welches äußerlich Gottes Schutz und Hilfe herbei¬
führen will, nicht das, welches auf die Ergebung in den göttlichen Willen
abzielt und mit der Bitte endet: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.
Sicher ist das Bedürfnis, das Religion schuf und erhält, höchst persönlicher
Art und geht viel unmittelbarer als das wissenschaftliche Bedürfnis auf
die Grundtriebe des Menschen zurück. Glück und Unglück des Einzelnen und
der Gesamtheit vom Zufall oder von einer unerbittlichen Notwendigkeit
abhängig zu denken, ist hart und geeignet, gerade feinere Naturen mit
lähmendem Entsetzen zu erfüllen. Namentlich dann, wenn allgemeine oder
besondere Not die Aussicht in die Zukunft verdüstert, kann das Bedürfnis
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Kleinere Mitteilungen.
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unabweisbar werden, Halt und Schutz vor den drohenden Gefahren au
einer über dem Zufall oder der blinden Naturnotwendigkeit waltenden
Macht zu finden und zugleich die Entscheidung über das, was zu tun ist,
auf die Weisung dieser Macht zurückzu führen, der damit gewissermaßen die
Verpflichtung zufällt, es zum Guten ausgehen zu lassen. Durch welche
Vorstellungen dies Bedürfnis befriedigt wird, richtet sich nach Über¬
lieferung und äußeren Einflüssen, nach Denkfähigkeit und Denkgewohn¬
heit des Einzelnen. Je unmittelbarer aber die Überzeugung, die das Be¬
dürfnis stillt, die Befriedigung der Grundtriebe verspricht, um so unge¬
hemmter wirkt deren Kraft zwar nicht auf die Stärke der Überzeugung,
aber auf die Stärke des Handelns im Sinne der Überzeugung. Beides muß
auseinandergehalten werden. Die Stärke der Überzeugung kann gleichgroß
sein beim Muhammedaner und beim Anhänger Spinozas, Kants und Fech-
ners, aber der Inhalt der Überzeugung entspricht dem Bedürfnis nach
Glück dort im unmittelbaren Anschluß an die Grundtriebe des Menschen,
an Nahrungs-, Schutz-, Geschlechtstrieb, hier in weitem Abstand von ihnen;
dort wirken diese daher mit ungeschwächter Gewalt auf das Handeln ein,
dessen Richtung — aber nicht, dessen Kraft — von der Überzeugung be¬
stimmt wird, hier haben sie sich so verästelt und verfeinert, daß ihre ur¬
sprüngliche Wucht gebrochen, ihre reißende Strömung ruhig geworden ist.
Deshalb dort mehr stoßweises,- von der augenblicklichen Lage und äußeren
Einflüssen abhängiges Aufflammen wilder Begeisterung mit ungestümem,
leidenschaftlichem Tatendrang, hier mehr auf die Betrachtung beschränkte
Gefühlsbetätigung und besonnenes, einheitliches Handeln, dort eben vor¬
wiegend Trieb-, hier Willenshandlung. Wie sehr der Wunderglaube in
Verbindung mit Krankenheilung, wie sehr also auch gerade der oben er¬
wähnte Reliquienglaube einem ursprünglichen Triebe, dem Schutztriebe,
die^Richtung weist, ohne ihn durch abgeleitete Bedürfnisse und dadurch
eingeschaltete Überlegungen zu klären und umzuformen, leuchtet ohne
weiteres ein, und auf diesem Vorwalten des ursprünglichen Triebes, nicht
auf der Stärke der Überzeugung beruht auch der Unterschied in der ,.Stärke
der Vorstellung“ des Reliquiengläubigen und des wissenschaftlich Denken¬
den. Jenem ist durch seine Überzeugung der Weg zur Hilfe gewiesen,
dieser bedarf der Überlegung, um den rechten Weg zu finden. Sieht jener
mehrere Wege, die ihm im Rahmen seiner Überzeugung zum Ziele zu
führen scheinen, so bedarf er auch dann keiner Überlegung darüber, welchen
er einzuschlagen hat, denn der Priester ersetzt ihm den eigenen Entschluß:
der wissenschaftlich Denkende kann sich in solchem Falle wohl auch mit
Andern beraten, aber die Entscheidung nicht von sich abwälzen.
Auch der Fanatismus, den starke Ideen so leicht entfesseln, die ge¬
waltsame, oft blutige Propaganda, in der sich bei ihnen ein „impulsives
Reaktionsbedürfnis“ äußert, ist auf die Macht der menschlichen Urtriebe
zurückzuführen, deren Strom gerade in jenen Ideen, die eine fanatische
Propaganda begünstigen, mit ungebrochener Gewalt und ohne den schütten*
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den Damm fern abgeleiteter Bedürfnisse und hemmender Überlegungen
wahllos daherbraust. Das gilt aber nur für die fanatische, nicht für jede
Art der Verbreitung starker Vorstellungen, und Friedmann geht entschieden
zu weit, wenn er sagt: „Auch für die Propaganda kann kein logisches Motiv
geltend gemacht werden, es ist der Drang, Andern zu suggerieren, was die
Person selbst so stark erfüllt“ (S. 231). Wer überzeugt ist, daß er in seiner
Lehre die Anwartschaft auf himmlische Seligkeit besitzt, gegen die alle
irdischen Leiden nichts sind, und daß die Ausbreitung der Lehre Gottes
Wille sei, hat, wenn er seine Mitmenschen liebt und Gott gehorchen will,
logischerweise das Bedürfnis, Andere zu bekehren, und ebenso der, welcher
einen Fortschritt seines Volkes oder der Menschheit, vielleicht auch eigenen
Vorteil von der allgemeinen Herrschaft seiner Idee erwartet. Das Be¬
dürfnis zur Propaganda entspricht also nicht der Stärke, sondern dem
Inhalt der Idee, und der Wille dazu ist nicht motivlos, sondern durch
Überlegung abgeleitet. Nur die rücksichtlose, gewaltsame Art der Aus¬
breitung, die unbekümmert durch Leid und Tod der Mitmenschen leiden¬
schaftlich ihrem Ziele nachjagt, ist Folge des ungebändigten Triebes, dem
die starke Idee die Richtung gibt.
Wenn Friedmann den Begriff der starken Idee an dem von ihm ein¬
gehend geschilderten Verhalten primitiver Völker gegenüber aufregenden
Ereignissen, wie Tod eines nahen Verwandten, Sonnenfinsternis, Blitz und
Donner, entwickelt, so scheint mir gerade aus seinen Ausführungen hervor¬
zugehen, daß die von mir gegebene Begründung auf diese Verhältnisse
gleichfalls zutnflt. Ein ursprünglicher Trieb, der Schutztrieb, erzeugt das
Bedürfnis nach einem vermittelnden und die Art der Abwehr bestimmenden
Gedanken und entlädt nun seine Kraft in der Richtung dieses Gedankens.
Auch Friedmann bezeichnet die sich hier bildenden Vorstellungsverknüpfun¬
gen als „Beispiele primärer Eigenbeziehungen“ und führt die Reaktion des
primitiven Menschen „gegen jene Einwirkungen, welche die Natur und
böse Menschen ihm gegenüber üben“, zurück auf „die Absicht, das Schäd¬
liche abzuwehren, das Nützliche herbeizuführen“. Einseitig ist nur sein
Schluß: „Jeder starke Eindruck bewirkt direkt ohne Reflexion und ohne
Motiv bestimmte, für den Menschen zwingende Ideenassoziationen, beson¬
ders die der Eigenbeziehung, und er veranlaßt ebenso direkt den starken
Impuls zu einer tätigen Reaktion darauf, deren Wirkungsart ebenfalls
nicht überlegt wird“ (S. 230). Daß dies nicht immer zutrifTt, zeigte ich*
schon und leitete die Stärke der Vorstellung aus dem Bedürfnis ab. In¬
zwischen hat sich ergeben, daß im Bedürfnis der Trieb, der in ihm wirksam
ist, und der durch die vom Bedürfnis herbeigeführte Vorstellung seine
besondere Richtung erhalten hat, dieser Vorstellung die ihr eigentümliche
Stärke verleiht. Er ist „der starke Impuls zu einer tätigen Reaktion“,
der durch die „für den Menschen zwingenden Ideenassoziationen“ nur
seine Richtung erhält, und er, nicht der starke Eindruck, bewirkt jene
zwingenden Ideenassoziationen — das beweist der Indianer, der die Treue
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seiner Frau durch den an die Felswand gespienen Kokaballen prüft» oder
der Wilde, der durch die Haare des Europäers dessen Macht und Weisheit
auf sich überträgt. Nur weil Friedmann den Trieb und das Bedürfnis in
ihrer Bedeutung nicht genügend betont, kommt er zu jener irreführenden
Auffassung, daß „die Vorstellung an und für sich eine starke psychische
Kraft oder Macht ist“.
Aber auch die plastische Anschaulichkeit, die Friedmann mit Recht
als notwendige Eigenschaft seiner „starken“ Vorstellung hervorhebt, kann
jetzt dem richtigen Zusammenhänge eingefügt werden. Ich begründete
vorhin die Tatsache, daß bei Naturvölkern und nicht nur bei ihnen der
Einfall um so kräftiger wirkt, je anschaulicher er ist, damit, daß anschau¬
liches Denken ursprünglicher ist und im allgemeinen viel leichter vor sich
geht als begriffliches Denken. Das ist wohl richtig, zeigt den Sachverhalt
aber nur von einer und nicht einmal von der wichtigsten Seite. Wichtiger
ist, daß die ursprünglichen Triebe nicht mit Vorstellungen, sondern mit
gefühlsbetonten Empfindungen verwachsen sind und somit auch durch
sie am leichtesten geweckt werden, und daß die Anschaulichkeit einer Vor¬
stellung ja gerade auf ihrer unmittelbaren Entstehung aus einem erlebten
Empfindungszusammenhang beruht. Die Schilderung einer Landschaft,
eines Vorgangs wird dann anschaulich genannt, wenn der Hörer die vom
Redner ihm vermittelten Vorstellungen unwillkürlich auf selbsterlebte —
wenn auch in anderem Zusammenhang erlebte — Eindrücke zurückführt
und sie sich so in der Einbildung mühelos sinnlich gestalten kann. Sind
solche Eindrücke nun zugleich mit Trieben verknüpft gewesen, so werden
auch diese mit ihnen leicht hervorgerufen und können jetzt auf Grund
jener Schilderung von neuem wirksam werden. Je ursprünglicher aber, je
enger also mit gefühlsbetonten Empfindungen verknüpft ein Trieb ist,
um so stärker und um so allgemeiner verbreitet ist er auch, und so erklärt
es sich, daß die starke und zur Übertragung auf andere geeignete Vor¬
stellung „vor allen Dingen plastisch anschaulich und bestimmt, reich an
den Sinnen vorstellbarem Detail (Schilderung von Verelendung bei den
Sozialisten, von Hölle und Himmel, bestimmten Prophezeiungen bei reli¬
giösen Dingen usw.)“ sein muß (S. 280). Hiernach ist in der Tat „leicht
für uns verständlich“ die Bedeutung, die für die Ausbreitung von ideellen
Bewegungen „der Grad der Erregbarkeit des Vorstellens“ besitzt, „also
sowohl das Maß von plastischer Anschauungs- und Gestaltungskraft als
der Grad der Gemütsbetonung und Leidenschaftlichkeit, welcher den
Vorstellungen beiwohnt“ (S. 303—304),aber leicht verständlich nur deshalb,
weil wir zur Begründung den Trieb, und zwar den starken Trieb, heran¬
gezogen haben, ohne den die Leidenschaftlichkeit nicht zustande käme.
Es berührt nach allem, was ich bisher ausgeführt habe, zunächst eigen¬
tümlich, wie hoch gerade Friedmann, der beim Forschen jedes subjektive
Element fernhalten und den logischen oder objektiven Wert der Argu¬
mente und Tatsachen allein entscheiden lassen will, den Wert des Genies
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nicht nur für das Suggestivdenken, sondern auch für die wissenschaftliche
Forschung einschätzt. Ungern widersteht er der Verlockung, „andeuten
zu wollen, was die einzelnen genialen Männer unserer eigenen Kultur
geleistet haben, was wir wohl davon besitzen würden, wenn uns solche
ersten Größen gefehlt hätten, und wie endlich sowohl die soziale als die
wissenschaftliche Errungenschaft heute aussehen würde, wenn nicht gerade
sie, ein Moses, ein Christus und Paulus, ein Aristoteles, Galilei, Newton,
Kant, endlich ein Lavoisier, Schwann, Darwin, Virchow, Lister und Koch
und wie alle die führenden Geister heißen, gekommen wären. Kann man
wirklich glauben, daß die Art der geistigen Entwicklung der Menschheit,
ihre Ideenrichtung in erster Linie inneren psychologischen Gesetzen folgt,
und daß die Individualität der einzelnen Bahnbrecher mehr nebensächlich
dafür sei?“ (S. 237). Damit hebt Friedmann einen subjektiven Faktor
hervor, der freilich von wesentlicher Bedeutung für den Fortschritt der
Wissenschaft ist. Bedürfnis und Kritik allein würden die wissenschaftliche
Bewegung oft über einen toten Punkt nicht fortführen können. Glück
oder Genie muß ihnen zu Hilfe kommen und den fruchtbaren Einfall
liefern, der weiter trägt. Aber Friedmann hat doch vielleicht recht, diesen
subjektiven Faktor als objektiv in seine Betrachtung einzuführen, wenn
nämlich nur der Einfall als fruchtbar gilt, der der Wirklichkeit näherbringt.
Es fragt sich nur, wie das zu verstehen ist. Oft gibt der fruchtbare Einfall
keineswegs genauer als die bisherige Auffassung die Wirklichkeit wieder,
weil er neben richtigen auch falsche Bestandteile enthält, die mit jenen so
innig verquickt sind, daß beide zusammenzugehören scheinen, und erst
nach langer kritischer Arbeit die Aussonderung gelingt. Das Ergebnis ist
aber nicht vorauszusehen, und die Arbeit würde daher nicht übernommen
werden, wenn nur der logische oder objektive Wert der Argumente und
Tatsachen entschiede, der zunächst oft gegen die neue Auffassung spricht.
Oder der neue Zusammenhang wird nur ganz im allgemeinen geschaut und
entbehrt noch größtenteils des Anschlusses an die Erfahrung im einzelnen.
Dann hat die eigene oder fremde Kritik es leicht, ihn als unbegründet zu
verwerfen, und muß ihn sogar abweisen, sofern sie sich nur auf objektive
Argumente und Tatsachen stützen darf. Denn erst, wenn der Zusammen¬
hang, der den einzelnen Fall zu erklären scheint, sich auch für möglichst
viele ähnliche Fälle als geeignet erweist und diese somit unter einen Ge¬
sichtspunkt zusammenzufassen gestattet, ist hieraus zu folgern, daß nicht
die besondere Lage des ersten Falles jenen Zusammenhang nur vorge¬
täuscht hat. Aber um die Ähnlichkeit der Fälle zu erkennen, muß die Vor¬
stellung jenes Zusammenhangs dauernd festgehalten und immer wieder an
neue Beobachtungen oder Erinnerungen herangetragen werden, sie muß
gewissermaßen stets bereit liegen, um sich an neuen Tatsachen prüfen zu
lassen. Erst wenn sich immer wieder der gleiche Zusammenhang ergibt,
ist der Schluß berechtigt, daß ein wirklicher Zusammenhang darin getroffen
ist. Also im Kampf mit eigener und fremder Kritik muß der fruchtbare
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Einfall vielfach sich durchsetzen, und nur ein starkes Bedürfnis und die
subjektive Überzeugung, auf dem rechten Wege zu sein und auf Grund
jenes Einfalls das Bedürfnis befriedigen zu können, vermag die zur Arbeit
und zum Kampf erforderliche Kraft hervorzutreiben. Ähnlich hat Edinger
kürzlich aus Anlaß von Ehrlichs Tode den Schöpferischen in Gegensatz
zum Kritischen gestellt *) — das geniale Denken ist ja schöpferisch durch
fruchtbare Einfälle, und diese werden, ein hinreichend starkes Bedürfnis
vorausgesetzt, um so fruchtbarer, je härteren Widerstand ihnen nach¬
träglich das kritische Denken entgegenstellt, das nicht die ersten, sondern
die passendsten Gedanken, die das Bedürfnis hervorbringt, durchgehen
läßt und ihnen durch Reibung die rechte Form verleiht. Schon Lessing
sagt, als er vom Nutzen der Kritik spricht (Hamb. Dramat., 100.—104.
Stück): „Ich bin mißtrauischer gegen alle ersten Gedanken als de la Casa
und der alte Chandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch
schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen
noch des allegorischen, halte, so denke ich doch immer, daß die ersten Ge¬
danken nicht die besten sind, und daß das Beste auch nicht einmal in allen
Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine ersten Gedanken sind gewiß
kein Haar besser als jedermanns erste Gedanken; und mit jedermauns
ersten Gedanken bleibt man am klügsten zu Hause.“ Das ist ganz im
Sinne Friedmanns, der wohl auch den halb ironischen, halb von Herzen
kommenden Worten Lessings zustimmen würde, die kurz vorher stehen:
..Ich bin immer beschämt oder verdrießlich geworden, wenn ich zum
Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken, und
ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe
kommt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke un¬
möglich erbauen kann. — Doch freilich, wie die Krücke dem Lahmen
wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht
zum Läufer machen kann, so auch die Kritik.“ Was hier Lessing von der
Kunstkritik sagt, gilt von aller Kritik. Sie kann bewirken, daß von den
Einfällen, die als Antwort auf eine Frage auftauchen, der fruchtbarste fest-
gohalten wird,aber sie kann ihn nicht schallen; höchstens kann das Wissen,
da» in ihr flüssig gemacht wird, die günstige Konstellation ergeben, aus
der der rettende Gedanke hervorblitzt. So ermöglicht die Krücke der
Kritik die Fortbewegung, aber erst dann, wenn deren allgemeine Richtung
in» Äugt; gefaßt, wenn ein neuer Zusammenhang als möglich geschaut,
eine neue Fragestellung gefunden ist.
Auf die Neuheit des Gesichtspunktes, unter den die Tatsachen gestellt
werden, kommt es also zunächst an, dann aber muß der neue Gesichtspunkt
sich auch als fruchtbar erweisen, d. h. der Zusammenhang, den er sichtbar
macht, muß der Wirklichkeit näher führen. Zum Genie gehört also nicht
M /.. Kdinger, Der Schöpferische und der Kritische. Beri. med.
Wschr. v. LY Nov. lülö. Vgl. dazu Posner, Berl. klin. Wschr. v. 6. Dez. !9tö.
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nur ein über den Durchschnitt gesteigertes Bedürfnis nach neuen und zwar
der Wirklichkeit entsprechenden Zusammenhängen, sondern auch eine
besondere Begabung, solche zu finden, die nicht mit dem Bedürfnis ver¬
bunden zu sein braucht. Eine weit verbreitete Auffassung geht ferner dahin,
daß das geniale Denken noch viel mehr als das gewöhnliche im Unbewußten
stattzufinden pflege, und daß der geniale Einfall plötzlich wie ein Blitz
in der Nacht auftauchend das bisherige Dunkel erhelle. Diese Auffassung
ist wohl zunächst aus dem Bereich künstlerischer Anschauung und zumal
aus dem Gebiete der Dichtkunst und der Musik hergenommen, ich möchte
sie aber auch für die Wissenschaft nicht ganz zurückweisen. Wie etwa
ein lyrisches Gedicht innere und äußere Vorgänge zusammenreiht und
durch deren Zusammenhang eine Stimmung zum Ausdruck bringt, so setzt
der wissenschaftliche Einfall einen Zusammenhang von Tatsachen, und
beide Zusammenhänge sind nur dadurch wertvoll, daß sie der Wirklich¬
keit auf neue Art entsprechen, daß also jener die gleiche Stimmung beim
empfänglichen Hörer wirklich hervorbringt, dieser unter gleichen Ver¬
hältnissen immer wieder beobachtet wird. Einfälle kommen ja aber nicht
ohne Ursache, und wenn ihr Zusammenhang mit andern Vorstellungen
auch nicht bewußt wird, so ist er doch vorhanden. Jeder neu gefundene
Zusammenhang setzt also voraus, daß ein ähnlicher Zusammenhang schon
gebildet war und jetzt nur auf neue Verhältnisse übertragen wird. Dabei
können mehr oder weniger Zwischenglieder übersprungen werden. Wird
jener ähnliche Zusammenhang nicht bewußt, dann entsteht, um so stärker,
je mehr Zwischenglieder übersprungen werden, der Eindruck, daß der
Einfall unvermittelt aus dem Unbewußten emporsteigt. Wichtiger ist noch
ein Zweites. Der Wert des gefundenen Zusammenhanges steigt mit dem
Umfang seiner möglichen Anwendung auf ähnliche Verhältnisse, also da¬
durch, daß er nicht nur in gleichen, sondern auch in gleichartigen Fällen
sich bewährt und somit im einzelnen etwas Typisches aufzeigt, und erst
das dunkle Bewußtsein, daß das hier zutrifTt, und daß dem Einfall eine
weitreichende Geltung zukommt — dunkel, weil die einzelnen Anwendungs¬
möglichkeiten nicht klar bewußt sind — macht dann in Wahrheit das aus,
was man als das Hervortauchen des genialen Einfalls aus dem Unbe¬
wußten zu bezeichnen pflegt. Wie der Blitz erhellt er den ganzen Umkreis,
aber nur das Nächste ist zu erkennen, alles Fernere ist verschwommen
und undeutlich und wird mehr geahnt als wahrgenommen. Dieses Ahnen
setzt voraus, daß auf verschiedenen Gebieten Teile jenes Zusammenhangs
schon gebildet sind, daß also überall schon Verknüpfungen bestehen, die
gewissermaßen darauf warten, von dem neuen Zusammenhang ergriffen
und in ihn eingereiht zu werden. Dies aber erklärt zugleich die Leistung
aus dem Unbewußten heraus, indem jene bereits bestehenden Verknüpfun¬
gen den Untergrund bilden, aus dem der Einfall entstehen konnte. Ist
dem so, so läßt sich auch die Berechtigung der Ansicht aufzeigen, die das
geniale Denken vorzugweise im Unbewußten stattfinden läßt. Auch das
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bewußte Denken stellt, zumal wenn es sich auf einen größeren Umkreis
erstreckt und zahlreiche Zusammenhänge in sich vereinigt, nur Gipfel*
punkte dar, die bald hier, bald da aus dem Meer des Unbewußten hervor*
ragen, dieses Hervorragen bedeutet abör, daß die Aufmerksamkeit nicht
mehr völlig von den Ausgangpunkten gefesselt wird und sich einzelnen,
von diesen angeregten Nebenvorstellungen zuwendet, die dadurch stärker
betont werden und so den Gang des Denkens, falls dieser nur von den
Ausgangpunkten bestimmt werden soll, einseitig beeinflussen und leicht
aus der ursprünglichen Richtung ablenken. Infolgedessen kann die Leistung
dem Gegenstände angemessener, sachlicher ausfallen, wenn sie völlig im
Unbewußten vor sich geht, wo jene das Ergebnis verschiebende Ablenkung
fehlt. Freilich nur unter der Voraussetzung, daß die von den Ausgang¬
punkten ausgehende Wirkung allein genügt, die Gedankenfäden folgerichtig
sich bis zum Ergebnis fortspinnen zu lassen, daß sie, vor Störung bewahrt,
schließlich an gemeinsamer Stelle zusammenlaufen und mit vereinigter Kraft
die aus ihnen hervorgehende Vorstellung ins Bewußtsein heben. Ist die
Unterlage, an die die Gedankenfäden sich heften, nach Anlage und Aus¬
bildung nicht so günstig geartet, daß sie den Fäden, welche von den Aus¬
gangpunkten aus vorwärts getrieben werden, die rechte Richtung ver¬
leiht, so kommt ein besseres Ergebnis zustande, wenn bewußte Vorstellun¬
gen im Meer des Unbewußten als Inseln auftauchen, hier eine Hemmung
überwinden, dort die Richtung bestimmen und so doch einigen Fäden zu
einem gemeinsamen Ziel verhelfen. Wo aber bei guter Unterlage die
Zwischenvorstellungen im Unbewußten bleiben, wird der Weg nicht nur
rascher durchlaufen, sondern es wird sich im glücklichen Falle auch ein
das Wesentliche besser zusammenfassender Einfall ergeben.
Wenn nun aber auch das größte Genie sein Geschäft selten völlig
rein und ohne jede Verschiebung durchführen wird und daher, um sicher zu
gehen, der Kritik bedarf, so darf es sich ihr doch nicht völlig überlassen,
denn es wird ihm kaum je gelingen, die Fäden, die es unbewußt gesponnen
hat, sich so bald ins Bewußtsein zu bringen und damit den genialen Einfall
von seinem Ursprung aus zu begründen. Je weniger es das vermag, um so
leichter hat es die Kritik, seine Kreise gleich anfangs zu verwirren und die
Weiterverfolgung und bewußte Begründung des Einfalls durch Entgegen¬
halten herrschender und scheinbar widersprechender Vorstellungen zu
hemmen, um so mehr, je weniger das Genie darauf aus ist, seinen Einfall
als solchen durchzusetzen, und je mehr es ihm allein um die getreue
Wiedergabe der Wirklichkeit zu tun ist. Nur das dunkle Bewußtsein,
nicht geirrt zu haben, das als Nebenergebnis jener unbewußten Tätigkeit
emportaucht, kann ihm in solchem Falle die Kraft geben, zunächst der
eigenen Kritik zu trotzen und sich durch sie nicht vom genaueren Aus¬
spinnen und Prüfen des neuen Zusammenhangs zurückschrecken zu lassen.
Was ist dies Bewußtsein aber anderes als die Überzeugung, auf dem rechten
Wege zu sein, also auf wissenschaftlichem Gebiete die Überzeugung, daß
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die Zukunft früher oder später, durch eigene oder fremde Arbeit, die Frucht¬
barkeit des Einfalls erweisen wird? Friedmanns Merkmale der Über¬
zeugung (S. 217), „daß die Idee in Zukunft festgehalten wird, daß sie bei
verwandten neuen Vorkommnissen sich als wirksame Analogie ‘bewährt,
und daß nicht notwendig kontrastierende Vorstellungen dabei auftauchen“,
passen in allen Teilen auf das Bewußtsein, daß jener Einfall, obwohl er
jetzt dem kritischen Denken nicht standhalten kann, doch Richtiges ent¬
hält, denn er wird allen Bedenken zum Trotz festgehalten, wird bei jeder
Gelegenheit weiter sich wirksam erweisen und nicht notwendig die Vorstel¬
lung hervorrufen, daß möglicherweise die Zukunft ihm Unrecht geben wird.
Diese Überzeugung erwächst dem Genie aber oft auch dadurch,
daß die dem Genie eigentümliche Begabung für wirklichkeittreues Denken
und das Bedürfnis hierzu sich auf dem Gebiete, auf dem der fruchtbare
Einfall gelingt, schon vorher im Auffinden weniger umfassender Zusammen¬
hänge betätigt und so ein Vertrauen auf die eigene Leistung und eine Er¬
schütterung fremder Autorität hervorgerufen hat. In andern Fällen mag
das Genie früher zur aufmerksamen Betrachtung der Tatsachen gelangen,
ehe es die herrschenden wissenschaftlichen Ansichten in allen Auszweigun¬
gen in sich aufgenommen hat, so daß der Boden nur durch eigene Arbeit
vorbereitet, nicht durch überkommene Meinungen einseitig beeinflußt ist.
Man denke an Darwins genaue Naturbeobachtung auf Jagden und aus
Anlaß von Sammlungen bei Vernachlässigung wissenschaftlicher Vor¬
lesungen und eingehenden Bücherstudiums, das er erst später nachholte,
als *.r dessen bedurfte. Hier wurde der Boden fruchtbar durch eigene Be¬
obachtung und zugleich der Einfluß der Kritik hinausgeschoben und somit
abgeschwächt; in andern Fällen schuf vorherige eingehende Beschäftigung
mit andern Wissenszweigen die Möglichkeit, daß neue Früchte ungehindert
erwachsen konnten, die der alte Boden allein nicht getragen hätte.
Die Möglichkeit, daß die Kritik den fruchtbaren Einfall tötet, ist
also keineswegs ausgeschlossen, wenn nur der objektive Wert der Argu¬
mente und Tatsachen entscheiden soll. Soll die Kritik das Genie fördern,
so muß sie zunächst den rein objektiven Boden verlassen und sich in den
Dienst des subjektiven Bedürfnisses stellen, die von diesem emporge¬
triebenen Einfälle nicht niederdrücken, sondern sieben, und wenn auf diese
Weise die Überzeugung entsteht, daß einer derselben der Wirklichkeit
näher führt, die Voraussetzung gelten lassen, daß die ihm entgegen¬
stehenden Gründe und Tatsachen nur scheinbar widersprechen, mag der
Widerspruch jetzt auch noch so stark hervortreten und seine Auflösung
erst einer fernen Zukunft beschieden sein. Sie rnuß, um das angeführte
Bild du Bois-Reymonds zu gebrauchen, die Tragfähigkeit der Planken
abschätzen, dann aber die Meerfahrt auf der, die als die tauglichste be¬
funden ward, antreien und den Kompaß abgeben, der die Richtung auf
das jenseitige Festland einzuhalten gestattet; nur so kann der geniale
Einfall durchdringen und schließlich auf rein objektivem Boden landen.
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wobei es nebensächlich ist, ob die Landung dort erfolgt, wohin der Einfall
ursprünglich zielte, oder ob das Festland, zu dem er mit Hilfe der Kritik
führt, in anderer Richtung gelegen ist.
Die Forderung, daß beim Forschen jede subjektive Überzeugung
aufgehoben sein soll, würde somit, auch wenn ich nur den Einfall als
fruchtbar gelten lasse, der der Wirklichkeit näherbringt, oft gerade die
Leistungen genialer Männer aufs äußerste beeinträchtigen. Forschung und
Kritik müssen unterschieden werden, das kritische Denken gehört zum
forschenden Denken, macht es aber nicht aus. Friedmann sagt: „Unter
kritischem Denken versteht man die Hemmung, die Abwehr jeden sub¬
jektiven Faktors beim Urteilen“ (S. 219). Eine Hemmung ist gut, wenn
man den Standpunkt nicht verlassen und nur von ihm aus genau Umschau
halten und beobachten will. Zum Vorwärtskommen, zur Gewinnung eines
neuen Standpunkts bedarf man aber der bewegenden Kraft, die durch
Hemmung nicht unwirksam gemacht, sondern nur in der rechten Richtung
gehalten werden soll, dies heißt aber, daß Bewegung und Hemmung mit¬
einander abzuwechseln haben, so daß jeder Bewegung eine, wenn auch nur
allgemeine, Überschau folgt. Die Krücke der Kritik ist, um mit Lessing
zu reden, zur Fortbewegung erforderlich, und nur ein guter Läufer, d. h
derjenige, der bloß fruchtbare, wirklichkeittreue Einfälle hätte, also die
Unterscheidung zwischen fruchtbaren und unfruchtbaren Einfällen nicht
benötigte, könnte sie entbehren, sie dient aber zur Fortbewegung nur dann,
wenn der Fortschreitende sie in richtiger Weise, seinem Bedürfnis ent¬
sprechend, gebraucht, nicht wenn sie selbständig wird und ihm etwa
zwischen die Beine gerät. Das subjektive Element, das Bedürfnis, muß
vom objektiven Elemente, der Kritik, zwar gehemmt und geregelt werden,
aber die Führung behalten, wenn Neues und Fruchtbringendes gelingen
soll. Gerade wer mit Friedmann die Individualität der einzelnen Denker
als so wichtig für den Fortschritt der Menschheit ansieht, sollte also das
subjektive Element nicht so völlig aus dem wissenschaftlichen Denken
ausschalten.
Nur das kann man sagen: der neue Weg, den das Genie einschlägt,
wird durch subjektive Kräfte gefunden und gebahnt, aber wenn dieser
Seitenpfad in den allgemeinen Weg der Wissenschaft wieder einmündet,
«cru so der Gewinn dieses Seitenpfades klar hervortritt und das Neue sich
bewährt hat, dann endet mit diesem Ergebnis das Subjektive im Objek¬
tiven: „Die Forschungsresultate sind unabhängig vom subjektiven Ele¬
ment, sie müssen für jeden, der zu reflektieren versteht, gleich vorbild¬
lich sein.“ — Zwar meine ich gezeigt zu haben, daß sie nur für den ver¬
bindlich sind, der vom gleichen Bedürfnis ausgeht oder doch vom gleichen
Bedürfnis dann erfüllt wird, wenn der Weg gewiesen ist, auf dem es be¬
friedigt werden kann. Aber das Bedürfnis, auf dem neuen Wege Wahrheit
zu suchen, pflegt sich rasch zu verbreiten, wenn Erfolge sichtbar werden,
die auf den alten Wegen nicht zu erreichen waren, und damit die Über-
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zeugung sich einstellt, daß hier noch weitere Erfolge zu erringen sind.
Diese Überzeugung wird zwar nicht ohne Kritik erlangt, aber diese Kritik
gründet sich nicht auf objektiven Boden, sondern auf den vorerst schwan¬
kenden Boden einer Annahme, und diese Annahme verdankt ihre Kraft
dem allgemeinen Bedürfnis der Neuzeit nach Beherrschung der Natur,
das jeden Weg willkommen heißt, der diesem Ziele näher führen könnte.
Wohl dürfen wir nicht vergessen, daß auch der heutige Mensch noch andere
Bedürfnisse hat und nicht vom Brote der Naturwissenschaft allein lebt,
daß die Mischung dieser Bedürfnisse verschieden und daher subjektiv ist,
und daß jedes dieser Bedürfnisse, nicht nur das naturwissenschaftliche,
auf einen wirklichen Zusammenhang gerichtet ist. Aber auch wenn wir
uns, wie billig, auf die Naturwissenschaft beschränken und nur das Be¬
dürfnis, den wirklichen Naturzusammenhang zu erkennen, zugrunde legen,
so sind doch in diesem unendlich viel verschiedenartige und sich durch¬
kreuzende Einzelzusammenhänge verflochten, deren wahre und er¬
schöpfende Darstellung keinen Widerspruch enthalten würde, deren jetzige
Darstellung aber unvollkommen ist und sich der Wahrheit und Vollständig¬
keit nur allmählich nähert. Die Kritik hemmt, d. h. sie deckt Wider¬
sprüche auf und richtet somit das Bedürfnis auf deren Beseitigung; so
sorgt sie für möglichst widerspruchfreie Einordnung der einzelnen Tat¬
sachen in die Wissenschaft. Solange keine neuartigen Zusammenhänge
aufgestellt werden, solange es sich also um bloße Einordnung neuer Tat¬
sachen in bekannte Zusammenhänge handelt, herrscht sie zweifellos mit
Hecht; soll aber ein Zusammenhang neuer Art gewonnen werden, der in
die bisherige Ordnung eingreift, so muß die von subjektiven Elementen
unbeeinflußte Kritik, die den bisherigen wissenschaftlichen Besitzstand
zur Unterlage hat, jenen mit dem bisherigen Wissen unvereinbaren Zu¬
sammenhang solange verwerfen, bis das Neue sein Daseinsrecht bewiesen,
d. h. die Wahrscheinlichkeit dargetan hat, daß es sich um einen wirklichen
Zusammenhang handelt, dann aber den Widerspruch zwischen dem neuen
und den alten Zusammenhängen so lange hervorheben und damit zeigen,
daß der wirkliche Zusammenhang noch nicht zutreffend wiedergegeben
ist, bis dem Bedürfnis, diesen von allen Seiten richtig aufzufassen und
damit dem Ziele der Naturbeherrschung näher zu kommen, die Beseitigung
jenes Widerspruchs glückt.
Gerade die Betrachtung des genialen Denkens zeigt somit deutlich
die Stellung an, die der Kritik zukommt. Sie soll die Befriedigung eines
Bedürfnisses möglichst fördern und sichern, indem sie die Vorstellungen,
die zur Befriedigung des Bedürfnisses auftauchen, auf ihre Tauglichkeit
hierzu beurteilt. Dem philosophischen Geiste des Aristoteles war an logisch¬
wissenschaftlicher, widerspruchfreier Ordnung der Erscheinungen, nicht
an Erweiterung der Herrschaft über die Natur gelegen. So hat er die nicht
leichte Aufgabe, die der einfachen Beobachtung zugänglichen Zusammen¬
hänge in ein begrifflich einwandfreies und mit seinen sonstigen Anschauun-
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gen zusammenstimmendes System zu bringen, auf Grundlage des damaligen
Wissens mit umfassender Kritik in Angriff genommen. Seine Darstellung
genügte dem Mittelalter, dessen führende Schichten von religiösen und
politischen Bestrebungen erfüllt waren und kein Bedürfnis hatten, der
Natur auf neuen Wegen mehr abzuringen, als sie herkömmlicherweise gab.
Ihr Bedürfnis nach Naturerkenntnis war durch Aristoteles befriedigt,
und so galten seine Schriften als maßgebend und als Grundlage der Kritik.
Je mehr aber neben der Ackerwirtschaft Handel und Industrie aufkamen,
und je mehr neben Geistlichkeit und Adel die wohlhabenden Bürger der
Städte an der Bildung teilnahmen, um so stärker wuchs das Bedürfnis,
die Naturkräfte in größerem Umfange zu verwenden, als die bisherigen
Mittel gestatteten, und hiermit das weitere Bedürfnis, neue Wege der Natur¬
erkenntnis zu finden. Indem auf neuen Wegen einzelne Fragen ohne
Rücksicht auf die Aristotelische Anschauung in Angriff genommen wurden,
kam bald Stoff genug für eine Kritik auf neuer Grundlage zusammen,
die zahlreiche Widersprüche mit Aristoteles aufdeckte, und das Bedürfnis
nach Auffindung wirklicher, d. h. solcher Naturzusammenhänge, die beim
Versuch genau die nach ihm zu erwartenden Wirkungen ergaben, siegte
rasch über das schon von andern Seiten her erschütterte Bedürfnis nach
einer allumfassenden Autorität, wie sie in Aristoteles’ Schriften verkörpert
war. Je mehr die Einzeluntersuchungen kritisch zusammengefaßt, Wider¬
sprüche durch weitere Untersuchungen beseitigt und die Arbeit auf weitere
Gebiete ausgedehnt wurde, kurz, je geordneter und umfassender eine neu
eingestellte Naturwissenschaft sich erhob, um so mehr fand auch die
Kritik in ihr eine Grundlage, die tiefer geht und gesicherter ist als früher.
Vor allem gilt dies von den Wissenschaftzweigen, in denen die Anwendung
des Versuchs und der Mathematik besondere Sicherheit ermöglicht, und
in denen die Arbeit vieler Geschlechter gewisse gesetzmäßige Zusammen¬
hänge immer wieder bestätigt hat. Viel unsicherer ist der Boden der
Kritik in Wissenschaftzweigen, die solchen Kerns feststehender Gesetze
noch entbehren. Schließlich ist aber überall, wo Neues und Altes sich
entgegentritt und Gründe für beides sprechen, wie das bei fruchtbaren
Einfällen zu geschehen pflegt, für die Entscheidung des Elinzeinen das
Bedürfnis und die Überzeugung, wie diesem am besten entsprochen werden
könne, maßgebend. Den Widerspruch zeigt die Kritik objektiv auf, die
Bewertung der Gründe ist um so mehr subjektiv, je unsicherer der Boden
ist, von dem die Kritik ausgehen muß. Daß trotzdem ganz allgemein das
objektiv Richtigere im Laufe der Zeit zur Geltung kommt, bewirkt einmal
der Umstand, daß seit dem Erwachen der neueren Naturwissenschaft das
Bedürfnis der führenden Männer in erster Linie nicht auf Widerspruch freie
Zusammenfügung der einzelnen Beobachtungsergebnisse in logischem
Aufbau und in dessen Übereinstimmung mit der gesamten Weltanschauung
gerichtet ist, sondern zunächst auf immer genauer der Wirklichkeit ange¬
paßte Darstellung der einzelnen schon bekannten und auf Auffindung
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neuer Zusammenhänge. Und dazu kommt der zweite Umstand, daß im
Sinne jenes Bedürfnisses am Fortschritt der Wissenschaft nicht Einer oder
Wenige, sondern Viele in immer wachsender Zahl arbeiten, die von ver¬
schiedenen Gesichtspunkten ausgehen und von verschiedenen Überzeugun¬
gen getragen sind, so daß im Kampf der Meinungen immer neue Unter¬
suchungen erfolgen, die schließlich die Widersprüche beseitigen und doch,
indem sie zugleich immer neue hervorbringen, einen Stillstand unmöglich
machen. Beide Umstände aber wurzeln darin, daß in der Neuzeit das Be¬
dürfnis nach Naturerkenntnis, so selbständig es im Einzelnen auftritt, im
Grunde doch von dem ursprünglicheren Bedürfnis nach vermehrter Natur¬
beherrschung abgeleitet ist, das nur durch immer genauere Anpassung
des Wissens an den wirklichen Naturzusammenhang befriedigt werden
kann. Aristoteles und seine Schüler kannten dies Bedürfnis nicht und
konnten deshalb die Überzeugung hegen, daß die Grenzen der Erkenntnis
im wesentlichen erreicht seien, daß es sich nur noch darum handeln werde,
neue Einzelheiten dem Grundstock des Wissens einzuverleiben, und daß
die Naturwirklichkeit daher zugleich wahr und widerspruchlos nicht nur
in sich dargestellt, sondern auch der philosophischen Gesamtanschauung
eingefügt werden könne. Seit jenes Bedürfnis nach Naturbeherrschung
diesen Glauben zerstört hat, kann es unbekümmert um den allgemeinen
Zusammenhang sein Schwergewicht auf die genaue Erforschung einzelner
Zusammenhänge werfen und wird, da es zugleich wirtschaftlich begründet
und daher enger mit den Grundtrieben des Menschen verbunden ist, in
Vielen vorwiegen.
Objektiv ist also bei der Kritik nur die logische, Widersprüche auf¬
deckende Seite ihrer Tätigkeit, während die Bewertung ihrer Grundlagen,
die für ihre Entscheidung für oder wider maßgebend ist, von subjektiven
Elementen nur mehr oder weniger, nie aber völlig frei sein kann. Nur das
ist richtig, daß das Bedürfnis nach Naturbeherrschung und der ihr ent¬
sprechenden Naturerkenntnis als Bedingung seiner Erfüllung das Streben
nach Objektivität, nach Wirklichkeittreue mit sich führt, und daß die
Kritik, die allein von diesem, richtig verstandenen Bedürfnis beherrscht
wird, am meisten die Bezeichnung objektiv verdient. Der gegebene Aus¬
gangspunkt jeder „objektiven“ Kritik aber ist der bisherige Besitzstand,
weil dieser sich zunächst mehr bewährt hat als etwas Neues, das sich erst
bewähren soll, und hieraus, nicht allein aus Gewohnheit und Denkträgheit,
stammt vielfach der Widerstand, den die Kritik auch solchen Einfällen
zunächst entgegensetzt, die sie später als fruchtbar anerkennt. Der neu¬
artige Einfall des primitiven Menschen, der in einer zum Handeln drängen¬
den Lage die Richtung des Handelns bestimmt, erlangt leicht Geltung,
wenn offenbare Widersprüche fehlen; der neuartige wissenschaftliche
Einfall hat, wenn seine Richtigkeit nicht offen zutage tritt, viele, nicht
nur aus andern Bedürfnissen hergeleitete, sondern sachliche Einwände
zu überwinden, ehe er durchdringt, weil inzwischen die Wissenschaft ent-
Zeitsehrift für Psychiatrie LXXI1I. 2/8. 19
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standen ist, die die bisherigen Erfahrungen zusammenfaßt und der Kritik
zur Unterlage dient. Von den Ergebnissen der Wissenschaft und der von
ihnen ausgehenden Kritik zunächst sich nicht abhalten lassen, unbe-
kümmert die neu gefundene Spur verfolgen und erst, wenn ein gesichertes
Ergebnis gewonnen ist, auf dieser Grundlage sich mit dem bisherigen Be¬
stände kritisch auseinandersetzen, führt am ungestörtesten zum Ziel.
Dies Verfahren hat am Beginn der Neuzeit das Aristotelische Lehrgebäude
umgestoßen und die heutige Naturwissenschaft geschallen, es wird sie
auch weiter vor Erstarrung bewahren und gesund erhalten, weil es dem¬
selben Bedürfnis dient, dem auch sie entstammt, dem Bedürfnis nach
Naturbeherrschung.
Indem ich das „suggestive“ und ebenso das forschende Denken vom
Bedürfnis und dem darin wirkenden Triebe ableitete, habe ich mich immer
weiter vom Ausgangpunkte der Friedmannschen Betrachtung entfernt.
Friedmann knüpft an die Wachsuggestion und die Autosuggestion an und
entwickelt von hier aus den Begriff des Suggestivdenkens und der Sug¬
gestivvorstellung. Der Suggestionsbegriff „hat gezeigt, wie man einfach
durch Erregen starker Vorstellungen das Denken des Menschen beherrschen
und ihm absichtlich und künstlich einen bestimmten Inhalt aufdrängen
kann, und zweitens, daß die Vorstellung an sich und allein eine selbständige
geistige Macht bedeutendster Art ist. Das sind doch die beiden wesent¬
lichen Momente, welche die Wachsuggestion gemeinsam mit der hypnoti¬
schen hat“ (S. 213). Diese Gleichstellung ist aber nur äußerlich, wenn
man der Wachsuggestion den Umfang gibt, den Friedmann ihr zuteilt,
und nicht aufrechtzuerhalten, wenn man berücksichtigt, woher der
„starken“ Vorstellung bei der hypnotischen und der Wachsuggestion die
Stärke erwächst. Die Stärke der vom Hypnotiseur eingegebenen Vor¬
stellung kommt dadurch zustande, daß im Bewußtsein der Versuchsperson
die dunkle Vorstellung der Machtlosigkeit und — besonders beim Bernheim -
sehen Verfahren — der Abhängigkeit vom Hypnotiseur erzeugt wird, und
die sonst unvermeidlichen Hemmungen fallen dadurch weg, daß im übrigen
künstlich eine Leere des Bewußtseins hergestellt wird. Bei der Wach¬
suggestion sind die Verhältnisse nur dann ähnlich, wenn die Autorität des
Suggerierenden widersprechende Vorstellungen überhaupt nicht auf-
kommen läßt. Ist diese Autorität nicht von vornherein vorhanden oder
nicht stark genug, so muß die Überlegenheit des Suggerierenden der Ver¬
suchsperson erst beigebracht, suggeriert werden, und hierzu ist die Über¬
raschung, die ja auch zur Herbeiführung der Hypnose benutzt wird, be¬
sonders geeignet, weil sie ein geordnetes Denken und damit Hemmungen
ausschaltet. Ich erinnere an die Erzählung, wie Friedrich der Große nach
der Schlacht bei Leuthen in ein Schloß eintritt, unter eine Menge öster¬
reichischer Offiziere gerät, die mit Windlichtern die Treppe herabeilen,
ihnen zuversichtlich lächelnd zuruft: „Bon soir, MessieursI Gewiß haben
Sie mich hier nicht erwartet; kann man hier auch noch mit Unterkommen ?“
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Kleinere Mitteilungen.
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und ihnen so die Überzeugung beibringt, daß er eine größere Truppen*
macht hinter sich habe; die Überraschung durch das plötzliche Erscheinen
des Königs und seine sichere Ruhe schaltet hier das Überlegen und damit
das Nachforschen, ob die Truppen ihm wirklich folgen, aus, und Friedrich
weiß die Vorstellung seiner Überlegenheit so lange aufrechtzuerhalten,
bis sie durch das Nachrücken seiner Truppen zur Wirklichkeit wird. Ihm
gelingt dies, indem er die Offiziere sich ihm vorstellen läßt und sich mit
ihnen unterhält, also auf Grund seiner scheinbaren Überlegenheit ihr
Denken und Handeln bestimmt. Auch der Kranke, der der Wachsuggestion
des Arztes folgt, glaubt an dessen Überlegenheit mindestens in der Auf*
fassung und Behandlung seiner Krankheit und richtet daher sein Urteil
völlig nach dessen Worten. Dagegen weicht die Suggestion hier um so
mehr von der hypnotischen ab, je mehr der Arzt sein Gebot mit Gründen
stützt oder durch Beispiele oder Vergleiche erläutert, also überzeugt oder
überredet und nicht allein durch seine Autorität wirkt. Aber auch wenn
er durch diese allein den Kranken bestimmt, verschieden ist diese Art der
Suggestion von der hypnotischen doch darin, daß sie an ein Bedürfnis
anknüpft und Befriedigung desselben erwarten läßt. Der Kranke möchte
gesund werden oder doch diese oder jene Krankheitserscheinung los werden,
und er hat das Vertrauen, daß der Arzt dies Bedürfnis befriedigen kann
und will. Gewiß können Autorität und Bedürfnis in verschieden starkem
Grade zur Folgsamkeit des Kranken beitragen, und von Suggestion wird
man, wenn man von der hypnotischen Suggestion ausgeht, um so mehr
sprechen können, eine je größere Macht die Autorität und eine je geringere
das Bedürfnis ausübt, aber wenn man von den Fällen absieht, die man
als Befehlsautomatie bezeichnen kann, und die der hypnotischen am
nächsten stehen, wird das Bedürfnis stets eine wenn auch manchmal im
Verhältnis zur Autorität geringe Rolle spielen. Selbst in jener Erzählung
von Friedrich dem Großen ist das Schutzbedürfnis der österreichischen
Offiziere, die in der Hand des Königs zu sein glauben, nicht ganz unbe¬
teiligt. Ähnliches gilt von den religiösen, politischen und andern „Wach¬
suggestionen“, die Friedmann anführt: überall ein Bedürfnis und das Ver¬
trauen, daß es auf dem Wege befriedigt werden kann, den der Redner
angibt, wobei Bedürfnis und Vertrauen von vornherein bestehen oder
durch den Redner erst allmählich hervorgerufen werden können. Je ge¬
ringer die Autorität, je mehr sie durch Gründe, Vergleiche, Beispiele usw.
ersetzt werden muß, um so verschiedener ist der Vorgang von der hyp¬
notischen Suggestion, mit der ihn nur die Autorität des Redners verknüpft.
Diese Autorität und damit der letzte Anlaß zur Gleichstellung mit der
hypnotischen Suggestion fällt bei der „Autosuggestion“ weg, an ihre
Stelle tritt hier völlig das Bedürfnis, und was man als Autosuggestion
im Gegensätze zum überlegenden, begründenden, logisch vorgehenden
Denken bezeichnet, ist gerade, daß die Macht der zur Herrschaft gelangen¬
den Vorstellung allein dem Bedürfnis und dem in ihm wirksamen Triebe
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entstammt. Die Autosuggestion hat also mit der hypnotischen nichts als
den Namen Suggestion gemein, und nur dadurch ist jene Wortübertragung
erklärlich, daß ein innerer Zusammenhang durch das Dazwischenschieben
der Wachsuggestion vorgetäuscht wird, die von beiden etwas enthält
und daher zwischen beiden vermittelt. Der Name Autosuggestion führt
somit irre, weil er eine gemeinsame Grundlage mit der hypnotischen Sug¬
gestion voraussetzen läßt, die gar nicht vorhanden ist, wenn man nicht die
bloße Stärke der Vorstellung als gemeinsames Kennzeichen nimmt, ohne
den Ursprung dieser Stärke zu beachten. Und selbst dann ist die Behaup¬
tung unrichtig, der Suggestionsbegriff habe gezeigt, daß die Vorstellung
an sich und allein eine selbständige geistige Macht bedeutendster Art sei:
er hat nur gezeigt, daß die Vorstellung diese Macht — nicht an sich, son¬
dern — in Verbindung mit dem Bewußtsein der Abhängigkeit oder in Ver¬
bindung mit einem Bedürfnis oder in Verbindung mit beiden besitzt.
Auch „daß die Urteilsbildung und die leitenden Ideen des Menschen unter
mächtigen Einflüssen einer angeborenen Suggestibilität stehen“, ist dem¬
nach auf ihren Zusammenhang mit dem Bedürfnis zurückzuführen, nicht
aber darauf, „daß eben die Vorstellung an sich eine starke intellektuelle
Kraft oder Macht darstellt“.
Auch folgenden Sätzen (8.214) kann ich nur teilweise beipflichten: „Der
alten und durch einen Forscher wie Wundt wieder vertretenen Lehre hat
man bedingunglos wieder Folge geleistet, daß unsere Überzeugung im
Denken ausschließlich durch eine höhere Intelligenzkraft, die Verstandes¬
kraft, Apperzeption oder wie man sie nennen will, bedingt wird. Ihr kommt
ein souveräner Primat im Denken zu, ihr sind die Vorstellungen nur die
passiven Elemente, die Bausteine, dig sie ordnet und annimmt oder afc-
weist. Und diese Lehre erschien freilich gestützt durch die Analogie der
Suggestion in der Hypnose. Wesentlich dadurch, daß hier, in letzterer,
die Intelligenzleistungen, Reflexion und überlegter Wille, ausgeschlossen
seien, ergebe sich die imperative Gewalt der Suggestiv Vorstellung. Und
für die Wachsuggestion legte man sich eine Art von „Faszination“, eines
Geblendet- und Oberwältigtsein durch die Suggestividee, zurecht, so daß
auch hier die geordnete Reflexion passiv ausgeschlossen oder mit Wundt
das Blickfeld der Apperzeption eingeengt sei. Es bestünde sozusagen
gar nicht die Möglichkeit einer logischen Kritik oder einer Hemmung
durch überlegten Willen, weil das Herbeiströmen der anderweitigen Ge¬
danken vereitelt wird.“ Und weiter (S. 220): „Gerade das kritische über¬
legte Urteilen beruht nicht auf einer primären geistigen Kraft, einem Organ
der Intelligenz (Verstandeskraft, aktive Apperzeption); wo ein Bedürfnis
besteht nach Begründung aller von der Person aufzunehmenden oder fest¬
zuhaltenden Ideen, da ist das Bedürfnis anerzogen, und zugleich ist die
Suggestibilität der Person von Hause aus eine geringe.“ Dazu möchte ich
folgendes bemerken: Ohne Apperzeption oder Verstandesgebrauch ist Sug¬
gestion überhaupt nicht möglich, denn der Befehl oder die Eingebung
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sowohl in der Hypnose wie bei der Wachsuggestion muß verstanden und
ebenso die starke Vorstellung der Autosuggestion als tauglich zur Befriedi¬
gung des Bedürfnisses aufgefaßt werden. Nur hierüber hinaus, zur Kritik:
des Suggestivdenkens wird die Apperzeption oder der Verstand oder,
um „nicht mit so komplexen und veralteten psychologischen Faktoren
zu operieren, wie es der Intellekt oder die Verstandeskraft ist“, das Denken
nicht verwandt; denn in der Hypnose sind Denken und Wollen, soweit sie
eigenem Bedürfnis entstammen, künstlich unterdrückt, während Denken
und Wollen auf Grund fremder Eingebung nicht gehemmt sind, und bei
der Wach- und Autosuggestion erscheint der im Suggestivdenken erfaßte.
Zusammenhang durch die Autorität des Suggerierenden so gesichert oder
infolge des eigenen starken Bedürfnisses so einleuchtend, daß eine weitere
Begründung oder Kritik als überflüssig unterbleibt oder die Gegengründe
als nur scheinbar widersprechend abgefertigt werden. Bei allen drei
Suggestivformen kann also das Bedürfnis und die Fähigkeit zu begründen¬
dem, kritischem Denken in der die Suggestion annehmenden Person aus¬
gebildet und in anderer Lage wirksam sein, nur im vorliegenden Falle wird
es, soweit es eben vorhanden ist, in bezug auf die Suggestividee ausgeschaltet
oder beeinflußt, weil das Bedürfnis danach entweder künstlich zum Schwei¬
gen gebracht wird oder gegenüber fremder Autorität oder einem eigenen
stärkeren Bedürfnis zurücktritt. Dagegen kann sich das Denken, auch
das kritische, im Dienste der Suggestividee sehr lebhaft betätigen: die
Suggestion, die „dadurch wirkt, daß sie eine mächtige Vorstellung in den
Geist des Menschen einführt“, „hemmt ihn in diesen Fällen ganz und gar
nicht, eine Fülle psychischer Leistungen, von erweckten Ideen folgt sehr
oft nach . Ich erinnere nur als besonders beweisend an die Ideen,
welche wie die anarchistische oder die mahdistische eigentlich gar keine
positive Begründung erfuhren; und welche beispiellose Agitation, welches
Übermaß von impulsiver Tatkraft haben sie entzündetl“ (S. 279). Ich
meine, gerade das Beispiel der anarchistischen Bewegung zeigt besonders
deutlich, daß die Idee nicht an sich jene Macht besitzt, sondern sie nur da
entfaltet, wo eben das ihr entsprechende Bedürfnis besonders stark aus¬
gebildet ist. Denn nicht die Masse des Volkes, die solchen Ideen kritische
Hemmungen nur in geringem Maße entgegensetzen kann, wird von ihr mit
fortreißender Gewalt ergriffen, sondern immer nur Einzelne, in denen das
Bedürfnis nach voller Selbständigkeit des Handelns und nach Unabhängig¬
keit von staatlicher Bindung sich zu ungewöhnlicher Höhe entwickelt hat.
Auch eine Volksmasse kann unter ungewöhnlichen Verhältnissen durch
anarchistische Ideen vorübergehend „fasziniert“, geblendet, überwältigt
werden, bald aber treten andere, fester eingewurzelte Bedürfnisse hervor
und üben ihre Herrschaft; es gehört schon eine gewisse Bildung und
kritische Fähigkeit dazu, um im Dienste der anarchistischen Idee immer
neue Beweise für die Schädlichkeit jeglicher Staatsform und für die Richtig¬
keit der Lehre von der angeborenen, nur durch die bestehenden Verhält-
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nisse verdorbenen und ohne sie frei und von selbst sich entwickelnden
Trefflichkeit der menschlichen Natur herauszufinden und so das Bedürfnis
nach Beseitigung des Staates rege zu halten und zu vertiefen, d. h. mit
andern, zunächst stärkeren Bedürfnissen verschmelzen zu lassen. Das
Bedürfnis nach Befreiung von staatlichem Zwang und Schutz ist eben nicht
ursprünglich, sondern schon recht weit abgeleitet, und die menschlichen
Urtriebe können daher in ihm nur soweit wirksam werden, als die Über¬
zeugung hervorgerufen und festgehalten wird, daß seine Befriedigung auch
ihre Befriedigung enthält und am besten gewährleistet. Eine gewisse
„Intelligenzkraft“ oder „Verstandeskraft“ — oder wie man sonst die
Fähigkeit bezeichnen will, die Vorstellungen unter einem gemeinsamen
Gesichtspunkte zusammenzufassen — muß aber vorhanden und ausge¬
bildet sein, um jene Überzeugung und damit das abgeleitete Bedürfnis in
der nötigen Stärke entstehen und weiter bestehen zu lassen. Die Stärke
der Vorstellung ist also weder durch Hemmung oder Ausschluß des Denkens
entstanden — darin hat Friedmann recht — noch ist sie als selbständige
Macht der Vorstellung an sich eigen — wie Friedmann will —, sondern ein
starkes Bedürfnis, von menschlichen Urtrieben abgeleitet, sie in ihrer
Richtung bestimmend und aus ihnen seine Stärke schöpfend, schafft durch
Beeinflussung des Denkens die Überzeugung, daß das Bedürfnis auf dem
durch die Vorstellung angezeigten Wege zu befriedigen sei, und verleiht
dieser damit die ihr eigentümliche Stärke.
Dies gilt nicht nur für die „perversen“, sondern auch für die „ge¬
sunden“ Ideen im Völkerleben. Beide erhalten die ihnen eigene Stärke
nur durch das ihnen zugrunde liegende Bedürfnis und die Überzeugung,
daß ihre Verwirklichung das Bedürfnis befriedigt, und jene unterscheiden
sich von diesen nur dadurch, daß allseitige Überlegung und Erfahrung
jene Überzeugung immer von neuem als richtig erweist. Die gesunden Ideen,
die das Ziel des Handelns bestimmen, ähneln also in der Art ihrer Begrün¬
dung den Naturgesetzen, während die perversen in dieser Hinsicht falschen
Naturanschauungen gleichen, die lange Zeit als Ausdruck eines wirklichen
Zusammenhangs gelten können, schließlich aber doch durch die Erfahrung
berichtigt werden.
Bei der Entstehung solcher mächtigen Ideen, namentlich derer auf
religiösem Gebiet, mag man vielfach mit gewissem Recht von Autosug¬
gestion reden, denn das Bedürfnis verlangt hier, und zwar gerade bei Vor¬
stellungen, die sich später als in ihrem Kerne gesunde Ideen erweisen,
zunächst in geringem Maße eine überlegende Begründung auf dem Boden
der gewöhnlich so genannten Wirklichkeit, der Urheber ist sich, vielleicht
nach anfänglichem Schwanken, der Wahrheit seiner Idee unmittelbar
bewußt, aber dann pflegt die Überlegung einzusetzen, die freilich nicht
darauf ausgeht, die Idee auf ihre Vereinbarkeit mit den Ergebnissen der
Wissenschaft und mit sonstigen Erfahrungen zu prüfen, sondern darauf,
ob sie imstande ist, die dem Urheber etwa auftauchenden religiösen Zweifel
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zu überwinden und auf die Dauer seinem besonderen Bedürfnis volles Ge¬
nüge zu leisten. Nach diesem Bedürfnis umgrenzt sich der Umkreis der
Erfahrung, die hier die Dauer der Überzeugung von der Wahrheit der Idee
bestimmt und der Idee die Stärke des Bedürfnisses erhält. Wie für alle
Gebiete des menschlichen Denkens gilt es auch hier, nur hier noch in viel
höherem Maße, daß der schöpferische Geist und alle, die ihm folgen, sich
zunächst auf den Boden des neuen Zusammenhangs stellen und seine Trag¬
fähigkeit erproben müssen. Diese Prüfung ist nun zwar von der in der
Wissenschaft, wo Beobachtung und Überlegung allein entscheiden, insofern
nicht grundverschieden, als die religiösen Ideen, soweit sie auch andrer¬
seits über den Naturzusammenhang hinausgreifen, an innere Vorgänge,
die in der Erinnerung festgehalten werden, sich anknüpfen und auf ihnen
aufbauen, aber diese Vorgänge haben Beweiskraft nur für den, der sie
selbst erlebt, und nur der erlebt sie, der sich ganz mit der neuen Idee erfüllt.
Nicht Empfindungszusammenhänge, sondern allein die Gefühlszuordnung
zu allen in Betracht kommenden Vorstellungen, die aus der Befriedigung
eines mächtigen Bedürfnisses stammt und über Zweifel hinaus eine hohe
Sicherheit und feste Willensrichtung zu geben vermag, schafft die Er¬
fahrung, die der religiösen Idee ihre volle Überzeugungskraft verleiht.
Erst später regt sich, sei es im Urheber oder seinen Anhängern, das Be¬
dürfnis nach einem logischen Unterbau auf andersartigen Erfahrungen
und auf den Ergebnissen der Wissenschaft, der vorläufig noch ganz im
Banne der Idee ausgeführt zu werden pflegt, aber allmählich doch eine
Umformung derselben hervorbringt, indem neue Bedürfnisse hervortreten
und eine Anpassung erzwingen. So werden Kern und Wesen der religiösen
Idee von zeitgeschichtlichen Beimengungen gereinigt und setzen sich mit den
übrigen Erfahrungen in Einklang. Nicht alsob hierdurch die Stärke der reli¬
giösen Idee unmittelbar vermehrt oder vermindert würde, da sie allein von
jener ganz persönlichen inneren Erfahrung des Einzelnen abhängt, aber die
Überzeugung von der Wahrheit der Idee, die die Voraussetzung ihrer Er¬
folge ist, wird leichter erlangt und sicherer behauptet, wenn sie nicht im
Gegensätze zu andern Erfahrungen und anerkanntem Wissen steht, sondern
auch auf ihrem Grunde sich aufbaut und somit das religiöse Bedürfnis ohne
begründeten Widerspruch befriedigt. Zwei verschiedene Arten wissen¬
schaftlicher Betrachtung führen hierzu, die geschichtliche und die philo¬
sophische. Jene verfolgt die Wirkungen der Religion und ihrer verschiede¬
nen Formen im Einzelmenschen und in Gemeinschaften und Völkern und
stellt sie unter den Gesichtspunkt, dem Lessing am Ende seiner Erzählung
von den drei Ringen im Nathan klassischen Ausdruck verliehen hat, diese
beseitigt Widersprüche mit der sonstigen Erfahrung und erweist so im
Sinne Kants oder Fechners die Gottesidee, obwohl ihr Gegenstand nicht
von dieser Welt ist, als in einem berechtigten Bedürfnis begründete und
wissenschaftlich einwandfreie Ergänzung der Weltanschauung.
Diese Ausgleichung der religiösen Vorstellungen mit der Wissen-
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schaft, die in christlichen, nicht aber z. B., soweit mir bekannt, in
muhammedanischen Bildungen im Werke ist und die Macht der
religiösen Idee von inneren Hemmungen befreit, stellt somit einen
Vorgang gleicher Art dar, wie die Verarbeitung eines fruchtbaren
Gedankens in der Naturwissenschaft, der auch gewöhnlich mit
manchen überflüssigen und nur im engsten Umkreise der Erfahrung nicht
störenden Einschlüssen behaftet ist und von ihnen erst durch vergleichende
Heranziehung immer weiterer Gebiete allmählich befreit wird. Und ebenso
ist das Bedürfnis, das für die Entstehung naturwissenschaftlicher Erkennt¬
nisse und andrerseits selbst höherer Religionen maßgebend ist, nicht so ver¬
schieden in seinem Ursprung, als es zunächst erscheint. In beiden Fällen ist
es ein gesteigertes, vom Erhaltungstrieb abgeleitetes Machtbedürfnis, das
sich nur nach verschiedenen Richtungen, dort nach außen, hier nach innen
wendet. Dort wird Herrschaft über die Natur erstrebt, hier Herrschaft über
das Leid in jeder Form; dort erfolgt die Befriedigung des Bedürfnisses
durch Anpassung an die Naturgesetze, hier durch Unterwerfung unter den
Willen Gottes, und damit dies möglich ist, müssen dort die Naturgesetze,
hier der göttliche Wille erkannt werden. Dieser gemeinschaftliche Ursprung
aus dem Machtbedürfnis spricht sich nun auch darin aus, daß mit Religion
und Naturerkundung in der Urzeit und auch weiterhin Zauberglaube und
magische Gebräuche in Wettbewerb treten, die zur Befriedigung jenes Be¬
dürfnisses einen rascheren und geistig müheloseren Weg einschlagen. Wie
„die Naturwissenschaften als eine Art Instrumentensammlung für das
Denken und Handeln, um durch die Welt zu kommen“ x ), so kann man
die religiöse Gottesvorstellung als ein Mittel betrachten, um allem Leid
gegenüber, das von außen und aus den Widersprüchen des eigenen Innern
immer neu empordringt, die zum ungestörten Wirken nötige Sicherheit
und Freudigkeit aufzubringen. Tauglich sind aber auch hier die Mittel
nur, wenn sie sich als Ausdruck einer Wirklichkeit — mag diese meta¬
physisch oder psychologisch aufgefaßt werden — in der Erfahrung
bewähren, und die Überzeugung, daß dies auch in Zukunft der Fall sein
wird, ist um so begründeter, je ausgebreiteter die Erfahrung ist, von der sie
getragen werden, und mit der sie übereinstimmen.
Aus diesen letzten Ausführungen läßt sich nun aber auch deutlicher
als bisher das Verhältnis zwischen „Wahnideen“ und „gesunden“ Ideen
ableiten. Gemeinsam ist beiden, daß sie ihre Stärke aus der Stärke des
Bedürfnisses und der Stärke der Überzeugung von ihrer Richtigkeit, d. h.
ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit schöpfen; sie unterscheiden
sich dadurch, daß nur die gesunden Ideen sich auf die Dauer bewähren.
Um eine Idee als eine gesunde, als eine berechtigte, als eine wahre zu er-
*) So faßt Oesterreich die Ausführungen Machs in treffender Weist*
zusammen. Überwegs, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 4. Bd..
S. 351.
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kennen, gibt es aber kein anderes Kennzeichen, als ihre Begründung auf
der bisherigen Erfahrung in ihrem eigensten Geltungsbereich und ihre
widerspruchlose Einordnung in alle übrigen Erfahrungsgebiete. Ob bei
einer Idee dies Kennzeichen für alle Zukunft zutreffen wird, kann niemand
Voraussagen; ob es jetzt zutrifft, mag von den Einzelnen verschieden beur¬
teilt werden; völlige Sicherheit, daß eine Idee wahr ist, kann es daher nicht
geben. Wer sie in einer Idee zu besitzen glaubt, oder sie für eine Idee
verlangt, ist in einem grundsätzlichen Irrtum befangen. Aber daß in einer
Idee Wahrheit enthalten ist, vielleicht nicht die volle Wahrheit, vielleicht
Wahrheit mit Irrtum gemischt, und daß eine Idee der bisherigen Erfahrung
zufolge treuer Ausdruck der Wirklichkeit ist, das kann allerdings mit
Grund behauptet werden und mit Recht Sache der Überzeugung sein. Hierzu
genügt obiges Kennzeichen und wird dem genügen, der sich bewußt ist,
daß jede Idee nur Ausdruck, nicht Abbild einer Wirklichkeit sein kann,
gleichsam nur eine Übertragung in eine andere, nicht Abschrift in gleicher
Sprache. Dem gegenüber können wir als Wahnideen im Völkerleben die¬
jenigen einflußreichen Ideen bezeichnen, die schon in ihrem eigensten
Wirkungsbereich der bisherigen Erfahrung ganz oder zum größten Teil
widersprechen. Als wahr gelten sie nur ihren Anhängern, denen jener
Widerspruch entgeht, während einem nüchternen Urteil auf Grund der
bisherigen Erfahrung ihre Unwahrheit einleuchtet. Zwischen ihnen und
den wahren Ideen liegen aber die meisten Ideen mitten inne, die im Völker¬
leben ihre Macht entfalten, d. h. sie enthalten Wahres und Unwahres und
bilden so den Übergang von der wahren zur Wahnidee. Das Wahre in
ihnen pflegt sie vor dem Verstände zu rechtfertigen und ihnen Dauer zu
verleihen, das Falsche eingewurzelten, aus der besonderen Lage hervor¬
gegangenen Denkgewohnheiten und Bedürfnissen zu entsprechen und gerade
die Mischung von beiden ihnen eine besondere Gewalt zu verleihen. Dies
gilt sowohl für die Ideen, die mehr Wahres, als für die, die mehr Unwahres
enthalten.
Einflußreiche Ideen müssen von ihren Anhängern für wahr gehalten
werden, weil sie sonst stärkere Wirkungen nicht ausüben könnten. Ihre
Verbreitung wird daher, soweit sie ohne ausreichende Begründung erfolgt,
zunächst gefördert durch Mangel an Erfahrung auf dem Gebiet, in dem
sie Geltung beanspruchen, da sie in diesem Falle keine Hemmung erfahren.
Daneben hebt aber Friedmann mit Recht die Gewalt der öffentlichen
Meinung, die Macht des Vorbildes und Beispiels, und als wirksamstes
Moment die Suggestibilität der Volksmassen hervor. Die Suggestibilität
der Volksmassen beruht jedoch auf allgemein verbreiteten und daher
überall weckbaren menschlichen Trieben; die Idee, die diesen Aussicht
auf Befriedigung eröffnet und in der Erfahrung des Einzelnen die wenigsten
Hemmungen findet, wird dem Triebe die Richtung geben und dessen Stärke
auf sich lenken. Um Ideen Andern einzupflanzen, gilt es also, möglichst
starke Triebe zu wecken, sie in einem Bedürfnis zusammenzufassen und
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einen gangbaren Weg zu dessen Befriedigung in der Idee aufzuweisen,
und zwar wird die Überzeugung, daß die Idee einen solchen Weg aufweist,
um so leichter und rascher sich einstellen und um so rascher auf genauere
Begründung verzichten, je mächtiger das Bedürfnis ist, und je mehr es
daher auf Befriedigung oder doch zunächst auf die Feststellung eines Weges
hierzu hindrängt. Schon die Feststellung dieses Weges vermittelst derldeee
kann die Befriedigung so vorwegnehmen, daß weiteres Nachdenken und
die Heranziehung weiterer Erfahrung als überflüssig erscheint. Und dies
wird noch wesentlich gesteigert durch die Autorität des Urhebers der Idee
und dessen, der sie der Masse mundgerecht macht. Diese Autorität liegt
darin, daß man jenen größeres Wissen und tieferes Nachdenken als sich
selbst zutraut, und sie wird dadurch erworben oder bewahrt, daß die Dar¬
stellung im Anklang an sonstige, auf andern Gebieten gemachte Erfahrun¬
gen die Tauglichkeit der Idee zur Befriedigung des Bedürfnisses möglichst
handgreiflich heraushebt. In gleichem Sinne wirken nun auch die beiden
andern von Friedmann hervorgehobenen Umstände: daß Andere in der
Umgebung von der Idee erfaßt sind oder erfaßt werden, führt deutlich
vor Augen, daß etwas an der Idee daran sein muß; wer selbst den Zu¬
sammenhang nicht recht durchschaut, glaubt, daß die Andern oder doch
manche von ihnen ihn besser durchschauen, und vertraut deren besserer
Einsicht, dies Vertrauen vermehrt aber wieder das Vertrauen zum Ur¬
heber oder Vertreter der Idee. Die Bedeutung des Beispiels oder Vor¬
bildes liegt in gleicher Richtung, nur daß hier nicht die eigene Umgebung,
sondern der Urheber oder der Vertreter der Idee selbst in Betracht kommt.
Daß dieser sich von der Idee durchdrungen zeigt und ihr vertraut, auf sie
womöglich zu leben und zu sterben bereit ist, steigert das Vertrauen auf
die Wirksamkeit der Idee um so mehr, je stärker der Eindruck der Über¬
legenheit seines Denkens und seiner Erfahrung im Umfang des Wirkung¬
bereichs der Idee anwächst. Es ist der gleiche Vorgang, als wenn jemand
das Ergebnis fremder Forschung vertrauensvoll übernimmt; auch er wird
dies um so eher tun, je größer ihm des Andern Überlegenheit auf diesem
Wissenschaftsgebiete erscheint, und hierzu wird ebenfalls nicht wenig bei¬
tragen, wenn diese Überlegenheit auch von Andern oder gar allgemein an¬
erkannt wird. Er spart dadurch ebenso eigene Bemühung auf einem
ihm vielleicht fernliegenden Gebiete wie der Einzelne in der Masse, der bei
Aufnahme der ihm bisher fremden Idee eigenes Denken und Forschen
im Vertrauen auf die Leistungen Anderer als überflüssig und weniger
sicher vernachlässigt.
Ich habe die Macht der Idee auf das Bedürfnis, zu dessen Befriedi¬
gung sie den Weg aufweist, und damit auf den Trieb zurückgeführt. Das
-mag manchen befremdet haben, der mir darin zustimmt, daß ich „die
Vorstellung an und für sich“ als „eine starke psychische Kraft oder Macht“
nicht ansehen kann, und namentlich dem Assoziationspsychologen dürfte
es viel näher liegen, zur Erklärung jener Macht das mit der Vorstellung
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verbundene Gefühl heranzuziehen. Ich habe statt dessen den Trieb einge¬
führt, nicht nur, weil hierdurch der biologische Zusammenhang klarer
hervortritt, sondern auch, weil ich das Gefühl nicht in allen Fällen für
ausreichend halte, um darauf allein die Macht der Idee zu begründen. Ich
berühre mich hierin mit Friedmanns Auffassung, daß „der Hinweis auf
das im religiösen Denken steckende Werturteil, ja sogar auf die viel deut¬
lichere Affekt- und Gemütseinwirkung noch recht wenig vom eigentlichen
Wesen des Suggestivdenkens erkennen läßt“ (S. 215). Das Gefühl, auf
das das Werturteil zurückführt, und das doch wohl auch unter der Affekt-
und Gemütswirkung religiöser Vorstellungen zunächst zu verstehen ist,
reicht auch nach meiner Auffassung nicht zur Erklärung des Einflusses
der Idee auf den Willen aus, während Bedürfnis und Idee gemeinsam, d. h.
der durch die Vorstellung des Bedürfnisses und die den Weg zu dessen
Befriedigung weisende Idee in seiner allgemeinen Richtung bestimmte
Trieb den Willensvorsatz ausmacht, der nur des zureichenden Anlasses harrt,
um sich in Handlungen zu betätigen. Wo der Trieb schwach ist, da ist
auch der Wille schwach, und führt der Trieb nur in stürmischer Gemüts¬
bewegung zu augenblicklichem kräftigen Handeln, so versagt nach deren
Erlöschen der Wille, wenngleich das in der Gemütsbewegung enthaltene
Gefühl auch ohne sie in hohem Maße lebendig sein kann. Hierfür hat uns
Shakespeare in seinem Hamlet ein klassisches Beispiel gegeben. Da ich
aber weder dem Gefühl noch der Vorstellung allein oder beiden zusammen
jene Macht zuschreiben kann, halte ich Friedmanns Ableitung der Sug-
gestibilität der Massen, die doch deren Wollen und Handeln zu bestimmen
gestatten soll, allein aus dem Fehlen hemmender Vorstellungen und dem
Grade der Erregbarkeit des Vorstellens für ungenügend. Es würde dann
ausreichen, der Menge auf einem Gebiete, auf dem ihr eigene Erfahrung
und eigenes Wissen abgeht, plastisch geschaute und gestaltete Ideen so
vorzuführen, daß Phantasie und Gefühl mächtig ergriffen wird. Die Sug¬
gestion, die hierdurch erzeugt wird, ist jedoch nur eine solche, wie sie am
vollendetsten durch das Schauspiel erzeugt wird, und dies pflegt den Willen
zum Handeln im Sinne der dramatischen Handlung nicht gerade stark in
Bewegung zu setzen, obwohl die Stärke des von ihm erregten Gefühls den
Durchschnitt der Gefühle des täglichen Lebens im allgemeinen weit über¬
steigt. Wenn ich davon absehe, daß zur Renaissancezeit Verschwörer in
Italien und im London Elisabeths und Shakespeares sich ein Schauspiel
bestellten, um sich durch dasselbe zur Ausführung ihres Planes anfeuern
zu lassen, so ist mir nur ein Fall bekannt, daß infolge eines Dramas fanati¬
sche Massenhandlungen zustande gekommen sind: als 1830 die Nachricht
von der französischen Julirevolution in Brüssel eingetroffen war, zerstörten
nach der Aufführung der Oper „Die Stumme von Portici“ Volkshaufen die
Druckerei einer Brüsseler Zeitung, die im holländischen Sinne geleitet
wurde, den Palast des verhaßten Justizministers und die Wohnung des
Polizeidirektors, u r A damit begann der Aufruhr Belgiens gegen die hol-
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ländische Oberherrschaft. Aber damals hatte die Mißstimmung des Volkes
über Steuerdruck und Handelssperre, über die Begünstigung der holländi¬
schen Sprache und des Protestantismus bereits seit langem überhand ge¬
nommen, es bestand ein kräftiges Bedürfnis, die drückende Herrschaft der
als fremd empfundenen holländischen Regierung abzuschütteln, und dieses
Bedürfnis, verschärft durch das in Paris gegebene Vorbild, nicht die Idee
der dramatischen Handlung und das dadurch erregte Gefühl, verhalf
scheinbar der Oper zu jener Wirkung. Überall war also der Wille oder das
Bedürfnis bereits vorhanden, und das Schauspiel konnte nur dazu dienen,
durch Vorführung ähnlicher Vorgänge die bereits bestehende Gemüts¬
bewegung im Sinne des Willens oder des Bedürfnisses aufzupeitschen und
so innere Hemmungen gegen aufrührerische Handlungen für den Augen¬
blick zu beseitigen. Ein durch äußere Einwirkung entflammtes Gefühl
vermag Trieben, die mit Gegentrieben ringen, zum Siege zu verhelfen,
aber es ist nicht imstande, ohne diese Unterlage dem Willen zum Handeln
eine bestimmte Richtung aufzuprägen. Der Trieb stellt sich im Bewußtsein
dar als ein Gebilde aus Empfindungen und Gefühlen, und das Bedürfnis ist
eine besondere Art gefühlsbetonter Vorstellung, aber die Stärke des Triebes
und des Bedürfnisses entspricht nicht nur der Stärke des mit ihm auf¬
tretenden Gefühls. Eine nähere Ausführung würde hier zu viel Raum
beanspruchen und mag bei anderer Gelegenheit erfolgen, vorläufig kam es
mir darauf an, meine Übereinstimmung mit Friedmann in diesem Punkte
hervorzuheben.
Die Erkenntnis, daß Ideen nur dann zu tatkräftigem Handeln
führen, wenn ihre Verwirklichung geeignet scheint, einem lebhaften, von
starken Trieben ausgehenden Bedürfnis abzuhelfen, wirft auch ein Licht
darauf, weshalb nach Friedmann die perversen Bewegungen, im Gegensätze
zu andern, die psychologische Besonderheit zu haben scheinen, noch all¬
gemein menschlicher zu sein, d. h. tiefer in der Volksseele zu wurzeln und
dabei an sich nichts Neues an den Tag zu bringen. „Alte, von je glimmende
Leidenschaften und Wahngebilde, öfter das, was gemeiner Aberglaube ist.
bricht mit einem Male hervor und tritt nun gleich einem reißenden Strome
über seine Ufer. Man hat naturgemäß gern auch hier eine pragmatische
Geschichtsbehandlung zu üben gesucht, man wollte z. B. nachweisen, wie
mit den großen legalen Volksbewegungen, gleichsam angeregt und be¬
fruchtet dadurch, oft auch als Reaktion, die perverse Stimmung und Unter¬
strömung Leben gewinne. Der Aufklärung des letzten Jahrhunderts ging
parallel der schon erwähnte pietistische Rückschlag, an den als Retter von
der sozialen Knechtung des Proletariats aufgetretenen sozialistischen
Idealismus hat sich der blutige Anarchismus geheftet, die große Reforma¬
tion Luthers ließ die Wiedertäuferorgien emporwachsen; dem weltbe¬
freienden und in ebenso schwärmerisch religiösem Idealismus als tat¬
kräftiger Menschenliebe erblühenden Christentum ist die selbstsüchtig
versunkene anachoretische Bewegung gefolgt“ (S. 234—235). An dieser
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Auffassung, meint Friedmann , sei gewiß etwas Wahres, dennoch lasse ein
näheres Eingehen auf diese Dinge in solchem Sinne meist unbefriedigt.
„Wir verstehen doch nicht, warum diese perversen Regungen, welche doch
so tief in der Menschenbrust gegründet sind, gerade jetzt zum Ausbruch
kamen, warum z. B. der Anarchismus, dem doch im Herzen zu allen Zeiten
ein leider so großer Teil der Menschen, alle rabiaten und verbrecherischen
Naturen zujauchzen würden, warum er bisher nur das eine Mal ernsthaft
und in größerem Stile sich gezeigt hat.“ Diese Frage glaubt Friedmann
zunächst dadurch zu lösen, daß er auf den Einfluß hervorragender Männer
hinweist, aber gerade für die perversen Volkserregungen treffe freilich diese
suggestive Einpflanzung durch geniale Männer doch nicht völlig in gleichem
Maße zu. „Es gibt elementare Instinkte, deren Aufwallungen förmlich
explosiv in den niederen Massen sich dokumentieren, und so scheint jetzt
von unten her in China jener elementare Patriotismus am Werke zu sein,
welcher das Land vor der Besitznahme und sogar nur vor dem Eindringen
der Fremden zu schützen sucht. Ähnlich ergeht es mit der Rassenfeind¬
schaft bei uns und bei den meisten Nationen“ (S. 238). Sobald wir die
Macht der Idee darauf zurückführen, daß sie einem starken Bedürfnis
Befriedigung verspricht, erklären sich die Besonderheiten, die Friedmann
an den perversen Ideen findet. Sie sind allgemein menschlicher, weil sie
aus überall verbreiteten Grundtrieben hervorgehenden und deshalb all¬
gemein menschlichen Bedürfnissen entgegenkommen, ohne besondere
geistige Arbeit vorauszusetzen. Sie bringen nichts Neues zutage und können
gerade deshalb, weil der in ihnen gewiesene Weg zur Befriedigung des Be¬
dürfnisses uralten Denkgewohnheiten entspricht und wenig Neudenken
erfordert, förmlich explosive Gewalt entfalten, wenn das Bedürfnis durch
die Zeitlage brennender wird und einzelne Begabtere sie in zündender Form
und den neuen Verhältnissen angepaßt in die Massen hineinwerfen. Die An¬
passung an neue Verhältnisse deckt sich vielfach mit dem, was Friedmann
als das Wahre an der pragmatischen Geschichtsauffassung bezeichnet:
neue Ideen, die einen Fortschritt in der geschichtlichen Entwicklung be¬
deuten, verschmelzen mit älteren, zumal solchen, die durch sie überwunden
schienen, aber nun gerade durch die Verschmelzung mit ihnen neue und
wirksame Begründung erhalten. Bei der anachoretischen Bewegung, die
dem aufblühenden Christentum folgte, entsprang dem christlichen Ver¬
langen, durch volle Hingabe an Gott das Heil der Seele zu sichern, und dem
uralt volkstümlichen Gedanken, die Gottheit durch Opferung wertvollsten
Besitzes und durch Selbstpeinigung am sichersten versöhnen zu können,
die Vorstellung, einfacher und sicherer als der Weg tätiger Nächstenliebe
und Selbstüberwindung im Getriebe der Welt führe grundsätzliche Abkehr
von der Welt und ihrer als wertvoll geltenden Lust, der erlaubten und uner¬
laubten, zum Ziele. Als dann die ersten Einsiedler wegen ihrer Jedem deut¬
lichen Willenskraft und Entschiedenheit angestaunt wurden und in den
Geruch der Heiligkeit kamen, vermochte ihr Ruf und ihr Beispiel eine
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größere Anzahl auch solcher zu verlocken, die nicht nur durch starkes
religiöses Bedürfnis und die Scheu vor den Versuchungen und der Verant¬
wortlichkeit des täglichen Lebens, sondern auch durch Unglück und ge¬
scheiterte Hoffnungen oder durch ehrgeiziges Verlangen nach höherer
Geltung sich der Weltflucht zuwandten, und so konnte durch regeren
Zustrom neben und aus dem Einsiedlertum das Mönchtum sich heraus¬
bilden, in seinen höheren Formen gewissermaßen ein Zwischenglied zwischen
Einsiedlertum und reinerem Christentum, dessen Lehren es in kleinerem
Kreise und daher scheinbar zugleich gefahrloser und vollkommener zu
betätigen versuchte. Ganz ähnlich steht es mit dem Entstehen der Wieder¬
täuferorgien aus der Reformation. Die Lehre von der Freiheit des Christen¬
menschen, die Luther und Zwingli auf den festen Boden wissenschaftlicher
Bibelauslegung gründeten, wurde von den Schwärmern mit der mittel¬
alterlichen mystischen Vorstellung einer unmittelbaren Erfassung gött¬
licher Geheimnisse und eines innigeren, tieferen Verständnisses der Heils¬
tatsachen und Bibelworte durch bloße gefühlsmäßige Betrachtung oder
auch mit Hilfe visionärer Zustände und bedeutungvoller Träume verquickt
und damit dem neu erwachten religiösen Bedürfnis 1h Anlehnung an eine
früher mächtige und noch in der Tiefe lebendige Strömung der Weg zu
einer anscheinend sichereren und müheloseren Befriedigung eröffnet, die
zugleich dem Bedürfnis größerer Geltung des Einzelnen unmittelbarer ent¬
sprach, da die aus der verderbten Kirche zum wahren Glauben Durchge¬
drungenen und Wiedergeborenen das tausendjährige Reich vorzubereiten
und durchzuführen hatten. So schien die Gemeinschaft der Heiligen, in die
man durch die Wiedertaufe eintrat, das allgemein menschliche Bedürfnis
nach Schutz und Macht in einem neuen Verhältnis zu Gott und zur irdischen
Umgebung schnell zu befriedigen und konnte ebenso zu begeisterter Hin¬
gabe von Gut und Blut wie zu den wüstesten Ausschreitungen schwärme¬
rischen Handelns führen. Etwas anders liegt es beim Pietismus, der als
Rückschlag gegen die Aufklärung doch nur halb zu verstehen ist. Zutreffen¬
der faßt man wohl beide Bewegungen als einseitige Fortsetzung der Re¬
formationsbewegung nur in entgegengesetzter Richtung auf, indem das
religiöse Bedürfnis, das von Luther in einem für seine Zeit höchst glück¬
lichen Zusammenschluß von Verstand, Gefühl und Phantasie befriedigt
war, im weiteren Fortgang wieder getrennte Wege einschlug, die schon im
Mittelalter hier zur Mystik,' dort zur Scholastik geführt hatten. Der
Anarchismus aber hat es nur einmal und unter ganz ungewöhnlichen Um¬
ständen, die in Paris 1871 nach Aufhebung der Belagerung sich heraus¬
gebildet hatten, zu einer Massenbewegung gebracht, an der außer den
Führern nur die untersten Schichten der Bevölkerung teilnahmen. Diese,
die wenig zu verlieren hatten, während der Belagerung bei geringer Arbeit
an regelmäßige Verpflegung gewöhnt und sich ihrer Macht bewußt geworden
waren, sollten nun in die frühere Ordnung einlenken, durch Arbeit ihren
Unterhalt verdienen, Miete und Steuern zahlen und gehorchen, kurz die
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bisherige Ungebundenheit mit staatlichem Zwange und bürgerlichen Pflich¬
ten vertauschen. Daß unter solchen Verhältnissen die anarchistischen
Ideen der Führer das Bedürfnis der Masse nach Lebensversorgung und
Macht mit der Vorstellung leichterer und rascherer Befriedigung auf dem
Wege des Aufruhrs zu blutigen Taten entflammen konnten, dazu führte
nicht nur und nicht einmal vorzugweise die vorangegangene Denkarbeit
Proudhons und anderer Theoretiker des Anarchismus — sie gab nur die
neue Form, in der alte Instinkte wieder auflebten —, dazu gehörte vor
allem die Macht der Erinnerungen an die früheren Revolutionen, zumal
an die Schreckensherrschaft der Masse während der großen Revolution,
die jetzt aufs neue sich verwirklichen zu wollen schien. In allen von
Friedmann angeführten Fällen finden wir demnach elementare Bedürfnisse
wirksam, die Aussicht auf Befriedigung Anden in einer Verschmelzung
neuer einflußreicher Ideen mit alten in der Masse schlummernden und
durch die Berührung mit jenen zu frischem Leben erweckten Vorstellungen.
Nur ist solche Verschmelzung nicht etwa an sich eine besondere Eigen¬
tümlichkeit perverser Ideen; auch wenn eine neue, fruchtbare Idee sich
bildet, pflegt sie zunächst Bestandteile früherer Ideen in sich aufzunehmen,
mit ihrem neuen Inhalt zu vereinigen und erst in der weiteren Entwicklung
sich von dem nicht zu ihr Gehörigen zu befreien. Gerade die Entstehung
des Christentums mit seiner Erwartung baldigen Weltuntergangs und die
Reformation mit ihrer Bindung an die in ihrer ursprünglichen Niederschrift
auf Inspiration zurückgeführte Bibel und selbst an deren überlieferten
Wortlaut — man denke an Luthers Stellungnahme im Marburger Re¬
ligionsgespräch — weist diese Anknüpfung an Früheres und im Grunde
überwundenes — überwunden in der Idee, aber nicht in deren Träger —
deutlich auf. Der Einfluß der Zeitlage zeigt sich bei der Gestaltung neuer
Ideen eben auch in großen und fortschreitenden Denkern mächtig, auch
sie müssen, um mit Archimedes zu reden, einen festen Standort haben, um
die Welt aus den Angeln zu heben, und können ihn nirgends anders finden
als in den Bedürfnissen und Vorstellungen, die ihnen aus ihrer Zeit und
Umwelt heraus gegeben sind. Entspricht die Idee, die in ihnen mächtig
geworden ist, nicht auch den Bedürfnissen Anderer, und schließt sie sich
nicht wenigstens zum Teil an verbreitete Vorstellungen an, so kann sie die
Welt nicht oder doch erst dann aus den Angeln heben, wenn jene Voraus¬
setzung ihrer Wirkung erfüllt ist. Aber freilich tritt hier auch ein durch¬
greifender Unterschied zwischen fruchtbaren und perversen Ideen, die zur
Herrschaft gelangen, zutage, daß nämlich das Neue, was jene dem Zeit¬
inhalt hinzufügen, zu dessen Überwindung hinleitet, während das Besondere,
das diese mit ihm vereinigen, einer bereits überwundenen Vergangenheit
angehört und deshalb die Fortentwicklung unmittelbar hemmt; die neue
Richtung, die die perverse Idee der Zeitströmung gibt, weist rückwärts, die
neue Wendung, die von der fruchtbaren Idee ausgeht, führt vorwärts.
Jetzt, wo die ? in ihrer Bedeutung als Ausgangpunkt neuer
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Ideen hervorgetreten ist, dürfte auch der Grund einleuchten, weshalb ich
zwischen Trieb und Idee das Bedürfnis eingeschaltet habe. Die Grund¬
triebe sind überall und jederzeit vorhanden und erwachen auf innere oder
äußere Reize hin. Gelangen sie ohne die Empfindung einer Schwierigkeit
zur Befriedigung, so entwickelt sich aus ihnen kein Bedürfnis. Erst der
Widerstand, den sie, sei es im Innern, sei es in der Umwelt, finden, ruft das
Bedürfnis hervor, d. h. die unlustbetonte Vorstellung eines Mangels, dem
sich der Wunsch nach Abhilfe desselben gesellt. Solcher Widerstand
erwächst ihnen aber hauptsächlich aus den zeitlichen und örtlichen Ver¬
hältnissen, wie sie von der Natur oder den Mitmenschen hervorgebracht
werden. Das Bedürfnis ist das Ergebnis von Trieb und Auffassung der
Lage, es ermöglicht eine Richtungsänderung der Triebe und ihre Zusammen¬
fassung in einer Vorstellung. Veränderte oder anders aufgefaßte Verhält¬
nisse schaffen veränderte Bedürfnisse, die zu ihrer Befriedigung andere
Wege verlangen und daher andern Ideen zur Macht verhelfen, während die
Grundtriebe sich gleich bleiben und nur ihre besondere Richtung und Zu¬
sammenfassung sich ändert.
Einen besonders überzeugenden Beleg hierzu hat der jetzige Krieg
erbracht, der nicht nur ganz plötzlich und unvermutet, sondern auch ganz
allgemein und in weit größeren Ländergebieten, als es sonst der Fall zu
sein pflegt, die Lage der Massen von Grund aus veränderte und damit
andern Bedürfnissen und andern Ideen überragende Macht verlieh. Bei
uns in Deutschland hatte ein langer Friede und das allgemeine Vertrauen
auf unsere Volkskraft und die bewährte Heeresleitung das Bedürfnis nach
einer stärkeren, den allmählich und Vielen unmerklich veränderten Ver¬
hältnissen mehr entsprechenden Kriegsbereitschaft in weiten Kreisen ab¬
gestumpft, und zunehmender Wohlstand, der auch die Masse des Volkes
weit über den früheren Stand gehoben hatte, im Verein mit den Versiche¬
rungsgesetzen das Bedürfnis nach fortlaufendem Lebensunterhalt ge¬
schwächt, da seine Befriedigung wesentlich erleichtert und sich bei richti¬
gem Verhalten beinahe von selbst zu verstehen schien. So konnten sich
andere, weiter abgeleitete Bedürfnisse ausbreiten. Vielfach über das be¬
rechtigte Maß hinaus wuchs das Bedürfnis nach wirtschaftlichem Empor¬
kommen des Einzelnen und seines Standes, in die breiteren Massen drang das
Bedürfnis nach äußerem Glanz und Scheinwesen oder nach ungezügeltem
Sichausleben und unbekümmertem Genuß, daneben zu unserem Glück
auch das nach lebhafterer Anteilnahme an den Ergebnissen von Kunst
und Wissenschaft. In den letzten zwei Jahrzehnten trat auch das religiöse
Bedürfnis, das sich auf immer engere Kreise zurückgezogen hatte, in
weiterem, wenn auch immer gegen frühere Zeiten kleinem Umfang wieder
hervor und rang im Anschluß an die früheren, ihm nicht mehr genügenden
Vorstellungen um neue Formen der Betätigung. Zu gleicher Zeit griff
auch das Bedürfnis nach körperlicher Ausbildung und Kräftigung in allerlei
Gestalt um sich. Es waren also zum Teil durchaus berechtigte, d. h. der
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Erhaltung und Förderung des Einzelnen und der Gesamtheit nützliche Be¬
dürfnisse, die in immer wachsendem Umkreise das Volk erfüllten. Aber
ebensoweit und vielleicht noch weiter in die Massen hinein hatten sich
auch die für den Einzelnen und für das Ganze unfruchtbaren und deshalb
auf die Dauer schädlichen Bedürfnisse verbreitet, so daß den unbefangenen
Betrachter wohl die Sorge beschleichen konnte, ob unser Volk, das in
harter Not zur Kraft gelangt war, auch das Glück eines langen Friedens
und anerkannter Macht lange ohne Schaden ertragen könne. Da schuf
der unerwartet aufflammende Krieg wie mit einem Schlage von Grund
auf andere Verhältnisse, und aus ihnen erhob sich das allgemeine Be¬
dürfnis nach Schutz vor den Feinden, vor dem alle Einzel- und Gruppen¬
bedürfnisse zurückgedrängt wurden, und das die plötzlich zu gewaltiger
Macht anschwellende Idee gemeinsamer Verteidigung und Erhaltung des
Vaterlandes zum Ergebnis hatte. Hier hatte eine lange Geschichte vor¬
gearbeitet und allgemeine Denkgewohnheiten geschaffen, die wohl zeitweise
in den Hintergrund getreten, aber noch nicht erloschen waren und nun
das neu erwachende Bedürfnis unwiderstehlich in ihre Bahn zogen. Zu¬
gleich waren alle Maßregeln bis ins Kleinste in langer Friedensarbeit wissen¬
schaftlich durchdacht und vorbereitet, so daß die Anordnungen Schlag
auf Schlag und in folgerichtigem Zusammenhang erfolgten und Autorität
und Bedürfnis, suggestives und überlegendes Denken in der gleichen Rich¬
tung zusammenwirkten. Anders war es, als neben dem kriegerischen
Angriff der Feinde auch ihr Versuch, Deutschland durch Abschneidung
der Zufuhr zu bezwingen, allmählich bedrohlich wurde und das Bedürfnis
verschärfte, Nahrungsmittel und andere notwendige Güter sich nicht nur
für die Zukunft zu sichern, sondern auch für den Tag selbst zu verschaffen.
Hier versagte die bisherige Idee des freien Handels, und die Idee des
staatlichen Zwanges auch auf diesem Gebiete gewann immer mehr an
Boden, aber allgemeine Denkgewohnheiten fehlten, und was von Einzelnen
theoretisch durchdacht und in den Köpfen vieler Sozialisten herrschend
geworden war, entbehrte der Unterlage praktischer Anwendung und Er¬
fahrung und somit der bis ins einzelne gehenden Anpassung an die wirk¬
lichen Verhältnisse*. Kein Wunder, daß hier das Bedürfnis bald zu dieser,
bald zu jener Vorstellung greift in der Hoffnung, in ihrer Verwirklichung
Befriedigung zu finden, daß irreführende Schlagworte die Massen fort¬
reißen, und daß die Staatsgewalt, die, im Bewußtsein ihrer großen Verant¬
wortung mehr geschoben als führend, vorsichtig tastend vorwärts geht,
mit allen unter dem Zwang der Verhältnisse immer eingreifenderen Ma߬
nahmen wohl dringender Not wehren, aber das erregte Bedürfnis der
Massen nicht nach Wunsch befriedigen kann. Wir sehen deutlich die Be¬
mühungen der Regierung, auch auf diesem Gebiete den Anschluß an die
vorhandene und allmählich wachsende Erfahrung nicht zu verlieren, wir
freuen uns, daß günstige Umstände, wie die reichere diesjährige Kornernte,
ihren Bemühungen entgegenkommen und den Aushungerungsplan unserer
Zeitschrift fflr Psychiatrie ' XXIII. 2/3. 20
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Feinde vereiteln, aber ein allgemeines Vertrauen bleibt erklärlicherweise
auf diesem Gebiete aus, schon deshalb, weil eine seit langem vorbereitete
Organisation fehlt, die allein die Anordnungen der oberen Behörden auf
den einzelnen Fall anwenden und somit sinngemäß zur Ausführung bringen
könnte, und weil die deshalb unvermeidlichen Fehlgriffe den Anordnungen
selbst zur Last gelegt werden. Es ist sehr lehrreich, jenen Gegensatz des
Verhaltens der Masse dort zur Heeres-, hier zur Wirtschaftleitung zu
beobachten: dort von Anfang an die allgemeine Überzeugung, daß nur
gemeinsames Handeln und deshalb unbedingte Unterordnung unter die
Gebote der Heeresleitung zum Erfolg führen könne, und als dieser bald
und in immer wachsendem Maße eintrat,, ein immer stärkeres Vertrauen
auf die Fähigkeit der Führer, hier zunächst ein Kampf Aller gegen Alle,
dem nur wenige Einsichtige widerstanden, dann ein Wogen sich wider¬
sprechender, mehr oder weniger mangelhaft begründeter Ansichten, das
schließlich sich in den Ruf nach einem Lebensraitteldiktator zusammen¬
schloß, und als diesem Rufe so weit als möglich durch Errichtung eines
neuen Reichsamts entsprochen wurde, nach kurzer Frist Enttäuschung
und ein Zurückßauen der Bewegung, weil naturgemäß auch diese Maßregel
die hochgespannten Erwartungen der Menge nicht befriedigen konnte und
die dadurch erreichbare Besserung längere Zeit beansprucht. Aber das
Schutzbedürfnis schuf auch andere, in ihrer Übertreibung oft verderbliche
Vorstellungen, ich erinnere an die zeitweise ganz unüberlegt sich äußernde
Spionenfurcht, die mehrere Opfer erforderte und jeden Scheunenbrand,
jede Explosion auf Rechnung feindlicher Machenschaften zu setzen neigte.
Wie leicht da Gerüchte auftreten und sich verbreiten, die dann wieder das
allgemeine Schutzbedürfnis verschärfen, davon erlebte ich ein kenn¬
zeichnendes Beispiel. In meinem Heimatorte wurde eines Tages zu Anfang
des Krieges überall erzählt und lange geglaubt, daß in einer bestimmten
Straße zu genau angegebener Zeit ein als Krankenschwester verkleideter
Spion festgenommen sei; man habe unter dem Kleide einer Schwester, die
sich mit auffallend langen Schritten vorwärts bewegte, Männerstiefel
gesehen und die Polizei darauf aufmerksam gemacht, eine förmliche Jagd
auf die verdächtige Person sei erfolgt, diese habe sich in ein Haus gerettet,
sei aber dort erwischt, windelweich geprügelt und nur mit Mühe von der
Polizei dem Strafgericht der Menge entzogen worden. Unser früheres
Aushilfmädchen, das sonst nicht gerade zu Unwahrheit neigte, hatte ihrer
Angabe nach den ganzen Auflauf miterlebt und die Männerstiefel unter
dem Kleide sogar selbst entdeckt. Und doch war von der ganzen Ge¬
schichte nichts, aber auch gar nichts wahr, und das Mädchen hatte alle
Einzelheiten in der Erregung, die sie in jenen Tagen zwecklos umhertrieb,
teils von andern übernommen, teils sich aus den Fingern gesogen.
Scheint aber der jetzige Krieg, der das Bedürfnis als maßgebend für
den Einfluß der Idee auf große Volksbewegungen erwiesen hat, nicht auch
Friedmanns Behauptung zu widerlegen, „daß .auf politischem Gebiet
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wirklich reale und wichtige Interessen, wie z. B. die Schädigung des
Handels* und Erwerbsbetriebes, so gut wie nie imstande waren, die Völker
leidenschaftlich gegeneinander zu erregen“ (S. 302)? Tritt nicht immer
klarer hervor, daß der jetzige, wie viele frühere Kriege, für England,
unseren Hauptfeind, zunächst ein geschäftliches Unternehmen bedeutete,
daß wenigstens das politische England ihn auf sich nahm, weil es in ihm
,,eine nicht so leicht wiederkehrende Gelegenheit zu einem glänzenden
Geschäfte, d. h. der Vernichtung eines seiner gefährlichsten Konkurrenten,
ohne bedeutende eigene Anstrengung“ 1 ) sah? Das ist sicher richtig,
aber es gilt im wesentlichen nur für die maßgebenden Politiker, nicht für
das übrige Volk, das zum großen Teile den Krieg ebensowenig gewünscht
hat wie die überwiegende Bevölkerung der übrigen kriegführenden Länder.
Freilich konnte es sich leichter als diese mit der Tatsache des Krieges ab-
finden, weil es sich vor seinen Schrecknissen durch das Meer und die „un¬
überwindliche“ Flotte geschützt glaubte, und weil beim Fehlen der allge¬
meinen Dienstpflicht der Einzelne nicht selbst sein Leben für die Durch¬
führung des Krieges einzusetzen genötigt war. Daß aber die innere Zu¬
stimmung breiter Schichten zum Kriege nicht nur durch die „wirklich
realen und wichtigen Interessen“ des Landes bestimmt wurde, daß viel¬
mehr das ideelle Bedürfnis, die England zugeschriebene/ Rolle eines
Schützers des Rechts und der kleineren Staaten auch gegen Deutschland
zu wahren, daran beteiligt war, steht doch wohl außer Frage und läßt sich
nicht allein mit der jetzt üblichen Berufung auf den englischen Cant
abtun. Unter diesem Ausdruck, der, vom lateinischen cantus stammend,
ursprünglich den halb singenden, getragenen Predigertonfall bezeichnet,
in dem manche religiöse Sekten Bibelsprüche und moralische Gemeinplätze
auch bei alltäglichen Hantierungen und im Geschäftsleben gewohnheit¬
mäßig vorbrachten, versteht man jene im heutigen England wohl mehr
als anderswo verbreitete und zur Vollkommenheit ausgebildete besondere
Art der Heuchelei, die den Antrieb gewöhnlichen Eigennutzes mit christ¬
lichen und hochmoralischen Beweggründen zu umhüllen und zu verbergen
sucht, und es ist nicht zu leugnen, daß die englische Regierung seit Jahr¬
hunderten diesen Cant geschickter und erfolgreicher als andere Regierun¬
gen geübt und namentlich auch während dieses Krieges im vollen Bewußt¬
sein der Täuschung überreichlich benutzt hat. Aber man geht entschieden
zu weit mit der Annahme, daß sie damit nur auf die Verbündeten und
Neutralen habe Eindruck machen wollen, und daß das eigene Volk
die im Brustton der Überzeugung vorgetragene Behauptung, daß England
einzig für Belgiens Unabhängigkeit und zum Schutze anderer Länder gegen
Deutschlands Übergriffe und Barbarei das Schwert gezogen habe, als Cant
*) L. Löwenfeld, Mußte er kommen? Der Weltkrieg, seine Ursachen
und Folgen im Lichte des Kausalitätsgesetzes. Wiesbaden, Bergmann,
1916.
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durchschaut und nur aus schlauer Berechnung und politischer Erziehung
sich zu eigen gemacht habe. Für Gerechtigkeit und andere sittliche Güter
einzustehen, ist zwar ein weit abgeleitetes und deshalb bei den meisten*
nicht gerade tiefgehendes, aber zugleich ein weit verbreitetes Bedürfnis»
an das jemand, der die Massen erregen will und seine Sache versteht,
kaum je vergebens sich wenden wird, solange er sich mit begeisterter oder
entrüsteter Zustimmung begnügt und keine persönlichen Opfer verlangt.
Geht es an den eigenen Beutel oder Kragen, dann pflegt bei der Menge die
Berufung an die höchsten Güter der Menschheit zu versagen oder tut
dann nur etwa im Sinne des Cant ihren Dienst, indem sie gestattet, vor
Andern und vor sich selbst die sittlichen Beweggründe hervorzuheben und
die eigentlich wirksamen Triebfedern in den Hintergrund zu stellen. In
England genügte die Schilderung deutscher Frevel und Greuel zur Recht¬
fertigung des Krieges, so lange business as usual daneben möglich schien,
als aber die Lage gefährlich wurde, mußte der Schleier, der die wahren
Ursachen des Krieges einhüllte, an einzelnen Stellen zerrissen und den
Massen klargemacht werden, daß der Krieg einer wachsenden Not des
Landes abzuhelfen bestimmt war. Nur so konnte man hoffen, die Auf¬
wallung der Massen in zähe Entschlossenheit und Opferwilligkeit zu ver¬
wandeln. Es zeigen somit gerade die Vorgänge in England, daß nur wichtige
oder doch wichtig scheinende Bedürfnisse die Tatkraft erregen, sie zeigen
aber zugleich, daß Friedmann mit seiner Behauptung in gewissem Sinne
recht hat. Leidenschaftliche Erregung der Massen im Sinne heftigen
Aufflammens wird durch Anklingen sittlicher Ideen verhältnismäßig leicht
erzeugt, während nachhaltiger Wille der Masse einem — wirklichen oder
vermeintlichen — näherliegenden Bedürfnis entspringt.
Wenn ich sittlichen Ideen eine tiefergehende und andauernde Massen¬
wirkung abspreche, so schlage ich damit ihre Bedeutung für große Volks¬
bewegungen keineswegs gering an. Sie können eine auf näherliegenden
Bedürfnissen fußende Bewegung erheblich fördern oder beeinträchtigen
und sind deshalb auch in diesem Kriege in weitestem Umfange herange¬
zogen worden. Wie ist der sittliche Unwille in allen Ländern gegen uns
Deutsche aufgeboten und mit allen Mitteln genährt worden 1 Wie weit
man darin gegangen ist, zeigt ein nicht zu überbietendes Beispiel, das ich
der „Täglichen Rundschau“ entnehme: Eine in Dänemark erschienene
Schmähschrift „Klokke Roland“ von Joh. Jörgensen, in Dänemark in
17 Auflagen verbreitet und in wohl alle europäischen Hauptsprachen
übersetzt, läutet Sturm gegen die deutschen Bestien, die aus angeborener
Mordlust die Frauen schänden, die Kinder töten, die heiligen Gefäße der
Kirche beschmutzen, in den Städten sengen und plündern. Wie ein
greller Schrei des Wahnsinns klingt die Stimme dieser Glocke in die Welt
hinaus. Wachet alle miteinander auf und haßt diese Deutschen l Sie sind
der Auswurf der Erde! Sie sind ein Volk von Verbrechern und waren es
von jeher! Sie sind der ewige Barbarenaufruhr, der die gesitteten Völker
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bedroht. Sie sind ein Schwert, das sich an Blut satt trinken muß. Sie
schlagen allem Menschlichen und Göttlichen mit frecher Faust ins Gesicht.
Sie haben eine gemeine Freude daran, ihre Notdurft in geweihte Gefäße
zu verrichten und dem Heiligen ins Antlitz zu speien. Haßt die Deutschen,
schlagt sie in Kette nl Sperrt sie in ein unterirdisches Gewölbe der euro¬
päischen Weltl Aber nicht nur das Bedürfnis nach Sittlichkeit und Ge¬
rechtigkeit, auch religiöse Vorstellungen ruft der Verfasser, der vor 20
Jahren zum Katholizismus übergetreten ist und seine Schrift dem Kardinal
Mercier gewidmet hat, gegen uns auf: „Wir gehen dem Jüngsten Tage
entgegen, daran zweifeln nur wenig denkende Menschen. Der Krieg leitet
ihn ein.“ In stärkerer Weise kann wohl kaum ein sittliches Bedürfnis
gegen ein Volk wachgerufen werden. Wie verbreitet aber solche „Wahn¬
ideen“ sind und welche Verirrungen aus ihnen hervorgehen können, zeigt
auch beispielweise der Armeebefehl des französischen Generals Dubois,
Führers der 6. Armee, vom 2. Juni 1915, dessen Eingang lautet: „Mit
Entrüstung hat der Armeeführer erfahren, daß an einem Punkte der Front
Unterhaltungen und manchmal sogar Austausch von Händedrücken mit
Deutschen stattgefunden haben. Es fragt sich, ob es überhaupt möglich
ist, daß ein Franzose so tief sinke, um einem von diesen Banditen die Hand
zu drücken, die überall Brand und Zerstörung verbreiten, die Frauen,
Kinder und Greise morden, die verräterischerweise unsere Gefangenen
töten, indem sie sie ans Kreuz binden, und die unsere Verwundeten zu Tode
quälen.“ Dort ein neutraler und daher mit dem Schein der Unparteilichkeit
ausgestatteter Schriftsteller, dessen giftiges Buch weiteste Verbreitung
findet, hier die Autorität eines verantwortlichen Heerführers, beide in den
gemeinsten Beschuldigungen zusammentreffend, und doch, wie sehr auch
selbst in neutralen Ländern durch solche und ähnliche Kundgebungen
die öffentliche Meinung gegen uns eingenommen worden ist: wo nicht
eigene, näherliegende Bedürfnisse mitsprechen, vermochte alle Entrüstung
die Teilnahme am Kreuzzug gegen Deutschland nicht durchzusetzen.
Wohl aber haben in den uns feindlichen Völkern solche Veröffentlichungen
das Verlangen, Deutschland niederzuringen, verstärkt und dadurch, daß
Deutschlands Züchtigung als Forderung der Gerechtigkeit erschien, viel
dazu beigetragen, die Berechtigung des Krieges, deren Nachweis bei Be¬
schränkung auf den wahren Zusammenhang nicht möglich gewesen wäre,
den Massen darzutun; zugleich aber hat jene Lüge auch rohe und grausame
Handlungen gegen wehrlose Deutsche ausgelöst, die die Rache, vor der
unsere Heere Deutschland bewahrten, in Ermangelung des beschuldigten
Volkes am unschuldigen Einzelnen vollzogen.
Wie hier die Vorstellung deutscher Barbarei barbarische Antriebe
von Hemmungen befreite, die sonst derartige Ausbrüche in europäischen
Kulturstaaten doch wohl unmöglich gemacht oder ihnen wenigstens die
-entschiedene Mißbilligung weiter Kreise zugezogen hätten, so haben wir
-auch in Deutschland, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang zu
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Anfang des Krieges die befreiende Macht der rein sittlichen Idee erfahren.
Der Gedanke an die Gerechtigkeit unserer Sache, das Bewußtsein, daß
der Krieg von unserer Seite nicht leichtfertig durch Eroberungslust und
Begehrlichkeit entfesselt war, daß im Gegenteil unser Kaiser und unsere
Regierung den Willen zum Frieden bei früheren Gelegenheiten und ebenso
jetzt so weit getrieben hatten, als mit dem Schutze unseres Daseins nur
irgend vereinbar schien, hat durch Beseitigung hemmender Vorstellungen
nicht nur in der sozialdemokratischen Partei ganz wesentlich zum ein¬
mütigen Zusammenschluß des deutschen Volkes beigetragen. Denn mehr
als unseren Gegnern ist dem deutschen Volke das Bedürfnis eines reinen
Gewissens eingeprägt, und der Grundsatz: wright or wrong, my country
ist zum Leidwesen mancher bei uns nie verbreitet gewesen. Wir wollen uns
dessen frejien, um so mehr, als die Wurzel dieser oft als unvorteilhaft emp¬
fundenen Eigenart auf den Grundzug hinführt, den wir als höchstes Erbgut
unseres Volkes schätzen, und auf den wir auch jetzt die feste Hoffnung
unseres Sieges oder doch unseres Durchhaltens bauen. Gründlichkeit,
oft in Schwerfälligkeit und Grübelei ausartend, Folgerichtigkeit im Denken
und Handeln, leicht zu pedantischem Dogmatismus versteinernd, und
damit verbunden ein starkes Streben nach Sachlichkeit der Auffassung
und Beurteilung, das eher dazu führt, Fremdes zu überschätzen als unbe¬
fangen das Eigene hochzuhalten, das sind seelische Grundzüge, die sicher
dem deutschen Volke nicht allein eigen, aber in ihm im Guten und Schlech¬
ten verbreiteter sind und tiefere Wurzeln geschlagen haben als anderswo.
Sie haben uns den Ruf eines philosophischen und wissenschaftlichen Volkes
eingetragen, in Industrie und Handel, nicht zum wenigsten aber auch im
Militärwesen Deutschlands Leistungen gesteigert und zugleich auf sitt¬
lichem Gebiete unser Volk den besonderen Weg geführt, der durch die
Namen Luther, Lessing, Kant, Goethe und Schiller gekennzeichnet wird,
und auf den auch die Massen geleitet zu haben ein Verdienst preußischer
Zucht und des allgemeinen Schulzwanges ist.
Denn das wissenschaftliche Denken, das dem Bedürfnis engeren
Anschlusses an den wirklichen Zusammenhang entspringt, und das durch
jene unserem Volke vor andern eigene besondere Geistesrichtung ebenso
begünstigt wird, wie es fördernd darauf zurückwirkt, zeigt sich nicht nur
im Erkennen fruchtbar, sondern steht auch in engerem Zusammenhang
mit dem sittlichen Wollen, als es zunächst den Anschein hat. Wenn der
Trieb zum Wollen wird durch das Bewußtsein des Ziels und der Beweg¬
gründe, so wird er zum sittlichen Wollen dadurch, daß er das rechte Ziel
aus den rechten Beweggründen erstrebt. Das Gewissen, in dem sich das
Bedürfnis rechten Handelns äußert, weist dem sittlichen Wollen den Weg,
den die Überlieferung und eigenes Denken gebahnt hat.* Je mehr aber jene
Überlieferung auf wissenschaftlich haltbarem Grunde ruht, d. h. der Wirk¬
lichkeit angepaßt ist, um so sicherer führt sie ein Volk durch Gefahren und
ist geeignet, dem Einzelnen dauernde Befriedigung zu gewähren und alle
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Arbeit segensreicher für die Menschheit zu gestalten. Der große Wurf
eines religiösen und sittlichen Genies ist ja nur insoweit glücklich, als er
den Ertrag wissenschaftlichen Denkens, das er befruchtet und schließlich
richtunggebend beeinflußt, unbewußt und oft im Widerspruch mit zeit¬
genössischen Ansichten vorwegnimmt, und er vermag, so sehr er an und
für sich das Wollen zu versittlichen geeignet ist, auf die Dauer nur dann
seine ursprüngliche Wirkung zu bewahren oder neu zu entfalten, wenn die
durch ihn zur Herrschaft gelangte Idee sich durch Anpassung an die stets
neu auftauchenden Bedürfnisse und doch im Geiste strengster Sachlich¬
keit umgestaltet und damit lebendig und mit voller Kraft in den Besten
fortzuwirken imstande bleibt. Sachliches Denken, mag es in den einzelnen
Wissenschaften oder im philosophischen Zusammenschluß der Wirklich¬
keit sich nähern, führt deshalb auch, wenngleich oft auf weiten Umwegen
sich verzweigend und scheinbar weitab leitend, schließlich doch zur Aus¬
gestaltung und Vereinheitlichung der sittlichen und religiösen Idee und
ändert hierdurch langsam und unmerklich weiterhin auch den Inhalt
dessen, was dem Einzelnen sein Gewissen sagt. Der tiefste Grund, auf dem
die Macht des Gewissens wie des wissenschaftlichen Denkens beruht, ist
ja eben das Bedürfnis nach^sachlichem, nicht vom eigenen vorübergehen¬
den Gefühl und wechselnden Vorstellungen bestimmtem Handeln, nach
Anpassung dort an eine zunächst geahnte, hier an eine sogleich denkend
erfaßte Wirklichkeit, und wie der Denker, um sein Ziel zu erreichen, ge¬
wissenhaft Vorgehen muß und dadurch sein Gewissen in dieser Richtung
weiter bildet, so vermag er auch bisweilen durch fernab liegende wissen¬
schaftliche Ergebnisse hindurch auf das Gewissen Anderer inhaltgestaltend
einzuwirken.
Daß ich das Gewissen als Ausdruck eines Bedürfnisses auffasse und
damit vom Triebe ableite, mag zunächst manchen deshalb befremden,
weil es in der Form des Gebotes „Du sollst“ auftritt und deshalb gewöhnlich
den Trieben entgegengestellt wird. Doch auch wenn diese wirklich, wie es
beim Menschen zunächst den Anschein hat, nur der Erhaltung des leib¬
lichen Ich dienten, würde das Gewissen, das offenbar ein ganz anderes Ziel
verfolgt, im Gegensätze zu ihnen stehen. Aber im Tierreich, besonders
deutlich bei manchen Insekten, sehen wir, daß die Triebe, je unbewußter
und eindeutiger sie das Verhalten bestimmen, um so mehr im Falle eines
Widerspruchs zwischen beiden Wirkungen nicht die Erhaltung des Einzel¬
nen, sondern die Erhaltung der Gemeinschaft und damit der Art fördern,
und wir leiten dies davon ab, daß die Gemeinschaft, bei der das Triebleben
in solcher Weise geordnet ist, im Kampfe ums Dasein am besten besteht.
Je mehr in der Reihe der Lebewesen mit zunehmendem Bewußtsein
statt bloßer Triebe Bedürfnisse auftreten und deren Befriedigung nicht
nur für die Gegenwart, sondern auch für eine immer weitere Zukunft ins
Auge gefaßt wird, um so verwickelter und einander widerstreitender ge¬
staltet sich der Zusammenhang der Vorstellungen, der den Bedürfnissen
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entspringt und ihrer Abhilfe dient. Zugleich aber vertieft sich mit der
Zunahme des Bewußtseins die Kluft zwischen der eigenen Person und den
übrigen Menschen, und die eigene Person gewinnt auf Grund des unmittel¬
baren Gefühls eine weit größere Bedeutung, so daß, wenn wir vom Ge¬
schlechtstrieb absehen, im Einzelleben die Triebe mehr gepflegt und ge¬
wohnheitmäßig befriedigt, also gestärkt werden, die auf die Erhaltung
des Einzelnen und erst hiervon abhängig und in merkbarem Abstande
auch auf die Erhaltung der hierzu notwendigen kleineren Gemeinschaft
gehen. Erst allmählich und auf Umwegen entstehen weiterhin Bedürf¬
nisse, die der Erhaltung größerer Gemeinschaften dienen. Was auf früheren
Stufen unbewußter Trieb war, wird jetzt durch Überlegung Einzelner
gewonnen, und mag diese Überlegung einseitig religiöser oder sittlicher
Art sein oder vom Standpunkte des Nutzens ausgehen, immer wird das
Schlußergebnis die Ausdehnung der Gemeinschaft — wenn auch in mannig¬
facher Abstufung — auf die gesamte Menschheit sein, also weit über die
dem bloßen Triebe gezogenen Schranken hinausweisen. Am raschesten
und eindeutigsten kommt zu diesem Schlußergebnis die religiöse und
sittliche Betrachtung, jene, indem der Familiengott sich zum Volksgott
und weiter zum einzigen Gott entwickelt, dem nun die gesamte
Menschheit angehört, diese, indem die Überlegung die wesentliche Gleich¬
heit und damit Gleichberechtigung aller Menschen klar vor Augen stellt.
Erst viel später und auf breitester Grundlage führt die vom Standpunkte
des Nutzens ausgehende Überlegung zur Überzeugung, daß die gesamte
Menschheit den Einzelnen angeht, und zwar in immer stärkerem Maße,
je mehr sowohl Handel und Verkehr wie geistige Bestrebungen sich aus¬
dehnen und eine Gemeinsamkeit und gegenseitige Abhängigkeit der Völker
hervorbringen. So fällt das Endergebnis der Überlegung vom religiös¬
sittlichen und vom Nützlichkeitstandpunkt in der Auffassung der ge¬
samten Menschheit als einer einzigen großen Gemeinschaft zusammen.
Aber freilich lautet die Antwort auf die Frage, wie ich mich nun zu den
einzelnen Angehörigen dieser Gemeinschaft zu verhalten habe, entsprechend
dem Ausgangpunkte beider Betrachtungsarten grundverschieden, weil
jeder Ideenkreis das Verhältnis zu den übrigen Menschen in anderer Weise
abstuft: dort ist der Nächste der, der meines Beistandes zunächst bedürftig
ist, hier der, der mir am meisten zu nützen die Macht und den Willen hat,
und ein wenigstens in der Mehrzahl der Fälle einheitliches Verhalten als
Ergebnis beider Betrachtungsarten springt erst dann heraus, wenn beide
nicht nur in genauer Überlegung bis zu Ende geführt sind, sondern auch
das Ergebnis dieser Überlegung maßgebend für das Handeln
und zwar nicht etwa für das Handeln Einzelner, sondern für
das der Gesamtheit maßgebend geworden ist. Da ein solcher all¬
gemeiner Sieg der Idee aber erst in einer unendlich fernen Zukunft,
etwa im tausendjährigen Reich, Aussicht auf Verwirklichung hätte, bleibt
für die Welt, in der wir leben, der Zwiespalt zwischen Egoismus und sittlich-
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religiöser Forderung sogar schon in der Mehrzahl der Fälle unausgeglichen
bestehen. Wieviel mehr erst in der Minderzahl, wo eine sachliche Über¬
legung im Dienste des Egoismus unter allen Umständen zu durchaus
anderem Handeln führen muß als im Dienste des religiös-sittlichen Be¬
dürfnisses. Und da bei gleicher Ausstattung mit Überlegung und Tat¬
kraft der Egoismus im allgemeinen die größere Aussicht des Erfolges für
sich hat, und zwar um so größere, je weniger er durch sittliche Regungen
gehemmt wird, müßte da nicht der Kampf ums Dasein dem Egoismus
um so sicherer zum Siege und allmählich zur Alleinherrschaft verhelfen,
je feiner und folgerichtiger die Überlegung sich ausbildet?
Dies wäre sicher richtig, wenn es immer nur auf Durchschnittleistun¬
gen ankäme. Unter sonst gleichen Verhältnissen hat aber, wenn es auf
höchste Kraftanspannung ankommt, der von einer sittlichen Idee geleitete
Wille einen Vorsprung vor dem egoistisch bestimmten Willen dadurch,
daß er ohne entscheidenden Ausblick auf das Wohl des Trägers sein Ziel .
verfolgt, daher Gefahren leichter auf sich nimmt und unbeirrt das Äußerste
da wagen kann, wo es dem Egoismus seiner Grundlage nach nicht möglich
ist. Freilich wird dann, wenn es gilt, die Früchte dieser Höchstleistungen
zu ernten, der Egoismus gewöhnlich jenen Vorsprung wieder einholen und
so trotz seiner Unterlegenheit in Höchstleistungen schließlich doch die
größere Aussicht haben, sich auf die Dauer im Kampfe ums Dasein erfolg¬
reich durchzusetzen.
So sehr dies aber im Leben der Einzelnen zutrifft, so wenig gilt es
für die staatliche Gemeinschaft. Selbst wenn ein Staat aus lauter Egoisten
bestände, die sachlich denkend den reinen Ichstandpunkt durchaus folge¬
richtig bis zu Ende führten und danach handelten, so würde jene Be¬
trachtung nur so lange richtig sein, als es diesem Staate gelänge, einen Zu¬
sammenstoß mit andern Staaten zu vermeiden, deren Bürger in stärkerem
Maße aus sittlichen Beweggründen handelten. Diese Staaten würden
jenem nach obigen Darlegungen in bezug auf Höchstleistungen ihrer
Bürger überlegen sein und ihn deshalb im friedlichen Wettbewerb unter
sonst gleichen Voraussetzungen überflügeln, wenn auch hier ein Ausgleich
durch Übernahme der Errungenschaften, zumal auf wissenschaftlichem
Gebiete, eher möglich ist. Daß jene Überlegenheit aber im Fall eines
Krieges ungeschmälert zutage treten muß, leuchtet ein, da der reine Egois¬
mus zum unbedingten Opfer für den Staat unfähig ist und darum auch
unfähig zum unbedingten Willen, ihm den Sieg unter allen Umständen
zu erkämpfen und hierfür das Höchste zu leisten. Der Staat, in welchem
die sittliche Idee eine überwiegende Macht darstellt, mag daher jenem
aus folgerichtigen Egoisten bestehenden Staate unter gewöhnlichen Ver¬
hältnissen vielfach unterlegen sein, da dieser in der Wahl seiner Mittel
durch sittliche Erwägungen nicht beschränkt ist, und z. B. im Cant, solange
derselbe nicht allgemein durchschaut wird, einen vorzüglichen Schutz
sittlich denkenden Völkern gegenüber zur Anwendung bringen kann:
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die grundsätzliche Überlegenheit wird jedenfalls dann offenbar werden,
wenn es ums Letzte geht und der Sieg davon abhängt, daß der Einzelne
sich ganz für das Gemeinwohl einsetzt.
Wenn nun auch der hier angenommene Fall nicht der Wirklichkeit
angehört, da es einen nur aus reinen Egoisten und noch dazu folgerichtig
denkenden Egoisten bestehenden Staat nicht gibt, so sind doch Unter-
schiede der Verbreitung sittlicher und egoistischer Bedürfnisse in den
Massen unzweifelhaft zwischen einzelnen Völkern vorhanden und müssen
im Sinne jener Folgeerscheinungen wirken. Nicht als ob jeder Einzelne
oder auch nur ein beträchtlicher Teil eines Volkes wissenschaftlich dächte
und eine dem sittlichen oder egoistischen Ausgangpunkt sich angliedernde
Gesamtanschauung folgerichtig auszugestalten imstande wäre, wohl aber
teilen die von den geistigen Führern geformten Ideen, sobald sie einem
Bedürfnis entsprechen, sich zunächst einer meist rasch sich vergrößernden
Anzahl von Gebildeten mit, die, weniger schöpferisch als aufnahmefähig
und nachschaffend, das Gebotene in sich verarbeiten und weiter verbreiten.
Je größere Kreise die Bewegung zieht, um so mehr weicht dann das denkende
Erfassen der Idee der autoritativen Einpflanzung, die Friedmann unter
dem Suggestivdenken befaßt, und von der schon hinlänglich die Rede
war. Ist die Idee erst in den maßgebenden Schichten zur Herrschaft
gelangt, so wird sie durch Gewöhnung und Erziehung weiter befestigt,
soweit nicht stärkere Bedürfnisse dem entgegenwirken.
•Freilich führt wissenschaftliches Denken, auch wenn es noch so
vielseitig begründet ist und zu noch so einheitlicher Auffassung der Wirk¬
lichkeit fortschreitet, für sich allein nicht zur Überwindung des Egoismus
durch Sittlichkeit. Wohl begünstigt wissenschaftliche Tätigkeit die Sitt¬
lichkeit dadurch, daß sie gewissenhaftes Vorgehen verlangt und daran
gewöhnt, eine Sache um ihrer selbst willen, nicht ihres Nutzens wegen, zu
betreiben. Mag jemand zunächst auch aus eigennützigen Beweggründen
nach Erkenntnis streben, ihm wird leicht und unmerklich zum Ziel, was
ihm anfangs Mittel war, wie Anhäufung von Reichtum, begonnen als
Mittel zum Genuß und zur Sicherung desselben, so häufig später zum
Selbstzweck wird. Aber über seinen eigenen Bereich hinaus kann wissen¬
schaftliches Denken sittliches Handeln nicht hervorbringen; nur da, wo
bereits ein Keim der Sittlichkeit vorhanden ist, kann er mit Hilfe wissen¬
schaftlichen Denkens erstarken. Und einen solchen Keim, der in fast allen
Menschen vorhanden ist, stellt das Bedürfnis zur Erhaltung der kleineren
Gemeinschaft dar, auf die der Einzelne zur Selbsterhaltung angewiesen ist.
Wer, zunächst aus Egoismus für die eigene Familie, den eigenen Wirkungs¬
kreis oder, wenn feindliche Angriffe das Bedürfnis eines größeren Zusam¬
menschlusses herbeiführen oder wach halten, für den eigenen Stamm sorgt,
wird hierin nicht nur durch Überlegung bestärkt, sondern auch er macht
leicht die Erfahrung, daß das, was ursprünglich nur Mittel war, leicht zum
Zweck auswächst: der Erhaltungstrieb, der erst in gewissem Abstand vom
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eigenen Wohl das Wohl der Familie oder des Stammes in sein Ziel ein¬
schließt, baut diese Nebenleitung dadurch, daß er sich immer häufiger
und stärker in ihr betätigt, allmählich so fest aus, daß die Familie oder
der Stamm dem Menschen gleich wichtig oder schließlich gar wichtiger
wird als das eigeneich. Man spricht da gern vom erweiterten Ich oder vom
sekundären im Gegensätze zum primären Ich oder bezeichnet auch wohl
die Familie als Urzelle der Sittlichkeit; doch wie man auch jene Lenkung
des Egoismus in sittliche Bahnen darstellen mag, es wird in ihr die bei
Zunahme des Bewußtseins sich öffnende Kluft zwischen Ich und Gemein¬
schaft durch das Bedürfnis überbrückt. In gleichem Sinne wirkt dann
aber, und mit immer stärkerer Kraft, die Überlieferung, die für die Er¬
haltung menschlicher Gemeinschaften die gleiche Wichtigkeit gewinnt wie
die Naturordnung der Triebe im Tierreich, wie diese im Kampfe ums Dasein
erworben und seinen Forderungen mit dem Ziele der Erhaltung der Ge¬
meinschaft angepaßt. Solange die Verhältnisse sich nicht wesentlich
ändern, pflegt auf tieferen Kulturstufen ein Widerstreit zwischen den
Forderungen der Überlieferung und egoistischen Strebungen des Einzelnen
verhältnismäßig selten aufzutreten; wo er aber auftritt, erfolgt er in der
Form des Kampfes zwischen Neigung und Gewissen. Denn die Über¬
lieferung, soweit sie das Handeln regelt, tritt dem Einzelnen als Gebot ent¬
gegen: du sollst handeln, wie die Ahnen gehandelt, wie die Götter es wollen,
wie es recht und gut ist; das haben die Eltern durch Ermahnung und Bei¬
spiel, in Liebe und Strenge, das haben die, die du achtest, und deren
Achtung du dir erwerben und erhalten willst, das haben die Götter selbst
dir ins Herz gepflanzt; handelst du anders, so lösest du innerlich dich von
der Gemeinschaft der Tüchtigen und Frommen, die der Überlieferung
treu sind, und verdienst die Strafe der Menschen und Götter. So spricht
in der Stimme des Gewissens zunächst die Vergangenheit und fordert ein
Handeln im Sinne der Erhaltung und Förderung der Gemeinschaft, ein
Handeln, das gerade, weil seine Richtung im Gegensätze zur Vereinzelung
des Egoismus dem Bedürfnis der Gesamtheit angepaßt ist und dessen Be¬
friedigung zum Ziele hat, in Einklang setzt mit allem, was als gut und edel
und göttlich gilt, und somit inneren Frieden zu schaffen geeignet ist.
Wurzelt das Gewissen in der Überlieferung, so muß besonders da,
wo deren Führung nicht ausreicht, wo eine neue Lage neue Bedürfnisse
hervortreibt und gewohnte Bahnen zu deren Befriedigung nicht vorhanden
sind, die Stimme des Gewissens leicht übertönt werden, bis sie durch Über¬
legung ergänzt und den neuen Anforderungen gerecht wird. Das zeigt sich
beim Einzelnen in der Pubertätszeit, bei der Gesamtheit zur Zeit großer
Umwälzungen, wenn etwa einem Volke eine überlegene Kultur zugeführt
wird oder einschneidende wirtschaftliche Änderungen sich geltend machen.
Da hierdurch die Vorstellungen vermehrt, durch ihren Gegensatz verdeut¬
licht, zugleich aber neue, oft stark vom Bisherigen abweichende Gefühls¬
zuordnungen gebildet werden und sich erst allmählich befestigen müssen,
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das Bewußtsein sich also rasch erweitert und langsamer auch vertieft
haben wir in solchen Zeiten einen ähnlichen Fall wie bei der Entwicklung
der Menschheit aus der Tierheit, nämlich den, daß mit der Zunahme des
Bewußtseins die bisherigen Triebe in Unordnung geraten und die eigene
Person größere Bedeutung gewinnt. Nur ist in den jetzt betrachteten Fällen
immerhin eine Überlieferung sittlicher Gedanken und damit eine Bindung
des Denkens und Fühlens an die Vergangenheit da und kann daher auch
mit den neuen Vorstellungen zu neuen Gebilden sich vereinigen, so daß
ebenso, wie in solchen Zeiten der Egoismus in Vielen stärker und in unge¬
wohnter Gestalt hervortritt, auch neue Formen der Sittlichkeit in buntem
Gemisch und vielfach einander entgegengesetzt auftauchen, von denen
dann diejenigen, die der Überlieferung und den neuen Bedürfnissen am
besten angepaßt sind, am meisten Aussicht haben, sich allmählich im
maßgebenden Teil der Gesamtheit durchzusetzen und die Überlieferung
und mit ihr den Gewissensinhalt späterer Geschlechter in ihrem Sinne zu
beeinflussen. Ein naheliegendes Beispiel bietet die Renaissancezeit, aber
auch die Umwälzung der Produktions- und Handelsverhältnisse im
19. Jahrhundert.
Die Stimme des Gewissens ist demnach die Form, in der die Über¬
lieferung auf das Handeln des Einzelnen unmittelbar autoritativ wirkt.
Ein vom Selbsterhaltungstrieb abgeleitetes Bedürfnis gibt der Autorität
der Überlieferung Nachdruck, das Bedürfnis, mit der Gemeinschaft in
äußerem und innerem Zusammenhang zu bleiben, Vorbildern, mögen sie
der Überlieferung oder persönlicher Erfahrung entnommen sein, zu folgen
und sich Achtung zu erwerben nicht nur vor Andern, sondern auch vor
sich selbst. Dies Bedürfnis ist in früher Jugend in Anknüpfung an zahllose,
im einzelnen der Erinnerung entfallene Vorgänge entstanden und weiter
befestigt, so daß es als ursprünglich und in seinem Keime angeboren er¬
scheinen kann. Durch Anknüpfung an religiöse Vorstellungen gewinnt es
eine besondere Macht und kann dem, der eine metaphysische Wirklichkeit
anerkennt, auch dann mit Recht als göttliche Gabe gelten, wenn er es auf
Überlieferung und Erziehung begründet, ja auch dann, wenn er die Wirkung
des Gewissens wie die der „Wahnideen im Völkerleben“ auf Wachsuggestion
in Friedmanns Sinne zurückführt und „eine nicht zu leugnende Ver¬
wandtschaft mit der Dressur höherer Tiere“ annerkennt (S. 280).
Diese Verwandtschaft liegt ja nur in der Einpflanzung von außen
durch eine physisch und autoritativ stärkere Macht, sei es eines Einzelnen,
sei es der Umwelt im ganzen, und in den Folgen dieser Einpflanzung.
Friedmann berichtet an anderem Orte *): „Wer einen Hund besitzt, weiß,
daß innere, den Eindruck der Reflexion darbietende Kämpfe täglich bei
ihm sich ereignen, der Hund sieht bald auf das Verbotene, bald auf den
*) Friedmann, Weiteres zur Entstehung der Wahnideen und über
die Grundlage des Urteils. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. II, S. 17.
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Herrn und läßt, auch wenn dieser keinerlei Zeichen gibt, oft unter Stöhnen
von seinem Vorhaben ab. Ebenso weiß es der Hund ganz wohl, wenn er
nach strafbarer Handlung eine Züchtigung zu erwarten hat, nur ver¬
stehen die Hunde, welche ich persönlich beobachten konnte, nicht zu unter¬
scheiden, ob ihr Herr den Fehltritt beobachten konnte oder nicht, z. B.
wenn er vor Ankunft des Herrn geschah.“ Also auch bei diesen Hunden
wird das Unbehagen, das dem Zuwiderhandeln gegen das Gebot folgt,
durch bloß summarische Erinnerung an frühere Erlebnisse geweckt, „es
fehlt die Auseinanderlegung eines Erinnerungskomplexes in seine einzelnen
Vorstellungselemente“ 1 ), und der abgeleitete Trieb, der im Widerstreit
mit einem ursprünglichen Triebe unterlag, scheint als Folge seiner Hem¬
mung nur ganz im allgemeinen die unlustbetonte Vorstellung der Strafe zu
hinterlassen, wie das böse Gewissen die unlustbetonte Vorstellung der
Schlechtigkeit oder Unwürdigkeit. Dieser Unterschied der unlustbetonten
Vorstellung entspricht der verschiedenen Bewußtseinsstufe und der ver¬
schiedenen Art der Einprägung beim Hunde und Menschen, und man
kann, hiervon abgesehen, somit beide Vorgänge in ihrer Entstehung und
seelischen Wirkung sehr wohl miteinander vergleichen, und ebenso darin,
daß ein fortgesetztes Verhalten im Sinne der Dressur oder des Gewissens
die Macht des abgeleiteten Triebes steigert, dagegen wiederholte Siege
der ursprünglichen Triebe die Dressur und das Gewissen rasch um die
langsam erworbene Wirkung bringen. Dagegen tritt ein wesentlicher
Unterschied zutage, wenn wir uns von den psychologischen Vorgängen zu
deren Zweck und Nutzen wenden. Im Gegensätze zum menschlichen Ge¬
wissen fördert die Dressur, die den Hund mit seinen ursprünglichen
Trieben entzweit, ihn nicht an und für sich in seinem Innenleben oder im
Kampfe ums Dasein, sondern nur im Hinblick auf sein dienendes Verhältnis
zum Menschen, ihr Zweck ist die Brauchbarkeit des Hundes nicht für
seinesgleichen, sondern für den Menschen, ja sie bietet nicht einmal die
Aussicht, daß auch bei völligem Siege der Dressur in einer Anzahl von
Hunden und bei Weiterbildung der entsprechenden Anlage durch passende
Zuchtwahl ihren Nachkommen je ein Nutzen erwächst, der nicht durch
ihre Beziehungen zum Menschen bedingt wäre, kurz, die Dressur des Huudes
dient in allem einem artfremden Zweck, während das Gewissen den Keim
zu einer höheren Entwicklungsstufe der Menschheit enthält nicht im Sinne
einer Anpassung an eine fremde Wesensart, sondern im Sinne der Aus¬
bildung und Vereinheitlichung der in ihm angelegten Triebe zum Vorteil
der Menschheit selbst. Der durch Dressur erlangte Gehorsam des Hundes
macht ihn zwar von seinen ursprünglichen Trieben in weitem Umfang
unabhängig, aber vom Menschen abhängig; das Gewissen schafft nicht nur
weitgehende Unabhängigkeit von den ursprünglichen Trieben, sondern
auch Selbständigkeit gegenüber der Umwelt.
*) Ebenda S. i8.
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Kleinere Mitteilungen.
Der ursprüngliche Inhalt des Gewissens ist durch die Überlieferung
bedingt, der Inhalt kann aber durch Überlegung erweitert und den wech¬
selnden Anforderungen besser angepaßt werden. Wissenschaftliches
Denken, insofern es den Wert der das Handeln leitenden Vorstellungen
für den Einzelnen und für die Gesamtheit aufweist und einen einheitlichen,
der Wirklichkeit angepaßten Zusammenhang herstellt, trägt daher nicht
nur wesentlich zur Ausgestaltung und nachhaltigen Begründung der sitt¬
lichen Idee bei, welche von wechselnden Antrieben unabhängig macht und
eine Stetigkeit der Lebensführung gewährleistet, sondern ermöglicht
auch, von je breiterer Grundlage es ausgeht, um so mehr, auch neuen
Bedürfnissen und unvorhergesehenen Lagen gegenüber die einmal ein-
geschlagenen Richtlinien festzuhalten, und beugt somit einer Unsicher¬
heit des Gewissens, einer „Verwirrung des Gefühls“ vor.
So fördern sittlich gerichteter Wille und wissenschaftliches Denken
sich gegenseitig, und zwar in viel höherem Maße, als dies zwischen Egois¬
mus und wissenschaftlichem Denken möglich ist. Den Boden des reinen
Egoismus verläßt schon derjenige, der nicht zu seinem Vergnügen oder zu
seinem Nutzen wissenschaftlich tätig ist, sondern Erkenntnis um ihrer
selbst willen sucht. Der folgerechte Egoist, der, wie Stirner will, seine Sache
auf nichts als auf sich selbst stellt, den das Gemeinwohl nicht kümmert
und der die Gesetze umgeht, bis er Kraft gesammelt hat, sie zu stürzen,
denkt nicht wissenschaftlich in umfassendem Sinne, sonst würde er finden,
daß solches Handeln auf die Dauer den Boden untergräbt, auf dem es
wirksam sein kann. Stirners Versuch, den Egoismus philosophisch aus¬
zugestalten, zeigt jedenfalls, daß ein Volk, welches diese Richtung ein¬
schlüge, rasch der Schwäche und Auflösung verfallen müßte. Aber hierzu
besteht keine Gefahr; jeder Staat, der sich im geschichtlichen Leben be¬
hauptet, beweist damit schon, daß neben dem Egoismus, mag dieser sich
noch so rein in Einzelnen erhalten oder rein entwickeln, die auf Über¬
lieferung beruhende Sittlichkeit in breitem, wenn auch vielleicht flachem
Strome die Masse seiner Bürger durchdringt. Die Überlegung des Egoismus
will im allgemeinen nicht dessen philosophischen Standpunkt klarlegen,
sondern das Handeln im egoistischen Sinne regeln und führt daher in der
Welt, in der wir leben, leicht zum Cant, aber nicht zu einer wissenschaft¬
lichen Forschung über den Zweck des Lebens und Handelns, der ja dem
wurzelechten Egoismus bereits feststeht. Eine philosophisch-wissenschaft¬
liche Behandlung dieser großen, sich stets von neuem aufdrängenden
Fragen gelingt in umfassender Weise nur auf dem Boden der Sittlichkeit.
Wo sittliche Überlieferung und wissenschaftliches Bedürfnis Zusammen¬
treffen, werden daher die sittlichen Leitideen nicht nur besonders um¬
fassend und gründlich ausgearbeitet werden, sondern auch die tiefste und
breiteste Wirkung ausüben können. So haben die Grundgedanken Luthers,
Kants und unserer großen Dichter das Volk, aus dem sie hervorgingen,
und dessen Bedürfnissen sie entgegen kamen, in weiterem Umfange beein-
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Hussen können als andere Völker, deren in manchem abweichende Bedürf¬
nisse von ihren hervorragenden Denkern in anderer Weise befriedigt und
in andere Richtung gelenkt wurden. Wie sehr hier das Bedürfnis mit¬
spricht, davon haben wir ein naheliegendes Beispiel in Shakespeare, dessen
rein sachliche und zugleich im höchsten Sinne sittliche Behandlung dramati¬
scher Vorwürfe größerer Empfänglichkeit in Deutschland als in seinem
Vaterlande begegnet und ihm bei uns eine viel allgemeinere und tiefere
Wirkung verschafft, während er auf der englischen Bühne mehr ein prunk¬
volles und durch den Ruhm seines Namens gesichertes Scheinleben führt.
Man braucht durchaus nicht blind zu sein gegen die große Ver¬
breitung egoistischen, die Gesamtheit schwer schädigenden Handelns auch
unter uns, die sich allerorten und mit einer oft ebenso unbefangenen wie
erschreckenden Rücksichtlosigkeit der Beachtung aufdrängt, und kann
doch die Überlegenheit deutscher Sittlichkeit und Sachlichkeit anerkennen
und darauf die Zuversicht deutschen Sieges gründen. Einmal steht es,
soweit darüber jetzt ein Urteil möglich ist, in Deutschland mit egoistischen,
dem Gemeinwohl verderblichen Machenschaften nicht schlimmer als in
den uns feindlichen Ländern, wohl aber insofern erheblich besser, als die
maßgebenden Männer unserer Regierung nicht nur selbst sittlich rein,
sondern auch von Kreisen, die jenen Bestrebungen zugetan sind, persönlich
unabhängig dastehen; dann aber beruht ja unsere Zuversicht nicht allein
darauf, daß Sittlichkeit und PHichtbewußtsein in unserem Volke ver¬
breiteter ist und tiefer wurzelt als bei unseren Feinden, sondern auf der
Verbindung dieser besonderen Art der Sittlichkeit mit über dem Durch¬
schnitt stehendem sachlichen Denken. Um dessen sicher zu sein, brauchen
wir nur die Beurteilung der jetzigen Kriegs- und Wirtschaftlage bei uns
und bei unseren Gegnern zu vergleichen und die Forderungen zu betrachten,
die im Vierverband für die künftigen Friedensbedingungen nicht etwa von
unmaßgeblichen Einzelnen, sondern von verantwortlichen Staatsmännern
und tonangebenden Zeitungen bei jeder Gelegenheit laut vor aller Welt
verkündigt werden. Gewiß wird man die Verblendung, die aus den Reden
englischer Minister spricht, deshalb nicht auch ihrem Denken zuschreiben;
seit langem ist ihnen ja neben dem Cant der Bluff als wirksames Mittel
vertraut, und es ist in der Tat sehr bezeichnend, daß uns für beide von
ihnen gewohnheitmäßig geübten Täuschungsarten nur englische Worte
zur Verfügung stehen, aber wenn das Vertrauen auf diese. Mittel auch auf
langjähriger, oft erprobter Erfahrung beruht, sachliches Denken spricht
sich darin nur mit der sehr wesentlichen Einschränkung aus, daß zwar
leichte und vorübergehende Erfolge von jenem Verfahren zu erwarten sind,
nachhaltige Wirkungen jedoch da ausbleiben müssen, wo die Täuschung
durchschaut wird und Mut und Kraft zum Widerstand nicht erlahmen.
Cant und Bluff teilen das Schicksal jeglicher Art von Mimikry: sie können
da von durchschlagendem Nutzen sein, wo sie gläubig hingenommen und
nicht näher geprüft werden; sachliches Denken und festes Zugreifen zer-
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stört den falschen Schein zum Unheil des Urhebers. So wird die Einigkeit
des gegen uns aufgebotenen bunten Völkergemisches, welche durch jene
Mittel und die mit ihrer Hilfe verbreiteten „Wahnideen“ hervorgerufen
und aufrechterhalten wird, auf die Dauer der Wahrheit nicht standhalten
können. Was aber zunächst auch kommen mag, wir dürfen darauf ver¬
trauen, daß im Kampfe ums Dasein unter sonst gleichen Umständen
zuletzt dem Volke der Sieg winkt, dessen Führer und dessen Massen sach¬
licher zu denken und sittlicher zu handeln gewohnt sind. Sachliches Denken
und sittliches Handeln gehören hierbei zusammen, denn nur die Form der
Sittlichkeit, die ihre Ausgestaltung sachlichem Denken verdankt, und
sachliches Denken, das, von jener Sittlichkeit getragen, die Aufgabe der
Stunde ergreift, sind geeignet, in der Zeit der Not das Höchste zu leisten.
Aber der Krieg fördert andrerseits auch jene gegenseitige Durch¬
dringung von Sachlichkeit und Sittlichkeit. Er hat in der sittlichen Wert¬
ordnung Vieler die Idee des Staates erst an die ihr sachlich gebührende
Stelle gerückt, und das durch den Krieg geweckte und geschärfte Bedürfnis
nach Erhaltung und Sicherung des gefährdeten Staates, das seine Kraft
den in ihm zu gemeinsamer Richtung zusammengefaßten Grundtrieben
entlehnt, kann nur befriedigt werden, wenn jene Durchdringung sich be¬
hauptet und weiter durchsetzt. Und da sachliches Denken den besten
Schutz gegen die Verbreitung von „Wahnideen im Völkerleben“ gewährt
und Volksführer, deren Sittlichkeit durch sachliches Denken geläutert ist,
gar nicht in die Lage kommen, durch Einpflanzung falscher Vorstellungen
Erfolge anzustreben, ist die Hoffnung vielleicht nicht unberechtigt, daß
gerade dieser Krieg, der so viele und verderbliche „Wahnideen im Völker¬
leben“ gezeitigt hat, dazu beitragen wird, künftigen den Boden zu ent¬
ziehen oder doch ihrer Verbreitung engere Grenzen zu setzen.
Hans Laehr.
Der Einfluß des Alkohols auf die Treffsicherheit beim
Schießen. — Bei der am 23. September 1916 zu München abgehaltenen
Jahresversammlung des Vereins abstinenter Ärzte des deutschen Sprach¬
gebietes hielt Geheimrat Prof. Dr. Kraepelin -München einen Vortrag über
„Schießversuche mit und ohne Alkohol“. Folgendes war der wesentliche
Inhalt seiner Ausführungen: Im Herbste 1908 wurden vom Bayrischen
Kriegsministerium in großem Maßstabe und mit äußerster Sorgfalt Schie߬
versuche durchgeführt, um die Frage nach dem Einflüsse des Alkohols
auf die Treffsicherheit zu lösen. Die Zahl der von 20 Schützen an 20 Ver¬
suchstagen abgegebenen Schüsse betrug über 30 000. Als Ergebnis stellte
sich heraus, daß durchschnittlich eine Verschlechterung der Schießleistung¬
um etwa 3 % eintrat; die Wirkung war am deutlichsten 25—30 Minuten
nach Einverleibung der verhältnismäßig geringen Alkoholgabe (40 g),
die etwa einem Liter Bier entsprach. Nach der Mittagsmahlzeit war die
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Wirkung verzögert und abgeschwächt. Im einzelnen zeigte sich, daß
öfters im Anfänge und bei zwei Schützen auch späterhin keine Abnahme,
sondern eine, allerdings nicht erhebliche, Zunahme der Treffsicherheit
eintrat, vielleicht wegen der Beseitigung der inneren Spannung beim
Schießen durch den Alkohol. Andere Schützen boten nur geringfügige
und wechselnde Beeinflussungen dar. Die überwiegende Mehrzahl aber
schoß bedeutend schlechter, vielfach um 8, 9, 10 und selbst 12%. Von
besonderem Interesse ist es, daß diese Verschlechterung ihnen durchaus
nicht zum Bewußtsein kam. Eine Reihe von Schützen glaubten sogar
besser zu schießen als ohne Alkohol, während sie in Wirklichkeit eine Ab¬
nahme der Treffsicherheit bis zu 10% erkennen ließen. Wenn derartige
Erfahrungen schon bei körperlich und geistig völlig gesunden, ausgeruhten
und gut genährten Schützen nach einer so kleinen Alkoholgabe gemacht
werden konnten, so wird man erwarten dürfen, daß die Alkoholwirkungen
unter ungünstigen Bedingungen, bei nervösen, überanstrengten, durch
Schlafentziehung und mangelhafte Ernährung heruntergekommenen, ge¬
mütlich erregten Personen wahrscheinlich noch bedeutend stärker aus-
fallen werden. Die Schlußfolgerungen für die Verhältnisse des Krieges
ergeben sich daraus von selbst. (Holitschers Korrespondenz.)
PersonalncicJvrichten.
Dr. Ernst Thonta, Med.-Rat, bisher Oberarzt in Illenau, ist zum Direktor
der Heilanstalt,
Dr. Heinrich Ehlers , Anstaltsarzt d. Landesanstalt Potsdam, und
Dr. Adolf Schöngarth, Anstaltsarzt d. Landesanstalt Sorau, sind zu Ober¬
ärzten,
Dr. Karl Jaspers, Priv.-Doz. in Heidelberg, ist zum ao. Professor,
Dr. Otto Dörrenberg, Kreisarzt in Soest, zum Geh. Medizinalrat,
Dr. Karl Blümcke, Oberarzt in Bethel b. Bielefeld,
Dr. Matthias Bolle, Oberarzt in Osnabrück,
Dr. Heinrich Fuchs, leit. Arzt d. städt. Anst. Lindenburg in Cöln,
Dr. Gustav Sauermann, Oberarzt in Merzig,
Dr. Richard Schroeder, Oberarzt in Grafenberg,
Dr. Eduard Dingel, Dir. in Saargemünd, und
Dr. Emil Nawratzki, leit. Arzt d. Privatanstalt Waldhaus in Nikolassee,
sind zu Sanitätsräten ernannt worden.
Dr. Hermann Adler, Geh. San.-Rat, 2. Arzt in Schleswig, hat den
Kronenorden 3. Kl.,
Dr. Oskar Kluge, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Potsdam, und
Dr. August Metz, Oberarzt in Neustadt i. H., das Eiserne Kreuz
1. Kl.,
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 21
Difitized
bv Google
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Kleinere Mitteilungen.
Dr. Moritz Weichelt, San.-Rat, Dir. der Anstalt St. Thomas in Ander¬
nach, und
Dr. Walter Levinstein, San.-Rat, Leiter d. Privatanstalt Schöneberg, das
Eiserne Kreuz 2. Kl.,
Dr. Ernst Colla , San.-Rat, Oberarzt in Bethel b. Bielefeld, die Rote
Kreuz-Medaille 2. Kl.,
Dr. Rob. Wollenberg, Geh. Med.-Rat, Prof, in Straßburg,
Dr. Karl Wilmanns, Prof, in Heidelberg,
Dr. Adolf Schmidt, Geh. San.-Rat, Dir. d. Landesanstalt Sorau, und
Dr. Walter Levinstein, San.-Rat, Leiter d. Privatanstalt Schöneberg, die
Rote Kreuz-Medaille 3. Kl.,
Dr. Wilhelm Staiger, San.-Rat, Leiter d. Abt. f. Geisteskranke in Hohen-
Asperg, das Ritterkreuz 1. Kl. d. Württ. Friedrichordens
mit Schwertern und
Dr. Karl Zinn, San.-Rat, Dir. d. Landesanstalt Eberswalde, d. österr.
Ehrenzeichen 2. Kl. mit Kriegsdekoration erhalten.
Dr. Rud. Frotscher, Oberarzt in Weilmünster, ist am 15. September 1916,
Dr. Ludwig Bruns, San.-Rat, Prof., Nervenarzt in Hannover, am 9. No¬
vember im 59. Lebensjahre nach kurzer Krankheit,
Dr. Leopold Oster, Med.-Rat, Dir. d. Landesanstalt bei Konstanz, 64 Jahre
alt. am 18. Januar 1917,
Dr. Leo Nieszytka, Anstaltsarzt in Tapiau, nach schwerem Leiden in der
med. Klinik zu Königsberg, und
Dr. Oswald Berkhan, Geh. San.-Rat in Braunschweig, im 83. Lebensjahre
am 20. Februar 1917 gestorben.
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Digitizert by
Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
»
Von
Dr. Hans Seelert,
Assistenzarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik
der Kgl. Charite in Berlin (Direktor Geheimrat Bonhöffer).
In seinen Arbeiten über Paranoia hat Specht x ) die Anschauung
begründet, daß der Querulantenwahn eine besondere Erscheinungs¬
form der Manie ist. Daß dieses für einen Teil der Psychosen mit dem
Symptomenbüde des Querulantenwahnes zutrifft, ist nach den heutigen
Erfahrungen nicht zweifelhaft. Der Nachweis der manischen Grund¬
lage der Krankheit läßt sich bei der klinischen Beobachtung solcher
Querulanten aus dem Symptomenbüde nachweisen oder wahrscheinlich
machen, auf ein weiteres diagnostisches Kriterium muß die klinische
Beobachtung jedoch fast immer verzichten. Daß ein Krankheitsbüd
mit den Erscheinungen des Querulantenwahnes restlos abheilt wie
andere manisch-depressive Erkrankungen, ist selten, und noch seltener,
als die Heüung eintreten dürfte, kommt sie zur klinischen Feststellung.
Deshalb scheint mir unser Pat. L., bei dem die Psychose des Queru¬
lantenwahns bis zur Krankheitseinsicht und Korrektur der Wahn¬
vorstellungen abgeheüt ist, besondere Beachtung zu verdienen. Das
Abheüen der Psychose und die dadurch gegebene Möglichkeit, ihren
ganzen Verlauf zu übersehen, erleichtert und sichert in diesem Falle
die nosologische Beurteüung.
Es ist mehrfach erwähnt worden, daß Erkrankungen mit dem
Symptomenbüde des Querulantenwahnes zur Besserung und Heüung
x ) Specht, Über die klinische Kardinalfrage der Paranoia. Ztlbl. f.
Xervenheilk. u. Psyeh. 1908.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI1I. 4. 22
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304
Hans Seelert,
kommen können (Koppen 1 ), Wemicke 2 ), Thornsen 8 ), Siemerling 4 ),
unter den in der Literatur ausführlicher beschriebenen Fällen finde
ich aber keinen, bei dem der Nachweis der Heilung der Psychose bis
zur Krankheitseinsicht und Korrektur der pathologisch entstandenen
Vorstellungen gebracht wird. In dem von Straßmann 5 ) als rezidi¬
vierender Querulantenwahn beschriebenen Falle scheinen Exazer¬
bationen bei einem chronisch manisch-paranoischen Menschen Vor¬
gelegen zu haben.
Mit der Feststellung des Querulantenwahns ist die klinische Dia¬
gnose nur symptomatologisch formuliert, es bleibt noch die patho¬
logische Grundlage zu bestimmen, auf der sich das Symptomenbild
aufgebaut hat. Das ist bei unserem Patienten L. wohl zweifelsfrei
möglich gewesen. Schwieriger zu beurteilen ist in dieser Hinsicht der
Patient K. Beide unterscheiden sich durch ihren äußeren Habitus
voneinander, bei genauerer Analyse der pathologischen Erscheinungen
zeigt sich aber, daß die Grundlage des pathologischen Zustandes bei
ihnen keineswegs völlig verschieden ist. Bei K. kommen zu den patho¬
logischen Erscheinungen, die beiden Kranken gemeinsam sind, noch
Symptome hinzu, denen wir nach unseren heutigen Kenntnissen eine
andere Pathogenese zuschreiben. Daraus ergibt sich, daß wir das
Symptomenbild bei K. als ein kompliziertes auffassen müssen, das
dicht aus einem einheitlichen, sondern einem gemischten pathologi¬
schen Boden erwachsen ist. Der Vergleich beider Fälle erleichtert
wesentlich die nosologische Beurteilung der pathologischen Erschei¬
nungen bei Pat. K.
Pat. L. wurde auf Gerichtsbeschluß nach § 81 StPO, in die Klinik
eingewiesen, es wurde das folgende Gutachten über ihn abgegeben.
M Koppen , Der Querulantenwahnsinn in nosologischer und forensi¬
scher Beziehung. Arch. f. Psych. 38, 1896.
*) Wemicke, Grundriß der Psychiatrie. 2. Aufl. Leipzig 1906. S. 146.
3 ) Thornsen, Diskussion zum Vortrag Köppens. Allg. Ztschr. f. Psych.
52, 1896, S. 850.
4 ) Siemerling, Diskussion zum Vortrag Köppens. Allg. Ztschr. f.
Psych. 52, 1896, S. 852.
*) Straßmann, Über einen Fall von rezidivierendem Querulanten¬
wahn. Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Med. 19, 1900, S. 26.
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Zur Pathologie des Qnerulantenwahnes.
305
Berlin, den 5. April 1916.
Der Staatsanwaltschaft beim Königlichen Landgericht III Berlin
erstatten wir in der Strafsache gegen den 62jährigen Bauunternehmer L.
wegen Beleidigung das gewünschte Gutachten über den Geisteszustand
des L. Das Gutachten erfolgt nach Untersuchung und Beobachtung des
L. in der psychiatrischen und Nervenklinik der Königlichen Charitö vom
28. 1. bis 6. 3. 1916 und nach Einsicht der Akten mit Beiakten. In der An¬
klageschrift vom 15. 6.14 wird L. angeklagt, am 10.12.11 den Justizrat W.
a) durch einen an dessen Sohn, den Oberleutnant W., gerichteten Brief
vom 10. 12. 11 beleidigt zu haben, b) durch einen Brief in Beziehung auf
den Justizrat W. nicht erweislich wahre Tatsachen behauptet oder ver¬
breitet zu haben, welche ihn verdächtig zu machen oder in der öffentlichen
Meinung herabzuwürdigen geeignet waren. Am 30. 6.14 wurde das Haupt¬
verfahren gegen L. eröffnet.
In dem der Anklage zugrunde liegenden 20 Seiten langen Briefe
schrieb L. u. a.: „Ich erkläre es Ihnen hiermit und werde es nachstehend
beweisen, daß Ihr Vater 2 Meineide geleistet und Frau Sch. um 18 000 M.
betrogen hat. Ich habe lange Jahre gebraucht, um mir die Beweise zu
verschaffen, sogar die Bücher der ehemaligen Akt.-Ges. habe ich in diesem
Monat erhalten und werde den Beweis der Wahrheit für meine Behauptung
antreten. Da Sie in der ganzen Angelegenheit Mitwisser sind, muß ich
beim Korpskommandeur des 17. Armeekorps eine genaue Untersuchung
unter Vernehmung des Herrn Majors Z. und noch mehrerer Zivilherren
beantragen, falls Sie Ihren Vater nicht innerhalb 5 Tagen veranlassen, daß
er dafür Sorge tragen will, daß er meine Bestrafung im Wiederaufnahme¬
verfahren rückgängig macht und dafür sorgt, daß der ehemalige Aufsichts¬
rat, sei es im Prozeßwege oder Vergleich, der Frau Sch. den Schaden
ersetzt.Ihr Vater bezeichnet sich damit als den größten Hochstapler
und Schwindler der Welt und kann keinen Anspruch auf das Vertrauen
eines Notars haben, denn Millionen fordern und Millionen vorspiegeln
übertrifft alles bisher Dagewesene für einen Kgl. Notar.Ihr Vater
ist ein großer Schwindler, das werde ich ihm durch zehnfache Beweise nach-
weisen, er hat mich durch falsches Zeugnis ins Gefängnis gebracht, jetzt
hat die Stunde der Abrechnung geschlagen, ich werde ihn wegen Meineid
ins Zuchthaus bringen.Ich habe jetzt durch jahrelange mühevolle
Nachforschungen die Beweise zusammengebracht, habe auch die Cassa-
bücher der Akt.-Ges. erhalten und werde den Beweis meiner Behauptungen
erbringen, um meine Rehabilitation durchzuführen, falls Sie und Ihr
Vater nicht einsehen, daß mir unrecht geschehen ist.Dieses wäre
meine Hauptbedingung, damit meine Ehre hergestellt wird. In zweiter
Linie erst würde der Schadenersatz an Frau Sch. zu regeln sein.“ — L.
kündigte dann in dem Briefe an, er werde eine Abschrift an den Korps¬
kommandeur, den Justizminister, an die Staatsanwaltschaft und den
Reichstag schicken.
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aoö
Hans Seelert,
Uber seine Absicht, die er mit dem Schreiben dieses Briefes verfolgte,
gab L. außer dem, was er schon in dem Briefe erwähnt, bei seiner Ver¬
nehmung durch den Untersuchungsrichter am 18. 7. 12 an, er habe in
erster Linie damit erreichen wollen, daß Oberleutnant W. seinen Vater
dazu veranlasse, seine Aussage in dem vorausgegangenen Strafprozeß gegen
L. als Irrtum zu bezeichnen, damit ihm ein Wiederaufnahmeverfahren in
diesem Strafprozeß ermöglicht würde. In einem Strafantrage gegen W.
vom 20. 8. 12 schrieb L.: „In meiner Notwehr habe ich an den Sohn W.s
den Brief vom 10. 12. 11 geschrieben, und in meiner Notwehr greife ich
hiermit den Herrn Oberstaatsanwalt P. an, um zu erzielen, daß ich, falls
der meineidige Betrüger W. weiter geschützt wird, wegen Meineid vor ein
Geschworenengericht komme, um darzutun, wie unsere preußischen Richter
und Staatsanwälte meineidige Betrüger schützen und unterstützen.“
Aus den zahlreichen, bei den vielen Akten befindlichen Schreiben
• les L. sind für die ärztliche Begutachtung seine Beschuldigungen, An¬
klagen und Beschwerden außer gegen Justizrat W., gegen die Richter des
Landgerichtes G., gegen den Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt sowie
gegen «las frühere Aufsichtsratsmitglied der Gütereisenbahn G., Le.
bemerkenswert.
Nach dem Strafregister ist L. zum ersten Male irn Jahre 1907 bestraft
wegen Untreue in zwei Fällen und wegen Unterschlagung; der Prozeß
begann im Jahre 1900. Ein zweites Mal ist er bestraft wegen Beleidigung
d«>r Richter des Landgerichts G. Im Jahre 1904 begann ein Rechtsstreit
der Wirtschafterin des L., Frau Martha Sch., gegen Justizrat W. beim
Landgericht G., und 1905 ein weiterer Rechtsstreit der Frau Sch. gegen
die Gütereisenbahn G. Auch diese beiden Akten enthalten viele Eingaben
an das Gericht und Briefe des L., die von der Frau Sch. unterschrieben
sind, die aber, wie sich aus der Art ihrer Abfassung und der ganzen Sachlage
vermuten läßt, von L. verfaßt wurden, was er auf Befragen bei der ärzt¬
lichen Untersuchung bestätigte. In beiden Fällen wurde die Klage der
Klägerin, im zweiten auch in der Berufungsinstanz abgewiesen.
Viermal hat L. gegen Justizrat W. Strafantrag bei der Staatsanwalt¬
schaft gestellt. Die darauf von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Ver¬
fahren wegen Betrug, Meineid und Untreue wurden, wie die Akten zeigen,
eingestellt. In «ler Begründung der Einstellung des Verfahrens ist erwähnt,
«laß L. trotz mehrfacher Aufforderung seit 14 Monaten nicht in der Lage
gewesen ist, für seine Behauptung, W. habe sich noch weiterer strafbarer
Handlungen schuldig gemacht, Tatsachen und Beweise anzugeben. Bei
einem Strafantrag der Frau Sch. gegen W. wurde die Verfolgung abgelehnt.
Zum 5. Male stellte L. Strafantrag gegen W 1912. Das Verfahren ist bis
zur rechtskräftigen Erledigung der Sache, in der jetzt Begutachtung des L.
«*rfolgt, vorläufig eingestellt worden. 1907 wandte sich L. mit einer Be¬
schwerde und mit Gesuch um Bestrafung des Untersuchungsrichters und
der Richter des Landgerichts G. w'egen Verletzung ihrer Amtspflichten an
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UNIVERS1TT OF MICHIGAN
Zur Pathologie des Qaerulantenwahaes.
307
den Justizminister. Eröffnung des beantragten Verfahrens wurde abge¬
lehnt mit der Begründung, daß weder die Eingabe des L. noch das gegen
ihn geführte Strafverfahren den geringsten Anhalt dafür böten, daß die
Beschuldigung gegen die Richter zutreffe.
Bei der ärztlichen Begutachtung desL. ist es erforderlich, zu beachten,
daß er alle diese Gerichtsverfahren hintereinander anstrengte, nachdem
er April 1904 aus der Aktiengesellschaft Gütereisenbahn G. ausgeschieden
war. Von der Zeit der Gründung der Aktiengesellschaft im Jahre 1900
hat er sie bis 1904 als Vorstand verwaltet; Justizrat W. war Vorsitzender
des Aufsichtsrats und blieb auch nach dem Austritt L.s weiter in der
Aktiengesellschaft.
1902 wandten sich W. und L. an den Regierungspräsidenten in M.
mit der Bitte um Genehmigung zum Bau einer Kleinbahn von G. nach R.
Im Jahre 1903 und Anfang 1904 wurden weitere Vorarbeiten zum Bau
der projektierten Bahn gemacht. In der Urteilsbegründung, die L. in
beglaubigter Abschrift vorlegte, ist erwähnt, daß die Aktiengesellschaft
während der Verwaltungszeit des L. in Vermögensverfall geriet, so daß,
als L. seine Stellung aufgab, der Konkurs der Gesellschaft drohte. 1903
leistete L., wie auch in dem Urteil erwähnt ist, den Offenbarungseid.
Aus den Akten ist also zu ersehen, daß die persönlichen pekuniären
Schwierigkeiten des L., sein Austritt aus der Aktiengesellschaft und damit
das Scheitern seines Planes der Erweiterung der Aktiengesellschaft und
Baues der Bahn von G. nach R., für den er länger als ein Jahr gearbeitet
und geworben hatte, den von ihm angestrengten Prozessen vorausgegangen
waren. In diese Zeit, in der er einen Prozeß nach dem andern anstrengte,
aber noch vor Abfassung des jetzt der Anklage zugrunde liegenden Briefes
fällt seine Verurteilung wegen Untreue in zwei Fällen und Unterschlagung
(1907) und wegen Beleidigung (1910). 1907 war ein Verfahren wegen
Beleidigung des Justizrates W. gegen ihn eingeleitet worden, das 1909
eingestellt wurde, nachdem W. seinen Strafantrag zurückgezogen hatte.
Über den Grund seines Austrittes aus der Aktiengesesllchaft schrieb
L. in seinem Strafantrag gegen Justizrat W. vom 7. 2. 06: „Da am 24. Fe-
bröar 1902 bei der Generalversammlung der Aktiengesellschaft Güter¬
eisenbahn G. mein Antrag auf Erhöhung des Aktienkapitals abgelehnt
worden war, und statt dessen neue Wechselschuld in Höhe von 25 000 M.
beschlossen wurde, kündigte ich meine Stellung mit der Begründung, daß
ich nicht länger eine Gesellschaft vertreten will, die mit so hohen Wechsel¬
schulden arbeitet, auch halte ich demzufolge das Kapital der Frau Sch.,
welches doch nur auf mein Betreiben gegeben worden ist, für gefährdet.“
Der Grund, der ihn veranlaßte. so viele Prozesse anzustrengen, läßt sich
aus einzelnen Stellen seiner bei den Akten befindlichen Schreiben ent¬
nehmen. In einem Brief an W. vom 2. 7. 07, von dem sich eine Abschrift
bei den Akten befindet, schrieb er: „Sie können versichert sein, daß ich,
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
308
Hans Seelert,
solange ich lebe, nicht früher ruhen werde, bis mir mein Recht ordnungs¬
mäßig wird.“
In einer an das Oberlandesgericht in M. gerichteten Beschwerde¬
schrift vom 16. 3. 09 schrieb er: ..Ferner bin ich durch fortwährende Krank¬
heit und Altersschwäche (55 Jahre) sowie durch ungerechte Bestrafung
(das Wiederaufnahmeverfahren ist vom Oberlandesgericht M. angeordnet)
in meiner Vermögenslage derart geschwächt, daß ich die 'Reisekosten und
damit verbundenen Logis- und Unterhaltungskosten nicht besitze.“ Am
25. 10. 09 schrieb er an die Strafkammer: „Ich bin 55 Jahre alt, nicht
bestraft und nur durch W.s Intriguen als schlechter Mensch verleumdet
und bestraft worden, meine Lebensaufgabe soll es sein, meine Ehre zu
retten, und beantrage ich deshalb, falls W. keinen Meineid geleistet, gegen
mich wegen Meineid vorzugehen, indem ich das Gegenteil beschworen.“
Immer wieder behauptete L. in seinen Schreiben an die Gerichte, daß er
durch W.s Handlungsweise geschädigt sei. In seinem Strafantrag gegen
den Kaufmann L. vom 12. 8. 07 schrieb er: „Ich bemerke noch, daß der
Herr Justizrat W. zu der ganzen Sache der Anstifter ist, und ich werde
auch gegen W. später Anzeige erstatten.“ Bei diesen Akten findet sich in
einem Schreiben des L. an den Untersuchungsrichter vom 28. 11. 07 fol¬
gender Satz: „Ich habe die positive Überzeugung, daß Le. dem W. zur
Gefälligkeit den Meineid geleistet hat“; ferner: „Es ist richtig, daß ich zu
4 Monaten und 500 M. Geldstrafe wegen Untreue bestraft bin, aber nur
infolge der von L. und W. geleisteten Meineide.“ Mit Bezug auf W. schrieb
er in seinem Strafantrag gegen ihn 1909: „Ich habe ihm gefolgt, damit er
nicht ruiniert wurde, jedoch hat er die anderen Gläubiger bei der Sanierung
befriedigt, nur nicht die Frau Sch., wahrscheinlich aus Rache gegen mich,
obwohl ich mir keiner Schuld bewußt.“
In Zusammenhang mit seiner Behauptung, durch die Hand¬
lungsweise des Justizrates W. geschädigt zu sein, stehen seine vielfach er¬
hobenen Anschuldigungen gegen Richter und Staatsanwalt. Am 19. 4. 06
schrieb er an die Staatsanwaltschaft in G.: „Gleichzeitig werde ich mich
Beschwerde führend an das Königliche Justizministerium wenden, mit der
Bitte, mir ein anderes Gericht zu bestellen, da ich den Eindruck habe,
daß dort Befangenheit herrscht, indem W. ca. 20 Jahre dort als Anwält
tätig war und freundschaftlichen Verkehr mit sämtlichen Richtern ge¬
pflogen hat.“ An den Landgerichtspräsidenten in G. schrieb er am 11. 6. 08:
„Ich werde der Staatsanwaltschaft, dem Untersuchungsrichter und den
Strafkammerrichtern nachweisen, daß sie ihre Verpflichtungen auf das
gröblichste verletzt haben, indem meine Gegenbeweise unterdrückt wurden,
ich werde nachweisen, daß sie den beabsichtigten Betrug des Justizrates W.
unterstützt haben, denn kein gesunder Menschenverstand kann die Ver¬
träge vom 20. Oktober 1903 für sofort als gültig erklären.“ Bei seiner
Vernehmung durch den Richter am 1. 7. 08 beschuldigte er die Richter
der Rechtsbeugung gegen ihn, indem er erklärte, mit seinen Vorwürfen
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Zur Pathologie des Querulanten wahnes.
309
berechtigte Interessen wahrzunehmen. In seiner Beschwerdeschrift mit
dem Gesuch um Bestrafung der Richter des Landgerichts G. vom 18.11. 07
an den Justizminister schrieb L.: „Da W. länger als 20 Jahre bei dem Land¬
gericht G. als Rechtsanwalt und Notar gewirkt hat, war er naturgemäß
mit sämtlichen Richtern und Staatsanwälten eng befreundet, und die
Strafanzeige gegen mich wurde eifrig aufgenommen, dagegen der Zivil¬
prozeß der Witwe Frau Sch. bis nach Ausgang meines Strafprozesses
vertagt, obwohl Frau Sch. zu den Akten des Zivilprozesses reichliche
Gegenbeweise einreichte und Zeugen namhaft machte.Das Ver¬
schwinden dieses Vertrages und das Wort „versehentlich“ im Urteil lassen
erkennen, daß die Richter bestrebt waren, die wahre Tatsache zu ver¬
schleiern, um dem Kollegen W. nützen zu können. W. ist der Denunziant,
hat überhaupt die Denunziation erst eingereicht, als ich schon 1 y 4 Jahr
von der Gesellschaft weg war, und als er sah, daß er die schwebenden
Prozesse, die vorn bezeichnet, verlieren werde. W.s Zweck war, sich als
Zeuge verwerten zu lassen und in dem Zivilprozeß Geltung zu erlangen.
Diese Manipulation haben die Richter zugunsten des W. nicht allein ge¬
duldet, sondern die Unehrlichkeit des W. sogar gefördert.Dies ist
ein klarer Beweis, daß die Richter vorsätzlich die Wahrheit niedergedrückt
und zugunsten des Kollegen W. gewirkt haben.Es ist möglich, daß
Richter sich in einzelnen Fällen einmal, auch zweimal, auch dreimal irren
können. Hierbei ist aber das Ganze von Anfang bis zu Ende eine fort¬
gesetzte Handlung.“
Auch gegen den Oberstaatsanwalt erhob L. Anschuldigungen. In
seinem Strafantrag gegen W. vom 20. 8. 12 schrieb er: „Wenn der
Bescheid des Herrn Oberstaatsanwaltes P. vom 18. 4. 10 richtig wäre,
dann ist es nicht zu verstehen, warum ich nicht wegen Meineid zur Verant¬
wortung gezogen worden bin, und daraus schließe ich, daß der Oberstaatsan¬
walt P. die Klarlegung der Sache uicht haben will, um den Kollegen Justizrat
W. vor Überführung des Betruges und Meineides zu schützen“; und weiter:
„Vergleicht man meine angebotenen Beweise, dann muß jeder Mensch
erkennen, daß diese beiden Behauptungen zur Unmöglichkeit gehörten,
während preußische Richter und Staatsanwälte darüber nicht nachdenken,
oder richtiger, darüber nicht nachdenken wollen, um zur Schande der
preußischen Justiz den meineidigen Betrüger zu schützen. Diese Pflicht¬
verletzung, besonders der Bescheid des Herrn Oberstaatsanwaltes P.,
haben mich in meiner Notwehr dahin getrieben, daß ich am 10. Dezember
v. J. an den Sohn des Betrügers — Oberleutnant W. — einen Brief schrieb,
worin ich einen zweifachen Meineid und den Betrug seines Vaters klarlegte,
mit der Aufforderung, entweder die Sache auszugleichen oder der Staats¬
anwaltschaft zu übergeben.“ Weiter: „Die Widerlegung des Herrn Ober¬
staatsanwaltes P. vom 18. 4. 10 geht unter Berücksichtigung der von mir
eingereichten Beweise gegen die gute Sitte, gegen Treue und Glauben,
gegen den gesunden Menschenverstand, und läßt klar erkennen, daß Meineid
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Hans Seelert.
und Betrug direkt durch die Staatsanwaltschaft geschützt wird, wenn der
meineidige Betrüger Justizrat und Kollege ist“. Ferner: „Der Bescheid
des Herrn Oberstaatsanwaltes P. zu 2 vom 18. 4. 10 ergibt klar, daß er
die Wahrheit nicht will, und den Blödsinn des meineidigen Betrügers \Y.
wiedergibt.“
In einem Schreiben des L. an den Ersten Staatsanwalt beim Land¬
gericht I Berlin vom 14. 5. 13 findet sich folgender Satz: „Jeder Schwein¬
hund spuckt derartigen Menschen ins Gesicht, nur der Herr Staatsanwalt
schützt den meineidigen Betrüger.“
In einer Beschwerdeschrift des L. an den Justizminister vom 3. 10. 12.
von der eine Abschrift bei den Akten liegt, geht hervor, daß er sich darin
zum vierten Male, Beschwerde führend über die Richter, an den Justiz¬
minister wandte; er schrieb darin: „Da aber Euer Exzellenz die Eingaben
behufs Erledigung an die persönlich interessierten Vorgesetzten der Rechts¬
brecher abgegeben, ist es natürlich, daß die Rechtsbeugung nicht erblickt,
unterdrückt, mit leeren Phrasen zurückgewiesen wurde.Ich klage
die Richter nicht allein wegen Rechtsbeugung, sondern auch wegen Ver¬
leitung zum Meineid an, denn es ist eine Schande für die preußische Justiz,
daß Richter den Betrüger unterstützen, wenn er Kollege ist.Ich
beantrage gegen die bezeichneten Richter, die nicht wie Richter, sondern
schlimmer als jeder Verbrecher, vorzugehen oder mich zur Verantwortung
zu ziehen, denn gern will ich den Sumpf in der preußischen Justiz auf¬
decken.“
Als L. 1912 auf Anordnung des Untersuchungsrichters auf seinen
Geisteszustand untersucht werden sollte, weigerte er sich, sich untersuchen
zu lassen. Am 1. 9. 12 schrieb er an die Staatsanwaltschaft: „Ich habe dem
Medizinalrat St. erklärt, daß ich mich nicht untersuchen lasse, es ihm aber
anheimgegeben, denjenigen, der meine Untersuchung angeordnet, selbst
auf seinen Geisteszustand zu untersuchen, denn meine Beweise ergeben,
daß W. ein meineidiger Betrüger ist, und wenn der betreffende Unter¬
suchungsrichter oder Staatsanwalt das nicht aus den von mir eingereichten
Beweisurkunden erkennt oder rechtbeugend nicht erkennen will, dann
werde ich den betreffenden Herrn zur Verantwortung ziehen.“ Am 1. 12. 12
schrieb L. an den Untersuchungsrichter, daß er über die Sendung des
Medizinalrates St. in seine Wohnung, die er als widerrechtlich bezeichnete.
Beschwerde bei einem deutschen Reichstagsabgeordneten geführt habe,
daß er hoffe, daß der Reichstag ihm Hilfe bringen und prüfen werde, ob
§ 346 StGB, verletzt ist. Ein Satz in dem Schreiben lautet: „Ich erblicke
in dem vorbezeichneten Versuch, mich als geisteskrank pressen zu wollen,
und der Nichtprüfung meiner Beweisurkunden und Zeugenbeweise den
Beweis gemäß § 346 StGB, als erbracht, den Justizrat W. der gesetzlichen
Strafe entziehen zu wollen, denn die Handlung, mich als geisteskrank hin-
slellen zu wollen, ist ein klarer Beweis, indem meine bisherigen Eingaben
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
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mit zehnfachen Beweisurkunden und Zeugenbeweisen belegt sind, demnach
mein Geisteszustand nicht in Betracht kommen kann.“
Am 16. 12. 12 wurde er vor Gericht dem Medizinalrat St. vorgeführt,
er weigerte sich jedoch, sich körperlich untersuchen zu lassen, und lehnte
es ab, auf Fragen des Sachverständigen zu antworten. Nach dieser Vor¬
führung zur ärztlichen Untersuchung reichte L. am 10. 2. 13 Strafantrag
beim Oberstaatsanwalt ein, mit der Begründung, daß er darin eine Frei¬
heitsberaubung erblicke. Das Verfahren ist nach den Akten nicht erledigt.
Medizinalrat St. hat mehrmals auf richterliche Anordnung den
Versuch gemacht, den L. in seiner Wohnung zu untersuchen; er berichtete
darüber am 2.12. 12: L. lehnte es ab, sich körperlich untersuchen zu lassen,
erklärte, er sei körperlich und geistig gesund, er geriet bei seinen Aus¬
führungen in Wut, so daß er hochrot wurde und überhastig sprach. —
Dr. St. hatte L. schon vor Jahren untersucht und dabei festgestellt, daß
er an Gicht und an Arteriosklerose litt. Damals hatte L., als Dr. St. ihn
aufsuchte, eine Menge von augenscheinlich eben angefertigten umfang¬
reichen Schriftstücken ausgebreitet. Schon damals vermutete Dr. St.,
daß es sich bei L. um einen Querulanten handle; in dieser Vermutung
wurde er 1912 durch seine Wahrnehmungen bestärkt.
Bei den Akten findet sich eine ärztliche Äußerung, daß L. an Gicht
leide. Am 17. 11. 13 schrieb L. an den Untersuchungsrichter, er habe
einen weiteren Beweis erhalten, daß der frühere Buchhalter der Aktien¬
gesellschaft P. Buchfälschungen im Aufträge von W. gemacht habe.
Einzelne Schreiben des L. zeigen, daß er in schweren Zorn und Er¬
regung gegen Justizrat W. geriet; in einem Briefe an ihn vom 19. 9. 13
schrieb er: „Ich werde Ihre Meineide und Betrug in größerer Massenschrift
in Ihrer Umgebung verbreiten, auch erklären, daß Sie mit Hinterlist die
Anklage und Aufklärung hintertreiben, außerdem werde ich Gelegenheit
suchen, Sie auf offener Straße zu treffen und Ihrer Würde entsprechend
züchtigen!!! Jahrelang habe ich schriftlich keinen Erfolg erzielt, nun
werde ich mit Taten beginnen. Meine bisherige Ausdauer bürgt, daß ich
Wort halte, auch wenn die Taten mir oder Ihnen das Leben kosten. Ich
erwarte, daß Sie auch diese Schreiben der Kgl. Staatsanwaltschaft über¬
geben oder eine Einigung mit ihr anbahnen.“ — Ein Schreiben an die
Strafkammer vom 24. 8. 14 schloß er mit den Worten: „Ich werde dadurch
gezwungen, Selbstjustiz an dem Verbrecher zu begehen, um dadurch
schnellere Aufklärung zu schaffen.“ Ähnlich schrieb er am 3. 5. 15: „Diese
Verschleppung zwingt mich zu strafbaren Handlungen, eventuell zur
Selbstjustiz gegen W. auf offener Straße, seiner Würde entsprechend.*'
Zu beachten ist noch, daß L. die gegen die Richter des Landgerichts G.
in seinem Strafantrag vom 11. 6. 08 erhobenen Beschuldigungen der Rechts¬
beugung, der absichtlichen Unterdrückung der Wahrheit zugunsten ihres
Kollegen Justizrat W. und zu seinen Ungunsten während seiner Haft im
Strafgefängnis T. 1910 einschränkte. Auch vorher hatte er schon erklärt,
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daß er nur berechtigte Interessen wahrnehmen wolle, und jede Beleidigung
der Richter ihm fernliege. Während der Haft korrigierte er, wie er in seinem
Schreiben ausführte, seine früheren Urteile dahin, daß es sich um eine
Rechtsverkennung der Richter gehandelt habe, die er für Rechtsbeugung
hielt, in seiner damaligen Erregtheit habe er alle Fehler in dem Ausdruck
Rechtsbeugung zusammengefaßt. Er glaube jetzt, daß ein falsches Urteil
gegen ihn aus Irrtum gefällt worden sei, und daß nicht genügend Beweise
erhoben worden seien.
Bei den Akten findet sich eine Druckschrift, mit der L. für einen
von ihm erfundenen elastischen Hufbeschlag wirbt.
Während seiner letzten Strafhaft bat L. in einem Schreiben an das
Gericht vom 1. 9. 15, die Untersuchung seines Geisteszustandes gemäß
§ 81 StPO, anzuordnen, er erwähnte, daß er während seiner Strafhaft
1909/10 Schwindelanfälle gehabt habe, bei denen er bewußtlos hingestürzt
sei, und erklärte, daß er selbst, die Überzeugung gewonnen habe, die Ver¬
mutung, daß er an Geisteskrankheit leide, sei berechtigt gewesen. Auf
Antrag von Dr. St. wurde am 22. 11. 15 die Beobachtung des L. nach § 81
StPO, beschlossen.
Bei der Untersuchung in der Klinik gab L. an, er habe den Brief an
den Sohn des Justizrat W. geschrieben, „um Aufklärung zu schaffen“.
Er habe erwartet, daß W. daraufhin einen Beleidigungsprozeß gegen ihn
anstrengen werde; in diesem wollte er geltend machen, daß er den Brief
in Wahrung berechtigter Interessen geschrieben habe und daher nicht
bestraft werden könne. Er habe erwartet, daß dann der Untersuchungs¬
richter die Untersuchung und Begutachtung der Bücher der Aktiengesell¬
schaft anordnen werde, und daß bei dieser Untersuchung seine Unschuld
herauskommen und erwiesen werden würde, daß er unschuldig wegen
Untreue verurteilt worden sei. Er habe, als er den Brief schrieb, erwartet,
daß er auf diese Weise eine Handhabe zu erfolgreichem Wiederaufnahme¬
verfahren in der Sache und zu einer Rehabilitation bekommen werde. Er
habe den Brief geschrieben, als er Einblick in die Bücher der Aktien¬
gesellschaft bekommen und in ihnen seiner Ansicht nach falsche Ein¬
tragungen entdeckt hatte. Wenn er selbst die Untersuchung der Bücher
veranlaßt und dem Gericht ein Privatgutachten eingereicht hätte, so wäre
dies wahrscheinlich nicht ausreichend zur Beweisführung gewesen, und
ohne ausreichendes Gutachten hätte er ein Wiederaufnahmeverfahren
nicht erreicht. In der Notwehr und in der Annahme, unter dem Schutz
des § 193 StGB, zu handeln, habe er den der Anklage zugrunde liegenden
Brief geschrieben. Immer wieder erklärte er bei der Untersuchung, daß
er nur eine Anklage erreichen wollte, weil er glaubte, damit beweisen zu
können, daß die von W. geleisteten Eide falsch waren, und daß er un¬
schuldig verurteilt sei.
Damals, als er den Brief schrieb, sei er überzeugt gewesen, daß die
Eide des W. Meineide waren. Jetzt, nachdem er eine Abschrift von dem
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
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Gutachten des Bücherrevisors R. vom 6. 5. 14 erhalten habe, sei er nur
überzeugt, daß die Eide des W. falsch waren. Daß er durch falsches Zeugnis
des W. ins Gefängnis gebracht worden sei, das sei jetzt durch das Gut¬
achten erwiesen; ob es mit Absicht des W. geschehen sei, das wisse er nicht.
Daran halte er auch jetzt noch fest, daß W. nicht recht gehandelt hat,
er könne ihn aber jetzt nicht mehr als Schwindler bezeichnen, da er aus dem
Büchergutachten ersehen habe, daß W. das Geld bei der Aktiengesellschaft
gelassen hat. Ebenso korrigierte L. jetzt bei der Untersuchung seine An¬
schuldigungen gegen Richter und Staatsanwalt. Auch heute sei er der An¬
sicht, daß die Richter ihn nicht hätten verurteilen können, wenn sie die
Fälle näher geprüft hätten; früher, in der Zeit, als er den Brief schrieb,
sei er der Überzeugung gewesen, daß die Richter wissentlich falsch über
ihn geurteilt haben, heute habe er nur den Glauben, daß sie leichtfertig
geurteilt haben, das Gericht habe dem W. es leicht gemacht, daß er die
Eide leisten konnte. Seine Behauptung, daß der Oberstaatsanwalt leicht¬
fertig oder absichtlich, vielleicht aus kollegialen Rücksichten, seine weiteren
Beweise unterdrückt habe, halte er heute, wo er wisse, daß die Sache etwas
anders liege, als er damals glaubte, nicht mehr aufrecht.
Seine damaligen Maßnahmen, die wiederholten Beschwerden an den
Justizminister, sein Gesuch an den Reichstag halte er auch heute für be¬
rechtigt und seiner damaligen Situation entsprechend, er sei das seinen
Kindern und sich selbst schuldig gewesen; auch die Form seiner Beschwerde
an den Justizminister sei seiner damaligen Situation durchaus entsprechend
gewesen, er habe sich nicht anders helfen können. Heute sehe er aber ein,
daß er „ein zu scharfes Urteil“ gehabt habe, er habe damals die Sache nicht
so genau überlegt.
Die Form des jetzt der Anklage zugrunde liegenden Briefes vom
10. 12. 11 an den Sohn des W. sei dadurch entstanden, daß er damals in
einer schweren Erregung war, in der Erregung sei er in der Form unzweifel¬
haft zu weit gegangen. Wenn er damals gewußt hätte, wie die Sache liegt,
was er durch das Gutachten des Bürgerrevisors R. jetzt erfahren habe, so
würde er den Brief nicht geschrieben haben, heute tue es ihm leid, daß er
ihn schrieb.
Er sei der Ansicht, daß er damals, als er den Brief schrieb, krankhaft
erregt war. Er sei damals sehr empfindlich, sehr reizbar gewesen; wenn er
vom Gericht einen Brief, eine Zustellung bekam, habe er vor Aufregung
gezittert; er sei verärgert gewesen, daß er als alter, bisher nicht bestrafter
Mann ins Gefängnis gekommen war. Er habe damals viele schlaflose Nächte
gehabt, manche Nacht darüber nachgedacht, wo das Geld geblieben sein
könne. Er habe gewußt, daß er es nicht genommen hatte, aber nicht
gewußt, wie es möglich sei, daß die Posten in den Kassenbüchern standen.
Er habe durchaus Aufklärung schaffen wollen; er habe sich allein in sein
Zimmer eingeschlossen und darüber nachgedacht; er habe in der Zeit viel
geschrieben, mehr als es manchmal nötig war. Für alles andere sei er inter-
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Hans Seelert.
esselos gewesen, sei still, einsilbig gewesen im Verkehr mit Menschen. Er
habe in dieser Zeit keine Arbeit ausfuhren können, bei allem sei ihm der
Gedanke an die Prozeßangelegenheit gekommen, immer habe er darüber
nachgedacht, wie er den Nachweis seiner Unschuld führen könne. Er habe
damals nicht so denken können wie früher und wie jetzt. Als er in dieser
Zeit sein ihm verloren gegangenes Modell der von ihm erfundenen Eisen¬
bahnkuppelung wiederherstellen wollte, habe er es nicht fertig gebracht;
seine Gedanken seien immer durch die Gerichtssache abgelenkt gewesen.
Er habe an Kopfschmerzen und anfallweisem Schwindelgefühl gelitten.
Mit Intensitätsschwankungen habe dieser Zustand von 1904 bis 1914
bestanden, er habe angefangen, als sich die Schwierigkeiten in der Aktien¬
gesellschaft einstellten, Schwierigkeiten, die ihn persönlich in pekuniärer
Hinsicht trafen. Nach seiner Verurteilung 1907 sei sein Gesundheitszustand
dann noch schlechter geworden, er sei noch erregter geworden, als er vorher
schon war. Als er dann in den Büchern falsche Eintragungen gefunden
habe von einer Handschrift, die er nicht kannte, da sei er erst recht auf¬
gebracht, aufgeregt gewesen. Unmittelbar vorausgegangen sei diesem
krankhaften Zustand ein Unfall, den er am 17. 2. 04 auf dem Bahnhof in
G. gehabt habe, er sei damals gefallen und mit dem Hinterkopf auf¬
geschlagen, wochenlang habe er danach Kopfschmerzen gehabt; nach dem
Unfall habe sich eine Schwellung erst des linken, dann auch des rechten
Fußgelenkes und auch der Zehengelenke eingestellt; diese Erscheinungen
seien vom Arzt als Gicht erklärt worden. Sein Körpergewicht habe in der
Zeit von 1904 bis 1914 um 10 kg abgenommen. 1910 habe er sich schon
halb mit dem Urteil abgefunden gehabt, dann aber die Bücher der Aktien¬
gesellschaft in die Hand bekommen und die falschen Eintragungen gefun¬
den, wodurch er wieder aufgebracht und erregt wurde. Er habe in den
10 Jahren keine verdienstbringende Tätigkeit gehabt.
1914 sei dann sein Zustand wieder anders geworden. Er sei wieder
ein ganz anderer Mensch geworden, heiterer und geselliger, sein Denken
sei wieder ein anderes geworden, er habe nicht mehr immerfort nur den
einen Gedanken an seine Verurteilung im Kopf gehabt, habe auch wieder
an anderes denken können; als er dann wieder seine Arbeit für das Patent
der Eisenbahnkuppelung aufnahm, habe er sich wieder damit zurecht¬
gefunden, „wie neugeboren, noch einmal jung“ sei er 1914 geworden.
Diese Änderung seines Krankheitszustandes sei eingetreten, als er im Mai
1914 das Gutachten des Bücherrevisors R. erhalten und aus den Büchern
die Bilanz der Aktiengesellschaft für 1903/04 aufgestellt hatte. Als er
dieses beides hatte, habe er nicht weiter darüber nachdenken brauchen,
wie er seine Unschuld beweisen könne; dem Gedanken, der ihn jahrelang
beschäftigt hatte, habe er nun nicht mehr nachgehen brauchen. Seine
Beruhigung sei mit dem Bewußtsein gekommen, daß er jetzt Beweise in
den Händen habe, mit denen er sicher seine Unschuld beweisen könne.
über sein Vorleben gab L. an, daß er von Jugend an ein heiteres
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Zur Pathologie des Qaeralantenwahnes. ' 315
Grundtemperament habe, gern in Gesellschaft und ein guter Unterhalter
gewesen sei. Er habe viel geschafft im Leben, Unternehmungslust in ge¬
schäftlichen Dingen gehabt. Er habe 25 Jahre für die Eisenbahndirektion
Th., B. und D. gearbeitet, Arbeiten beim Bau von Eisenbahnen übernom¬
men; er habe viel Geld verdient, mitunter auch etwas verloren; zeitweise
habe er 600 Leute beschäftigt. In den 25 Jahren, die er als Bauunter¬
nehmer tätig war, habe er nur 4 oder 5 Zivilprozesse gehabt, und auch diese
nur um geringfügige Sachen. Zu den vielen Prozessen sei er erst gekommen,
als sich die Schwierigkeiten in der Aktiengesellschaft eingestellt hatten
und er als Vorstand ausgetreten war. Außer den Prozessen, die in Beziehung
zu seiner Tätigkeit in der Aktiengesellschaft standen, habe er noch 1904/05
und 1910 einen Prozeß mit seinem Stiefvater gehabt, sonst habe er früher
nie Streit oder Zank gehabt, auch nicht mit seinen Mietern und Haus¬
bewohnern.
1884 habe er Flecktyphus gehabt, er sei damals 21 Tage lang be¬
wußtlos gewesen und vom Kreisarzt in G. behandelt worden. Einen
gleichen oder ähnlichen Zustand wie in den Jahren 1904—14 habe er
vorher nicht gehabt, niemals habe er an irgendwelchen Verstimmungen
gelitten.
Von der Wirtschafterin des L., Frau Sch., mit der L. seit 20 Jahren
zusammen lebt, wurde uns angegeben, daß L. ein fleißiger, strebsamer,
lebhafter Mensch sei; er sei immer Optimist, er habe sich mehrere Erfindun
gen patentieren lassen, eine Eisenbahnkuppelung, einen Hufbeschlag und
eine Befestigungsvorrichtung für Frühstücksbeutel; seitdem 1905 die
Prozesse angefangen hatten, beschäftigte er sich dauernd mit diesen. Ein
Sohn aus zweiter Ehe des L., Artur L., gab an, sein Vater sei in früheren
Jahren ein verträglicher, nie reizbarer Mensch gewesen. Als er den Plan
der Vergrößerung der Gütereisenbahn G. aufnahm, habe er mit großem
Eifer dafür gearbeitet, er sei viel auf die Dörfer der Umgegend gefahren,
habe dort Versammlungen beigewohnt; täglich habe er viel von dem Ver¬
größerungsplan gesprochen und habe damals wohl die Verwaltung der
Aktiengesellschaft vernachlässigt. Juli 1904 habe er in Berlin ein Kohlen¬
geschäft eingerichtet, dessen Verwaltung er ganz dem damals 17 jährigen
Sohn überlassen habe; er selbst habe kein Interesse dafür gehabt, habe
sich dauernd mit seinen Prozeßangelegenheiten beschäftigt; die Folge sei
gewesen, daß das Geschäft in Konkurs kam. Er habe damals sehr viel
geschrieben, vielfach die Schriftstücke zerrissen und wieder neue ge¬
schrieben. Auf Einwendungen und Warnungen gegen den Inhalt seiner
Schriften sei er abweisend und unzugänglich gewesen, habe erklärt, es
sei seine Sache. Im Gegensätze zu früher habe er sich damals nicht mehr
um die Erziehung seiner Kinder gekümmert, er sei reizbar, manchmal
grob zu den Angehörigen gewesen, habe viel geschimpft, habe nachts
nicht geschlafen, sei erst gegen Morgen eingeschlafen. Er habe in der Zeit
viel davon gesprochen, daß er sein Geld aus der Aktiengesellschaft wieder-
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Hans Seelert,
*
bekommen müsse, habe Pläne darüber gemacht, was er mit dem Gelde
anfangen werde; er habe schon die Zinsen von dem Gelde ausgerechnet,
habe ausgerechnet, wieviel Geld er jedem Kinde geben werde. Vor jedem
Gerichtstermin sei er hofTnungsfreudig gewesen, nachher habe er ge¬
schimpft, daß die Richter auf seiten des Justizrats W. ständen. Er habe
sich in den ganzen Jahren nicht darum bemüht, verdienstbringende Tätig¬
keit zu finden. 1914, vor Beginn des Krieges, fiel dem Sohn gelegentlich
eines Besuches beim Vater auf, daß dieser wieder anders war, daß er wieder
Interesse für die Familie hatte, nicht mehr so viel schrieb.
Die körperliche Untersuchung des L. ergab folgenden Befund: L. ist
mittelgroß, mittelkräftig, er befindet sich in reduziertem Ernährungs¬
zustand. Sein Körpergewicht betrug am 29. 1. 16 65 kg, am 26. 2. 16
67,5 kg. Für sein Alter von 62 Jahren sieht L. recht rüstig aus; er ist stark
kurzsichtig. An Brust- und Bauchorganen fanden sich keine krankhaften
Veränderungen; an den fühlbaren Arterien waren arteriosklerotische Ver¬
änderungen nicht zu erkennen. Der Harn war frei von Eiweiß und Zucker.
Die Pupillen sind gleichweit, sie reagieren gut auf Licht und Einstellung
der Augen für die Nähe. Die Bewegung der Augen, der Gesichtsmuskeln
und der Zunge sind nicht gestört; es besteht eine Konvergenzschwäche der
Augen, wahrscheinlich bedingt durch die Kurzsichtigkeit. Die Bauch¬
decken- und Hodenreflexe, die Kniesehnen- und Achillesreflexe sowie die
Zehenreflexe verhalten sich normal. Bewegungsstörungen bestehen nicht.
Die Schmerzempfindung ist normal.
• Während der Beobachtung in der Klinik zeigte L. ein der Situation
entsprechendes Verhalten, nichts, das auf krankhafte Störungen auf psychi¬
schem Gebiet hinwies. Auf die Untersuchung ging er stets bereitwillig ein
und gab ausführlich auf alle Fragen Auskunft. Ausführlich berichtete er
in sachlicher Art über seine Prozeßangelegenheiten; dabei zeigte sich immer
wieder, daß jetzt im Vordergründe seines Denkens „die Beweise“ stehen,
die er jetzt in dem Büchergutachten und in der von ihm aufgestellten
Bilanz von 1903/04 zu haben glaubt. Er ist fest davon überzeugt, daß er
mit diesen das Wiederaufnahmeverfahren durchsetzen und nachweisen
werde, daß er unschuldig verurteilt worden ist; alle Einwendungen und
andere Möglichkeiten lehnte er ab. Bei Schilderung seiner Prozeßange¬
legenheiten blieb er ruhig, zeigte dabei keine Steigerung der Affektreaktion.
Anhaltpunkte für durch Krankheit und das vorgerückte Alter ver¬
ursachte Abnahme der intellektuellen Fähigkeiten waren bei L. nicht zu
erkennen. Über körperliche Beschwerden klagte er in der Klinik nicht;
der Schlaf war gut.
Zusammenfassung und Gutachten. — Nach dem Ergebnis der
Untersuchung und dem Akteninhalt ist anzunehmen, daß L. einen sich
über mehrere Jahre erstreckenden krankhaften Verstimmungszustand
gehabt hat, der reaktiv nach affektbetonten Erlebnissen aufgetreten ist.
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
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Wahrscheinlich war es ein auf dem pathologischen Boden hypomanischer
Konstitution entstandener Krankheitzustand.
Die Symptome des krankhaften Zustandes bestanden nach seiner
eigenen Schilderung, der seiner Angehörigen und dem, was wir aus den
bei den Akten befindlichen zahlreichen Schriftstücken entnehmen können,
in gesteigerter affektiver Reizbarkeit, in Störung des Schlafes und in Ein¬
engung des Interessenkreises unter einem krankhaft überwertigen Vor¬
stellungskomplex. Das Vorherrschen des Vorstellungskomplexes der
rechtlichen Benachteiligung führte unter der krankhaft veränderten Af¬
fektivität zu krankhaften Mißdeutungen seiner Erlebnisse im Sinne der
sein Bewußtsein beherrschenden Vorstellung der Benachteiligung. Es
läßt sich aus dem Akteninhalt verfolgen, wie die auf krankhafter Grundlage
entstandenen Gedankengänge der rechtlichen Benachteiligung bei L. mehr
und mehr erweitert wurden. Sie knüpften an Differenzen an, die L. mit
Justizrat W. innerhalb der Aktiengesellschaft hatte. L. hielt und hält W.
auch heute noch für den Urheber seiner rechtlichen Benachteiligung.
Für die ärztliche Beurteilung ist es belanglos, ob diese Annahme zutreffend
ist oder nicht. Daß L. in dem Verstimmungszustande die Handlungsweise
des W. in krankhafter Weise verkannte, geht mit Wahrscheinlichkeit daraus-
hervor, daß er sie heute, nachdem der krankhafte Zustand vorüber ist,
anders beurteilt als damals. Es wird dieses ferner wahrscheinlich aus der
Art, wie er in dem krankhaften Zustande andere Erlebnisse damit in Zu¬
sammenhang brachte, und wie er seine Schlußfolgerungen zog.
Aus der Erfahrung, daß er mit seinen Eingaben an die Gerichte und
mit seinen Strafanträgen sein Ziel nicht erreichte, zog er unter der in seinem
Bewußtsein überwertigen Überzeugung, daß das Recht auf seiner Seite
sei, den Schluß, daß Richter und Oberstaatsanwalt absichtlich seine Be¬
weise nicht prüfen und nicht anerkennen wollten, weil sie W., der Jurist ist
und mit ihnen bekannt war, begünstigen wollten. In gleichem Sinne mi߬
deutete er die richterliche Anordnung der Untersuchung seines Geistes¬
zustandes.
Die Abweisung seiner Strafanträge war nicht geeignet, sein Urteil
zu korrigieren. Auch hierin zeigt sich die krankhafte, Überwertigkeit des
ihn damals beherrschenden Vorstellungskomplexes. Sie tritt ferner hervor
in der Art, wie er sein Ziel zu erreichen suchte, und in der Bedeutung, die
er damals seinen persönlichen Angelegenheiten für die allgemeine Recht¬
sprechung beimaß; es kommt dieses zum Ausdruck in seiner Beschwerde¬
schrift an den Justizminister.
Ausgelöst und unterhalten wurde der krankhafte Zustand bei L.
durch die Gemütserregungen, die sich für ihn aus seinen Schwierigkeiten
mit der Aktiengesellschaft ergaben, aus der Abweisung der Klage der Frau
Sch. und vor allem wohl aus seiner strafrechtlichen Verurteilung. Aus
seinen Angaben und aus den Akten geht hervor, daß der krankhafte Zu¬
stand nicht dauernd mit gleicher Intensität bestand, sondern Schwankungen
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Hans Seelert,
aufwies. Eine Besserung scheint 1910 während seiner Strafhaft aufge¬
treten zu sein. Eine Besserung, die bis zum Schwinden der Krankheit¬
erscheinungen fortschritt, stellte sich wiederum 1914 ein.
Jetzt ist der krankhafte Zustand bis zur Krankheiteinsicht abge¬
laufen. Für dieses Urteil ist es gleichgültig, ob die den L. jetzt beherr¬
schende Ansicht, daß er jetzt in der Lage sei, zu seinem Ziel zu kommen
und seine Unschuld nachzuweisen, zutreffend Lst oder nicht.
Für die Frage, ob L. den der Anklage zugrunde liegenden Brief vom
tu. 12. 11 im Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne
des § 51 StGB, geschrieben hat, kommt in Betracht, daß bei ihm in dieser
Zeit der krankhafte Verstimmungszustand bestand, und daß die Krank¬
heiterscheinungen in diesem derartige waren, daß die Voraussetzungen des
§ 51 Vorlagen.
Wir geben daher unser Gutachten dahin ab, daß L. sich zur Zeit
<ler Begehung der Straftat, die der Anklage zugrunde liegt, im Zustande
krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 StGB, befun¬
den hat.
Das Symptomenbild der psychischen Krankheit des L. entspricht
in allen Einzelheiten den als Querulantenwahn bezeichneten Psychosen.
Die psychischen Elementarsymptome sind pathologische Erscheinun¬
gen auf affektivem Gebiete und ein krankhaft überwertiger Vor¬
stellungskomplex. Beide sind eng miteinander verknüpft.
Der primäre Kern der Erkrankung liegt zweifellos in der krank¬
haft veränderten Affektivität. Auf ihrer Grundlage erhält der vor¬
herrschende Vorstellungskomplex der unrechtmäßigen Benachteiligung
seine krankhafte Überwertigkeit und damit seinen pathologischen
Einfluß in der Psycho des Kranken.
Nach Abklingen des krankhaften Affektes hat der Pat. die Vor¬
stellung der unrechtmäßigen Benachteiligung behalten, sie hat bei ihm
nichts an Überzeugungstreue eingebüßt, im Vordergründe seines Den¬
kens stehen weiter „die Beweise“, die er zu seiner Rechtfertigung
führen will, die Wahnbildung aber, die hier auf krankhafter Mißdeutung
der in Zusammenhang mit dem Vorstellungskomplex der Benach¬
teiligung stehenden Erlebnisse beruht, hat mit Abklingen des patho¬
logischen Affektes aufgehört, es ist sogar zur Korrektur der zur Zeit
des pathologischen Affektes entstandenen wahnhaften Mißdeutungen
gekommen. Daraus geht hervor, daß die krankhaft veränderte Affek¬
tivität die Grundlage der Wahnbildung bei dem Pat. ist; die Vorstellung
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der unrechtmäßigen Benachteiligung bestimmt nur die Richtung der
Wahnbildung.
Mit dem Abklingen des Affektes und dem Schwinden der Wahn¬
vorstellungen änderte sich das Verhalten des Kranken. Während des
krankhaften Zustandes beschränkte sich seine Betätigung ausschlie߬
lich darauf, seine Rechtsansprüche durchzusetzen. Er vernach¬
lässigte dabei Familie, Geschäft und Verdienst, seine Lebensführung
wurde eine andere, sie wurde geleitet durch den Vorstellungskomplex
der rechtlichen Benachteiligung. Nachdem jetzt die Affektivität des
Pat. aus der pathologischen wieder zur gesunden Form zurückgekehrt
ist, besteht zwar der Vorstellungskomplex der Benachteiligung bei
dem Kranken fort, aber er hat seinen starken Einfluß im Seelenleben,
seine krankhafte Überwertigkeit verloren. Die krankhafte Über¬
wertigkeit des Vorstellungskomplexes zeigt sich hier in selten durch¬
sichtiger Weise an den krankhaften Affekt gebunden. Die Affekt¬
betonung, die der Vorstellungskomplex nach Abheilen des krankhaften
Affektes behält, liegt im Rahmen der Gesundheitsbreite. In diesem
Rahmen halten sich jetzt auch die Handlungen des L., die er im
Sinne des Vorstellungskomplexes der Benachteiligung unternimmt.
Seine Eingaben an die Gerichte werden nach Zahl und Form sachlich
bestimmt, seine Vielgeschäftigkeit in Verfolgung seiner Rechtsan¬
sprüche hat trotz des Weiterbestehens der festen Überzeugung der
rechtlichen Benachteiligung aufgehört, die Mittel und Wege, die er
einschlägt, halten sich in den gebräuchlichen Formen.
In allem zeigt sich, daß in der Psychose das treibende Element
der krankhafte Affekt war. Der krankhafte Affekt ist der pathologi¬
sche Kern der Erkrankung; durch ihn erhielt der Vorstellungskomplex
der rechtlichen Benachteiligung pathologische Überwertigkeit. Auf
der Grundlage der krankhaften Affektivität ist es unter dem Einfluß
des überwertigen Vorstellungskomplexes zu krankhaften Mißdeutungen
von Erlebnissen im Zusammenhang mit diesem Vorstellungskomplex
gekommen. Als weitere krankhafte Erscheinungen werden uns Störun¬
gen des Schlafes und die affektive Reizbarkeit genannt. Andere Er¬
scheinungen, wie Änderung der Lebensweise, Einengung des Inter¬
essenkreises, Schreibdrang sind sekundäre Erscheinungen, es sind
psychische Eigenarten, die für Querulantenwahn charakteristisch sein
können, die aber niemals die Bedeutung psychopathologischer Symp-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 4.
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Hans Seelert,
tome in klinischem Sinne haben. Es ist unzureichend, sich bei der
Diskussion über die Nosologie des Querulantenwahnes, wie eines
psychischen Zustandsbildes überhaupt, auf Betrachtung und klinische
Einschätzung derartiger allgemeiner Erscheinungen zu beschränken.
Zum Ziel kann nur eine genaue symptomatologische Analyse der patho¬
logischen Erscheinungen führen.
Entstanden ist der krankhafte Zustand, wie wir aus den Angaben
des Pat., denen seines Sohnes und den anamnestischen Daten aus
den Akten entnehmen können, reaktiv nach affektbetonten Erleb¬
nissen. Die Enttäuschung, die er mit seinen Plänen der Vergrößerung
der Gütereisenbahn erleben mußte, und Schwierigkeiten in der Aktien¬
gesellschaft werden die ersten auslösenden Ursachen gewesen sein,
der Prozeß seiner Wirtschafterin, der seine eigene pekuniäre Lage
berührte, und schließlich der Strafprozeß, der seine Verurteilung zur
Folge hatte, waren geeignet, anhaltenden Einfluß auf die Stimmung
auszuüben und starke Affekterregungen zu erzeugen. Dazu kamen
dann noch andere Prozesse, die gegen ihn angestrengt wurden.
Die Erkrankung scheint eine allmähliche Entwicklung, allmähliche
Steigerung und auch allmählichen Abfall gehabt zu haben. Der Beginn
der krankhaften Verstimmung vollzog sich wahrscheinlich schon im
Jahre 1904 nach einem Unfall mit Kopftrauma und einer Erkrankung,
die als Gicht bezeichnet worden war. In der zweiten Hälfte des Jahres
1914 und in der ersten von 1915 heilte der Zustand ab. 1908 stellte
sich, während L. in Strafhaft war, eine vorübergehende Remission ein.
Vorausgegangen ist der Erkrankung eine Zeit von der Dauer etwa
eines Jahres, in der L. eine erhöhte geschäftliche Tätigkeit und gestei¬
gerten Eifer an den Tag legte, er betrieb damals die Vorarbeiten zum
geplanten Vergrößerungsbau der von ihm verwalteten Bahn der Ak¬
tiengesellschaft. Die Heilung ist bis zur Krankheitseinsicht gelangt.
L. sieht jetzt ein, daß er einen krankhaften Verstimmungszustand mit
gesteigerter aktiver Erregbarkeit durchgemacht hat, er korrigiert die
krankhaften kausalen Verknüpfungen seiner damaligen Erlebnisse,
ohne die Überzeugung, daß er im Recht gewesen und rechtlich be¬
nachteiligt worden ist, verloren zu haben. Wenn L. jetzt das Ab¬
klingen des krankhaften Affektes darauf zurückführt, daß er mit dem
Gutachten des Bücherrevisors und mit der von ihm aufgestellten Bilanz
der Aktiengesellschaft sichere Beweise für seine unrechtmäßige Ver-
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Zur Pathologie des Querui&ntenwahnes-
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urteilung erhalten habe, so wird zuzugeben Fein, daß die Erlangung des
Büchergutachtens und sein Inhalt einen günstigen Einfluß auf seine
Stimmung ausgeübt haben werden. Diese Anschauung des L. kann
nicht als Zeichen unvollständiger Krankheitseinsicht angeführt werden,
ebensowenig können dafür angesehen werden seine Behauptungen,-
daß Justizrat W. der Urheber seiner rechtlichen Benachteiligung ist,
daß das Gericht aus Irrtum ein falsches Urteil gegen ihn gefällt habe,
und daß er jetzt in dem Gutachten des Bücherrevisors und in der Auf¬
stellung der Bilanz die Beweise zum Nachweis seiner unrechtmäßigen
Verurteilung habe. Ihre pathologische Überwertigkeit haben diese
Vorstellungen verloren, ob sie den Tatsachen entsprechen, werden die
Gerichte zu entscheiden haben, für die ärztliche Beurteilung des Pat.
ist das belanglos.
Bei Entscheidung der Frage, welcher Art die affektive Verstim¬
mung des L. gewesen ist, weisen uns die Angaben seiner Wirtschafterin
und seine eigenen nach bestimmter Richtung hin. Er selbst gab an,
er habe von Jugend an ein heiteres Grundtemperament gehabt, sei
gern in Gesellschaft und ein guter Unterhalter gewesen, er habe viel
geschafft im Leben, Unternehmungslust in geschäftlichen Dingen
gehabt. Von seiner Wirtschafterin, mit der er seit 20 Jahren zusammen
lebt, wurde L. als fleißiger, strebsamer, lebhafter Mensch geschildert,
der immer Optimist gewesen sei. Diese Schilderungen machen es in
Verbindung mit dem ganzen Untersuchungsbefund wahrscheinlich,
daß L. ein Mensch von hypomanischer Konstitution ist, die Lebhaftig¬
keit und Gewandtheit, die L. in der Klinik bei der Unterhaltung zeigte,
ist geeignet, uns in dieser Annahme zu bestärken. Von seinem Vater
sagt L., er sei auch so wie er „spekulativ veranlagt“ gewesen.
Die angeführten klinisch-pathologischen Merkmale mußten uns
bei ihrer Kombination miteinander zu der Anschauung bringen, daß
der Krankheitszustand des L. mit dem Bilde des Querulantenwahns
ein auf dem Boden endogener hypomanischer Konstitution ent¬
standener Verstimmungszustand mit paranoischen Symptomen ge¬
wesen ist, Verlauf und Ausgang der Erkrankung sprechen gleichfalls
dafür. Daß ausgesprochene paranoische Erkrankungen auf dem Boden
manisch-depressiver Veranlagung entstehen, zeigen uns die klinischen
Erfahrungen. Vor einigen Jahren konnten wir hier in der Klinik einen
Patienten mit rein paranoischem Krankheitsbild beobachten, bei dem
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sich an dem Symptomenbilde der paranoischen Psychose die depressiven
und manischen Elementarsymptome mit Deutlichkeit nachweisen
ließen*). Dieser Kranke ist später durch Suizid gestorben. Bei L. ?
der uns erst zur Untersuchung zugeführt wurde, nachdem seine Krank-
•heit schon länger alsein Jahr abgeheilt war, ist die symptomatologische
Analyse nicht so weit möglich gewesen; seine Schriften aus der Krank¬
heitszeit lassen nichts erkennen, das mit Bestimmtheit als manisches
oder depressives Symptom aufgefaßt werden kann, sie zeichnen sich
aus durch formelle Gewandtheit und sind zum Teil auffällig durch
viele Unterstreichungen.
Das Abheilen der Psychose, das diesen Fall von Querulantenwahn
besonders beachtenswert macht, ist ein klinisches Moment, das zur
Diagnose der manischen Verstimmung mit paranoischen Symptomen
beigetragen hat. Wäre die Psychose nicht zur Heilung gekommen,
so würden sich für die Anschauung, daß eine manische Erkrankung
Vorgelegen hat, zwar auch Wahrscheinlichkeitsgründe anführen lassen,
eine wesentliche Stütze der Diagnose würde jedoch fehlen.
Schwieriger als bei diesem Patienten ist die nosologische Beur¬
teilung in einem andern Falle, den wir vor 2 Jahren in der Klinik be¬
obachtet haben, und der jetzt wieder nachuntersucht werden konnte.
Auch dieser Patient wurde gemäß § 81 StPO, untersucht und begut¬
achtet. Es wurde das folgende Gutachten abgegeben.
Berlin, den 14. März 1914.
Auf Ersuchen des Herrn Untersuchungsrichters vom Landgericht I
Berlin erstatten wir das gewünschte Gutachten über den Geisteszustand
des 43jährigen Kaufmanns Hermann K. Das Gutachten erfolgt nach
Untersuchung und Beobachtung des K. in der Psychiatrischen Klinik der
Königlichen Charitö vom 16. 1. bis 26. 2. 1914 und nach Einsicht der
Akten und Beiakten. K. ist siebenmal vorbestraft wegen Beamtenbeleidigung,
öffentlicher Beleidigung, Unterschlagung, Vergehens gegen das Waren¬
zeichengesetz, betrügerischen Bankerotts, versuchter Erpressung, Be¬
leidigung.
Jetzt schweben gegen ihn mehrere Verfahren wegen Betruges und
Untreue. Am 25. 2. 13 wurde er in London festgenommen und befindet sich
seit seiner Auslieferung im Juni 1913 in Untersuchungshaft. In dem einen
Verfahren sind Mitbeschuldigte des K. der Vermittler Hermann R. und
der Inhaber einer Auskunftei Wilhelm J.
*) Seelert, Paranoische Erkrankung auf manisch-depressiver Grund¬
lage. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 36, 1914.
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
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In dem Haftbefehl vom 15. 3. 13 wird K. beschuldigt, im Januar und
Februar 1913 in der Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil
zu verschaffen, das Vermögen der offenen Handelsgesellschaft in Firma
von G. und K. dadurch beschädigt zu haben, daß er durch Vorspiegelung
der falschen Tatsache, er wolle Wechsel für die Firma diskontieren, während
er den Erlös tatsächlich für sich verwenden wollte, einen Irrtum erregte.
In diesem Haftbefehl ist folgender Sachverhalt ausgeführt. K. hatte sich
erboten, für jene Firma 1 000 000 M. auf Wechsel zu verschaffen. Dem
Mitinhaber der Firma K. und dem Angestellten M. hat er sich als Berg¬
werksbesitzer und Fabrikbesitzer ausgegeben und hat davon gesprochen,
daß er in London eine Aktiengesellschaft mit 4 Millionen Mark gründen
werde; er hatte einen Katalog einer Fabrik von K. vorgezeigt, die er als
die seinige ausgab. Im Vertrauen auf die Angaben des K. und veranlaßt
durch sein sicheres Auftreten, übergab die Firma ihm Wechsel zur Ge¬
samtsumme von 1 100 000 M. und eine Generalvollmacht. K. reiste nach
Paris ab. Von dort aus schrieb er, daß er sich in eigener Sache nach Liver¬
pool begeben habe. Trotz vielfacher telegraphischer und schriftlicher
Mahnung berichtete er nicht über die Ausführung seines Auftrages. Von
London aus vertröstete er ohne Angabe seiner Adresse die Firma. Einen
Teil der Wechsel hatte er inzwischen zurückgeschickt; zwei Wechsel zu
je 50 000 M. hatte er weitergegeben. In London wurde er auf Veranlassung
der Firma verhaftet.
Ajm 22. 3. 13 wurde gegen K. auf Antrag der Staatsanwaltschaft
Voruntersuchung eröffnet in der Sache, in der er wegen Untreue beschuldigt
wird; er soll im Jahre 1909 als Bevollmächtigter über Forderungen seiner
Auftraggeber, nämlich über von ihm für die früheren Inhaber der Berliner
Ölhandelsgesellschaft eingezogene Forderungen in Höhe von 1899 M.
absichtlich zum Nachteil seiner Auftraggeber verfügt haben, indem er die
Forderungen einzog und das Geld zu seinem Nutzen verwandte. Am
19. 4. 13 wurde die Voruntersuchung eröffnet wegen der Anschuldigung
der Staatsanwaltschaft wegen Betruges und schwerer Urkundenfälschung
und wegen versuchten Betruges. K. soll das Vermögen des Rentiers K.
um 15 000 M. und um 25 000 M. geschädigt haben, in rechtswidriger Ab¬
sicht eine öffentliche Urkunde fälschlich angefertigt und von derselben zum
Zwecke einer Täuschung Gebrauch gemacht haben, um sich einen Vermögens¬
vorteil zu verschaffen, er soll ferner versucht haben, um sich einen rechts¬
widrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen des Agenten L.
zu schädigen. Es handelt sich hierbei um Wechsel- und Hypotheken¬
geschäfte. Am 7. 6. 13 wurde die Voruntersuchung ausgedehnt auf die
im Haftbefehl vom 3. 5. 13 erhobene Beschuldigung des Betruges gegen
die Frau G. in den Jahren 1911 und 1912; auch in diesem Falle handelt es
sich um Hypothekengeschäfte. K. soll es verstanden haben, sich einen
Hypothekenbrief über 150 000 M., der auf eine Zeche in M. eingetragen war,
von der Frau G. zedieren zu lassen, ohne daß diese die Absicht hatte, die
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Hans Seelert,
Hypothek aus den Händen zu geben und zu zedieren. Am 20. 9. 12 wurde
die Voruntersuchung eröffnet gegen K., R. und J. auf Antrag der Staats¬
anwaltschaft wegen der Beschuldigung des Betruges im Jahre 1911 und
1912 gegen die Firmen B., H., I., K., T. In diesen Fällen handelt es sich
darum, daß Waren von diesen Firmen auf den Namen K. und R. bestellt
und später nicht bezahlt wurden. In dem Fall B. geschah die Bestellung
von K. auf einem Briefbogen, dessen Kopf mit der Firma „Krasta Original-
kraftbandgesellschaft mit beschränkter Haftung“ versehen war; K. be-
zeichnete sich darauf als Direktor der Gesellschaft. In dem Haftbefehl
vom 21. 3. 13 wird diese Firma als eine Sehwindelfirma, gegen die die
Zwangsvollstreckungen fruchtlos ausfielen, bezeichnet. In einem weiteren
Verfahren wegen Betruges an dem Kommissionär F. im Jahre 1911 handelt
es sich um Wechselgeschäfte; auch in diesem Falle soll K. die falsche Tat¬
sache vorgespiegelt haben, daß er und die von ihm vertretene Gesellschaft
Krasta zahlungsfähig seien, während beide unvermögend waren. Dem Ver¬
fahren wegen Betruges an dem Verlagsbuchhändler J. liegen auch Geld¬
geschäfte zugrunde.
Aus dem ganzen Aktenmaterial geht hervor, daß K. an sehr vielen
geschäftlichen Unternehmungen beteiligt war. In einem Schreiben vom
19. 9. 13 an Herrn Medizinalrat St. hat er einen Teil seiner Geschäftsunter¬
nehmungen seit 1907 und einige Geschäftsprobleme, deren praktische Aus¬
führung er vorhatte, aufgezählt; er erklärt in dem Schreiben, daß er un¬
endlich viel mehr Geschäfte gemacht, als er an dieser Stelle aufgezählt
habe. Aus dieser Aufzählung ist zu erwähnen, daß er 1908 die Verwertung
eines Vexierspieles betrieben habe, das so aufgebaut sei, daß Dritte Millionen
beisteuern, ohne zu erkennen, daß damit nur ein großes Warenversandhaus
in die Welt gesetzt und bekannt gemacht werden soll. Er erwähnt in diesem
Schreiben weiter, daß er seit 10 Jahren sein Geschäft Crödit mobilier in
ganz besonderer Art in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln beabsichtige,
wozu jedoch 10 Millionen gehören, die durch Spiel und die Krastagesell-
schaft beschafft werden sollen, in ein bis zwei Jahren werde es dann das
größte Bankhaus sein, das existiert. Er habe die Idee gehabt, die zur
Durchführung erforderlichen Mittel durch ein Spielsystem zu beschaffen,
durch das er täglich 40 000 bis 1 y 2 Millionen der Bank schon hätte ent¬
ziehen können, so daß er dadurch in den Stand gesetzt wäre, seine geschäft¬
lichen Ideen trotz aller Anfeindungen zu verwirklichen. In einem Briefe
an seine Frau schrieb er, daß er eine glänzende Idee habe, schnell Millionen
zu verdienen, auch das System für das Roulette fein durchgedacht habe.
Ein Verlust sei jetzt ganz unmöglich. Ein weiteres Problem des K., mit
dem er auch an die Öffentlichkeit getreten ist, ist seine Idee, Untersee¬
bahnen herzustellen. In den Akten des Landgerichts L. befinden sich
einige Blätter des Leipziger Tageblattes und der Frankfurter Zeitung aus
dem Jahre 1904, in denen dieser Plan und die von K. daran angeknüpften
phantastischen finanziellen Spekulationen kritisiert werden. Dort be-
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Zur Pathologie des Querulantenwahoes.
325
findet sich auch eine Zeitungsnotiz, die auf das Rätselhafte seiner Idee,
die dem Crödit mobilier zugrunde liegt, hinweist.
Von verschiedenen Zeugen ist angegeben worden, daß K. in seinem
Auftreten andern gegenüber sehr selbstbewußt war, mit seinen geschäft¬
lichen Unternehmungen, seinen Vermögensverhälfnissen und seiner ge¬
schäftlichen Leistungsfähigkeit prahlte. Nach den Aussagen des Zeugen K.
hat er sich diesem gegenüber als reicher Bergwerks- und Fabrikbesitzer
ausgegeben, hat erzählt, daß er in England eine Aktiengesellschaft mit
4 Millionen gründen werde, daß er für die Firma von G. und K. mit Leichtig¬
keit eine Million beschaffen könne. Zeuge Architekt B. hat ebenfalls ange¬
geben, daß der Angeschuldigte mit seinen Unternehmungen und mit seiner
Fähigkeit, leicht Geld verschaffen zu können, prahlte. Sein Auftreten dem
Zeugen H. gegenüber, bei dem er eine Wohnungseinrichtung von 40 000 M.
bestellte, war derartig, daß der Zeuge die Überzeugung gewann, der An¬
geschuldigte sei reich.
Diese hohe Einschätzung seiner persönlichen Leistungen ist bei K.,
wie aus den Akten hervorgeht, nicht erst praktisch in Erscheinung getreten
während der jetzt schwebenden Strafverfahren. Nach den Zeugenaus¬
sagen seines Vaters und seines Bruders hatte er auch früher, wie der Vater
und Bruder sich ausdrücken, eine Art Größenwahn, wollte immer hoch
hinaus bei seinen kaufmännischen Unternehmungen, rechnete dabei nur
nach Millionen, brachte sich durch seine Unternehmungen oft in Not, so
daß er von dem Vater unterstützt wurde.
Im Widerspruch /u dieser Selbsteinschätzung seiner persönlichen
Verhältnisse stehen bei K. objektive Aussagen von Zeugen und Sachver¬
ständigen über Einzelheiten seiner geschäftlichen Tätigkeit und seiner
Vermögensverhältnisse. Die Zeugin G. hat angegeben, daß K. ein gut
eingerichtetes Kontor] hatte, das die Schilder „Krastagesellschaft“ und
,,Berliner Ölhandelsgesellschaft“ trug, daß aber in der Zeit von Oktober
1911 bis Januar 1912, in der sie in dem Kontor tätig war, für diese beiden
Gesellschaften ihrer Beobachtung nach Geschäfte nicht gemacht wurden,
daß während ihrer Anwesenheit ein Kunde in Geschäften dieser Gesell¬
schaften nicht gekommen sei.
Nach den Zeugenaussagen des Amtsgerichtssekretärs M. hat der
Angeschuldigte im Jahre 1902 das Steinkohlenbergwerk Zeche M. für
6000 M. erworben. Auf diese Zeche hat er eine Hypothek von 150 000 M.
eintragen lassen, diese hat er dann als sehr wertvolle erstklassige Hypothek
gerühmt. Nach Auskunft des herzoglichen Bergamtes O. vom 24. 4. 13
und der Polizeiverwaltung M. hat seit 1907 eine Förderung in der Gruben¬
zeche M. nicht stattgefunden; April 1913 war dort kein Arbeiter beschäf¬
tigt. Nach dem Urteil der Königlichen geologischen Landesanstalt Berlin
vom 15. 5. 13 hat das Steinkohlenbergwerk M., da es zurzeit nicht förde¬
rungsfähig ist, überhaupt keinen wirtschaftlichen Wert, sondern nur einen
sehr bedingten und geringen Spekulationswert. Der Sachverständige
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326
Hans Seelert.
Bergrat L. erklärte in seinem Gutachten vom 26. 5. 13, daß er nach den
vorliegenden Unterlagen dem Grubenfelde vom bergmännischen Stand¬
punkt aus einen irgendwie nennenswerten Wert nicht zusprechen könne,
es liege nichts vor, das die Annahme auf ein bauwürdiges Vorkommen von
Steinkohlen irgendwie*rechtfertigen könne.
Mit diesen von sachverständiger Seite erteilten Gutachten über
den Wert der Zeche M. fand sich K. ab, indem er erklärte, daß er diese
Auskünfte als zutreffend nicht anerkennen könnte; es möge sein, daß sie
das Richtige treffen, könne aber auch anders sein; ihm sei jedenfalls vor
Ankauf von dem verstorbenen Bergmeister H. erklärt worden, daß er die
Zeche, die er für 6000 M. gekauft habe, für 30 000 M. gefunden hätte, sie
sei die beste von ganz Thüringen, es seien ihm auch schon bis 450 000 M.
dafür geboten worden.
Den Widerspruch, der bei K. zwischen seinen Äußerungen über seine
Vermögensverhältnisse, seinen entsprechenden Handlungen und den tat¬
sächlichen Verhältnissen liegt, illustrieren weitere Zeugenaussagen. Der
Zeuge B. hat angegeben, daß der Möbellieferant von K. die Schlafzimmer¬
einrichtung wieder abholen ließ, daß K. die Miete unpünktlich zahlte und
schuldig geblieben ist, daß Lieferanten ihn häufig um Geld gemahnt haben
sollen. Nach Aussage des Direktors der Auskunftei Sch. waren die Ver¬
mögensverhältnisse des Angeschuldigten nach dem Ergebnis der Ermitt¬
lungen der Auskunftei sehr schlechte. Die Schutzgemeinschaft für Handel
und Gewerbe hat am 21. 2. 12 der Staatsanwaltschaft unter Angabe der
Aktenzeichen berichtet, daß K. am 8. 12. 11 den Offenbarungseid in einer
Zwangsvollstreckungssache geleistet hat, daß er wiederholt fruchtlos aus¬
gepfändet worden ist.
ln seinem Schreiben an Medizinalrat St. klagt K. darüber, daß ihm
durch die Haft die Realisierung seiner Millionen darstellenden Werte un¬
möglich gemacht sei.
Eine andere 'Charaktereigentümlichkeit des K., die aus dem Akten¬
material hervorgeht, ist seine abnorme Neigung zu Mißdeutungen der
kausalen Beziehungen seiner unangenehmen Erlebnisse. Die Akten ent¬
halten zahlreiche Schriftstücke, in denen er sich über den Untersuchungs¬
richter, den Staatsanwalt und das Gericht beschwert. Bei seiner Ver-
. nehmung am 9. 8. 13 durch den Untersuchungsrichter erklärte er, daß er
nach Lage der Sache nur annehmen könne, daß R. sich Schriftstücke von
ihm angeeignet habe, als er in dem Geschäftszimmer des Untersuchungs¬
richters die Papiere als Sachverständiger durchsah. In einem Schreiben
vom 13. 8. sprach er die Möglichkeit aus, daß der Untersuchungsrichter C.
die Wegnahme seines fehlenden, bei ihm beschlagnahmten Beweismaterials
und der 300 Aktien gestattet haben könnte. Am 8. 8. schrieb er an den
Untersuchungsrichter, es sei jetzt das zweite Mal, daß sein in die Hände des
Gerichtes gegebenes Entlastungsmaterial spurlos verschwindet; er bittet
in diesem Schreiben ferner um Abschriften aller Haftbefehle, wie sie dem
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 327
englischen Gericht Vorgelegen haben, da ihm gestern aufgefallen sei, daß
ihr Inhalt ein anderer war. In einem weiteren Schreiben an den Unter¬
suchungsrichter vom 16. 8. 13 schrieb er: ,,R. hat unzweifelhaft Helfer
innerhalb des Gerichts gehabt.“ Bei einer Vernehmung durch den Unter¬
suchungsrichter am 27. 9. 13 erklärte er, er stehe mit einer großen Vor¬
eingenommenheit dem Landrichter C. gegenüber, weil er annehme, daß
dieser mit Absicht sein Entlastungsmaterial in die Hände der G. und des
R. gegeben habe. In einem Brief an Rechtsanwalt B. schrieb er: „Durch
unerhörte Intrigen des R. und seiner Geliebt’en bin ich Ende Februar,
unmittelbar vor der Realisierung meiner jahrelangen Bestrebungen, auf
Veranlassung einer hiesigen Firma verhaftet worden.“ In den Akten be¬
findet sich eine Notiz, daß eine Beschwerde des K. an den Justizminister
durchgeht, nach der er bei seiner Vorstellung verharrt, daß der Unter¬
suchungsrichter den Entlastungsbeweis wissentlich durch R. abhanden
gebracht hätte.
Eine abnorme Neigung, frühere unangenehme Erlebnisse mit der
augenblicklichen Situation zu verknüpfen, zeigt sich in einer Äußerung
des K. am 6. 10. 13; er stellte damals den Antrag, ihm mitzuteilen, in
welche Irrenanstalt er übergeführt werden solle, da es für ihn von großem
Interesse sei, zu wissen, welche Ärzte in der Anstalt sind; er habe nämlich
früher mit weiten ärztlichen Kreisen Differenzen gehabt.
In einem Schreiben vom 5. 10. 13 an die Strafkammer lehnte er den
i
Untersuchungsrichter C. wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Er
schreibt dann weiter: „Landrichter C. hat während des bisherigen Ver¬
fahrens dauernd gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu meinem Nachteil
verstoßen.er hat nach Bekundung einer Zeugin die Beiseiteschaffung
des gesamten Beweismaterials, welches zu meiner Entlastung diente, ge¬
stattet, und zwar aus seinem Amtszimmer sogar.Für mich ging auch
aus andern Tatsachen die Mitschuld des Landrichters C. hervor, abge¬
sehen davon, daß ich sofort nach der mir bekannt gewordenen Beschlag¬
nahme bei mir den englischen Richter davon benachrichtigte und aus¬
sprach, daß ich überzeugt sei, daß nunmehr alle diese meine Entlastungs¬
beweise verschwinden würden, was ja a tempo auch eingetroffen ist. Daraus
geht hervor, daß mein Gefühl, meine geäußerten Ansichten usw. in jeder
Beziehung richtig waren.“ — Am 11. 10. 13 schrieb er, er habe den Ein¬
druck, Landrichter C. wolle ihm in jeder Weise Schwierigkeiten bereiten.
Durch Beschluß der Strafkammer vom 17. 9.13 wurde die Beschwerde
des K. gegen den Untersuchungsrichter für unbegründet erklärt; in der
Begründung des Beweisbeschlusses heißt es, daß die schweren Vorwürfe
und Beschuldigungen des Angeschuldigten, wie insbesondere der Vorwurf
der Beiseiteschaffung des Entlastungsmaterials aus dem Richterzimmer
durch R., der Entwendung oder Unterschlagung von beschlagnahmten
Aktien so aufs Geratewohl und völlig beweislos aufgestellt seien, daß sie
von vornherein nicht den geringsten Anspruch auf Glauben haben.
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328
Hans Seelert,
Wie weitere bei den Akten befindliche Schreiben des K. zeigen,
nahmen seine Vorstellungen, unrechtmäßig behandelt zu werden, immer
krassere und größere Ausdehnung an. Er beschwerte sich auch weiterhin,
wie er es schon früher, nach Beschluß der Strafkammer beweislos, getan
hatte, darüber, daß er seine Briefe zu spät erhalte; in einem Schreiben vom
22. 10. 13 zieht er die Unparteilichkeit des Untersuchungsrichters in Frage,
er protestiert gegen den Strafkammerbeschluß vom 17. 10. 13 und fährt
dann fort: ,,...denn meine Strafanträge gegen alle meines Erachtens
bewußt mir meine Rechte schmälernden Richter werden ja die notwendige
Aufklärung bringen“. In einer Beschwerde an das Kammergericht schrieb
er am 23. 10. 13, der Untersuchungsrichter habe bewußt § 123 StPO, ver¬
letzt, und fuhr dann fort: „Ebenso wie m. E. die Strafkammer und der
Staatsanwalt schwer das Recht zu meinem Nachteil verletzten, denn es
darf doch kein Haftbefehl aufrechterhalten werden, wenn die absolut und
einwandfrei vorliegenden Schriften usw. das Gegenteil ausweisen, als was
der Haftbefehl behauptet, und wenn an Hand von früheren eidlichen Zeugen¬
aussagen und Gerichtsakten die jetzigen eidlichen Aussagen derselben
Personen als Meineide klipp und klar bewiesen werden ?“ In einer andern
Beschwerde an das Kammergericht schrieb er: „Aber Herr Landrichter C.
ist befangen, und in seinen Händen muß ich mich als rechtlos ansehen“,
und weiter: „Es ist mir das Recht bis heute genommen worden, andere
Richter (nur Herr Untersuchungsrichter L. nicht) haben sich dem un¬
gesetzlichen Verweigerungsprinzip angeschlossen und somit, mit oder
ohne Beeinflussung durch Herrn C., das Recht zu meinem Nachteil bewußt
gebeugt.“ Er schildert dann in dem Schreiben, daß, anläßlich einer Unter¬
redung zwischen den Untersuchungsrichtern, ihm und seiner Frau über
das Verschwinden seiner Entlastungsbeweise, der Untersuchungsrichter C.
plötzlich an den Untersuchungsrichter L. herangetreten sei und ihn schnell
mit dem Fuß angestoßen habe, wobei jener sich sofort in seinen Worten
unterbrochen habe. Die Beschwerde an das Kammergericht wurde als
unbegründet zurückgewiesen.
In einem Briefe des K. an seine Frau vom 17. 12. 13, von dem sieh
eine Abschrift* bei den Akten befindet, kommt zum Ausdruck, wie bei der
Neigung des K. zur Erklärung seiner augenblicklichen Situation als Folge
der Handlungen Anderer weitere Vorstellungsreihen mit der Überzeugung
persönlicher Benachteiligung verknüpft werden. Er schrieb in dem Briefe:
„Ich komme nicht darüber hinweg, daß merkwürdig Viele erweislich Fal¬
sches gegen mich bekundet haben, und bin nach wie vor der Ansicht,
daß eine Beeinflussung zu meinem Nachteil von irgendeiner Seite seinerzeit
erfolgt ist . damit kommen ja auch die früheren Erklärungen des
Herrn Dr. W. zur Sprache, deren Erbe m. E. damals Herr C. angetreten
hat.“ In einem Brief an seine Ehefrau schrieb er, „... ich möchte auch,
daß über mich ein ungerichtlicher Arzt ein Gutachten abgibt, damit ich
das ständige Mißtrauen verliere“.
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Zur Pathologie des Querulantenwabnes.
329
Diese Neigung des Angeschuldigten zur Mißdeutung der kausalen
Beziehungen seiner unangenehmen Erlebnisse ist nicht während der jetzt
schwebenden Strafverfahren entstanden, sondern trat auch früher hervor.
In den Akten der Strafanstalt W. ist er auf Blatt 1 als Querulant bezeichnet.
In einem Schreiben an das Gericht vom 24. 4. 04 schrieb er: „Mein heutiges
erneutes Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens ist allein aus der
Tatsache, daß ein Richter mitgewirkt hat, welcher sich in Verbindung zur
Sache eine strafbare Handlung hat zuschulden kommen lassen, voll be¬
gründet.“ Der Wiederaufnahmeantrag wurde vom Gericht als unbegründet
verworfen. In einem Briefe vom 13. 1. 06, in dem er sich über die Be¬
handlung in der Haft beklagte, schrieb er: „... es liegt System darin“.
In einem Schreiben vom 20. 9. 05 an das Landgericht L. schrieb er, das
Verhalten des Staatsanwaltes lege klar eine persönliche Gehässigkeit gegen
ihn an den Tag, er solle um jeden Preis besonders behandelt werden. In
einem Schreiben vom 20. 10. 13 erklärte er, er werde nach Beendigung des
Strafverfahrens nach Argentinien gehen, da er hier ja nur Gegner und
Feinde gefunden habe.
Für die ärztliche Begutachtung sind wichtig und sind aus den Akten
zu erwähnen Angaben, die den Gesundheitszustand des Angeschuldigten
betreffen. In den Akten des Landgerichts L. befindet sich ein Zeugnis
von Dr. S. vom 15. 3. 05, der darin bescheinigt, daß er am 19. 7. 03 bei
K. einen typischen epileptischen Anfall mit Pupillenstarre, Bewußtlosig¬
keit, Zuckungen, Zungenbiß beobachtet hat. Nach einer halben Stunde
sei das Bewußtsein zurückgekehrt, mehrere Tage danach haben noch un¬
regelmäßige Zuckungen im rechten Arm bestanden. Während der Straf¬
haft in W. wurde K. oft wegen Verdauungsstörungen, Herzbeschwerden
und verschieden lokalisierten Schmerzen behandelt. Die Akten enthalten
mehrere ärztliche Berichte über den Angeschuldigten. Dr. St. berichtet,
daß er von 1894 bis 1898 Hausarzt bei ihm war, er habe ihn mehrmals
wegen Erkältungs- und Verdauungsstörungen behandelt, er habe damals
den K. für psychisch defekt gehalten und, gestützt auf das Zeugnis der
meisten damaligen Geschäftsleute in W., ihn für einen krankhaften Re¬
nommisten und Krakeeler angesehen; damals sei K. bei Beteiligung an
«ler Radfahrerrekordbewegung ein Stück mit der Eisenbahn gefahren und
habe dann mit der geradelten Strecke geprahlt. Durch leichtsinnige Aus¬
stellung von Wechseln und phantastische Einkäufe habe K. damals
vielfach Beweise seines geistigen Defektes gegeben.
Nach der Krankengeschichte des städtischen Krankenhauses Sankt
Jakob in L. wurde der Angeschuldigte dort vom 23. bis 30. 12. 05 wegen
Herzbeschwerden behandelt. Nach der Krankengeschichte des Militär-
lazaretts W. wurde er dort 1891 wegen katarrhalischen Fiebers und Herz¬
leidens behandelt und wegen chronischen Herzleidens für dienstunbrauch¬
bar erklärt. Dr. G. hat am 14. 10. 13 angegeben, daß der Angeschuldigte,
den er seit 1911 kenne, auf ihn einen sehr nervösen, leicht erregbaren
Eindruck gemacht habe.
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Hans Seelert.
Der als Zeuge vernommene Vater des K. hat angegeben, daß sein
Sohn als Kind Masern gehabt habe, daß er, 2 Jahre alt, auf den Kopf
gefallen sei, daß er im allgemeinen an Körper und Geist gesund gewesen
sei. nur eine Art Größenwahn gehabt habe. Der Bruder gab an, daß er
im Alter zwischen 22 und 26 Jahren eines Nachts durch Unruhe seines
Bruders, des Angeschuldigten, aus dem Schlaf geweckt worden sei und
ihn darauf mit Schaum vor dem Munde besinnungslos im Bett gefunden
habe.
Weiter ist von diesen beiden Zeugen angegeben worden, daß die
Mutter des Angeschuldigten an Migräneanfällen, bei denen sie manchmal
irre gesprochen habe, gelitten habe, auch deren Geschwister und Vater
sollen daran gelitten hab.*n. Ein Bruder des Vaters soll Trinker gewesen
sein: nach Aussage des Wilhelm K. ist ein Bruder des Vaters duch Selbst¬
mord gestorben.
Am 23. 8. 13 und II. I. 14 hat Medizinalrat St. über den Angeschuldig¬
ten Gutachten erstattet, ln beiden stellte er den Antrag aus § 81 StPO,
und wies auf die ungewöhnliche Yielgeschäftigkeit, die Neigung zuin Mi߬
trauen und Querulieren des K. hin. Über die Haftfähigkeit des K. hat
am 30. 10. 13 Medizinalrat H. ein Gutachten abgegeben, in dem er aus-
fiihrte. daß die Beschwerde des K. an den Untersuchungsrichter nicht
der Wahrheit entspreche: der Gesamtzustand des L. sei nicht derartig,
daß die Haftfähigkeit aufgehoben wäre.
Auf Anordnung des Gerichtes wurde der Angeschuldigte zur Vor¬
bereitung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand in die psychiatrische
und Nervenklinik der Königlichen Charitö gebracht.
Die Angaben, die K. hier in der Klinik machte, stimmen inhaltlich
überein mit seinen Äußerungen bei den Vernehmungen und mit dem
Inhalt seiner zahlreichen bei den Akten befindlichen Schriftstücke. Über
seinen Gesundheitszustand und sein Vorleben gab er in Bestätigung und
Ergänzung zu dem aus den Akten Angeführten an, daß er während der
Schulzeit mehrmals an Gelenkrheumatismus gelitten habe. Als größeres
Kind und auch später nach der Militärzeit habe er eine Zeitlang oft Bett¬
nässen gehabt; seit der Kindheit habe er oft Nasenbluten gehabt. Im
Alter von 7 oder 8 Jahren habe er versucht, sich die Pulsadern aufzu¬
schneiden; er nehme jetzt an, daß es nach Alkoholgenuß gewesen sei; mit
Nachbarskindern habe er öfters große Mengen Alkohol zu sich genommen,
so daß er öfter bewußtlos aufgefunden und nach Hause gebracht worden
sei. Als Kind sei er aus einem ersten Stockwerk gefallen und bewußtlos
nach Hause gebracht worden; auch später habe er noch Unfälle gehabt.
Nach der Militärzeit sei es öfters vorgekommen, daß er nachts nicht
schlafen konnte, eine innere Unruhe spürte; nach den Angaben der Ange¬
hörigen sei er nachts umhergegangen, wofür ihm nachträglich die Er¬
innerung fehlte. Im Anschluß an den von dem Bruder beschriebenen,
vor seiner Militärzeit aufgetretenen nächtlichen Anfall sei er eine Zeitlang
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Zur Pathologie des Quernlantenwahnes.
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krank gewesen, habe die Arbeit aussetzen müssen. Im Alter von 18 Jahren
habe er eine Geschlechtskrankheit gehabt.
1903 sei ein plötzlicher Anfall mit danach mehrere Wochen lang be¬
stehender Lähmung des linken Armes und linken Beines aufgetreten,
auch das Sprechen sei eine Zeitlang erschwert gewesen; eine längere Zeit
nach dem Anfall sei sein Gedächtnis schlecht gewesen. Seitdem habe er
oft Beschwerden; anfallweise trete eine vorübergehende Schwäche im
linken Arm und Bein auf. Im März 1913 sei er in der Haft in London
bewußtlos niedergefallen, im Anschluß daran sei wieder die linksseitige
Schwäche vorhanden gewesen; der letzte Anfall von linksseitiger Lähmung
sei im Oktober in der Haft gewesen. Seit länger als 10 Jahren leide er mit
wochenlangen Unterbrechungen an Kopfschmerzen, auch jetzt mitunter
an stechendem Schmerz in der Herzgegend mit Beklemmungsgefühl. Sein
Gedächtnis, seine Merkfähigkeit sei etwa seit 1905 nicht mehr so gut wie
früher, er müsse sich jetzt immer Notizen machen.
In der Volksschule habe er leicht gelernt, aber keine Lust dazu gehabt.
2 Jahre habe er in Leipzig die Handelsschule besucht, seine kaufmännische
Ausbildung bei seinem Onkel und in einer Generalagentur der Hamburg-
Amerikanischen Paketfahrt-Gesellschaft erhalten. Mit seinen Familien¬
angehörigen habe er öfter Differenzen gehabt. 1894 habe er geheiratet,
habe 5 gesunde Kinder, mehrmals habe seine Frau zwischen den Geburten
der Kinder Fehlgeburten gehabt.
Ausführlich schilderte er seine geschäftlichen Unternehmungen.
1888 bis 1892 sei er im Geschäft des Vaters tätig gewesen. Da er mit seinem
Bruder oft in Streit geriet, habe er dann ein eigenes Fahrradgeschäft ange¬
fangen. Durch große Vertrauensseligkeit beim Einkauf und leichte Kredit¬
gewährung beim Verkauf sei er in Schwierigkeiten gekommen, die zum
Konkurs führten. In L. habe er dann nochmals ein neues Geschäft ange¬
fangen, auch bei diesem sei er wieder in Schwierigkeiten geraten. Etwa
1899 habe er angefangen, Geldgeschäfte zu machen. Zunächst habe er
versucht, eigene Erfindungen, Patente pekuniär auszunutzen, unter anderem
die Herstellung von Steinholz, die Durchführung von Marineschauspielen,
von Unterseebahnen, ein Verfahren zur Übertragung von Druckbildern
und Photographien, die Finanzierung einer elektrischen Schreibmaschine,
eines pneumatischen Schreibapparates, eines Bierschnellbrauverfahrens,
eines Schnellgerbverfahrens, einer neuen Drehbank, eines Mittels gegen
Ausfluß der Frauen und vieler anderer Erfindungen. Bei diesen Unter¬
nehmungen habe er zum Teil Vorversuche auf eigene Kosten anstellen
lassen, habe Reisen auf eigene Kosten unternommen. Manchmal habe es
sich herausgestellt, daß die praktische Durchführbarkeit nicht so möglich
war, wie sie gedacht war. Mitunter sei er mit den Erfindern in Differenzen
geraten. Das Patent der Unterseebahnen habe er 10 Jahre aufrechterhalten,
habe Gesellschaften gegründet zu seiner finanziellen Durchführung. Die
Idee, die seinem Crödit mobilier zugrunde liegt, sei die, das auf Sparkassen
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Hans Seelert.
deponierte Geld dem Bankverkehr zugänglich zu machen, dieses Problem
habe er theoretisch ausgearbeitet. Durch das Mißlingen seiner Pläne habe
er viel Zeit verloren. Gescheitert seien sie an den Angriffen gegen ihn.
Die Auskunftei Sch. habe ihn stets ganz falsch beurteilt, habe behauptet,
daß seine Pläne nicht durchführbar wären, ohne es zu wissen. Die Aus¬
kunftei hätte ein Interesse daran, ihm zu schaden; er habe sie scharf an¬
gegriffen, habe ihr eine falsche Auskunft nachgewiesen.
Auch jetzt noch sei er von der finanziellen Durchführbarkeit vieler
seiner bis jetzt erfolglos gebliebenen Pläne überzeugt. Er habe stets das
Bestreben gehabt, viel Geld zu verdienen, auch andere Ziele scheinen ihm
verlockend; so wären, wenn die Marineschauspiele gelungen wären, alle
Beteiligten groß geworden, hätten außer dem pekuniären Erfolg Titel und
Orden erhalten. Daß er die Baupläne, die er in Wien vorhatte, nicht durch¬
geführt habe, ärgere ihn heute noch; was ihn davon abgehalten habe,
wisse er heute nicht mehr. Auch jetzt halte er sich für einen reichen Mann,
wenn er auch augenblicklich kein Geld zur Verfügung habe. Er brauche
nur zu bekommen, was ihm zustehe, ln seinem Bergwerk M. stecke Kapital;
die Ansichten der Sachverständigen seien über den Wert eben verschieden.
Er habe jetzt eine Menge Zivilprozesse, von deren für ihn günstigem Aus¬
gang sei er überzeugt.
Seine Beschuldigungen gegen das Gericht hält er weiter aufrecht.
Bei der psychiatrischen Untersuchung kam heraus, daß bei K. jetzt eine
ausgesprochene Neigung zp systematisierender Verknüpfung seiner un¬
angenehmen Erlebnisse und deren kausalen Mißdeutungen besteht.
Der Untersuchungsrichter C. habe jetzt seine Sache nicht unpar¬
teiisch geführt. Er habe mit ihm nie etwas persönlich gehabt; dieser
Richter habe ihn vielmehr persönlich immer sehr gut behandelt. Er glaube
aber, daß C. durch den Untersuchungsrichter W. gegen ihn beeinflußt
worden sei. ln früheren Prozessen habe er mit diesem Differenzen gehabt.
1911 habe er von W. eine Vorladung erhalten, habe geschrieben, er sei
krank und könne nicht kommen. Daraufhin habe der Untersuchungs¬
richter sein Hauspersonal darüber vernommen, ob er krank gewesen sei.
Das habe ihn geärgert; er sei gleich, als er es erfahren hatte, aufs Gericht
zu W. gegangen, habe ihn zur Rede gestellt und ihm ein paar Ohrfeigen
angeboten. Für ihn liege eine Bestätigung für seine Annahme, daß Unter¬
suchungsrichter C. beeinflußt worden sei, darin, daß er Anträge stellen
konnte, wie er wollte, sie wurden abgelehnt. Daß er eine falsche Auf¬
fassung von den Paragraphen habe, sei ganz ausgeschlossen. Er habe
die Erfahrung gemacht, daß ein Jurist immer den andern unterstützt.
Die Richter hätten sich bestechen lassen, daß Verfahren gegen Personen
eingestellt wurden; wären sie durchgeführt worden, so wäre er fein heraus¬
gewesen. Dieses wisse er aus Mitteilungen ihm befreundeter Richter,
die er bis jetzt noch nicht verwertet habe, weil er die Herren nicht blo߬
stellen wolle. Als K. weiter über die Entstehung dieser Ansicht gefragt
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
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wurde, erklärte er, aus Richterkreisen wisse er nur, daß die Vorunter¬
suchungen gegen andere eingestellt wurden, um ihnen gefällig zu sein, und
fügte dann hinzu: „die Schlußfolgerung liegt sehr nahe“, weil der eine
Staatsanwalt von den betreffenden ein guter Freund sei. Im Leipziger
Prozeß 1905 sei nachträglich das Protokoll gefälscht worden. Der Vor¬
sitzende habe ein Interesse daran gehabt, alle Revisionsgründe aus dem
Protokoll zu entfernen, damit sein Urteil nicht über den Haufen geworfen
werde. Um seine Behauptung zu bekräftigen, erklärte K., er habe das
Protokoll gelesen und sich nachher Notizen gemacht, ein Irrtum von ihm
sei daher ausgeschlossen. Er habe damals eine Beschwerde ans Reichs¬
gericht aufgesetzt, sei aber Tag und Nacht vom Gericht bearbeitet worden,
sie zurückzunehmen, was er auch schließlich getan habe, weil man ihm Tag
und Nacht keine Ruhe gelassen habe. Auf seine Beschwerden ans Mini¬
sterium gegen einen'Richter sei entschieden worden, daß nur ein Versehen
des Gerichtsschreibers vorliege; auch da könne er nur sagen, „ein Jurist
stützt den andern“.
Daß seine weiteren Prozesse zu seinen Ungunsten entschieden
werden, das werde den Herren nicht gelingen, seine Beweismittel ließen sich
dieses Mal nicht beseitigen; er sei überzeugt, daß er freigesprochen werde.
Er glaube, daß jetzt alles vom Untersuchungsrichter W. ausgehe. Er habe
zu viel Erfahrungen gemacht mit dem Gericht; die ganze Treiberei gegen
ihn sei schon in Leipzig losgegangen, „da greift eins ins andere“. Er habe
überall Gegner, Auskunftei, Gericht, Polizei. In allem, was er machte,
habe man eine betrügerische Absicht gesehen.
Von der Ehefrau des K. wurde uns angegeben, daß seine Neigung
zu Mißtrauen hauptsächlich bei den gerichtlichen und geschäftlichen An¬
gelegenheiten zum Ausdruck gekommen sei. Er sei stets ein lebenslustiger,
vergnügter, sehr arbeitsamer Mensch gewesen, auch nachts habe er viel
gearbeitet, sich mit der Ausarbeitung seiner vielen Geschäftspläne be¬
schäftigt, manchmal habe er 3 bis 4 Nächte hintereinander kaum geschlafen.
Kritiklos und leichtgläubig sei er bei seinen Unternehmungen und Geld¬
verleihungen gewesen, habe seine geschäftliche Leistungsfähigkeit über¬
schätzt. Trotz seiner Vielgeschäftigkeit und Arbeit habe er oft nicht
so viel Geld gehabt, daß die Familie damit auskommen konnte. Er habe
durch seine Unternehmungen viel Geld verloren, sei ausgenutzt worden von
Andern. Über seine geschäftlichen Mißerfolge sei er stets leicht hinweg¬
gekommen, habe sie sich durch äußere Gründe zu erklären versucht, nie
Einsicht für seine ungenügende Erfahrung in einzelnen Gebieten gehabt;
gegen Einwendungen und Vorhaltungen seiner Angehörigen sei er ab¬
weisend und einsichtslos gewesen. Ein leicht erregbarer Mensch sei er
stets gewesen; in den letzten 3 bis 4 Jahren habe sich jedoch eine Steige¬
rung der affektiven Erregbarkeit und ein Nachlassen der Merkfähigkeit
bemerkbar gemacht.
In der Art, wie K. seine geschäftlichen Beziehungen und Unterneh-
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334
Hans Seelert,
mungen schildert, wie er von seinen Vermögensangelegenheiten spricht,
kommt zum Ausdruck, daß er fest überzeugt ist, eine bedeutende geschäft¬
liche Begabung, Erfahrung und Leistungsfähigkeit zu besitzen. Immer
wieder betonte er, daß er an der finanziellen Durchführbarkeit seiner Pläne
nicht zweifle, daß er keine Bedenken gegen die Richtigkeit seiner theo¬
retischen Ausarbeitung habe. Auf alle Einwände, die ihm bei der Unter¬
suchung gemacht wurden, wußte er zu erwidern. Auch die Tatsache,
daß er mit seinen Unternehmungen bis jetzt stets Mißerfolge gehabt habe,
ist nicht geeignet, seine Überzeugung einzuschränken, seine Ansichten zu
korrigieren. Den Widerspruch, der in dem Mißlingen seiner Unternehmun¬
gen und in seiner hohen persönlichen Einschätzung liegt, sucht er sich
dusch die Annahme zu erklären, daß die Ursache für das Mißlingen nicht
in seiner Person, sondern in den äußeren Verhältnissen liege. Mit dem
gleichen Ausdruck fester Überzeugung äußerte er seine Ansicht von dem
pekuniären Wert seiner vollendeten Pläne, seine Erwartungen von dem
Ausgang seiner Zivilprozesse und vor allem seine Beeinträchtigungsvor¬
stellungen gegen Untersuchungsrichter und Gericht. Seine feste Über¬
zeugung von einem für ihn günstigen Ausgang der Prozesse und von einer
dadurch bedingten Besserung seiner Situation hat eine auffällige Sorg¬
losigkeit gegenüber seiner Zukunft zur Folge. Dementsprechend war auch
seine Stimmungslage während der klinischen Beobachtung und bei jeder
Untersuchung.
Seine sprachliche Schilderung ist sachlich und zeigt nichts, das auf
einen krankhaften Gedankenablauf hinweist. Intellektuelle Störungen
bestehen nicht, auch Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit waren bei der
Prüfung gut.
Die körperliche Untersuchung ergab folgenden Befund: K. ist
mittelgroß, mittelkräftig, befindet sich in ausreichendem Ernährungszu¬
stand; sein Körpergewicht beträgt 65,5 kg. Die Herztöne sind leise, aber
rein, der Puls zeigte hier in der Klinik nichts Abnormes. An Brust- und
Bauchorganen wurden krankhafte Veränderungen nicht nachgewiesen.
Der Harn war frei von Eiweiß und Zucker.
Die Pupillen sind mittelweit, gleich, reagieren gut auf Licht und bei
Einstellung der Augen für die Nähe. Es besteht Kurzsichtigkeit. Der
Augenhintergrund zeigt nichts Krankhaftes. Die Bewegungen der Augen,
Gesichtsmuskeln und der Zunge sind ungestört. Eine Sprachstörung be¬
steht nicht. Die Muskelspannung ist in Armen und Beinen normal, auf
beiden Seiten gleich. Die Kraftleistungen sind gut; die geringe Differenz
der Kraftleistungen des linken Armes gegenüber der des rechten liegt
innerhalb des normalen Unterschiedes. Die Willkürbewegungen der
Zehen sind links etwas schwerfälliger als rechts, sonst bestehen keine Be¬
wegungsstörungen. Die Sehnenreflexe und Knochenhautreflexe der Arme
rechts und links sind gleich. Die Bauchdeckenreflexe sind vorhanden.
Die Kniesehnenreflexe und Achillessehnenreflexe sind vorhanden, gleich
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
335
auf beiden Seiten. Mehrmals wurde links der Oppenheims che Zehenreflex
beobachtet. Die Berührungs- und Stichempfindlichkeit der Haut sowie
die Bewegungsempfindlichkeit in Finger- und Zehgelenken ist ungestört.
Die Reaktion des Blutes nach Wassermann war bei zweimaliger
Untersuchung negativ, auch die gleiche Reaktion der Hirnrückenmarks¬
flüssigkeit war negativ; in dieser wurde eine abnorme Vermehrung der
Zellen nachgewiesen, ihr Eiweißgehalt war nicht erhöht.
Zusammenfassung und Gutachten.—Aus dem umfangreichen
Aktenmaterial und dem Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung geht
hervor, daß bei K. eine sfbnorme psychische Konstitution vorliegt. Die
wesentlichen Merkmale seiner psychischen Persönlichkeit sind sein ab¬
normes Selbstbewußtsein und der abnorme Einfluß, den dieses in seinem
Seelenleben hat. Es kommt das nicht nur zum Ausdruck in der Art
seiner spekulativen Geschäftsunternehmungen und in seinen phantastisch
großzügigen Plänen, die er in der Überzeugung von seiner Leistungs¬
fähigkeit angefangen hat, sondern vor allem in seiner für derartig psycho¬
pathisch veranlagte Menschen charakteristischen Reaktionsweise auf
Schwierigkeiten, die ihm bei der Betätigung im Sinne der abnormen
Selbsteinschätzung entgegentreten.
Infolge seines abnorm hohen Selbstgefühls sieht er die Ursache für
das Mißlingen seiner Unternehmungen nicht in seiner eigenen Person,
sondern in den äußeren Verhältnissen, daher sind seine zahlreichen ge¬
schäftlichen Mißerfolge nicht geeignet gewesen, ihn in seiner kritiklosen
Unternehmungslust zu hemmen. Einen gleich starken Einfluß hat die
abnorme Betonung der Persönlichkeitsvorstellungen des K. auf seine Ge-
danlfengänge, die sich auf das jetzt schwebende und die früheren Straf¬
verfahren beziehen. Die Akten und seine Angaben bei der Untersuchung
in der Klinik enthalten reichliches Beweismaterial dafür, daß es in diesen
Zusammenhängen bei ihm zu pathologischen Mißdeutungen gekommen
ist. Eine Steigerung dieser abnormen psychischen Vorgänge liegt in
der stark ausgeprägten Neigung zu systematisierender Verknüpfung seiner
Erlebnisse und Mißdeutungen.
Aus seinen Schreiben geht deutlich hervor, wie sich bei ihm immer
mehr und mehr die Überzeugung unrechtmäßiger Behandlung durch das Ge¬
richt ausgebildet hat, wie sie immer stärker in denVordergrund seinesBewußt-
seins getreten ist, wie der Kreis der damit verbundenen Vorstellungen
immer größer geworden und wie es schließlich zu Mißdeutungen früherer
unangenehmer Erlebnisse gekommen ist. Bei der abnorm starken AfTekt-
betonung seiner Beeinträchtigungsvorstellungen genügt die Tatsache,
daß er mit seinen vielen Beschwerden an das Gericht immer wieder abge¬
wiesen wird, zu der Schlußfolgerung, daß die Richter gegen ihn gestimmt
seien, daß sie ihn absichtlich benachteiligen wollen, daß ein Richter durch
den andern dazu veranlaßt sei, weil er nicht gegen seine Kollegen handeln
Zeitschrift für Psychiatrie LXXIII. 4. 24
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336
Hans Seelert,
wolle. Die pathologische systematisierende Verknüpfung seiner in gleicher
Weise unangenehmen Erlebnisse kommt hierin klar zum Ausdruck.
Das Pathologische liegt nicht darin, daß K. als Angeschuldigter
sich unrechtmäßig benachteiligt fühlt, sondern es liegt in der Intensität,
mit der die Benachteiligungsvorstellungen sein Seelenleben beherrschen;
erst diese führt zur Ausbildung der paranoischen Denkweise, die wir bei
K. jetzt finden.
« Es handelt sich hier nicht um eine paranoische Geisteskrankheit,
sondern um die charakteristische Reaktionsweise eines psychopathischen,
paranoisch veranlagten Menschen auf äußere. Schwierigkeiten. Daher
sehen wir auch, daß mit der Haft und mit der Fortdauer der Haft die para¬
noischen Erscheinungen immer stärker zum Ausdruck kommen.
Diflerentialdiagnostisch war zu erwägen, ob vielleicht eine manische
Erkrankung mit paranoischen Symptomen vorliegt; das ist aber nach dem
Ergebnis der Untersuchung nicht anzunehmen.
Daß die psychopathische Veranlagung des K. nicht etwa erst jetzt
während der schwebenden Strafverfahren zum Ausdruck gekommen ist,
sondern daß sie schon in der Jugend vorhanden war und in Erscheinung
trat, geht aus den Aussagen seines Vaters und Bruders hervor, und wird
weiter bestätigt durch das Zeugnis des Dr. St. über das Benehmen des K.
in der Zeit von 1894 bis 1898. Weitere, wenn auch andersartige Symp¬
tome psychopathischer Veranlagung sind bei dem Angeschuldigten der
von seinem Bruder angeführte nächtliche Anfall mit daran anschließender
Gesundheitsstörung. Auch seine eigenen Angaben, daß er als größeres
Kind und noch später eine Zeitlang an Bettnässen gelitten habe, daß er
nach Angabe seiner Angehörigen somnambule Zustände gehabt haben soll,
weisen nach den ärztlichen Erfahrungen auf psychopathische Veranlagung
hin. Es erscheint uns daher nicht zweifelhaft, daß die psychopathische
Veranlagung des K. schon in der Jugend zum Ausdruck gekommen ist;
seine wohl vorhandene gute intellektuelle Veranlagung spricht nach
psychiatrischen Erfahrungen nicht dagegen.
Das Vorkommen von Geistesstörungen bei den Verwandten seiner
Eltern und die zum Teil schon in der Kindheit erlittenen Unfälle mit an¬
schließender Bewußtlosigkeit können vielleicht in ursächlicher Beziehung
zur abnormen psychischen Veranlagung stehen.
K. hat nun ferner, wie auch ärztlich von Dr. S. bestätigt wird, seit 1903
Anfälle gehabt, die mit einseitigen Lähmungen einhergegangen sein sollen.
Nach dem Zeugnis des Dr. S. von 1905 ist anzunehmen, daß diese organisch
bedingte Anfälle waren. Der jetzt beobachtete linksseitige Oppenheimsche
Zehenreflex und die Erschwerung der Bewegung der linken Zehe sind als
ein Rest einer organischen Störung im Nervensystem anzusehen. Auch
die Vermehrung der Zellen in der Hirnrückenmarksflüssigkeit weist auf
pathologische organische Vorgänge im Nervensystem hin. Wie diese An¬
fälle klinisch zu deuten sind, hat sich jetzt nicht entscheiden lassen.
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Zur Pathologie des Querulantenwahnes.
337
Auf körperlichem Gebiet wurden ferner abnorm leise Herztöne
festgestellt, die mit dem früher konstatierten Herzleiden Zusammenhängen
werden.
Für die Frage der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit des K.
ist zu berücksichtigen, daß die Zeichen psychopathischer Veranlagung bei
ihm sehr schwerwiegende sind, und der große Einfluß, den die Merkmale
dieser Veranlagung, das abnorme Selbstgefühl und die paranoische Denk¬
richtung, auf seine Handlungsweise ausüben. Die abnormen psychischen
Erscheinungen sind bei ihm so hochgradig, daß sie einer Geistesstörung
im Sinne des § 5t StGB, gleich zu erachten sind.
Wir geben daher unser Gutachten dahin ab, daß der Angeschuldigte
K. sich zur Zeit der Begehung der ihm zur Last gelegten strafbaren Hand¬
lungen im Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch den
die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, befunden hat.
Vom 19. 4. 14 bis 20. 7. 14 war K. in der Irrenanstalt Herzberge
und vom 20. 7. 14 bis 1. 5. 15 in der Landesirrenanstalt Landsberg a. W.
Die Aufnahme in die Anstalt erfolgte auf polizeiliche Anordnung. K. betrieb
durch Beschwerde beim Polizeipräsidenten und Eingaben an den Minister
seine Entlassung. Gegen ablehnenden Bescheid des Oberpräsidenten
strengte seine Ehefrau, die als Pflegerin eingesetzt war, die Klage beim
Oberverwaltungsgericht an. Mit Zustimmung der Polizei wurde K. aus
der Anstalt entlassen. — Am 10. 5. 16 kam er auf Aufforderung zur Nach¬
untersuchung in die Klinik. Nach Angabe der Ehefrau hat sich sein Zu¬
stand nicht geändert. Regelmäßige Arbeit hat K. nicht, zurzeit be¬
arbeitet er eine Prozeßsache einer kaufmännischen Firma. Er selbst
führt eine Anzahl Zivilprozesse, die sich schon lange hinziehen. An seinen
früher geäußerten Beeinträchtigungsvorstellungen hält er auch jetzt fest.
Er glaube auch heute noch, daß seine Sache nicht unparteiisch geführt
werde, daß der Untersuchungsrichter C. gegen ihn sei. Er hat sich mit
diesem Urteil abgefunden, keine weitere Konsequenzen daraus gezogen,
seine Beeinträchtigungsvorstellungen auch nicht weiter ausgedehnt. Wie
zur Zeit der Beobachtung vor zwei Jahren ist auch jetzt seine Grundstimmung
eine sorglose Euphorie. Das Schwächegefühl im linken Arm und Bein
soll auch jetzt noch zuweilen auftreten. Bei der körperlichen Untersuchung
fand sich auch jetzt linksseitiger Oppenheimscher Reflex, sonst aber nichts
Pathologisches.
Daß sich das psychische Bild dieses Mannes von der zuerst beschrie¬
benen Erkrankung des L. wesentlich unterscheidet, ergibt sich aus dem
Gutachten. Während der Querulantenwahn in dem ersten Falle eine
im höheren Lebensalter einsetzende und wieder abheilende Krankheit
darstellt, ist hier der Symptomenkomplex vom Charakter des Queru-
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Haas Seelert,
lantenwahns eine besondere Phase in dem Leben eines von jeher durch
sein psychisches Verhalten auffällig gewordenen Menschen.
Bei L. konnten wir die Diagnose einer manischen Verst immung
mit paranoischen Symptomen stellen. Zweifellos bestehen auch bei K.
manche pathologischen Züge, die an Eigenarten manischer Kranken
erinnern. Sein abnormes Selbstbewußtsein, seine renommistischen
Prahlereien, seine Vielgeschäftigkeit. seine phantastischen, spekulativen
Unternehmungen, seine Unbelehrbarkeit durch zahlreiche geschäft¬
liche Mißerfolge, seine durch nichts beeinflußbare Sorglosigkeit gegen¬
über seiner Situation und seiner Zukunft, alles das sind psychische
Eigentümlichkeiten, die wir gerade bei manischen Kranken finden,
sie haben al»er nicht den Wert klinischer Elementarsymptome, die zur
Diagnose manischer Erkrankung oder manischer Konstitution zwingen.
Immerhin werden wir uns der Überzeugung nicht ganz entziehen können,
daß in der Charakteranlage des K. Elemente enthalten sind, die in dem
Boden endogener manischer Veranlagung wurzeln. Dem Komplex
der manischen Elementarsymptome, der Ideenflucht, der assoziativen
Ablenkbarkeit, dem erleichterten Ablauf der motorischen Reaktionen
und der euphorischen Stimmung stehen die erwähnten Charakter¬
eigentümlichkeiten jedenfalls recht nahe. Die Tatsache, daß sie von
Jugend an in Erscheinung getreten sind und sich durch das ganze
lieben hindurchziehen, gibt keinen Anlaß, ihre manische Grundlage m
leugnen.
Trotzdem können wir das psychische Charakterbild des K
rieht als manisches bezeichnen, denn mit der Annahme einer
chronisch-manischen Konstitution ist es nicht geklärt und nicht
erschöpft. Neben den Charaktereigenarten, die manischer Natur
sein können, treten bei ihm noch psychopathologische Erschei¬
nungen anderer Grundlage hervor. Neben dem abnorm hohen
Selbstbewußtsein mit Neigung zu kritikloser Überschätzung der
persönlichen Fähigkeiten besitzt K. eine große Leichtigkeit, sich
im Sinne dieses Selbstgefühls einer Situation anzupassen, sich in sie
einzuleben und sich aktiv in ihr zu betätigen. Er erinnert in dieser
Beziehung an pathologische Schwindler, die eine große Fähigkeit des
Anpnssons und Einlebens in die Situation haben. Die Art, wie K.
im Geschäftsverkehr auftrat, seine zahlreichen, zum Teil phantasti-
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jagten ICHIGAN
Zur Pathologie des Qnernlantenwahnes.
339
sehen Finanz- und Erfinderprobleme erscheinen geradezu als ein Pro¬
dukt von Pseudologia phantastica. Die Symptome organischer
Grundlage, die 1903 zuerst aufgetreten sein sollen, scheinen keinen
Einfluß auf die psychischen Erscheinungen gehabt zu haben.
Wir sehen so in der psychopathischen Konstitution des K.
nebeneinander Elemente, die wir als manische auffassen können,
und andere, die wir als charakteristische Eigenarten der pathologischen
Schwindler kennen. Die Verbindung und Vermischung dieser patho¬
logischen Grundzüge ist die hauptsächlichste symptomatologische
Differenz, die das psychische Bild des K. gegenüber dem auf der Grund¬
lage der hypomanischen Konstitution entstandenen Krankheitsbild
des L. aufweist. Andere auffällige Differenzen zwischen den beiden
Fällen haben demgegenüber untergeordnete Bedeutung. Der zeitlich
umgrenzte Verlauf der Erkrankung bei L. und die chronische Dauer
des abnormen Zustandes bei K. können nicht als zwei nosologisch ver¬
schiedene Momente angesehen werden, wenn in beiden Fällen manische
Elemente nachweisbar sind. Wir werden hier in der durch den Verlauf
gegebenen Differenz ebensowenig einen nosologischen Unterschied
sehen können, wie wir einen solchen zwischen akuter manischer Er¬
krankung und dauernder manischer Konstitution annehmen.
Ähnlich unserem Patienten K. ist der eine der von Heübronner *)
beschriebenen Fälle von Querulantenwahn. Heübronner weist aus¬
drücklich auf die Beziehungen seiner Patientin zu dem pathologischen
Lügner hin und sieht in diesen Beziehungen eine Bestätigung seiner
Anschauung, daß der habituelle Zustand seiner Kranken ein hysteri¬
scher ist. Auf der Grundlage dieses habituellen Zustandes sollen sich
die Wahnvorstellungen entwickelt haben. Unter den von Siefert *)
beschriebenen Geistesstörungen der Strafhaft scheinen einzelne Fälle
der paranoischen Form Charakterzüge pathologischer Lügner zu haben,
während der von Koppen *) als Querulantenw’ahn bei einem Entarteten
beschriebene Fall eine manisch-paranoische Erkrankung bei einem
manisch-depressiv veranlagten Menschen zu sein scheint. Der Kranke
*) Heübronner, Hysterie und Querulantenwahn. Ztrlbl. f. Nervenhlk.
u. Psych. 1907.
*) Siefert, Über die Geistesstörungen der Strafhaft. Halle a. S. 1907.
*) Koppen, Querulanten Wahnsinn bei einem Entarteten. Charite-
Annalen 1895.
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340 Hans Seelert, Zar Pathologie des Qaerulantenwahnes.
hat mehrmals Depressionen mit depressiv-hypochondrischem Ge-
dankeninhalt und andern charakteristischen Symptomen gehabt.
Die Feststellung, daß sich das paranoische Krankheitsbild des
Querulantenwahnes auf dem Boden der psychopathischen Konstitution
des Individuums entwickelt hat, genügt nicht, um alle diese Fülle zu
einer klinischen Gruppe zusammenzufassen und sie von andern, bei
denen eine pathologische Grundlage vor der Erkrankung nicht hervor¬
getreten ist, als klinische Sonderheit abzutrennen, denn der Vergleich
der Fälle zeigt, daß das Symptomenbild des Querulantenwahnes sowohl
bei transitorischer manisch-paranoischer Erkrankung wie auch auf
dem Boden der chronisch manischen oder manisch-depressiven Kon¬
stitution vorkommt. Mit den Symptomen der endogenen manisch-
depressiven Erkrankung kommen, wie wir wissen, häufig Symptome
anderer pathologischer Grundlage, namentlich hysterische, vor. Bei
unserem Patienten K. haben wir die keineswegs vereinzelte Beob¬
achtung machen können, daß mit Charaktereigentümlichkeiten mani¬
scher Art solche der pathologischen Schwindler kombiniert sind.
Wieviel Vermischung von Symptomen verschiedener Pathogenese
dazu beiträgt, daß einzelne Fälle von Querulantenwahn als klinisch
verschiedenartige Krankheitsbilder erscheinen, wird sich ohne ein¬
gehende Untersuchung und Vergleichung einer größeren Zahl Kranker
nicht entscheiden lassen. Zu berücksichtigen ist, daß Unterschiede in
der Intensität des Affektes und der Affektreaktionen gerade bei para¬
noischen Zuständen auf die Gestaltung des Symptomenbildes von
großem Einfluß sind; die Wahnbildung und die Wahnhandlungen
stehen in enger Beziehung zur Affektintensität. Nur der genaue Ver¬
gleich einer größeren Zahl von Patienten wird hier zum Ziel führen.
In den Fällen, in denen es nicht gelingt, die psychopathologischen Er¬
scheinungen hinsichtlich ihrer nosologischen Bedeutung zu klären,
wird man sich mit der Unmöglichkeit, die pathologische Grundlage
des Querulantenwahns zu bestimmen, zunächst einmal abfinden
müssen. Die Diagnose des Querulantenwahns ist keine Krankheits-,
sondern eine Zustandsdiagnose. Die nosologische Klärung der Fälle
von Querulantenwahn wird erschwert durch die Seltenheit, mit der
diese Krankheitsbilder zur psychiatrischen Untersuchung und Beob¬
achtung kommen und durch den dadurch verursachten Mangel an
ausreichendem, einheitlich beobachtetem Vergleichsmaterial.
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Die Weiterentwicklung weiblicher Pflege auf
Männerabteilungen der Irrenanstalten, mit be¬
sonderer Berücksichtigung der im Königreich
Sachsen gemachten Erfahrungen.
Von
Oberarzt Dr. Arnemann, Hubertusburg.
Unter dem Titel: „Über weibliche Pflege auf der Männerabteilung
der Königlich Sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß bei
Colditz“ hat im Herbst 1914 der damalige Direktor dieser Anstalt,
der jetzige Vortragende Rat im Königlichen Ministerium des Innern,
Herr Geheimer Medizinalrat Dr. Hösel eine größere Arbeit veröffent¬
licht 1 ). In derselben berichtet er über die Erfahrungen, welche er
seit dem Jahre 1913 gemacht hat, d. h. seitdem in Zschadraß grund¬
sätzlich und in größerem Umfange die Pflege der männlichen Kranken
weiblichen Personen übertragen wurde.
Um sein Unternehmen von vornherein nicht zu gefährden, war er
mit der Auswahl der Kranken sehr vorsichtig vorgegangen. Es wurde
zunächst ein Haus für hinfällige und sieche Kranke, ein Haus für ruhige
Männer der Pensions- und der oberen Verpflegklasse und ein Haus für
ruhige arbeitende Kranke der unteren Klasse zur Schwesternpflege heran¬
gezogen. Auch bei der Auswahl des weibüchen Personals wurde mit der
größten Vorsicht verfahren und dabei der Grundsatz aufgestellt: Das beste
Persona] der Frauenabteilung ist gerade gut genug.
Da der erste Versuch in jeder Beziehung gelang, wurden allmählich
immer mehr Häuser in den Bereich des neuen Systems gezogen, vor allem
Häuser mit halbruhigen und sicherungsbedürftigen Kranken. Schließlich
waren von den 12 Krankengebäuden der Männerabteilung mit 500 Betten
9 Gebäude mit einer Bettenzahl von 300 unter weiblicher Krankenpflege;
lediglich unter Männerpflege standen je ein Haus für unruhige Männer
der unteren und oberen Verpflegklasse und die Aufnahme- und Wach¬
abteilung (Bettenzahl 200).
U Ztschr. f. d. ges. Neuro], u. Psych., Orig. XXVII, 2.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
342
Arnemann,
Hösel hat nun eingehend geschildert, welche Vorteile das neue System
hat und welche Bedenken dagegen geltend gemacht werden können, er hat
dann dargelegt, in welcher Weise die Durchführung mit Erfolg möglich ist,
und er kam zu der Erkenntnis, daß die weibliche Fürsorge auf Männer¬
abteilungen nicht bloß möglich ist, sondern daß sie eine Verbesserung
darstellt, geradezu eine Wohltat für die Kranken. Als erfreuliche Neben¬
erscheinung ergab sich, daß auch auf wirtschaftlichem und finanziellem
Gebiet Nutzen erzielt wurde. Hösel faßte seine Erfahrungen in die Worte
zusammen: „Alles in allem erscheint die Einführung des Systems als ein
überaus empfehlenswertes Hilfsmittel der Irrenpflege, und der Verf. kann
nur wünschen, daß die Verpflegart größere Ausdehnung und Anwendung,
und zwar nicht bloß auf den Siechenabteilungen, erfahren möchte.“
Zu diesem Wunsche veranlaßte ihn ganz besonders auch das Resultat
einer Umfrage, welche er im Juni 1914 an sämtliche öffentliche Irrenan¬
stalten Deutschlands und Österreichs mit Ausnahme des Königreichs
Sachsen gerichtet hatte. Aus den eingegangenen Antworten war zu ersehen
gewesen, daß wohl hie und da bei siechen oder hinfälligen oder körperlich
kranken Männern weibliches Personal eingestellt war, daß auch an einzelnen
Anstalten die wohl in der Hauptsache wirtschaftliche Oberaufsicht in
weiblichen Händen lag, daß aber eine grundsätzliche Einführung des
Systems im großen nur an den Kliniken zu München, Würzburg und Kiel
stattgefunden hatte.
Bei der Niederschrift seiner oben erwähnten Anregung hat Hösel
wohl kaum geahnt, daß sein Wunsch sehr bald in Erfüllung gehen
würde, und wenn nicht der Weltkrieg ausgebrochen wäre, würde es
sicher sehr, sehr lange Zeit gedauert haben, bis sein bahnbrechendes
Vorgehen in giößerem Umfange Nachahmung gefunden hätte. Aber
der Wegfall zahlreicher männlicher Pflegepersonen bei der Mobil¬
machung versetzte alle Anstaltsdirektionen in die Notwendigkeit,
Ersatz zu schaffen. Daß die Frau im allgemeinen die in Männer¬
berufen entstandenen Lücken vielfach in überraschender Weise voll
ausgefüllt hat, ist bekannt, besonders aber hat cs sich gezeigt, daß das
weibliche Element im Irrenpflegedienst auf Männerabteilungen gut
abgeschnitten hat, ja, daß es sich so bewährt hat, daß wohl in Zukunft
in vielen Anstalten mindestens ein großer Teil der Männerabteilungen
dauernd weiblichem Pflegepersonal anvertraut werden wird.
Wie einschneidend und umwälzend der Krieg gewirkt hat, zeigt
eine Durchsicht der irrenärztlichen Jahresberichte; eine kleine Auslese
mag das beweisen.
Die Anstalt Herborn, welcher in den ersten 5 Tagen von ihren aus-
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Weibliche Pflege auf Männ er Abteilungen der Irrenanstalten. 343
gebildeten 57 Pilgern nur 14 verblieben, und die später auch von diesen
noch einen Teil verlor, berichtet: „Eis wurden zuerst aushilfweise ruhige
Kranke zur Pflege mit herangezogen, außerdem meldeten sich, da bei
Kriegsausbruch hier fast alle Fabriken den Betrieb aufgaben oder ein¬
schränkten, zahlreiche militärfreie Personen als Pfleger. Leider waren diese
nur zum kleinsten Teil brauchbar, und die wenigen brauchbaren gingen
meist wieder ab, zum Teil freiwillig zur Kriegskrankenpflege, zum Teil
in die industriellen Werke, als nach einigen Wochen die hiesigen Fabriken
sich auf Heereslieferungen einrichteten, unter Zahlung hoher Löhne den
Betrieb wieder aufnahmen und immer weiter verstärkten. Es entstand
dadurch ein fortwährender Wechsel des Personals, der bis zum
Schluß des Berichtsjahres (1914) trotz aller Ausschreibungen von Pfleger¬
stellen in Zeitungen und trotz der Bemühungen, Kriegsbeschädigte zum
Pflegerdienst heranzuziehen, zu keinem befriedigenden Abschluß ge¬
bracht werden konnte.“ Aus der Anstalt Emmendingen (Baden) wird
über die Aushilfwärter geschrieben, welche sich aus den Kreisen der nicht
oder noch nicht Militärpflichtigen sich meldeten: „Der Wechsel war
groß, es war im ganzen eine sehr minderwertige Hilfe.“ Aus
der Anstalt Sachsenberg (Mecklenburg) heißt es: „Der Ersatz durch
angenommene Hilfskräfte blieb dauernd nach Quantität und Qualität
ungenügend.“ Die Jahresberichte dieser und mancher anderer Anstalten
erwähnen nichts davon, daß man auf weibliche Pflege zugekommen wäre,
die meisten Anstalten melden das aber.
Aus der Anstalt Schleswig (Stadtfeld), welche aushilfweise beur¬
laubte Soldaten und außerdem Wärterinnen angestellt hatte, wird über
das zweite Kriegsjahr berichtet: „Die Einstellung beurlaubter Soldaten
hat sich auf die Dauer nicht bewährt und mußte größtenteils wieder auf¬
gegeben werden. Der einzige Ausweg war, noch mehr Wärterinnen auf der
Männerseite zu beschäftigen. Die Zahl solcher stieg von 19 auf 28. Wesent¬
liche Übelstände sind dabei nicht hervorgetreten.“ In der neuen Anstalt
bei Konstanz, welche erst im Oktober 1913 eröffnet worden war, wurden
von 54 Wärtern 44 eingezogen; „es galt zunächst die Wärter zum Teil
zu ersetzen, die in den ersten \ier Tagen hatten einrücken müssen. Einige
Werkmeister, ein Torwart versahen Wärterdienst, 12 Wärterinnen (später
10) wurden auf die ruhige männliche Aufnahmeabteilung und die Siechen¬
abteilungen versetzt, Aushilfwärter wurden angenommen. Mit der Pflege
der männlichen Kranken durch Wärterinnen haben wir recht gute Er¬
fahrungen gemacht, natürlich sind daneben noch Wärter notwendig.
Nach und nach stellten wir 24 Aushilfwärter ein, doch hatten wir immer
Schwierigkeiten, diese Zahl voll zu bekommen, besonders später, als immer
mehr Leute eingezogen wurden, die Industrie sich wieder hob und sehr
hohe Löhne draußen gezahlt wurden. Es war andauernd außerordentlich
viel Wechsel, teils, weil viele der Angestellten noch nachträglich zum
Militär eingezogen wurden, teils weil manche alsbald wieder kündigten
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Arnemann,
oder ihnen gekündigt werden mußte.“ In Dalldorf war „der Wechsel
bei dem neu eingestellten Personal ungemein groß. Es erwies sich auch
nur zum Teil als für den Pflegedienst geeignet. Die fehlenden männlichen
•Kräfte wurden auf sämtlichen Männerhäusern mit Ausnahme des vor¬
wiegend für verbrecherische Geisteskranke bestimmten Hauses 5 durch
Pflegerinnen ersetzt; ihre Leistungen sind im allgemeinen durch¬
aus befriedigend gewesen. In Hamburg (Friedrichsberg) „wurde
zum Ersatz der zum Kriegsdienst eingezogenen Wärter auf mehreren
Männerabteilungen Wärterinnenpflege eingeführt, die sich gut bewährt
hat.“ Die Anstalt Eglfing (Oberbayern) berichtet: „Die teilweise Ver¬
wendung von Pflegerinnen auf den Wachabteilungen für ruhige, über¬
wachungsbedürftige und für pflegebedürftige Männer und auf der Pen¬
sionärabteilung hat keine Schwierigkeiten ergeben; nur in wenigen, einzel¬
nen Fällen mußten Kranke auf Stationen mit nur männlichem Personal
verlegt werden.“ Die Anstalt Lüben (Schlesien) hat mit der Annahme
von männlichen Hilfswärtern ziemlich ungünstige Erfahrungen gemacht,
sie hat für Stationen der Männerabteilung, welche als geeignet angesehen
wurden, auch Pflegerinnen eingestellt, aber nur in beschränktem Umfange
(8), und sie urteilt: „Ungünstige Erfahrungen haben wir mit diesem Not¬
behelf nicht gemacht.“ In Stephansfeld „ging die Einstellung jugend¬
licher oder ungelernter älterer Pfleger nicht ohne Mißstände ab, die weib¬
lichen Pflegekräfte auf der Männerabteilung haben sich hingegen durch¬
aus bewährt“. In Leubus (Schlesien) „hat die Verwendung von
Pflegerinnen auf Männerabteilungen keine nennenswerten Schwierigkeiten
ergeben, nur in wenigen vereinzelten Fällen mußten Kranke auf Abteilun¬
gen mit männlichem Personal verlegt werden“. Das Urteil der Anstalt
Lindenhaus bei Lemgo (Lippe) lautet über das Jahr 1914: „Es
mußten auf Männerabteilungen und selbst im Außendienst Pflegerinnen
verwendet werden. Die großen Anforderungen, welche sich aus dieser
Verwendung ergaben, haben die Pflegerinnen mit unermüdlichem
Eifer und musterhafter Pflichttreue erfüllt“, und über das Jahr
1915 heißt es: „Die Beschaffung des Ersatzes für die eingezogenen Pfleger
ist immer schwieriger geworden. Die Verwendung der Schwestern auf
Männerabteilungen mußte daher bis zu den äußersten Möglichkeiten aus¬
gedehnt und durchgeführt werden. Die Schwestern haben in dieser
ungewohnten und zum Teil sehr schweren Pflege Vortreff¬
liches geleistet.“ Im St.-Jürgen Asyl zu Ellen (Bremen) wurde
der Ausfall zum Teil durch Schwestern und durch Frauen der verheirateten
Pfleger mit gutem Erfolg gedeckt. In der Anstalt Langenhagen (Han¬
nover) „wurden an Stelle der zum Heeresdienst eingezogenen Wftrter
51 Hilfswärter eingestellt, von denen 31 wieder entlassen werden mußten.
Da diese nur zum geringsten Teil zuverlässig und arbeitswillig waren,
haben wir, so schreibt der dortige Direktor, auf mehreren Männerabteilun¬
gen Wärterinnen eingestellt, die sich so gut bewährt haben, daß wir
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 345
sie auch nach Ablauf des Krieges auf einigen dieser Abteilun¬
gen beizubehalten gedenken. Unter den Hilfswärtern befanden
sich auch 5 Kriegsbeschädigte, die sich leider nicht immer durch glühenden
Trieb zur Arbeit auszeichneten und zum Teil in ausgiebigster Weise von
den Rentenbeziehungsvorstellungen beherrscht wurden.“ Aus der Provinz
Hannover liegt nun noch vom Direktor einer andern Anstalt, Osnabrück,
ein Urteil über die zukünftige Bewertung der Pflege durch Wärterinnen
vor, welches von dem eben erwähnten abweicht; es lautet: „Die Erfahrun¬
gen, die wir mit der letztgenannten Einrichtung gemacht haben, sind hier
im ganzen durchaus günstig gewesen. Trotzdem kann ich mich
für die spätere Beibehaltung dieser Einrichtung, die ver¬
einzelt schon früher und jetzt noch mehr empfohlen wird,
nicht erwärmen.“
Man sieht also, daß die durch den Krieg auferlegte Notlage die ver¬
schiedenartigsten Wege zur Abhilfe einschlagen ließ. Meist waren
zunächst männliche Aushilfskräfte eingestellt worden, wo und wie man
ihrer habhaft werden konnte: Torwärter, Werkmeister und andere
Angestellte wurden herangezogen, ruhige Kranke, beurlaubte Soldaten,
Kriegsbeschädigte, Fabrikarbeiter usw. wurden verwendet, aber meist
waren mit allen diesen Leuten recht schlechte Erfahrungen gemacht
worden. Trotzdem sind einzelne Anstalten nicht dazu übergegangen,
weibliches Personal einzustellen, wenigstens ist in den betreffenden
Jahresberichten nichts davon erwähnt. Das mag vielleicht lokale
Gründe haben, und daß es solche lokale Gründe geben kann, ist nicht
von der Hand zu weisen. Das war auch schon bei der Kundfrage zutage
getreten, welche Hösel vor Kriegsausbruch im Juni 1914 veranstaltet
hatte.
Eine Universitätsklinik hatte z. B. berichtet, daß sie nur deshalb
keine weibliche Pflege auf Männerabteilungen eingeführt habe, weil es
bis dahin noch nicht gelungen sei, eine Schwesternschaft zur Abgabe ge¬
eigneter Kräfte ausfindig zu machen. Und eine Provinzialanstalt hatte
damals geschrieben: Die Einführung weiblicher Pflege auf Männerabteilun¬
gen sei vor Jahren angestrebt worden, aber die örtlichen Verhältnisse
hätten damals keine andere Lösung gestattet, als daß die Ordensschwestern,
welche seit Eröffnung der Anstalt dort Dienst bei Frauen taten, die Männer¬
pflege mit übernommen hätten. Der Orden sei aber dafür nicht zu gewinnen
gewesen, und eine andere Art weiblicher Pflege auf Männerabteilungen
hätte noch nicht ermöglicht werden können, so wünschenswert sie auch
erscheine.
Abgesehen von wenigen Ausnahmen haben aber die allermeisten
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346
Arnemann,
deutschen Irrenanstalten den Versuch gemacht, weibliche Kräfte ein
zustellen, und wenn man jetzt nach dem Beispiel ÄUs bei seinen Ver¬
öffentlichungen über die Familienpflege die Namen aller dieser An¬
stalten auf einer Landkarte eintragen wurde, su würde diese Karte im
Vergleich zur Zeit vom Juni 1914 eine wesentliche Veränderung dar¬
bieten. Damals hätte außer den 3 Kliniken von München, Würzburg
und Kiel mit ihrem relativ geringen Krankenbestand als einzige An¬
stalt, welche in größerem Umfang weibliche Pflege bei männlichen
Geisteskranken eingeführt hatte, die Anstalt Zschadraß verzeichnet
werden können; daneben kamen noch 2 sächsische Anstalten mit den
Anfängen des neuen Systems in Frage. Jetzt aber würde die ganze
Landkarte in allen Bundesstaaten mit Namen übersät sein.
Eine Anzahl Anstalten registrieren die Einführung der weiblichen
Pflege nur als Tatsache im Jahresbericht, ohne ein Urteil abzugeben,
andere erwähnen, daß keine Unzuträglichkeiten vorgekommen sind,
eine größere Zahl sprechen sich mit wenigen Worten günstig aus, aber
man vermißt in den Jahresberichten nähere Mitteilungen über die
Durchführung des Systems im einzelnen und über etwaige Fehlschläge
und Schattenseiten. Für die praktische Psychiatrie ist aber
die Entscheidung der Frage wichtig, ob man die ganze
Einrichtung im Frieden beibehalten soll, oder ob man sie
bloß als einen Notbehelf während des Krieges anzusehen
hat.
Da ist es nun sehr zu begrüßen, daß vor einiger Zeit zwei Aufsätze
veröffentlicht worden sind, welche sich eingehender mit den in Rede
stehenden Verhältnissen beschäftigen.
Starlinger, welcher über seine Erfahrungen in der niederösterreichi¬
schen Landesanstalt Mauer-Oehling berichtet 1 ), erwähnt zunächst,
daß in den niederösterreichischen Landesanstalten weibliche Kräfte von
jeher Verwendung gefunden hätten, indem die Frauen der Traktpfleger,
welche mitten unter den Kranken wohnten, jederzeit als Pflegerinnen
Dienst getan hätten, selbst auf den schwersten Abteilungen. Er schreibt:
„Da konnte man nicht selten sehen, wie aufgeregte Paralytiker oder andere
schwer lenkbare Elemente durch die Frau oft weit leichter zu lenken und
zu pflegen waren, als durch Männer. DerVerf. dieser Zeilen hat nicht selten
Gelegenheit gehabt, zu sehen, daß ein aufgeregter Kranker, der kaum
oder nur schwer von mehreren Pflegern gebändigt werden konnte, dem
4 ) Psych.-neurol. Wschr. Nr. 11/12, 1916/17.
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 347
gütigen und liebevollen Zuspruch der Traktpflegersgattin willig gefolgt ist.“
Dann geht er auf die Bedenken ein, welche gegen die allgemeine Ver¬
wendung von Pflegerinnen bei männlichen Geisteskranken vorgebracht
werden, und zu denen besonders gehören: sexuelle Angriffe von seiten der
Kranken, geringere Eignung der Pflegerinnen für professionelle Arbeiten,
das Schlafen der Pflegerinnen unter den Kranken und die geringere Eignung
derselben bei aufgeregten und namentlich verbrecherischen Kranken. Er
gibt zu, daß die Frau auf den Abteilungen mit gewalttätigen Kranken
wenig ihren Platz ausfüllen kann: ..Dort, wo unter Umständen die grobe
Kraft zur Anwendung kommen muß. dort, wo die männliche Kraft und
Energie schon imponieren und als ein gewisser Beruhigungsfaktor fun¬
gieren muß, dort wird die Frau auch späterhin kaum den Mann ersetzen
können.“ Aber nach seiner Ansicht sind die übrigen Nachteile nicht so
beschaffen, daß sie sich nicht größtenteils vermeiden ließen, er bezeichnet
es hierbei indessen für erstrebenswert, daß auf einem und demselben Pa¬
villon nur ein Geschlecht von Pflegepersonen zur Verwendung kommt.
Nach seinen Wahrnehmungen empfiehlt er schließlich die Beibehal¬
tung weiblicher Pflegekräfte in gewissem Umfange auch für
die Zeit nach dem Kriege, namentlich für das Lazarett der Irren¬
anstalt, für Siechenabteilungen und zum Dienst als Extrapflegerin, es
erscheint ihm ferner gar nicht so unmöglich, daß professionelle Verrichtun¬
gen von Frauen versehen werden, wenn sich hierzu geeignetes Personal
finden läßt, namentlich bei landwirtschaftlichen Arbeiten der Männer,
da ja die Frau auch jetzt schon für diese Arbeiten bei den weiblichen Grup¬
pen verwendet wird. Eine weitere Ausdehnung der weiblichen Pflege
erscheint ihm davon abhängig zu sein, ob es gelingen wird, für die Schlaf¬
gelegenheiten des Pflegepersonals eine ausgiebige Vorsorge zu treffen.
Die zweite Arbeit stammt von Epstein 1 ), dem Direktor der ungari¬
schen Staatsheilanstalt in Budapest-Angyalföld, er ist in der Ver¬
wendung von weiblichen Kräften wesentlich weiter gegangen. Bereits
vor dem Kriege hatte er sich mit der Absicht getragen, auf einzelnen Ab¬
teilungen weibliche Hilfskräfte zum Pflegedienste bei männlichen Geistes¬
kranken heranzuziehen, er schritt deshalb bei Kriegsbeginn schnell zur
Tat und verlor nicht die Zeit mit vielem überlegen und Erheben der ver¬
schiedensten Bedenken. Auch er ging anfangs tastend und behutsam vor,
da aber die gemachten Wahrnehmungen durchaus günstig waren, ist die
Einstellung von Pflegerinnen immer flotter vor sich gegangen, und so steht
jetzt dort schon seit langer Zeit auf sämtlichen Abteilungen der
Männerseite weit überwiegend weibliches Pflegeperson al in
Verwendung. Denn die weibliche Pflege hat sich nicht nur als aus¬
reichend gezeigt, sondern in vielen Beziehungen war sie besser
als die frühere männliche, nicht nur bei den siechen und den aus ver¬
schiedenen andern Gründen bettlägerigen Kranken, sondern auch auf den
Psych.-Neurol. Wschr. Nr. 2619, 1916/17.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
348
Arnemann.
Wachabtcilungen, den Abteilungen für Unruhige und im Bade: ferner
wird die Stellung eines Traktpflegers durch eine Pflegerin gut ausgefüllt,
auch die Nachtwache im Wachsaal für Ruhige und Halbruhige wird zur
Zufriedenheit besorgt. Für die Nachtwache hatte der Yerf. anfangs die
Pflegerinnen nicht zu verwenden gewagt, aber mit den für diesen speziellen
Dienst angenommenen Aushilfpflegem waren die kläglichsten Erfahrun¬
gen gemacht worden, es waren ganz unglaubliche Elemente hereingekoni-
men, welche in keiner Weise zu brauchen waren und infolge ihrer Un¬
brauchbarkeit ein fortwährendes Kommen und Gehen verursacht hatten.
Daß mit der weiblichen Pflege auf Männerabteilungen gewisse Nachteile
verbunden seien, gibt Epstein zu, jedoch meint er, daß dieselben keinen
ernsten Charakter hätten. Der Verkehr zwischen Pfleger und Pflegerinnen
führte zwar gelegentlich zu Reibereien, diese waren aber nicht dem System,
sondern eher der Unverträglichkeit der betreffenden Personen zuzu-
schreiben. Andrerseits wurden im Verkehr zwischen weiblichen Pflege¬
personen mit männlichen Kranken Tändeleien und Liebeleien gelegentlich
beobachtet, diese waren jedoch nach der Ansicht des Yerf. den besonderen
Zeitverhältnissen, dem Kriegszustände, zur Last zu legen, da es sich um
„Marssöhne“ handelte, von denen diese Beziehungen ausgingen. Sexuelle
Angriffe wurden allerdings gelegentlich unternommen, meist aber von
Paralytikern, und zumeist in unschuldiger Form, nur ein einziger Kranker
ist während der kurzen Zeit seiner manischen Erregung auf Pflegerinnen
wiederholt losgestürmt. Angrifle anderer Art fanden auch statt, jedoch
eher seltener als auf das männliche Personal, u. a. erhielt eine ahnunglos
dastehende Pflegerin einen überaus heftigen Faustschlag ins Gesicht, der
■eine Hirnerschütterung zur Folge hatte, aber dieselben unliebsamen Vor-
kommnisse können sich beim männlichen Personal ebensogut ereignen
und sprechen keineswegs gegen die weibliche Pflege im allgemeinen. Ep¬
stein kommt daher ebenfalls zu dem Schluß, daß die Beibehaltung
und sogar die weitere Ausgestaltung der weiblichen Pflege
auf Männerabteilungen auch nach dem Kriege gerechtfertigt
sei, andrerseits stellt er sich teilweise in Gegensatz zu Starlinger, wenn er
wünscht, „daß überall dort, wo es nur angeht, ausschließlich weibliches
Pflegepersonal den Dienst versehe, dort aber, wo die physische Kraft
und das energische Eingreifen des Mannes nicht entbehrt werden kann,
neben den Pflegern auch Pflegerinnen verwendet werden, damit die be¬
schwichtigende, mildernde Einflußnahme des weicheren, liebevolleren
weiblichen Elements nicht gerade auf den meist gefährdeten Abteilungen,
dort, wo sie am dringendsten nottut, fehle; die Paarung des Strengen mit
dom Zarten, des Starken mit dem Schwachen gibt hier sicher einen guten
Klang.“
Abgesehen von den erwähnten beiden ausfflhrlichen Mittei¬
lungen sind dem Verfasser während des Krieges keine eingehenden
Berichte über diese Frage bekannt geworden, wohl aber existieren
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Weibliche Pflege auf Männer&bteilungen der Irrenanstalten. 349
einige wenige ausländische Arbeiten über dieses Thema aus früherer
Zeit, von denen nur zwei erwähnt sein mögen.
In der livländischen Anstalt Stackein liegt, wie im Jahre 1910
Behr l ) schreibt, die Pflege der Männer seit der im Jahre 1907 erfolgten
Eröffnung des Betriebes in weiblichen Händen und hat sich außer¬
ordentlich bewährt. Es ist nur die Einrichtung getroffen, daß die un¬
sozialen und gewalttätigen Männer von männlichen und weiblichen Pflege¬
kräften gemeinsam gewartet werden. In den Abteilungen, in welchen
Pfleger und Pflegerinnen zusammen pflegen, haben die männlichen Pfleger
folgende Aufgaben: 1. das weibliche Personal gegen'Überfälle und Angriffe
zu schützen, 2. spezifische Handleistungen (z. B. Klystiere) auszuführen,
3. das Dauerbad zu besorgen und 4. die Nachtwache zu versehen.
Besondere Beachtung verdient dann noch eine ausführliche Arbeit,
welche von Hermann *), dem Direktor der Irrenanstalt des Gouvernements
Orel in Rußland, im Jahre 1908 veröffentlicht worden ist, und welche die
Verwendung von weiblichem Personal in der weitgehendsten Weise emp¬
fiehlt. In den russischen Irrenanstalten war seinerzeit bei Ausbruch des
russisch-japanischen Krieges der gleiche Mangel unter dem männlichen
Pflegepersonal eingetreten, wie jetzt bei uns infolge des Weltkrieges. Man
war dort schon im Frieden vielfach mit den Leistungen de£ Personals
wenig zufrieden gewesen, und darum wurde der schon vorher geplante
Ersatz der Männer durch weibliche Pflegekräfte mit Beschleunigung
durchgeführt. Auch dort ging man anfangs mit Umsicht und Vorsicht
vor, es wurden die ältesten, erfahrensten und besten Krankenwärterinnen
aus den Frauenabteilungen herausgesucht. In den ersten Tagen zeigte
sich allerdings auf den Abteilungen eine ziemlich große Unruhe, die Kranken
sprangen aus den Betten, schrien, gehorchten nicht, verweigerten die
Nahrung, weil sie sie nicht aus den Händen von Wärterinnen nehmen
wollten, aber nach einigen Tagen war alles ruhig. Die Kranken hatten sich
daran gewöhnt, sie hatten begriffen, daß die Wärterinnen zur Pflege da
seien. Der höfliche, milde Verkehr derselben mit den Kranken, ihr teil-
nahmvolles Verhalten diesen gegenüber hatte auch das Verhalten der
Kranken geändert, sie begannen zu gehorchen. Das weibliche Dienst¬
personal wurde mit den Kranken, sogar mit stark erregten und sehr un¬
ruhigen, sehr gut fertig. Die ganze Abteilung bekam ein weit besseres
Aussehen, überall fielen Ordnung und Sauberkeit auf, die Pflege der Kran¬
ken wurde weit besser, die Behandlung mild, höflich, fürsorglich, so daß
die Kranken seltener Veranlassung hatten, sich aufzuregen, die Zusammen¬
stöße der Kranken untereinander sowie deren Tätlichkeiten wurden weit
seltener und weniger intensiv. Die von manchen russischen Psychiatern
befürchteten Mängel stellten sich in der Praxis nicht ein, namentlich hatte
*) Psych.-Neurol. Wschr. Nr. 41, 1910.
*) Ztschr. f. Krankenpflege 1908, Bd. XXX, Nr. 5—7.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
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Arnemann,
die Anwesenheit von Frauen durchaus keine sexuelle Aufregung zur Folge,
und es konnte das weibliche Dienstpersonal selbst in den
Abteilungen mit den unruhigsten Kranken seinen Dienst zur
Zufriedenheit versehen. Schließlich haben sich nach den Angaben
Behrs die Ärzte und das übrige Personal so an die Tatsache in Orel gewöhnt,
daß sie eine gewöhnliche Erscheinung geworden ist und sie sich etwas
anderes gar nicht mehr denken können. Zur Erklärung für die günstigen
Beobachtungen erinnert er daran, daß das weibliche Personal im allge¬
meinen weit geduldiger ist, sich besser beherrscht, ein ausgesprocheneres
Mitleidsgefühl besitzt als der Mann, und infolge dieser Eigenschaften
weit leichter die Launen, das Schreien, die Unruhe und die Tätlichkeiten
der Kranken erträgt; ferner, daß die unsauberen Kranken bei den Frauen
kein Ekelgefühl hervorrufen, weil sie schon von der Kinderpflege her daran
gewöhnt sind, und wie er weiter ausführt, liegt im Gegensatz zur Frau dem
Mann im allgemeinen der Pflegeberuf nicht, weil er Selbstaufopferung
fordert und vieles verlangt, was dem Manne direkt mißfällt, darum liebt
er ihn nicht und gibt ihn verhältnismäßig leicht wieder auf, sobald sich
andere Erwerbsmöglichkeiten bieten.
Iin nachstehenden sei es nun gestattet, einen weiteren Beitrag zu
der in Rede stehenden Frage zu liefern durch einen Bericht über die
Verhältnisse im Königreich Sachsen.
Hier haben wir die seit über 25 Jahren bestehende, aber in den
Kreisen der Fachkollegen immer noch ziemlich wenig bekannte Ein¬
richtung des evangelischen Schwesternhauses zu Hubertusburg, welche
uns bei der Ein- und Durchführung des neuen Systems zu großem
Segen gereichte. Die Gründung derselben erfolgte am 1. Oktober 1888,
als man das Unzulängliche des damaligen Pflegewesens erkannt hatte.
Die Wünsche, welche erfüllt werden sollten, lauteten: „Weniger
Wechsel der Pflegekräfte! Mehr Verständnis und mehr Herz für die
Kranken!“ Die Gründung der Organisation war ein wichtiger Schritt
in der Geschichte der Krankenpflege, denn zum ersten Male waren
miteinander vereint: Staatsdienst und religiöse Gemeinschaft. Man
fing an, Pflegerinnen auszubilden für alle sächsischen Heil-, Pflege-
und Erziehungsanstalten, und zwar werden seitdem Mädchen im
Alter von 18—35 Jahren angenommen, sie erhalten halbjährigen theo¬
retischen Unterricht, machen einen zweijährigen Hilfsdienst durch,
erhalten dann Staatsanstellung und werden kirchlich eingesegnet.
Die Einrichtung hat sich außerordentlich bewährt und hat uns sächsi¬
schen Psychiatern seit Jahren manche Sorgen und manchen Verdruß
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 351
erspart, den wir nur aus den Jahresberichten der außersächsischen
Irrenanstalten kennen. Anfang Januar 1917 standen ca. 700
Schwestern in Arbeit.
Auf diese Schwesternschaft konnten nun während des Krieges
die sächsischen Anstalten zurückgreifen, und sie wurden darin durch
den verdienstvollen Leiter des Schwesternhauses, Herrn Kirchenrat
Naumann, in der denkbar entgegenkommendsten Weise unterstützt.
Von vornherein wurden von seiner Seite nicht die geringsten prinzipiellen
Bedenken gegen die Verwendung der Schwestern auf Männerabteilungen
geltend gemacht, und im einzelnen blieb es daher den Anstaltsdirek-
toren vollständig überlassen, Erfahrungen zu sammeln und auf Grund
der Erfahrungen die Grenzen festzustellen, innerhalb welcher das
neue System in Zukunft beibehalten werden könne.
Vor allem wurde auch die Einführung der Schwestempflege infolge
der in Zschadraß gemachten günstigen Erfahrungen vom Königlichen
Ministerium des Innern gefördert.
ln manchen sächsischen Landesanstalten, namentlich in solchen,
welche bei Kriegsbeginn fast ihr gesamtes männliches Personal ver¬
loren hatten, wurden, ebenso wie in andern Gegenden Deutschlands,
männliche Aushilfkräfte angenommen, aber auch hier wurden, wie
fast überall, die allertraurigsten Erfahrungen gemacht. Die meisten
Anstalten gingen sehr bald zur weiblichen Pflege über. Gedruckte
Mitteilungen liegen Uber die Erfahrungen noch nicht vor, da die sächsi¬
schen Jahresberichte über die Kriegsjahre erst später erscheinen
werden, aber durch persönliche Umfrage hat Verf. Nachrichten erhalten,
und außerdem sind ihm in sehr dankenswerter Weise vom Schwestern¬
haus diejenigen Berichte zur Verfügung gestellt worden, welche von
den Schwesternheimvorstehern der verschiedenen Anstalten im Ein¬
verständnis mit den Direktionen erstattet worden sind. Aus denselben
ist folgendes bemerkenswert.
Bereits Ende 1913 wurden in Großschweidnitz 6 weibliche
Pflegepersonen (5 Schwestern und 1 Hilfswärterin) zur männlichen Pflege
verwendet, auch in der Anstalt Sonnenstein waren es 6 (5 Schwestern
und 1 Hilfswärterin), während es in Zschadraß schon 23 (11 Schwestern
und 12 Hilfswärterinnen) waren.
Ende 1914 waren in Arnsdorf bei 267 Kranken 14 weibliche Pflege¬
kräfte (11 Schwestern und 3 Hilfswärterinnen) tätig, jedoch ist bei dieser
Krankenzahl in Arnsdorf zu berücksichtigen, daß auf einigen Abteilungen
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 4.
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Arnemann,
außer Schwestern auch Pfleger bzw. Hilfswärter mit tätig waren; in Groß-
schweidnitz waren es bei 198 Kranken 24 (11 Schwestern und 13 Hilfs¬
wärterinnen, in Sonnenstein bei 84 Kranken 14 (10 Schwestern und
4 Hilfswärterinnen).
Mitte Januar 1917 lauten die Zahlen wie folgt. In Arnsdorf bei
290 Männern 28 (21 Schwestern und 7 Hilfswärterinnen), in Dösen bei
338 Männern 39 Pflegerinnen, in Großschweidnitz bei 181 Männern
35 (20 Schwestern und 15 Hilfswärterinnen), in Hubertusburg bei 124
Männern 18 (15 Schwestern und 3 Hilfswärterinnen), in Sonnenstein 2»)
(13 Schwestern und 7 Hilfsschwestern; dort waren auf einigen Abteilungen
auch Pfleger tätig), in Untergöltzsch bei 67 Männern 9 (4 Schwestern
und 5 Hilfswärterinnen) und in Zschadraß bei 233 Männern 32 (15
Schwestern und 17 Wärterinnen; dazu kommen noch 6 Wärterinnen,
welche aus Mangel an Pflegern nur zur Hausarbeit auf solchen Häusern
verwendet werden, die von Pflegern besetzt sind). — Ergänzend sei be¬
merkt, daß in der Anstalt Colditz, welche verbrecherische und schwer
unsoziale Kranke aufnimmt, keine Versuche gemacht wurden, in der Epi¬
leptikeranstalt Hoch Weitzschen ist weibliche Pflege nur bei Kindern
eingeführt 1 ), dagegen sind in der der Strafanstalt zu Wald heim ange¬
gliederten Anstalt für verbrecherische Geisteskranke 3 Wärterinnen zur
Zufriedenheit tätig.
Übereinstimmend wird berichtet, daß in den sächsischen
Anstalten die gemachten Erfahrungen gute, zum Teil sehr
erfreuliche waren, und daher wird überall beabsichtigt, die neue
Einrichtung auch nach dem Kriege beizubehalten. Alle
Anstalten wollen den Umfang der Schwesternpflege später abhängig
machen von der Zahl der zurückkehrenden Pfleger. Die Anstalt
Großschweidnitz glaubt etwa 100 Kranke dauernd unter Schwestern¬
pflege stellen zu können, und in Arnsdorf wird wahrscheinlich das neue
System in sämtlichen Abteilungen mit Ausnahme derjenigen für hoch¬
gradig Unruhige beibehalten werden. Für die Bäder wird fast allgemein
die Verwendung von Pflegern empfohlen, dagegen werden die Nacht¬
wachen dort, wo es unbedenklich erscheint, von Schwestern geleistet.
Die namentlich im Anfang fast überall beobachtete wenig freundliche
Stellungnahme der Pfleger gegenüber der Schwestempflege scheint in
der Hauptsache überwunden zu sein, aus Großschweidnitz wird aber
berichtet, daß diese Stellungnahme auch jetzt noch nicht ganz behoben
ist. Von besonderen Vorkommnissen sei erwähnt, daß ein als geheilt
*) Seit einem halben Jahr auch bei Erwachsenen. Die Einrichtung
hat sich auch hier gut bewährt und ihre Beibehaltung erscheint gesichert
(Anm. bei der Korr.).
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 353
entlassener Kranker, ein Geistlicher, sich dahin ausgesprochen hat,
daß die Schwestempflege für ihn eine starke Hilfe zu seiner Genesung
gewesen sei. Andrerseits ist ein schwerer Unglücksfall vorgekommen,
indem eine Schwester von einem Kranken durch Stiche schwer ver¬
letzt wurde.
Was speziell die Einführung des neuen Systems in der Anstalt
Hubertusburg betrifft, so ist darüber folgendes zu berichten.
Der Verfasser dieser Zeilen, welcher als ärztlicher Leiter der
Männerabteilung tätig ist, hatte schon lange vor Kriegsbeginn im Ein¬
vernehmen mit der hiesigen Anstaltsdirektion beabsichtigt, einen
Versuch mit weiblicher Pflege zu machen. Bei der Einberufung der
ersten Pfleger zum Militär wurde daher in Hubertusburg überhaupt
nicht der Versuch gemacht, männliche Ersatzkräfte einzustellen, und
wir haben unser Vorgehen, wie gleich von vornherein gesagt werden
kann, durchaus nicht zu bereuen gehabt. Ganz ähnlich wie in Zschadraß
stand auch bei uns das männliche Personal den ganzen Vorbereitungen
mit ziemlichem Mißtrauen gegenüber; es fürchtete von den Schwestern
aus seinen Stellungen gedrängt zu werden. Natürlich waren solche
Befürchtungen vollständig gegenstandlos, denn im Königreich Sachsen
sind die Pfleger genau so organisiert wie die Schwestern, sie werden
im Pflegerhaus zu Hochweitzschen ausgebildct, machen 2 Jahre
Dienstzeit als Hilfspfleger durch und werden dann mit Staatsdiener¬
eigenschaft angestellt. Dieser Einrichtung verdanken wir, daß wir ein
brauchbares und seßhaftes Personal haben, und es ist selbstverständlich
gar nicht daran zu denken, daß den Pflegern ihre Lebensstellung ge¬
nommen werden kann, nur wird voraussichtlich bei der auch in Zu¬
kunft zu erwartenden Bewährung der weiblichen Kräfte die Neuein¬
stellung von Pflegern in geringerer Zahl notwendig sein als bisher.
Natürlich wurden die Pfleger aufgeklärt, aber eine volle Beruhigung
ist erst ganz allmählich eingetreten, anfangs hatten die Belehrungen,
wie sich immer wieder zeigte, nur vorübergehenden Erfolg, ebenso die
Mahnungen der verständigen Elemente unter den Pflegern selbst.
Jedenfalls wurde viel Stimmung gegen das neue System gemacht, und
es wurde alles mögliche versucht, den Kranken „die Abteilung mit
Damenbedienung“ zu verleiden. Es mußte deshalb besonderer Wert
darauf gelegt werden, daß der erste Versuch nicht etwa fehlschlug,
und deshalb wurden zur Besetzung der ersten Abteilung möglichst gute
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Arnemann.
Pflegerinnen ausgewählt. Hierbei muß auch der hiesigen Frauen-
abteilung die Anerkennung ausgesprochen werden, daß sie jederzeit
in uneigennütziger Weise ihre guten Kräfte abgegeben hat.
Zunächst wurde ein Pavillon mit 31 männlichen Kranken den
Schwestern anvertraut, und zwar kamen dahin unter 3 Schwestern
und 2 Hilfswärterinnen sieche und hinfällige Kranke, außerdem noch
Halbruhige. Vom ersten Tage an hatten die Pfleger keinerlei Dienst
mehr auf der Abteilung, auch die Nachtwache wurde sofort von den
Schwestern und Wärterinnen übernommen. Und es ging alles
ganz vortrefflich. Die von vornherein erwartete Verbesserung im
ganzen Aussehen der Station trat sofort ein, Ordnung, Reinlichkeit und
Behaglichkeit hielten ihren Einzug. Die Pfleger hatten sich, wie ohne
weiteres anerkannt werden muß, die größte Mühe gegeben, das Haus
in gut gereinigtem Zustand zu übergeben, aber es zeigte sich auch hier,
daß ihnen die Kritik ihres Reinlichkeitbegriffs von seiten der Schwestern
nicht erspart bleiben sollte. Die Stationsschwester begann nach der
gründlichen männlichen Reinigung ein großes Scheuerfest, das nach
ihrer Ansicht sehr notwendig war, konnte sie doch u. a. bei der Reini¬
gung eines im Dachgeschoß gelegenen Garderoberaumes dem Arzt
auf einer Kehrichtschaufel eine Menge „Schlamm“ zeigen, den sie
durch Aufweichen altehrwürdigen Schmutzes gewonnen hatte. Aller¬
dings muß hierbei erwähnt werden, daß gerade diese Schwester als die
scheuerwütigste bekannt war: man erzählte sich von ihr, daß sie seit
Jahr und Tag aus der eigenen Tasche Seife gekauft hätte, wenn sie
nicht genug von der Wirtschaftsverwaltung geliefert erhielt. Einen
besonderen Kummer bereitete der Stationsschwester der Zustand der
männlichen Kleidungsstücke, überall hatte seit längerer Zeit die aus
bessernde Hand bei kleinen und großen Defekten gefehlt, nur das
Allernotwendigste war ausgebessert worden, und daher sprach sie die
Ansicht aus, daß sie wohl erst nach Jahr und Tag die Garderobe in
leidlichen Zustand würde versetzen können.
Die Kranken selbst äußerten sehr bald ihre große Zufriedenheit
mit dem Wechsel des Systems; manche, die infolge der vorausgegange¬
nen Beeinflussung durch die Pfleger nur mit Widerstreben sich hatten
versetzen lassen, erklärten nach einigen Monaten, daß sie nicht wieder
zu den Pflegern zurück möchten, und die intelligenteren machten dabei
geltend, sie hätten eingesehen, daß die Pflegerinnen wirklich pflegten
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Weibliche Pflege auf Männerabteiluugen der Irrenanstalten. 355
und ihrem Namen Ehre machten, und daß sie weniger an Urlaub,
Freizeiten, Vereinsangelegenheiten, Standesorganisation u. a. dächten
als das männliche Personal. In ihren freien Stunden lasen die
Schwestern den Kranken vor, oder sie spielten mit ihnen Salta, Halma
usw., und man konnte beobachten, daß sie aus manchen Kranken,
welche bereits als geistige Ruinen erschienen, noch manches heraus-
holten, was nicht zu erwarten war, die betreffenden wurden geistig
regsamer, und so kam es z. 6., daß ein Kranker, welcher monatelang
im katatonischen Stupor dagesessen oder gelegen hatte, jetzt auf einmal
recht gut Dame spielte. Als der Verfasser gelegentlich einmal übet
diese Dinge in der ärztlichen Konferenz sprach und lobend erwähnte,
daß sich die Schwestern sehr mit den Kranken abgeben, erwiderte ein
Arzt der Frauenabteilung: „Solche Mühe haben sich aber die Schwe¬
stern nicht gegeben, solange sie bei den Frauen waren.“ Das ist aller¬
dings richtig, andrerseits aber auch erklärlich. Wie sich nämlich aus
den Äußerungen der Schwestern ergeben hat, arbeiten sie viel lieber
auf Männerabteilungen und bitten darum, sie nicht wieder zu den
Frauen zurückzuversetzen. Denn auf sämtlichen Männerabteilungen
geht es zunächst durchschnittlich ungleich ruhiger zu als auf den
entsprechenden Frauenabteilungen, außerdem aber führen auch auf
relativ ruhigen Frauenabteilungen die Patientinnen oft recht gemeine
Reden, sie spucken die Schwestern an, raufen sie mit Vorliebe an den
Haaren, setzen den Anordnungen heftigen Widerstand entgegen und
haben für deren Tätigkeit häufig nur verächtliche Kritik übrig; von
den Kranken der höheren Verpflegklassen werden die Schwestern
nicht selten in nicht gerade schöner Weise als Untergebene behandelt.
Ganz anders sind die Männer, sie sind viel leichter lenkbar und vor
allem wesentlich dankbarer, sie schätzen die Leistungen der Schwestern,
die ihnen das Gefühl der Behaglichkeit verursachen, und sprechen ihnen
rückhaltlos ihre Anerkennung aus für all die kleinen Hilfen, Aufmerk¬
samkeiten und Annehmlichkeiten, welche ihnen geboten werden.
2 Monate nach der Belegung der ersten Station wurde dann ein
offenes Haus mit 35 männlichen Insassen, welche zum größten Teil in
der Landwirtschaft tätig waren, unter Schwesternpflege gestellt.
Auch vor der Besetzung dieser Abteilung setzte die männliche Agita¬
tion wieder ein, und es wurde behauptet, daß angeblich zahlreiche
Kranke den Wunsch geäußert hätten, bei den Pflegern bleiben zu
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Arnemann,
dürfen. Zum Teil gingen die Kranken auch wirklich ungern und mit
Mißtrauen in die neuen Verhältnisse über, aber sehr bald gaben sie
spontan zu erkennen, wie wohl sie sich fühlten. Von den anfangs in
Aussicht genommenen Kranken wurde nur ein einziger vom Verfasser
bei den Pflegern gelassen, weil er in sehr beweglichen Worten darum
gebeten hatte, jedoch schon nach einer Woche kam er, um anschaulich
zu berichten, daß er sich überzeugt habe, wie schön es nun seine
früheren Kameraden hätten, und wie sehr er es bedaure, nicht mit um¬
gezogen zu sein. Er mußte erst noch eine Zeitlang die vorher ver¬
schmähte Wohltat entbehren, dann aber wurde ihm als Weihnachts¬
geschenk die Versetzung in Schwestempflege beschert. Wie hoch diese
Kranken aber die Veränderung einschätzen, läßt sich u. a. aus der
Äußerung eines Patienten erkennen, welcher erklärte: „Ich komme
mir jetzt vor, als wenn ich verheiratet wäre.“ Und gerade
das in diesem Ausspruch hervorgehobene Moment des familiären
Lebens, auf welches Verf. weiter unten noch ausführlicher zu sprechen
kommen wird, stellt einen gar nicht hoch genug zu bewertenden Vorzug
der weiblichen Pflege auf Männerabteilungen dar.
Es sind dann in der Folgezeit, entsprechend den Einberufungen
der Pfleger, weitere Stationen unter weibliche Pflege gestellt worden,
so daß am 31. Dezember 1916 im ganzen 124 geisteskranke Männer
unter der Pflege von 15 Schwestern und 3 Hilfswärterinnen standen.
Und wenn in der hiesigen Anstalt nicht eine relativ große Anzahl von
Pflegern noch zur Verfügung stände, weil wir ziemlich viel ältere, nicht
mehr militärpflichtige Pfleger haben, so würde die Schwestempflege
nach den bisherigen günstigen Erfahrungen schon längst einen weit
größeren Umfang erreicht haben. Aber auch bei der letzten vorge¬
nommenen Erweiterung konnte man erkennen, mit welchen gemischten
Gefühlen das Unternehmen von der Pflegerschaft betrachtet wird. Als
nämlich an einem einzigen Tage wieder 3 Pfleger zum Heeresdienst
einberufen wurden, erklärte das Oberpflegepersonal ganz spontan,
daß trotz des Wegfalls dieser 3 Pfleger der gesamte Dienst vollständig
anfrechterhalten werden könnte, und daß irgendwelcher Ersatz nicht
nötig sei. Wenn unter andern Verhältnissen plötzlich 3 Pfleger hätten
weggenommen werden sollen, dann wären die allergrößten Bedenken
geäußert worden, aber im vorliegenden Fall erklärte man sich gern zu
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Weibliche Pflege aal Männerabteüungen der Irrenanstalten. 357
Mehrleistungen bereit; der durchsichtige Grund war natürlich der,
die weitere Ausbreitung der weiblichen Pflege zu verhindern.
Die Organisation ist nun so getroffen, daß sämtliche Abteilungen
der Männerseite, welche unter weiblicher Pflege stehen, einer Ober¬
schwester untergeordnet sind, und da die Pfleger keinerlei Dienst mehr
auf diesen Abteilungen tun, sind alle Reibereien zwischen männlichem
und weiblichem Personal vermieden worden. Andrerseits sind hier
niemals Liebeleien und Tändeleien zwischen dem Personal und den
Kranken zur Beobachtung gekommen. Daß dieselben nicht ganz zu
vermeiden sind, ist sicher und wird durch einige in anderen Anstalten
gemachte Wahrnehmungen bewiesen. So soll es nach Mitteilungen
des Schwesternhauses vorgekommen sein, daß eine Schwester auf dem
Wege des Mitleids eine zu große Vertraulichkeit an den Tag gelegt hat,
die zunächst zu Bevorzugung und schließlich zur Liebelei führte.
Es wurden alle Arten von Kranken ausgewählt mit Ausnahme
der Unruhigsten, der schwer Gewalttätigen und sexuell Erregten, und
nirgends haben sich erhebliche Nachteile herausgestellt. Zwar ist es
ganz selten vorgekonmien, daß eine Rück Versetzung w-ünschenswert
erschien, aber nie hat es sich ereignet, daß der Anwesenheit von weib¬
lichem Personal die Schuld an einem auftretenden Erregungszustand
beigemessen werden mußte. Ferner haben sich keinerlei Mißstände
dadurch ergeben, daß in der hiesigen Anstalt die Abteilungen meist
nicht Einzelpavillons darstellen, sondern viele derselben in einem
einzigen Gebäude, dem alten Hubertusburger Schloß, sich befinden.
Auch hier, wo die Treppenhäuser für die mit männlichem und weib¬
lichem Personal besetzten Abteilungen gemeinsam sind, ist alles glatt
gegangen.
Das Personal schläft grundsätzlich nicht unter den Kranken,
sondern in besonderen Zimmern, welche so gelegen sind, daß dasselbe
im Fall der Not von der Nachtwache zu Hilfe geholt werden kann.
Nachts sind Sitz- und Wandelwachen eingerichtet, welche ausschlie߬
lich von den Schwestern und Hilfswärterinnen geleistet werden, nur
im Anfang, bei der Einführung des neuen Systems auf einer Abteilung
für Halbruhige im Schloß, war eine Zeitlang der Wachtdienst von
Pflegern versehen worden. Der Dienst bei den Bädern wird ebenfalls
vom weiblichen Personal versehen und hat weder von seiten der
Kranken noch von seiten der Schwestern zu Beschwerden Veran-
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Arnemann,
lassung gegeben, vielmehr ist allgemein beobachtet worden, daß sieb
alles ruhiger und glatter abwickelt als früher. Doch möchte ich nicht
behaupten, daß gerade diese Frage mit der hier gemachten Erfahrung
endgültig entschieden ist. Eine Anzahl von Kranken, welche zur
Außenarbeit oder zur Beschäftigung in die Werkstätten geht, ist wäh¬
rend der Arbeitzeit unter Aufsicht der Pfleger, es sind aber auch schon
einzelne kleine Gruppen unter Anleitung von Wärterinnen draußen
tätig gewesen, namentlich gilt das von den erwachsenen Idioten. Auf
diese hat übrigens der Übergang in weibliche Pflege ganz besonders
günstig gewirkt. Früher war auf der Idiotenabteilung den ganzen Tag
viel Geschrei und Unruhe, die Kranken waren unter dem scharfen,
militärähnlichen Regiment der Pfleger meist auffallend gereizt und
durchaus nicht an Reinlichkeit und geordnetes Wesen, viel weniger an
irgendeine Tätigkeit zu gewöhnen. Alles das ist anders geworden,
sie haben durch die milde Hand und die große Geduld der Schwestern
die Reizbarkeit und die Neigung zur Unsauberkeit und zu allerhand
üblen Gewohnheiten verloren, sie spielen Ball, beschäftigen sich mit
Baukästen und andern Spielen und gehen zum Teil einer leichten
Arbeit nach.
Nebenbei sei noch bemerkt, daß am 1. Oktober 1915 das der
hiesigen Anstaltsdirektion unterstehende Landeshospital, in welchem
außer körperlich hinfälligen auch recht viel geistesschwache Männer
untergebracht sind, in weibliche Pflege überging. Es werden dort
zurzeit 31 Männer von 4 Schwestern und 1 Hilfswärterin verpflegt,
und sie schätzen, wie das nicht anders zu erwarten war, den Wechsel
ganz außerordentlich hoch.
Sehr interessant und für die Beurteilung der ganzen Frage wert¬
voll ist es nun, auch die Ansichten der beteiligten Kranken
etwas ausführlicher zu hören, natürlich soweit sie überhaupt zur Ab¬
gabe eines einigermaßen brauchbaren Urteils fähig erscheinen.
Zunächst möchte ich hier das Urteil eines Patienten wiedergebeu.
welcher zuerst lange Zeit die männliche Pflege kennen gelernt hat, dann
den Übergang in weibliche Pflege mitmachte und unter derselben jetzt
noch, nach 2 % Jahren, steht. Er litt draußen an alkoholischen Eifersuchts¬
ideen mit Neigung zu Erregungszuständen, ließ aber im übrigen, abgesehen
von tabischen Erscheinungen, kaum Krankheitsymptome erkennen, ln
der Anstalt besserte sich sein Zustand sehr bald so weit, daß schon seit
langer Zeit nur noch ein schwacher Residualwahn nachweisbar ist. Er-
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 359
läuternd möchte ich zu seinen Angaben bemerken, daß der Kranke ein
intelligenter Mann ist, der aber nur einfache Bildung besitzt, er hat eine
kleine Gastwirtschaft mit Hausschlächterei betrieben, gegen das straffe
militärische Wesen im allgemeinen ist er durchaus nicht eingenommen,
er war mit Lust und Liebe Soldat, auch im ersten Dienstjahre, kapitulierte
und war etwa 4 Jahre Bursche bei einem Hauptmann. Seine Angabe
machte er mir gegenüber in einer einzigen längeren Unterhaltung, auf
welche er in keiner Weise vorbereitet war, und ich gebe seine Äußerungen
wörtlich wieder, auch mit den in ihnen enthaltenen gelegentlichen Über¬
treibungen. Bemerkenswert erscheint mir besonders, daß er imstande war,
das, was er sagen wollte, in treffende Worte zu fassen. Er sprach sich über
den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Pflege nach meiner
Niederschrift folgendermaßen aus.
„Die Pflege des Mannes bleibt fabrikmäßig, geschäftlich, maschinen¬
mäßig. Was ihm dienstlich vorgeschrieben ist, macht er, aber mehr nicht.
Vielfach merkt man ihm an, daß er seine Arbeit ungern tut, namentlich
wenn er kleine Wünsche eines Kranken erfüllen soll. Wer feinfühlig ist,
merkt das wohl, und man sagt dann lieber nichts, wenn man Wünsche
hat, man unterdrückt sie. Nicht alle Pfleger sind so, wie ich sage, es gibt
auch Ausnahmen, aber viele sind doch so. Wenn man als Kranker in die
Anstalt hereinkommt, so denkt man, das Fabrikmäßige, das ist nun einmal
so hier, und das muß wohl so sein, aber wenn man dann die Schwestern¬
pflege kennen gelernt hat, merkt man den Unterschied und sieht ein,
daß es die Ärzte gar nicht so haben wollen, wie es die Pfleger machen, d. h.
so kasernen- und fabrikmäßig, sondern daß die Pflege auch familiär
gehandhabt werden kann. Ich hatte den Eindruck bei den Pflegern,
als wäre hier kein Krankenhaus, sondern ein Aufbewahrungshaus, eine
Internierung. Abends %8 Uhr heißt es: „Ins Bett, 5 Minuten Zugabe
gibt es nicht“, die Pfleger halten sich an den Buchstaben der Anordnung,
eine Gefälligkeit gibt es nicht, denn die Pfleger haben ihre Familie und
haben dafür Interesse, sie sind froh, wenn sie mittags und abends nach
Hause gehen können. Schon 10 Minuten vorher denken sie nur: „Heim,
heim“, und von da an wird kein Finger mehr krumm gemacht, und wenn
bei einem Kranken noch etwas zu tun ist, so überlassen sie am liebsten
die Arbeit ihrem Nachfolger, aber die Schwestern sind immer da, und sie
unterziehen sich auch allen Arbeiten sofort und bereitwillig, infolgedessen
bekommen die Kranken auch viel weniger Dekubitus als bei den Pflegern.
Bei den Schwestern heißt es nicht, so und so ist es vorgeschrieben und
keine Idee anders, sondern da wird dem Kranken möglichst viel Freiheil
gelassen, so viel, als die Schwestern verantworten können, und vor allem
wird auf die einzelne Person Rücksicht genommen und auf seinen augen¬
blicklichen Zustand. Man merkt ihnen an, sie wollen den Kranken zu¬
friedenstellen und ihm Freude bereiten, auch wenn sie dadurch etwas
mehr zu tun bekommen. Die Folge ist, daß alles auf der Abteilung besser
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geht, es herrscht mehr Zufriedenheit unter den Kranken, während der
Kranke durch das Verhalten der Pfleger leicht grillig wird, namentlich der
barsche Ton und die schroffe Art haben etwas Abstoßendes, und wenn ich
nicht die Schwesternpflege kennen gelernt hätte, würde ich später beim
Verlassen der Anstalt einen sehr herben Eindruck mit hinausnehmen. —
Wenn ein Pfleger einen Kranken zur Arbeit heranziehen will, so heißt es
z. B.: ,,He, Müller oder Schulze, los, Teller waschen“, aber die Schwestern
sagen: „Würden Sie uns nicht den Gefallen tun und aufwaschen, wir haben
so viel zu tun?“ Das ist ein großer Unterschied bei derselben Sache, man
hilft den Pflegern ja auch, aber nicht so gern, und man merkt auch bei den
Pflegern, daß sie die Kranken hauptsächlich deshalb zu den Arbeiten an-
halten, um sich selbst die Arbeit zu ersparen, namentlich die schmutzigen
Arbeiten. — Die Schwestern halten Wäsche und Kleidung in ganz anderem
Zustand, sie nähen sofort Knöpfe an, stopfen Strümpfe, bessern kleine
Schäden aus, ehe ein größerer Schaden entsteht, und waschen beschmutzte
Wäsche sofort aus. Bei den Pflegern dauert es aber manchmal längere
Zeit, bis schmutzige Wäsche ausgewaschen wird, ferner bessern ja die
Pfleger nicht selbst aus, sondern geben alles zum Ausbessern fort, und
daher haben sie gar nicht das Interesse an den Dingen, wie die Schwestern.
Manchmal hat es mich im stillen geärgert, wie es bei den Pflegern über
die Sachen geht, und ob die Pfleger zu Hause mit ihren eigenen Sachen
so umgehen, wie hier, möchte ich bezweifeln, hier könnten Tausende
gespart werden. Bei dem scharfen An- und Ausziehen von widerstrebenden
Kranken kommt es oft vor, daß Sachen zerrissen werden, und dann heißt
es, der Kranke war aufgeregt und hat die Sachen zerrissen. Wenn die
Kranken unsauber gewesen sind, namentlich die Paralysen, da machen sich
die Pfleger nicht gern die Finger schmutzig, und sie ziehen dann die Sachen
so heftig vom Leibe des Kranken ab, daß leicht etwas zerreißt. —
Das Aussehen der Wohnräume ist bei den Schwestern ein viel besseres
geworden, alles ist behaglich, die ganze Aufmachung ist eine andere, überall
sind Servietten, Tischdecken, Blumensträuße, das liegt daran, daß die
Schwestern hier ihr „zu Hause“ haben, sie machen die Räume den Kranken
und sich wohnlicher, der Pfleger aber hat hier nur seine Arbeitstätte,
seinen Berufsraum, seine Gedanken sind draußen, fast jeder hat ja eine
Familie, ein eigenes Haus, einen Garten, er hat Abmieter usw., und das
beschäftigt ihn. — Eine Heilung der Krankheit wird durch die Schwestern
nach meiner Ansicht sicher erleichtert und beschleunigt, es kommt nicht
zu so heftigen Zusammenstößen wie bei Pflegern, der Kranke W. zog sich
/.. B. bei den Pflegern nie selbst an, es gab immer Spuk, aber unter den
Schwestern wurde er viel ruhiger angefaßt, und seitdem zieht er sich selbst
an. Überhaupt ist die ganze Behandlung eine ruhigere, und ich sage mir,
wenn die Anstalt als eine Anstalt für Nervenkranke erklärt wird, so gehört
auch dazu, daß eine möglichst ruhige Behandlung stattfindet. Aber das
Liebevolle bringt der Pfleger nicht. Ein kranker Mann paßt sich einer
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 361
Schwester auch viel leichter an als einem Manne, denn der kranke Mann
sagt sich in seinen Gedanken: „Was ist denn der Pfleger eigentlich ? Er
hat weiter nichts gelernt und getan, als hier Duminköpfe bearbeitet. Ich
bin draußen viel mehr gewesen als so ein Pfleger“, und man fügt sich bei
solchem Überlegen einem derartigen Manne nicht leicht, dagegen paßt
man sich einer Schwester viel leichter an, weil man von Kindheit an
gewöhnt ist, bei dem Namen ,.Schwester“ eine Vertreterin des Liebes-
werkes zu sehen. Das Liebevolle kann man besonders bei den Mahlzeiten
beobachten. Die Pfleger geben den Kranken das Essen hin, und nun
müssen sie meist selber sehen, wie sie fertig werden, dagegen sind die
Schwestern gerade bei den Mahlzeiten ganz besonders eifrig bemüht, die
Kranken zufrieden zu stellen, sie sind ihnen in jeder Weise behilflich beim
Essen, wärmen später das, was übrig bleibt, auf und sind oft sehr uneigen¬
nützig: sie geben den Kranken sogar von ihrem Essen etwas, damit der
Patient, der in der Ernährung zurückblieb, wieder hochkommt. — Auch
beim Baden geht es viel ruhiger zu. Der Pfleger kommandiert: „Rein, los
gewaschen, raus; was machen Sie denn noch so lange!“ Dagegen ist hierbei
gerade die weichere und freundliche Behandlung der Schwestern besonders
erkennbar. Ich selbst wollte eigentlich gar nicht gern zu den Schwestern
wegen des Badens, weil ich doch unbeholfen bin mit den Beinen, aber die
Schwestern sind in einer Art, wie es sich gehört, behilflich, so daß sich
niemand geniert. — Wenn die Schwestern Zeit haben, geben sie sich viel
mit den Patienten ab, die Pfleger lesen dann Zeitungen, rauchen oder unter¬
halten sich untereinander, aber bei den Schwestern wird gesungen, es liest
eine etwas aus einem Buche vor usw., und dadurch fühlt man sich familiär,
und man kommt viel eher wieder hoch. Ich weiß, wie es mit dem Kranken
Z. war, solange der unter den Pflegern war, heulte er den ganzen Tag,
war verstockt, sprach nicht, und mit einem Male hob sich der Mann.
Gerade an diesem Manne habe ich die Veränderung und die günstige
Wirkung der Schwesternpflege zusehends gesehen, ich kann daher nur
raten, möglichst viel Schwestern zu verwenden, und mancher Kranker
wird eher entlassen werden können.“
Die von diesem Kranken erwähnte Besserung im Befinden des Pa¬
tienten Z. entspricht den Tatsachen. Es handelte sich bei dem betreffenden
Kranken um eine Melancholie, welche schon recht lange (4 Jahre) ange¬
halten hatte. Unter der männlichen Pflege kam es immer und immer
wieder zu Rückschlägen, so daß wir die Prognose für ungünstig hielten:
da entschlossen wir uns, ihn als einen der ersten Kranken unter Schwestern¬
pflege zu geben, und der Erfolg war tatsächlich ein überraschender. Der
Patient besserte sich zusehends, es kam nicht wieder zu Rückschlägen,
und jetzt ist der Kranke (ein Schlosser) bereits seit Juni 1915 entlassen.
Er hat draußen sofort Arbeit gefunden, ist Werkmeister geworden, hat
die Aufhebung seiner Entmündigung erzielt und ist außerordentlich
dankbar, namentlich schreibt er seine Genesung ausschließlich der weib-
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liehen Pflege zu, während er auf die Pfleger gar nicht gut zu sprechen ist.
Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt, und seine Ansichten über
den Wert des neuen Systems lauten u. a. wie folgt:
„Ich kann Ihnen versichern, daß ich bei den Pflegern niemals hätte
gesund werden können, denn ein feinfühlender Mensch wie ich muß unter
der Behandlung entweder gereizt oder apathisch werden. Es gibt aller¬
dings auch sehr gute, wirklich teilnahmvolle, rücksichtvolle und immer
zum Guten geneigte Pfleger, die meisten Pfleger aber sind rücksichtlos,
höhnisch, grob, launisch, hochnäsig, gönnen dem Patienten das Essen
nicht, haben Freude am Unglück ihrer Patienten, denunzieren, um sich
zu decken, lassen sich von den Patienten pflegen, lügen, lassen sich ihre
Stiefeln putzen und reizen oft ihre Kranken. Die Pfleger sprechen einem
sehr selten Mut zu, und wenn man kleine Anliegen hat, oder wenn man
vor lauter Gram nicht weiß, wo man sein Herz ausschütten soll, da kann
man sich nur an die wenigsten von den Pflegern wenden. Zu den Schwestern
wollte ich nicht, denn ich versprach mir nichts Besseres, und wie unrecht
hatte ich vermutet. Niemals habe ich, ebenso wie alle andern Patienten,
bei den lieben Schwestern etwas Unrechtes bemerkt. Wir sind alle sehr
gut und liebevoll behandelt worden: freundliches Bitten für kleine Dienste,
peinlichste Sauberkeit beim Essen, kleine Zugaben, oft habe ich sogar
vom Essen der Schwestern etwas bekommen, sie zeigten große Uneigen¬
nützigkeit, Hingabe bei hinfälligen Kranken. Mit der Wäsche war es wie
Tag und Nacht, die Schwestern haben vieles getan, abends noch genäht,
bei Verunreinigungen des Nachts wurde sofort Ordnung gemacht, Wäsche
gewechselt, bei Unruhe gab es ein gütiges und freundliches Zureden, und
dieses hat in den meisten Fällen geholfen. Überhäupt war auch am Tage
viel mehr Ruhe auf der Abteilung wie bei den Pflegern, beim Essen wurden
die unfähigen Kranken liebevoll gefüttert; mancher, der bei den Pflegern
nicht gegessen hatte, aß bei den Schwestern, sie brachten es eben in den
schwierigsten Fällen fertig. Beim Baden habe ich oft gestaunt, wie Pa¬
tienten, sonst sehr störrisch, einfach von einer einzigen Schwester an der
Hand ins Bad geführt wurden, wo sonst vielleicht drei Pfleger Hand an-
legen mußten. Das Baden war für mich eine Lust geworden, weil die
Wanne immer wieder sauber geputzt wurde. Bei der Nachtwache hat
Schwester Dora mit bewunderungswürdiger Ruhe und Gelassenheit alle
Krakeeler zur Ruhe gebracht, und mit mir waren alle die lieben Schwestern
herzlich gut, und daher auch meine schnelle Genesung; ich fand den
Lebensmut wieder. Bei kleinen Anliegen fand man stets Entgegenkommen,
und gegenüber der Oberschwester und dem Arzt wurde niemals etwas ver¬
heimlicht oder entstellt beim Fragen nach den Patienten. Die Schwestern
und Oberschwestern haben wirkliches Gefühl und suchen jedem Patienten
sein Los zu erleichtern, da könnten die Herren Pfleger und Oberpfleger
noch sehr viel lernen. Wir haben auch viel Unterhaltung gehabt bei den
Schwestern, fröhliche Unterhaltung und manchmal einen Heidenspaß,
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 363
aber bei den Pflegern ist mir das Lachen vergangen. Wenn es in den
Garten ging, da gingen wir mit den Schwestern alle gern, denn sie unter¬
hielten sich mit uns, erzählten uns etwas und freuten sich mit uns; im
Winter haben wir uns mit Schneeballen geworfen. Die Pfleger sind dazu
zu faul und zu stolz. Wenn man diese feinen Herren sprechen hörte, so
waren es ihre Familienverhältnisse: wieviel Stollen sie backen, und was
sie sonst Gutes zu essen hätten, der eine hatte Gänsebraten, der andere
Karpfen, der dritte hatte zu den Feiertagen eine Sau geschlachtet, die
Frau des einen hatte einen neuen Hut, die des andern einen Pelz, der dritte
sprach den ganzen Tag von seinem Haus, aber für ihre Patienten da gab
es kein freundliches Wort. Die Nachteile möchte ich sehen, welche die
Schwesternpflege haben soll! Es können nur Kleinigkeiten sein, und diese
sind dann nicht vorhanden, wenn die Auswahl der Kranken die richtige ist.
Zu meiner Zeit waren einige Gefährliche da, und ich habe da manchmal
den Hausknecht markiert, aber alles ging ganz gut. Es gibt auch hand¬
feste Schwestern genug, um Ruhe zu halten in bösartigen Fällen. Wenn
man manchmal Sehnsucht nach daheim hatte, fand man bei den Schwestern
das beste Verständnis und viel Teilnahme. Wenn Patienten der ersten
und zweiten Klasse nicht wohl waren und nicht essen konnten, so kam
alles den andern Kranken zugute. Beim Aufstehen und Waschen ging
alles sehr gut, die Kranken ließen sich ruhig waschen, dagegen gingen
die Pfleger beim Waschen nur etwas freundlich mit den Patienten um,
wenn der Oberpfleger anwesend war, sonst ging es manchmal etwas derb zu.
Und auf Grund meiner Beobachtungen kann ich nur die Bitte und den
Wunsch aussprechen, daß noch recht viel Schwestern auf den Abteilungen
verteilt werden möchten, damit allen Patienten mehr Licht zukommt.“
Bei der Bewertung der von den beiden Kranken gemachten An¬
gaben muß man berücksichtigen, daß sie die schwerste Zeit ihrer
Krankheit unter Männerpflege durchgemacht haben, und daß sie daher
manche Maßregeln der Pfleger, welche sich bei ihnen selbst oder bei
ihren Mitkranken notwendig machten, infolge ihrer Krankheit nicht
richtig beurteilten, oder wenigstens zu scharf kritisierten. Das einmal
gefaßte Urteil haben sie, wie das oft bei Geisteskranken vorkommt,
beibehalten und nachträglich gar nicht gemildert, und so kommt es,
daß sie an dem Stand der Pfleger nicht viel zu loben haben. Das darf
nicht unwidersprochen bleiben. Denn im allgemeinen leisten die
Pfleger, namentlich unsere sächsischen Pfleger, welche sich diesen
Beruf als Lebensberuf erwählt haben, das, was man verlangen kann.
Daß sie von Natur aus nicht so zum Pflegeberuf veranlagt sind, wie das
Weib, ist nicht ihre Schuld und wird überall beobachtet. Sie gehen
eben meist nicht in ihrem Beruf vollständig auf, lassen sogar manchmal
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die Arbeit an sich herankommen, ferner sind sie vielfach ganz, unbe¬
wußt streng und barsch, und dadurch wirken sie verhältnismäßig
leicht aufreizend, aber sie tun ihre Pflicht und Schuldigkeit und er¬
füllen den Wortlaut der Dienstvorschriften. Bei einem Vergleich
mit dem weiblichen Personal schneiden sie allerdings weniger gut ab,
besonders deshalb, weil die Leistungen des letzteren sich im Durch¬
schnitt qualitativ und vielfach sogar quantitativ auszeichnen, und
gerade das wird von den Kranken empfunden und bringt den famili¬
ären Charakter in die Pflege hinein. Es ist eben den Schwestern
gegeben, treue Pflichterfüllung mit Herz und Gemüt zu paaren, und
dadurch stellen sie ein inniges Verhältnis her 7,wischen sich und ihren
Kranken.
übrigens haben auch die andern Kranken, welche vom Verf.
gefragt worden sind, sich in ganz ähnlichem Sinn wie die beiden er¬
wähnten Patienten geäußert, sie waren nur meist nicht imstande,
in gleicher Ausführlichkeit und Klarheit ihre Ansichten wiederzugeben.
Immerhin ist ein kurzes Urteil beachtenswert, welches ein TischleT-
geselle abgab, er sagte:
„Man glaubt gar nicht, wie sich die Männer leiten lassen
von den Frauen. Die Frauen ignorieren das Schimpfen, und dadurch
wird Krawall vermieden, jeder Sturm legt sich, es ist wie öl auf den Wogen.
Die Frauen haben auch viel mehr Menschenkenntnis, sie kennen jeden
einzelnen sehr genau, sie kennen die Eigentümlichkeiten eines jeden und
behandeln ihn entsprechend, sie sprechen mit den Kranken über ihre
häuslichen Angelegenheiten, fragen sie direkt danach, dadurch werden sie
bekannter mit ihnen und treten ihnen viel näher, ihr ganzes Wirken ist
ein familiäres. Dagegen ist bei den Pflegern alles schematisch, purer
Dienst und weiter nichts, Individuelles fällt ganz weg, aber bei den
Schwestern herrscht Individualismus. Es gibt natürlich unter den
Schwestern auch einige, welche nicht alle Vorzüge besitzen, aber die
meisten sind so.“
Sehr beachtlich ist der Umstand, daß alle Kranke erklärt haben,
sie fühlten sich so wohl und behaglich, daß sie nicht wieder zu den
Pflegern zurück möchten. Auch den Angehörigen der Kranken fällt
bei ihren Besuchen der Übergang in weibliche Pflege vorteilhaft auf,
und die Veränderung wird von ihnen lobend hervorgehoben.
Im allgemeinen läßt sich sagen, daß in den wiedergegebenen Ur¬
teilen der gefragten Kranken alle Vorzüge der weiblichen Pflege
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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 365
niedergelegt sind, und daß damit die von vielen Ärzten schon ge¬
machten Erfahrungen bestätigt und ergänzt werden. Es bleibt nur
übrig, zu erwähnen, daß auch in Hubertusburg finanzielle Vorteile
mit der ganzen Einrichtung verbunden gewesen sind, da die Besoldung
der weiblichen Kräfte geringer ist als diejenige der Pfleger.
Überblicken wir nun die Gesamtheit der bis jetzt vorliegenden
Mitteilungen über die Verwendbarkeit weiblichen Personals auf
Männerabteilungen, so kann man etwa folgendes sagen.
Ein abschließendes Urteil wird sich erst im Frieden bilden lassen,
aber es unterliegt keinem Zweifel, daß sich der durch den Krieg ge¬
schaffene Ausnahmezustand auf die normalen Verhältnisse zum Teil
übertragen wird. Aus zahlreichen Berichten ist zu entnehmen, daß
zunächst alle Anstalten, welche überhaupt Versuche angestellt haben,
mit den Leistungen des weiblichen Personals auf den Siechenabteilun¬
gen zufrieden gewesen sind, viele haben ferner erkannt, und zwar meist
zu ihrer großen Verwunderung und Überraschung, daß die neue Ein¬
richtung sich auch auf andern Abteilungen recht gut verwirklichen
läßt, und daß sie sogar durchschnittlich eine wesentliche Verbessemng
der Gesamtverhältnisse darstellt. Die erzielten Erfolge sind
sogar so ermutigend, daß schon eine ganze Reihe von
Anstalten erklärt haben, sie würden das neue System
auch im Frieden beibehalten. Der Krieg hat uns eben ge¬
zwungen, theoretische Bedenken beiseite zu lassen und mit Anschauun¬
gen aufzuräumen, welche von einer Generation der Psychiater auf
die andere sich vererbt hatten, und in den uns aufgezwungenen
neuen Verhältnissen haben wir das bestätigt gefunden, was an
einzelnen Stellen im Ausland schon längst erprobt war (Hol¬
land, England und Rußland), und was in der letzten Zeit
vor dem Kriege auch in Zschadraß sich bewährt hatte. Und
w r enn schließlich in Zukunft das weibliche Element im Irren¬
pflegedienst der Männerabteilungen eine große Rolle spielen sollte,
so wäre das erklärlich nach dem Grundsatz: „Das Bessere ist
der Feind des Guten.“ Man darf dann darin nicht etwa einen unbe¬
rechtigten Eingriff in einen männlichen Beruf erblicken, denn, wenn
man sich die Sachlage richtig überlegt, hat ja eigentlich infolge der
geschichtlichen Entwicklung der Irrenpflege der Mann in einem Beruf
Boden gefaßt, der seiner Natur nach ein weiblicher ist. Selbstvcr-
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Arnemann,
stündlich ist nun nicht gemeint, daß die männliche Pflege überhaupt
als entbehrlich angesehen werden soll, sie bleibt ein wertvoller una
unentbehrlich Faktor in der Behandlung männlicher Geisteskranker,
aber sie wird sicher in jeder Anstalt eingeschränkt werden können.
Wie groß die Zahl der in Frage kommenden Kranken sein wird,
läßt sich zurzeit noch nicht genau angeben, es hängt dies auch sehr
von der Art des gesamten Krankenmaterials in den einzelnen An¬
stalten ab. Legt man die Verhältnisse der Anstalt Zschadraß zugrunde,
so kommt man auf ca. 60% der männlichen Kranken; es ist aber hierbei
zu berücksichtigen, daß entsprechend den in Sachsen geltenden Auf-
nahmebestimmungen dort keine verbrecherischen, schwer unsozialen
und epileptischen Kranken untergebracht sind.
Als ungeeignet für die weibliche Pflege müssen zunächst verbreche¬
rische Elemente angesehen werden, dann sexuell erregte und ferner
gewalttätige, im übrigen kann aber der Versuch mit allen Arten von
Geisteskranken gemacht werden, vorausgesetzt, daß es gelingt, geeig¬
nete Pflegerinnen zu finden. Dann aber bietet entschieden die
weibliche Pflege die denkbar mildeste Form der Behand¬
lung, welche wir unseren männlichen Kranken innerhalb der
Anstalt angedeihen lassen können. Sie fühlen sich ja auch nach ihren
eigenen Angaben wohler und behaglicher als unter den Pflegern, und
sie empfinden es zum Teil selbst, daß die ganz andersartige Verpflegung
sie belebt, befriedigt und fördert.
Wie sich der Dienst bei besonderen Verrichtungen gestaltet, z. B.
der Wachdienst, der Dienst beim Baden und bei den verschiedenen
Arbeitsabteilungen, wird erst noch sorgfältiger Prüfung überlassen
werden müssen, ebenso die Frage, ob es empfehlenswert ist, auf einigen
Abteilungen neben den Pflegerinnen noch männliche Kräfte zum Schutz
und zur Hilfe zu belassen. Wahrscheinlich werden diese Fragen über¬
haupt nicht verallgemeinert werden können, sondern lokal verschieden
behandelt werden.
Sollten sich im Anfang unliebsame Vorkommnisse ereignen, sei
es von seiten der Kranken, sei es von seiten des Personals, so darf
man sich nicht abschrecken lassen, sie sind bei zunehmender Erfahrung
zu vermeiden, und sicher ist, daß die kleinen Nachteile weit überragt
werden von den Vorzügen. Wichtig ist, daß der Übergang in die neuen
Verhältnisse langsam und vorsichtig vorgenommen wird, und daß
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Weibliche Pflege auf Männerabteilongen der Irrenanstalten. 367
möglichst ältere und durchaus erfahrene Pflegerinnen ausgewählt
werden.
Zunächst kommt es vor, daß nicht alle Schwestern ohne weiteres
die richtige Stellung den Männern gegenüber finden, jedoch hebt sich
die Schwierigkeit sehr bald im Laufe der Zeit. Sexuelle Angriffe sind
bei vorsichtiger Auswahl der Kranken meist zu vermeiden, die Beob¬
achtung hat übrigens ganz allgemein gelehrt, daß sie viel seltener Vor¬
kommen, als man von vornherein befürchtet hatte. Erregungen anderer
Art treten natürlich auf, aber die Praxis hat ergeben, daß sie unter
weiblicher Pflege viel seltener und weniger intensiv auftreten, und
daß andrerseits die Schwestern auch mit gelegentlich vorkommenden
Erregungszuständen allein oder mit Unterstützung hilfsbereiter
Kranker fertig werden. Unglücksfälle können sich allerdings ereignen,
sie bleiben jedoch bei Männerpflege ebensowenig aus und dürfen nicht
dem System zur Last gelegt werden.
Bei der Frage nun, ob man sich für die weibliche Pflege entscheiden
soll, kann nach meiner Ansicht auf viele Gesichtspunkte verwiesen
werden, welche für die Einführung der Familienpflege als maßgebend
bezeichnet worden sind. Alt hat ja in seinen bekannten Veröffent¬
lichungen darüber eingehend berichtet, und Verf. hat in einem Referat
über Familienpflege x ) das Wichtigste darüber zusammengefaßt. Für
die meisten Geisteskranken kommt ja leider eine recht lange Abwesen¬
heit vom eigenen Heim in Frage, und gerade das Femsein von den
Ihrigen drückt viele Kranke außerordentlich. Als drückend erscheint
namentlich die Monotonie des Anstaltslebens, der Mangel an genügen¬
der Anregung, lästig wirkt auf die Dauer die strenge Durchführung
der Anstaltsordnung, und das Zusammenleben mit einer großen Zahl
von Fremden läßt die Behaglichkeit und Gemütlichkeit des Familien¬
lebens vermissen. Wir Irrenärzte sind daher ganz besonders verpflichtet,
den uns anvertrauten Kranken ihre Leidenszeit möglichst wenig fühl¬
bar zu machen und Mittel und Wege zu suchen, ihnen den Aufenthalt
in der Anstalt so erträglich wie nur möglich zu gestalten, und da ist
die Erkenntnis wichtig, daß die Einführung der weiblichen Pflege auf
Männerabteilungen dem ganzen Getriebe einen mehr familiären
Charakter gibt. Es unterliegt hierbei keinem Zweifel, daß dieser
*) Sachs. Arch. für Rechtspflege 1913, Nr. 14/15.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 4. 26
□ igitizedfcy
Go gte
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368 Arnemann, Weibliche Pflege anf Männerabteilangen d. Irrenanstalten.
Erfolg am besten erzielt wird, wenn die Zahl der Schwestern größer
ist als diejenige der mitpflegenden Wärterinnen. *
Wie bekannt ist, bedurfte seinerzeit die Einführung und weitere
Ausbreitung der Familienpflege in Deutschland auch eines besonderen
Anlasses. Es braucht ja nur daran erinnert zu werden, daß im Jahre
1893 das Gesetz über die außerordentliche Armenlast in Preußen in
Kraft trat, welches zu einem ungeheuren Bedarf an Anstaltsplätzen
geführt hat. Die Behörden interessierten sich daraufhin in ganz be¬
sonderem Maße für die Familienpflege, und der Ausbreitung der letzte¬
ren ist es zu danken, daß zahlreiche kostspielige Neubauten vermieden
wurden. Ganz ähnlich verdankt plötzlich die weibliche Pflege auf
Männerabteilungen einem besonderen Anlaß, einer Notlage, das ihr
entgegengebrachte Interesse, und sie wird hoffentlich, ebenso wie die
Familienpflege, allmählich zu einer dauernden Einrichtung werden.
Diese Neuerung im inneren Betrieb der Irrenanstalten kommt ja
wieder andern Gruppen von Geisteskranken zugute als die Familien¬
pflege, aber die zu erwartenden Wirkungen auf die Kranken sind ganz
analoge. Denn sehr viele chronisch kranke Männer, welche nicht
für die freieste Verpflegform, die Familienpflege, in Frage kommen,
eignen sich für weibliche Pflege innerhalb der Anstalt, und unter dieser
fühlen sie sich nicht bloß im allgemeinen wohler, sondern diese bietet
ihnen den besten Ersatz für ihr Familienleben, das sie schwer
vermissen; andrerseits ist zu erwarten, daß für eine ganze Reihe von
heilbaren geisteskranken Männern, deren Leiden gewissermaßen auf
einem toten Punkt angelangt ist, das neue System geradezu als ein
wichtiger Heilfaktor sich erweist. Denn ganz ähnlich, wie über¬
raschende Besserungen und Heilungen erfahrunggemäß bei Geistes¬
kranken eintreten, wenn sie in eine andere Anstalt versetzt werden,
oder wenn sie bloß in eine ganz andere Umgebung derselben Anstalt
kommen, so werden sich die unter weiblicher Pflege stehenden Männer-
abtoilungen nicht selten heilbringend erweisen und werden somit ein
wichtiges Instrument darstellen in der Hand des Irrenarztes.
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101. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychia¬
trie in Breslau am 9. Dezember 1916.
Anwesend die Herren: Alter-Krietern, Gertrud Än/-Breslau, Bumke-
Breslau, Buttenberg- Freiburg, Cyran-Breslau, Dinter- Leubus, Dreserc-Brieg,
Ensau, Foerster- Breslau, Freund-Breslau, GoMa-Breslau, Z/aAn-Breslau,
//auc/c-Breslau, //einze-Breslau, //onigmann-Breslau, Hay n-Beuthen, Jo¬
seph, v. Funou's/ri-Rybnik, Fufner-Breslau, Lange, Michchowiiz, Moskie-
(vicz-Breslau, ilfann-Breslau, Pulvermacher, Petersen-Brieg, Peterssen-Bor-
etef-Plagwitz, .SaeAs-Breslau, Schubert- Lüben, .SWiütze-Tost, iStertz-Breslau,
»Sprenger-Obernigk, Taunel, Thürwächter-Rybmk, Ziertmann-BnmlsM,
Der Schriftführer, Herr Clemens Neisser, heißt die Mitglieder und
Gäste willkommen und gedenkt des verstorbenen Vorsitzenden Professor
Alois Alzheimer und des verstorbenen Mitgliedes Paul Przewodnik-hxtben.
Meine Herren! Es liegt mir heute ob, die Sitzung zu eröffnen und Sie
zur erstmaligen Tagung während des Krieges zu begrüßen. Seitdem wir
zum letzten Male zusammenkamen, hat unser Verein schwere Verluste
erlitten. In erster Reihe steht der herbe Schlag, der uns betroffen hat
durch den Tod unseres Vorsitzenden, des Herrn Professor Alzheimer,
welcher vor fast genau einem Jahre am 19. Dezember 1915 dem Leiden
erlegen ist, welches ihn überfiel, als er hierher nach Breslau reiste, hierher
an das Ziel neuen selbständigen Wirkens und Lehrens von dieser hervor¬
ragenden Stelle aus, nachdem er durch seine Forschertätigkeit sich längst
seinen Platz in der wissenschaftlichen Welt erobert hatte. Meine Herren!
Die Nachrufe in der gesamten medizinischen Presse geben ein Bild von
der überragenden Bedeutung Alzheimers, wie namentlich auch von der
warmen Verehrung, welche seiner Persönlichkeit als Forscher und Mensch
gezollt worden ist. Ich vermag Ihnen Neues nicht zu sagen, nicht Besseres,
um nur einige zu nennen als Lewandowski, der so feine Worte gefunden hat,
als unser Kollege Stertz, der das Glück hatte, dem Verstorbenen während
seines hiesigen Wirkens so besonders nahe zu kommen, und als Spiel¬
meyer, der Alzheimers Lebensarbeit mit der Pietät des Schülers so meister¬
haft zur Darstellung gebracht hat. Für den engeren Kreis unseres Vereins,
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
welchem er nur an zwei Sitzungen angewohnt hat, konnte Alzheimers
Arbeit in unmittelbarer Wirkung naturgemäß nicht dasselbe bedeuten
wie diejenige seiner Vorgänger, insbesondere des unvergeßlichen Wernicke
und von Bonhoeffer, an deren wissenschaftlichem Streben und Fortschreiten
wir stets in erster Reihe und fortlaufend beteiligt wurden. Immerhin hat
er alsbald in der Sitzung vom 7. Dezember 1912, in welcher er dem Verein
beitrat, in seinem Vortrage „Über noch nicht genauer bekannte paralyse-
ähnliche Krankheitsbilder“ uns in sein eigenstes Arbeitsgebiet geführt,
und er hat durch seine Vorschläge bezüglich der antiluischen Paralyse¬
behandlung ein gemeinsames Vorgehen der Klinik und der Provinzial¬
anstalten von dieser Stelle aus angeregt, so daß wir die Hoffnung haben
durften auf einen engeren wissenschaftlichen Zusammenschluß und auf
Förderung unserer eigenen Arbeit.
Daß Alzheimer als anatomisch-histologischer Gehirnforscher über¬
ragend war und kaum ersetzbar, das wird, auch in den Nachrufen und
Gedenkreden, von allen Seiten betont. Seiner besonderen Bedeutung
aber, glaube ich, kann man nur gerecht werden, wenn man sich gegen¬
wärtig hält, daß von Alzheimer die klinischen Fragen mit mindestens
dem gleichen Interesse umfaßt wurden, und daß er diese auch bei seinen
anatomischen Arbeiten stets im Auge behielt, ohne doch je die Selbständig¬
keit beider Forschungsgebiete außer acht zu lassen und die Leistungs¬
grenzen in bezug auf die Verknüpfung der Ergebnisse zu verkennen.
Gerade diese Tatsache scheint mir von ganz besonderer Bedeutung für die
Auffassung von Alzheimers wissenschaftlicher Entwicklungsrichtung und
seinen Forschererfolgen zu sein. Sie erklärt, warum Alzheimer zu Kraepe -
lins Schule — auch innerlich — in ein näheres Verhältnis kam als zu
Wernicke, trotz dessen mehr anatomischer Denkweise.
Man muß sich die Entwicklung der deutschen klinischen Psychiatrie
seit derZeit vergegenwärtigen, als der 24jährige Alzheimer zu dem Weslphal-
schüler Sioli nach Frankfurt als Assistent kam, wo Nissls grundlegende
Arbeiten reiften, während gleichzeitig im Senckenbergschen Institut Karl
Weigert und Edinger Jünger aus aller Welt zu anatomischen Studien am
Nervensystem anleiteten. Die klinische Psychiatrie dagegen stand damals
nicht auf der Höhe. Die unter Westphals Einfluß die Diagnostik beherr¬
schende Lehre von der Verrücktheit, jener Kollektivgruppe, blieb ganz im
Symptomatischen stecken; Westphals Abtrennung der Zwangsvorstellungen
von den Wahnideen bereicherten mehr die Kenntnis der Neurosen als der
Psychosen. Eine gewaltige Förderung brachte er zwar für die Paralyse¬
lehre, aber nicht von der psychiatrischen Seite, sondern durch die neuro¬
logisch-anatomische Bearbeitung der spinalen Symptome. Und von be¬
sonderem Einfluß für die ganze Arbeitsrichtung wurde es, da.üWestphal das
führende literarische Organ, sein Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank¬
heiten, psychiatrisch-klinischen Arbeiten kaum öffnete oder sie doch hinter
den neurologisch-anatomischen Untersuchungen offensichtlich zurücktreten
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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ließ. Je weniger von Psychischem die Rede war und je mehr vom nervösen
Substrat, desto wissenschaftlicher erschien die Betrachtungsweise. Es
kam dann Meynerts genialer Versuch der Begründung der Psychiatrie auf
die anatomisch-physiologischen Vorderhirnleistungen, jener Versuch von
wunderbarster künstlerischer Plastizität, aber aufgerichtet zum Teil auf
unsicher hypothetischem Unterbau und darum nicht geeignet, als Aus¬
gangspunkt für eine ruhig fortschreitende klinische Weiterarbeit zu dienen.
Eine wirklich klinische Betrachtungsweise, wie sie in andern medizinischen
Disziplinen längst eingebürgert war, eine Betrachtungsweise, welche nicht
nur die symptomatischen Zustandsbilder, sondern den ganzen Krankheit¬
ablauf ins Auge faßt und die einzelnen Symptome vom allgemein-patho¬
logischen Standpunkt zu werten trachtet, mußte für die Psychiatrie so gut
wie neu begründet werden. Von den Anfängen hierzu ist in unseren Vereins¬
sitzungen manches zum Vortrag gekommen. Es gelang von diesem Stand¬
punkt aus, die Krankheitform der Katatonie und Kahlbaums klinische
Gesichtspunkte zur Anerkennung zu bringen. Klinische DifTerential-
betrachtungen über das Symptom der Verbigeration, der Konfabulation,
des Residualwahns, der Eigenbeziehung, der Perseveration u. a. schlossen
sich an; es kamen vor allem die klassischen Arbeiten der FPerntc/reschen
Schule, ausgehend von den gehirnpathologischen Grenzgebieten, den im
weiteren Sinne aphasischen und asymbolischen Störungen, es kam Lis-
sauers atypische Paralyse, Bonhöffers Alkoholpsychosen, Liepmanns
Apraxie und endlich, mit Spannung erwartet, die neue systematische
Darstellung der psychischen Krankheitserscheinungen in Wernickes Grund¬
riß. War durch ihn die Analyse der Zustandsbilder und die Beschreibung
und Differenzierung der Symptome unvergleichlich gefördert worden, so
hatte während dessen Kraepelin mit seinen Schülern durch intensivste
Durcharbeitung des gesamten Krankenmaterials die großen klinischen
Gruppen der Psychosen nach ihrem Ablauf, ihrer Prognose, ihren End¬
ausgängen neu begründet, und jetzt erst war sowohl für methodische
klinische Kleinarbeit als auch für die Inangriffnahme der Frage nach
den pathologisch-anatomischen Grundlagen der einzelnen psychi¬
schen Krankheiten die Bahn frei gemacht.
So fand nun Alzheimer den Boden bereitet und konnte mit dem ganzen
Rüstzeug verfeinerter Technik, welche er wie wenige beherrschte, und an
deren Entwicklung er jahrelang selbsttätig Anteil genommen hatte, frucht¬
bare Arbeit leisten und mit' der ihm eigenen, nie abirrenden Klarheit der
Gesichtspunkte sein Gebiet abstecken. Dieser Geradlinigkeit und Einfach¬
heit seiner Fragestellungen, im Verein mit der Sorgfalt und Zuverlässig¬
keit seiner Arbeitsweise war es zu danken, daß er, soweit ich unterrichtet
bin, niemals etwas zu widerrufen oder zurückzunehmen hatte, was von
ihm als wissenschaftliches Ergebnis bekanntgegeben war. In selten glück¬
licher Weise mischte sich bei ihm optimistische Zuversicht bezüglich der
Erreichbarkeit der in Angriff genommenen wissenschaftlichen Ziele mit
vorsichtiger Skepsis bezüglich aller Einzelergebnisse. Und zu diesen
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Eigenschaften, die seinen Forscherruhm begründeten, gesellte sich eine
nicht gewöhnliche Beherrschung des Wortes und eine Fähigkeit zu abge¬
rundeter didaktischer Darstellung, welche seine Vorträge zu einem Genuß
machten und seinen Diskussionsbemerkungen stets eine Wirkung sicherten.
Und wenn es mir gestattet ist, noch Persönliches anzufügen, so darf
ich mit Dankbarkeit der freundschaftlichen Beziehungen gedenken, welche
durch mehr als 20 Jahre mich mit Alzheimer verbunden haben, und ich
gedenke mit besonderer Freude des Besuchs, den er um die Mitte der
90er Jahre mir in Leubus machte. Aber die Hoffnungen, welche ich auf
die nähere persönliche Berührung jetzt gesetzt hatte, haben sich nicht
erfüllt. Der Druck der Kriegsarbeit lastete schwer auf Alzheimer, und
die Krankheit hatte schon einen Schatten auf die Persönlichkeit geworfen
und eine dieser kernigen Frohnatur sonst fremde Reizbarkeit gezeitigt.
Aber wer nicht vergleichen konnte, wer ihn nicht früher gekannt, ge¬
riet auch jetzt noch ganz in den Bann dieser begabten, starken und
liebenswürdigen Persönlichkeit, und ich bin sicher, daß Sie, meine Herren,
daß wir alle dem teuren Entschlafenen ein verehrungsvolles, treues Ge¬
denken bewahren werden!
Noch einen zweiten betrübenden Verlust hat der Verein erlitten
durch den Tod des Oberarzt Dr. Paul Przewodnik von der Lübener Anstalt,
welcher am 18. Juli 1916 in Ausübung seines Berufs als Bataillonsarzt zu¬
sammen mit dem Bataillonskommandeur und Adjutanten bei einem
englischen Angriff in Flers bei Bapaume gefallen ist, im Alter von 37 Jahren.
Meine Herren, der Kollege Przewodnik hat im Felde als Arzt sich ebenso
wie in seiner ganzen Anstaltstätigkeit mit hervorragender Treue betätigt.
Im Jahre 1902 hatte ich die Freude, ihn als meinen Assistenten in Lublinitz
in die Psychiatrie einzuführen, und ich kann versichern, daß er in seinem
Interesse und seinem Verständnis auch für feinere Probleme unserer
Wissenschaft sich schon damals auszeichnete, und daß er sich die allge¬
meinste Schätzung und Zuneigung erworben hat, welche ihm über das
Grab hinaus gewahrt bleiben soll!
Ich bitte Sie, sich zum Gedächtnis unserer verschiedenen Mitglieder
von den Plätzen zu erheben.
Sodann habe ich noch die Freude mitzuteilen, daß Herr Prof. Bumke
zum Eintritt in unseren Verein sich gemeldet hat. Indem ich Herrn Prof.
Bumke hier als Mitglied begrüße, habe ich zunächst schon den Dank auszu¬
sprechen, daß er für unsere Tagung nach alter Tradition die Klinik zur
Verfügung gestellt hat. Wir sind gewöhnt, die Klinik als den Mittelpunkt
und Brennpunkt unserer wissenschaftlichen Bestrebungen zu betrachten,
und ich hoffe, daß Herr Bumke sich wie seine Vorgänger als uns ganz zu¬
gehörig betrachten, daß er es sich in unserem Kreise gefallen lassen werde,
und daß er sich überzeugt halten möge, daß wir stets dankbar sein werden,
wenn wir von der Klinik lernen dürfen.
Sodann werden auf den Vorschlag des Herrn Prof. Mann Herr
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
373
Clemens Neisser zum Vorsitzenden und Herr Bumke zum Schriftführer
des Vereins gewählt. Es folgen die Vorträge.
Vor der Tagesordnung demonstriert
Herr C. S. Freund den Befund einer tuberösen Sklerose an dem
Gehirn eines vor 2 Tagen verstorbenen 35jährigen, von Jugend an ver¬
blödeten, mit epileptischen Anfällen behafteten Idioten.
Die Diagnose war zu Lebzeiten l ) gestellt worden auf Grund von
Hautveränderungen: (rötliche Hautwärzchen in den Nasen¬
lippenfalten und in der das Kinn von der Unterlippe abgrenzenden Falte,
ein Keloid rechterseits an der Stirn, eine Alopecia areata am Hinter¬
kopf, kleine gestielte Hautfibrome beetartig gruppiert an der Mitte
und an den Seitenrändern der Nacken-Rückengrenze, ein Naevus seba-
ceus in einem handtellergroßen Bezirk der unteren Lendengegend).
Bei der Obduktion sah man in den Gyri beider Hemisphären zahlreiche
tuberöse Herde. Es finden sich beide schon von Pelizzi unterschiedene
Herdformen, nämlich solche, welche nur eine Verdichtung bestimmter
Partien normal angelegter Gyri darstellen, und solche, welche mit scharfer
Begrenzung aus dem Windungstypus herausfallen. Die letzteren sind stets
von mehr oder weniger tiefen Furchen umsäumt und zeigen auf ihrem
Kulminationsgebiet kraterförmige Einziehungen. Die Herde heben sich
durch ihren weißlichen Glanz und ihre derbe Konsistenz ab (schon nach
zweitägigem Aufenthalt in Formollösung sind diese Kennzeichen nicht
mehr deutlich).
Bei der Sektion der Brust- und Bauchorgane fanden sich an beiden
Nieren zahlreiche geschwulstartige Bildungen, die sich bei der mikro¬
skopischen Untersuchung im Kgl. Pathol. Institut als Fibrome erwiesen.
Das Gehirn wird zur mikroskopischen Bearbeitung durch Herrn Prof.
M. Bielschotvsky an das Neurobiologische Institut nach Berlin geschickt
werden. (Nachtrag: Bei der Freilegung der Ventrikel wurden auf der dem
Seitenventrikel zugewandten Fläche des Nucleus caudatus mehrere
hanfkorn- bis erbsengroße harte Geschwülstchen aufgefunden.)
2. Herr Bumke. Zur Paranoiafrage.
Die Frage der paranoischen Erkrankungen ist für die Anhänger
Kraepelins durch die Aufstellung der Paraphrenien in ein neues Stadium
getreten. Diese Aufstellung war nötig, nachdem sich herausgestellt hatte,
daß das Gros der paranoischen Erkrankungen mit der Dementia praecox
nichts zu tun hat, und daß es doch von dem Querulantenwahn scharf ge¬
trennt werden muß. So deckt der Name Paraphrenien das Problem der
nächsten Zukunft; er umfaßt die paranoischen Erkrankungen, mit denen
wir systematisch bis heute noch nichts anzufangen wissen. Darin liegt in¬
sofern ein großer Fortschritt, als auf diese Weise nach zwei Seiten hin von
*) Vgl. Sitzungsbericht der Breslauer Psych.-Neurol. Vereinigung vom
25. 5. 1914, Punkt 4 der Tagesordnung, Berl. klin. Wschr. 1914, Nr. 36.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
den unklaren (paraphrenischen) die geklärten Fälle abgetrennt worden
sind, einmal die pathologischen Entwicklungen im Sinne des Querulanten¬
wahnsinns und zweitens die Verblödungsprozesse, die nur symptomato-
logisch von paranoiden Erscheinungen begleitet werden.
Im einzelnen ist der Vortragende beim Studium des verhältnismäßig
großen Rostocker Materials zu Anschauungen gekommen, die von denen
Kraepelins etwas abweichen. Ihm standen 76 Fälle mit paranoidem
Beginn zur Verfügung, von denen 32 oder 42% der Schizophrenie zuge¬
rechnet, 3 oder 3,9% als Paranoia bzw. Querulantenwahnsinn diagnosti¬
ziert, 24 oder 31% als Paraphrenien, 11 oder 14,5% als Dementia phan-
tastica aufgefaßt wurden. Der Rest von 6 Krankheitsfällen verteilt sich
auf senile, arteriosklerotische, alkoholistische und Haftpsychosen. Aus
dieser Zusammenstellung gehen die beiden wichtigsten Unterschiede, die
Kraepelins Darstellung gegenüber bestehen, schon hervor. Erstens rechnet
Verf. die von Kraepelin als Paraphrenia phantastica beschriebenen Fälle
nicht den Paraphrenien zu und zieht deshalb den Namen Dementia phan¬
tastica vor. B. hat sich an den alten Rostocker Fällen überzeugt, daß sich
diese Kranken zwar durch das Fehlen der spezifischen Assoziationsstörung
und der körperlichen Symptome von dem Verhalten der Schizophrenie
scharf unterscheiden, daß ihr Leiden aber als ein echter Verblödungsprozeß
der gesetzmäßig mit dem Zerfall der Persönlichkeit endet, doch ganz anders,
beurteilt werden muß als die eigentlichen Paraphrenien, bei denen es zu
einer Verblödung in diesem Sinne nicht kommt. Daß die Unterscheidung
der Dementia phantastica von manchen paranoiden Verlaufsformen der De¬
mentia praecox im Einzelfall schwer ist braucht nicht betont zu werden.
Bei der Betrachtung eines größeren Materials von zum Teil abgelaufenen
Fällen tritt der grundsätzliche Unterschied beider Krankheiten klar zutage.
Zweitens hält B. die von Kraepelin neuerdings versuchte Trennung
des Querulantenwahnsinns und der chronischen Paranoia für nicht haltbar.
Nach der Meinung des Vortragenden ist die Abgrenzung einer eigentlichen
Paranoia von den Paraphrenien überhaupt nur dann möglich, wenn zur
Paranoia nur Fälle gezählt werden, bei denen eine von Hause aus psycho¬
pathisch veranlagte Persönlichkeit unter den Reizen des Lebens in psycho¬
logisch verständlicher Weise paranoisch erkrankt. Diejenigen Fälle aus
Kraepelins Darstellung, die dieser Definition nicht entsprechen, lassen
sich seiner Meinung nach von den Paraphrenien nicht trennen. Insofern
ist das einzige Unterscheidungsprinzip, das wir heute überhaupt anwenden
können, das, auf das Gaupp, Wilmanns, Bonhoeffer, Sieffert und andere
hingewiesen haben, eben das zwischen dem Krankheitsprozeß und der
pathologischen Entwicklung. Auf dem Boden dieser Anschauung erscheint
jedoch der Unterschied zwischen Paranoia und Querulantenwahn als ein
rein zufälliger. Ob der Anlaß der Wahnbildung von einem gerichtlichen
oder von irgendeinem Konflikt im Leben sonst ausgeht, macht für die
systematische Stellung der Psychose natürlich nichts aus. In allen
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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hierher gehörigen Fällen beschränkt sich die Entwicklung pathologischer
Vorstellungen auf einen verhältnismäßig engen Kreis, und auch die eigent¬
lich krankhaften Gedanken dieses Komplexes bleiben immer psycho¬
logisch verständlich und betreffen an sich mögliche Vorgänge.
Stets läßt sich ihre affektive Entstehung nachweisen, und in den meisten
Fällen bestehen sehr lange bloße überwertige Ideen, ehe eine einzige Wahn¬
idee wirklich endgültig fixiert wird. Damit hängt zusammen einmal, daß
abortive Fälle, und ferner, daß Mischungen und Übergänge der Krankheit
zu andern funktionellen Krankheiten nicht selten beobachtet Werden.
Übergänge bestehen nicht bloß zur chronischen Manie, sondern auch zur
Hysterie und insbesondere zu manchen Unfallformen, zu den Pseudo-
logisten, zu den wahnhaften Einbildungen der Degenerierten, wie überhaupt
zu allen möglichen Formen der Psychopathie (Erfinder, Entdecker, Welt¬
verbesserer, Propheten, Verschrobene).
Eigentliche Sinnestäuschungen, die über lebhafte Phantasievorstel¬
lungen hinausgehen, kommen nach den Beobachtungen des Vortragenden
bei echten Paranoikern nicht vor.
Was die Paraphrenien selbst angeht, so handelt es sich, wie gesagt,
um eine vorläufige Aufstellung, die so sicherlich nicht bestehen bleiben
wird. Der Kreis dieser nach rein symptomatologischen Gesichtspunkten
zusammengefügten Krankheitsfälle wird auch heute schon zweifellos durch
andere Kreise nicht bloß berührt, sondern geschnitten. Es sind zum Teil
dieselben Fälle, die bald als Paraphrenien, bald als syphilitisch-paranoide
Erkrankungen, bald als Involutionsparanoia (Kleist) oder als Melancholie
im alten Kraepelinschen Sinne oder endlich als arteriosklerotische Psychose
(Seelert) beschrieben werden.
Eine ausführliche Darstellung der Frage erfolgt in einer nach dem
Kriege erscheinenden Diagnostik der Geisteskrankheiten.
Herr Neisser erkennt den Fortschritt in der von dem Vortragenden
gegebenen klinischen Darstellung der einschlägigen Krankheitsgruppen an.
Warum freilich der von Kahlbaum seinerzeit schon anders gebrauchte Ter¬
minus: Paraphrenie von Kraepelin in einem neuen Sinn eingeführt werden
mußte, ist nicht recht einleuchtend. Bezüglich des Querulantenwahnsinns
hat. N. die Unterschiede gegenüber den damals als Paranoia bezeichneten
Krankheitstypen schon 1893 hervorgehoben x ). Die Betonung der Tat¬
sache, daß aus der Individualität heraus das Verständnis für die Krank-
, heitssymptome gewonnen werden könne, sollte nur mit Vorsicht als
klinisches Charakteristikum verwertet werden. N. erinnert daran, daß
selbst einem Fachmanne von der Bedeutung Hitzigs in dieser Hinsicht
Fehlurteile bedenklicher Art unterlaufen sind.
*) „Psychische Elementarstörung als Grund der Unzurechnungs¬
fähigkeit.“ Motiviertes Gutachten zugleich als kritischer Beitrag zu
Wemickes Lehre von den fixen Ideen. Arch. f. Psych. Bd. 26, H. 2.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Herr Sachs schließt sich dem Vortr. unter Hinweis auf manche Grenz¬
fälle an.
Herr v. Kunowski erinnert an die historische Entwicklung des Para¬
noiabegriffes, dessen Hauptinhalt früher gerade die heute als Paraphrenie
bezeichneten Fälle gebildet hätten.
Herr Bumke : Schlußwort.
Herr v. Kunowski: Zur Theorie der Farbenempfindungen.
(Der Vortrag wird an anderer Stelle erscheinen.)
G. Stertz : Zur Pathogenese hysteriformer und hysteri¬
scher Symptome.
Die rein psychologischen Deutungsversuche der hysterischen Sym¬
ptome, soweit sie insbesondere durch Ausstrahlungen in das somatische
Gebiet gekennzeichnet sind, ergeben im allgemeinen keine ganz befriedi¬
gende Lösung des Problems. Auch aus dem sogenannten hysterischen
Charakter läßt sich, zumal er bei großen Gruppen hysterisch Reagierender
fehlt, die Genese der Symptome nicht ohne weiteres ableiten. Suggesti-
bilität und Affektlabilität erweisen sich bei näherer Betrachtung nicht als
Eigenschaften von ausschlaggebender Bedeutung dabei. Sie können sehr
ausgeprägt sein, ohne daß es zu hysterischen Reaktionen kommt, und um¬
gekehrt dort fehlen, wo wir die letzteren antreffen. Der Krankheitswunsch
als ein die Symptome fixierendes Moment ist außerordentlich bedeutungs¬
voll, aber doch nicht für alle Fälle zutreffend. Als Erklärung für die spezielle
Genese eines Symptomes kommt er nicht in Betracht. Aussichtvoller sind Ver¬
suche, sich dem Problem von der pathophysiologischen Seite zu nähern.
Die Analogie der normalen Affektausstrahlungen zu den hysterischen
Reaktionen weist uns für einen Teil der Fälle den Weg. Die primäre
Wirkung heftiger Gemütserschütterungen ist als physisch, nicht als
psychisch anzusehen, wenn auch die materielle Änderung des Substrates
unerkennbar ist. Das Hineinspielen eines physischen Faktors in den
psychogenen Mechanismus wäre auch angesichts des häufigen Vorkommens
hysteriformer Erscheinungen bei organischen Erkrankungen zu erwarten,
zumal der Wunschfaktor bei diesen keine wesentliche Rolle spielen dürfte.
Es würde das den Versuch rechtfertigen, von dieser Seite dem Problem
näherzukommen. Die genauere Betrachtung hysteriformer Erscheinungen
organisch Kranker läßt erkennen, daß ihre Kenntnis der Vertiefung bedarf.
Nach einem Hinweis auf die schwankenden Grenzen von organisch —
funktionell — psychogen (in weiterem Sinne) wird an einigen Beispielen
die Wirkung psychischer Vorgänge (z. B. Aufmerksamkeit, Affekte) auf
funktionell geschädigte Systeme organisch Kranker erörtert. Die innigen
Wechselwirkungen zwischen physisch und psychisch sind die Quelle zahl¬
reicher diagnostischer Irrtümer in solchen Fällen.
Vortragender gibt eine Übersicht über besonders prägnante Fälle
seiner Erfahrung, die zur Fehldiagnose „Hysterie“ Veranlassung gegeben
hatten.
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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Es liegt nach seiner Ansicht etwas Gesetzmäßiges darin, daß gewisse
diffuse, nicht oder lange Zeit nicht zu deutlichen hirnpathologischen Aus¬
fällen führende Krankheitsprozesse hysteriforme Symptome mit Vorliebe
Hervorrufen, sowohl was die Störungen auf somatischem Gebiet, als auch
was die allgemein psychischen Veränderungen anlangt.
Hinweis auf die Pseudosklerose und auf eine Gruppe von Fällen
mit sehr eigenartigen aphasischen usw. Ausfällen, die im jüngeren Alter
im Geleit von Ohnmachtanfällen entstanden, mit Demenz verknüpft,
ätiologisch sich nicht klären ließen, vielleicht auch diffusen, noch nicht
näher bekannten Prozessen, ähnlich der Pseudosklerose, ihre Entstehung
verdanken.
Interessante Beobachtungen hysterischer Bilder, ganz besonders im
Sinne der Astasie-Abasie, betrafen einige Meningitisfälle, ferner leichtere
zerebrale Kinderlähmungen. Gestreift werden in diesem Zusammenhang auch
andere organische Erkrankungen des Zentralnervensystems. Die nähere
Analyse ergibt, daß es sich bei diesen hysteriformen Erscheinungen um
genetisch verschiedenartige Zustände handeln kann:
1. Funktionelles Vor- bzw. Rückbildungsstadium organischer Er¬
krankungen. Gewisse Systeme erweisen sich als funktionsfähig bei günsti¬
ger, versagen aber bei ungünstiger psychischer Konstellation.
2. Funktionelle Überlagerung organischer Herde (Diaschisis). Sie
sind im Wesen unabhängig von der Psyche, können aber auch psychisch
bedeutend beeinflußt werden.
3. Fixierung ursprünglich organischer Ausfälle bei Fortfall der or¬
ganischen Schädigung. Sie kann psychogen erfolgen, es ist aber das Walten
von Vorstellungen nicht die einzige Erklärungsmöglichkeit.
4. Eigentlich psychogene Überlagerung: dabei ist nicht wie bei 2.
der Herd, sondern das Symptom überlagert, ob der Sitz des Herdes zentral
oder peripher ist, hat dabei keine Bedeutung.
5. Anderweitige psychogene Symptome bei organisch Kranken.
Die Unterscheidung der einzelnen Formen ist nicht immer leicht.
Viele als „hysterisch“ gedeutete Symptome organisch Kranker verdanken
den andern Mechanismen ihre Entstehung. Wenn man das in Abrechnung
bringt, wird sich wahrscheinlich nicht feststellen lassen, daß die organischen
Hirnkranken in höherem Grade zum Auftreten hysterischer Symptome
disponiert sind als andere organische Erkrankungen.
Die Ursache von psychogenen Begleitsymptomen in engerem Sinne
bei den organischen Erkrankungen des Gehirns ist nicht nachweislich in
der durch die letzteren bedingten psychischen Veränderungen zu suchen.
Eine solche ist oft gar nicht festzustellen, wenn nicht eine durch die Krank¬
heit im allgemeinen bedingte Abnahme der Widerstandsfähigkeit und
Energie hierher gezählt wird. Diese ist aber nicht auf die Gehirnerkrankun¬
gen beschränkt, kommt vielmehr in gleicher Weise bei allen möglichen
schwereren Erkrankungen vor.
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Sind aber dabei psychische Veränderungen vorhanden, so kommen sie
für die Entstehung hysterischer Symptome nicht ohne weiteres in Betracht
Manche Erfahrungen des Vortr. (z. B. bei der Hysterie nach Typhus
sprechen dafür, daß das Auftreten echt psychogener Komplexe bei Or¬
ganischen oft der Ausdruck einer bereits vorhanden gewesenen Disposition ist:
der organische Herd wird jedoch bestimmend für die Lokalisation des
hysterischen Symptoms, dessen häufigste Form daher die der Über¬
lagerung ist.
Die hysterische Reaktionsweise, zumal die schweren somatischen
Ausdruckformen, entstehen somit nicht in innerem Zusammenhang mit
den organischen Veränderungen, sondern unabhängig davon auf dem
Boden einer bestimmten Anlage. Wenn man dem physischen Faktor
dieser Disposition nachzugehen versucht, so liegt er sicher in einer prin¬
zipiell andern Beschaffenheit des Substrats, als sie durch — auch leich¬
teste — organische Veränderungen erzeugt wird trotz aller innigen Wechsel¬
beziehungen, die wir auch bei letzteren zwischen physisch und psychisch
nachweisen können.
Ein maßgebender Unterschied liegt darin, daß sich die psychischen
Wirkungen auf das organische bzw. funktionell geschädigte Substrat nickt
fixieren. Cessante causa cessat effectus (die temporär sich fixierenden
Perseverationserscheinungen haben eine ganz andere Bedeutung). Viel¬
leicht liegt nun gerade ein wesentlicher Faktor des hysterisch reagierenden
Substrats nicht nur in einer erhöhten Reizempfänglichkeit, die sich in ab¬
normen Ausstrahlungsbedingungen der Reize kundtut, sondern auch in
einer mangelhaften Ausgleichbarkeit der erzeugten Umstimmungen oder
„Engramme“, welche eine primäre Fixierung des aus einem bestimmten
Anlaß erzeugten Innervationskomplexes hervorruft. Die Bedingungen des
Zustandekommens hysterischer Reaktionen sind damit noch nicht erschöpft.
Es gehört zweifellos noch eine den Vorgang begünstigende psycho-physische
Konstellation dazu, die man als hypnoid (Charcot, Breuer )bezeichnen kann:
sie findet sich im Geleit starker Affekte, ebensowohl auch von Erschütte¬
rungen des Gehirns, im gleichen Sinne aber können mehr protrahierte,
das Bewußtsein einengende Zustände der Ängstlichkeit, Erwartung und
dergleichen wirken. Gerade diese Zustände schließen eine erhöhte Suggestibi-
lität in sich. Sie besteht aber nur in der Richtung der herrschenden Gefühls¬
vorgänge und hat mit allgemeiner Suggestibilität nichts zu tun, die man
unter verschiedenen Bedingungen findet, ohne daß hysterische Reaktionen
daraus erwachsen. Die allgemeine Suggestibilität kann sogar bei hysterisch
Reagierenden eher vermindert sein. In der Neigung zur Fixierung bzw.
Automatisierung von einmal unter besonderen Bedingungen entstandenen
pathologischen Komplexen ist vielleicht ein allgemeineres Prinzip der
psychopathischen Anlage zu sehen. Unter vielen Beispielen, die sich hier
anführen lassen, erinnert Vortr. an das Fortlaufen der Kinder, manche
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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Formen dipsomanischer Antriebe, Vorgänge, die, einmal unter besondren
Umständen entstanden, später ein eigentümliches Sonderdasein im psy¬
chischen Leben der Betreffenden führen und ihnen selbst ebenso wie un¬
serer psychologischen Analyse unerklärlich sind. Die mit der Fixierung
■verbundene Bahnung bewirkt, daß schon relativ geringe Mengen psycho¬
physischer Energie fortan den Komplex innervieren, Energiemengen, die
so gering sind, daß sie keinen bewußten psychischen Ausdruck in Gestalt
von Vorstellungen finden, wenn sie auch in ihrem letzten Ursprung doch
mit psychischen Vorgängen Zusammenhängen mögen 1 ).
Die Wiederholung der Innervierungen verstärkt natürlich ent¬
sprechend normalen Gesetzen die Bahnung und damit die Automatisierung
des Vorganges. Auf solcher Grundlage entstandene hysterische Kom¬
plexe können nun nach Ansicht des Vortr. bestehen, ohne daß sekundäre
Vorstellungsverbindungen (Wünsche, Begehrungsvorstellungen, Erwartun¬
gen, Befürchtungen) sich mit ihnen irgendwie nachweislich assoziieren.
Ist aber das letztere der Fall, wie bei der großen Gruppe der Renten-
und vieler Kriegshysteriker, so bilden diese sekundären Assoziationen
eine Quelle stets sich erneuernder Energie, die, entgegen einer natürlichen
Tendenz zum allmählichen Ausgleich auch der pathologischen Engramme,
die letzteren weiter fixiert und damit die Krankheit unterhält.
Wie die psychopathischen Abweichungen im allgemeinen nichts
prinzipiell Neues darstellen, so wurzeln auch die hier genannten Ent¬
stehungsbedingungen hysterischer Komplexe: die erweiterte Ausstrahlung
der affektbetonten Vorstellungen, die „hypnoiden“ Zustände, die Fixierung
der entstandenen Engramme auf primärem und sekundärem Wege letzten
Endes im Normalen, zu dem alle möglichen Übergänge hinüberführen,
und sie stehen auch untereinander in einem reziproken Verhältnis. Je
schwächer daher die primäre Fixierung ist, einen um so größeren Anteil
haben am Fortbestehen eines Symptomes, u. U. auch an dessen weiterer
Gestaltung, die sekundär damit verknüpften Vorstellungen (die übrigens
z. T. vor Eintritt des auslösenden Vorganges schon vorhanden sein können).
Dem Beobachter erwächst dann u. U. der Eindruck des Gekünstelten und
x ) Hier würde für die Anhänger der Lehre vom Unterbewußtsein
die Wirksamkeit „unterbewußter Vorstellungen“ mit ihren Affekten be¬
ginnen. Ob man das, was sich in einem gegebenen Augenblick außerhalb
des Bereichs des Bewußtseins befindet, als latente oder unterbewußte Vor¬
stellungen bezeichnet, oder—von der materiellen Seite gesehen—als ein
System von Engrammen, in denen sich mehr oder minder schwache Er¬
regungen abspielen, ist schließlich gleichgültig; daß aber diese unter¬
schwelligen Reize bzw. die unterbewußten „Vorstellungen“, und zwar
letztere durch ihren Inhalt einen besonders lebhaften oder gar krank¬
machenden Einfluß auf die Psyche entfalten sollen, scheint dem Vortr.
mit Kraepelin aller Erfahrung entgegenzustehen.
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380
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
wußten der Symptome. Je stärker aber die primäre Fixierung ist, je auto¬
matischer dadurch die Innervierung des Komplexes sich vollzieht, desto
mehr entsteht der Eindruck des Natürlichen und Unbewußten. Für den
Kranken drückt sich der gleiche Unterschied in einer (bis zu einem ge¬
wissen Grade) verschiedenen Stellungnahme zu dem Symptom aus, für
den Therapeuten wohl auch in einer verschiedenen Wirksamkeit seiner
Mittel. Vielleicht sind es Fälle starker kombinierter primärer und sekun¬
därer Fixierung, welche, ohne daß der Verdacht der Simulation vorliegt,
jeder Therapie trotzen.
Der hier skizzierte Deutungsversuch hysterischer Phänomene, der
natürlich mancherlei Berührungspunkte mit denen anderer Autoren hat,
hat gewissermaßen zwei Gesichter, deren eines der psychischen, das andere
der physischen Seite der Vorgänge zugewendet ist.
Nach Meinung des Vortr. hat er bessere Aussichten, manchen hysteri¬
schen Erscheinungsformen, besonders den auf das Somatische ausstrahlen¬
den, an die hier hauptsächlich gedacht ist, gerecht zu werden, als das Be¬
streben, sie rein psychologisch zu erfassen. Wir müssen zugeben, daß
wir nicht in der Lage sind, indem wir uns in den Seelenzustand eines
schweren Hysterikers zu versetzen trachten, die Kette der Erscheinungen
bis zur Entstehung der eigentümlichen Ausdrucksformen der Krankheit
zu verstehen. Ein Versuch, hier weiter zu kommen, muß an zunächst
freilich hypothetische Eigenschaften des Substrats anknüpfen.
(Ausführliche Veröffentlichung an anderer Stelle.)
Bumke.
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Kleinere Mitteilungen
Deutscher Verein für Psychiatrie, E. V.: Rechnungs-Ab¬
schluß für das Jahr 1916.
A. Kassenbestand vom Vorjahr:
B. Einnahmen:
a) 567 Mitgliederbeiträge für 1916 zu 5 M. 2 835,—
b) Je 1 Mitgliederbeitrag für 1916 und 1917
zu 5 M. 10,—
c) Zinsen aus 2500 M. 3 % Pfandbriefen 75,—
„ 3000 M. 3 y z % „ 105,—
„ „ 5500 M. 4 % Reichsanleihe 220,—
,, „ 4000 M. 5 % Kriegsanleihe
II bis IV. 150,—
d) Portoersatz 15,30
e) Zurückgezahlter Reisebeitrag 500,—
Summe der Einnahmen:
A. und B. zusammen:
13 838,73
3 910,30
17 749,03
C. Ausgaben:
a) Geschäfte des Vorstands: 387,80
b) Geschäfte der Kassenführung 78,28
Zusammen: 466,08
Bleibt Bestand: 17 282,95
Auf Erwerb von 3000 M. Kriegsanleihe IV und V
verwendet 2 903,65.
D. Vorhanden in:
Nom. 2500 M. 3 % Pfandbriefe: Ankaufswert 2 168,35
1»
3000 „ 3 y 2 %
11
2 930,85
11
5500 „ 4 % Reichsanleihe „
5 586,70
2000 „ 5 % Kriegsanleihe II „
1 947,20
11
1000 „ 5%
HI „
965,40
11
1000 „ 5 %
IV ,,
972,90
11
2000 „ 5%
V „
2 930,75
Barbestand der Kasse:
780,80
17 282,95
Winnental, den 4. März 1917.
Der Schatzmeister:
Obermedizinalrat Dr. Kreuser.
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382
Kleinere Mitteilungen.
Anmerkung: Von den im Felde stehenden Kollegen sind Mit¬
gliederbeiträge teilweise uneinbringlich gewesen. Für 1917 wird wieder
ein Beitrag von 5 M. eingefordert werden, damit sich der Verein an der
Zeichnung auch für die Kriegsanleihe VI beteiligen kann. Nach Friedens¬
schluß wird es an passender Gelegenheit zur Verwendung der Einnahmen
nicht fehlen.
Die Heinrich Laehr-Stiftung hat im Rechnungsjahr vom 1. April
1916 bis 1. April 1917 1100 M. an Prof. Dr. Isserlin- München zur Fort¬
setzung seiner psychologisch-phonetischen Untersuchungen gezahlt. Das
Vermögen der Stiftung bestand am 1. April 1917 aus
5 000
M.
3 % preuß.
Konsols
100 000
1»
3 % % „
»
37 000
»
4%
ij
96 500
»>
5% 1. Kriegsanleihe 1
70 000
n
5% 2.
J
52 000
n
5% 3.
1
39 000
>*
4y 2 % 4.
« J
29 000
»
5.
4 000
»t
4%% 6.
eingetragen im Staatsschuldbuch und
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
eingetragen im Reichsschuldbuch und
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
4 594,60 M. Guthaben bei der Darmstädter Bank.
Demgegenüber standen 275 150 M. Schulden an die Darlehnskasse
Berlin.
Heinrich Schüle f. — Aus Leben und Beruf zugleich ist am 9. Dezember
1916 Heinrich Schüle im Alter von 76 Jahren geschieden. Die Psychiatrie
hat an ihm einen Vertreter verloren, gleich ausgezeichnet durch die
Zeitdauer wie durch Umfang und Wert seiner Leistungen. Über 53 Jahre
lang hat seine Wirksamkeit in lllenau gewährt. Mehr als ein Viertel¬
jahrhundert war er Roller und Hergt die verläßlichste Stütze und ein bahn¬
brechender Mitarbeiter, länger als ein zweites Vierteljahrhundert hat er
nach ihnen die Anstalt geleitet. Ohne je den Geist seiner Vorgänger zu
verleugnen, ist er zum Herold einer neuen Zeit geworden nicht nur für
Illenau. Unter seiner Leitung hat die Anstalt ihre Krankenzahl verdoppelt
und sich zugleich in allen ihren Einrichtungen verjüngt; für den Ausbau
des badischen Irrenwesens ist er zum maßgeblichen Berater geworden.
In Wort und Schrift ein eifriger und zielbewußter Vorkämpfer für alle
fortschrittlichen Bestrebungen der Irrenheilkunde ist er weit über die
Grenzen seiner engeren Heimat hinaus zu einem bewährten Führer in
seinem Fache geworden, hat er sich durch die Ergebnisse wissenschaft¬
licher Forschung und deren lehrhafte Verwertung ungesucht Weltruhm
verschafft. Dabei ist der mit so vortrefflichen Geistesgaben ausgerüstete,
von reichem Wissen erfüllte, für alles, was des Menschen Herz über den
Alltag erhebt, empfängliche, ja geradezu begeisterte Mann doch von
rührender Anspruchlosigkeit geblieben, durchdrungen von Liebe und
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Kleinere Mitteilungen.
383
Pflichtgefühl gegen seine Mitmenschen, von wärmster Teilnahme für alles
Leiden und eben darum von unermüdlichem, mit entschlossener Tatkraft
gepaartem Eifer zur Hilfe; bei seltener Tiefe des gemütlichen Empfindens
von reinem Adel der Gesinnungen, der berufene Seelenarzt, allseitig hoch-
geschätzt und aufrichtig verehrt.
Im Sommer 1863 nach kaum erst glänzend bestandener Staats¬
prüfung auf Eckers und Kußmauls Empfehlungen frisch von der Frei¬
burger Hochschule hinweg als Hilfsarzt nach Illenau berufen, sah sich
Schule hier, wie er rückschauend selbst erzählt 1 ), in eine Umgebung ver¬
setzt, die ihn zunächst befremdlich, ja beklemmend anmuten wollte. Sein
lebendiger Geist hat sich rasch darin zurechtgefunden: schon als am
18. Oktober der Völkerschlacht bei Leipzig feierlich in der Anstalt gedacht
werden sollte, erschien er als der geeignetste Festredner. Am geselligen
Leben der Anstalt hat er weiterhin nicht weniger rege sich beteiligt, seine
Kräfte als ernster wie als fröhlicher Sänger ihm zur Verfügung gestellt.
War die Pflege eines familiären Innenlebens, wie Roller es nachdrücklich
betont hat *), doch damals auch den öffentlichen Irrenanstalten eine nicht
unwesentliche Aufgabe. Ganz allgemein sollte die ärztliche Fürsorge
dadurch volkstümlicher gestaltet und von den hergebrachten Vorurteilen
gegen die Geisteskranken befreit werden; auch hatten noch ganz wenig
Privatunternehmungen erst für die Bedürfnisse anspruchvollerer Kranker
nach dieser Richtung zu sorgen begonnen, so daß im Rahmen aller An¬
stalten auch ihnen Rechnung zu tragen war. In Illenau war von jeher
dieser Seite einer psychischen Behandlung besondere Aufmerksamkeit
zugewandt worden. Schüle wäre der letzte gewesen, sich davon auszu¬
schließen: stets hat er den alten Brauch hochgehalten. Anstaltsfesttage
wie seinen 70. Geburtstag am 24. August 1910 oder sein Dienstjubiläum
am 4. Juli 1913 muß man miterlebt haben, um einschätzen zu können,
was er dabei bezweckt, geleistet und erreicht hat. Auch als der Gefeierte
des Tages hat er sich unablässig im Dienste befunden. Mit sicherem Blick
das rege Treiben unter den hochragenden Bäumen des Anstaltsfestplatzes
beherrschend, hat er sich die unscheinbarsten Vorkommnisse nicht ent¬
gehen lassen. Für jeden hatte er ein Auge, ein freundliches Wort, einen
Gruß oder Händedruck zur Aufmunterung für die Gedrückten, zur Aner¬
kennung für etwaige Darbietungen; als ein väterlicher Freund schaltete
und waltete er rastlos unter seinen Kranken und Angestellten. Wer dabei
nicht sofort erkennen mochte, was er an Einfluß auf Pfleglinge und Per¬
sonal gewann, dem mochten es die Besuche früherer Anstaltsangehöriger
offenbaren, die bei solchen Gelegenheiten von nah und fern in lllenau zu¬
sammenströmten, um ihre Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu bekunden.
Unzweideutig sprach daraus ein Zeugnis für die Einschätzung, die Schüles
1 ) Rede beim 50jährigen Dienstjubiläum.
*) Roller, Psychiatrische Zeitfragen, Berlin 1874.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXX111. 4. 27
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384
Kleiner« Mitteilungen.
persönlicher Anteil an der Krankenfürsorge bei seinen Schutzbefohlenen
gefunden hat. Auch ein Hansjakob hat ja bekundet, wie seine Besuche
immer sehnsuchtsvoll erwartet worden sind. Hatte Schale seinem Vor¬
gänger Hergt unerreichte Meisterschaft in psychischer Krankenbehand¬
lung nachgerühmt, so ist er selbst darin gewiß nicht hinter jenem zurück¬
geblieben. Gar manche Stiftung, deren sich die Illenauer Anstalt aus den
Kreisen ihrer Pflegebefohlenen erfreuen darf, ist in Wirklichkeit nur eine
Form innigen Dankes für Schüles persönliche Art bei der Krankenbehand¬
lung. Im heutigen mehr krankenhausmäßigen Betriebe der meisten größe¬
ren Anstalten wird vielfach dieser Seite ärztlicher Betätigung geringerer
Wert beigelegt, wird es vielleicht da und dort auffallen, daß sie bei diesen
Gedenkworten vorangestellt wird. Für Schule war sie jedenfalls von be¬
sonderer Bedeutung. Trat darin doch zutage, wie sehr für ihn der Schwer
punkt psychiatrischer Wirksamkeit im Erfassen und in der Behandlung
kranker Pe rsonen gelegen hat. Möge sein Vorbild gerade auch nach dieser
Richtung nie unbeachtet bleiben!
Die KrankheitsVorgänge als Erscheinungen veränderter Lebens¬
tätigkeit richtig zu erkennen, zu bewerten und zu beeinflussen hat er
darüber gewiß nicht vergessen. Hat er doch in den ersten Reihen derer
gestanden, die naturwissenschaftliche Gesichtspunkte dafür nachdrücklich
zur Geltung gebracht haben. Von Anfang an war ihm festgestanden, daß
Seelenstörungen auf organischen Erkrankungen beruhen. An der Hand
der „psychischen Auskultationsphänomene“ nun auch den Spuren der
entsprechenden körperlichen Veränderungen mit allen heranziehbaren
physikalischen Untersuchungsmethoden nachzugehen, war sein vornehm¬
stes Streben; Benennung und Einteilung der Krankheiten und selbstver¬
ständlich auch ihre Behandlung wollte er auf solche Erkenntnis gründen.
Bei seinem Eintritt in den Dienst der Psychiatrie waren die naturphilo¬
sophischen Anschauungen des Zeitalters der Romantik noch keineswegs
überwunden. Um an ihre Stelle ebenso wie sonst in der Heilkunde natur¬
wissenschaftliche Ergründung zu setzen, bedurfte es gar mancher Neuerun¬
gen. Ungescheut ist Schule alsbald auch an die schwerer zugänglichen
Geisteskranken mit Wärmemessungen, der Aufnahme von Pulskurven,
mit Augen- und Ohrenspiegel, Tasterzirkel, Maßen und Gewichten, elek¬
trischen Strömen und dergleichen mehr herangetreten. Pathologisch¬
anatomische und histologische Untersuchungen wurden mit besonderem
Eifer angeschlossen, um so immer sicherere Unterlagen für die Abgrenzung
verschiedener Krankheitbilder zu gewinnen 1 ). War mit alledem Neuland
betreten worden, so ergab sich doch nicht etwa ein Gegensatz zu Roller
daraus. Mochte dieser hin und wieder nur zögernd auf Neuerungen ein-
gehen, das Streben des jüngeren Mitarbeiters war durchaus nach seinem
Sinne. In einem seiner Briefe an Zeller, auf den ich einmal in alten Akten
l ) Al lg. Ztschr. für Psychiatrie Bd. 24, 25, 26, 27, 28, 32, 33, 35, 36,47.
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Kleinere Mitteilungen.
385
unserer Anstalt gestoßen bin, hat er seine lautere Freude darüber ausge¬
sprochen.
Hatten sich doch Einrichtungen und Betrieb der Illenauer Anstalt
den Ruf von Mustergültigkeit erworben; ihn zu erhalten, hat sich Roller
stets angelegen sein lassen. Dieser Ruf ist es ja doch auch gewesen, der
große Anziehungskraft auf ältere und jüngere Irrenärzte ausgeübt hat, so
daß gar mancher, der später im Inland oder auch im Ausland zu leitender
_Stellung in seinem Berufe gelangt ist, sich seine Ausbildung oder wenigstens
deren Vervollständigung in Illenau geholt hat. Für die Ärzte daselbst
und für Schule insbesondere ergaben sich daraus erwünschte Beziehungen
und Anregungen, auch Anlaß zu gemeinsamer Arbeit. Ihrer hat Schäl*
stets mit besonderer Dankbarkeit gedacht. Zu keinem seiner Kollegen
sind sie so innig gewesen wie zu seinem Altersgenossen v. Kraft-Ebing l ).
Bald nach Schäle war dieser ebenfalls als Hilfsarzt nach lllenau gekommen;
fünf Jahre sind die beiden nebeneinander dort tätig gewesen. Nie haben
sie der gegenseitigen Förderung vergessen, die ihnen aus dieser Arbeits¬
gemeinschaft erwachsen ist. Gewinn daraus haben nicht nur sie selbst
.gehabt, auch das Illenauer und das allgemeine wissenschaftlich-psychia¬
trische Leben. Dem im Tode Vorangegangenen hat der Überlebende im
60. Bande der Allg. Ztschr. einen tiefempfundenen Nachruf gewidmet.
Zunächst wetteiferten die Freunde im unmittelbaren Kranken-
dienste. Von sich selbst sagt Schäle: „Ich fühlte bald, daß es Schöneres
nicht gibt und nicht geben kann, als einer ratlosen, krankhaft niederge¬
drückten Menschenseele beizustehen und sie nach und nach sich selbst
wiederzugeben, nachdem man in strenger Individualisierung die ursäch¬
lichen Zusammenhänge erkannt und die nervösen Schädigungen aus
dem Wege geräumt hat. Arzt sein, heilen, lindern ist und bleibt doch
das Höchste und Köstlichste, noch viel wertvoller und befriedigender als
das Beobachten, Forschen und Finden, so groß und rein auch diese intel¬
lektuelle Freude ist.“ Solchem Sinn entsprach bei Schule jederzeit die
Tat. Was immer das Wohl seiner Kranken fördern konnte, hat er freudigst
begrüßt und zur Anwendung zu bringen versucht, ebenso bereitwillig, von
andern zu lernen, als erfinderisch in eigenen Vorschlägen. Hatte er sich
erst noch um die Abschaffung der Zwangsmittel zu bemühen gehabt, so
folgten freiere Behandlung, vielseitige Beschäftigung, Überwachungs¬
abteilungen und neuzeitliche Badeeinrichtungen, ganz zu geschweigen von
Versuchen mit verschiedenartigen Arzneimitteln und dem ganzen Rüst¬
zeug der heutigen Krankenpflege. Allenthalben erst vorsichtig tastend und
prüfend war er stets darauf aus, sich sein eigenes Urteil am Krankenbett
zu bilden, sich durch Lob und Tadel von anderer Seite weder fortreißen
>) Vgl. seinen Nekrolog in der Allg. Ztschr. für Psychiatrie LX
S. 305 und die Worte bei Enthüllung der Büste in der Wiener Universität,
III. internationaler Kongreß für Irrenpflege S. 630.
27*
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386
Kleinere Mitteilungen.
"noch beirren zu lassen. Die geschichtliche Entwicklung der Irrenpflege
während eines halben Jahrhunderts verknüpft sich mit seinem Namen
und seinen Erfahrungen. Mit Leib und Seele Arzt, hat er ohne jegliche
Einseitigkeit nach Hilfe und Linderung für die Kranken gesucht, ist er
nicht etwa nur auf den Glanz äußerer Erfolge ausgewesen, hat er auch
die bescheidenen Dienste nicht gering geachtet, die noch Erleichterung
zu schaffen vermögen, wo Wiederherstellung sich nicht mehr hoffen läßt.
„Nicht in der Heilung der Heilbaren“ — heißt es in seinem Hand*
buche —, „sondern in der geistig hebenden und fördernden Pflege der
Unheilbaren liegt der Irrenanstalten schönste Auszeichnung.“ So manche
seiner Mitteilungen im Kreise der Fachgenossen bekundet seine besondere
Sorgsamkeit nach dieser Richtung 1 ).
Zu Beginn seiner praktischen Wirksamkeit hatte die Illenauer Anstalt
allein noch alle voraussichtlich heilbaren Geisteskranken des badischen
Landes aufzunehmen, stand ihr zur Versorgung Unheilbarer allein die
Pforzheimer Pfleganstalt zur Seite. Bald sollten beide für ihre Aufgaben
nicht mehr ausreichen, galt es, die Irrenfürsorge des Landes Schritt
tür Schritt zu erweitern und zugleich den Forderungen nach psychiatri¬
schem Unterricht zu genügen. Alle Entwürfe nach dieser Richtung waren
in erster Linie Schule s Aufgabe. In besonderen Denkschriften*) hat er,
später von Mitarbeitern unterstützt, die Bedürfnisse klargelegt, nach ihrer
Anerkennung die Pläne *) bearbeitet und teilweise ihre Ausführung geleitet.
-Die psychiatrischen Kliniken der beiden badischen Hochschulen und drei
neuer Heil- und Pfleganstalten hatten an Schüles Bahre den Dank auszu¬
sprechen für seine Mitarbeit bei ihrer Entstehung; insbesondere hatte die
Heidelberger Klinik, die erste ihrer Art, die in Deutschland eigens für
ihre Zwecke erbaut worden ist, ihn als ihren Schöpfer zu rühmen. — Daß
auch Illenau selbst unter Schüles Leitung sehr erheblich erweitert und allen
Anforderungen der Neuzeit in vorbildlicher Weise angepaßt worden ist,
darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben.
Vielfach, nicht nur aus der engeren Heimat, ist Schüles Gutachter¬
tätigkeit vor Gericht in Anspruch genommen worden, teilweise für Ent¬
scheidungen, die allgemeines Aufsehen erregt und ihm dadurch einen be¬
sonderen Andrang von vermeintlich zu unrecht für geisteskrank Erklärten
verschafft haben. Klar und bestimmt hat er es verstanden, die für die
richterliche Beurteilung wichtigen Gesichtspunkte hervorzuheben. Eine
Meisterschaft in der Beherrschung des gesprochenen Wortes ist ihm dabei
sehr zustatten gekommen.
Seiner Sinnesart näher noch lag freiwillige Hilfsbereitschaft für die
wirtschaftlich durch ihr Leiden Geschädigten. In Illenau standen ihm
M Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 28, 32, 37, 36, 40, 51, 53.
*) 1901 u. 1909
*) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 41.
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Kleinere Mitteilungen.
387
dafür reichliche Stiftungsmittel zu Gebote. Um auch über den Rahmen die*
‘Ser Anstalt hinaus in gleichem Sinne wirken zu können, hat er, auf einen Lieb*
lingsgedanken Rollers zurückgreifend, einen badischen Hilfsverein für
entlassene Geisteskranke und notleidende Familien ins Leben ge¬
rufen und geleitet. Seit 1906 durfte er sich dessen segensreicher Tätigkeit
-mit besonderer Genugtuung erfreuen.
• • Nicht weniger durften sich die Kollegen Schüle s Hilfsbereitschaft mit
-Rat und Tat erfreuen. Jüngeren Ärzten der Anstalt hat er die vielseitigsten
Anregungen geboten. Zu Fortbildungskursen haben sich alljährlich
Praktiker um ihn versammelt, besonders zur Vorbereitung auf die staats-
^ärztliche Prüfung. Den Berufsvereinen hat er sich gern mit Vor¬
trägen zur Verfügung gestellt, und an ihren Besprechungen hat er sich
-fragend, berichtigend und ergänzend lebhaft und schlagfertig beteiligt.
Gbenso gern empfangend wie gebend, war er mit seinen durch Form und
Inhalt gleich fesselnden Ausführungen bei allen Vereinen und Versamm¬
lungen einer ihrer belebendsten Teilnehmer, in vielen der besonnene und
tonangebende Leiter. Im Deutschen Verein für Psychiatrie zumal und in
dessen südwestdeutschen Abzweigungen war er eines der regelmäßigsten
und tätigsten Mitglieder, bis ihm gesundheitliche Rücksichten mehr Be¬
schränkung in solchen Dingen auferlegt haben. Im Vorstande und als Schatz¬
meister des Hauptvereins hat er diesem viele Jahre hindurch die ersprie߬
lichsten Dienste geleistet. Bis zu seinem Lebensende ist er an der Herausgabe
der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie beteiligt geblieben, für
die er seit 1879 gewonnen worden war. Außer zahlreichen eignen Beiträgen
aus seiner Feder finden sich daselbst namentlich auch seine Bericht¬
erstattungen über einheimische, französische und englische Fachliteratur.
Sie zeugen von gründlichem und umfassendem Studium der jeweiligen Neu¬
erscheinungen. Sind in den letzten Jahren seine eigenen Beiträge seltener
geworden, so wird man andern aus Illenau nicht zu nahe treten, wenn man
aus ihnen wenigstens seines Geistes Hauch zu verspüren glaubt, wenn
schon ihre Ausarbeitung anderen Persönlichkeiten zu verdanken ist. Eine
Probe solcher Leistungen, die des Meisters vielseitigen Einfluß verrät, ist
ihm von Illenauer Ärzten als Festgabe zum 50jährigen Dienstjubiläum
dargebracht worden 1 ).
Eine so überaus rührige Natur wie Schüle mußte sich fast zu schritt¬
st el le ri s che r Ar b ei t gedrängt fühlen, sobald die eigenenErfahrungen und
Beobachtungen so weit gereift waren, um selbständige Anschauungen darauf
begründen zu lassen. Als erste solche Frucht seines inneren Schaffens hat
er 1867 das Krankheitsbild der Dysphrenia neuralgica *) aufgestellt, indem
-er die seelischen Störungen zusammengefaßt hat, die auf dem Wege über
veränderte Empfindungen in peripheren Nervengebieten zur Entwicklung
*) AUg. Ztschr. für Psych. Bd. 70.
*) Karlsruhe 1867.
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/
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
388
Kleinere Mitteilungen.
kommen. Mag weitere Ursachenforschung namentlich dem so gewonnenen
Gebiete inzwischen wesentlich engere Grenzen gesteckt haben, so ist die
Forderung seines Suchens nach Störungen in den körperlichen Lebens-
Vorgängen als Grundlagen für geistige Erkrankungen in der Folge nur
immer noch mehr zutage getreten. Namentlich hat er selbst einen wichti¬
gen weiteren Schritt in dieser Richtung getan mit seiner 1874 nachfolgen¬
den Veröffentlichung von „Sektionsergebnissen bei Geisteskranken“ 1 ).
Der Freiburger Hochschule gewidmet, ist diese Arbeit von ihr der Ver¬
leihung des Ehrendoktors für würdig befunden worden. In der Tat stellt
sie wohl den ersten planmäßigen Versuch dar, zu einer pathologischen
Anatomie der Geisteskrankheiten und ihrer Unterformen zu gelangen»
indem sie die makroskopischen und mikroskopischen Befunde an der
Leiche in gesetzmäßige Beziehungen zu den während des Lebens beob¬
achteten seelischen Stöi ungen zu bringen sich zum Ziele gesetzt hatte.
Verbesserte Hilfsmittel und vollkommenere Untersuchungsmethoden sind
seither gewonnen worden, um über ScKüle s damalige Ergebnisse wesentlich
hinauszuführen; seine Forschungsrichtung ist beibehalten worden und
kann auch künftig kaum je mehr verlassen werden. Sie bleibt einer der
unerläßlichen Grundzüge jeder klinischen Psychiatrie.
Wie durchschlagend in dieser Richtung Schule s Arbeiten gewirkt
haben, ergibt sich wohl am besten aus der im Anschluß daran ihm geworde¬
nen Aufforderung, für das Ziemßensche Handbuch der speziellen Patho¬
logie und Therapie das Gebiet der Geisteskrankheiten zu übernehmen. —
Seit Griesingers durchschlagendem Erfolge mit einer zusammenfassenden
Darstellung des psychiatrischen Wissens war es zu einem ähnlichen Unter¬
nehmen nicht mehr gekommen. Griesinger selbst war tot; die Überarbeitun¬
gen seines Buches konnten es nicht auf der früheren Höhe erhalten. Trotz,
eifriger schriftstellerischer Tätigkeit zahlreicher Irrenärzte konnte sich
keiner finden, der wieder einmal den ganzen Stoff so zu sammeln und
zu sichten bereit gewesen wäre, wie es zu seiner übersichtlichen Wiedergabe¬
dringend wünschenswert erschien. Selbst einer der dazu berufensten
akademischen Lehrer des Faches, Westphal, hatte die Einladung dazu
abgelehnt. Mutig hat sich Schule dieser Aufgabe unterzogen. Im Jahre 1878
konnte sein ,.Handbuch der Geisteskrankheiten“ als 16. Band
jenes Sammelwerks erscheinen. Rasch wurde eine zweite Auflage not¬
wendig; eine dritte völlig umgearbeitete folgte 1885 mit dem neuen- Titel
„Klinische Psychiatrie“. Übersetzungen dieses Werkes sind in
französischer, russischer und neugriechischer Sprache herausgegeben wor¬
den. Schon mit der ersten Auflage war nach kaum Jahresfrist des Freundes
v. Krafft-Ebing Lehrbuch der Psychiatrie in Wettbewerb getreten. Für
die Art desselben bezeichnend ist, daß die Freunde sich ihre Bücher gegen¬
seitig zugeeignet haben.
1 ) Leipzig 1874.
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Kleinere Mitteilungen.
389
Kaum kann man ihrer gedenken, ohne sie untereinander einiger¬
maßen zu vergleichen. Vermöge seiner übersichtlichen Darstellung des
gesicherten Besitzstandes an psychiatrischen Kenntnissen der damaligen
Zeit und begünstigt durch flüssige, leicht faßliche Art der Darstellung,
hat das v. Krafft-Ebingsche Lehrbuch raschere und weitere Verbreitung
gefunden. Ganz besonders für alle Anfänger war es schon dadurch geeig¬
neter, daß es sich auf schlichtere Wiedergabe des Stoffes zu beschränken,
wissenschaftliche Streitfragen höchstens anzudeuten bemühte. Wesent¬
lich anders hat Schule seine Aufgabe durchgeführt. Über das unmittelbar
ärztliche Gebiet hinausgreifend, bezieht er auch psychologische Erörterun¬
gen in sie ein, stellt den reichen Schatz eigener Beobachtungen fremden
Ansichten gegenüber und knüpft er daran allerlei Fragestellungen und Ge¬
dankengänge an, über die erst noch Aufschluß gewonnen werden soll durch
weitere Forschungen. So bietet i?cAüfesBuch namentlich allen in der Psychia¬
trie Erfahrenen wesentlich mehr, enthält es vielseitige Anregungen auch dann
noch, wenn man des Verfassers Anschauungen nicht ganz oder nicht mehr
zu teilen vermag. Seine Bedeutung dürfte es wohl für längere Zeiten be¬
haupten, wenn schon es inzwischen von mancherlei Fortschritten überholt
worden ist. Leichter Lesestoff ist es freilich nicht; um so mehr gibt es
Anlaß zum Nachdenken. Einer seiner eigenartigsten und fruchtbarsten
Gedanken ist gewiß der durchgreifende Unterschied, der in der Erschei¬
nungsweise und im Verlaufe der Geistesstörungen gesucht und gefunden
wird, je nachdem sie ein „rüstiges“ oder ein „invalides“ Gehirn befallen.
Das Gebiet der Ursachenforschung ist damit von einer Seite her betreten,
die folgerichtig zu vorbeugenden Maßnahmen gegen eine fortschreitende
Entartung führen muß. Diesen Schlüssen galten denn auch spätere Be¬
mühungen Schule s, obschon inzwischen den Quellen des Irreseins von ganz
anderer Seite her beizukommen weit mehr versucht worden ist.
Erschöpfend hat Schule die klinische Psychiatrie dargestellt; keines¬
wegs erschöpft war dadurch sein eigener Arbeitsgeist und Wissensdrang.
Tauchten anderweitige klinische Auffassungen auf, so hat er an ihrer Hand
die eigenen immer wieder nachgeprüft und dazu auch wieder das Wort
ergriffen, wie z. B. zur Begriffsbestimmung der Paranoia x ) und der Kata¬
tonie s ). Vorzugsweise sind es aber Erblichkeitsforschungen, mit denen
er sich in seinen späteren Jahren befaßt hat, um auf ihrer Grundlage Mittel
und Wege zu gewinnen, dem Fluche fortzeugender krankhfter Veran¬
lagung durch Heiratsverbote einen Riegel vorzuschieben *). So bestimmt
Naturgesetze solche Bahnen weisen müssen, die Schwierigkeiten, durch
Rechtsgesetze ihre Einhaltung zu erzwingen, hat er doch wohl unterschätzt.
Um sie zu beseitigen, gibt es freilich kaum einen andern Weg, als die von
x ) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 50.
*) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 58.
*) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 42, 61.
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390
Kleinere Mitteilungen.
ihm angelegte großzügige gemeinsame Arbeit in Erblichkeitsfragen 1 ).
Die Ausarbeitung derartiger Entwürfe hat Schule , wie schon ange¬
deutet, mit der Zeit mehr und mehr jüngeren Mitarbeitern überlassen;
doch unter lebhafter persönlicher Beteiligung an ihrer Durchführung. Die
vielseitigen Bürden der Anstaltsleitung wie des Ausbaues der heimischen
Irrenfürsorge nahmen seine Zeit und Kraft jetzt besonders in Anspruch r
während persönliche Erlebnisse gebieterisch verlangten, haushälterisch
damit umzugehen. Von schwerer eigener Krankheit hatte er sich wohl
gut erholt, um eine staunenswerte körperliche Widerstandsfähigkeit nebst
ungeschmälter geistiger Frische und Leistungsfähigkeit beizubehalten
bis ins hohe Alter. Tief erschüttert haben ihn dagegen der Gattin und
eines Sohnes Tod, die sich rasch aufeinander fölgten. Ein guter Arzt
für sich selbst, hat er sich, um die unmittelbare Berufsarbeit unter keinen
Umständen notleiden zu lassen, weise Beschränkung auferlegt in den
schönsten Freuden seines Lebens, in der wissenschaftlichen Forschung
und im Verkehr mit gleichgesinnten Kollegen. Die zahlreichen persön¬
lichen Beziehungen, die er im Laufe der Jahre anzuknüpfen Gelegenheit
gefunden hatte, waren ihm stets innigste Herzensangelegenheit gewesen.
Auf ihre Pflege hat er nur ungern, aus lauterem Pflichtgefühl, verzichtet;
die geistige Zusammengehörigkeit hat er aufrecht zu erhalten gesucht
durch regelmäßige schriftliche Grüße an die alten Freunde bei ihren Zu¬
sammenkünften,
Einen etwas schwärmerischen Zug seines Wesens darin erblicken zu
wollen, mag manchen um so näher gelegen haben, als auch die Schule
eigene Sprache vielfach danach klang. Vergleichen und Bildern begegnete
man darin fast mehr, als glatter Verständigung wohl dienlich sein mochte.
Ein Flug der Gedanken durch die verschiedensten Wissensgebiete und
Lebensanschauungen trat darin zutage, dem nicht jedermann mit der¬
selben Leichtigkeit zu folgen vermochte. Trotz solchen spielenden Hinaus¬
greifens über die Grenzen naturwissenschaftlicher Denkweise hat er doch
sachlich deren Boden nie verlassen, hat er nur gezeigt, daß seinem um¬
fassenden Geiste auch andersartige Anschauungen stets gegenwärtig
waren. Betrat er um der Erklärung willen solche Nebenwege, so konnten
Andern wohl seine Ziele darüber verdunkelt werden, ihm selbst standen sie
darum nicht weniger klar vor Augen; eine nüchtern denkende Natur ist
er stets geblieben, so wenig er sein überreiches Gefühlsleben je zu ver¬
bergen versucht hat. — Die gegen seine Ausdrucksweise erhobenen Ein¬
wendungen hat er übrigens bei der Neubearbeitung des Handbuchs bereit¬
willig berücksichtigt.
Einseitigkeit und Weltfremdheit, wie man sie den Irrenärzten bei
ihrem eingezogenen Leben so vielfach zu Zutrauen liebt, waren gewiß
niemand ferner gelegen als Schule. Obschon ganz erfüllt von seinem Be¬
rufe, hat er doch nie verkannt, daß dieser nur ein Teilgebiet menschen-
M Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 62.
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Kleinere Mitteilungen.
391
freundlicher Bestrebungen darstellt, sich aber auf Personen aus den aller-
verschiedensten Lebensstellungen zu erstrecken hat. Wer ihn so erfolg¬
reich zu üben vermag wie Schule, für den ist darum auch ein weitgehendes
Verständnis für die mancherlei Verhältnisse der Bevölkerung und eine
umfassende allgemeine Bildung unerläßliche Voraussetzung. Diesen An¬
forderungen hat Schule in besonderem Maße zu genügen verstanden; sich
dafür tüchtig zu erhalten, war sein Bestreben in den spärlichen Erholungs¬
zeiten, die er sich gegönnt hat. Mit offenem Sinn für Natur und Kunst
verband er eine Genußfreudigkeit, die andere mitreißen mußte, eine Le¬
bendigkeit der Auffassung, der die Gründlichkeit des Forschers auch nach
dieser Richtung nicht nachgab. Wie hat er nur den heimischen Schwarz¬
wald geliebt und gekannt, ohne darüber andere Xaturschönheiten geringer
zu achten; wie hat er so gern in Italien geweilt, um seiner klassischen Er¬
innerungen und seiner Kunstschätze sich zu freuen. Boten sich daheim
aber Mußestunden, so waren sie den Gaben der schönen Literatur geweiht;
vor allem hat er seinen Goethe immer wieder hervorgeholt.
Lebendigen Anteil hat er genommen an allen Angelegenheiten von
allgemeinerer Bedeutung, auch wenn sie nicht wie die Errichtung von
Volksnervenheilstätten und von Trinkerasylen das eigene Wirkungsgebiet
nahe berührten. Seine Betätigung innerhalb der Gemeinde hat die Stadt
Achern durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts anerkannt. Für alle
staatlichen Erfordernisse hatte er einen guten Blick, und ganz besonders
hat er sich zu allen Zeiten für des großen deutschen Vaterlandes Wohl und
Gedeihen erwärmt. Einst hatte er Deutschlands Befreiung von der Fremd¬
herrschaft rednerisch zu feiern gehabt; Feuer und Flamme ist er für
Deutschlands Einigung gewesen, und am jetzigen Kampfe um des Reiches
Bestand hat er mit allen Fasern des eigenen Seins teilgenommen; freudige
Genugtuung war es ihm, daß er auch Opfern des heißen Ringens seine Für¬
sorge zuwenden konnte.
Wie er das Beste gewollt, hat er stets auch das Beste gehofft und
zuversichtlich einem vollen deutschen Siege entgegengesehen. Selbst
äußerst friedliebend, ist er doch keinem streitbaren Austrag von Meinungs¬
verschiedenheiten je aus dem Wege gegangen, um sie zu klarer Entschei¬
dung zu bringen. Ob er eine solche wohl erwartet hätte von der Kunde
über das deutsche Friedensangebot, die denen entgegenkam, die von der
Stätte zurückkehrten, an der seine irdische Hülle eben zur letzten Ruhe
gebettet worden war? — Es ist der lllenauer Waldfriedhof in seiner
stillen Abgeschiedenheit. Inmitten so Vieler, um die er während seines
arbeitreichen Lebens besorgt gewesen war, ist er bestattet worden nach
erhebender Gedenkfeier im Anstaltsfestsaale, einer großartigen Kund¬
gebung des dankbaren Andenkens, das er sich durch reich gesegnetes
Wirken in den weitesten Kreisen verdient hat.
An Anerkennungen aller Art hatte es ihm ja auch während des
Lebens nicht gefehlt. Von seiten des großherzoglichen Hauses sind ihm
bei verschiedenen Gelegenheiten äußerst warmherzige Kundgebungen
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392
Kleinere Mitteilungen.
geworden. Regierung und Volksvertretung des badischen Landes haben
wiederholt Anlaß genommen, seines treu besorgten Waltens öffentlich zu
gedenken. In der Auszeichnung durch Titel und Orden, nicht nur aus der
engeren Heimat, selbst aus dem jetzt feindlichen Ausland ist die Wert¬
schätzung seiner Tätigkeit zum Ausdruck gelangt; nicht weniger durch
andere Ehrungen aus akademischen Kreisen und aus wissenschaftlichen
Vereinen. Solche zu Straßburg, Petersburg, Paris, London, Rom, Gent,
Moskau und Wien haben ihm die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Auch
der Deutsche Verein für Psychiatrie hat ihn auf diese Weise aus der Zahl
seiner ordentlichen Mitglieder herauszuheben gewünscht. Was aber könnte
den durchschlagenden Erfolg seiner praktischen und wissenschaftlichen
Betätigung besser kennzeichnen als die von 1869 bis 1886 sich immer
wiederholenden Berufungen zur Übernahme der Leitung anderer Anstalten
oder akademischer Lehrstühle seines Faches? Er hat sie alle abgelehnt,
um der Anstalt, an der er seine Erfahrungen gesammelt hatte, auch bei
Verwertung derselben treu zu bleiben. Durch diese seine Anhänglichkeit
an Illenau ist Schüles äußerer Lebensgang auf einen engen Raum beschränkt
geblieben. Weit war der Kreis derer, die sein segensreiches Wirken um¬
spannt hat. An treuem Gedenken kann es dem nicht fehlen, der sich selbst
und seiner Lebensaufgabe bis zum Tode so treu geblieben ist!
ÄVeuser-Winnental.
Personalnachrichten,
Dr. Karl Wilmanns, ao. Prof, in Heidelberg, ist zum Direktor der Landes¬
anstalt bei Konstanz,
Dr. Theodor Heller in Haina und
Dr. Theodor Malcus in Marburg sind zu Oberärzten,.
Dr. Eduard Reiß, Priv.-Doz. in Tübingen, ist zum ao. Professor,
Dr. Gustav Länderer, Dir. des Christophbades in Göppingen, ist zum
Geh. Sanitätsrat,
Dr. Otto Deiters, Oberarzt in Grafenberg,
Dr. Kurt Gallus, Oberarzt in Potsdam,
Dr. Otto Juliusburger, Oberarzt am Berolinum in Lankwitz,
Dr. Ernst Klipstein, Oberarzt in Herzberge, und
l)r. Alexander Wilhelmy, leit. Arzt an der Hertzschen Anstalt in Bonn,
sind zu Sanitätsräten ernannt worden.
l)r. Richard Werner, San.-Rat, Oberarzt in Buch, und
Dr. Josef Reis, Arzt an der Dr. Kahlbaumschen Anstalt in Görlitz, haben
das Eiserne Kreuz 1. Klasse,
Dr. Bernhard Schauen, San.-Rat, Dir. in Neustadt, W.-Pr., und
Dr. Joh. Stövesandt, Prof., Dir. der Krankenanstalt in Bremen, die Rote
Kreuz-Medaille 3. Kl. erhalten.
Dr. Felix Winkler, Oberarzt an der Landesanstalt Arnsdorf, ist gestorben.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der seniien
psychischen Erkrankungen.
Von Dr. Pieszczek, Anstaltsarzt in Kortan.
Den Menschen geleiten anf seinem Lebenswege eine große
Reihe von Gesetzes Vorschriften, die ihm hauptsächlich in straf¬
rechtlicher und zivilrechtlicher Hinsicht vorschreiben, was er im
allgemeinen tun und lassen soll. Die meisten von ihnen gehen
den geraden Weg, ohne viel von Gesetzesparagraphen zu wissen,
allein kraft des ihnen innewohnenden, durch Erziehung und
Sitte fest verankerten Bewußtseins der Pflicht gegen sich selbst
und der Rflcksichtnahme auf die Interessen der Mitmenschen, ein
anderer Teil durchbricht aber die durch Recht und Sitte aufge¬
bauten Schranken in mehr oder weniger erheblichem Maße, teils
durch von außen auf einen schwachen Charakter einwirkende
Ursachen, teils durch innere angeborene und vererbte Antriebe dazu
bestimmt. Zu diesem gehören in erster Linie die geistig Minder¬
wertigen, die Debilen, Imbezillen, die hysterisch Veranlagten, dann
schließlich die mit einer ausgesprochenen Geisteskrankheit Be¬
hafteten, wobei die Dementia praecox, die Paranoia, die epilepti¬
sche Geistesstörung, die progressive Paralyse und schließlich die
große Gruppe der senilen Erkrankungen, unter denen die arterio¬
sklerotischen Gehirnerkrankungen und die ausgesprochene Dementia
senilis die hervorstechendsten sind, in Frage kommt. Man kann
somit sagen, daß fast jedes Lebensdezennium zu einer bestimmten
geistigen Erkrankung prädisponiert, auf Grund deren die in diesem
Alter Stehenden möglicherweise mit dem Gesetzbuch irgendwie
in Konflikt kommen können.
Für das Greisenalter ist es durch langjährige juristische und
psychiatrische Erfahrung um so erwiesener, als gerade Leute vom
60. Lebensjahre ab straffällig werden, die vorher ein tadelloses
Leben geführt haben und niemals vorbestraft waren.
Zeiteehrift^fttr Psychiatrie LXXIII. 5.
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394
Pieszczek,
Um zu verstehen, auf welchen Ursachen dieses beruht, müssen
wir uns die senilen psychischen Erkrankungen und deren Haupt-
erscheinungsformen in kurzen Umrissen vor Augen führen.
In erster Linie handelt es sich um die arteriosklerotischen Geistes¬
störungen, die je nach dem Zeitpunkt des Beginnes der arterioskleroti¬
schen Herz- und Gefäßveränderungen auf Grund ererbter Disposition —
Ziehen *) nennt es arteriosklerotische Heredität, Weber *) Gefäßbelastung
— oder der verschiedensten sonstigen einwirkenden Ursachen wie chro¬
nischen Alkohol- und Tabakmißbrauchs, aufreibender, verantwortungs¬
voller Tätigkeit, wie bei größeren Kaufleuten, Bankiers und Aufsichts¬
beamten (Cramer *)), infolge Lues, weniger häufig infolge Bleivergiftung,
verhältnismäßig früh einsetzen können ( Koeppen «)), wie z. B. in Al-
brechts ®) Fall, wo es sich um einen erst 43 jährigen Mann handelt.
Weniger die anhaltende, aber gleichmäßig dahinfließende geistige
Arbeit, als das zermürbende verantwortungsvolle Moment in der Tätigkeit
oder andauernd schwere körperliche Krafteilstungen, wie z. B. die eines
Schmiedes oder Sackträgers, sind die ausschlaggebenden Momente in der
Entstehung der Arteriosklerose, Ursachen, die sicher auf die Spannung
und den Tonus der Gefäße einen erheblichen ungünstigen Einfluß aus¬
üben können.
Dabei kann die Beteiligung der verschiedenen Gefäßgebiete des
Körpers an dem krankhaften Prozeß eine ganz unregelmäßige sein. Oft
eröffnet ein Schlaganfall plötzlich die bunte Szenerie der komplizierten
körperlichen und geistigen Störungen, ohne daß körperlich an der be¬
treffenden Person etwas Besonderes in arteriosklerotischer Beziehung
nachzuweisen gewesen wäre.
Die eigentlichen arteriosklerotischen psychischen Erkrankungen
bieten in ihren klinischen Symptomen ein Bild von reichster Mannigfaltig¬
keit (Kraepelin •), und es ist das Verdienst Binswangers T ) 8 ), Alzhei-
*) Ziehen, Lehrb. der Psychiatrie. 4. Auf!., 1911, S. 798.
*) Weber, Uber arteriosklerotische Psychosen. NeuroL Ztlbl. 1908,
S. 1098.
*) Cramer, Die nervösen und psychischen Störungen der Arterio¬
sklerose. D. med. Wschr. 1909, S. 1595.
4 ) Koeppen, Arteriosklerose als Ursache von Geisteskrankheiten.
Arch. f. Psych. Bd. 20, S. 882.
s ) Albrecht, Ein forensischer Fall von arteriosklerotischer Geistes¬
störung. Ztschr. f. Medizinalbeamte XVII. Jahrg., 1904, S. 683.
•) Kraepelin, Lehrb. der Psych. 1910, Bd. 2, S. 554.
T ) Binswanger, Zur Klinik und pathol. Anatomie der arterioskleroti¬
schen Hirnerkrankung. Neurol. Ztlbl. 1908, S. 1097; Arch. f. Psych.
Bd. 45, S 731.
®) Derselbe, Diskussionsbem. Ztschr. f. Psych. Bd. 51, S. 811.
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Di« gMÖchtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 395
mers 1 ) *) 3 ) und Spiebmeyers 4 ) •), sie durch grundlegende klinische und
anatomische Arbeiten seit den 90er Jahren als ein wohlumgrenztes, klares,
scharf charakterisiertes Krankheitstuld dargestellt zu haben, obgleich
man auch hier nach dem klinischen und anatomisch-histologischen Be¬
funde mehrere Unterarten unterscheidet. Es würde den Rahmen dieser
Arbeit überschreiten, wollte ich auf diese im einzelnen näher eingehen,
ich erwähne nur die hauptsächlichsten: Die nervöse Form der Arterio-
sclerosis cerebri ( Cramer •), Pilcz ’), Windscheid 9 )), die oft den Anfang
der Erkrankung darstellt, sich vor allem in Kopfdruck, Kopfschmerz,
Schwindelanfällen und Abschwächung der Merkfähigkeit ausprägt und
nicht weiter fortzuschreiten braucht.
Ferner hat man euphorische und expansive Zustandsbilder be¬
obachtet (Weber *), Binstvanger 10 )), doch hauptsächlich nur bei Kranken,
deren Natur schon in gesunden Tagen nach dieser Richtung hingeneigt
hatte und nun ins Krankhafte verzerrt erschien.
Unterarten von anatomisch besonderer Lokalisation des Krank¬
heitsprozesses sind die Encephalitis subcorticalis chronica ( Binstvanger u )),
die abgesehen von einer Erschwerung des Gedankenablaufs, verlang¬
samter Auffassung und einer allmählichen bis zur Verblödung fortschrei¬
tenden geistigen Verödung von Anfang an gewisse, bald stationär werdende
schwere Herderscheinungen zeigt, weiterhin Alzheimers perivaskuläre
*) Alzheimer , Die arterioskL Atrophie des Gehirns. Allg. Ztschr. f.
Psych. 1895, Bd. 51, S. 809.
*) Derselbe, Neuere Arbeiten über die Dementia senilis und die auf
atheromatöser Gefäßerkrankung basierenden Gehirnkrankheiten. Mschr.
f. Psych. u. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101.
*) Derselbe, Die Seelenstörungen auf arteriosklerotischer Grund¬
lage. Ztschr. f. Psych. 1902, Bd. 59, S. 695.
4 ) Spielmeyer, Über die Alterserkrankungen des Zentralnerven¬
systems. D. med. Wschr. 1911, S. 1377.
*) Derselbe, Die Psychosen des Rückbildungs- und Greisenalters.
AschafTenburgs Handb. d. Psych., 5. Abt., 1912.
*) Cramer, Die nervösen und psychischen Erkrankungen bei Arterio¬
sklerose. D. med. Wschr. 1909, S. 1595.
7 ) Pilcz, Die psychischen und nervösen Störungen bei Arterio¬
sklerose des Gehirns. Wien. med. Wschr. 1910, S. 625.
®) Windscheid, Über die durch Arteriosklerose bedingten Nerven¬
krankheiten. Neurol. ZtlbL 1901, S. 1069.
•) Weber, Zur Klinik der arteriosklerotischen Seelenstörungen.
Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1908, Bd. 23, Supplementheft S. 175.
»•) Binstvanger, Zur Klinik u. pathoL Anatomie der arterioskL Hirn¬
erkrankung. Arch. f. Psych. Bd. 45, S. 731; Neurol. Ztlbl. 1908, S. 1097.
11 ) Derselbe, Die Abgrenzung der allg. progressiven Paralyse.
BerL klin. Wschr. 1894, Nr. 49 IT.
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Pieszezek.
Gliose 1 ), die durch fleckweisen Untergang der nervösen Substanz und
herdförmige hochgradige Gliawucherungen an den schwer entarteten
Gefäßen entlang auffällt
Von den arteriosklerotischen Geistesstörungen zu der zweiten großen
Gruppe der senilen psychischen Erkrankungen, der meist erst um das
60. Lebensjahr herum einsetzenden Dementia senilis, finden sich klinisch
und anatomisch zahlreiche fließende Übergänge 'und verwandte Sym¬
ptome (Kraepelin *), Alzheimer *), Buchholz*), Wille*), Fürstner *)), wenn
auch die beiden zugrundeliegenden anatomischen Veränderungen unab¬
hängig voneinander bestehen können.
Es können primäre Erkrankungen der Gehirngefäße oder infolge
Arteriosklerose atrophische Vorgänge und Funktionsstörungen in anderen
Körperorganen allein vorhanden sein und dann durch mangelhafte Blut¬
versorgung und Ernährungsstörungen die feinen nervösen Elemente des
Gehirns leiden, so daß bisweilen schwere Funktionsstörungen schon bei
geringen Veränderungen eintreten, es können aber auch die typisch senilen
degenerativen Veränderungen in der Struktur der Hirnrinde und den
Ganglienzellen infolge atheromatöser Degeneration der Himgefäße als
etwas Selbständiges für sich bestehen, ohne daß eine nennenswerte Spur
von Arteriosklerose vorhanden zu sein braucht. Nach Ackermann 7 )
und Bresler •) ist sie bei der genauesten Durchsuchung des Gefäßsystems
von Greisen im Alter von 80 bis 100 Jahren am Sektionstische vermißt
worden, obwohl der Körper sonst alle Zeichen der Seneszenz hatte. Die
physiologische Gefäßinvolution des höheren Alters ist vielmehr als prä¬
disponierendes Moment für die Entwicklung der Arteriosklerose anzu-
') Alzheimer, Über perivaskuläre Gliose. Allg. Ztschr. f. Psych.
1897, Bd. 53, S. 863.
*) Kraepelin, Lehrb. d. Psychiatrie 1910, Bd. 2, S. 593.
3 ) Alzheimer, Neuere Arbeiten über die Dementia senilis und die
auf atheromatöser Gefäßerkrankung basierenden Gehirnkrankheiten.
Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101.
4 ) Buchholz, Uber die Geistesstörungen bei Arteriosklerose und ihre
Beziehungen zu den psychischen Erkrankungen des Seniums. Arch. f.
Psych. 1905, Bd. 39, S. 499.
*) Wille, Die Psychosen des Greisenalters. Allg. Ztschr. f. Psych.
Bd. 30, S. 272.
*) Fürstner, Über die Geistesstörungen des Seniums. Arch. f. Psych.
Bd. 20, S. 458.
’) Ackermann, Dementia senilis, Geistesstörungen des Greisenalters
mit Berücksichtigung ihrer forensischen Bedeutung. Arch. f. Krim.-
Anthropol. Bd. 45, S. 334.
•) Bresler, Greisenalter u. Kriminalität. Jurist.-psych. Grenzfragen
1907, Bd. 5, H. 2 u. 3.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 397
sehen. Spielmeyer 1 ) sagt: „Jede Beschäftigung mit den Psychosen des
Rückbildung» -und Greisenalters muß von dieser Tatsache ausgehen.“
Alzheimer *) nimmt auch eine durch erbliche Anlage erworbene Schwäche
des Zentralnervensystems als ursächliches Moment an.
Schließlich seien noch der ähnlichen Symptome wegen einige
atypische Formen der senilen Demenz erwähnt, die in höherem Alter
Vorkommen und infolge erheblicher Herabsetzung der geistigen Funk¬
tionen wohl auch einmal zu gerichtsärztlicher Bedeutung führen können.
Hierhin gehört die sogenannte Alzheimersche Krankheit (Alz¬
heimer*), Kraepelin*), Schnitzler »)), eine im präsenilen Alter sich rasch
entwickelnde, nicht auf arteriosklerotischer Grundlage beruhende, in
kurzer Zeit zu den tiefsten Graden fortschreitende Verblödung, wobei
von vornherein Andeutungen verschiedenartiger Herdsymptome, beson¬
ders aphasischer und asymbolischer Art sich bemerkbar machen.
In anatomisch-histologischer Beziehung sind die Strukturverände¬
rungen der Hirnrinde viel hochgradiger als sie bei der eigentlichen De¬
mentia senilis gefunden werden.
Ferner wäre hierher zu rechnen nach Pick*) die umschriebene
senile Hirnatrophie — Alzheimers senile Hirnverödung (Kraepelin 1 )),
auf deren Grundlage Herderscheinungen Zustandekommen können. Wahr¬
scheinlich handelt es sich in diesen Fällen um eine Kombination seniler
und arteriosklerotischer Vorgänge, indem vorzugsweise die kleinen, von
der Oberfläche her in die Rinde eintretenden Gefäße befallen werden und
dadurch namentlich ein ganz allmählicher Verschluß eintritt. Es kommt
gewöhnlich weder zu Blutungen noch zu Erweichungen, sondern zu einem
einfachen Schwunde der nervösen Gewebsbestandteile. Herrschen die
Erweichungen vor, so kann es zu dem Bilde des (Hat vermoulu nach Pierre
Marie kommen, wie es Roßbach *) beschrieben hat.
*) Spielmeyer, Die Psychosen des Rückbildung»- und Greisenalters.
AschafTenburgs Handb. der Psych. 5. Abt., 1912.
*) Alzheimer, Neuere Arbeiten über Dementia senilis. Mtschr. f.
Psych. u. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101.
s ) Alzheimer, Über eigenartige Krankheitsfälle des späteren Alters.
Zschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 4, H. 3, S. 356.
4 ) Kraepelin, Lehrb. d. Psychiatrie 1910, Bd. 2, S. 624.
*) Schnitzler, Zur Abgrenzung der sog. Alzheimerschen Krankheit.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig. 1911, Bd. 7, H. 1, S. 34.
•) Pick, Senile Hirnatrophie als Grundlage von Herderscheinungen.
Wien. klin. Wschr. 1901, Nr. 17 u. 46.
7 ) Kraepelin, Lehrb. d. Psychiatrie 1910, Bd. 2, S. 621.
*) Roßbach, Über einen eigenartigen Zerstörungsprozeß der Hirn¬
rinde auf arteriosklerotischer Grundlage. Ztschr. f. d. ges. Psychiatrie u.
Neurol. 1910, Orig. I, S. 92.
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398
Pieszczek,
Nach dieser kurzen Übersicht über die in gerichtlicher Be¬
ziehung möglicherweise in Betracht kommenden senilen geistigen
Erkrankungsformen erscheint es mir am zweckmäßigsten, auf die
Hauptsymptome sowohl der arteriosklerotischen wie der senilen
Störungen, die in ihrer Gesamtheit außerordentlich viele wesens¬
verwandte Züge aufweisen, im allgemeinen näher einzugehen, da
aus ihnen erst der Konflikt mit den Gesetzen begreiflich erscheint.
Allerdings muß man sich von vornherein darüber klar sein, daß
von der den physiologischen körperlichen und geistigen Rückbil-
dungs- und Altersveränderungen eigentümlichen einfachen Ab¬
schwächung der Widerstandsfähigkeit und Spannkraft (Bansch-
burg und Balint 2 )), die an sich noch keine Krankheit bedeutet
(Koch 2 )), bis zu den schwersten Formen der psychischen senilen
Erkrankungen ganz allmähliche Übergänge bestehen, so daß es
oft schwer ist, bei einem Greise, der sich eines Vergehens schuldig
gemacht hat, zu entscheiden, ob derselbe für seine Tat verant¬
wortlich gemacht werden kann oder nicht.
Eines der ersten und frühesten Symptome ist eine gewisse Abnahme
der Arbeits- und Tatkraft, sdwohl in körperlicher als auch besonders in
geistiger Beziehung. Die Kranken ermüden leicht und empfinden ein
starkes Ruhebedürfnis. Gewöhnlichen Anforderungen kommen sie eine
Zeitlang zwar noch mit gesteigerter Anstrengung nach, scheuen jedoch
vor neuen, aus dem Rahmen des Althergebrachten herausfallenden Auf¬
gaben zurück.
Dazu kommt eine Abnahme des Gedächtnisses und der Merkfähig¬
keit. Sie verlernen eventuell gelernte Sprachen, werden besonders ver¬
geßlich für Namen und Zahlen, müssen sich auf diese oft erst lange be¬
sinnen, irren sich leicht, begehen auffallende Flüchtigkeiten und erzählen
wiederholt dieselben Dinge.
Die Aufnahmefähigkeit läßt nach, so daß ihnen die Ereignisse aus
den letzten Monaten und Wochen leicht entfallen, während gerade Er¬
lebnisse und bekannte Tatsachen aus früherer Zeit, ja aus der Jugendzeit
festsitzen und gern immer wieder von neuem in weitschweifiger Breite
und typischer Geschwätzigkeit wiederholt werden, um die geistige Schwäche
und die in ihrem Gedächtnis bestehenden Lücken zu verdecken. So kann
es bei stärkeren Graden Vorkommen, daß die Gegenwart fast spurlos an
*) Banschburg und Balint, Über quantitative und qualitative Ver¬
änderungen geistiger Vorgänge im hohen Greisenalter. Allg. Ztschr. f.
Psych. Bd. 57, S. 689.
*) Koch, Die psychopathischen Minderwertigkeiten. 1891, S. 350.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 399
dem Kranken vorübergeht. Er vergißt, was er gestern und vorgestern
getan hat, findet sich auch schließlich in seiner Umgebung nicht mehr
zurecht, weiß sich auf die Namen alter Bekannter nicht mehr zu be¬
sinnen und verwechselt die Personen seiner Umgebung.
In gleicher Weise mit dem Gedächtnis läßt auch die Aufmerksamkeit
nach, sie überhören und vergessen wichtige Einzelheiten, verlieren in
der Unterhaltung leicht den Zusammenhang und springen auf andere
Dinge über.
In der Ausübung ihrer täglichen Beschäftigung werden solche Per¬
sonen umständlich, kleben an nichtigen Kleinigkeiten, während sie für
wichtigere Fragen kein Interesse haben, werden unzuverlässig, vergessen
Aufträge und Verabredungen, lassen wichtige Angelegenheiten unerledigt,
verlegen häufig notwendige Dinge und können besonders in Geschäfts¬
und Geldangelegenheiten nicht mehr Ordnung halten, so daß sie in den
Verdacht der Unterschlagung und Veruntreuung geraten.
Es ist jedoch dabei bemerkenswert, daß ein großer Teil des geistigen
Besitzes zuerst noch nicht verloren geht, sondern nur mangelhaft beherrscht
wird. Man sieht daher nicht selten, daß die Kranken, die zeitweise schon
erheblich geistesschwach erscheinen, ein andermal überraschende Leistun¬
gen zustande bringen, wie überhaupt der oft schnelle Wechsel zwischen
guten und schlechten Tagen für den senilen in geistigem Rückgang Be¬
griffenen charakteristisch ist.
Auch ist die Einbuße gewöhnlich eine ungleichmäßige, manche
Gebiete des Seelenlebens können noch leidlich erhalten sein, während
sich auf anderen schon sehr schwere Störungen geltend machen. Endlich
können die bei Apoplektikern sich vielfach einmischenden aphasischen
Störungen den Grad der geistigen Schwäche unter Umständen erheblich
höher erscheinen lassen, als er in Wirklichkeit ist.
Der geistige Defekt ist gewöhnlich um so auffälliger, je höher die
geistige Entwicklung früher war.
Die Kranken werden unfähig, neue Gesichtspunkte zu gewinnen.
Die altgewohnten Gedankenreihen und erstarrten Vorstellungsverbindun-
gen erhalten sich zwar noch in stetem Kreisläufe und kehren bei jeder
Gelegenheit ohne Rücksicht auf den Zusammenhang wieder, sind aber
keiner weiteren Entwicklung mehr fähig, keiner Anregung von außen
mehr zugänglich. Daraus erklärt sich der völlige Mangel an Verständnis
für fremde Anschauungen und Verhältnisse und der störrische Eigensinn,
mit dem das Althergebrachte festgehalten wird.
Die Bildung selbständiger Urteile, die kritische Würdigung der
auftauchenden Gedankenvorstellungen wird fortschreitend ungenügender
und unsicherer. In den schwersten Fällen beurteilen früher ganz intelli¬
gente Leute die an sie herantretenden Lebensfragen in einer ganz kindi¬
schen Weise und werden schließlich völlig unfähig, auch nur die einfachsten
Verhältnisse richtig zu würdigen. So entwickelt sich neben der Unbelehr-
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400
Pieszczek,
barkeit und Starrköpfigkeit die Leichtgläubigkeit und die leichte Be¬
einflußbarkeit durch andere Personen, die vielfach alte Leute auf raffi¬
nierte Weise auszunutzen verstehen.
Im allgemeinen ist jedoch die Urteilsschwäche, wie Ziehen 1 ) her¬
vorhebt, nicht so stark beeinträchtigt, wie bei der Dementia paralytica.
Die Stimmung der senil Erkrankten ist häufig niedergeschlagen
(Weber *)), stumpf, teilnahmlos. Bisweilen stellen sich ausgesprochene
Depressionszustände ein (Gaupp 3 )), der Kranke äußert Lebensüberdruß,
Selbstmordgedanken und allerlei Wahnideen, teils hypochondrischen
Inhalts, die sich mit Vorgängen im eigenen Körper beschäftigen, teils
Verfolgungsideen, die oft auf die Ehefrau oder andere nächste Verwandte
bezogen werden. Nicht selten ist der Kranke aber auch reizbar, mi߬
trauisch und ärgerlich, zuweilen läppisch, euphorisch und redselig, wie
ja der Wechsel der Stimmung, besonders für den Arteriosklerotiker, cha¬
rakteristisch ist. Die tieferen Gefühlsbeziehungen des Kranken zu ihren
Angehörigen und den Vorgängen in ihrer Umgebung zeigen immer eine
bedeutende Abschwächung. Sie bleiben bei Todesfällen oder ähnlichen
Schicksalsschlägen stumpf, teilnahmlos, kümmern sich nicht um ihre
Angelegenheiten, äußern keine Wünsche oder Hoffnungen.
Die tägliche Beschäftigung wird dem Kranken gleichgültig, so daß
er schließlich gar nichts mehr tut, stumpf dahinlebt oder nur auf die Be¬
friedigung der persönlichen Bedürfnisse und seiner Launen bedacht ist.
Er wird rücksichtslos, ungeduldig, mürrisch, eigenwillig, rechthaberisch
und fühlt sich durch jeden Widerspruch gereizt und beleidigt. Vielfach
zeigt sich ein sinnloser Geiz, die Neigung, Geld zusammenzuscharren,
ohne irgendwelche Möglichkeit der Verwendung zu haben, bisweilen auch
die Furcht, zu verarmen, Gedanken, die häufig ganz besonders vorherr¬
schend sind und zu ausgesprochenen Wahnideen werden können. Diese
tragen häufig etwas Inkohärentes an sich, es kann sich aber nach einer
Hirnblutung auch einmal eine chronische Paranoia entwickeln, wofür
Möller 4 ) einen Fall Ziehens, erwähnt. Gewöhnlich sind die Wahnideen
mit Halluzinationen verbunden, und es bieten solche Kranke dann das
Bild der halluzinatorischen Verrücktheit, wie Mendel *) und Kreyher •)
solche Fälle beschrieben haben.
') Ziehen, Lehrb. d. Psychiatrie 1902, 2. Aufl.
*) Weber, Arteriosklerotische Verstimmungszustände. Münch, med.
Wschr. 1909, S. 1524.
*) Gaupp, Die Depressionszustände des höheren Lebensalters. Münch,
med. Wschr. 1905, S. 1531.
4 ) Moeller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre gerichts¬
ärztliche Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, 3. Folge, Bd. 42, S. 290.
*) Mendel, Über psychische Störungen nach Hirnhämorrhagie.
D. med. Wschr. 1882, S. 49.
•) Kreyher, Ein Fall von sensorischer Aphasie mit Ausgang in hal¬
luzinatorische Paranoia. Diss. Berlin 1906.
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Die gerichteärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 401
Kogge 1 ) behandelt einen Fall, in dem nach einem apoplektischen In¬
sult bei einem arteriosklerotischen Trinker vorübergehender Verwirrtheits¬
zustand auftrat, von dem dauernde sensorische Aphasie und arteriosklero¬
tische Neurasthenie zurückblieb.
Auch Größenideen kommen bei Apoplektikern vor.
Nach Schlaganfällen von mehr oder minder größerer Ausdehnung
kommt es vielfach zu Trübungen des Bewußtseins, zeitweise zu deliranter
Benommenheit und Verwirrtheit mit Ausgang in Verblödung. Die Kranken
sind unklar, verkennen die Personen, selbst ihre nächsten Angehörigen,
reden verwirrt, Anden sich nicht zurecht, irren planlos umher und machen
allerlei verkehrte Sachen. Dieselbe Verwirrtheit und Unruhe Andet sich
bei den senil Dementen ( Zingerle *) 3 ) 4 )), bei denen sie besonders nachts
gesteigert ist. Unter dem Eindrücke von sehr lebhaften Halluzinationen
ängstlich-schreckhafter Natur können solche Kranke in eine äußerst
hochgradige Erregung geraten, wobei sie meist glauben, verfolgt oder
umgebracht zu werden, sich in ihrerWohnung einschließen und an Fa¬
milienangehörigen in diesem Zustande die gräßlichsten Verbrechen be¬
gehen können.
Nach Ansicht Kraepelins *) und Alzheimers *) dürften in diesem
Falle wahrscheinlich besondere Äußerungen der senilen Hirnentartung
vorliegen. Auch Mendel bezeichnet diese mehr akute Form als Delirium
hallucinatorium der Greise und betont ihre ungünstige Prognose.
Entwickelt sich der senile Verfolgungswahn allmählich, so werden
die Kranken gegen jedermann mißtrauisch, glauben, daß die Nachbarn
sie auf jede Weise schikanieren und betrügen. Man läßt Besuche nicht
zu ihnen, sucht sie geschäftlich zu benachteiligen, dringt in ihre Wohnungen,
stiehlt ihnen Geld und andere Sachen. Vielfach zeigt das Mißtrauen
sexuell gefärbten Inhalt, sie bezichtigen die Frau des Ehebruchs,
verdächtigen ihre Töchter, daß sie sich mit Männern umhertreiben. Siege¬
raten mit aller Welt in Streit, zanken und schimpfen in gemeinster Weise,
bedrohen ihre Angehörigen und die Umgebung und werden schließlich
zu solchen Tyrannen, daß ein weiteres Verbleiben in der Häuslichkeit
ausgeschlossen ist.
*) Kogge , Über sensorische Aphasie und Geistesstörung bei Arterio¬
sklerose. Diss. Kiel 1911.
*) Zingerle , Die Geistesstörungen im Greisenalter. Jahrb. f. Psych.
u. Neurol. 1899, Bd. 18, S. 256, 309, 311.
*) Derselbe, Die Geistesstörungen des Greisenalters. Dittrichs Handb.
d. ärztl. Sachv.-Tätigkeit 1910, Bd. 9, S. 609.
4 ) Derselbe, Die Geistesstörungen auf arter. Grundlage. Dittrichs
Handb. der ärztl. Sach v.-Tätigkeit Bd. 9, 2. Lief., 1910, S. 622.
‘) Kraepelin, Lehrb. d. Psych. 1910, 8. Aufl., Bd. 2.
•) Alzheimer, Neuere Arbeiten über die Dem. senilis. Mtschr. f.
Psych. ü. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101.
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402
Piesiczek,
Andere Kranke werden einfach kindisch nnd verblöden allmählich,
bleiben aber ruhig und freundlich. Diese können oft insofern für die
Öffentlichkeit gemeingefährlich werden, als bei den Männern in typischer
Weise trotz des Nachlassens aller körperlichen Funktionen eine erhebliche
Steigerung der geschlechtlichen Erregbarkeit eintreten kann. Sie putzen
sich für andere, wollen sich scheiden lassen, führen schamlose zotige
Redensarten, suchen Liebesabenteuer mit zweifelhaften Frauenzimmern,
exhibitionieren, masturbieren und machen sich vor allem an Kinder und
junge Mädchen heran, um mit ihnen unzüchtige Handlungen zu verüben.
Oft spielt auch hierbei eine jetzt erst aufgetretene Vorliebe für Alkohol
eine gewisse Rolle, obwohl sie in dem Alter sehr wenig vertragen. Alle
diese Neigungen führen auch häufig zur Ausbeutung durch Prostituierte,
Glücksritter und eventuell zu bedenklichen Eheschließungen.
Es sind ferner zu erwähnen die besonders bei Arteriosklerotikern
nach Schlaganfällen vorkommenden Störungen der Sprache und der
Schrift.
Die Sprachstörungen sind meist die einer motorischen, seltener
sensorischen Aphasie, am häufigsten Mischformen. Daneben bestehen
vielfach noch artikulatorische Störungen. Das für die Dementia para-
lytica charakteristische Silbenstolpern habe ich bei einem Arteriosklero-
tiker ziemlich ausgesprochen beobachtet. Möller 1 ) erwähnt ebenfalls in
dieser Beziehung zwei Apoplektiker.
Nach Wer nicke *) findet sich das Zeichen in der Mehrzahl der Fälle,
die eine motorische Aphasie, wenn auch nur als ein indirektes passageres
Herdsymptom der linken Hemisphäre überstanden haben, doch ist es
selten so charakteristisch wie bei der Dementia paralytica.
Die Sprache selbst ähnelt vielfach der der Apoplektiker.
Den Schriftstörungen, die Kraepelin in seinem Lehrbuch ausführlich
bespricht, kann, besonders bei den arteriosklerotischen Geistesstörungen,
insofern eine große Bedeutung zukommen, als sie bei späteren strittigen
gerichtlichen Angelegenheiten, besonders wenn der Betreffende inzwischen
schon verstorben ist, bei Prüfung der hinterlassenen Schriftstücke oder
Geschäftsbücher uns wichtige Aufschlüsse geben können. Abgesehen da¬
von, daß man die Leere und die Lückenhaftigkeit der Gedanken erkennen
kann, finden sich vielfach Wiederholungen, Auslassungen oder Neubil¬
dungen von Worten oder Buchstaben, also ausgesprochene paragraphi¬
sche Störungen. Dazu gesellen sich die der Ataxie, namentlich die Un¬
regelmäßigkeiten in Größe und Richtung der einzelnen Buchstaben und
*) Moeller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre gerichts¬
ärztliche Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, 3. Folge, Bd. 42, S. 290.
*) Wernicke, Der aphasische Symptomenkomplex. Deutsche Klinik
am Eingang des 20. Jahrh. 1906, Bd. 4, 1. Abt., S. 487.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 403
Striche, die zittrige Unsicherheit mit schwankender Abweichung von der
geraden Linie und die zunehmende Undeutlichkeit der Schriftzüge
gegen den Schluß, was als Zeichen rascher Ermüdbarkeit gilt ( Güntz *)).
Was nun die anatomischen Veränderungen betrifft, die bei den se¬
nilen psychischen Erkrankungen nach dem Tode wohl einmal zur nach¬
träglichen Beurteilung des Grades der geistigen Erkrankung von Wert
sein können, so Anden wir bei den schwereren Fällen der Dementia se¬
nilis eine deutliche Verringerung des Hirngewichts. Allgemein wird
sie auf ca. 100—200 g gegenüber dem Normalgewicht des Gehirns kräftiger,
gesunder Personen angenommen. Fankhauser *) fand gegenüber den Ge¬
hirnen geistig gesunder alter Leute eine durchschnittliche Abnahme um
64 g, bei Männern etwas mehr. Das Hirnvolumen nimmt ab, die Ven¬
trikel sind erweitert, die Rinde ist überall verschmälert, am meisten im
Stirnhirn. Die weichen Hirnhäute sind verdickt und getrübt, die harte
Hirnhaut ist stellenweise mit dem knöchernen Schädeldach verwachsen.
Mikroskopisch Anden wir nach Campbell 3 4 ) und Simchotvic * z 1 ) die Ober¬
flächenschicht der Hirnrinde faserig und das Fasernetz so dicht und derbe
wie bei manchen Fällen progressiver Paralyse. An der Oberfläche der
Hirnrinde Anden sich zahlreiche Corpora amylacea, besonders zahlreich
liegen sie an der äußeren Markschicht des Ammonshorns. Ferner ist das
Vorkommen einer Anzahl von Spinnenzellen in der ersten Schicht ein
fast charakteristisches Zeichen der senilen Demenz, besonders zahlreich
Anden sie sich in den Windungstälern. Der Zelleib ist klein, die Fort¬
sätze sind zart. Campbell hebt hervor, daß diese Spinnenzellen sehr we¬
sentlich von den großen saftreichen Spinnenzellen abweichen, wie sie
sich an der gleichen Stelle bei der Paralyse und dem Alkoholismus Anden.
Die erste Zellage der Rinde ist gewöhnlich an Tiefe verringert. Eine
ausgebreitete Degeneration der Ganglienzellen ist stets zu beobachten;
man flndet Zellen in allen Stadien des Untergangs. Die typische Zellen¬
veränderung ist die pigmentartige Degeneration. Man kann Zellen Anden,
deren Protoplasma völlig durch Pigment ersetzt ist, formlose Häufchen
von Pigment, im Gewebe zerstreut, bezeichnen die letzten Reste der pig-
mentär entarteten und zerfallenen Zellen. Eine Zunahme der Kerne der
Neuroglia ist häuflg.
Die perivaskulären Räume sind meist dilatiert bis zystisch erwei¬
tert und enthalten oft klumpiges Pigment, faserige und zellige Bestand¬
teile, Körnchenzellen und Detritus. Die Blutgefäße erscheinen oft an
die Wand dieser Höhlung gedrängt.
l ) Guentz, Der Geisteskranke in seinen Schriften. Leipzig 1861.
*) Fankhauser zit. bei Kraepelin, Lehrb. d. Psych., I. Teil, S. 615.
*) Campbell zit. bei Alzheimer, Neuere Arbeiten über die Dem. sen.
4 ) Simchowicz , Histologische Studien über die senile Demenz. Nißl-
Alzheimers histol. Arbeiten 1911, 4. Bd., S. 267.
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404
Pieszezek.
Bei der arteriosklerotischen Gehirndegeneration, bei der ebenfalls
eine Gewichtsabnahme and Erweiterung der Ventrikel stattfindet, sind
die Gefäßlücken allgemein erheblich verbreitert. In der nächsten Um¬
gebung der Gefäße ist schon makroskopisch an vielen Stellen der Rinde
und des Markes die Hirnsubstanz hellgrau bis braunrot gefärbt und leicht
eingesunken, besonders im Gebiete der Stammganglien und der inneren
Kapsel, die Rinde ist blaßgrau verwaschen, wenig verschmälert.
Mikroskopisch finden sich oft die dem Senium eigenen pigmen-
tüsen Zellentartungen und Gefäßveränderungen, wenn auch nicht so
hochgradig, überall verbreitet. Als Mittelpunkt der herdförmigen Ver¬
änderungen finden sich im Mark wie in der Rinde atheromatös entartete
Gefäße, die oft vielfach geschlängelt in den weiten Gefäßlücken verlaufen,
in welchen Körnchenzellen, lymphoide Elemente, scholliges und kri¬
stallinisches Blutpigment angehäuft sind. In der Umgebung finden sich
erhebliche Verdichtungen der Glia und Spinnenzellenanhäufungen. In
dem Gebiete solcher schwer erkrankten Gefäße läßt sich dann ein Aus¬
fall zahlreicher Ganglienzellen oder schwere Entartung derselben in Form
der pigmentösen Degeneration, der Sklerose und Verkalkung nachweisen.
Die Gliakerne erscheinen vermehrt, zahlreiche Spinnenzellen liegen in
den Erkrankungsherden in der Rinde verbreitet.
Nimmt die Gliawucherung an einzelnen Stellen der Rinde über¬
hand, so handelt es sich mehr um das Bild der mit Herderscheinungen
verbundenen Alzheimerschen perivaskulären Gliose. Bei der Dementia
apoplectica endlich handelt es sich ebenfalls um Veränderungen in der
Hirnrinde und zwar auch in der nicht von der Blutung betroffenen He¬
misphäre, die denen bei der Dementia senilis außerordentlich ähnlich sind.
Nachdem wir die mannigfaltigen klinischen Symptome der
senilen psychischen Erkrankungen und die ihnen zugrunde lie¬
genden anatomisch-histologischen Veränderungen kennen gelernt
haben, ist es von Interesse, sich mit der Frage zu beschäftigen,
auf welche Art und in welchem Umfange die unter solchen Er¬
scheinungen erkrankten Greise mit dem Gericht in Konflikt geraten
können. Die Möglichkeit einzelner Vergehen wurde schon bei der
Schilderung der Symptome erwähnt.
Da die Empfindungen und Gefühle eine Abschwächung, die Vor¬
stellungen und die Auffassungsgabe eine Verlangsamung erfahren, wird
der Greis aus dem Gefühle der eigenen körperlichen und geistigen Hin¬
fälligkeit verstimmt, griesgrämig, kleinlich, zanksüchtig, während er
schon sowieso zu Depressionszuständen neigt. Vor allem wird er auf
ethischem Gebiete weniger widerstandsfähig. Greise, die als Männer immer
den geraden Weg durchs Leben gegangen sind, finden an Ränkesucht
und hinterlistigen Intrigen Gefallen. Vor allem ist auch die Willenskraft
und die Kraft der beim normalen Menschen vorhandenen natürlichen
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Die gericbt8ärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 406
Hemmungen bedeutend herabgesetzt. Mit Kraus 1 ) kann man alle diese
pathologischen Züge als stark ausgeprägte reizbare Schwäche zusammen¬
fassen, die den Greis dazu führen kann, zum Verbrecher zu werden.
Da die Abstumpfung der ethischen und intellektuellen Gefühle und
Vorstellungen ihn hindern, an geistigen Genüssen in bisheriger Weise
teilzunehmen, so sind es die sinnlichen Genüsse als die gröberen, die für
ihn noch am längsten Reiz besitzen.
Deshalb sind es auch in erster Linie die Verbrechen gegen die
Sittlichkeit (St.-G.-B. § 176, 3, seltener 5 183), die den Greis, und
zwar den männlichen, strafbar werden lassen ( Wulffin *), Kaüfmcnn *)).
Weitgehende Veränderungen des Charakters in ethischer und äs¬
thetischer Beziehung müssen vorausgegangen sein, wenn ein bis dahin
unbescholtener Greis ein Sittlichkeitsverbrechen begeht, selbst wenn er
sonst noch einen geordneten Eindruck macht. Bresler*) sagt: »Die sexu¬
elle Perversion und ethische Depravation kann jahrelang dem Verfall
der Intelligenz vorausgehen.«
Auch v. Krafft-Ebing*) vertritt diese Ansicht.
Aschaffenburg• ) erklärt, ihm sei noch kein geistig Gesunder be¬
gegnet, der in einem Alter von über 70 Jahren ein Sittlichkeitsverbrechen
begangen habe.
Er fand ferner ? ) von 200 verurteilten Sittlichkeitsverbrechen 12
an seniler Demenz Erkrankte. Er schließt daraus, daß es sich bei diesen
Verbrechern mit seltenen Ausnahmen um eine krankhafte Erscheinung
handelt, die, bevor es noch zu nachweisbaren intellektuellen und Ge¬
dächtnisstörungen kommt, zu Konflikten mit dem Strafgesetzbuch führt.
Bonhoeffer •) •) fand eine Steigerung der Sittlichkeitsdelikte im
Alter, unter 100 Sittlichkeitsverbrechern 10 an Arteriosklerose Leidende.
Von zahlreichen Autoren, die sich mit den psychischen Erkrankun¬
gen im Senium und deren gerichtsärztlicher Bedeutung beschäftigt haben,
ist einstimmig nachgewiesen worden, daß gewisse Arten von Verbrechen,
wie die Sittlichkeitsverbrechen, im Greisenalter auffallend häufig be¬
gangen werden, zum mindesten nicht in dem Maße abnehmen wie bei
anderen Deliktskategorien.
‘) Kraus, zit. bei Wulffen, Psychologie des Verbrechens Bd. 2.
*) Wulff en, Psychologie des Verbrechens Bd. 2.
3 ) Kauffmann, Psychologie des Verbrechens. Berlin 1912.
<) Bresler, Greisenalter und Kriminalität. Jurist.-psych. Grenz¬
fragen 1907, Bd. 5, H. 2/3.
•) v. Krafft-Ebing, Lehrb. d. ger. Psychopathol. 1900, 3. Aufl.
*) Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Heidelberg
1903.
T ) Derselbe, Mtschr. f. Krim.-Psychol., 2. Jahrg., S. 399.
•) Bonhoeffer zit. bei Wulff en, Psychologie. Psych. d. Verbr. Bd. 2.
•) Derselbe, Sittlichkeitsdelikte und Körperverletzung. Mtschr. f.
Kriminalpsychol. II, S. 465.
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406
Pieszczek,
Während nach Aschaffenburg 1 ) die Zahl der schweren Diebstähle
von dem Höhepunkt zwischen 18—21 Jahren in der Altersstufe über
70 Jahren auf den 150. Teil zurückgeht, erreichen die Verurteilungen
wegen Unzucht und Notzucht in diesem Alter den vierten Teil der Be¬
strafungen junger Männer im kräftigsten Mannesalter.
Ähnliche Erfahrungen über die Häufigkeit der Sexualdelikte be¬
richten Kirn*) 3 ), Le grand du Saulle *), v. Krafft-Ebing *)•) und Kreu-
ser'’). Leppmann *) erwähnt das Ergebnis einer französischen Statistik
(Thoinot), daß bei Personen über 60 Jahren 212 kriminelle Sittlichkeits¬
verbrecher auf eine Million Gleichaltriger kommen, während für die Ge¬
samtheit der übrigen kriminell möglichen Altersstufen die Zahl nur 175
beträgt.
Ganz in Übereinstimmung mit Aschaffenburg kommt auch Bresler *)
zu dem Ergebnis, daß bei Unzuchtvergehen die Verurteilungen nicht in
der Weise abnehmen wie bei den anderen Deliktskategorien.
Hübner ,0 ) entnimmt aus der Reichskriminalstatistik, Jahrgang 1905,
daß für Männer im Alter von 60—70 Jahren der Durchschnitt der Be¬
teiligung an sämtlichen Verbrechen und Vergehen 1,9 % beträgt, für
Unzucht und Notzucht dagegen 5,0 %, für Blutschande und Kuppelei
2,6 %, für Erregung öffentlichen Ärgernisses 2,0 %.
Nach Zingerle 11 ), der am Landgericht in Graz Überblick über ein
großes Material hatte, machen die männlichen Verurteilungen über 60
Jahre im Jahre 1907 9 % aller wegen Unzuchtverbrechen in den ver¬
schiedenen Altersklassen erfolgten Verurteilungen aus, und von allen ver¬
urteilten Männern über 60 Jahre sind 17,8 % Sittlichkeitsverbrecher.
‘) Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Heidel¬
berg 1903.
*) Kirn, Dementiasenilis. Handb. d. ger. Med. v. Maschka, 1882,
Bd. 4, S. 364.
3 ) Derselbe, Über die klin.-forens. Bedeutung des perversen Sexual¬
triebes. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 39, S. 216.
4 ) Le grand du Saulle zit. bei Moeller, Les apoplectiques. Leur ötat
mental, leur degrö de responsibilitö civile. Gaz. des höpit. 1881.
°) v. Krafft-Ebing, Lehrb. d- ger. Psychologie, 1900, 3. Aufl.
®) Derselbe, Psychopathie sexualis. 12. Aufl., S. 393.
7 ) Kreuser, Geisteskrankheiten u. Verbrechen. Grenzfragen d.
Nerven- u. Seelenlebens, 1907, H. 51, S. 35, 37.
8 ) A. Leppmann, Greisenalter u. Kriminalität. Z. f. Psychothe¬
rapie u. med. PsychoL 1909, Bd. 1, H. 4, S. 212.
*) Bresler, Greisenalter u. Kriminalität. Jur.-psych. Grenzfragen
1907, Bd. 5, H. 2/3.
,# ) Hübner, Lehrb. d. for. Psych. 1914.
11 ) Zingerle, Über das Greisenalter in forens. Beziehung. Arch. f.
Kriminalanthrop. Bd. 40.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 407
Für 1900 sind die analogen Zahlen 7,6 und 16,1 %, für 1904 8,6 und 15,2 %.
Dabei zeigt sich eine andere auffallende Tatsache, nämlich die Zunahme
der nicht Vorbestraften im Greisenalter. Die Zunahme dieser unter den
Verurteilten beginnt schon im Alter von 50—60 Jahren, und es wird ihre
Zahl über 60 Jahre nahezu wieder so groß wie im Alter von 25—30 Jahren.
Auch nach Bresler 1 ) steigt in der Tabelle über das Jahr 1907 die
Zahl der Nichtvorbestraften von ihrem niederen Stand von 46 % im
Alter von 30—40 Jahren allmählich auf 67 % im Alter von 70 Jahren
und darüber. Feisenberger *) fand in der Statistik über das Jahr 1895
sogar 73,2 %, Leppmann berechnete für das Jahr 1905 63,21 % Nicht-
vorbestrafter.
An der Vermehrung der Zahl der Nichtvorbestraften bei Greisen-
verbrechen überhaupt hat sicherlich diese Deliktskategorie einen wesent¬
lichen Einfluß. Der Prozentsatz Nichtvorbestrafter unter den senilen
SittlichkeitsVerbrechern ist besonders vermehrt. Auch Kirn hebt hervor,
daß man gerade unter diesen vielfach Greise von unangetasteter Ver¬
gangenheit und gutem Leumund trifft. Unter 303 Fällen Aschaffenburgs
im Alter von 70 Jahren und mehr waren 216 niemals vorbestraft. Über
ähnliche Verhältnisse berichtet auch Bresler.
Gerade in diesen Fällen weist das Ausschalten aller Lebenserfahrun¬
gen und das Sistiseren aller Hemmungen bei Leuten, welche bis in ihr
hohes Alter niemals zu kriminellen Handlungen neigten, darauf hin,
welche unheilvolle Rolle hierbei die seelische Veränderung spielt.
Einen weiteren Hinweis darauf ergibt vielfach auch die Art der
Ausführung, die oft einen Mangel an primitivster Vorsicht und Überle¬
gung offenbart, das Verhältnis zu äußeren Anlässen und die Motivierung.
Es fehlt, wie Aschaffenburg hervorhebt, das Zielbewußtsein. Das ganze
Handeln erklärt sich aus der infolge der senilen Demenz geschwächten
Ethik, der Gedächtnisschwäche und nach v. Krafft-Ebing aus der infolge
der pathologisch-anatomischen Veränderungen im Gehirn wieder er¬
wachten und abnorm starken Libido.
Die Sittlichkeitsverbrechen werden meist so ausgeführt, daß der
Greis die Mädchen unter 14 Jahren bei irgendeiner Gelegenheit unter
Versprechung von Süßigkeiten, einer geringen Geldsumme oder einer
anderen Gefälligkeit an sich lockt oder sich beim Spiel zu ihnen gesellt,
sie liebkost, ihnen unter die Röcke greift und an ihren Geschlechtsteilen
herumspielt, wohl auch den Finger in die Scheide einführt (§ 176, 3 St.-
G.-B.). Bisweilen zieht er auch sein erigiertes Glied hervor (§ 83 Ex¬
hibition), läßt es von dem Mädchen betasten (Manustupration des Ver¬
führers) oder versucht auch mit dem Kinde beischlafähnliche Handlun¬
gen, zu einem richtig ausgeführten Koitus kommt es bei der geschwächten
Potenz der Greise meist nicht.
') Bresler, Geisteskrankheit u. Kriminalität. Jur.-psych. Grenzfragen.
*) Feisenberger, Einfluß des Greisenalters auf die Kriminalität.
Mitt. der internat. kriminal. Verg» ’ng 1900.
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408
Pieszczek,
Über diesbezügliche Fälle haben u. a. berichtet Geill 1 ), Göring 2 ),
Hübner 9 ), v. Kraffl-Ebing *), Leppmann ®), Sei ff er 6 ), Schmidtmann 7 ),
Schuchardt *), Ungewitter *)» Wickel lü ).
Ein Fall ist auch an der hiesigen Anstalt früher zur Begutachtung
gekommen. Auch hat man Onanisierung, Flagellation der Opfer, auch
homosexuelle Neigungen, manuelle Masturbation und Sodomie bei Grei¬
sen beobachtet.
Unter dem weiblichen Geschlecht finden sich typische senile Sitt-
lichkeitsVerbrecherinnen überhaupt nicht.
Was die Motivierung der Tat anbetrifft, so wird meist der sexuelle
Grund des Delikts geleugnet, oder es wird von den Greisen als Entschul¬
digung angegeben, daß sie infolge der Erregung nicht gewußt hätten,
was sie täten, oder auch unter Einwirkung von Alkohol gestanden hätten
oder von den Mädchen selbst dazu animiert wären, ja, sie gaben bis¬
weilen in naiver Weise an, sie wollten die Rechtschaffenheit der Mädchen
einmal auf die Probe stellen, ob sie wirklich noch so unverdorben wären.
Die unheilvolle Wirkung des Alkoholgenusses muß zugegeben werden,
da einerseits im Alter die Neigung zu vermehrtem Alkoholgenuß sich
einstellt, dieser aber andererseits schlechter vertragen wird und rascher
zur Berauschung führt als früher.
Die landläufige Erklärung, der Greis suche, da er mit seiner ge¬
schwächten Körperkraft den Widerstand Erwachsener nicht zu über¬
winden vermag, sich an Kindern zu vergreifen, hält Aschaffenburg nicht
für die richtige, auch er ist mehr der Ansicht v. Krafft-Ebings, daß die
Impotenz die Ursache sei, da der sexuellen Begierde nicht die Fähigkeit
parallel gehe, nun auch den Beischlaf auszuüben.
*) Geill, Mtschr. f. Krimin. -Psychol. 4. Jahrg., S. 350.
*) Göring, Zur Begutachtung geisteskranker Sittlichkeitsverbrecher.
Diss. Bonn 1908. Fall 83, 84. s
3 ) Hübner, Lehrb. d. for. Psych. 1914.
4 ) v. Krafft-Ebing, Lehrb. d. ger. Psychopath. 1900, 3. AufL Psycho-
pathia sex. 12. Aufl.
5 ) Leppmann, Die Sittlichkeitsverbrecher. Vjschr. f. ger. Med. 1905,
3. Folge, 29. Bd., 40. Bd.
6 ) Seiffer, Über Exhibitionismus. Arch. f. Psych. 1899, Bd. 31,
S. 405.
7 ) Schmidtmann, Handb. d. ger. Med. 1906, 9. Aufl. Dementia
senilis S. 354.
*) Schuchardt, Ztschr. f. Medizinalbeamte 1890, H. 6.
*) Ungewitter, Sexuelle Verfehlungen im Greisenalter. Arch. f.
Ivrim.-Anthropol. 1909, Bd. 32, S. 346.
,0 ) Wickel, Sittlichkeitsverbrechen und Geisteskrankheit. Vjschr. f.
ger. Med. 1903, 3. Folge, Bd. 26, S. 67.
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Die gerichisärztliche Bedeutüag: d«r «ötßlen psychischen Erkrankungen, 409
Biräkr■ '.^rselteiöidog- aufgecieekt, die in xlh^ni Zusammen -
WlGh|ig!k<>ii. hjäJt. Är*vfcr ist littnilioh auf
• llrund zu dem fleiMittat gofcffltrfriitüi, «iaö die Nfd-
gurig alter MäiirivP. sieh nns jungen Frauen zu verheiraten, '.mit tiöh^ri-iu
Alter Jahre# sdfolösseit S?hen Half. Mädchen unter 20
Jahren »*• Alter von 40 bis 50 Jahren: 73 bis Hb. im Äffer von 50 ins 60
Jahren: 33.6 'bis >tt. >w Alfer von 60 bis 70 Jahren: 269 t»ps .4K7 Männer,
ich möchte diese Nachweise '"Btesters ade# mehr lijitersfreu h;'it tfiui mit
Zingcrie und ahtdfvh der teppmanns cln n Auffassung nt»df»e persönlich''
Ansicht dahm Äußern. .Maß wir in dfrser'‘Tatsache wahr# hcinlich den
SchltissOi »iw- m suchen
.'die iö de« SttÜJfihkeif^varbroChön zutage- tretende VöW»‘b*y di* t*SJ«iifo,
zu dem un».*.h«l*:Hg»?n yijik-rijhrteii Kinde, spezien Msddie/i. die Vieh nach
v- ßeosfer Ach'iii .seit deä vierziger Jahre» verstärkt zir eriiehneh gibt, tyr
derf Äbschiedsgruß äh die Jugehdjkra/t., ftir das fetzte; AnktamföArii arj
das Irisch»* pulsiere mb* Leben; da* den* < *mse Gelbst, der. eine rnnrsche
Kuine-darsielli. v-öUsfeasdlg zu entgleiiein droht •‘•Da er atts soridlerrwhhJe
korperliieht/i rtiifkskhien viellach nicht mehr imstande ist. eine heue
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Durrchbrefhurig aller suiialCu und siüiicbeB ftchrmiketi; die Irisehen, von»
Lcfet». noch nicht berührter) .'.Kinder au«. 4 Diesen Rf-gungvn ■kann d'v
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i^yiRsrS öfS
410
Pieszczek,
Der etwas krassen Anschauung von Kaufmann, Wulffen und
Tardieu *), die die senilen Sittlichkeitsverbrecher als Wüstlinge hinstellen
und von einer Art erotischen Deliriums und einer greisenhaften Schwä¬
chung sprechen, die in den erloschenen Geistern nichts anderes als aus¬
schweifende Leidenschaften am Leben läßt, kann ich nicht ganz bei¬
pflichten, obwohl sicher recht abstoßende Beispiele hierfür Vorkommen.
Hierbei scheint mir mehr der strafrechtliche als der ärztlich-psychiatrische
Standpunkt betont zu sein.
Auch Kirn hält die Greise, die an Kindern Unzucht treiben, we¬
nigstens der Mehrzahl nach, nicht für sexuelle Wollüstlinge, die schon
alles ausgekostet haben, sondern findet in ihnen in der Regel Leute, deren
frühere sittliche Vergangenheit nicht angetastet werden kann und die —
das sei besonders wichtig — häufig Männer seien, deren natürlicher Ge¬
schlechtstrieb seit Jahren, vielleicht schon seit Jahrzehnten geschwiegen
hatte, die jetzt, wie man sagt, ins „gefährliche Alter“ geraten waren.
Dafür findet man aber bei näherer Untersuchung die bereits erwähnten
ethischen und moralischen Defekte bei psychischer Veränderung. Kirn
selbst führt einige Fälle dafür an.
Brandstiftung. — Das Vergehen der fahrlässigen Brandstiftung
bei Personen über 60 Jahren ist recht häufig.und erklärlich durch die
Fahrigkeit, Verwirrtheit und nächtliche Unruhe der senilen Personen.
Zingerle berechnet für 1907 1,3 % für senile Männer, 1,4 % für
senile Frauen, für 1906 1,2 % für senile Männer.
Hübner 3,3 % für Männer, 6,0 % für Frauen.
Die Fälle, in denen senil erkrankte Personen in die Anstalt gebracht
werden, weil sie in fahrlässiger gefährlicher Weise mit Licht umgehen,
sind gar nicht selten.
Diebstahl. — Eine weitere Abart von Vergehen, die den Greisen
zur Last gelegt werden, sind Diebstähle, weniger die schweren, mit Raf¬
finement, als die einfachen mit auffälliger Sorglosigkeit und Unvorsichtig¬
keit begangenen, bei denen ihnen oft ungeeignete wertlose Dinge mehr
zufällig in die Hände geraten.
Nach Zingerle beginnt die Zahl der Delikte schon im Alter von
40 bis 50 Jahren abzunehmen und beträgt schließlich bei Männern über
60 Jahren 1907 nunmehr noch den 13. Teil der Zahl der Diebstahlver¬
brechen im Alter von 30 bis 40 Jahren. Es finden sich unter den wegen
Diebstahls verurteilten Verbrechern 1,2 % (1907), 0,9 % (1906), 1,3 %
(1904) Greise über 60 Jahre. Absolut ist dagegen die Zahl der Verur¬
teilungen im Greisenalter immer noch größer als bei den Sittlichkeits¬
delikten. 25,9 % (1907), 25 % (1906), 24,8 % (1904) aller männlichen
Greisenverbrechen gehören dem Diebstahl an.
') Tardieu, Das Vergehen gegen die Sittlichkeit in staatsärztlicher
Beziehung, ins Deutsche übersetzt von Theile, Weimar 1860.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 411
Das konstatierte eigenartige Verhältnis zu den übrigen Altersklassen
läßt erkennen, daß mit zunehmendem Alter bei Männern die Neigung
zur Verübung von Diebstählen immer mehr abnimmt.
Eine gleichmäßige Abnahme dieser Delikte tritt auch bei dem weib¬
lichen Geschlecht ein, das aber im allgemeinen mit niedrigeren Zahlen
vertreten ist.
Hübner berechnet bei Frauen über 60 Jahre für Diebstahl im Rück¬
fall 2,6 %.
öffentliche Gewalttätigkeit und Beleidigung. — Bei den
infolge gesteigerter Reizbarkeit und des Fehlens von Hemmungen ver¬
kommenden Fällen von Beleidigung und Gewalttätigkeit gegen Per¬
sonen, die eine Behörde vertreten, nimmt die Zahl von 30 bis 40 Jahren
allmählich ab, aber nicht in dem starken Maße, wie es beim Diebstahl
der Fall war. Sie machen 12,3 % (1907), 15,6 % (1906), 10,6 % (1904)
aller Greisenverbrechen aus.
Die Zahl der Nichtvorbestraften erreicht nahezu höhere Werte,
als bei den Sittlichkeits verbrechen.
Hübner gibt für Beleidigung bei Männern über 60 Jahren 3,9 %,
bei Frauen 4,0 % gegenüber dem Durchschnitt von 1,9 % aller Ver¬
brechen von Personen über 60 Jahren an.
Cramer 1 ) hat zahlreiche Fälle von Beleidigung festgestellt. Fälle
von Majestätsbeleidigung, die meist unter Alkoholeinwirkung geschehen,
sind verschwindend wenig, nach Puppe 1 ) vorwiegend bei Epileptikern
und jugendlicheren Alkoholisten.
Totschlag und schwere Körperverletzung. — Die Zahl der
Verurteilten über 60 Jahre nimmt nach Zingerle etwas stärker ab als bei
den vorigen Delikten, diese Delikte erfordern doch mehr Kraft und kör¬
perliche Rüstigkeit als die einfache öffentliche Gewalttätigkeit, und dar¬
aus erklärt sich ihr Seltenwerden.
Diese Delikte bilden nach Zingerle 11,5 % aller männlichen Grei¬
senverbrechen 1907, 13.5 % 1906, 10,3 % 1904, werden also noch immer
in einer bemerkenswerten Häufigkeit im Greisenalter begangen.
Das weibliche Geschlecht ist bei denselben nach den absoluten
Zahlen über 60 Jahre nur wenig vertreten.
Unter den wegen schwerer Körperbeschädigung verurteilten Frauen
ist aber ein größerer Prozentsatz von Frauen über 60 Jahre vertreten
als unter den verurteilten Männern wegen dieser Delikte bestrafte Greise.
Von den weiblichen Verurteilungen über 60 Jahren betragen die
Verurteilungen wegen schwerer Körperbeschädigung und Totschlag 5,2 %
1907, 6,1 % 1906, nach Hübner für schwere Körperverletzung durch¬
schnittlich 3 %.
*) Cramer, Lehrb. d. ger. Psych., 4. Aufl., 1908.
2 ) Puppe, Majestätsbeleidigung und Geistesstörung. Ärztl. Sach-
verständigenztg. 1903, Nr. 12.
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412
Piesxezek,
Die Zahl der Nichtvorbestraften steigt bei diesem Verbrechen noch
mehr als bei den früheren.
Von hierher gehörigen Fallen möchte ich einige erwähnen. Ist auch
bei allen nicht die Tat ausgeführt, so ist von der Bedrohung bis zur Voll¬
endung bei Kranken mit Wahnideen meist nur ein kleiner Schritt
Ferriire ') berichtet von einem Apoplektiker, der Waffen in seinem
Bett und im Garten verbarg, um sich seiner Verfolger zu erwehren, er
bediente sich ihrer nur nicht
Journiac *) erwähnt einen Apoplektiker, der nach einem Schlag¬
anfall die Zwangsidee bekam, er müsse seine Frau erdrosseln.
Patschke*) erwähnt einen Kranken, der ebenfalls die Zwangsidee
hatte, er müsse seine Angehörigen umbringen oder anderen Kranken
irgendein Leid antun. Er bat deshalb um die kräftigsten Wärter zu seiner
Bewachung.
Ein Patient Möllers 4 ) hatte zu Hause seine Frau mißhandelt und
mit dem Beile bedroht.
Mendel 5 ) zitiert aus der französischen Literatur den Fall eines
Apoplektikers, der drei Jahre nach dem Insult einen Mordversuch an
9einem Vater machte.
Kirn*) erzählt von einem Kranken, der nach einem Schlaganfall
zunehmend geistesschwach wurde, sich dem Trünke ergab und mit seiner
Frau in ständigem Unfrieden lebte, schließlich glaubte er, seine Frau stehe
im Komplott mit den Kindern gegen ihn. Zwei Jahre nach dem Anfall
kam ihm nachts der Gedanke, die Frau umzubringen, er schoß sie mor¬
gens, als sie seine Stube betrat, nieder.
Despine 1 ) erzählt von einem 67 jährigen Greise, dessen Sexualität
enorm gesteigert war, und der seine Tochter erstach, als er sie mit einem
Liebhaber überraschte. Die Tat geschah nicht aus sittlicher Entrüstung,
>) Ferriire zit. bei Möller, Contribution ä l’ötude de l’ötat mental
chez les apoplectiques (Thöse de Paris 1899).
*) Journiac zit. bei Möller nach Maradon de Montyel, Les syndromes
episodiques chez les prödisposös vösaniques sous l’influence de l’apo-
plexie cöröbrale. Gaz. des höp. 1892.
3 ) Patschke, Über arteriosklerot. Psychosen in ger. Beziehung.
Vjschr. f. ger. Med. 1915, Bd. 50, H. 2, S. 206.
4 ) Möller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre ger.
Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, Bd. 42, S. 290.
i ) Mendel, Über psych. Störungen nach Hirnhämorrhagie. D. med.
Wschr. 1882, S. 49.
•) Kirn, Die einfachen Psychosen und die durch fortschreitende
geistige Schwäche charakterisierten Seelenstörungen in forensischer Be¬
ziehung. Handb. f. ger. Med. von Maschka, 1882, Bd. 4, S. 364.
’) Despine, Psychologie naturelle, Bd. 2, S. 598, in Handb. f. ger.
Med. von Maschka Bd. 4, S. 374.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 413
sondern aus Eifersucht (Meyer 1 )). Er weidete sich noch nachträglich
an dem Anblick der Leiche, „es war doch ein schönes Weib, eine schöne
Maitresse“.
Naecke *) berichtet ebenfalls von einem senilen Manne, der seine
Frau aus Eifersucht tötete.
Boas 3 ): Ein 66 jähriger Mann erschlug im akuten Verwirrtheits¬
zustand seine Schwiegertochter.
Einige ähnliche Fälle finden sich auch bei Bresler*).
Buch 3 ): Ein 69jähriger Mann ermordete seine Frau nach voraus¬
gegangenem Streit unter dem Eindrücke von Sinnestäuschungen und
Wahnideen.
In akuten Erregungszuständen können solche Kranken zu Mördern
ihrer liebsten Freunde und nächsten Verwandten werden. Das Opfer des
Delikts ist meist die eigene Frau. Im allgemeinen kommen aber der¬
artig schwere Verbrechen bei senilen psychischen Erkrankungen wegen
der mangelnden Entschlußfähigkeit und des schlaffen Affektes seltener
vor, häufiger bei der epileptischen Geistesverwirrtheit.
Das Verbrechen der boshaften Sachbeschädigung bei Personen
über 60 Jahre nimmt nach Zingerle bei den Männern mehr ab als bei den
Frauen, Hübner errechnet für letztere 2,6 % gegen den Durchschnitt
von 1,9 %.
Betrug macht nach Zingerle einen hohen Prozentsatz der Greisen-
delikte aus, wenn man nicht allein Vergehen, die einer gewissen Über¬
legung bedürfen, dazu rechnet, sondern auch solche, für die momentan
auftauchende Affekte maßgebend sind, oder durch erhebliche Gedächtnis¬
schwäche oder leichte Bestimmbarkeit verursacht werden, wie z. B.
falsche Zeugenaussagen und Meineid. Sie machen für 1907 17,1 % aller
senilen männlichen Verbrechen, 21,6 % aller senilen weiblichen Ver¬
brechen (1906 18,1% der männlichen, 24,6% der weiblichen) aus.
Das Verbrechen der Veruntreuung ist als solches nicht häufig im
Greisenalter, wahrscheinlich schon deshalb, weil nicht viele Greise mehr
in verantwortlicher Weise mit Geld umzugehen haben.
') Meyer, Beiträge zur Kenntnis des Eifersuchtswahns. Arch f.
Psych. Bd. 46, S. 861.
2 ) Naecke, Greisenalter und Verbrechen. Arch. f. Kriminalanthropol.
1909, Bd. 43, S. 358.
3 ) Boas, Forensisch-psychiatrische Kasuistik II. Arch. f. Kriminal¬
anthropol. 1910, Bd. 37, S. 19.
4 ) Bresler, Geisteskrankheit und Kriminalität. Jur.-psych. Grenz¬
fragen. Bd. 5, H. 2, 3.
5 ) Buch, Ein Beitrag zur Lehre der senilen Geistesstörungen und
ihre forensische Bedeutung. Diss. Kiel 1908.
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414
Pieszczek,
v. Krafft-Ebing 1 ) führt einen Steuerbeamten an, der unter be*
sonderen Umständen Banknoten verwendet und in seiner Verwirrtheit
vergessen hatte, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen.
Albrecht *) *) berichtet von einem 43- und einem 52-jährigen Steuer¬
beamten, die der Unterschlagung und unrichtiger Führung von Kon-
trollisten angeklagt waren, und bei denen die Untersuchung eine begin*
nende arteriosklerotische Gehirnerkrankung aufdeckte.
Überblicken wir noch einmal die bei senilen geistigen Er¬
krankungen vorkommenden Verbrechen, so finden wir bei Männern
am häufigsten vertreten die Sittlichkeitsverbrechen, die für sie als
typisch bezeichnet werden müssen, darauf folgen mit einem ziemlich
hohen Prozentsatz vor den anderen Brandstiftung, Betrug und Dieb¬
stahl.
Bei den Frauen sind die häufigsten Delikte Diebstahl und
Betrug, besonders das erste bildet einen viel größeren Prozentsatz
aller Greisenverbrechen als bei den Männern.
Bei allen Vergehen finden sich unter den Angeklagten eine
große Anzahl Nichtvorbestrafter, die in ihrem ganzen Leben keine
kriminellen Neigungen gezeigt haben und denen in dem be¬
treffenden Alter eine solche Entgleisung nicht ohne weiteres zu¬
zutrauen ist. Auch der Einwand, daß sie eventuell durch Not
zum Diebstahl verleitet würden, muß nach Feisenberger 4 ) durch
die Tatsache widerlegt werden, daß gerade die Diebstahldelikte
im Verhältnis zu den früheren Lebensaltern stark abnehmen, daß
bei diesen Delikten die Zahl der Nichtvorbestraften am gering¬
sten zunimmt, und daß Leute dieses Alters durch die moderne
Invaliditäts- und Altersversicherung wenigstens vor der größten
Not geschützt sind. Es muß also ein besonderes Etwas sein, das
sie erst im späten Alter zu den Vergehen veranlaßt, nämlich die
moralische Degeneration und geistige Erkrankung.
*) v. Krafft-Ebing, Geistesschwäche eines wegen Kassadefekts in
Untersuchung stehenden Steuerbeamten. Friedr. Blätter f. ger. Med.
1878, S. 427.
*) Albrecht, Ein forensischer Fall von arteriosklerotischer Geistes¬
störung. Ztschr. f. Medizinalbeamte 1904, 17. Jahrg., S. 683.
*) Albrecht, Die arteriosklerotische Geistesstörung und ihre straf¬
rechtlichen Beziehungen. Vjschr. f. ger. Med. 1907, Bd. 33, S. 83.
*) Feisenberger, Einfluß des Greisenalters auf die Kriminalität.
Mitteilungen der internat. kriminal. Vereinigung 1900.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 415
Nichts liegt in diesen Fällen näher, als die wichtige Frage
nach der Zurechnungsfähigkeit der betreffenden Person. Liegt
eine ausgesprochene senile Erkrankung vor, so ist der Schutz des
§ 51 StGB, gegeben, sehr viel schwieriger kann aber die Sach¬
lage werden, wenn „die ethische Depravation lange dem Verfall
der Intelligenz vorausgeht“ (Fischer 1 )), und es sind verschiedene
Ansichten ausgesprochen worden, wie man sich in einem solchen
Grenzfall zu der Beurteilung der Greisenverbrechen stellen, ob
man nicht der allgemeinen senilen Involution durch eine mildere
Auffassung, durch Anerkennung einer verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit (. Jolly 2 ), Aschaffenburg 9 ), Kirn 1 ) 6 ), Mendel 9 ), Wulffen" 1 ))
Rechnung tragen soll, wie man es bei der Beurteilung der Jugend¬
lichen unter 18 Jahren bereits getan hat.
Bei den leichten Formen wird man, darin stimmen alle Au¬
toren überein, wenn nur eine geringe kaum merkliche Schwächung
der intellektuellen Leistungsfähigkeit besteht, selbstverständlich
auf Zurechnungsfähigkeit erkennen müssen, und es bleibt dem
Richter überlassen, bei geäußertem Verdacht auf verminderte Zu¬
rechnungsfähigkeit mildernde Umstände zu berücksichtigen. Er
wird hierbei bei einem bis dahin unbescholtenen Menschen das
ganze Vorleben, in welchem Ansehen und in welchen sonstigen
Verhältnissen er stand, zu berücksichtigen haben.
') Jakob Fischer, Über die Sachverständigentätigkeit bei zweifel¬
haften Geisteszuständen. Psych.-neurol. Wschr. 1909/10, Nr. 22, S. 185.
*) Jolly, Uber verminderte Zurechnungsfähigkeit. Allg. Z. f. Psych.
Bd. 44, S. 461.
3 ) Aschaffenburg, Verminderte Zurechnungsfähigkeit. D. med.
Wschr. 1904, Nr. 31, S. 1121.
*) Kirn, Über geminderte Zurechnungsfähigkeit. Vjschr. f. ger.
Med. 1898, Bd. 16, S. 266.
*) Ders., Die Psychosen in der Strafhaft. Allg. Z. f. Psych. Bd. 45,
S. 85.
6 ) Mendel, Die Zurechnungsfähigkeit. Klin. Jahrb. 1903, Bd. 11,
S. 153.
7 ) Wulffen, Internat, kriminal. Vereinigung, Bericht über die 9.
Landesversammlung. Arch. f. Kriminalanthropol. Bd. 13, S. 212.
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416
Pieszczek,
Die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit im
Greisenalter fand eine eingehende Diskussion auf dem Kongreß der inter¬
nationalen kriminalistischen Vereinigung zu Budapest 1899 und als deren
eifrigsten Verfechter A. Leppmann *) *).
Die Frage ist nicht mehr neu, da schon andere frühere, teils aus¬
ländische Gesetze sie in positivem Sinne beantwortet haben und das
Greisenalter allgemein als Milderungsgrund für Strafbarkeit und Straf¬
vollzug gelten lassen. So nennt nach Leppmann das Strafgesetzbuch für
Mexiko als einen Milderungsumstand vierter Klasse neben der Minder¬
jährigkeit und Taubstummheit das Greisenalter, in Ungarn kann wegen
hohen Alters statt auf Zuchthaus auf Kerker erkannt werden, in Bul¬
garien darf an Personen über 65 Jahren keine Todesstrafe vollstreckt
werden. Auch ein altes hannoversches Gesetz vom Jahre 1840 bestimmte,
daß hohes Alter nach zurückgelegtem 60. Jahre insofern mildernd wirkt,
daß der zum Zuchthaus Verurteilte unbedingt mit schweren Arbeiten
zu verschonen ist.
Italien hat seit 1904 neue Bestimmungen über-die bedingte Verur¬
teilung. Sie dehnen die Höchstgrenze, bis zu der die Anwendung der
bedingten Verurteilung gestattet ist, bei Greisen über 70 Jahre, ebenso
wie bei Frauen und Jugendlichen, bis auf 12 Monate aus, während sonst
bei erwachsenen Männern die Bestimmung nur bei Strafen bis zu 6 Monaten
in Anwendung kommen kann.
Cramer 3 ), Aschaffenburg und Spielmeyer 4 ) sind ebenfalls für eine
solche Modifikation der Verurteilung eingetreten.
Da es nun nach unserem zurzeit bestehenden Strafgesetzbuch
eine verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht gibt, auch der Zeit¬
punkt, von dem an sie zu gelten hätte, sehr unbestimmt ist, da
Greise von 70 Jahren geistig noch recht rege, andererseits solche
von 60 Jahren geistig schon sehr hinfällig sein können, so neh¬
men die Autoren, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben:
*) A. Leppmann, Greisenalter u. Kriminalität. Z. f. Psychotherap.
u. mediz. Psychologie, 1909, Bd. 1, S. 212.
*) A. Leppmann, Die ger. Psychiatrie in bezug auf die Strafgesetz¬
gebung, in: Festschr. für d. 25jähr. Jubiläum d. preuß.Medizinalbeamten¬
vereins. Berlin 1908.
3 ) Cramer, Welche medizinischen Gesichtspunkte sprechen für die
Einführung einer bedingten Strafaussetzung und Begnadigung? Mtschr.
f. Kriminalpsych. Bd. 1, S. 341.
*) Spielmeyer, Die Psychosen des Rückbildungs- u. Greisenalters.
Aschaffenburga Handb. d. Psych., 5. Abt., 1912.
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Die gerichtsirztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 417
Leppmann, Salgo 1 * * ), Nieoladoni ®), Zingerle 8 ), Aschaffenburg 4 ),
Kim 5 * ), Bresler 8 ), Ackermann 7 ), Leers 9 ) u. a. den Standpunkt
ein, daß man wenigstens bei dem geringsten Zweifel an der gei¬
stigen Intaktheit, besonders bei Sittlichkeitsverbrechen und bei
Greisen über 70 Jahre in jedem Falle eine eingehende psychia¬
trische Beobachtung fordern müsse. Aschaffenburg 9 ) beklagt sich
mit Recht, daß von 80 Sittlichkeitsverbrechen nur 2 begutachtet
wären. Hier scheint mir der Hebel anzusetzen zu sein, um mit
Leichtigkeit über die Frage, wie man sich zu der Zurechnungs¬
fähigkeit der auf der Grenze von Gesundheit und Krankheit stehen¬
den Greise stellen soll, hinwegzukommen. Die Lösung liegt in
der genauen psychiatrischen Untersuchung jedes einzelnen straf¬
fälligen Greises. Die Richter sind leider noch immer viel zu wenig
dazu geneigt, mit den Psychiatern Hand in Hand zu arbeiten,
und oft genug kommen noch Verurteilungen von greisen Sittlich¬
keitsverbrechern vor. Auch v. Krafft-Ebing 10 ) hatte bereits für
ein innigeres Zusammenarbeiten von Richtern und Psychiatern
plädiert, Leppmann empfahl, eventuell den Richtern diese Not¬
wendigkeit durch Ministerialverordnungen, ohne ihre freie Neigung
zu beeinflussen, vorzuschreiben. Wenn von Angehörigen für
Sicherungsmaßnahmen Sorge getroffen ist, kann es auch nicht
1 ) Saig 6 , Mitteilungen der internat. kriminal Vereinigung 1900, Bd. 8.
*) Nieoladoni, Einfluß des Greisenalters auf die Kriminalität. Ebenda
1900, Bd. 8.
a ) Zingerle, Über das Greisenalter in forens. Beziehung. Arch. f.
Kriminalanthropol. Bd. 10.
4 ) Aschaffenburg, Das Greisenalter in forens. Beziehung. Münch,
med. Wschr. 1908, Nr. 38.
5 ) Kirn, Die Psychosen in der Strafhaft. Allg. Ztschr. f. Psych.
Bd. 45, S. 88.
®) Bresler, Greisenalter u. Kriminalität. Jur.-psychiatr. Grenzfr.
1907, Bd. 5, H. 2, 3.
7 ) Ackermann, Geistesstörungen des Greisenalters mit Berücksichti¬
gung ihrer forens. Bedeutung. Arch. f. Kriminalanthr. Bd. 45.
®) Leers, Forensische Bedeutung der senilen Involution. Arch.
internat. de Mödicine Lögale 1911, Bd. 2, S. 145.
*) Aschaffenburg, Beiträge zur Psychologie der Sittlichkeitsver¬
brecher. Neurol. Ztlbl. Bd. 21, S. 1081.
10 ) v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 12. Aufl.
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418
Pieszczek,
Zweck der Strafe sein, in jenem Alter noch eine moralische Besse¬
rung erzielen zn wollen, besonders da durch die Haft eine wesent¬
liche Verschlimmerung des krankhaften Prozesses herbeigeführt
werden kann.
Immerhin werden die Grenzfälle der senilen geistigen Er¬
krankungen nach erfolgter Verurteilung strafvollzugfähig sein,
wobei jedoch die schon früher in dem alten hannoverschen Ge¬
setz erwähnten Erleichterungen angebracht sein dürften. Tritt
dann in der Haft die Geisteskrankheit klar zutage, oder erleidet
der Verurteilte einen Schlaganfall, so daß von der weiteren Voll¬
streckung der Strafe eine nahe Lebensgefahr zu besorgen ist, so
ist nach § 487,1 StPrO. die Vollstreckung der Strafe aufzuschieben.
Möglicherweise kann dann zur Rehabilitation des Verurteil¬
ten das Verfahren nach § 399, 5 StPrO. wieder aufgenommen
und dieser freigesprochen werden.
Zeugnisfähigkeit. — Kommt ein Greis einmal in die Lage, als
Zeuge aufzutreten, so muß man, sollten sich bei ihm Zweifel an dem Voll¬
besitz seiner geistigen Kräfte bemerkbar machen, berücksichtigen, ob er
den Sachverhalt ohne auffällige innere Widersprüche darstellen kann,
oder ob sich bei ihm Anzeichen einer erheblichen Störung des Gedächt¬
nisses und der Merkfähigkeit wahrnehmen lassen (Cramer x ) *)). Im
letzteren Falle wird man ihn nach § 56 St.-P.-O., sofern er von dem Wesen
und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung hat, unbe¬
eidigt vernehmen, da er sonst in die unglückliche Lage, sich eines Mein¬
eides schuldig gemacht zu haben, geraten kann. Man wird bei Aussagen
solcher Personen einen ähnlichen Maßstab anlegen müssen wie bei solchen
von Kindern.
Aschaffenburg 3 ) erwähnt, daß in den letzten Jahren vor 1908 die
Zahl der wegen Verletzung der Eidespflicht bestraften Personen über
70 Jahre sich stets um vier herum bewegt habe.
Ein eigenes Kapitel für sich bildet die Zeugnisfähigkeit bei aphasi-
J ) Cramer, Über Zeugnisfähigkeit. Allg. Ztschr. f. Psych. 1908,
Bd. 65, S. 418.
*) Cramer, Uber die Zeugnisfähigkeit bei Geisteskrankheit und bei
Grenzzuständen. Aus „Beiträge zur Psychologie der Aussage“, Leipzig
1903, H. 2.
3 ) Aschaffenburg, Das Greisenalter in forensischer Beziehung. Münch,
med. Wschr. 1908, Nr. 38.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 419
sehen Störungen (Möller *), Patschke *)). Sind diese nicht sehr kom¬
pliziert und besteht nicht gleichzeitig stärkere Abnahme der Intelligenz,
so können auch die abgerissenen Angaben eines Aphasischen für das
Gericht von Wert sein.
Nachdem wir die kriminelle Bedeutung der senilen geistigen Er¬
krankungen in bezug auf die relative Häufigkeit gewisser Arten von Ver¬
gehen, ihre Eigenart und die Art der Ausführung kennen gelernt haben,
müssen wir noch die verschiedenen Berührungspunkte der erkrankten
Greise mit dem Zivilrecht erörtern ( Moeli 3 )). In erster Linie handelt
es sich hierbei um die
Geschäfts-und Dispositionsfähigkeit, die von stets zuneh¬
mender Wichtigkeit ist und um so eher in Frage gestellt wird, je mehr die
betreffende Person berufen war, an verantwortlicher und leitender Stelle
besonders in großen geschäftlichen Unternehmungen zu stehen.
In diesem Falle werden bisweilen schon die nervösen Anfangsymp¬
tome der psychischen Greisenkrankheiten, wie Kopfdruck, Schwindel¬
anfälle und Gedächtnisdefekte, verbunden mit allgemeiner Reizbarkeit
und Energielosigkeit genügen, urn jene bedeutend herabzusetzen, ja auf¬
zuheben, so daß der § 104, 2 BGB. in Frage käme.
Vielfach wird es sich darum handeln, nachträglich zu entscheiden,
ob die von einem Greise getroffenen Abmachungen rechtsgültig waren,
oder seine Handlungsweise bereits unter dem Eindrücke krankhafter
Erscheinungen stand (Fischer*)). Charakteristisch sind in dieser Be¬
ziehung die Zustände von seniler Melancholie, wie sie z. B. von Gudden *>
und Patschke •) angeführt sind. Die Kranken leben in andauernder leb¬
hafter Angst und innerer Unruhe, sehen alles in trübstem Licht, glauben
alles rettungslos verloren und suchen, von solchen Wahnideen befangen,
durch Verkauf ihres Besitztums zu retten, was möglich ist. Urteil und
Kritik sind dabei vollständig aufgehoben. Sie befinden sich, obgleich
sie energischem Einspruch gegenüber für kurze Zeit sich zusammenneh¬
men und einen leidlich geordneten Eindruck machen können, zur Zeit
des Vertragsabschlusses in einem Zustande, der sie die Tragweite ihrer
x ) Möller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre ge¬
richtsärztliche Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, Bd. 42, S. 290.
a ) Patschke, Über arterioskl. Psychosen in ger. Beziehung. Vjschr.
f. ger. Med. 1915, Bd. 50, S. 206.
3 ) Moeli, Die Geisteskrankheiten in zivilrechtlicher Hinsicht. Klin.
Jahrb. 1903, Bd. 11, S. 177.
4 ) Jakob Fischer, Uber die Sachverständigentätigkeit bei zweifel¬
haften Geisteszuständen. Psych.-neurol. Wschr. 1909, 1910, Nr. 22, S. 185.
*) Gudden, Einige Gutachten über bestrittene Vertragsfähigkeit bzw.
Testierfähigkeit. Friedr. Bl. f. ger. Med. 63. Jahrg., S. 226.
•) Patschke, Uber arterioskl. Psychosen in ger. Beziehung. Vjschr.
f. ger. Med. 1915, Bd. 50, S. 206.
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420
Pieszczek,
Handlungen nicht erkennen läßt. Hier wird § 105, 2 BOB. anzuwenden
sein, wonach die Willenserklärung, die im Zustande der Bewußtlosigkeit
oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird,
nichtig ist.
Bisweilen ist die Entscheidung in dieser Beziehung bei dem Wechsel
der Krankheitserscheinungen sehr schwierig, und es bedarf oft umfang*
reicher Erhebungen, besonders bei Leuten, mit denen der Betreffende
zur fraglichen Zeit in häufigem Verkehr gestanden hat, um sich ein klares
Bild von dem Sachverhalt zu verschaffen.
Da nun die Zeugenaussagen, wenn außerdem längere schriftliche
Auslassungen des Betreffenden nicht vorliegen, oft sehr skeptisch zu be¬
urteilen sind, rät Gramer '), wenn bei alten Leuten auch nur leiseste Zwei¬
fel bestehen, bei wichtigen Geschäftsabschlüssen Sachverständige zu¬
zuziehen, dies vor allem bei sehr hohem Alter nie zu versäumen.
Die gleichen Nachforschungen müssen bei den nach Schlaganfällen
auftretenden psychischen Störungen, besonders bei Beeinträchtigung der
Intelligenz, angestellt werden.
Für die aphasischen Störungen gilt das bei der Zeugnisfähigkeit Ge¬
sagte; ein wesentlicher geistiger Defekt braucht nicht gleichzeitig vor¬
handen zu sein.
Köhler *) berichtet über einen Apoplektiker, welcher trotz erheblicher
aphasischer Störungen z. B. seine Geldgeschäfte vollständig korrekt er¬
ledigte. Weiter wurden von Le grand du Saulle 3 ) und Burgl 4 ) Fälle mit¬
geteilt, in denen von den Angehörigen des Kranken bereits die Entmündi¬
gung beantragt war, die ärztlichen Sachverständigen aber zu der Ansicht
kamen, daß die Geschäftsfähigkeit noch erhalten war. Hierbei handelte es
sich um eine motorische Aphasie, die Kranken konnten nur einige Silben
oder Worte sprechen, dagegen zeigten die intellektuellen Fähigkeiten keine
wesentliche Störung, und außerdem war ein ausreichender Grad von
Schreibfähigkeit mit der linken Hand zu konstatieren.
Weiter ist es die leichte Bestimmbarkeit vieler Apoplektiker und
Senilen, die in manchen Fällen, auch wenn die Intelligenz keine sehr
erhebliche Einbuße zeigt, verhängnisvoll werden kann, wie es bei der
senilen Melancholie schon hervorgehoben ist. Habgierige und gewissen¬
lose Menschen suchen in Erkenntnis der günstigen Situation den Kranken
zu überreden, sein Eigentum zu einem lächerlich geringen Preis zu ver¬
kaufen oder zu verschenken. So kann es zu einer unsinnigen Verschwen-
*) Cramer, Gerichtliche Psychiatrie. 4. Aufl., 1908.
*) Köhler, Über die Dispositionsfähigkeit Aphasischer. Friedr. Bl.
f. ger. Med. 1890, S. 324.
:l ) Le grand du Saulle, Les apoplectiques, leur 6tat mental, leur degre
de responsibilitö et leur capacitö civile. Gaz. des höpit. 1881.
4 ) Burgl , Dispositionsfähigkeit bei Aphasie. Friedr. Bl. f. ger. Med.
1899, S. 392.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 421
düng, unüberlegten, unter dem Deckmantel der Frömmigkeit erfolgenden
Schenkungen, Enterbung der nächsten Angehörigen zugunsten Fern¬
stehender kommen, in deren Händen der Kranke ein willenloses Werk¬
zeug ist.
Diese Willenlosigkeit ist auch das Verhängnisvollste bei den unter
einer gewissen Euphorie und heiteren Erregung ste.henden Greisen, bei
denen noch kein wesentlicher Intelligenzdefekt vorhanden ist, und die
bisweilen von beutelüsternen weiblichen Personen umgarnt und zur Ehe
bestimmt werden. Nur zu spät tritt dann die Erkenntnis der Geistes¬
krankheit und mit ihr als Ernüchterung die schwere moralische und ma¬
terielle Schädigung der Kranken und ihrer Familien zutage.
Es ist deshalb in allen Fällen, wo bei der Stellung der Kranken
viel auf dem Spiele steht, dringend anzuraten, durch gesetzliche Ma߬
nahmen ihre Dispositionsfreiheit so früh wie möglich einzuschränken,
wozu sich die Angehörigen erfahrunggemäß leider wenig bereit zeigen.
Es muß allerdings auch zugegeben werden, daß es oft greise Personen gibt,
die zwar eigentümlich genug sind, deren Zug ins Krankhafte aber den
Richtern nicht so plausibel gemacht werden kann, daß es zur Entmündi¬
gung hinreicht (Berze 1 )). Ein solcher Fall scheint mir nach Möller der
von Ferrikre *) beobachtete zu sein, wonach sich ein Apoplektiker aus
rein egoistischen Gründen mit allen möglichen Mitteln der Heirat seiner
Tochter widersetzte.
Die noch erhaltenen äußeren gesellschaftlichen Umgangformen und
eine gewisse Redseligkeit können bei einer offiziellen Gelegenheit, wie es
ein Termin ist, oft über gewisse Defekte der Merkfähigkeit, des Gedächt¬
nisses und des Urteils hinwegtäuschen.
In Betracht kommt die Pflegschaft und die Entmündigung. Die
Pflegschaft nach § 1910, 2 BGB. als leichteste Form gesetzlicher Fürsorge
für einzelne oder einen bestimmten Kreis der Angelegenheiten des Kran¬
ken, besonders im Beginn der Erkrankung, wenn man Grund zur Annahme
hat, daß die Krankheit vorläufig nicht weiter fortschreiten wird, bei
Apoplektikern nach dem ersten Schlaganfall, wenn außer den Erscheinun¬
gen des aphasischen Symptomenkomplexes (Stummheit) keine weiteren
psychischen Erscheinungen vorhanden sind. Ist eine merkliche Ab¬
schwächung der intellektuellen Fähigkeiten eingetreten, so dürfte sich, je
nach den Lebensverhältnissen des Kranken, nach § 6,1 BGB. die Ent¬
mündigung nur wegen Geistesschwäche empfehlen; sind noch ausge-
>) Berze , Uber das Verhältnis des geistigen Inventars zur Zurech-
nungs- und Geschäftsfähigkeit. Jur.-psych. Grenzfragen Bd. 6, 1908.
2 ) Ferriire (nach Moeller), Contribution ä l’6tude*de l’Atat mental
chez les apoplectiques. These de Paris 1899.
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422
Pieszczek,
sprochene Wahnideen, Sinnestäuschungen mit Erregungszuständen vor¬
handen, so tritt die Entmündigung wegen Geisteskrankheit in ihre Rechte.
Eherecht. Mit Bezugnahme auf den bei der Geschäftsfähigkeit
angenommenen Fall, daß euphorische und sexuell erregte Greise von auf¬
dringlichen weiblichen Personen zur Ehe überredet werden, kann es Vor¬
kommen, daß die Greise unter Hintansetzung aller geheiligten Familien¬
bande die Ehescheidung von ihrer bisherigen Frau betreiben wollen, oder
wenn sie alleinstehen, kurzerhand die ihnen aufgedrüngene Ehe eingehen.
Im letzteren Fälle ist es möglich, die Gültigkeit der Ehe durch Nachweis
der zur Zeit der Eheschließung bestehenden geistigen Erkrankung auf
Grund des § 1325 BGB. nachträglich anzufechten. Danach ist eine Ehe
nichtig, wenn einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung geschäfts¬
unfähig war.
'Um die Geschäftsfähigkeit handelt es sich ebenfalls, wenn eine senil
erkrankte Person kurz vor ihrem Tode durch Eingehen einer Ehe un¬
eheliche Kinder noch legitimieren will.
Da wir mit Bresler gesehen haben, daß gerade ältere Männer mit
Vorliebe junge Frauen heiraten, ist es auch möglich, daß die Frau nach
§ 1333 BGB. wegen Irrtums über persönliche Eigenschaften des andern
Ehegatten die Ehe anfleht, wobei neben etwaigen früher nicht bemerkten
psychischen Symptomen das sexuelle Moment eine hervorragende Rolle
seitens der jungen Frau spielen wird.
Eine Scheidung der Ehe nach § 1569 BGB. wird bei einem ziemlich
gleichaltrigen greisen Ehepaar sehr selten Vorkommen, nachdem es so
lange Freude und Leid gemeinsam getragen hat. Auch sind in vielen
Fällen die Bedingungen des § 1569 nicht ganz vorhanden, da immer wieder
Besserungen im geistigen Befinden eintreten können, es müßte denn schon
eine ziemlich vollständige Verblödung eingetreten sein.
Bei Aphasischen können die Störungen, wenn auch selten, so hoch¬
gradig sein, daß infolge Mangels an Verständigung durch Sprache, Schrift
oder Gebärde die geistige Gemeinschaft aufgehoben ist, allerdings müssen
zu einer Ehescheidung die Symptome jahrelang unverändert bestanden
haben ( Burgl 1 )).
Testierfähigkeit. — Eine besondere Wichtigkeit erlangt wegen
der daraus entstehenden Folgen die Frage der Testierfähigkeit bei den
senilen psychischen Erkrankungen, besonders deshalb, weil heutzutage
jeder sein Testament in seinem stillen Kämmerlein machen kann, ohne
daß der krankhafte Geisteszustand, in dem er sich zur fraglichen Zeit
befindet, einem andern aufzufallen braucht. Erfahrunggemäß gehört bei
der in Laienkreisen noch immer vorhandenen großen Unkenntnis von
abnormen geistigen Zuständen oft ein großes Maß dazu, damit diese be¬
sonders von denen, die mit der fraglichen Person oft Zusammenkommen,
l ) Burgl, Geisteskrankheit als Ehescheidungsgrund. Friedr. Bl. f.
ger. Med. 1900, S. 104.
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Die. .geriehtsiir«4icft*- Bedeutimg 4er senilen psychischen Erkrankungen. 423
erkanntwerden. f dhigkeU tum Testieren ist eine besondere Art der
Oasühäftsfatvi^kri
Nach' v. k'rofihßbwit 1 ) inus$»it anr 'PAtiigkeiE^in TeStarneyitzu^er-
ruhten, i,iv.*i Bedingimgon 'vorhanden.sein;
% Ddr'Testigrjsnite muß ün* Eedeufciing der teriiKm vor zun ahmenden
leit?rlich^i Ddndlung In materieÜw und legaler Üezietiua/Ss de?
der ycifi ifoiwVjfetiHi^ii*<n Verfügungen für sielt und die. Beteiligten • Mac/ I
\utidJKtö't<ände sein, djest^ Willen Idar und deutiieh, aei ex Schrift-
lieh oder vuüfidlieli. darzufmi.
2. Diese WilleJisecklanjng muß eine freie sein, d, fi yuihemt durch.
Bifii^hüc^deniTtgeni bi*0C?6n^wan^ f Venspiegettir)^ fescher^ '^ätsachfevt-
'«dhrkraokhafby Stilen figen d^f'iieif^f'stätrgkeit (ffißttser und SchmolUr *.).
Sobald <iih «ne di^er ^lugfeeiieJi mangelt, ist die Testierfähigkcti ' v ’
als picht vorn rinden aoziisoheo und gleichbedeutend 'mit der Geschäft--
urifälngfeoif mich •§§ 10», HKi BGB. .(SirmerUng *)# Marx*)).
Fern er .ist auch se.hm« (Irr wegen Geistesschwache Entmündigte,
beschrankt GffäehaiJsfdhigi, testierunfähig und kann nur .-in schon- vor
der f»ntfnündiguhg errifddfMes uder. einzelne Teile desselben
•widerrufen (§§ 2220. 2 und 22/>3)..
Es« ist ober zo bedenken. -daß ein iohaltlich logisches Testament
durchaus noch nicht muo #0?male Geistesverfassung des Testators .beweist,
aödrersmta kann eine paradoxe, let zt willige Verfügung cbetiSoWimig die
Gdsfe-uhfreiheit dre Testators verbürgen als bei öeiMesgi^omteu 'eine ’
verkehrte unblutige Idee, thun krumm hoc wesentlich ->u( die Art, wie
sie gern hin l. ist., 'auf die Auslegung dessen, der sie kundgiht» und aut seine'
: Motive nn» ä$v dns vielfach üutefef bleiben
l asult. sleUt. die. 'Tehtigrfäbigkeit
an und für sich .nicht in fragt* Sind besondere geistige BUmmgcn noch,
nicht vorhanden, so sind Klagen, dos i'ivfameivf nnfachfet», abzu•
A.d ;,.^tj»ör
-. v weiteres
i-au«,dasogeaannfce ljchfe 2^sefeeiirnuing
kommen ( Will*. *i). »'. Kraft i-Ebm# erwiHmt einen Frd! von LivronJ ,/e
'*) p. JCrnfti' JSt>ü(f!i Die' iw^itnlhaften Ghfeife^züst^fijiecVor
rieht er. Erlangen 1 'G::.
i ) Kfcp^er utid ScIuhhIUt, Tevtanna!•?.;•?uTtiung imd Tcsti*jrf3Wg
keil. Jur.-psyclr Oronifrageu Bei 4, IV. •?, tl.
J ) Stem<-riinz. -i Obergutöehten, .betreffend iVfdiurlUiugkejV Fried'
El. 1- ,gvir. M*‘d. 5002, ‘<3. iyhrg,, S. i
Afkriv ; 0ie gvaaiibiiÖrxlRxdte Begutachtung .der Testierfähigkeil.
Munch rned- . W;wirr, 100d. A v'klg;
, ' .A^tbe&Mt Otfiachign betr. den.Oeist^JS 2 uatand;-deS' ÖnU-;- '■; '
frinä-• -kv^feif?.>Äf«fesb-..TisDgirtafetgfeeif. Vjschr. t $&,. MiMv . ,- '
% < SvpplrJicft s r,7.
Di S m^,; f Go gle -•■
424
Pieszczek,
Saulle 1 ), wo ein rechtsgültiges Testament zwischen zwei Anfällen rezidi¬
vierender Geistesstörung errichtet wurde. Jedenfalls müssen die psychi¬
schen Krankheitserscheinungen bei Apoplektikern schon von erheblicher
Stärke und längerer Dauer sein, um die Testierfähigkeit zu einer be¬
stimmten Zeit mit Sicherheit ausschließen zu können.
Sehr viel schwieriger kann die Entscheidung bei der schleichend
einsetzenden moralischen Entartung der arteriosklerotischen und senilen
Personen werden, bevor für den Laien etwas Abnormes im Verhalten der
betreffenden zu bemerken ist ( Siemens *)). Auf die hierbei in Betracht
kommenden klinischen Symptome bin ich schon früher zur Genüge ein¬
gegangen.
Die Hauptäußerungen sind das Mißtrauen und die Bestimmbarkeit
der Greise, so daß sie letztwillige Verfügungen treffen können, die oft den
Willen eines andern dokumentieren, ja direkt nachschreiben, was ein
anderer ihnen diktiert.
v. Krafft-Ebing sagt treffend: „Bei Sinnen und Verstand sein ist nicht
identisch mit dem Besitz der Vernunft und der freien Selbstbestimmungs¬
fähigkeit.“ Diese müssen aber von dem Testierenden unbedingt ge¬
fordert werden.
Ich weise in dieser Beziehung auch auf die bei der Geschäftsfähigkeit
angeführten Richtlinien hin.
Es wird also zur Prüfung, ob jemand zu einer bestimmten Zeit testier¬
fähig war, nötig sein, sein ganzes Verhalten zu jener Zeit genauestens auf¬
zudecken, wobei man, da der Testator in den meisten Fällen schon ge¬
storben ist, auf verschiedene Hilfsmittel angewiesen ist.
Unter Umständen kann man aus dem ganzen Inhalt des Testaments,
seiner Begründung, aus dem Satzbau, der Orthographie (Auslassungen
von Buchstaben und Silben), aus den Schriftzügen (größere Zittrigkeit,
Abweichungen von der geraden Linie), einen, wenn auch etwas unsicheren
Schluß auf den geistigen Zustand ziehen (Weygandt *)).
Auch die Wahl der Schreibmaterialien, die äußere Ausstattung, Rand¬
bemerkungen, Korrekturen, Tintenflecke, Unsauberkeiten geben mitunter
wichtige Anhaltpunkte, besonders dann, wenn Vergleiche mit Schrift¬
zügen aus gesunden Tagen möglich sind. In ähnlicher Weise sind auch
sonst schriftliche Äußerungen der Verstorbenen zur Zeit der Testaments¬
errichtung (Briefe, Geschäftsbücher, Rechnungen) heranzuziehen. Weiter¬
hin sind es in der Hauptsache die Aussagen von Zeugen, auf Grund deren
sich der -Sachverständige ein Urteil über den Geisteszustand des Testators
bilden muß. Im algemeinen sind die Aussagen der Zeugen auf der inter-
') Le grand du Saulle (zit. nach v. Krafft-Ebing), La folie. Paris 1864.
*) Siemens, Streitige Geschäfts- und Testierfähigkeit. Vjschr. f. ger.
Med. 1891. Bd. 1, S. 279.
J ) Weygandt, Willensstörungen. Dittrichs Handb. der ärztl. Sach¬
verständigentätigkeit 1910, Bd. 8, S. 21 i.
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 425
essierten Seite häufig parteiisch, auf der nicht interessierten Seite wegen
Achtlosigkeit wenig zu verwerten. Am meisten Wert haben noch die von
solchen Personen, mit denen der Testator nicht gerade täglich zusammen¬
gekommen ist, wie bei einer gelegentlichen Reise, einem Badeaufenthalt
Bestimmte Angaben über Verwirrtheitszustände und Wahnideen zur
fraglichen Zeit werden die Testierfähigkeit immer ausschließen. Oftmals
kann es, worauf Schmoller l * ) hinweist, mit großen Schwierigkeiten ver¬
knüpft sein, ein Testament, trotzdem die psychiatrischen Sachverständi¬
gen sich mehr oder weniger bestimmt gegen das Vorhandensein der freien
Willensbestimmung ausgesprochen haben, anzufechten, weil die Richter
sich nicht völlig von der mangelnden Testierfähigkeit überzeugen konnten.
Besondere Eigenarten bietet die Testierfähigkeit Aphasischer nach
einer Apoplexie, worüber Schmoller eingehend berichtet hat. Vorbedin¬
gung ist natürlich, daß die geistigen Fähigkeiten genügend erhalten ge¬
blieben sind. Weiterhin muß der Aphasische imstande sein, den gesetz¬
lichen Formen zu genügen, indem er bei Verlust der Sprache entweder
schriftlich (Böhm*), Köster 3 4 )), auch mit der linken Hand (Jolly*)), oder
bei Agraphie und Alexie mündlich seinen letzten Willen kundgibt (§§ 2231,2
und 2238,2 BGB.). Taubheit ist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch kein
Hinderungsgrund. Aphasische, die gleichzeitig weder schreiben noch
sprechen können, sind testierunfähig, da die Testamentserrichtung durch
Zeichen oder Gebärdensprache unzulässig ist.
Bei der seltenen kortikalen sensorischen Aphasie kann es zu so
schweren Störungen kommen, daß der Kranke nicht schreiben und Ge¬
schriebenes nicht lesen kann. Eldfir *) hat auf die forensisch wichtige Tat¬
sache aufmerksam gemacht, daß^solche Kranke außer einigen Silben und
Worten auch ihren Namen schreiben, ferner ihnen vorgelegte- Schrift¬
stücke automatisch abschreiben können, ohne Sinn und Bedeutung des
Inhalts zu verstehen. Daß dadurch leicht eine Unterschiebung eines
fremden Testaments Zustandekommen kann, ist klar. Pelman*) begut¬
achtete eine altersschwachsinnige, nahezu völlig taube und erblindete
Person, die bei ihrer testamentarischen Verfügung das willenlose Werkzeug
ihrer Umgebung gewesen war.
l ) Kreuser und Schmoller, Testamentserrichtung und Testierfähig¬
keit. Jur.-psych. Grenzfragen Bd. 4, H. 7, 8, S. 22.
*) Boehm, Friedr. Bl. f. ger. Med. 1901, S. 258.
3 ) Koester, Über die Dispositionsfähigkeit Aphasischer. Friedr. Bl.
f. ger. Med. 1890.
4 ) Jolly, Über den Einfluß der Aphasie auf die Fähigkeit zur Testa¬
mentserrichtung. Arch. f. Psych. Bd. 13, S. 325.
*) Eider (zit. nach Moeller), A discussion on aphasia in relation to
testamentary capacity. Brit. med. Journ. 1898, S. 581.
•) Pelman, Gerichtsärztliches Gutachten. Friedr. Bl. f. ger. Med.
1885, S. 251.
ZftltMhrift für Psychiitri«.
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426
Pieszczek,
Insofern in einem Fall ein Obduktionsbefund über die Leiche des
Testators vorliegt, haben diesen die ärztlichen Sachverständigen selbstver¬
ständlich ganz besonders zu berücksichtigen. Alle, die sich mit dieser
Frage beschäftigen, u. a. Ackermann 1 ), Hoche *), Hübner *), v. Krafft-
Ebing*), Leers, 5 ) Moeli 6 ), Moeller 7 ), v. Monakow 8 ), Patschke *), Schla¬
ger 10 ), Schmidtmann 11 ), Zingerle 14 ), stimmen darin überein, daß der Ob¬
duktionsbefund für sich allein noch keine genügende Anhaltpunkte bietet,
um die Frage mit Bestimmtheit beantworten zu können, in welchem Zu¬
stande sich der Testator zur Zeit der Abfassung eines Testaments
befunden hat.
Wie v. Krafft-Ebing ganz richtig bemerkt, kann bei klinisch sehr
schweren Erscheinungen makroskopisch ein negativer Befund vorhanden
sein und umgekehrt trotz bedeutender anatomischer Veränderungen eine
erhebliche, d. h. rechtlich ins Gewicht fallende psychische Veränderung
fehlen. Ein positiver Hirnbefund kann deshalb nur im Zusammenhänge
mit andern Beweismomenten verwertet werden. Stützte man sich vor¬
wiegend auf den pathologisch-anatomischen Befund eines bei seniler
geistiger Erkrankung, besonders nach Apoplexie Verstorbenen, so könnte
man, wie v. Monakow w ) richtig sagt, nahezu alle Patienten mit fort
*) Ackermann, Geistesstörungen des Greisenalters mit Berück¬
sichtigung ihrer forensischen Bedeutung. Arch. f. Kriminalanthropol.
Bd. 45, S. 334.
*) Hoche, Handb. d. ger. Psychiatrie. Berlin 1909.
3 ) Hübner, Lehrb. der forens. Psychiatrie. 1914, S. 548.
4 ) v. Krafft-Ebing, Gerichtl. Psychopathologie 1900.
*) Leers, Zur forens. Bedeutung der senilen Involution. Arch. inter¬
nationales de Mödicine Lögale 1911, Bd. 2, S. 145.
9 ) Moeli, Testierfähigkeit und Testamentsanfechtung. Dittrichs
Handb. der ärztl. Sachverständigentätigkeit 1908, Bd. 9, S. 330.
7 ) Moeller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre gerichts-
ärztl. Bedeutung. Vjschr.» f. ger. Med. 1911, S. 308.
8 ) v. Monakow, in Meyer v. Schauensee, Uber die Bedeutung des
anat.-pathol. Elements für die Diagnose der Geisteskrankheit, speziell mit
Berücksichtigung auf die Handlungsfähigkeit der Apoplektiker. Mtschr.
f. Kriminalpsychologie u. Strafrechtsref. 1915, 2. Jahrg., H. 7, S. 383.
*) Patschke, Über arteriosklerotische Psychosen in ger. Beziehung.
Vjschr. f. ger. Med. 1915, Bd. 50, H. 2, S. 200.
10 ) Schlager, Psychiatr.-forens. Untersuchungen betr. sog. letzt¬
williger Anordnungen. Handb. d. ger. Med. von Maschka. 1882, Bd. 4,
S. 119.
11 ) Schmidtmann, Handb. d. ger. Med., 1900, S. 63.
13 ) Zingerle, Uber das Greisenalter in forensischer Beziehung. Arch.
f. Kriminalanthropol. Bd. 40.
19 ) v. Monakow, in Meyer v. Schauensee, Uber die Bedeutung des
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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 427
geschrittener Sklerose der Hirnarterien, mit Hirnblutung usw., kurz alle
Apoplektiker für geistig minderwertig, schwachsinnig und daher als der
freien Willensbestimmung, der Testierfähigkeit beraubt erklären. Es
bedarf für das Zustandekommen der Störungen des Intellekts noch anderer
Momente als einer einfachen mechanischen Zirkulationsabsperrung oder
eines örtlichen zerebralen Defekts. Es ist deshalb für die nachträgliche
Beurteilung der früheren Testierfähigkeit eines verstorbenen Greises nicht
allein von Bedeutung, multiple herdartige Veränderungen x ) im Gehirn,
chronische Trübungen und Verdickungen der Hirnhäute, Atrophie der
Hirnrinde, erhebliche Gewichtsverminderung oder mikroskopisch wichtige
Veränderungen nachzuweisen, sondern in gerechter Würdigung aller Tat¬
sachen möglichst zu beweisen, daß diese organischen Veränderungen zu¬
sammen mit den klinischen Symptomen schon früher zur Zeit der Testa¬
mentserrichtung bestanden haben. Die Leichenbefunde sind dabei um so
wichtiger, je kürzer der Zeitraum war, der zwischen der in Frage stehenden
Handlung und dem Tode lag. Denselben Maßstab müssen wir bei der
gerichtsärztlichen Beurteilung eines auf die Testamentserrichtung gefolgten
Selbstmordes eines Senilen anlegen. Auch hier müssen alle erwähnten
Faktoren in Betracht gezogen werden, denn nicht jeder Selbstmord beruht
auf Geisteskrankheit, sondern kann auch Folge eines die freie Willens¬
bestimmung nicht an und für sich ausschließenden Affektes sein (v. Krafft-
Ebing, Moeli).
Blicken wir noch einmal anf die bei den senilen psychischen
Erkrankungen möglichen Konflikte mit dem Straf- und
Zivilrecht zurück, so sehen wir, daß eine ganz erhebliche Anzahl
von Beziehungen Vorkommen können. Bei allen hat es sich
durch die praktische Erfahrung erwiesen, daß die Ursache allein
in der senilen Rückbildung, resp. in einem ausgesprochenen
Übergang in geistige Krankheit zu suchen ist. Wenn heutzutage
das Gesetz dem Greisenalter noch keine Ausnahmestellung ein¬
geräumt hat, so lassen sich doch durch ein intensiveres Zu¬
sammenarbeiten von Psychiatern und Richtern, durch häufigere
Anwendung des § 81 StPrO., viele Schwierigkeiten bei der Be¬
urteilung überwinden und zum Heil der psychisch erkrankten
Greise besseres gegenseitiges Verständnis und größere Anpassung
der beiderseitigen verschiedenen Auffassungen erzielen.
pathoL-anat. Elementes für die Diagnose der Geisteskrankheit, speziell
mit Berücksichtigung auf die Handlungsfähigkeit der Apoplektiker.
Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsreform 1915,2. Jahrg., H. 7, S. 383.
*) Kehrer. Über Herderscheinungen und Geisteskrankheiten. Zschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1912, Bd. 5, S. 337.
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30*
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Ein typischer Fall yon Querulantenwahnsinn x ).
Von
Oberlandesgerichtsrat Dr. Th. Kngelnuuui in München.
Bei dem Oberlandesgericht München hat vor kurzem ein Ent¬
mündigungsprozeß sein vorläufiges Ende gefunden, der wohl als typi¬
scher Fall von Querulantenwahnsinn bezeichnet werden kann und
schon hiewegen eine kurze aktenmäßige Darstellung verdienen
dürfte 2 ). Lehrreich für den Juristen wie für den psychiatrischen Gut«
achter ist daran insbesondere, wie sich das im § 6 Nr. 1 BGB.
begründete Verhältnis der Geisteskrankheit zur Geistesschwäche in
der praktischen Anwendung gestaltet, und wie das Gesetz dem von
einem erfahrenen Psychiater beratenen Kichter ermöglicht, ohne Rück¬
sicht auf theoretische Begriffsbestimmungen die dem Bedürfnisse des
Lebens entsprechende Entscheidung zu treffen.
Jakob E., Hausbesitzer in V. (Niederbayern), ist als uneheliches
Kind einer Häuslerin am 2. Juli 1858 geboren. Geisteskrankheiten sind
in seiner Familie nicht beobachtet worden; auch er selbst ist, von gering¬
fügigen körperlichen Störungen abgesehen, immer gesund gewesen. Vom
13. bis zum 19. Lebensjahre hat er sich als Hirtenbube seinen Lebens¬
unterhalt verdient. Beim Militär hat er nicht gedient, da er („wegen
eines Gewächses“) als dauernd untauglich erklärt wurde. Mit 27 Jahren
*) Literaturangaben über Querulantenwahnsinn z. B. bei Kraepelin ,
Psychiatrie, 7. Aufl., Leipzig 1904, Bd. 2, S. 612, Note *. Die juristische
Seite der Frage wird meistens in den Kommentaren zu § 6 des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs behandelt.
*) ,,Die Literatur über solche chronisch Paranoische ist zwar nicht
klein, aber doch auch nicht groß genug, um die Mitteilung eines genau
beobachteten Falles wertlos oder überflüssig zu machen, zumal wenn der¬
selbe Einblick tun läßt in die Art und Weise der räsonnierenden Wahn¬
bildung, deren Studium noch keineswegs abgeschlossen ist.“ ( H . Pfister t
Über Paranoia chronica querulatoria, Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 59 [1902],
S. 589 IT.)
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Ein typischer Fall von Qnernlantenwahnsinn.
429
hat er sich verheiratet; aus seiner Ehe stammen 4 Kinder. Das vorhandene
Anwesen wurde von der Frau in die Ehe eingebracht. Später hat er durch
Sacktragen, Sandfahren, Kleesamen- und Brennholzverkauf etwa 1500 M.
jährlich eingenommen und hiermit den Unterhalt für sich und seine Familie
bestritten x ).
Seine streitbare Natur trat zuerst bei einem Konflikt mit seinem
Oheim hervor, der bei einem Erbschaftsfall die Mutter des E. angeblich
benachteiligte. Wegen der von ihm hiewegen über den Oheim gebrauchten
beleidigenden Äußerungen hat E. zwei geringfügige Geldstrafen erlitten.
Den Ausgangspunkt aller späteren Ereignisse bildet eine Strafanzeige,
die im Sommer 1905 von seinem Nachbar K. gegen den damals 47 Jahre
alten E. erstattet wurde. E. wurde darnach beschuldigt, entgegen einer
oberpolizeilichen Vorschrift seinen Abort am Tage geräumt zu haben.
Er erhielt einen Strafbefehl über 5 M., gegen den er Einspruch einlegte.
In der schöflengerichtlichen Verhandlung vom 1. August 1905 stellte E.
die ihm zur Last gelegte strafbare Handlung in Abrede. K. als Zeuge
bestätigte nach gesetzlicher Beeidigung, der Abort des E. sei an einem
Tage im Juni 1905 zur Mittagzeit geräumt worden; wer den Abort geräumt
habe, wisse er nicht. Auf Grund dieser Aussage wurde der Einspruch des
E. verworfen, weil das Schöffengericht annahm, daß die Entleerung der
Abortgrube am 8. Juni 1905 entweder durch E. selbst oder mit seinem
Wissen und Willen von seinen Angehörigen vorgenommen worden sei.
E. legte Berufung ein und brachte zur Hauptverhandlung vor dem
Landgericht P. 3 Entlastungszeugen mit, nachdem ihm mitgeteilt worden
war, daß deren Ladung von Amts wegen abgelehnt werde, daß es ihm aber
freistehe, auf seine Kosten Zeugen unmittelbar zu laden oder selbst mit¬
zubringen. Durch Urteil des Landgerichts P. vom 23. September 1905
wurde E. dem Antrag des Staatsanwalts entsprechend freigesprochen und
die Kosten beider Instanzen der Staatskasse auferlegt. K. hatte vor dem
Landgericht seine Aussage dahin eingeschränkt, daß er am 8. oder 9. Juni
mittags auf dem Düngerhaufen des E. Stoffe bemerkt habe, die er für
Menschenkot gehalten habe; daraus habe er geschlossen, daß der Abort
des E. geräumt worden sei; das Entleeren der Grube selbst habe er nicht
beobachtet. Da 2 Entlastungszeugen in glaubwürdiger Weise bestätigten,
daß die Abortgrube des E. erst Ende Juni, und zwar bei Nacht, entleert
worden sei, kam das Landgericht zu der Überzeugung, daß der Zeuge K.
sich geirrt habe und seine Schlußfolgerung unrichtig gewesen sei. Dem
Anträge des E., die ihm durch die Entschädigung der Entlastungszeugen
entstandenen Auslagen von 23 M. auf die Staatskasse zu übernehmen,
gab das Landgericht nicht statt, weil es seine Sache gewesen wäre, schon
bei Erhebung des Einspruchs diese Zeugen zu benennen, wodurch das
weitere Verfahren vermieden worden wäre; der Anregung des E., die
*) Diese Angaben beruhen auf den von ihm selbst dem Gutachter
gemachten Mitteilungen, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein Anlaß
vorliegt.
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Engelmann,
Kosten dem Anzeiger K. aufzuerlegen, wurde nicht entsprochen, weil nicht
feststellbar sei, daß K. wider besseres Wissen oder grob fahrlässig gehandelt
habe x ).
Am 21. April 1907 befand sich E. in Gesellschaft eines gewissen Sch.
in einer Wirtschaft. Auf die Bemerkung des Sch., es gäbe heutzutage
schlechte Leute, die eine Schuld ableugnen und wohl auch abschwören,
erwiderte E.: „Ja, da recken sie die Hand in die Höhe und sagen die Wahr¬
heit nicht.“ K., der zufällig in der Nähe saß, fragte, ob sich diese Äuße¬
rung auf ihn beziehe, worauf E. erwiderte: „Ja, das geht dich auch an,
du bist auch draußen gewesen und hast die Hand in die Höhe gehoben
und die Wahrheit nicht gesagt.“ Auf Vorhalt des K., ob er das sagen könne,
fuhr E. fort: „Ja, das sage ich immer wieder, und am jüngsten Tag auch
noch.“
K. erhob nunmehr Privatklage gegen E. wegen Beleidigung, die
zunächst mit der Freisprechung des E. endigte. E. hatte erklärt, er habe
mit seiner Äußerung nur sagen wollen, daß K. damals die Wahrheit nicht
gesagt habe, einen Meineid habe er ihm nicht vorwerfen wollen. Das
Schöffengericht nahm als erwiesen an, daß die seinerzeitige Angabe des K.
über das Räumen der Abortgrube um die Mittagszeit objektiv unwahr
gewesen sei; E. sei sich des ehrverletzenden Charakters seiner Äußerung
nicht bewußt gewesen. Auf Berufung des K. wurde das schöffengericht¬
liche Urteil vom Landgericht P. am 31. Januar 1908 aufgehoben und E.
wegen Beleidigung zur Geldstrafe von 30 M. und zur Kostentragung ver¬
urteilt. Nach der Anschauung des Landgerichts habe E. unzweifelhaft
sagen wollen, daß K. wissentlich auf Eid die Unwahrheit gesagt, also einen
Meineid geleistet habe; er habe dabei vorsätzlich und im Bewußtsein des
ehrverletzenden Charakters seiner Äußerung gehandelt; der Schutz des
§ 193 StGB. (Wahrung berechtigter Interessen) stehe ihm nicht zur Seite.
Die Revision des E. wurde durch Urteil des Obersten Landesgerichts
München vom 2. April 1908 als unbegründet verworfen, weil das land¬
gerichtliche Urteil keinen Rechtsirrtum ersehen lasse.
Ein Gesuch des E. um Wiederaufnahme des Verfahrens blieb ohne
Erfolg.
Schon am 20. Juni 1907 hatte E. gegen K. Strafanzeige erstattet.
x ) Vgl. Strafprozeßordnung § 499: „Dem freigesprochenen oder außer
Verfolgung gesetzten Angeklagten sind nur solche Kosten aufzuerlegen,
welche er durch eine schuldbare Versäumnis verursacht hat.
Die dem Angeschuldigten erwachsenen notwendigen Auslagen
können der Staatskasse auferlegt werden.“
§ 501 Abs. 1: „Ist ein.Verfahren durch eine wider besseres
Wissen gemachte oder auf grober Fahrlässigkeit beruhende Anzeige ver¬
anlaßt worden, so kann das Gericht dem Anzeigenden, nachdem derselbe
gehört worden, die der Staatskasse und dem Beschuldigten erwachsenen
Kosten auferlegen.“
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Ein typischer Fall von QueralantenWahnsinn.
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weil dieser bei der SchöiTengerichtsverhandlung vom 1. August 1905 einen
Meineid geleistet habe. Der Staatsanwalt gab der Anzeige keine Folge:
Dem K. könne weder Meineid noch fahrlässiger Falscheid zum Vorwurf
gemacht werden, weil Leute seines Bildungsgrades sehr häufig ihre Wahr¬
nehmungen und die daraus gezogenen Schlüsse nicht auseinanderhalten
könnten. Die von E. eingelegte Beschwerde wurde vom Oberstaatsanwalt
abgewiesen. Das gleiche Schicksal hatten zahlreiche weitere Anzeigen,
die E. in den folgenden Jahren bis 1914 an die Staatsanwaltschaft und
Oberstaatsanwaltschaft richtete, um die strafrechtliche Verfolgung des K.
wegen Meineids herbeizuführen. Bei diesen wiederholten Eingaben ließ
es E. bei der bloßen Strafanzeige nicht bewenden, suchte vielmehr noch
im Laufe des jeweiligen Verfahrens durch zahlreiche weitere Schriftstücke
seine Behauptungen zu unterstützen; gegen jede obrigkeitliche Ver¬
fügung legte er alle zulässigen und unzulässigen Rechtsmittel ein. Seine
frühere Angabe, K. habe die Unwahrheit angegeben, einen Meineid wolle
er ihm aber nicht vorwerfen, verdichtet sich allmählich zu der immer
aufs neue vorgebrachten Behauptung, K. habe wissentlich auf Eid gelogen;
er, E., könne und dürfe sich nicht dabei beruhigen, zumal er durch die
Handlungsweise des K. großen Schaden gehabt habe. Etwa vom Jahre
1909 ab beschränkt sich E. nicht mehr auf die Angriffe gegen K., macht
vielmehr in .öffentlichen Wirtschaften dem Landgericht P. den Vorwurf,
daß es (in der Beleidigungssache) ein falsches Urteil gefällt habe, und dem
Staatsanwalt, daß er gegen K. nicht vorgehe, obwohl er genügendes Beweis¬
material in Händen habe. Um jene Zeit wurde zum ersten Mal Anlaß ge¬
nommen, den E. amtsärztlich auf seinen Geisteszustand prüfen zu lassen.
Das Gutachten des Landgerichtsarztes vom 2. Januar 1910 verneint mit
Bestimmtheit die Zurechnungsfähigkeit des E. wegen Vorhandenseins
von Größen- und Verfolgungswahnsinn, bezeichnet ihn als wahrscheinlich
an Paranoia leidend, enthält sich aber hinsichtlich der Form seiner Geistes¬
krankheit einer bestimmten Stellungnahme. —
Im Mai 1911 schickte E. an K. einen eingeschriebenen Brief, in
welchem er ihm neuerdings seine „Eideslüge“ vorwarf und sich „mit Gruß
ohne Achtung“ Unterzeichnete. Hiewegen und wegen der um die gleiche
Zeit von E. im Wirtshaus gemachten Äußerungen, K. habe gelogen, ihm
gehöre der Kopf abgehauen, erhob K. gegen E. neuerdings Beleidigungs¬
klage. Der gutachtlich gehörte Landgerichtsarzt äußerte sich dahin, daß
E. unzweifelhaft an Querulantenwahnsinn leide. Im gleichen Sinne sprach
sich ein weiterer Sachverständiger aus, worauf E. selbstverständlich frei¬
gesprochen wurde.
Im Januar 1914 richtete E. unter dem Betreff „Notschrei um Er¬
langung eines gerechten Rechts für Wahrheit und Eigentum“ eine Ein¬
gabe an den Justizminister, worin er behauptet, durch wissentliches Ver¬
schulden von Gerichtsbeamten ungerecht verarmt zu sein; in verschiedenen
Prozessen seien ihm die „Amtierenden“ aufsässig gewesen und hätten ihm
sein Recht abgesprochen. Dem E. wurde bedeutet, daß ein Eingriff des
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Engelmann,
Justizministers in die Rechtsprechung ausgeschlossen sei; durch den Prä¬
sidenten des Landgerichts wurde ihm weiter mitgeteilt, daß zu einem
Einschreiten im Wege der Dienstaufsicht kein Anlaß bestehe.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß E. seine Angelegen¬
heit auch einem Landtagsabgeordneten vorgetragen und sogar eine Ein¬
gabe an den Bischof von P. verfaßt hat, die er jedoch nicht absandte.
Aus den von E. geführten Zivilprozessen sei folgendes hervor¬
gehoben:
Am 14. Februar 1910 wurde E. beim Besuch eines Marktes von einem
scheu gewordenen Pferde überrannt und am linken Fußgelenk verletzt.
Seine Entschädigungsklage wurde in zwei Instanzen abgewiesen, weil dem
Beklagten Fahrlässigkeit nicht nachgewiesen werden konnte und ein
anderer gesetzlicher Haftungsgrund nicht vorlag. Die von E. damals er¬
hobenen Ansprüche hielten sich übrigens hinsichtlich ihrer Höhe in mäßi¬
gen, der Sachlage angemessenen Grenzen.
Im Jahre 1911 wurde E. auf Zahlung von 921 M. Kaufpreis für ge¬
liefertes Holz verklagt, zahlte dann aber die Hauptsache; die Kostenfrage
wurde durch Vergleich erledigt.
Im gleichen Jahre klagte ein gewisser Johann W. gegen E. auf Zah¬
lung von 45 M. rückständigen Kaufpreises für geliefertes Heu. E. wandte
ein, es sei nur ein Kaufpreis von 3,50 M., nicht, wie der Kläger behauptete,
von 4 M. für den Zentner vereinbart gewesen. Die Ehefrau des Klägers,
Therese W., mit der E. damals verhandelt hatte, bestätigte die gegenteilige
Behauptung ihres Mannes und hielt diese Angabe unter Eid aufrecht.
Das Amtsgericht verurteilte den E. zur Zahlung des eingeklagten Betrages;
die Angabe eines beeidigten Zeugen, daß sich der Kläger mit einem Preise
von 3,50 M. für den Zentner einverstanden erklärt habe, wurde als durch
die Aussage des Sohnes des Klägers und eines weiteren Zeugen widerlegt
erachtet. Die Berufung des E. wurde vom Landgericht zurückgewiesen.
E. erstattete im Jahre 1912 gegen Frau Therese W. Strafanzeige wegen
Meineids, jedoch ohne Erfolg, obwohl in diesem Verfahren ein weiterer
Zeuge bestätigte, daß der Kläger W. sich (nachträglich) mit dem Kauf¬
preis von 3,50 M. für den Zentner einverstanden erklärt habe. Die Ein¬
stellungsverfügung des Staatsanwalts ist damit begründet, daß hierdurch
die Unwahrheit der von Therese W. gemachten Angabe nicht dargetan
werde.
Im Sommer 1913 wurde E. auf Zahlung von 92 M. Kaufpreis für
Holz verklagt, zahlte dann zwei Drittel des Betrages und wurde auf den
Rest verurteilt, weil seine Behauptung, das Holz sei minderwertig gewesen,
wegen der inzwischen verstrichenen Frist nicht mehr berücksichtigt
werden könne. Gegen dieses Urteil hat E. Berufung nicht eingelegt.
Im Herbst des gleichen Jahres wurde E. von einem Gastwirt auf
Zahlung von 70 M. verklagt, weil er widerrechtlich Sand auf dessen Grund
und Boden gelagert habe. E. bestritt, daß eine so hohe Entschädigung
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Ein typischer Fall von Qoerolantenwahnsinn.
433
angemessen sei. Nach Vernehmung von Sachverständigen wurde E. zur
Zahlung von 45 M. verurteilt. Auch gegen dieses Urteil hat er keine Be¬
rufung eingelegt. Auf Antrag des gleichen Klägers wurde E. verurteilt,
sich jeder Einwirkung auf das dem Kläger gehörige Grundstück zu ent¬
halten und den dort abgelagerten Sand zu entfernen; E. war zu dieser Ver¬
handlung erschienen, stellte aber keinen Antrag, so daß Versäumnisurteil
gegen ihn erlassen werden mußte.
Ende 1913 erhob E. gegen die Distriktsgemeinde V. Klage auf Zahlung
von 220 M. Schadenersatz auf Grund eines Kieslieferungsvertrags. Die
Sache wurde außergerichtlich verglichen, wobei dem E. der größte Teil
seiner Forderung zugebilligt wurde. Weitere Zivilprozesse des E. sind
nicht bekannt.
Anläßlich der wiederholten, von E. gegen die verschiedensten Behörden
gerichteten schweren Beleidigungen hat im Februar 1914 der Staatsanwalt
Antrag auf Entmündigung des E. wegen Geisteskrankheit gestellt.
E. trat dem Antrag entgegen, da er vollkommen geistesgesund sei. Das
Amtsgericht vernahm eine Reihe von Zeugen, deren Aussagen ausein¬
andergingen; während einige ihn für geisteskrank hielten, erklärten andere,
E. pflege zwar in Wirtschaften über Gerichte und Advokaten zu schimpfen,
zeige aber sonst keine Spur einer geistigen Erkrankung; er sei auch ein
guter und fleißiger Geschäftsmann. Der Landgerichtsarzt und der Be¬
zirksarzt gaben ihr Gutachten dahin ab, daß E. unzweifelhaft an Queru¬
lantenwahnsinn leide und daher geisteskrank sei; eine Besserung seines
Zustandes sei nicht zu erwarten, daher anzunehmen, daß E. nicht im¬
stande sei, seine Angelegenheiten in gehöriger Weise zu besorgen. Ein
weiterer Sachverständiger bezeichnet den E. als das typische Bild eines
Querulanten. Durch Beschluß des Amtsgerichts vom 7. Februar 1914
wurde E. auf Grund dieser Gutachten wegen Geisteskrankheit entmündigt.
Den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend wurde daraufhin Vormund¬
schaft über E. eingeleitet und ein Vormund für ihn bestellt.
E. versuchte nunmehr die Aufhebung der Entmündigung herbei- 1
zuführen. Auf seinen Antrag vernahm das Vormundschaftsgericht eine
Reihe von Zeugen, die in der Tat bestätigten, an E. nichts Auffälliges
wahrgenommen zu haben; er sei in seinen Geschäften und in seinem
Privatleben stets wie ein gesunder Mensch aufgetreten; daß ihm im Falle K.
Unrecht geschehen sei, werde auch von andern Personen angenommen;
er habe seine Angelegenheiten stets klug und vernünftig erledigt und
schimpfe auch nicht mehr wie Andere über Behörden und Gerichte (1).
Insbesondere erklärte der Vormund, er könne sich von einer Geisteskrank¬
heit des E. nicht überzeugen; er getraue sich zu behaupten, E. sei so
gescheit wie er (I). Am 3. März 1915 stellte E. persönlich den Antrag,
die Entmündigung wieder aufzuheben, weil er nicht geisteskrank sei; der
Antrag wurde ohne Vernehmung der von E. benannten Zeugen abgewiesen.
Im Mai 1915 erhob der Vormund des E. gemäß § 679 der Zivilproze߬
ordnung Klage gegen den Staatsanwalt auf Wiederaufhebung der Ent-
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Engelmann,
mündigung. Auf Veranlassung des Gerichts gab der Leiter der Münchner
Psychiatrischen Klinik, Professor Dr. Rüdin, ein ausführliches Gutachten
ab, dessen wesentlicher Inhalt *) nachstehend wiedergegeben sei:
E. wurde von dem Sachverständigen in der Klinik vom 25. bis
30. April und vom 8. bis 12. Mai 1916 beobachtet. Er blieb darauf stehen,
daß K. damals einen Meineid geschworen habe; er, E., könne sich nicht
beruhigen, da K. ihm hierdurch einen großen, bisher noch nicht gutgemach¬
ten Schaden zugefügt habe und für seinen Meineid bestraft werden müsse.
Daß er damals 23 M. Auslagen gehabt, K. dagegen nichts habe zahlen
müssen, habe ihn außerordentlich erbittert und lasse ihn nicht ruhen.
Wenn er seitdem dem K. wiederholt Meineid vorgeworfen habe, so sei er
vollständig im Recht gewesen, denn was wahr sei, dürfe man doch sagen;
er sei daher mit Unrecht wegen Beleidigung bestraft worden. K. habe
damals keineswegs, wie der Staatsanwalt annahm, in gutem Glauben und
aus Irrtum, sondern aus Bosheit gehandelt und genau gewußt, daß seine
Anzeige falsch sei. Mit besonderer Erbitterung sprach E. von Rechts¬
anwalt L., dem damaligen Rechtsbeistand des K. Dieser habe es auch
aufgebracht, daß man ihn nun für wahnsinnig erklären wolle. Den Ge¬
samtschaden, den er durch das ihm widerfahrene Unrecht erlitten, beziffert
er auf mindestens 15 000 M., dabei rechnet er im Falle K. etwa 2000 M.
für Anwalts- und Strafkosten, 16% Zins hieraus (I) für 7 Jahre, weitere
5% Zins für Gewinnentgang auf 7 Jahre usw.
In den Sachen K., D. und W. sei ihm schreiendes Unrecht widerfahren;
alle diese Prozesse müßten wieder aufgenommen werden. Den Einwand,
daß es doch richtiger gewesen wäre, sich mit dem freisprechenden Urteil
des Landgerichts P. zufrieden zu geben, ließ E. nicht gelten; auch wenn
er gewußt hätte, daß ihm der ganze Schaden entstehen werde, hätte er
nicht locker gelassen, weil Recht Recht bleibe, und er als Ehrenmann nicht
habe dulden können, daß er unschuldig Kosten habe und K. für seinen
Meineid straflos bleibe. Daß er im Falle D. keine Entschädigung erhalten
habe, könne er nicht verstehen; man habe ungerechterweise keinen einzigen
seiner Zeugen vernommen. Daß Therese W. einen Meineid geleistet habe,
behaupte er nach wie vor. Seine Entmündigung sei nicht gerechtfertigt;
kein Mensch halte ihn für wahnsinnig. Eine Reihe von Personen billige
seinen Kampf ums Recht durchaus, insbesondere sei man in W. allgemein
der Anschauung, daß er recht habe. Wer sein Recht nicht verfechte, sei
kein Mann. Er hätte sich vor seinen Angehörigen und vor seinen Mit¬
bürgern gar nicht mehr sehen lassen können, wenn er sein Recht nicht
verfochten hätte. Auf Vorhalt, daß schon höchste Instanzen zu seinen
Ungunsten entschieden hätten, wurde E. leidenschaftlich und rief: „Ich
berufe mich auf den König, das Volk liebt den König; ein falsches Urteil
ist eine Mißachtung gegen den König. Und das Reichsgericht will es auch
nicht haben, daß ich mein Recht nicht kriege. Es gibt keine Gerechtigkeit.“
1 ) Auf Grund der mir von Herrn Prof. R. freundlichst erteilten
Ermächtigung.
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Ein typischer Fall von Qaerulantenwahnsinn.
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Auf die Frage, warum gerade er immer Unrecht bekommen solle, wenn er
recht habe, erwiderte er: „Auf mich sind sie schon gehässig, weil sie ge¬
glaubt haben, daß ich wahnsinnig bin. Wenn ich vom Landgericht P.
nicht für wahnsinnig ausgegeben worden wäre, hätten sie mich auch in
München nicht abgewiesen.“ Die Gerichte hätten einseitig geurteilt und
ein falsches Urteil gefällt, obwohl sie wußten, daß er recht habe; auch der
Staatsanwalt habe bewußt seine Pflicht verletzt. Daß die Gerichte unter
einer Decke stecken, um ihn zu unterdrücken, glaube er bestimmt.
Im übrigen war E. stets orientiert in jeder Beziehung, faßte gut
auf, war aufmerksam, geordnet in seinem Benehmen; Gedächtnis und
Merkfähigkeit waren ungestört. Die Urteilsbildung war gut, wo nicht
seine Prozesse in Frage kamen; im Gedankenablauf war eine Ideenflucht
nicht zu bemerken. Bei einem Gespräch nach einem Ausgang, bei dem er
Bier getrunken hatte, war er merklich erregter, gesprächiger und heftiger.
In körperlicher Hinsicht fand sich nichts Besonderes.
Auf Grund dieses Befundes kommt der Sachverständige zu folgendem
Gutachten:
Die bei E. seit Jahren bestehende Idee rechtlicher Beeinträchtigung
und gehässiger Unterdrückung habe ihren Ausgang von dem Fall K.
genommen. Der Krankhaftigkeit dieser Geistesverfassung tue es keinen
Abbruch, wenn E. wirklich bis zu einem gewissen Grade in seinem Recht
verkürzt worden sein sollte oder doch zu der Auffassung gekommen sei,
daß ihm Unrecht geschehen sei.
Charakteristisch für die Krankhaftigkeit seiner Geistesverfassung sei
die allmähliche Ausbreitung der Beeinträchtigungsideen auf immer weitere
Personen, seine gänzliche Unbelehrbarkeit, vor allem aber die unerschütter¬
liche Wahnhaftigkeit seines Vorstellungskreises, daß überhaupt gewissenlos
ist, wer ihm unrecht gibt, daß der Staatsanwalt seine Pflicht bewußt ver¬
absäumt, daß die Rechtsanwälte, die seiner Sache nicht zum Sieg ver¬
helfen, „Linksanwälte“ sind, daß die Gerichte schlechte Urteile fällen
und einander helfen, ihn zu unterdrücken, daß ein Protokoll vernichtet
worden sei, um die höheren Gerichte irrezuführen, daß W. und K. nur
durch Mithilfe der Amtierenden ihn um sein Geld bringen und kränken.
E. sei infolge seiner geistigen Anomalie unfähig, die Gesamtheit seiner
Angelegenheiten vernünftig zu besorgen. Auf der andern Seite sei aber zu
erwägen, daß E. orientiert und geordnet in seinem Benehmen ist, und daß
seine geistigen Fähigkeiten, wo nicht sein Wahnsystem in Frage kommt,
nicht gestört sind. Er sei auch als fleißiger, strebsamer Mann bekannt,
der im Leben den besten Erfolg gehabt hätte, wenn er nicht durch seine
geistige Erkrankung verhindert worden wäre, seine im übrigen guten
Fähigkeiten voll auszunutzen. Er sei daher sehr wohl noch imstande,
einfache Angelegenheiten mit der seinem Bildungsgrade angemessenen
Umsicht zu besorgen; seine Fähigkeiten seien nicht so gering, daß er einem
noch nicht 7 Jahre alten Kinde gleichzustellen sei; er sei also nicht als
geisteskrank im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 BGB. zu bezeichnen. Wohl
aber liege bei ihm Geistesschwä'' 1 vor, also ein Zustand, der ihn hinsicht-
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Engelmann,
lieh seiner Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen im Alter von 7 bis 21
Jahren gleichstelle. Ein gewisses Recht der Initiative sei ihm nicht abzu-
sprechen, nur bedürfe die Rechtswirksamkeit seiner Geschäfte der Er¬
gänzung und Entscheidung durch Vormund und Vormundschaftsgericht.
Die Entmündigung des E. wegen Geistesschwäche sei unbedingt nötig, da
er an Querulantenwahnsinn leide. Sie reiche aber, richtig gehandhabt.
zu seinem Schutze vollständig aus.
Das Landgericht vernahm noch den E. persönlich in Anwesenheit
des Landgerichtsarztes und erließ am 14. September 1916 Urteil, daß die
gegen E. ausgesprochene Entmündigung wegen Geisteskrankheit dahin
eingeschränkt werde, daß sie nur noch wegen Geistesschwäche
aufrechtzuerhalten sei l ). Die Gründe des Urteils schließen sich voll¬
kommen den Darlegungen des Rüdinschen Gutachtens an. Der Vormund
des E. legte gegen dieses Urteil Berufung ein a ). Der dem E. beigeordnete
l ) Daß trotz Antrag auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit die
Entmündigung wegen Geistesschwäche ausgesprochen werden kann, wird
nahezu allgemein anerkannt; s. Staudinger, Komm. z. BGB. 7./8. Aufl.
Bern. D, 2 zu § 6; Planck, Komm. z. BGB. IV. Aufl. Bern. 6 zu § 6;Ennecce-
rus, Lehrb. des bürgerlichen Rechts 1. Bd. 1. Abt., 6. Bearbeitung § 86
Note 3; Stein, Komm. z. ZPO. 10. Aufl. Bern. II, 1 zu § 645, Urteil des
Reichsger. vom 23. Okt. 1902 Gruchots Beiträge Bd. 47 S. 897 IT., Urteil
d. OLG. Köln vom 17. März 1901 Rechtspr. d. OLG., Bd. 4, S. 5 IT. Da¬
gegen kann, wenn Antrag auf Entmündigung wegen Geistesschwäche
gestellt ist, nicht auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit erkannt
werden, s. Staudinger, Enneccerus und Stein a. a. O.; anderer Ansicht, wie
es scheint, Urt. des Reichsger. vom 20. Nov. 1900 Jur. Wschr. 1900 S. 868.
*) Als Beleg dafür, wie weit in derartigen Fällen die Anschauungen
von Juristen und Psychiatern auseinandergehen können, sei die Akten¬
notiz erwähnt, mit welcher der Vormundschaftsrichter die Einlegung der
Berufung zu rechtfertigen sucht. E. möge ein Querulant sein (heißt es
hier), immerhin sei er von dieser Krankheit noch nicht so sehr ergriffen,
daß er nicht einsähe, daß er auch einmal unrecht haben oder wenigstens
Anlaß zum vergleichsweisen Nachgeben haben könne.. Man könne sogar
sagen, daß E. ausschließlich im Bereich der drei Sachen K., V. und W.
von seinen verkehrten Meinungen und Ansichten nicht abzubringen sei,
„eine Schwäche, die er mit Hunderten und Aberhunderten von Leuten
seines Bildungsgrades aus der hiesigen Gegend teilt“. Insbesondere sei
es nicht zulässig, aus seinem Mißtrauen gegen die Anwälte und seinen
Verdächtigungen der Behörden ohne weiteres Schlüsse gegen ihn zu ziehen.
„Das tun hier in der Waldgegend gar viele, und zwar auch gewecktere und
gebildetere Leute wie E. ist.“ Infolge der Weltfremdheit eines großen
Teiles der Bevölkerung spuke in den Köpfen noch immer das Märchen von
der Bestechlichkeit der Beamten durch Trinkgelder und ihrem Bestreben,
sich gegenseitig selbst gegen Pflicht und Gewissen aus der Klemme zu
helfen. (I)
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Ein typischer Fall von Qnerulantenw ahnsinn -
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Pilichtanwalt versäumte aber die gesetzliche Berufungsfrist, so daß das
Rechtsmittel durch Urteil des Oberlandesgerichts München vom 29. De¬
zember 1916 als unzulässig, weil verspätet, zurückgewiesen werden mußte *).
Es sei gestattet, an die vorstehende aktenmäßige Darstellung des
Falls E. einige Bemerkungen allgemeiner Art zu knüpfen.
Darüber, daß das Querulieren an sich kein Zeichen von Geistes¬
krankheit ist, daß es also auch geistesgesunde Querulanten gibt,
herrscht bei Ärzten und wohl auch bei Juristen allgemeines Einver¬
ständnis l 2 ). Auch darüber besteht innerhalb der psychiatrischen
Wissenschaft kaum eine Meinungsverschiedenheit, daß der echte
Querulantenwahnsinn seinen Ausgang von einem bestimmten äußeren
Anlaß nimmt, der natürlich nicht die Ursache der Krankheit ist, aber den
Anstoß zu ihrer Entwicklung bildet, den schon vorhandenen Krank¬
heitskeim zur Keife, „den Stein ins Rollen bringt“ 3 ). Regelmäßig
handelt es sich hierbei um einen Rechtsvorgang, bei welchem der
Kranke Unrecht bekommt, sei es, daß er auf zivilrechtlichem Gebiete
mit einer Klage abgewiesen oder entsprechend dem Antrag seines
Gegners verurteilt oder wegen einer strafbaren Handlung zur Rechen¬
schaft gezogen wird 4 ).
l ) Man kann sich unschwer vorstellen, wie diese bedauerliche Tat¬
sache auf den Geisteszustand des E. einwirken mag. In sachlicher Hin¬
sicht bedeutet die Fristversäumnis keinen wesentlichen Nachteil, da die
Berufung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu einer Abänderung des
landgerichtlichen Urteils geführt hätte und der Vormund des E. jederzeit
eine neue Klage auf Aufhebung der Entmündigung stellen kann.
*) Vgl. aus der psychiatrischen Literatur z. B. E. Hitzig, Über den
Querulantenwahnsinn, Leipzig 1895, S. 9; A. Hoche, Handbuch der gericht¬
lichen Psychiatrie, Berlin 1901, S. 594; A. Cramer, Gerichtliche Psychiatrie,
4. Aufl., Jena 1908, S. 304; K. Birnbaum, Der psychopathische Verbrecher,
Berlin 1914, S. 266; E. Kraepelin, a. a. O. Bd. 2 S. 620.
*) Hoche a. a. O. S. 596.
4 ) Vgl. Cramer a. a. O. S. 305; Hoche a,a. O. S. 596; Birnbaum
a. a. O. S. 268; Kraepelin a. a. O. S. 612 IT. Gerade hierdurch unter¬
scheidet sich der echte Querulant vom Pseudoquerulanten, der bei den
verschiedensten Gelegenheiten Zank und Streit vom Zaune bricht ( Kraepe¬
lin S. 620, 836 IT.); beim Pseudoquerulanten fehlt „das subjektive Band,
welches all die einzelnen Ereignisse zu einer zusammenhängenden Kette
aneinanderschließt“ [Kraepelin S. 839). Die Polemik Birnbaums gegen
Kraepelins Auffassung des Pseudoquerulanten scheint mir nicht über¬
zeugend. Über Pseudoquerulanten s. auch Cramer a. a. O. S. 311. Nicht
zu verwechseln mit dem Querulanten und dem Pseudoquerulanten ist der
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Engelmann,
Bei aller Achtung vor der Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit
unserer Richter kann ruhig zugegeben werden, daß in manchen dieser
Fälle dem Unterliegenden wirklich vom objektiven Rechtsstandpunkt
aus Unrecht geschehen ist; das kann insbesondere, ohne daß hiewegen
ein Vorwurf gegen den Richter zu erheben wäre, infolge eines formeÜen
Versäumnisses des Unterliegenden oder seines Vertreters oder infolge
unwahrer Angaben von Zeugen der Fall sein. Viel häufiger freilich
wird von objektivem Unrecht nicht gesprochen werden können.
Immer aber empfindet der Kranke den ihm zugegangenen Nachteil
als ein ihm widerfahrenes Unrecht.
Daß man drohendes Unrecht abzuwehren, erlittenes Unrecht
wieder gutzumachen sucht, ist ein in der menschlichen Natur begrün¬
detes Streben 1 ). Die Art und Weise, in welcher sich dieser Widerstand
äußert, ist nach Wesensart und Temperament unendlich verschieden.
Der Umstand allein, daß jemand auf vermeintlich erlittenes Unrecht
außergewöhnlich stark reagiert, daß er den Kampf ums Recht leb¬
hafter, energischer, hartnäckiger führt als die Mehrzahl seiner Volks¬
genossen, bildet für das Vorhandensein von Querulantenwahnsinn
noch keinerlei Anhaltspunkt 2 ). Erst die Art, wie dieser Kampf
geführt wird, kann als Zeichen der drohenden oder schon eingetrete¬
nen Krankheit erachtet werden. Erschwert ist diese Erkenntnis natür¬
lich, wenn der objektive Beurteiler Anlaß hat, den dem Kranken wider¬
fahrenen Rechtsnachteil gleich diesem als ein ihm zugefügtes Unrecht
anzusehen; denn naturgemäß führt diese Anschauung dazu, auch die
in Wahrheit krankhaften Äußerungen des Kampfes als begreiflich und
lediglich geistig minderwertige Prozeßkrämer, der aus Mangel an Ver¬
ständnis für Recht und Rechtsgang in einsichtloser Rechthaberei sein
vermeintliches Recht mit den untauglichsten Mitteln verficht und mit
seinen geringen Geisteskräften eine Belehrung über die wirkliche Rechts¬
lage nicht zu fassen vermag (Frese, Der Querulant und seine Entmündi¬
gung, Ztlbl. für freiw. Gerichtsbarkeit Bd. 11 S. 71).
*) In seiner berühmten Abhandlung ,,Der Kampf ums Recht“
{6. Aufl. S. 19) bezeichnet R. v.Jhering den Widerstand gegen das Unrecht
geradezu als Pflicht gegen sich selbst und gegen das Gemeinwesen.
*) „Die Gewalt, mit der das Rechtsgefühl gegen eine ihm widerfahrene
Verletzung tatsächlich reagiert, ist der Prüfstein seiner Gesundheit“
(R. v. Jhering a. a. O. S. 41). Daß ein empfindliches Rechtgefühl noch
nicht krankhaft ist, betonen auch Roche a. a. O. S. 599, Kraepelin a. a. O.
S. 613, 621.
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Ein typischer Fall von Querulantenwahnsinn.
439
natfirlich hinzustellen. Hierdurch vor allem erklärt sich die tiefgehende
Meinungsverschiedenheit, die in zahlreichen Fällen echten Querulanten¬
wahnsinns zwischen den Anschauungen der begutachtenden Ärzte und
denen der Laien, auch wohl der urteilenden Juristen, zutage tritt.
Gerade hiefür bildet auch der Fall E. ein lehrreiches Beispiel. Den
Ausgangpunkt des von ihm geführten Kampfes ums Recht bildet unzweifel¬
haft die Strafanzeige des K. Daß K. vor dem Schöffengericht objektiv
die Unwahrheit gesagt hat, ist gerichtlich festgestellt. Ob K. gutgläubig
oder wider besseres Wissen jene Strafanzeige erstattete, kann selbstver¬
ständlich niemals mit Sicherheit festgestellt werden. Daher war der Staats¬
anwalt in vollem Recht, als er der Strafanzeige des E. gegen K. keine Folge
gab. Aber anderseits ist es, zumal K. von einem Zeugen als unverträg¬
licher, böswilliger Nachbar geschildert wird, sehr wohl begreiflich, daß E.
der Ansicht war, K. habe absichtlich, um ihm zu schaden, beim Schöffen¬
gericht auf Eid die Unwahrheit gesagt. War aber E. dieser Anschauung,
so konnte er sich auch für berechtigt halten, dem I\. hierüber Vorhalt zu
machen. Ob seine beleidigenden Äußerungen nicht den Schutz des § 193
StGB, zu beanspruchen hatten, ist auch vom streng juristischen Stand¬
punkt aus nicht unzweifelhaft. Der dem E. trotz seiner Freisprechung
erwachsene vermögensrechtliche Nachteil konnte immerhin von ihm als
ein ihm widerfahrenes Unrecht aufgefaßt werden, wenn, wie er behauptet,
der Gendarm ihm mitgeteilt hatte, im Falle der Freisprechung würden ihm
auch die für seine Entlastungszeugen aufgewendeten Beträge ersetzt;
mag sich der Gendarm auch nicht genau so ausgedrückt haben, so liegt
doch die Möglichkeit nahe, daß E. dessen Äußerung in diesem Sinne ver¬
standen hat.
Das Fazit dieser Gruppe von Ereignissen ist also folgendes: E., der
unzweifelhaft unschuldig unter Anklage gestellt war, ist zwar freige¬
sprochen, hat aber durch das Gerichtsverfahren einen Schaden erlitten,
dessen Ersatz er vergeblich begehrt; K., dessen eidliche Angaben fest¬
gestelltermaßen unrichtig waren, hat keine Strafe zu gewärtigen und
erleidet auch keinerlei vermögensrechtlichen Nachteil. E., der ihm die
Unwahrheit seiner Aussagen in einer dem Gesetz vielleicht nicht völlig
entsprechenden Weise vorgehalten hat, ist wegen Beleidigung zu einer
nicht unerheblichen Geldstrafe verurteilt worden und hat die beträcht¬
lichen Kosten dieses Verfahrens zu tragen. Nach einigen Jahren wird E.
von einem scheu gewordenen Pferde verletzt; daß der Beklagte aus juristi¬
schen Gründen nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, vermag E.
bei seinem geringen Bildungsgrade nicht einzusehen. Im Falle W. endlich
unterliegt E. auf Grund der beeidigten Aussage der Ehefrau seines Geg¬
ners, obwohl’ mehrere Zeugen Angaben gemacht haben, die mit denen der
Frau W. schwer, wenn überhaupt, in Einklang zu bringen sind. Die Ver¬
mutung, daß Frau W. zugunsten ihres Ehemanns die Unwahrheit gesagt
hat, liegt gewiß nicht allzu fern. Daß E. sich in den Fällen K., V. und W.
benachteiligt fühlt und die Überzeugung nicht los werden kann, daß ihm
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440
Engelmann,
Unrecht geschehen, erscheint recht wohl begreiflich, und dieser Umstand
ist es sicherlich, der verschiedene Zeugen wie auch den Vormundschafts¬
richter an seiner geistigen Krankheit zweifeln läßt. Trotzdem ist mit
aller Sicherheit anzunehmen, daß E. zurzeit und wohl schon seit mehreren
Jahren an echtem Querulantenwahnsinn erkrankt ist. Das ergibt sich
mit aller Bestimmtheit aus der Art, wie er seit Jahren gegen das ihm ver¬
meintlich widerfahrene Unrecht ankämpft. Während der Gesunde ein-
sehen würde, daß K. möglicherweise gutgläubig die Anzeige erstattet hat,
oder wenigstens, daß ihm eine strafrechtliche Verletzung seiner Eides¬
pflicht nicht nachgewiesen werden kann, scheitern solche Erwägungen an
der völligen Unbelehrbarkeit des E.; während der Gesunde auch beim
Richter Pflichtbewußtsein und Gewissenhaftigkeit als selbstverständlich
voraussetzt, vergrößert bei dem geisteskranken E. jeder Beamte, der mit
ihm zu tun hat, die Zahl seiner Gegner und Feinde; während der Gesunde,
mag er noch so lebhaft auf Unrecht reagieren, bei endgültiger Erfolglosig¬
keit seiner Bemühungen einsieht, daß die Fortführung des Kampfes
fruchtlos ist und ihn und die Seinigen der Gefahr völligen Ruins aussetzt,
ist E. für derartige Betrachtungen unzugänglich; er würde, auch wenn er
dieses Ende vorausgesehen hätte, doch nicht anders gehandelt haben.
Daraus ergibt sich für den psychiatrischen Gutachter, daß, um
den Kichter vom Vorhandensein des Querulantenwahnsinns zu über¬
zeugen, weder die Tatsache des Querulierens ausreicht, noch der Nach¬
weis, daß dem Querulierenden keinerlei Unrecht widerfahren ist;
beweiskräftig kann vielmehr nur die Darlegung wirken, daß die
Kampfesweise des Querulierenden einen sicheren Schluß auf das
Vorliegen einer geistigen Erkrankung gestattet*).
Zum Schluß noch einige Worte über die Bedeutung der Ent¬
mündigung von Querulanten.
Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 BGB. kann entmündigt werden, wer infolge
von Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht
zu besorgen vermag. Voraussetzung der Entmündigung ist also das
Vorliegen von Geisteskrankheit oder Geistesschwäche, außerdem aber
die Unfähigkeit des Kranken zur Besorgung seiner Angelegenheiten.
Über das Verhältnis der Geisteskrankheit zur Geistesschwäche hat
infolge der ungenauen Ausdrucksweise des Gesetzes und der Unklarheit
der gesetzgeberischen Vorarbeiten lange Zeit Meinungsverschiedenheit
geherrscht. Nunmehr aber kann als herrschende Ansicht in Schrifttum
und Rechtsprechung gelten, daß der Unterschied nicht auf einer Ver¬
schiedenheit der Krankheitsform beruht, sondern nur ein solcher dem
Grade nach ist; Geisteskrankheit ist die schwerere, Geistesschwäche die
leichtere Form der Erkrankung; gleichgültig ist für die Anwendbarkeit
des § 6 nicht nur Grund und Art, sondern auch die psychiatrische Be-
*) Vgl. Pfister a. a. O. S. 614 Note 2; Kraepelin a. a. O. S. 620.
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Ein typischer Fall von Querulanten Wahnsinn.
441
Zeichnung der Krankheit; für die Frage, ob Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche oder Geisteskrankheit einzutreten hat, ist lediglich entscheidend,
ob die geistige Gesamtleistung des Kranken derjenigen eines Kindes unter
7 Jahren oder darüber hinaus derjenigen eines Minderjährigen von 7 bis
21 Jahren gleichzustellen ist *). Man muß also aus der Stärke der Wirkung
auf die Stärke der Ursache schließen und nach diesem Maßstab bestimmen,
ob das Denken, Wollen und Handeln des Kranken durch die Störung
seiner Geisteskräfte derart regelwidrig beeinflußt wird, daß er entweder
wie ein Kind gänzlich geschäftsunfähig oder nach Art eines Minderjährigen,
der das 7. Lebensjahr vollendet hat, nur in beschränkter Weise geschäfts¬
fähig erscheint; im ersten Falle entspricht es der Absicht des Gesetzes,
Entmündigung wegen Geisteskrankheit, im zweiten, sie wegen Geistes¬
schwäche eintreten zu lassen*). Daß dieses Verfahren unlogisch ist, indem
aus den an den Entmündigungszustand geknüpften Rechtsfolgen (BGB.
§§ 104 Nr. 3, 114, 106—113) erst die psychiatrischen Voraussetzungen
und die Art der Entmündigung entnommen werden müssen, hebt z. B.
F. Endemann 3 ) ausdrücklich hervor *). Darum darf, wie Endemann *)
mit Recht erwähnt, das Gutachten des Psychiaters sich nicht mit der
Feststellung der Gehirnerkrankung nach wissenschaftlich-psychiatrischen
Grundsätzen begnügen, es muß vielmehr die Wirkung der Erkrankung
abmessen nach den verschiedenen im BGB. aufgestellten Graden des
Einflusses auf die Geschäftsfähigkeit •).
Aber weder Geisteskrankheit noch Geistesschwäche berechtigt
den Richter, die Entmündigung auszusprechen, wenn nicht als Folge
der Erkrankung die Unfähigkeit zur Besorgung der eigenen
Angelegenheiten feststellbar ist. Diese Unfähigkeit liegt, wie das
Reichsgericht und ihm folgend die herrschende Lehre annimmt, nur
dann vor, wenn der Kranke zur Besorgung seiner gesamten Ange-
*) Vgl. Staudinger a. a. O. Bern. B, I, 4, a zu § 6; Planck a. a. O.
Bern. 2, b zu § 6; Komm, von Reichsgerichtsräten, 2. Aufl., Bern. 2 zu § 6;
Enneccerus a. a. O. § 86, I, 1.
*) So das grundlegende Urteil des Reichsgerichts vom 13. Februar
1902. Entscheidungen in Zivilsachen Bd. 50 S. 207.
3 ) Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, 9. Aufl., Bd. 1 § 31 Note9.
4 ) S. auch Endemann a. a. O. § 33 Note 6: „Psychiatrisch steht fest,
daß die Geistesschwäche eine Art, und zwar gerade eine der schwereren
Arten, der Gehirnerkrankungen ist. In diesem Sinne darf das BGB.
nicht ausgelegt werden; es hüft vielmehr nichts, als daß der Ausdruck
Geistesschwäche als laienhafte Umschreibung hingenommen und inhaltlich
nach der mit der Entmündigung verbundenen schwächeren juristischen
Wirkung abgeschätzt wird.“
*) a. a. O. § 31 Note 9.
•) Wie dies das Rüdinsche Gutachten in vorbildlicher Weise tut.
Zeiftaehrift für Psyohiatm. LXXITI. 5.
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31
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442 Engelmann, Ein typischer Fall von Qnerolantenwahnsinn.
legenheiten außerstande ist, nicht dagegen, wenn er nur einzelne
oder einen Kreis seiner Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag.
Ist der Geisteskranke, wie dies namentlich bei Querulantenwahnsinn
der Fall ist, von bestimmten Krankheitsvorstellungen beherrscht, so
ist entscheidend, ob diese ihn derartig ausfüllen, daß sie auf sein
Handeln überall Einfluß haben, und daß seine gesamten Lebensver¬
hältnisse mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen werden 1 ).
Andrerseits freilich wird die Zulässigkeit der Entmündigung nicht
dadurch ausgeschlossen, daß der Kranke die Fähigkeit behalten hat,
auf einzelnen Lebensgebieten, insbesondere in seinen Berufs- und
seinen Familienangelegenheiten, ein vernünftiges Verhalten zu be¬
tätigen, oder daß er zur Besorgung gewisser Angelegenheiten, sei es
wegen ihrer Einfachheit, sei es wegen der erlangten Übung oder aus
andern Gründen, befähigt geblieben ist 2 ).
Legt man diese Hechtsauffassung zugrunde, so wird in der Mehr¬
zahl der Fälle die Entmündigung wegen Geistesschwäche als die
für den geisteskranken Querulanten geeignetste Form rechtlichen
Schutzes erscheinen 3 ). Mit Recht weist Prof. R. in seinem Gut¬
achten insbesondere darauf hin, daß bei dieser Form der Entmündi¬
gung durch die §§ 110,112,113 BGB. dem Kranken ein gewisses Maß
von Bewegungsfreiheit gelassen werden kann, während anderseits
die Mitwirkung des Vormunds und Vormundschaftsgerichts eine
Schädigung des Kranken ausschließt oder wenigstens erheblich er¬
schwert.
Zugegeben ist, daß unter Umständen auch beim Vorliegen von
Querulantenwahnsinn kein Anlaß zur Entmündigung besteht, so
z. B. bei ganz einfach gelagerten Erwerbs- und Vermögensverhält¬
nissen; doch werden solche Fälle seltene Ausnahmen bilden.
*) Urteil des Reichsgerichts vom 30. Juni 1910 Warneyer Ergänzungs¬
band 1910 Nr. 310.
*) Urteil des Reichsgerichts vom 28. Okt. 1907 und 4. Juli 1910,
Warneyer Ergänzungsbd. 1908 Nr. 1,1910 Nr. 309. Nicht völlig zutreffend
erklärt ein Urteil des OLG. Hamburg vom 1. AprU 1901 (Rechtspr. der
Oberlandesgerichte Bd. 2 S. 447), wegen Querulantenwahnsinns dürfe
die Entmündigung nur ausgesprochen werden, wenn dieser Wahn die
Person „in allen ihren Lebensbetätigungen“ erfaßt hat.
*) Ebenso Cramer a. a. O. S. 307; anderer Ansicht, wie es scheint,
Frese a. a. O.
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Über Tuberkulose in Irrenanstalten. *)
Von
Dr. H. Löw, Anstaltsarzt.
Eine bekannte und auffällige Tatsache ist die Häufigkeit der
Tuberkulose bei den Geisteskranken in den Irrenanstalten. Über die
Ursache herrscht keineswegs Klarheit. Überfüllung oder mangelhafte
hygienische Einrichtungen, zumal alter Anstalten, werden mit in
erster Linie angeführt, Umstände, die bei der neuen, anerkannt
musterhaft angelegten Anstalt Bedburg-Hau nicht in Betracht kom¬
men. Trotzdem ist hier die Tuberkulosehäufigkeit durchaus nicht
geringer wie in alten Anstalten. Schon diese auffallende Tatsache
rechtfertigt ein näheres Eingehen auf die Frage der Tuberkulose in
der Anstalt. Vorteilhaft war, daß bei einer so großen Anstalt schon
in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum genügend Fälle zur Ver¬
fügung standen, die in kleineren Anstalten erst im Verlauf einer Reihe
von Jahren gewonnen werden können. Dadurch sind die äußeren Be¬
dingungen für das in Frage kommende Material ziemlich die gleichen. 2 )
Außerdem war ein großer Vorzug, daß man eine ganze Anzahl der
Kranken und deren Verhalten noch selbst gekannt hatte.
Im ganzen stützt sich die Arbeit auf ein Material von 536 Fällen.
Von allen war der genaue Befund durch die Leichenöffnung, die in
einheitlicher Form durch den Prosektor der Anstalt, Oberarzt Dr.
Witte, vorgenommen war, festgestellt.
M Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau, Direktor
Sanitätsrat Dr. Flügge.
*) Die durch den Krieg verursachten veränderten Lebensbedingun¬
gen kommen für die Zeit, die die Arbeit berücksichtigt, noch nicht in Frage.
31*
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444
Lö w.
Zunächst soll näher auf die Dementia praecox eingegangen
werden. Von dieser Krankheitsgruppe starben in der Berichtszeit 166
Kranke, 82 Männer und 84 Frauen. An Tuberkulose waren von
diesen gestorben 84. Bei weiteren 15 Kranken, die an andern Krank¬
heiten gestorben waren, fanden sich gleichfalls tuberkulöse Verände¬
rungen. 67 waren frei von Tuberkulose, d. h. an Tuberkulose starben
50,6 v. H.
Es fanden sich noch tuberkulöse Organbefunde in 9,03 v. H.
Demnach lag Tuberkulose überhaupt in 59,63 v. H, vor.
Zunächst muß noch gesagt werden, daß unter Dementia praecox
eine im Entwicklungsalter einsetzende geistige Erkrankung verstanden
wurde, die langsamer oder rascher unter den verschiedensten Zustands¬
bildern fortschreitend, zu einem mehr oder weniger hohen Grade geistiger
• Schwäche führte. Unter der Untergruppe der Dementia paranoides
wurden solche Fälle verstanden, die sich durch Wahnbildung unsinniger,
zum Teil abenteuerlicher Art, meist verfolgenden Inhalts, auszeichneten
und ebenfalls zu geistiger Schwäche führten. Zwischen Hebephrenie
und Katatonie konnte, da es sich meist um schon längere Zeit bestehende
Geisteskrankheit handelte, in der großen Mehrzahl der Fälle nicht unter¬
schieden werden. Sie wurden in den folgenden Zusammenstellungen der
Einfachheit halber als „Dementia praecox“ bezeichnet. Die folgen¬
den Tafeln zeigen die Beteiligung der an Tuberkulose gestorbenen De¬
mentia praecox-Kranken und der Paranoiden auch hinsichtlich des
Geschle htes.
Geschlecht
Dem. praecox
Dem. paranoides
Insgesamt
Männei.
32
13
45
Frauen .
36
3
39
Insgesamt.
68
16
84
In gleicher Weise zeigt die folgende Tafel den Anteil dieser Kranken,
die noch tuberkulöse Befunde boten.
Geschlecht
Dem. praecox
Dem. paranoides
Insgesamt
Männer.
5
1
6
Frauen .
!
7
2
9
Insgesamt.
12
3
16
Die nächste Tafel zeigt die tuberkulosefreien Kranken der Dementia
praecox- und paranoides-Gruppe.
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Tuberkulose I I Tuberkulöse Organe I I Ohne Tubeikulose
446
Lö w,
Geschlecht
Dem. Praecox
Dem. Paranoides
Insgesamt
Männer.
20
11
31
Frauen .
24
12
36
Insgesamt.
44
28
67
Die Paranoiden waren mit 34,33%, also weniger an der Tuber¬
kulose beteiligt wie die übrigen Dementia praecox-Kranken mit 65,7%.
Die Verteilung auf die einzelnen Altersstufen ergibt die Tafel auf
S. 445.
Von Wichtigkeit ist die Frage, ob die Kranken die Tuberkulose
während oder bereits vor ihrem Anstaltsaufenthalt erworben haben.
Nach Geist, Ganter, Oßwald, l ) gab die Entscheidung darüber die
Dauer des Anstaltsaufenthaltes. Sie nahmen die Dauer der Tuber¬
kulose zu 3 Jahren an, ließen die Fälle mit 4 und 5 Jahren Anstaltsauf¬
enthalt als strittig außer Betracht und kamen so zu dem Ergebnis, daß
die Hälfte der Kranken (Geist, Ganter) oder doch ein Drittel derselben
(Oßwald ) die Tuberkulose in die Anstalt bereits mitgebracht
hätten. Wenn man sich dem zunächst anschließt, so wären bei uns unge¬
fähr ein Viertel der an Tuberkulose Gestorbenen schon bei ihrem Eintritt
in die Anstalt tuberkulös gewesen. Eine andere Frage ist es, ob man auf
diese Weise zu einem der Wahrheit nahekommenden Ergebnisse kommt.
Das Gegebenste wäre natürlich, die einzelnen Krankengeschichten hier
bezüglich der Dauer der Tuberkulose zu Rate zu ziehen. Leider lassen
diese einen aber in dieser Beziehung meist im Stiche. Ist es nämlich
bei geistig Gesunden nicht immer leicht, den Beginn einer Tuberkulose
zeitlich festzulegen, so um so mehr bei einem Geisteskranken, zumal
einem der Dementia praecox-Gruppe, da bekanntlich die Kranken
bei einer regelrechten Lungenuntersuchung sehr oft große Schwierig¬
keiten bereiten. Findet man dennoch den auf Tuberkulose bezüg¬
lichen Eintrag in der Krankengeschichte, so ist die Tuberkulose gewöhn¬
lich schon so weit vorgeschritten, daß sie von da ab als sehr rasch ver¬
laufend imponiert. Daraus würde folgen, daß Kranke selbst mit einem
verhältnismäßig langen Anstaltsaufenthalt trotzdem schon vor Eintritt
in die Anstalt sich hätten angesteckt haben können. Dies dürfte zumal
für die gar nicht so selten von Drüsen ausgehende Tuberkulose gelten.
Es wäre also ganz gut möglich, daß wir mit einem weit längeren Verlaufe
der Tuberkulose zu rechnen haben, wie die Krankengeschichten glauben
machen. Die Ansteckung selbst kann dann noch weit länger zurück¬
liegen. Sie muß nicht notwendig mit dem klinischen Auftreten der
Tuberkulose übereinstimmen, sondern kann jahrelang vor demselben
*) bei Ganter 1
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
447
stattgefunden haben. — Andrerseits können Kranke mit kurzer Dauer
des Anstaltsaufenthaltes sich doch sehr wohl während des Anstalts-
aufenthaltes angesteckt haben, zumal wenn sie aus irgendeinem Grunde
körperlich weniger widerstandsfähig werden. Kurzum, es ist sehr schwer,
nachträglich in dieser Beziehung einigermaßen klar zu sehen.
Weiterhin wurde bei der Durchsicht der Krankengeschichten darauf
geachtet, ob sich irgendwelche Anhaltspunkte von vornherein finden ließen,
die als begünstigend für das spätere Auftreten der Tuberkulose in Frage
kamen, und zwar vor allem auf tuberkulöse erbliche Belastung, frühere
schwächende Krankheiten, schlechten Ernährungs- und Kräftezustand
usw. Es fand sich nur sehr wenig; erbliche Belastung nur in 8, Trunksucht
in 7 Fällen. 1 ) Von schwächenden früheren Krankheiten fand sich eben¬
falls nicht viel vor: Skrophulose 2mal, Rhachitis 2mal. Typhus und Lues
je lmal, Diabetes lmal. Gleich bei der Aufnahme wurde festgestellt:
„dürftig genährt“, „immer schwächlich“, „spät laufen gelernt“, „zum
Skelett abgemagert“, „außerordentlich dürftig genährt“, „immer
schwächlich“, „als Kind spät laufen gelernt“, „Verbildung des Brust¬
korbes“, „grazil, 44 kg Gewicht“, „dürftig genährt“, „mäßig genährt“,
„klein und schwächlich“, „schlecht genährt“. Also recht wenig 1
Damit ist aber die Rolle der Tuberkulose bei unseren Dementia
praecox-Fällen noch nicht erschöpft. Bei weiteren 15 Leichenöffnungen
von Kranken, die aus anderer Ursache gestorben waren, fanden sich mehr
oder weniger starke, tuberkulöse Veränderungen. Es handelte sich um
6 Männer und 9 Frauen. (S. die Zusammenstellung S. 445.) Aber
nur in 3 Fällen war der tuberkulöse Prozeß derart, daß er, auch falls keine
andere Krankheit dazugekommen wäre, wohl binnen kurzem zum Tode
geführt hätte. Bei den übrigen 12 Fällen waren die tuberkulösen Ver¬
änderungen nur leichte, d. h. sie hätten zweifellos örtlich beschränkt oder
auch ausheilen können. Uber die 3 schwer Tuberkulösen ist, unter Be¬
rücksichtigung der bei den an Tuberkulose Gestorbenen erwähnten Um¬
stände, folgendes zu sagen:
Fall 1. Trunksucht; grazil, mäßig genährt, mutazistisch, Tiks,
muß zum Essen angehalten werden.
Fall 2. Bot nichts Besonderes.
*) Bezüglich dieser Umstände ist man ja meist auf den vorge¬
schriebenen Fragebogen angewiesen. Es ist aber sehr wahrscheinlich,
daß dieser hier oft genug versagt. Der denselben ausstellende Arzt ist ja
meist von den Angaben der Angehörigen abhängig, die, zumal es sich in
unseren Fällen meist um ungebildete Bevölkerungsschichten handelt,
wohl selten geneigt oder geeignet sind, diesbezügliche genauere Angaben
zu machen. Vielleicht wird auch von den Ausstellern der „Fragebogen“,
da es sich ja um Geisteskranke handelt, weniger auf solche Umstände, wie
Tuberkulose in der Familie, geachtet.
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Fäll Miitaxisfisch, katalept»sßh, uhrvdiüi#lbvStr>hkt aU«rhap«i i*»
den Mnau.
Fall J ; und .3 fallen-hfezöglivl) .*.*r Ohuit des AnsbähSanfe» 1 1 h «•♦ 1 1 -
ulitt r die Rubrik :f jbis 5 Jahr»-, Falt1tfllwr 5 .Jahre '/avei liUen an «.hwr«
;Lur»g"i‘nti!berk,ülospi .■ tfibttr m Lüü£€di* und Darrnfiiberkidnse.
in der liilcenden Kurve -sollen nun 7.inid<-li<* einmal die au Tul»*»b-
kuloso Gestorbenen und di" sdiwor tuberkulösen- f?r<ti£>iii!•>»•' j>rae. ox
Kranken dem flest'-— Tui.«*rk«b>sprrete und te-irbt Tuho.rknub.e! -- jßffäjtöfi
übergestellt werden,.
Die meisten Todesfälle . bei den. setiwer. Tuberkulosen Isllen ,d-r. in
die- frühen Altersstufe»' 2 (>—A 3 Jahre.
f t-'b*?r die 12 Dementia praetb*'
thK’bter TtiberkMlö^e &S
JKranfeii »tiM
*0 «agen: ^
'*3*. i- .Nichts- lihsurtdere^d t ,
Fall •%: Mütter. baberkufü*; selbst
schlank, „ grazil. ,.. VVichaiten.: gehe m 1 nt,
oft unrein.
Faiht. NaiirtiriRsVhrXvejgerunjB’o/fnr,
vsodaü .%iidt i n : et , ndiu‘üug uäüg ^ar. ■ .
Fall ». Als Kind Drusen; mag-r,
sehr dürtfi#' "e nährt.
•Fall 5. KälstthiritM
Btvffictypkiii.- oft unrein
, FatF ‘ Naiiriini^sTidsTignrdiih;
8ru;up?-iedn;d;rido* xn. Bett, bizarr.
'•' / .'.--‘.F/d-./t'-'-r’
Fall ?v Brhlenht gewährt; Vgrr-
hcirtirti, tedukhadu-v ?,ü Bett, bi/arre
HaBttiig iahtTlaug.
Fall -8v Mvittei' imf>Ungentuber.fcul-.ev-' #--U»rb> n selbst; idiev and
Trunks*»; hl;. •srbun-.rh» <};. *■ nleeht genährt.
Riehls Besonderes. \ ■ : / ' ’ ' ';
Fall 1 ti.: -Stduvaehlii-b gesjienf.^ yr-rhalt<?n, schm ht ng,.
S-itmuD-in d. n Mund, ?)ie Ohren usw.
Fall )1. Verna» tilassiyt sieb völlig. i.T.u-.-i- nuU and unrein.
Fall 12.. Vie|.!>
Was die Dauer des ^nsialisaufoiitlialtes uugeht. so v.*irhi PaIM— .
unter d Jahren tn A»>t»lt>'plhv- Sie hatten dti*> >ub;h de» ebe» .-r>v,iht.ift(>
Autoren 'ihre 'fuberkul-v-:. H^ v.w Riidrili in die Anstalt envnthu.i ,
Fall ä und V InriU»«: eUit-ti .Vu-AalDuiideiHhtdf. va» | .(ajiren, bei SImm 1 *
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halte* ! ulH rkut'i». #■ Udrih:«. v. ai-i it , Pali T -t? de- über fi .labb> iii An
st,d<spdeye ourefi hatten. db--. Tt;het-i; i.ie*e n? dei Avisfidt cr\v.«rl>en.
•/V «•
> jTnVMfcuioÄ*?r&<e ujirt
S y* ( %J$n. tttttm’ktsiifre
Uber Tuberkulose in Irrenanstalten.
449
Es bleiben noch kurz die Dementia praecox-Kranken zu be¬
sprechen, die frei von jeder Tuberkulose waren. Wie schon erwähnt,
waren es 67, und zwar 31 Männer und 36 Frauen. Es war wichtig, auch
hier den Anstaltsaufenthalt zu bestimmen, da man einwenden könnte,
sie seien deshalb frei von Tuberkulose geblieben, weil sie nicht lange geaug
in Anstaltspflege gewesen seien, wenn man annähme, daß die Verhältnisse
in der Anstalt die Tuberkulose Begünstigten. Es ergab.sich nun: Unter
3 Jahren waren in Anstaltspflege 13 Kranke, zwischen 3—5 Jahren
12 Kranke, über 5 Jahre 42 Kranke, d. h. 62,68%, also genug Kranke
waren hinreichend lange in Anstaltspflege, um diesen Einwand zu ent¬
kräften. Weiterhin fand sich tuberkulöse Belastung 3mal, Trunksucht
ebenso oft, Typhus vor Aufnahme in die Anstalt lmal. Einer wurde bei
der Aufnahme in die Anstalt als „schwächlich und kränklich“ bezeichnet.
Unreinlichkeit, stuporöses Verhalten, Nahrungsverweigerung und ähn¬
liche Umstände, die gewöhnlich als nicht zu unterschätzende Hilfsursachen
für das Entstehen der Tuberkulose bei den Dementia praecox-Kranken
betönt werden, fanden sich unter diesen 67 tuberkulöse freien Fällen bei
42 Kranken, d. h. bei 62,68%.
Es bleibt zum Schlüsse noch übrig, die Todesursache für diese
Kranken anzugeben. Die 15 Fälle, die noch tuberkulöse Organbefunde
hatten, werden in der folgenden Zusammenstellung mit berücksichtigt.
Es starben an:
1. Herzkrankheiten. 12 Kranke,
2. Lungenkrankheiten . 15 Kranke,
3. Darmkrankheiten. 6 Kranke,
4. bösartigen Geschwülsten. 6 Kranke,
5. Infektionskrankheiten (pyämischen u.ä.) . 18 Kranke,
6. Marasmus. 12 Kranke,
7. Verschiedenem. 13 Kranke.
Fassen wir das alles nochmals zusammen, so ist zu sagen.: Von
unseren Dementia praecox-Kranken starben an Tuberkulose
50,6%; außerdem fanden sich noch tuberkulöse Organveränderungen
bei 9,03% Tuberkulose überhaupt, also bei 59,63%, und zwar lag
bei 52,4% aller Dementia praecox-Kranken insgesamt schwere
Tuberkulose vor. Die Tuberkulose war also äußerst häufig; die Hälfte
der Dementia praecox-Kranken erlag ihr ohne weiteres. — Ganter
fand in Saargemünd 45% tötliche Tuberkulose bei Dementia
praecox, M. Schröder in Lauenburg sogar 67% tötliche Tuber¬
kulose bei insgesamt 200 schizophrenen Frauen.
Was das Geschlecht angeht, so hatten 52,88% der Männer und
47,12% der Frauen schwere tötliche Tuberkulose. Am häufigsten
waren Lungen, Därme und Drüsen von der Tuberkulose ergriffen.
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ürijir-af fon .
••••' 'lyNtVERSrFf'.OF MI^HFGÄW
übisr Tuberkulose in IrfenaostaJtf'D
Die nebenstehende ZuBammeuiteiltiiig zeigt den Anteil sämt¬
licher tuberkulöser Organe bei den schwer Tuberkulösen.
Was die Dauer des AiistÄltsanfeüthaHes Äögeht, so waren 58,50%
aller tuberkulöses Dementia praeebkrKJnnfeeJi über ä Jahre in
Anstaltsplfege gewesen, aber auch &i,68% der Tuberkvilosefreien,
Von T^mstäßdsn, die als die Tuberkulose begünstigerid j» Frage
kommen; fand sich nur sehr wenig in den Krank,enge«chtebten ange¬
geben. Bi« rnnt;45. Lebensjahre üljerwicgen die schwer Tuberkulösen
ganz erheblk'b ariZähl gegen die leicht Tuberkülöseri und die Tuber-
kulosefreien, vom 46. Lebensjahre ab war tlss IJöigekf-hrte der Fall.
(Siehe Kurve S. 448!)
Wenden wir uns zu einer weiten Krankbeitsgru pptt, saöttEp.ile^ ie
mit Seelebetöirintg. Es »ml 7 Frauen.
18: waren da^oh an Tnl)erknlose geetärben.-VUnd war nur Männer.
7 weitere, ebenfalls mirMänster, hatten noch tuberkulöse.Organbefunde*
41 Kranke warehDdte^^ wärSi Männer und 7 Frauen, d, h.
an Tuberkuio&e starben — ...;l 27,27%
tuberkulöse Orgaidtefirade haften noch...10,6 %
Tuberkulose überhaupt also.... . .37,87%.
In der.lolgfenderk Tafel sind unsere Fälle übersiehtlteh tta»*h Alter und
ijtbiKi Intiia [ rwb#riuf#te
-w :4ä,\ j s», ■ ■ Sä.
Tut-.. ur^Ätt'k
2üf-be$sgre»» \T*rau3chauiihhiing 4er Yefljiülidsswsbul ift nsßhfölgeh
d*tr Kurve sämtliche Tuberkubsef rille «je« tuberkulöse frei»'ri Fällen geg< m
iiiwjffjpjjteUt
TuWkulÖHe
TyberlittU»aefrei*
Vorweg mut> genommen Werden, »laß.*•» sn I. io ulMl Fallet! ihm
«•'•Imvrslu totliehe Tuberkulose tuuuioBe, *? daß die iv.m vv «»Kino tv»*il*>{•<•..
mit der der De me iit u«: praecox Aul & 448 vtu\gii« hen werden. kann •
lin Gegensatz. :..ur Dementia prjiee.u.x. überwiegt die i’uberkuktsi' niir
in »len frühen Alf grsstu fen
keif - /1er Tuberkulosem-o-M in. vier Ailcrssfub - >»v—AO hegt
Für di* das auch
für die' Deinen Ua p'r*At*»/»>*• Gesagte. Der erste Anfang. derTuberkiiiose
war aoel. Juer schwer ksi zu* teilen, so dati über die Dauer ihirselbixn ü*r»ig
Sicheret gesagt werden Aüstüf bau fe hlhalb*
angehU sit waren von den l$< Tuberkulosen ::> unter U Jahren in Aiistalte--*
pfbp, • 'JaÄM'v- Uk über V.^tpbfJb • jjjjiHji» Canier »triff andern halte#*,
db wrü&’-lTf'A % die Tjj^fit*rt£vjfostr ii(f de;r Aitöl 3 il,t.'eJ^nrb<iu, doch sielte hierüber
dna iiei der. D ein « u 1 i a p rurvax Gesagte.
M äo.c von Wichtigkeit/ att'cli bei den Epileptischen ncuhznsefmn,
<<b sieb tMii.st;iJi<le fanden, die mit tlejn EntStcfieri der Tuberkulose in An-
SHfHtneitliaiig gebracht werden Üttnut-eri; Hierüber Jkf folge rüles au sageh :
Tuberkulose erbliche .Belastung war in keiiifni Falb* angegeben.: Für
diese) i Puu kt* d ü rite ö brr eben falls das b i erüber bei der D e m e »jt t * a. p rÄft
ecix Gesagte gelten. Wenn man anriimmt. «faß .Schwere uiidvlfäühgke«;
der Anfälle sowie deren ^ütgmj der Tuberkobv Vorschub leisten so-muß
gesagt worden. 'laß dieser Urnsland für unsere Iaber kühn.*» Epiicptilidr
ilitraf. Alle litte» o» schweren. ^ahJrviciieri. »um Teil geftüurtpn An*
fallen, off iahrelang’.
Du v.unei) Sie; der Dementi» pruüi'»x*; die Häufigkeit der TufcPtv
kulose in Zusnninu-nlmug gebrneht wird dii* dem Verhalten der Kranken
ihrer tfnrf'ijiiiclrkeit;, - dem lialtiihdbsett
im Bett: dem wldechlgn Atfneu
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Ober Taberkalose in Irrenanstalten.
453
-üsw., so wurde bei der Durchsicht der Krankengeschichten auch bei den
Epileptischen auf diese Umstände besonders geachtet. Denn schließ-
lieh müssen diese auch für die Epileptiker gelten, die jahrelang bei
schweren, regelmäßigen Anfällen oft tagelang mehr oder weniger benommen
und dösig daliegen, unrein mit Entleerungen sind usf. Es fanden sich
solche Umstände bei 8 der Tuberkulösen in ausgesprochener Form, aber
auch bei 27 der 41 nicht tuberkulösen Epileptiker.
Was weiterhin diese angeht, so waren 8 unter 5 Jahren in Anstalts¬
pflege, 11 zwischen 3—5 Jahren, 22 über 5 Jahre; 53,65% waren also
lange genug in Anstaltspflege, um dort eine Tuberkulose erwerben zu
können. Im übrigen handelte es sich auch hier fast ausschließlich um
schwerste Epilepsien. Ein Kranker war erblich mit Tuberkulose be¬
lastet, ein anderer hatte eine tuberkulöse Tochter.
Die folgende Tafel gibt Aufschluß über die befallenen tuberkulösen
Organe und deren Zusammentreffen in den einzelnen Fällen.
Die Todesursache der nicht der Tuberkulose direkt Erlegenen und der
tuberkulosefreien epileptischen Kranken sind aus folgender Zusammen¬
stellung zu ersehen.
Stellung zu ersehen.
1. Hirnlähmung nach Anfällen. 25
2. Marasmus . 6
3. Lungenkrankheiten . 7
4. Herzkrankheiten. 5
5. Darmkrankheiten (Colitis diphtherica). 3
6. Verschiedenes.. • 2
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
454
Löw,
Zusammenfassung: Die Tuberkulose ist bei unseren Epi¬
leptikern mit 37,87% sehr häufig. Sie trat jedesmal in schwerster
Form auf.
Hahn findet bei einem allerdings weit größeren Material nur 8,6%
Tuberkulosesterblichkeit; allerdings gibt er noch leichte tuberkulöse
Veränderungen in 34,3 % an, aber nur solche, die er als geheilt bezeichnet.
Er sagt: „Der Prozentsatz der Todesfälle an Tuberkulose war hier nicht
wesentlich höher als in der Gesamtbevölkerung Sachsens überhaupt,
pflegte sie im Lande alljährlich doch mit etwa 8 % unter den Todesursachen
vertreten zu sein. Von den hier Verstorbenen hatte keiner länger als
3 Jahre in der Anstalt verweilt.Jedenfalls handelte es sich in allen
diesen Fällen stets um schwerste Formen der Tuberkulose, um Formen,
die allgemeine Emaziation zur Folge hatte.“ Er meint weiterhin, daß so
günstige Zahlenverhältnisse bei den allerdings in der Literatur spärlichen
Angaben im übrigen nirgends gefunden werden. Köhler in Hubertusburg
fand 16,7 %, Habermaas in Stetten 10 %, Ganter in Saargemünd aber 21,8 %.
Nach Fere (zitiert nach Hahn\) sollen Epileptiker oft von Phthise be¬
fallen werden. „Er hält es für möglich, daß die Epilepsie durch die
zirkulatorischen, respiratorischen und nutritiven Störungen, vielleicht im
Bunde mit der bestehenden kongenitalen Inferiorität, eine Disposition zur
Phthise schafft, und daß die den nervösen Entladungen folgenden Altera¬
tionen des Blutes die Empfänglichkeit des Organismus für Krankheiten
steigere.“
Bei unseren Fällen war, wie bei der Dementia praecox, am
häufigsten Lungen- und Darmtuberkulose vertreten. Tuberkulöse
erbliche Belastung war in keinem Falle angegeben. Umstände, von
denen man annehmen könnte, daß sie die Tuberkulose begünstigten,
wie Unreinlichkeit, schlechtes Atmen, schwere Benommenheitszustände
usf., fanden sich bei den tuberkulösen Epileptikern eher seltener wie bei
den nicht tuberkulösen. Das Todesalter war im Durchschnitt nicht
wesentlich geringer wie das der nicht tuberkulösen Epileptiker.
Über das Vorkommen der Tuberkulose bei der Paralyse ist
folgendes zu sagen. Von insgesamt 115 Paralytischen — 85 Männern
und 30 Frauen — waren 13 tuberkulös; 8 erlagen der Tuberkulose
unmittelbar, 4 Männer und 4 Frauen; 5 weitere Kranke, 4 Männer
und 1 Frau, hatten noch tuberkulöse Organbefunde, d. h.
an Tuberkulose starben. 6,956%
tuberkulöse Befunde hatten noch. 4,348%
Demnach Tuberkulose überhaupt.11,304%
tuberkulosefrei waren. 88,69%
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Tuberkulose m Irrenanstalten
Die Verteilung auf die einzelnen Altersstufe» «ach Geschlechtern
zeigt folgende Tafel.
Tufeer-
Die Durchsicht der einzelnen Krankengeschichten der an Tuber*
kujfwe Gestorbenen ergab tuberkulöse erbliche Belastmig nur in'einem
FäÖ? (beide Elfern und 5 öeschwbierl). Andere Hillsiii-s;« heri für das
Sntsfebeo der Tubcefailuse waren nicht zu finden. Von 5 Kranken war
eigens bemerkt, daö sie leräfitg, '/muskulös, gut genährt waren; auch in
ihrem psychische» Verhalten war keine Abweichung von i^.»w der andern.
Paralytischen feslzusielJeo.
Was; die Dauer der TuherkuloSe<n>gohh 0 war dieselbe in i. Falle
t Jahr vor • Hem/Töäe hei den
andern hatte die Tuberkulose eich nicht. besondersbemerkt:.»? gemacht.
2 cier an d uberkidose Gesicvfhöiien, dh: nur 4 bzw- V Mmi.de ln der Anstalt;
gewesen waren, hatten dieselbe Wcchl schvu enlierhnlhdcr Aast alt erworben,
über b Jahr* war kein Tuberkulöser in der Af(£laft gewesen.
• W«g nie- Art :icr Töberliuluse angeht, so ha) len : d - Lungen--, • Darm-,
DriiSontybe.rkblbSg'y einer Lbfigentuberkuldse und fubefküldse ftipperifell-
«fttittfidUüg tnit Krgüß.. Jiippeufeari.cs mH .SenliuiF)|gs|j^«eß, ^toßordem
<ter Dunge» und 0h böi 810®«}^'
Übe? .dib;:j;-;l^ir»jlylfaeli'?n.' die be) der Sektion noch tuberkulöse
Organbeiamie Atdgtcbv ist zciAagcdi; Thberkrilcvstr .erbliche Bel^stdug war
io keinem FäUe angegeben'; 1 Kranker wurde bei der Aufnahme als
„schlank amt heieirhheti Eihe j^gc'rtdlifjg' Pjhjalytisehe w'ar seit
2t. Jahren voiSf^ hdn.es, bracher kein Wort mehr hera us, litt an schwerem
Go gle
456
Lö w,
Druckbrande des Rückens, der Ellbogen, der Fingergelenke und der
Fersen. Bei 1 Kranken war 9 Monate vor dem Tode eine Quecksilber-
Tuberkulinkur gemacht worden. Die 5 Kranken starben bis auf einen
Fall, der an Lungengangrän zugrunde ging, an Marasmus. Die Tuber¬
kulose, war in keinem Falle so stark, daß sie als Todesursache in Frage
käme. Die Befunde waren im einzelnen: leichte Lungentuberkulose 2mal,
Drüsentuberkulose lmal, leichte Darmtuberkulose lmal, alte tuberkulöse
Spitzennarben lmal.
102 Paralytische, 77 Männer und 25 Frauen-, waren frei von jeder
Tuberkulose. 94 starben an paralytischem Marasmus oder Anfällen.
Von den übrigen starben 2 an Lungengangrän, 1 an eitriger Rippenfell¬
entzündung mit Erguß, 1 an Blutung bei Magengeschwür, 2 an Typhus
abdominalis, eine an Colitis diphtherica, 1 an Sepsis.
Was die Dauer des Anstaltsaufenthaltes angeht, so waren im ganzen
nur 7, und zwar nur Tuberkulosefreie über 5 Jahre, in der Anstalts¬
pflege.
Eine Kurve, welche die schwer Tuberkulösen den leicht Tuberkulösen
bzw. den Tuberkulosefreien gegenüberstellt, ergibt folgendes Bild.
ZusammenfasBung: Bei einem
Material von 115 Paralytischen betrug
die Tuberkulosesterblichkeit 6,9%, leichte
tuberkulöse Veränderungen als Neben¬
befund fanden sich in 4,34%. — Lungen-
und Darmtuberkulose herrschten vor.
Erbliche tuberkulöse Belastung fand
sich nur lmal. Besondere Umstände,
die mit dem Entstehen der Tuberkulose
in Zusammenhang gebracht werden
könnten, fanden sich bei den an Tuber¬
kulose Gestorbenen nicht.
Ganter fand bei 299 Fällen eine Tuber¬
kulosesterblichkeit von 7,3 %, d. h. ungefähr
das Gleiche wie bei uns, auf Ausheilung
hindeutende Befunde in 4 %, wieder wie bei
uns. Käs fand derartiges unter 830 Sek-
tionen 126mal = 15,2 %. Ganter meint be?
X TÄKSC trelTe ” d «« Tuberkulose: „Am günstigsten
1 u. Tuberkulosetreie kommt die Paralyse weg. Brehm be¬
rechnet 6,3%, Heilbronner allerdings
13,3%. Wir können aber der Ansicht Heilbronners , daß die Para¬
lyse zur Tuberkulose disponiere, nicht beistimmen.“ Dieser Ansicht
Ganters können wir uns nur anschließen. H. Banse und H. Roderburg
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
über Tuberkulose in Irrenanstalten.
457
geben bei 197 Paralysen 8,24% Tuberkulosesterblichkeit an. Von diesen
Autoren wird die Ansicht ausgesprochen, daß die Paralyse der Tuber¬
kulose Vorschub leiste, da unter normalen Umständen die Aussicht der
Paralytiker, im Alter von 30—40 Jahren an Tuberkulose zu sterben,
auf Cornets Berechnungen bezogen, etwa 1,3—2,2% betragen müßte.
Junius und Arndt geben 6,54% an. Witte (nicht veröffentlicht!) fand in
Grafenberg bei 312 Paralysen 23 Tuberkulosetodesfälle, d. h. 7,37%.
Kurzum, alle diese Autoren fanden, ausgenommen Heilbronner, kaum
verschiedene Resultate. Dagegen findet Lucacs bei seinen Fällen in 58%
tuberkulöse Veränderungen. Allerdings nimmt auch er jeden Fall ad¬
häsiver Pleuritis als tuberkulös an. Pilcz fand bei 896 Paralytikern eine
Tuberkulosesterblichkeit von 10,38%, während sie bei andern Geistes¬
kranken der gleichen Altersstufen 25,9 % betrug; ausgeheilte Tuberkulose
bei Paralyse in 7,39% gegen 1,79 % bei andern Geisteskranken. Kurzum,
die Tuberkulose scheint bei der Paralyse seltener zu sein wie bei andern
Geisteskrankheiten.
In dem Zeitraum, der für diese Arbeit berücksichtigt wurde,
starben 25 Kranke der manisch-depressiven Gruppe. Bei der
Krankheitsbezeichnung: „Manisch-depressives Irresein“ wurde be¬
sonders vorsichtig verfahren, damit nicht Fälle unterliefen, die unter
andere Krankheitsgruppen, zumal die Dementia praecox, gebracht
werden mußten. Dies dürfte schon in der geringen Anzahl dex
„Manisch-depressiven“ zum Ausdruck kommen.
Von den 25 Kranken, 12 Männern und 13 Frauen, starben an
Tuberkulose 8, und zwar 5 Männer und 3 Frauen, also 32%, Schröder
fand in Lauenburg nur 10%.
Die folgende Tafel gibt die Verteilung der Kranken nach Geschlech¬
tern auf die einzelnen Altersstufen.
Altersstufen
Tuberkulose
Ohne Tuberkulose
Gesamt Sa.
cf
1 $
Sa.
cf
$
Sa.
36—40
•
•
•
1
2
3
3
41—45
•
•
1
i
2
2
46—50
1
1
2
•
3
3
5
öl—55
•
•
•
1
1
2
2
56—60
•
1
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1
2
3
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61—65
2
•
2
1
•
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66—70
2
•
2
2
•
2
4
71—75
•
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•
•
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•
•
•
76—80
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1
1
2
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3
8
7
10
17
25
Zeitschrift fttr Psychiatrie. LXXITI. 5 . 32
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
458
Lö w,
Von den 8 Tuberkulösen waren 3 nur ganz kurze Zeit in Anstalts¬
pflege: 1, 3, 4 Monate, bei einem weiteren war die Tuberkulose bereits bei
Aufnahme in die Anstalt wahrscheinlich, so daß 4 der Kranken die Tuber¬
kulose wohl sicher außerhalb der Anstalt erworben hatten. Was die
geistige Erkrankung angeht, so litten 5 Kranke an Melancholie, 2 an
Manie, bei einem wechselten manische und depressive Zustände.
Über erbliche tuberkulöse Belastung fand sich nichts. Irgendwelche be¬
sondere Umstände, die durch die geistige Krankheit bedingt, mit dem Aus¬
bruch der Tuberkulose in Verbindung hätten gebracht werden können,
fanden sich nur bei einem Melancholischen mit Selbstmordneigung, der
Nahrung verweigerte, so daß Sonderernährung nötig war. Was die von
der Tuberkulose ergriffenen Organe angeht, so lag einmal Knochentuber¬
kulose vor, und zwar Wirbelkaries mit Senkungsabszeß und Tuberkulose
der Beckenknochen, lmal Lungen-Drüsentuberkulose, lmal Tuberkulose
der Lungen, Därme und von Drüsen, lmal Tuberkulose der Lungen,
des Bauchfells und von Drüsen, lmal Tuberkulose der Lungen, Därme,
des Bauchfells, der Gebärmutter und Eileiter, 3mal Lungentuberkulose
allein.
Irgendwelche tuberkulöse Veränderungen bei den aus anderer Ur¬
sache gestorbenen übrigen 17 Kranken der manisch-depressiven
Gruppe lagen nicht vor. Was deren Anstaltsaufenthalt angeht, so waren
8 unter 3 Jahren, 2 waren 3—5 Jahre, 7 über 5 Jahre in Anstaltspflege
gewesen. Bei diesen tuberkulosefreien Kranken war einmal erbliche
tuberkulöse Belastung angegeben: beide Eltern waren an Tuberkulose
gestorben. 6 waren nach ihrem psychischen Verhalten so, daß-dieses eine
Tuberkulose hätte begünstigen können. Die Todesursachen der nicht
tuberkulösen Manisch-depressiven waren:
1. Herztod. 4
2. Lungenkrankheiten . 6
3. Sepsis. 2
4. Retropharyngealabszeß. 1
5. Marasmus . 1
6. Typhus abdominalis. 1
7. Karzinom. 2
17
Zusammenfassung: Der Prozentsatz der Tuberkulose bei den
Manisch-depressiven war sehr hoch: 32%; indessen rechtfertigt
das geringe Material keine weitgehenden Schlüsse. Die Hälfte der
Kranken hatte die Tuberkulose wohl schon vor der Auf¬
nahme in Anstaltspflege erworben. Die Tuberkulose verlief
jedesmal so schwer, daß sie Todesursache war. Dies kommt auch in
der großen Zahl der befallenen Organe zum Ausdruck, bei denen
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber Tuberkulose in Irrenanstalten.
459
wieder Lungen und Därme im Vordergrund standen. Nur einmal
waren durch das Verhalten des Kranken die Tuberkulose begünsti¬
genden Momente vorhanden; bei den nicht Tuberkulösen fanden sich
indessen auch solche in 6 von 17 Fällen.
Wenden wir uns nun zu einer andern Krankheitsgruppe, zur
Dementia senilis. Von ihr starben in der Berichtszeit 120 Kranke,
62 Männer und 58 Frauen. Unter ihnen waren 12 Tuberkulöse. Bei
10 Kranken lag schwere Tuberkulose vor, bei 2 leichte.
Den Anteil der Geschlechter zeigt folgende Zusammenstellung:
Geschlecht
schwere
Tuberkul.
leichte
Tuberkul.
Tuberku¬
losefrei
Gesamt
Sa.
Männer.
7
1
64
62
Frauen .
3
1
64
■«
68
Insgesamt.
10
2
108
120
Der Prozentsatz an Tuberkulose überhaupt ist also 10, an schwerer,
tötlicher Tuberkulose 8,3. Von den schwer Tuberkulösen hatten einen
Anstaltsaufenthalt unter 3 Jahren 5, 3—5 Jahre 4, über 5 Jahre 1. Be¬
sondere Erscheinungen hatte die Tuberkulose im allgemeinen nicht ge¬
macht, sie war durch das allgemeine Bild der Gebrechlichkeit verschleiert
worden. Was die Art der Tuberkulose angeht, so lag 8mal Lungentuber¬
kulose allein vor, 2mal Miliartuberkulose der Lungen und zwar lmal mit
Beteiligung der Milz und des Bauchfells, lmal mit Beteiligung von Drüsen,
lmal bestand Lungentuberkulose und tuberkulös^ Brustfellentzündung
mit Erguß, Darm- und Drüsentuberkulose, lmal Lungen- und Darm¬
tuberkulose. Die Tuberkulose war 9mal als unmittelbare Todesursache
aufzufassen, lmal war diese Colitis diphtherica. In 2 Fällen war der bei
der Leichenöffnung gefundene tuberkulöse Prozeß als leicht zu bezeichnen:
bei einem 63jährigen Manne, der an Bronchopneumonie starb, fand sich
eine leichte Lungentuberkulose, bei einer 76jährigen Frau, die an Maras¬
mus starb, Drüsentuberkulose und ein tuberkulöses Geschwür im lleum.
Beide waren über 5 Jahre in Anstaltspflege gewesen.
Über die nicht tuberkulösen Senilen ist kurz folgendes zu sagen.
Die meisten starben an Altersmarasmus bzw. der Arteriosklerose oder
ihren Folgen. Erwähnenswert ist nur folgendes. 6 starben an Karzinom,
und zwar 4 an Karzinom des Magens — 3 Frauen und 1 Mann —; 1 Frau
an Nierenkarzinom und 1 Frau an Uteruskarzinom. An eingeklemmtem
Bruch starb 1 Kranker, an Darmverschlingung 1, an Colitis diphtherica 4,
an Gesichtsrose 1, an Pyelonephritis 1. Nicht unerwähnt darf bleiben,
daß sich bei 2 Kranken alte, sicher tuberkulöse Lungenspitzennarben
fanden, also abgeheilte Tuberkulose.
32*
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UMIVERS1TY OF MICHIGAN
460
Löw,
Zusammenfassung: Bei unseren Senilen spielt die Tuber¬
kulose eine recht geringe Rolle, da nur 10% der Gestorbenen tuber¬
kulös waren, und zwar nur 8,3% so schwer, daß Tuberkulose Todes¬
ursache war. Ganter gibt die Tuberkulose gleichfalls mit 8,3% an,
M. Schröder findet 10% Tuberkulosesterblichkeit. — Klinisch hatte
die Tuberkulose im allgemeinen Bilde des Marasmus keine auffällige
Erscheinungen gemacht. Lungentuberkulose herrschte auch hier vor,
während die Darmtuberkulose im Vergleich zu den andern Krank¬
heitsgruppen bedeutend zurücktrat. Bemerkenswert ist, daß gerade
die meisten tuberkulösen Kranken nur kurze Zeit in Anstaltspflege
gewesen waren. Der Anstaltsaufenthalt war: 3 Tage, 7 Monate je
lmal, 1 Jahr 3mal, 4 Jahre 4mal, 12 Jahre, 13 Jahre, 16 Jahre je
lmal. Was das Lebensalter der Tuberkulösen angeht, so starben in
den Altersstufen:
61—65
66—70
71—75
76—80
81—85
5 Kranke
12 Kranke.
Der Rest der Tuberkulösen, die in der Berichtszeit starben, gehört
Gruppen von Geisteskranken an, die nur wenig Kranke umfaßten.
Es soll nur ganz kurz das Wesentlichste berichtet werden.
Es handelt sich zunächst um angeborenen Schwachsinn.
1) Schwere Tuberkulose.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstal ts-
anfenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usf.
Leichen¬
befund
1
?
1
44
Jahre
!
j
4 Monate
j
0
Als Kind „Drüsen“.
12 Schwanger¬
schaften in 20
Jahren. Bei Auf¬
nahme sehr herun¬
ter, unrein, afi
schlecht
Lungen-
Darm-
Drfisentnber-
knlose
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
461
2) Leichte Tuberkulose.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usf.
Leichen¬
befund
i
S
i
64
Jahre
Jahre
0
1
Leichte
Lungentuber¬
kulose u.
Drüsentuber¬
kulose
2
1
<j
42
Jahre
4 Jahre
0
Muß körperlich ge¬
regelt werden
Leichte
Lungentuber¬
kulose
3) Tuberkulosefreie.
Nr.
Ge¬
schlecht
>
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
1
Hilfsmomente für
Tuberkulose usw.
Leichen¬
befund bezw.
Todesursache.
1
<?
28
Jahre
8 Jahre
0
—
Typhus
abdominalis
2
<*
43
Jahre
12 Jahre
0
—
Marasmus
3
?
20
Jahre
2 Monate
0
Als Kind Rhachitis.
Mit 10 Jahren 3
Monate krank (Ty¬
phus!) In Anstalt
Nahrungsver¬
weigerung
Pleuritis
Von 6 Schwachsinnigen waren also 3 tuberkulös, 1 Kranke starb
an der Tuberkulose. Bei unseren paar Fällen kann man natürlich
keinerlei Schlüsse ziehen.
In der Literatur findet man meist die Angabe, daß bei angeborenem
Schwachsinn Tuberkulose häufig sei, so bei Weygandt. Ganter findet 28 %
Tuberkulosesterblichkeit bei Imbezillität. Wulff sogar 40%. Bolte nimmt
an, daß die hereditäre Tuberkulose eine bedeutsame Rolle in der Ätiologie
der Idioten spiele. Schott konnte in der Vorgeschichte von 942 Schwach¬
sinnigen Tuberkulose neben andern ätiologischen Momenten
116mal, d. i. in 12,3%, als allein ursächliches Moment nur 25mal
(2,6%) nachweisen (bei Weygandt\).
Weiterhin fand sich Tuberkulose in folgenden Gruppen:
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462
Löw,
Präseniles Irresein.
1) Tuberkulose (schwere!).
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usw.
Leichen¬
befund
1
3
42
i
2 Jahre
0
.
I
Miliartuber¬
kulose d.
Lungen m.
Knötchenaus¬
saat ins Peri¬
toneum und
Mesenterium
2) Tuberkulosefreie.
Nr.
Ge-
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usw.
Leichen¬
befund bzw.
Todesursache
1
3
42
Jahre
unter
5 Jahren
0
j
—
Marasmus
2
$
66
Jahre
99
0 i
—
Colitis
diphterica
3
3
52
Jahre
99
0
—
Pneumonie
Amentia.
1) Tuberkulose (schwere!).
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usw.
Leichen¬
befund bezw.
Todesursache
1
?
25
Jahre
1 Monat
0
Lungen-
Darm-
Drüsentuber¬
kulose
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber Tuberkulose in Irrenanstalten.
463
2) Tuberkulosefreie.
Nr.
Ge¬
schlecht
1
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tnberkulose usw.
Leichen¬
befund bezw.
Todesursache
1
?
41
Jahre
8 Tage
°
—
Pneumonie
2
?
34
Jahre
unter
6 Jahren
0
—
Pyelone¬
phritis
3
$
44
Jahre
ft
0
—
Herz¬
schwäche
4
$
37
Jahre
ft
0
—
Pyämie
Erregung bei tuberkulöser Basilarmeningitis.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usw.
Leichen¬
befund
1
20
Jahre
2 Tage
0
Meningitis
basilaris tbc.
Schwere
Lungen-
Darmtuber-
kulose
Huntingtonsche Chorea.
1) Leichte Tuberkulose.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usw.
Leichen¬
befund
1
?
46
Jahre
1 Jahr
0
'Leichte
Lungentuber¬
kulose
Marasmus
2) Tuberkulosefreie.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Tub. Be¬
lastung
Hilfsmomente für
Tuberkulose usw.
Leichen¬
befund bezw.
Todesursache
1
c?
44
Jahre
über
6 Jahre
0
—
Marasmus
2
$
67
Jahre
unter
6 Jahren
0
Colitis
diphterica
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
464
Löw ,
Der Vollständigkeit halber und weil es für die noch folgenden
Ausführungen von Wichtigkeit ist, müssen noch die andern Kranken,
die in der Berichtszeit starben, mit Geschlecht, Alter, Anstaltsaufent¬
halt und Todesursache angeführt, werden, obwohl sie alle keinerlei
Tuberkulose hatten. Es waren folgende:
Hirngeschwülste und ähnliches.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Krankheitsbezeichnung
Todesursache
1
3
31 J.
unter & J.
Tumor cerebri
2
3
33 „
tt r* tt
TT TT
3
6
39 „
v tt n
TT TT
Tumortod
4
<J
46 „
tt tt tt
TT TT
6
$
46 ff
tt tt »
TT TT
6
3
1 58 „
» TT TT
Tumor hypophysis
Zusammen 6 Hirn- usw. geschwülste, 5 Männer und 1 Frau.
Alkoholische Geistesstörungen.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Krankheitsbezeichnung
Todesursache
1
3
37 J.
unter 5 J.
Alkohol. Geistesstörung
Leberzirrhose
2
3
48 *
t* r r
Korsakow
Typhus abdominalis
3
3
49 „
V TT n
TT
HerzlEhmung
4
3
54 „
über ..„
Alkohol. Geistesstörung
Marasmus
5
3
65 „
TT TT TT
Säuferhalluzinose
Apoplexie
Zusammen 5 Männer.
Paranoia chronica.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
Anstalts¬
aufenthalt
Krankheitsbezeichnung
Todesursache
1
3
58 J.
& Jahre
Paranoia chronica
Colitis diphterica
2
3
68 J.
über 5 J.
TT TJ
Marasmns
3
?
79 J.
TT TT TT
TT TT
Marasmus
Zusammen 3 Paranoiakranke, 2 Mäuner und 1 Frau.
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
465
Degeneratives Irresein.
Nr.
Ge¬
schlecht
Alter
•
Anstalts-
anfenthalt
Krankheitsbezeichnung
Todesursache
1
cJ
43 J.
Ober 5 J.
Degeneratives Irresein
Marasmus
2
c?
41 *
unter 5 „
r
Colitis diphterica
Zusammen 2 Männer.
Verschiedenes.
Nr.
Ge¬
schlecht
!
Alter
;
Anstalts¬
aufenthalt
Krankheitsbezeichnung
Todesursache
1
$
! 32 J.
unter 5 J.
Verwirrtheitszustand
| Leptomeningitis pu-
rulenta basilaris
2
?
46 „
w ft r>
Verwirrtheit bei Ca
Ca Kachexie
3
| $
46 „
n n n
Halluzinose
Nephritis
4
3
i 46 „
über „ „
HaUuzinose m. Demenz
Cholämie
5
3
47 -
ft rt ft
Chron. Paralyse des
Gehirns
Colitis diphterica
6
?
j
57 *
unter „ „
Geistesstörung bei
Urämie
Urämie '
7
$
64 „
1
r ff ff
Geistesstörung bei
Chorea acuta
Endocarditis
8
3 ;
53 „
über r „
Demenz
Herzlähmung
9
j
i
*
0 l
60 „
1 ft ff ff
Psychose. Organischer
Gehimbefund
Bronchopneumie bei
Marasmus
Zusammen 9 Kranke, 4 Männer und 5 Frauen.
Die kleineren Gruppen umfassen also 44 Kranke, 28 Männer und
16 Frauen. Davon waren 7 tuberkulös. Schwere Tuberkulose hatten
4 = 9,08%, leicht Tuberkulose 3 = 6,8%.
Allgemeine Zusammenfassung.
In der Zeit, die für diese Arbeit berücksichtigt wurde — Herbst
1911 bis Frühjahr 1916 —, starben im ganzen 536 Kranke, 328 Männer
imd 208 Frauen, bei denen durch die Leichenöffnung der Organbefund
genau festgestellt wurde. Von ihnen waren 132 an Tuberkulose ge¬
storben, und zwar 82 Männer und 50 Frauen, d. s. im ganzen 25%
Männer und 24,03% Frauen. Zum Vergleich folgt die Tafel Ganters.
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v Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
466
Löw,
Antor
Anstalt
j
Zehranm
i % der an Tnberkulose
Gestorbenen
Ganter
Saargemünd
1880-1904
19,8 (16,4 M., 24,4 Fr.)
Geist
Zschadrass 1
1894-1903
10,5 ( 7,4 M., 13,6 Fr.)
Oßwald
Hofheim
1877-1891
25,1 (26,1 M., 23,9 Fr.)
-
Heppenheim ,
9
22,4 (16,9 M., 28,2 Fr.)
Gießen
1896-1906
6,6 ( 6,2 M m 7,1 Fr.)
Zinn
Eberswalde
1877-1892
15,6 (10,5 M., 24.8 Fr.)
Heimann
' d. prenß. Irren¬
anstalten
1876-1897
16,6 (14,4 JL, 20,4 Fr.)
Löw
Bedburg/Hau
1911-1916 !
24,69 (24,6 M-, 24,6 Fr.)
Auffallend ist, daß die Frauen anscheinend häufiger an Tuber¬
kulose leiden wie die Männer. Bei uns war das Verhältnis der Ge¬
schlechter zueinander ungefähr das gleiche.
Im folgenden soll nebeneinandergestellt werden, wie der Prozent¬
satz der Sterblichkeit bei den einzelnen Krankheiten von verschiedenen
Autoren angegeben wird.
Dementia praecox: Schröder (Lauenburg). 67 %
Löw (Bedburg-Hau). 50,6 %
Ganter (Saargemünd).... 45 %
Epilepsie: Löw( Bedburg-Hau). 27,18%
Ganter (Saargemünd). 21,8 %
Köhler (Hubertusburg). 16,7 %
Habermaas (Stetten). 10,0 %
Hahn (Hoch weit zehen). 8,6 %
Paralyse: Heilbronner . 18,3 %
Pilcz . 10,38%
Banse und H. Roderburg (Lauenburg). 8,24%
Witte (Grafenberg). 7,3 %
Ganter (Saargemünd). 7,3 %
Löw (Bedburg-Hau). 6,9 %
Junius und Arndt . 6,54 %
Brehm . 6,3 %
Man.-depr. Irresein: Löw (Bedburg-Hau). 32,0 %
Schröder (Lauenburg). 10,0 %
Dementia senilis: Schröder (Lauenburg). 12,0 %
Ganter (Saargemünd). 8,3 %
Löw (Bedburg-Hau). 8,3 %
Aus diesen Zusammenstellungen geht folgendes hervor:
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Toberkaios* iß Irrenanstalten. 467
Über die Häufigkeit ^ bei der Heinenlia praecox
herrscht EmtinünigkeiR ehe»«# Über .das. verhölthfeffl^ß^ geringe
Auftreten iler Tuberkulose bei Paralyse* abgesehen von Heü-
Immer uit4 IHkz: äaeh bet der Deinen tia senilts -spick dir Tuber¬
kulöse kemeailzu große Rolle. Anders bei der Epilepsie, Hier
schwanken die Zahlen zwischen £?J,8% und bJS%. lum Teil mag eg
an derYcrschiedengroßen Zähl der berüeksbdttig^fcen F&Ue3ie|eil Für
das manisch-depressive Irresein dürfte das Material t wenigstens
für Bedliürg*-Äaü, zu gering sein, so daß der Zufall ein» allzu große
Rolle spielen kann. 1 ’■
Nun geben alle diese Zahlen nur die direkte Sterblichkeit. an
Tuberkulose an.: Bie wahre Rolle der Tuberkulöse erkennt man erst,
wenn man narHfurscht, wie viele Kpmfcit' an so schwerer Tuberkulose
gelitten hatten, daß sie, auch falls «fe aselit. vorher an artdbTo.:Krank-
heiten gestorlwat wären, derselben aller Voraussicht nach zum Opfer
gefallen' - Bieae .-Taberhulose wurde in Infgendef ^fel als
„schwere'' bezeichnet-, ihr wurde als „leichte Tuberkulose '
solche gegcnübergesrellt. die aller Voraussicht nach hätte äusheflea
oder doch ^ httte beschränkt bleiben könne».V Auf <%§» Weise
ändern sich die Verhältnisse noch gana wesentlich. ■ '•*.•.
Bassöerhajtenp Ergebnis für Bedbürg-Tiau üf auf folgender
Tafel iusaiftmcMigcstcl»-,
vk**»
£ä»
f J ^ ’ •"f— - «R .
: £ ir«&£#s-- ;:' v ;
v i* "
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t.
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n ErkriUii-
f <-iw v ivu.s
amgen amjern
Co gle
468
Löw,
Es wurden dann die Durchschnittsalter aller Kranken einer Gruppe,
sowie jedesmal das Durchschnittsalter der schwer Tuberkulösen berech¬
net. Das Ergebnis war folgendes:
Geisteskrankheit
Gesamtdnrchschn. Alter
Dnrchschn. Alter d.
schwer Tuberkniösen
Dementia praecox
46,4 (Ganter 46,66) J.
40,6 Jahre
Epilepsie
40,8 ( „
41,3 ) J.
37,8
r>
Man. depr. Irresein
66,8
J.
61
r
Paralyse
44,8 ( „
45,6 ) J.
41,76
r>
Dementia senüis
71,5 ( „
67,06) J.
68,9
ff
Rest
46,6
J.
32,7
ff
Von großer Bedeutung ist auch die Frage, ob die Kranken die
Tuberkulose in der Anstalt oder schon vor Eintritt in dieselbe er¬
worben haben. Dies, wie manche Autoren es machen, mit der Dauer
des Anstaltaufenthaltes in Zusammenhang zu bringen, scheint mir
nicht angängig (s. S. 446). Übrigens ist von Manchen darauf auf¬
merksam gemacht worden, daß sehr häufig die Zeit der tuberkulösen
Ansteckung schon vor dem Eintritt in die Anstalt liegt.
Wie erwähnt, berichtet dieses Ganter und Oßwald. Werner führt
hierüber folgendes aus: „Über Tuberkulose bemerkt Eberswalde, daß bei
weitem die Mehrzahl der an dieser Krankheit (Tuberkulose!) sterbenden
Patienten schon infiziert eingeliefert wird, wie auch die an andern An¬
stalten durchgeführte Untersuchung mit der Pirjuetechen Reaktion be¬
weist.“ Deventer und Benders haben ebenfalls in dieser Richtung nach¬
geforscht, konnten allerdings nur in 16,33 % Tuberkulose bei der Aufnahme
feststellen (bei 349 an Tuberkulose Gestorbenen in 57 Fällen).
Weiterhin ist folgendes Allgemeine über die Ergebnisse des Nach-
forschens über die Tuberkulose bei uns zu sagen. Dieselbe trat in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle in schwerster Form auf. Während
26,49% an „schwerer Tuberkulose“ gelitten hatten, hatten nur 4,1% «
„leichte Tuberkulose“. Dem entsprach auch die große Anzahl der
tuberkulösen Organe, wobei Lungen, Därme, Drüsen am häufigsten
befallen waren.
Das Nachforschen nach Umständen, die für den späteren Ausbruch
der Tuberkulose hätten verantwortlich gemacht werden können, ergab
sehr wenig Anhaltspunkte, wie im einzelnen bei der Besprechung der
Tuberkulose bei den verschiedenen Geisteskrankheiten genau ausge¬
führt wurde. Auffällig ist, daß bei den 164 Tuberkulösen nur bei
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber Tuberkulose in Irrenanstalten.
469
11 Kranken erbliche tuberkulöse Belastung verzeichnet war (doch
siehe das darüber Gesagte S. 447!).
Woher kommt nun die Häufigkeit der Tuberkulose bei den Geistes¬
kranken? Sie kann einmal an den Verhältnissen der Irrenanstalt
liegen. Kraepelin erwähnt in diesem Zusammenhänge das kasemen-
hafte Leben, die bestehende Überfüllung, die ausgiebige Gelegenheit
zur Ansteckung neben andern Umständen. Weygandt betont ganz
besonders die Verhältnisse in alten Irrenanstalten.
In diesem Zusammenhänge dürften die folgenden Feststellungen
von Interesse sein. Der Anstalt Bedburg-Hau wurden, als sie
eröffnet wurde, von den übrigen rheinischen Anstalten, die zum Teil
überfüllt waren, sehr viele Kranke zugeführt, die dort schon längere
Zeit verpflegt worden waren. Es war nun wichtig, nachzusehen, ob die
Tuberkulose bei den Kranken, die bereits in „alten“ Anstalten ge¬
wesen waren, häufiger war wie bei denen, die nur. hier in der neuen
Anstalt gewesen waren. Es fand sich folgendes:
Dementia praecox.
Von 32 Kranken, die nur in Von 134 Kranken, die vorher
Bedburg-Hau waren, waren noch in „alten“ Anstalten waren,
waren
tuberkulös . 21 = 65,62% tuberkulös. 78 = 58,20%
tuberkulosefrei.. 11 = 34,37% tuberkulosefrei.. 56 = 41,79%
Epilepsie.
Von 10 Kranken, die nur in Von 56 Kranken, die vorher
Bedburg-Hau waren, waren noch in „alten“ Anstalten waren,
| waren
tuberkulös. 5 = 50% tuberkulös. 20 = 35,70%
tuberkulosefrei. 5 = 50% tuberkulosefrei.. 36 = 64,26%
Paralyse.
Von 77 Kranken, die nur in Von 38 Kranken, die vorher
Bedburg-Hau waren, waren noch in „alten“ Anstalten waren,
waren
tuberkulös. 10 = 12,9 % tuberkulös. 3= 7,89%
tuberkulosefrei.. 67 = 86,4 % tuberkulöse frei.. 35 = 92,05%
Manisch-depressives Irresein.
Von 13 Kranken, die nur in | Von 12 Kranken, die vorher
Bedburg-Hau waren, waren j noch in „alten“ Anstalten waren,
j waren
tuberkulös. 4 = 30,76% ! tuberkulös. 4 = 33,32%
tuberkulosefrei.. 9 = 69,21% tuberkulosefrei.. 8 = 66,64%
Digitized by Gougle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
470
Lö w.
Dementia
Von 78 Kranken, die nur in
Bedburg-Hau waren, waren
tuberkulös. 5 = 6,41 %
tuberkulosefrei.. 73 = 93,58 %
senilis.
Von 42 Kranken, die vorher
noch in „alten“ Anstalten waren,
waren
tuberkulös. 7 = 16,66%
tuberkulosefrei.. 35 = 83,50 %
Rest.
Von 29 Kranken, die nur in
Bedburg-Hau waren, waren
tuberkulös. 5 = 17,24%
tuberkulosefrei.. 24 = 82,75 %
Von 15 Kranken, die vorher
noch in „alten“ Anstalten waren,
waren
tuberkulös. 2 = 13,33%
tuberkulosefrei.. 13 = 86,65 %
Das Gesamtergebnis ist:
von den 239 Kranken, die nur in Bedburg-
Hau waren, waren. 50 tuberkulös = 20,9%,
von den 297 Kranken, die noch in „alten“
Anstalten waren, waren. 114 tuberkulös = 38,3%.
In der Tat überwiegt prozentualiter also die Tuberkulose bei den
Kranken, die vorher in den „alten“ überfüllten Anstalten gewesen
waren. Dies kann uns aber, da wir ja wissen, daß Umstande wie
enges Zusammenleben usf. die Verbreitung der Tuberkulose fördern,
ja auch nicht besonders wundern. Andererseits ist aber doch auf¬
fallend, daß der Tuberkuloseprozentsatz der Kranken, die nur in
der neuen Anstalt Bedburg-Hau gewesen waren, die in hygienischer
Beziehung, besonders auch was Belegzahl für die fragliche Zeit an¬
geht, die denkbar günstigsten Verhältnisse bietet, ebenfalls so auf¬
fallend hoch ist. Die Ursache für diese Tatsache kann aber
nur bei den Geisteskranken selbst liegen. Es erscheint nicht
ausgeschlossen, daß der Geisteskranke an sich viel mehr zur Tuberkulose
neigt, womit sich ja auch der Umstand gut vereinigen ließe, daß doch
wohl viele Kranke schon außerhalb der Anstalt tuberkulös geworden
sind. Man kann sich ja ganz gut denken, daß Geisteskranke auch in
körperlicher Hinsicht minderwertiger sind wie Geistesgesunde.
In diesem Zusammenhänge dürfte folgendes aus einem Bericht von
englischen Irrenanstalten vom Jahre 1906, das von Pandy berichtet wird,
von Interesse sein: „So sterben in England außerhalb der Anstalt an
Herzfehler auf 1000 Einwohner im Durchschnitt 2, von den Kranken in
den Irrenanstalten 9 und 11, an Pneumonie stirbt von 1000 Männern
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über Tuberkulose in Irrenanstalten.
471
im Durchschnitt 1, von Geisteskranken in den Anstalten 7. An Lungen¬
schwindsucht sterben in England von 1000 Männern 2, von 1000 Frauen
1,3, in den Irrenanstalten 16 bzw. 14. Auffallend groß ist der Unter¬
schied auch in der Mortalität der Nierenkranken. Draußen sterben an
Nierenkrankheit von 1000 0,49, Geisteskranke in den Anstalten 4.
Jedenfalls beweisen diese Zahlen, daß die Geisteskranken nicht nur mit
krankem Gehirn, sondern zugleich mit kranken Herzen und Nieren in die
Anstalten gelangen.“ M. Goldberger fand bei 825 Kranken der Buda-
pester Klinik, bei denen die Vorgeschichte genau zu erforschen war, bei
28 % Lungenschwindsucht als familiär belastendes Moment, bei 15,63
war Lungenschwindsucht und Geisteskrankheit von Aszendenten vor¬
handen. Auch Mohr scheint der Ansicht zu sein, daß die erbliche tuber¬
kulöse Belastung eine ziemlich häufige bei Geisteskranken sei. Daß bei
uns diese so wenig angegeben war, spricht nicht gegen ihr Vorhandensein,
wie schon ausgeführt wurde. Shaw kommt auf Grund seiner vergleichen¬
den Untersuchungen über den tuberkulo-opsoninischen Index bei geistig
Gesunden und Geisteskranken unter anderem zu dem Resultat, daß
letztere eher der tuberkulösen Infektion ausgesetzt sind. Jedoch scheint
ihm nach seinen Befunden der Aufenthalt in der Anstalt
nicht besonders zur Erkrankung an Tuberkulose zu dis¬
ponieren.
Auffällig ist nun, daß immer bestimmte Gruppen von Geistes¬
kranken besonders häufig an Tuberkulose leiden. So herrscht wohl
Einstimmigkeit über das häufige Auftreten derselben bei der De¬
mentia praecox, während doch alle Kranken unter denselben Be¬
dingungen des Anstaltslebens stehen. Dieser Umstand ist so bemer¬
kenswert, daß genauer auf ihn eingegangen werden muß. Man kann
nun sagen: Die Dementia praecox-Gruppe ist eben die häufigste Krank¬
heitsgruppe unter unseren Anstaltsinsassen. Wie verhält es sich
damit bei uns? Darüber gibt folgende Aufstellung Aufschluß, die
zeigt, wieviel Prozent aller Gestorbenen den einzelnen Krankheits¬
gruppen angehören:
Dementia praecox. 30,97%
Epilepsie. 12,31%
Paralyse. 21,45%
Manisch-depressives Irresein. 4,66%
Dementia senilis. 22,38%
Rest. 8,2 %.
In der Tat überwiegen also prozentualiter die Dementia prae¬
cox-Kranken. Da die Epileptiker, Manisch-depressiven und der Rest
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
472
Lö w,
an Zahl gegen die Dementia praecox-Kranken bei uns erheblich zurück*
treten, kann hier der Zufall eine größere Rolle spielen, was das Auf¬
treten der Tuberkulose angeht. Es müssen deshalb hier zum Vergleich
Arbeiten mit einem größeren Material dieser Krankheitsgruppen
herangezogen werden. Für die Epilepsie sei Hahn erwähnt, der bei
544 gestorbenen Epileptikern nur 8,6% Tuberkulosesterblichkeit findet.
„Spuren“ von Tuberkulose fand er allerdings noch in 34,3%, es han¬
delte sich aber um ausgeheilte Tuberkulose oder solche, die allem
Anschein nach zur Heilung neigte. Habermaas fand bei 166 Todes¬
fällen bei Epilepsie 10% Tuberkulosesterblichkeit, Ammann findet bei
einem Material von 2159 Todesfällen von Epileptikern die Lungen¬
tuberkulose selten. Ganter, der 21,8% Tuberkulosetodesfälle fand,
hatte auch ein zu geringes Material, nur 19 Fälle! Literaturangaben
über Tuberkulose bei einem größeren Material von Manisch-
depressiven standen nicht zur Verfügung.
Die Senilen und Paralytiker machen aber ebenfalls einen
großen Prozentsatz unseres Materials aus, können also in dieser Be¬
ziehung mit der Dementia praecox wohl verglichen werden. Diese
Gruppen haben nun erheblich weniger Tuberkulöse bei uns wie die
Dementia praecox-Gruppe, wie wir gesehen haben. Es können aber
auch hier Einwände gemacht werden. Betreffs der Senilen kann
zunächst gesagt werden, daß sie sich bereits in einem Alter befänden,
das nicht mehr besonders zur Tuberkulose neige. Nach der Tuber¬
kulosetafel von Com et ist aber die Tuberkulosesterblichkeit im
höheren Alter noch eine sehr große. Auch v. Mehring betont, „daß
im Greisenalter die Phtisis nicht so selten ist, wie man früher dachte“.
Das höhere Alter dürfte demnach keine Gegenanzeige für Tuberkulose
sein, eher könnte man den Einwand ins Feld führen, daß der Anstalts¬
aufenthalt der Senilen ein zu kurzer sei, wenn man nämlich an¬
nähme, daß die Länge des Anstaltsaufenthaltes die Tuberkulose be¬
günstigte. Dieser Umstand dürfte auch bei den Paralytikern an¬
geführt werden, während das Durchschnittsalter bei diesen wie auch
bei den andern Krankheitsgruppen ungefähr das gleiche wie das der
Dementia praecox-Kranken beim Tode ist. (S. Seite 468!)
Es muß also<näher auf die Bedeutung der Länge des Anstalts¬
aufenthaltes für die Tuberkulose eingegangen werden. Zu dem
Zwecke wurde genau festgestellt, wieviel Kranke der tuberkulösen
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
473
Kranken und der tuberkulosefreien Kranken jeder Krankheitsgruppe
unter und über 5 Jahre in Anstaltspflege gewesen waren. Das Er¬
gebnis ist in folgendem zusammengestellt:
Anstaltsaufenthalt
unter 5 Jahren
| über 5 Jahre
Tuberkulöse
Tuberkulose-
freie
Insge¬
samt
Tuberkulöse
Tuberkulose¬
freie
Insge¬
samt
Dem. praecox
40 = 61,6 %
26 = 38,4 %
65
59 = 58,4 %
42 = 41,6 %
101
Epilepsie . . .
9 = 32,1 %
19 = 67,8 %
28
16 = 42,09%
22 = 57,88%
38
Paralyse . . .
Man. depress.
13 = 12,03%
95 = 87,96%
108
0 = 0 %
7 = 100 %
7
Irresein. . .
6 = 37,6 %
10 = 62,6 %
16
2 = 22,2 %
7 = 77,7 %
9
Dem. senilis .
9= 9,36%
87 = 90,56%
96
3 = 12,49% ,
21 = 87,48%
24
Rest.
6=19,3 %
26 = 80,6 %
31
1= 7,69% i
12 = 92,28%
13
Nimmt man also die Krankheitsgruppen einzeln für sich, so ist
zwar gerade bei den Senilen, wie auch bei den Epileptikern, die Tuber¬
kulose prozentualiter häufiger bei den Kranken mit über 5 Jahren,
also bei längerem Anstaltsaufenthalt, dagegen nicht bei allen übrigen
einzelnen Krankheitsgruppen, insbesondere auch nicht bei den De¬
mentia praecox-Kranken, so daß man wohl sagen darf, daß bei uns
die Länge des Anstaltsaufenthaltes bei den einzelnen
Krankheitsgruppen die Tuberkulose wohl nicht begün¬
stigte. Aus all dem ist dann auch wohl der Schluß berechtigt, daß
die Tuberkulose zweifellos bei den Dementia praecox-
Kranken an sich ganz besonders häufig ist.
Es fragt sich nun, wie das so überaus häufige Auftreten der Tuber¬
kulose bei der Dementia praecox erklärt werden kann.
Kraepelin sagt von der katatonen Gruppe: „.weit häufiger
ist jedoch die Entwicklung der Tuberkulose bei den regungslos daliegenden,
nur sehr oberflächlich atmenden und schwer zu pflegenden Kranken. Die
Sterblichkeit wird auf diese Weise gerade für die verblödeten Endzustände
der Katatonie eine verhältnismäßig große.“ Schröder macht hauptsächlich
„die unhygienische Lebensweise“ der Schizophrenen für die außerordent¬
liche Empfänglichkeit für Tuberkulose verantwortlich. Manche Autoren
nehmen indessen ganz andere Zusammenhänge zwischen der Dementia
praecox und der Tuberkulose an. Davon soll noch die Rede sein. Ganter ,
dem auch auffällt, daß eine ganze Anzahl der Kranken die Tuberkulose
wohl schon in die Anstalt mitgebracht hat, meint: „Wenn aber Hagen
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 5. 33
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Löv.
und Snell aus ihrer Statistik auch den Schluß ziehen zu dürfen glauben,
daß die Geisteskrankheit das Primäre, die Lungenschwindsucht das Se¬
kundäre sei, so gilt das wohl für die in der Anstalt erworbene Tuberkulose,
braucht es aber nicht für die von außen mitgebrachte Tuberkulose."
Jedenfalls findet man meist die Ansicht, daß das Entstehen der
Tuberkulose in erster Linie auf das Verhalten der Dementia prae¬
cox-Kranken zurüekzuführen sei, auf ihr Dahindösen im Bett und
auf der Abteilung, die Unreinlichkeit, das schlechte Atmen, das Un¬
verständnis für jede hygienische Maßnahme usf. Nun muß man doch
sagen, daß all diese Umstände mehr oder weniger auch für andere
Geisteskranke zutreffen, die aber viel weniger von der Tuberkulose
betroffen werden. Es sei besonders an Epileptiker 1 ) und Para¬
lytiker erinnert. Bei diesen Krankheitsgruppen findet man nun
doch eine große Anzahl recht hilfloser Kranken, die, ähnlich den De¬
mentia praecox-Kranken, in verzogener Lage, schlecht atmend,
unrein, für jede körperliche Fürsorge verständnislos auf der Siechen¬
abteilung lange genug vegetieren, um eine Tuberkulose zu blühendem
Aufgehen anzuregen, und trotzdem nicht die starke Häufigkeit an
Tuberkulose, wie sie bei der Dementia praecox überall gefunden
wird. Wendet man für die Paralytiker ein, die für die Tuber¬
kulose Empfänglichen seien, da ja die Kranken in verhältnismäßig
spätem Lebensalter in Anstaltspflege gelangen, schon bevor sie an¬
staltspflegebedürftiggeworden seien, der Tuberkulose erlegen, was übri¬
gens noch zu beweisen wäre, so würde das eben heißen, daß all die oben
erwähnten Umstände des Dahinvegetierens usf. demnach nicht die
Hauptrolle bei der Entstehung der Tuberkulose spielen, da ja der
anstaltspflegebedürftig werdende Best verhältnismäßig gefeit gegen
die Tuberkulose bleibt. Der Einwand, daß die Paralytiker nicht
lange genug in der Anstalt blieben, um tuberkulös zu werden, scheint
dadurch hinfällig zu werden, daß, wie schon oben ausgeführt wurde,
die Länge des Anstaltsaufenthaltes keine allzu große Bolle bezüglich
der Tuberkulose zu spielen scheint. Im übrigen findet sich unter
*) Wenn bei unserem Material die Epileptiker ebenfalls recht stark
an Tuberkulose leiden, so kann es daran liegen, daß uns zu wenig Fälle
zur Verfügung standen, mithin der Zufall eine zu große Rolle spielen
konnte. Jedenfalls wird bei einem größeren Material fast allgemein,
wie schon früher erwähnt, der Tuberkuloseprozentsatz erheblich geringer
angegeben.
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
475
den Dementia praecox-Kranken doch eine genügend große Zahl,
die nicht ständig unter der Bettdecke liegt usf., sondern bei der Feld¬
arbeit oder sonst im Anstaltsbetriebe tätig ist und dann doch ihre
Tuberkulose bekommt, während wieder andere Dementia praecox-
Kranke trotz jahrelangen Liegens auf der Abteilung, trotz größter
Unsauberkeit usf. gänzlich frei von jeder Tuberkulose bleiben. Da
gerade diese Umstände besonderes Interesse erweckten, wurde ganz
besonders hierauf geachtet, indem sämtliche in Frage kommenden
Krankengeschichten auf all diese Umstände hin ganz genau durch¬
gesehen wurden. Es zeigte sich dabei folgendes: Von den schwer
tuberkulösen Dementia praecox-Kranken fanden sich die eben
erwähnten Umstände in ausgesprochener Form bei rund 50%, in¬
dessen bei den tuberkulosefreien Kranken bei sogar etwas über 60%.
Um zu zeigen, was alles unter diesem „Verhalten“ verstanden wurde,
sollen einige Auszüge aus Krankengeschichten folgen. Es handelt
sich umDementiapraeco x-Kranke mit längerem Anstaltsaufent¬
halt, die trotz ausgesprochen sehr gesundheitswidrigen Verhaltens frei
von jeder Tuberkulose bleiben, wie die Leichenöffnung ergab.
Fall 1. M. Franz, ledig, geb. 26. 3. 1868. Anstaltspflege seit dem
19. Lebensjahre. Gestorben mit 44 Jahren, 24 y 2 Jahre in Anstaltspflege.
Düren: 1898. Januar: Mittelgroß, mäßig genährt, mangelhaft
entwickelt, bleiches Aussehen. — Größenideen: Fürstensohn. Arbeitet in
Tischlerwerkstatt. — Oktober: Selbstmordversuch.
Alexianer-Anstalt Aachen: 1890—1911.
Düren: 1911. Völlig verblödet, unreinlich, mutistisch, grimassiert,
steht stundenlang in einer Ecke. Blaß und mager. — Wird gefüttert,
völlig hilflos, hockt zusammengekrümmt da, spricht nicht. — Ständig
abgeführt. Essen eingegeben. Völlig blöde, grimassiert unablässig, kneift
die Augen zu oder rollt die Augäpfel extrem nach oben. Bleibt vor dem
Bett stehen, ohne sich hinzulegen; liegt zusammengekrümmt da. —
Fortwährend in derselben Haltung, angehobener Kopf. Völlig stumm,
rührt sich nicht, nimmt aber Nahrung. Reinlich. — Mutistisch, negati-
vistisch, grimassiert.
Cöln-Lindenthal. Dezember 1911: Tag und Nacht unrein mit
Urin, ißt sehr schlecht. — Nimmt nur Diät. Stets unrein, ganz stumm;
43 kg Gewicht.
1912: Ständig unrein, auch mit Kot. — Immer unrein. — Völlig
stumm.
Bedburg-Hau: 1912. Mai: Sehr hinfällig, oft Ohnmächten. Ißt
sehr wenig. — 26. 5. 12 gestorben an Marasmus.
Sektionsbefund: 0 Tuberkulose.
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Lö w,
Fall 2: R., Luise, geb. 12. 9. 1848. Von Februar 1878 bis April
1913, d. s. 35 Jahre, in Anstaltspflege.
Grafenberg 1876: Stumpf, elendes Aussehen. Oft längere, ver¬
worrene Reden. Klagsam. Bett.
Departementalanstalt Düsseldorf. 1896: Verblödet, apa¬
thisch, redet sinnlos. Hie und da etwas Hausarbeit.
1899: Oft erregt, greift an.
1902: Ganz stumpf, apathisch, mutistisch.
1904: Stumpf in Ecke, ab und zu ängstliche Laute.
1905: Ganz mutistisch, vegetiert dahin.
1906: Immer stumpf in Ecke, negativistisch.
1908: Desgleichen.
1909: Stumpf, kataton, dement.
1910: Mutistisch, völlig apathisch.
Bedburg-Hau: 1911 und 1912: Stumpf, apathisch, mutistisch;
dauernd zu Bett, unsicher auf den Beinen, döst vor sich hin, sehr hilfs¬
bedürftig.
1913: Erysipel des rechten Unterschenkels, Fieber: 38,5°, Puls sehr
schlecht. 9. April: 39°, 11. April: 37°, starke Schwäche. — 15. 4. 13 ge¬
storben an Wundrose.
Sektionsbefund: 0 Tuberkulose.
Fall 3. V., Karl. Von 1896—1913, d. s. 17 Jahre, in Anstalts¬
pflege, vom 48.—65. Lebensjahre.
Departementalanstalt Düsseldorf 1896: Stumm, indifferent,
aggressiv.
1901: Vegetiert stumpf dahin, unrein.
1902: Vollkommen verblödet, unsauber, hat jedes Gefühl für Pflege
des Körpers verloren, bedarf stets Aufsicht.
1905: Trotz aller Bemühung nicht rein zu halten. Stumpf, obszön
schimpfend.
1906: Hockt stumpf in Ecke, sehr unsauber, antwortet inäquat,
desorientiert.
1910: Sehr unsauber, ethisch verblödet, matschtim Klosett herum.
Bedburg-Hau: Dezember 1911: Sitzt untätig da, unsauber.
Schmiert im Klosett herum. Höchst unsauber.
1913: Stumpf, steckt alles Mögliche in die Kleider, beschmiert die
Wände mit Kot. — 1913, September: Ikterus, Fieber, windet sich vor
Leibschmerzen. 11. 9. 13 gestorben.
Peritonitis purulenta. 0 Tuberkulose.
Fall 4. H., Berta, von 1908—1913 Anstaltspflege, d. s. 5 Jahre,
vom 42.—47. Lebensjahre.
Bonn: 1908: 4. Aufnahme (frühere Krankenblätter nicht zur Ver¬
fügung!) Genügend ernährt. Liegt stumpf da, antwortet nicht. Stereo¬
typien. — Katatones Verhalten. — Stereotypien, schimpft gelegentlich
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
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auf „Spitzbuben vor der Tür“. Unorientiert. Andeutung von Kata¬
lepsie. — Eigenartige Tiks, verkriecht sich in Ecken und hockt am Boden.
1911: Hockt stetsauf derselben Stelle am Boden.
Bedburg-Hau: 1912: Stumpf, ablehnend, blöde vor sich hin¬
summend, ohne Beschäftigung, sitzt da und flicht an ihren Zöpfen. Nachts
oft schlaflos und unrein. — Oktober: Urin reichlich Eiweiß. Lazarett 1
Blasengegend sehr druckempfindlich. Stumpf, ablehnend unter der Bett¬
decke. — November desgl. Wälzt sich im Bett herum. — Dezember: Un¬
zugänglich, wühlt im Bett, unrein mit Entleerungen.
1913: Februar: Oft unrein. — Juni: Mutistisch, sehr unsauber. —
September: Ständig bis oben naß, beschmutzt Fußboden mit Kot. — Ok¬
tober: Durchfälle, körperlich sehr zurück. — November: Schreit den
ganzen Tag. — Schlechte Herztätigkeit. 10. November: Sehr matt und
hinfällig, geht dauernd zurück. — 14. 11. 13 gestorben: Herzschwäche.
Sektionsbefund: Eitrige Cystitis infolge durch Harnröhre ein¬
geführten Fremdkörper, durchgebrochene eitrige Brustfellentzündung.
0 Tuberkulose!
Fall 5. E., Hermann, geb. 9. 2. 1879. Anstaltsaufenthalt: Fe¬
bruar 1910 bis Juli 1914, vom 31.—35 y 2 . Lebensjahre.
Vorgeschichte: 0 erbliche Belastung; 5 Jahre glücklich verhei¬
ratet, keine Kinder. Fleißiger Arbeiter. — Zuerst April 1909 erkrankt.
Tannenhof, 1909 Ende September bis Anfang November.
Zu Hause Verschlimmerung, spricht nicht. Ißt nur auf Zureden.
Teilnahmlos zu Bett. Selbstmordgedanken.
Johannistal bei Süchteln: Februar 1910, nennt sich „Teufel“.
Kräftig gebaut, mittlerer Ernährungszustand, blaß. — 23. Februar: Liegt
immer halb sitzend mit erhobenem Kopf, sehr gehemmt. Zum Essen
muß er angehalten werden. — März desgl. Still und stumm, angehobener
Kopf, oder mit Bettdecke bedeckt. — April: Besuch der Schwester, nicht
zu bewegen, sich derselben zuzuwenden, mit ihr zu sprechen. — Mai:
Besserung, hilft bei Hausarbeit. — Juni: Besuch .der Ehefrau, sprach
nichts. — Juli: Wieder zu Bett, Kopf verhüllt oder angehoben.
1911: Januar: Halbe Tage auf, geht nicht in den Garten. Etwas
Hausarbeit, geht aber vornübergebeugt wie ein alter Mann. — September:
Stark gehemmt, negativistisch. — Oktober bis Dezember: Unverändert.
Bedburg-Hau: 1911: Zusammengekrümmt zu Bett, teilnahmlos,
manchmal plötzlich erregt, dann wieder regungslos zu Bett.
1912: Januar: Das Gleiche; starres Gesicht, gehemmt, negativistisch.
Oktober: Plötzlich erregt, griff Pfleger an und zertrümmert eine Fenster¬
scheibe. — Neigt dazu, mit den Zähnen Bettdecke zu fassen und zu zer¬
kauen. Stundenweise Packung.
1913: Blickt starr und stumm vor sich hin. Widerstrebt, wenn man
Kopf herunterlegen will. —August: Schlug sich eine Wunde am Kopf.
Kopf ganz auf Bettstelle geneigt. Spricht kein Wort. Trinkt gelegentlich
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aus Klosettbecken. Ißt genügend. — November: Starr, wächserne Bieg¬
samkeit.
1914: Starr zu Bett, ab und zu schlecht essend. Kataton. — April:
Erbrechen, Dämpfung im rechten Hypochondrion.—Mai: Im letzten Monat
3,5 kg abgenommen, 48,5 kg Gewicht. Magert zusehends ab. Immer starr
katatone Haltung, hält Brötchen stundenlang im Munde. Ißt wenig. —
15. Juli: Gestern Abend Temperatursteigerung. Heute pulslos, soporös>
trotz Kampfer. Gestorben: Marasmus.
Sektionsbesfund: 0 Tuberkulose.
Fall 6. K., Heinrich, Schlosser, geb. 6. 11. 1875.
Vorgeschichte: 1900 oder 1901 Kopftrauma: Schlag auf den
Kopf. 1904 Tripper und Lues. 1904 wegen Körperverletzung und Dieb¬
stahl 3 Jahre Zuchthaus.
Nach 2 Jahren 3 Monaten geistig erkrankt, Irrenabteilung Münster,
von da nach Marsberg: Geheilt entlassen.
Dann wegen Münzvergehens im Gefängnis Duisburg, von dort
Grafenberg. 16. 11. 07: Grübelte viel, hypochondrische Wahnvor¬
stellungen: Eiter im Leib, Angst; gemütliche Stumpfheit und Affekt-
losigkeit.
1908: Entwichen.
1909 im Mai wieder eingewiesen: Liegt regungslos auf einem Wagen,
völlig stumm und ohne Lebenszeichen. Glieder schlaff. — Sondenernäh¬
rung seit 30. 5. 09. Wie leblos. — 7. 8. Ißt spontan, spricht leise, unver¬
ständlich. Sehr gehemmt, öffnet Buch nicht zum Lesen. — 17. 9. 09:
Wieder mutistisch, ganz stuporös. Liegt zusammengekauert, unter Bett¬
decke vergraben, mit geschlossenen Augen. — Anfang November: Spur
regsamer. 15. 11. 09: Wieder stuporös. So bis Oktober 1910 (1 Jahr)!.
14. 10. 1910: Spricht.wieder seit gestern: „man suche ihn zu ver¬
nichten“. — 24. 10. 10: Gibt nur die nötigste Auskunft. Liegt ruhig wie
früher unter der Decke, Gesicht nach der Wand. — 31. 12. 10: Spricht
wieder kein Wort, tief unter der Bettdecke. Machte auf dem Wege zum
Abort schlapp, seit 3 Tagen ohne Nahrung genommen zu haben.
4. 1. 1911: Ißt wieder besser, aber mutistisch und teilnahmlos. —
22. 1. 11: Seit 3 Tagen wieder nichts genommen, unrein, völlig stumpf.
Sondenernährung 1 — März: Dauernd stuporös. Sondel Ophthalmo¬
reaktion 0. — April: Ganz unverändert. — Oktober: Dauernd Sondel
10. 10. 1911. Bedburg-Hau: Völlig stuporös. Sondel
1912: Ganz wie zuletzt in Grafenberg geschildert: völlig stuporös,
wie leblos daliegend, muß regelmäßig ausgehoben werden, reagiert auf
nichts; regelmäßig Sonde, niemals selbst etwas nehmend.
1913: Immer der gleiche Stupor, Sonde immerwährend!
1914: März: Unverändert das gleiche Bild. Sondel Hat noch nie
hier ein Wort gesprochen, liegt stets wie eine Leiche da. — April: Knie
S.-R. + + , Klonus angedeutet. Babinski 0 , Oppenheim 0 . Bauchdecken-
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
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reflex +, r. = 1. Pupillen: Lichtreflex prompt. Lungen: soweit prüfbar,
o. B. Leidlicher Ernährungszustand.
1915: Keinerlei Änderung. Immer Sondel
1916: Immer das Gleiche. — Juli: Wiederholt Durchfälle. 31. Juli:
gestorben, sprach kurz vor dem Tode plötzlich (nach fast 6 Jahren!) mit
gebrochener Stimme, verlangt nach Wasser.
Die Sektion ergab keinerlei Tuberkulose.
Beim Durchlesen derartiger Krankengeschichten kann man sich
doch sicherlich nicht des Eindrucks erwehren, daß Kranke mit solchem
Verhalten allen Grund haben müßten, eine Tuberkulose zu blühendem
Aufgehen zu veranlassen. Trotzdem keine Spur einer solchen!
Ähnlich war es bei den Epileptikern. Die Durchsicht der
Krankenblätter ergab bei den Tuberkulösen ein Verhalten, das nach
der allgemeinen Ansicht mit dem Entstehen der Tuberkulose in Zu¬
sammenhanghätte gebracht werden können in 32% der Fälle; aber auch
bei den tuberkulosefreien Fällen fand sich derartiges in sogar über
60% der Fälle. Es sollen nur ganz kurz einige Notizen aus Kranken¬
geschichten solcher tuberkulosefreien Epileptiker angeführt werden,
um zu zeigen, was unter den Kranken mit solchem „Verhalten“
gemeint wurde.
Fall 1. Anstaltspflege vom 27.—35. Lebensjahre. Seit 18. Lebens¬
jahre Epilepsie, wöchentlich 1 Anfall. Seit 24. Lebensjahre ca. 3 Anfälle
wöchentlich. Geisteskrank seit 27. Lebensjahre: Wutanfälle, Verfolgungs¬
wahn, hört Stimmen. Nach vielen Anfällen ganz verwirrt.
Johannistal 1910: Dauernd viele Anfälle, Bett. Stumpf, teil-
nahmlos daliegend. — Immer viele Anfälle, stumpf, wird dabei immer
hinfälliger. — Wie ein Automat! — Zusammengekrümmt im Bett ver¬
graben. Ewig unter der Bettdecke! — Anfälle bis 20 im Monat.
Bedburg-Hau: Stumpf zu Bett. Plötzlich sehr verfallen. — Ge¬
storben im Anfall.
Fall 2. R. Epileptisch seit 22. Lebensjahre. Anstaltspflege seit
29. Lebensjahre (Trauma!). Viele Anfälle, wechselnde Stimmung. —
Stumpf zu Bett, unrein. — Unrein.
Bedburg-Hau: Stumpf zu Bett, unrein, reagiert auf nichts, viele
Anfälle. Gestorben im Status epilepticus mit 48 Jahren.
Fall 3. K. Seit 13. Lebensjahre Epileptiker. Seit 21. Lebensjahre
in Anstalten. Anfangs in Gärtnerei tätig. — Seit 34. Lebensjahr mehr
Anfälle, meist benommen zu Bett. — Verwirrt in Siechenwachsaal. —
Vorwiegend benommen. Bis 20 Anfälle. — Nur selten kurze Zeit auf,
meist stumpf im Bett. — Gestorben im Status epilepticus (20 Anfälle!)
mit 45 Jahren.
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Löw,
Fall 4. — F. Seit 17- Lebensjahre Epileptiker. P. Manchmal
4 Wochen anfallfrei, dann 10—12 Anfälle an einem Tage.
Seit 23. Lebensjahre bis zum 42. Lebensjahre in Anstalt.
— Spricht von selbst nichts. Nicht zur Arbeit zu bewegen. — Stumpf und
unorientiert. — Abstiniert. Sonde! — Ißt wieder allein. — Ab und zu
durcheinander. Liegt mit gespanntem Gesichtsausdruck zu Bett, macht
Zitterbewegungen mit Armen und Beinen. — Liegt viel unter der Bett¬
decke — abstiniert fast 8 Tage. — Milch und etwas Suppe. — Ißt
regelmäßig. — Sitzt viel im Bett, macht stundenlang Schaukelbewegun¬
gen. — Abstiniert einige Tage. Fütterung mißlingt, Nähreinlauf.
Bedburg-Hau: Immer viele Anfälle mit anschließender Verwirrt¬
heit. — Ende Juni 1912: 14 Tage nicht gegessen Sonde! — Oft Anfälle,
gelegentlich mehrere Tage benommen zu Bett, oft unrein. — Ab und zu
tagelang stuporös zu Bett, ißt dabei schlecht. — Gestorben im Status
epilepticus.
Epileptische Kranke derart dürften sich m. E. im wesentlichen
nicht von Dementia praecox-Kranken mit stuporösem usf. Ver¬
halten unterscheiden. Und, wie gesagt, findet man derartiges bei über
60% der Epileptiker, die trotzdem keine Spur einer Tuberkulose
bei der Sektion zeigten. Bei der Durchsicht der Krankenblätter der
Paralytiker bot fast jede zweite Krankengeschichte derartiges.
Jedenfalls muß man aber, wenn man hört, daß solches Verhalten
jahrelang bei einer sehr großen Anzahl Dementia praecox-Kranken
und Epileptiker vorkommt, ohne daß sich eine Tuberkulose ein-
stellt, doch sagen, daß solche Umstände nicht als wesentlichste
Momente für das Entstehen der Tuberkulose zu gelten haben. Daß
die Dementia praecox-Kranken so sehr der Tuberkulose zum
Opfer fallen, hat sicherlich tiefere Gründe; welcher Art diese sind, ist
natürlich eine andere Frage. Jedenfalls scheinen besondere Zusammen¬
hänge zwischen der Dementia praecox und Tuberkulose, auch
unabhängig von dem erwähnten Verhalten der Kranken, zu bestehen.
Wie schon erwähnt, gehen manche Autoren in dieser Hinsicht so
weit, daß sie eine sehr enge Verbindung von Tuberkulose und De¬
mentia praecox annehmen. Alfesewsky „nimmt eine tuberkulöse
Ätiologie für manche Fälle von Katatonie an.“ — Soutzo jun. und
P. Dimitre8co, „Dämence pröcoce et tuberculose“, fanden folgendes: „Ab¬
gesehen von der Häufigkeit der Tuberkulose in Anstalten, die die Fälle
mit Dementia praecox wie alle andern beteiligt, scheint zwischen
dieser Psychose und der Tuberkulose ein Zusammenhang zu bestehen,
der aber über eine zufällige Koinzidenz hinausgehen würde. Um über die
relative Häufigkeit der Tuberkulose bei den verschiedenen Formen der
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
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Geisteskrankheiten Aufschluß zu erhalten, haben sich die Verfasser der
klinischen Untersuchung der Tuberkulininjektion und der Ophthalmo¬
reaktion bedient. Bei 87 Kranken mit Ausschluß der Dementia prae¬
cox wurde 26mal ein positiver, 23mal ein fraglicher, 40mal ein negativer
Befund erhoben. Hingegen waren die Zahlen bei 63 Kranken mit De¬
mentia praecox 42, bzw. 4 und 17, d. h. über 3%. Welcher Art die
Bedingungen sind, die zu einer solchen Frequenz der Tuberkulose bei den
Frühdementen führen, läßt sich nicht sagen. Es scheint aber, daß die Ver¬
gesellschaftung der Infektion und der Psychose in einem schweren Auf¬
treten der letzteren ihren Ausdruck findet, was die Verfasser auf das
Hinzutreten der Wirkung der bakteriellen Toxine auf das Zentralnerven¬
system zu dem organischen Prozeß der Dementia praecox beziehen.“ —
In einem Referat von Erwin Stransky über eine Arbeit von Dide wird
bezüglich der Dementia praecox gesagt: „Auffällig fand er auch,
gleich früheren Beobachtern, Tuberkulose; er ist nicht geneigt, diese
Koinzidenz auf bloß äußere Momente zurückzuführen.“
Am zweithäufigsten war die Tuberkulose bei uns bei den Manisch-
Depressiven. Da aber nur wenig Fälle zur Verfügung standen,
kann hier der Zufall eine Rolle spielen.
Sehr häufig ist die Tuberkulose bei uns auch bei den Epilepti¬
kern. Aber auch hier gilt dasselbe, wie das bei den Manisch-
Depressiven Gesagte. Jedenfalls fanden Autoren mit größerem
Material — Hahn, Habermaas u. a. — die Tuberkulose seltener.
Sehr gering ist die Rolle, die die Tuberkulose bei unseren Senilen
spielt. Daß das höhere Lebensalter durchaus kein Hindernis für das
Entstehen der Tuberkulose bildet, ist schon erwähnt (Cornet , v. Meh¬
ring). Auch andere Autoren mit genügend großem Material haben
dasselbe gefunden ( Ganter , Schröder).
Auch bei den Paralytikern war bei uns wie auch bei andern
die Tuberkulose selten.
Der Rest der zur Sektion Gekommenen hat nur wenig Tuber¬
kulose. Irgendwelche Schlüsse für die einzelnen Gruppen betreffs
der Tuberkulose zu ziehen, ist bei den wenigen Fällen natürlich nicht
angängig. Nur als Ganzes genommen ist es auffällig, daß sich bei
44 Kranken nur 7mal Tuberkulose fand bei einem Gesamtdurchschnitts¬
alter, das dem der Dementia praecox ungefähr gleichkam.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die klinische Seite.
Allgemein ist zu sagen, daß die Erscheinungen der Tuberkulose
meist wenig im allgemeinen Krankheitsbilde in den Vordergrund
treten. Sehr auffällig ist, was auch Mohr erwähnt, wie selten die
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Lö v.
Kranken husten. Die recht häufige Danntuberkulose führt allerdings
meist zu Durchfällen bei unseren Kranken. Körperliche Beschwerden
werden äußerst selten vorgebracht. Da es sich doch meist um mehr
oder weniger Verblödete oder Gehemmte handelt, ist das nicht beson¬
ders auffällig, vielleicht liegt es auch an der allgemeinen Indolenz
Geisteskranker und ihrem ganzen passiven Verhalten. Schlechtes
Aussehen der Kranken oder Gewichtsabnahme allein kann auch nicht
immer einen Fingerzeig geben. Beides kommt oft genug bei Geistes¬
kranken auch aus andern Gründen vor, da ja doch alle mehr oder
weniger auch körperlich geschwächte Menschen sind. Schwankungen
im Körpergewicht auch ohne Tuberkulose sind gerade bei Dementia
praecox-Kranken, zumal Katatonikern, etwas Häufiges. Das
beste Erkennungsmittel für die Tuberkulose ist das regelmäßige Messen
der Körperwärme. Praktisch kommt für die Tuberkulose, wie aus
allen Arbeiten hervorgeht, doch nur die Dementia praecox* und
vielleicht die Epilepsie-Gruppe in Frage. Da fast die Hälfte der
Dementia praecox-Kranken an Tuberkulose stirbt, muß man
jeden auf der Siechenabteilung liegenden Kranken dieser Gruppe als
im höchsten Grade der Tuberkulose verdächtig von vornherein an-
sehen und ihn, sobald die regelrechte Körperwärme nur für kurze Zeit
überschritten wird, absondem. Vielleicht gelingt es dann wenigstens,
die Tuberkulose bei einer größeren Zahl Kranker anderer Krank¬
heitsgruppen zu verhindern. Scharf widersprechen muß man m. EL
dem Vorschläge M. Schröders, den einzelnen tuberkulösen Dementia
praecox-Kranken, um ihn selbst eventuell von seiner Tuberkulose
zu heilen, möglichst in seine Familie zurückzubringen.
Fassen wir das Ergebnis der Arbeit zusammen, so ist zu sagen:
Die Tuberkulose ist in der Irrenanstalt außerordentlich häufig.
Daß das Anstaltsleben bzw. die der Irrenanstalt eigenen Verhält¬
nisse dafür hauptsächlich verantwortlich zu machen sind, scheint
für unsere Verhältnisse nicht zuzutreffen. Es müßten dann, da
doch für alle Geisteskranken dieselben Verhältnisse vorliegen, auch
die Geisteskranken aller Krankheitsgruppen in gleicher Weise
zahlenmäßig von der Tuberkulose befallen werden; in der Tat
steuern aber zu der Tuberkulose in ganz unverhältnismäßiger Weise
die Dementia praecox-Kranken bei Zwischen dieser Krank¬
heit und der Tuberkulose scheinen gewisse Beziehungen zu be-
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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten.
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stehen, die wir vor der Hand noch nicht kennen. Das durch die
Geisteskrankheit dieser Gruppe veranlaßte unsinnige, unzweckmäßige
Verhalten der Kranken, das meist und hauptsächlich für das Ent¬
stehen und weitere Umsichgreifen der Tuberkulose verantwortlich
gemacht wird, scheint entschieden in seiner Bedeutung überschätzt
zu werden, da ähnliche Umstände mindestens ebenso häufig einmal
bei den nicht tuberkulösen Dementia praecox-Kranken, dann
auch bei andern Geisteskrankheitsgruppen Vorkommen, die trotzdem
verhältnismäßig gefeit gegen Tuberkulose sind. Die Dementia
praecox-Kranken sind, ebenso wie anscheinend die Epileptiker
zum Teil, von vornherein und ohne weiteres als im höchsten Grade
als der Tuberkulose verdächtig anzusehen. Mangels klinischer Er¬
scheinungen der Tuberkulose sind diese Kranken, wenigstens unbe¬
dingt die bettlägerigen, regelmäßig zu messen und sobald, wenn auch
für kurze Zeit die Körperwärme nur in etwa fieberhaft erhöht ist,
rechtzeitig von den andern Kranken abzusondern.
Literatur.
1. Ganter, R., über die Todesursachen und andere pathologisch-ana¬
tomische Befunde bei Geisteskranken. Allg. Ztschr. f. Psych.
1909, 66. Bd.
2. Schröder , M., Todesursachen schizophrener Frauen. Ztschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psych. 1914, 25. Bd.
3. Hahn, R., Über die Sterblichkeit, die Todesursachen und die Sektions¬
befunde bei Epileptikern. Allg. Ztschr. f. Psych. 1912, 69. Bd.
4. Käs, Statistische Beobachtungen über Ausbruch, Verlauf, Dauer und
Ausgang der allgemeinen Paralyse nebst eingehender Berück¬
sichtigung der ..Befunde an der Leiche. Allg. Ztschr. f. Psych.
1895, 51. Bd.
5. Heilbronner, Über Krankheitsdauer und Todesursachen bei progres¬
siver Paralyse. Allg. Ztschr. f. Psych. 1895, 51. Bd.
6. Brehm, Über die Todesfälle und Sektionsbefunde der Züricher kanto¬
nalen Irrenheilanstalt Burghölzli. Allg. Ztschr. f. Psych., 54. Bd.
7. Banse und H. Roderburg, Bemerkungen über die progressive Paralyse
mit besonderer Berücksichtigung der Halluzinationen. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1914, 25. Bd.
8. Junius und Arndt, Beiträge zur Statistik der progressiven Paralyse.
Arch. f. Psych. 1908, 44. Bd.
9. Lucacs, Zur Pathologie der progressiven Paralyse (Klinikai füzetek
1904, Bd. 12). Neurol. Ztlbl. 1905, S. 1061, Referat: Hudo-
vernig-Budapest.
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484
Lö w.
10. Pilcz , Beiträge zur Lehre von der progressiven Paralyse. Jahrb. f.
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11. Weygandt, Der Seelenzustand der Tuberkulösen. Med. Klin. 1912,
Nr. 3 u. 4.
12. Wulff, Bemerkungen über das Vorkommen von Tuberkulose in den
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13. Bolte, Les troubles psychiques des tuberculeux, Toulouse 1910.
Ref.: .4Mers-München, Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1910
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17. Pandy, Die Irrenfürsorge in Europa. Deutsche Ausgabe, durchge¬
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21. Flügge, C., Handbuch der Hygiene, 7. Aufl. 1912, Verlag von Veit
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Verhdlgn. der 84. ordentl. Vers, des psych. Vereins der Rhein¬
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26. Goldberger, M., Die Rolle der Lungenschwindsucht bei Geisteskrank¬
heiten (Eime — äs ideghorten 1907, Nr. 4). Ref.: Hudooernig-
Budapest. Neurol. Ztlbl. 1908, S. 371.
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Kleinere Mitteilungen
Selbstmordversuch und Krankenkassenleistung. — Die
Frage, ob ein Selbstmörder nach mißglücktem Selbstmordversuch An¬
spruch auf Gewährung von Krankengeldern hat, hatte das Preußische
Oberverwaltungsgericht seinerzeit bejaht, indem es davon ausging, daß
unter vorsätzlich „absichtlich“ zu verstehen sei, und deshalb die „Absicht“
des Versicherten darauf gerichtet sein müsse, sich die die Arbeitsunfähig¬
keit bedingende Krankheit zuzuziehen, wenn § 192, 2 der Reichsversiche¬
rungsordnung Platz greifen solle. („Die Kasse kann Mitgliedern das
Krankengeld versagen, wenn sie sich eine Krankheit vorsätzlich zugezogen
haben.“) Dies sei bei einem Selbstmordversuche nur dann der Fall, wenn
der Versicherte gewußt habe oder habe wissen müssen, daß das von ihm
zur Herbeiführung des Todes gewählte Mittel nicht unmittelbar den Tod,
sondern überhaupt oder zunächst eine Erkrankung zur Folge haben würde.
Abgesehen hiervon beabsichtige der Selbstmörder nur seinen Tod, nicht
aber seine Erkrankung herbeizuführen. Im Gegensatz hierzu entschied
das Reichsversicherungsamt, daß gemäß § 192, 2 der Reichsversicherungs¬
ordnung in einem solchen Falle der Verletzte gegen die Kasse keine An¬
sprüche erheben kann, und zwar aus folgenden Gründen: „Absicht“ be¬
deutet die Richtung des Willens auf ein bestimmtes Ziel, welches erreicht
werden soll. Sie geht somit weiter als der „Vorsatz“, der auch diejenigen
Tatumstände und Ereignisse umfaßt, die der Täter zwar nicht als sein
Endziel beabsichtigt, wohl aber zur Erreichung des von ihm beabsichtigten
Erfolges in seinen Willens- und Vorstellungsbereich mit aufgenommen hat.
Der Selbstmörder weiß und hält sich vor Augen, daß er, um sein Vorhaben
zu erreichen, die Unversehrtheit seines Körpers angreifen muß. Wer sich
selbst töten will, hat mit Notwendigkeit auch den Vorsatz, sich körperlich
zu verletzen. Deshalb hat er auch eine gegebenenfalls nur teilweise Zer¬
störung oder Beschädigung des Körpers in seine Vorstellung aufgenommen
und gewollt, wenngleich der vorgestellte Haupterfolg, die völlige Zer¬
störung der körperlichen Unversehrtheit und die dadurch bedingte Ver¬
nichtung des Lebens, nicht eingetreten ist. Aus diesen Erwägungen wird
man von dem Selbstmörder sagen können, daß er stets die Verletzung
seines Körpers beabsichtigt, jene also „vorsätzlich“ vorgenommen hat.
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486
Kleinere Mitteilungen.
Wird er durch die Verletzung krank, so liegt eine vorsätzliche Körper¬
verletzung vor, als deren Folge Krankheit eintritt. Das muß zur An¬
wendung des § 192 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung genügen.
(ÄrztL Vereinsblatt vom 17. 2. 1917.)
Vorstehende Entscheidung des Reichsversicherungsamtes gibt zu
Bedenken Anlaß, da sie in ihrer allgemeinen Fassung dem psychologischen
Vorgang nicht entspricht und ihm selbst dann nicht gerecht wird, wenn
dem Selbstmordversuch eine so gründliche und allseitige Überlegung
voranging, wie sie die Entscheidung voraussetzt. Der Selbstmörder hat
gewiß auch den Vorsatz, sich körperlich zu verletzen, aber er hat keines¬
wegs mit Notwendigkeit „auch eine gegebenenfalls nur teilweise Zer¬
störung oder Beschädigung des Körpers in seine Vorstellung aufgenommen
und gewollt“. Dies dürfte nur für die Fälle zutrefTen, die das Preußische
Oberverwaltungsgericht mit den Worten ausscheidet: „Wenn der Ver¬
sicherte gewußt habe oder habe wissen müssen, daß das von ihm zur
Herbeiführung des Todes gewählte Mittel nicht unmittelbar den Tod,
sondern überhaupt oder zunächst eine Erkrankung zur Folge haben
würde.“ In allen andern Fällen kann davon nicht die Rede sein, daß der
Selbstmörder — immer vorausgesetzt, daß er ernsthaft den Selbstmord
wollte — auch die bei ungeschickter oder sonst vereitelter Ausführung
eintretende Krankheit in seinen Willen aufgenommen habe. Die körper¬
liche Verletzung gilt ihm als Mittel zum Tode, nicht zur Krankheit, und
sein Wollen geht nicht auf diese. Fraglich und nur im Einzelfall zu ent¬
scheiden bleibt daher bloß, ob er die „gegebenenfalls nur teilweise Zer¬
störung oder Beschädigung seines Körpers in seine Vorstellung aufge¬
nommen hat“, aber auch dies nur dann, wenn hier mit der „Vorstellung“
nicht der „Vorsatz“ gemeint ist. Denn diese Vorstellung veranlaßt den
ernsthaften Selbstmörder höchstens, seinen Vorsatz so abzuändern, daß
ihm eine „nur teilweise Zerstörung oder Beschädigung des Körpers“ aus¬
geschlossen scheint; es handelt sich somit um eine Abwehr, um eine dem
Vorsatz entgegenlaufende und nur in diesem Sinne von ihm berücksich¬
tigte Vorstellung. Gelingt ihm die Absicht nicht, „wird er durch die Ver¬
letzung krank, so liegt“ zwar „eine vorsätzliche Körperverletzung vor,
als deren Folge Krankheit eintritt“, aber diese Folge ist nicht bloß unge¬
wollt, sondern liegt auch außerhalb des Vorsatzes und steht sogar im
Widerspruch mit ihm. Jene Vorstellung genügt daher nicht zur Anwen¬
dung des § 192 Nr. 2 RVO. Der Schlußsatz der Entscheidung („das
muß ... genügen“) scheint auch anzudeuten, daß der Verf. sich der Be¬
weiskraft seiner Ausführungen nicht ganz sicher fühlte. Um aber nicht
leichtsinnig und einseitig über eine Rechtsfrage zu urteilen, bat ich einen
befreundeten Juristen um Mitteilung seiner Ansicht über obige Entschei¬
dung und erhielt folgende Antwort:
„Der hier wiedergegebene Auszug der Entscheidung des Reichsver¬
sicherungsamtes — die mir in Tatbestand und Gründen nicht wörtlich
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Kleinere Mitteilungen.
487
vorliegt — enthalt unzutreffende Verallgemeinerungen und Schlüsse, mit
denen man sich nicht einverstanden erklären kann. „Die Kasse kann
Mitgliedern das Krankengeld versagen, wenn sie sich eine Krankheit vor¬
sätzlich zugezogen haben.“ Eine Krankheit, nicht eine Körperverletzung.
Die Körperverletzung, die der Selbstmörder sich beibringt, ist keine
Krankheit, sondern es kann nur aus ihr der Zustand einer Krankheit ent¬
stehen. Das erkennt die Entscheidung am Schlüsse an. Der Vorsatz des
Selbstmörders geht — vielleicht — zunächst auf eine Körperverletzung.
Das ist aber nicht nur eine Eigentümlichkeit des Selbstmörders. Wer sich die
Hühneraugen ungeschickt schneidet, wer in die eigene Tötung einwilligt
(§216 RStGB.), wer sich mit seiner Zustimmung operieren läßt, bringt
sich vorsätzlich mit eigener Hand oder durch fremde Hilfe eine Körper¬
verletzung bei. Trotzdem wird das RVA. nicht demjenigen das Kranken¬
geld aus § 192 * RVO. entziehen wollen, der sich bei ungeschickter Selbst¬
behandlung eine Blutvergiftung zuzieht, weil er, um zur Heilung zu ge¬
langen, die Körperverletzung „zur Erreichung des von ihm beabsichtigten
Erfolges in seinen Willens- und Vorstellungsbereich mit aufgenommen
hat“. Es kann auch nicht entgegengehalten werden, daß der Heilzweck
dem Selbstmordzweck entgegengesetzt sei. Einmal ist der Selbstmord
zweifellos die radikalste Beendigung jedes Leidens, sodann aber ist gerade
nach RVA. der Eintritt der Krankheit infolge der Körperverletzung ohne
Rücksicht auf den Beweggrund zu betrachten. Die falschen Folgerungen,
die sich aus der allgemeinen Begründung des RVA. mit Notwendigkeit
ergeben, beruhen auf einer falschen Auslegung des Begriffes des
Vorsatzes. Vorsatz ist das Bewußtsein der Kausalität der
Handlung. Wer trotz dieses Bewußtseins, daß sein Verhalten einen
bestimmten Erfolg haben werde, welcher zum Tatbestand einer zivil¬
oder strafrechtlichen Bestimmung gehört, tätig wird oder untätig bleibt,
handelt vorsätzlich. In diesem Sinne hat auch das Pr. Oberverwaltungs¬
gericht an Stelle des „vorsätzlich“ „absichtlich“ verstanden. Der Vor¬
satz des Selbstmörders umfaßt den Willen zur Körperverletzung mit dem
Bewußtsein, daß die Körperverletzung zum Tode führt. Hat er dies Be¬
wußtsein nicht, so scheidet der Tatbestand als der eines nicht ernstlich
gemeinten Selbstmordversuchs aus der Erörterung aus. Das Bewußtsein,
daß die Körperverletzung zum Selbstmorde kausal wirkt, schließt aber
das Bewußtsein aus, daß sie nicht hierzu, sondern zu einer Krankheit
kausal wirkt, denn der ernstliche Wille zum Tode wird entweder das Be¬
wußtsein des möglichen Eintritts der Krankheit gar nicht aufkommen
lassen oder die subjektive Überzeugung des Selbstmörders festigen, daß
ihm so etwas gar nicht passieren könne. Einer besonderen Feststellung
würde es von Fall zu Fall bedürfen, daß der Täter sich des möglichen Ein¬
tritts der Krankheit bei Mißlingen des Selbstmordes bewußt gewesen sei
und diesen Eintritt auch für diesen Fall gewollt haben würde
(dolus eventualis). Diese Fälle dürften ganz außerordentlich selten sein.
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Nicht ausreichend ist die Feststellung, daß der Selbstmörder an den
möglichen Eintritt der Krankheit gedacht hat oder gar habe denken
müssen. Denn im ersteren Falle stand neben der Vorstellung das Bewußt¬
sein, diese Möglichkeit durch das beabsichtigte Handeln zu verhindern.
Erlahmt im entscheidenden Moment die Willenskraft und steht nun das
entstehende Leiden in dem Bewußtsein des Täters, so kann ihm dieser
Dolus superveniens nicht schaden. Der zweite Fall würde klar nur den
Begriff der Fahrlässigkeit erfüllen, durchaus gleichstehend mit dem*,
der sich bei Selbstbehandlung vorsätzlich verletzt, aber durch Unvor¬
sichtigkeit krank macht.
Eine besondere Bewertung verdienen die Fälle, in denen unschlüssige
oder irgendwelche besonderen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen
Folgen fürchtende Personen (Versicherungsbedingungen, Ruf der Familie)
erst allmählich durch Herbeiführung eines längeren Siechtums ein unge¬
wolltes Ende Vortäuschen wollen. Bei ihnen ist der Vorsatz nicht nur
auf eine Körperverletzung, sondern auf den Eintritt der Krankheit ge¬
richtet. Das Motiv ist gleichgültig, wie es bei jeder Idealkonkurrenz un¬
erheblich ist. Es sind die Fälle, von denen das Pr. Oberverwaltungsgericht
sagt, der Versicherte habe gewußt („wissen müssen“ ist m. E., wie bereits
gesagt, unzutreffend), daß das gewählte Mittel zunächst keine Erkran¬
kung zur Folge haben werde. Auf sie trifft § 192 * RVO. zweifellos zu.
Ich bitte aber, hierzu in Gegensatz zu stellen die Ansicht des RVA.,
nach der z. B. ein Hysteriker, der die Pistole auf sich abdrückt, einen
Versager erlebt und hierbei einen schweren Nervenschock mit dauernden
Folgen bekommt, sich „vorsätzlich eine Krankheit beibringt“ weil er die
Pistole vorsätzlich abgedrückt hat, und nach der Herr v. Rothsattel ( Frey¬
tag, Soll und Haben) durch seinen mißglückten Selbstmordversuch sich
vorsätzlich des Augenlichts beraubt hat.
Die Rechtsprechung hat sich über ähnliche Fälle schon häufig ge¬
äußert. Der Stoff ist mir hier im Felde nicht zugänglich. Ich erinnere
nur an Baumgarten (Lehre vom Versuch der Verbrechen. Stuttgart, 1888)
zu § 216 RStGB.: „Der Vorsatz ist ausschließlich auf Tötung, nicht alterna¬
tiv auf Verletzung gerichtet“, und an Olshausen, der diese Ansicht mit der
herrschenden Lehre durchaus billigt. Ferner weise ich hin auf die herr¬
schende Lehre und Rechtsprechung zu § 81 MStGB. und § 142 RStGB
(Selbstverstümmelung). Es ist bisher noch niemandem eingefallen, den
Selbstmordversuch, der eine Selbstverstümmelung zur Folge hat, als
vorsätzliche Selbstverstümmelung zu bestrafen. „Selbstmordversuch
schließt Vorsatz der Selbstverstümmelung aus“ ( Dietz , Taschenbuch des
Mil.-Rechts für Kriegszeiten, 2. Auf!., Rastatt 1913, S. 268; derselbe,
MStR. 1916 S. 120; Romen-Rissom, MStGB., 2. Auf]. 1916, S. 323, Note2
zu § 81). Die bei Dietz .Taschenbuch S. 268 mitgeteilte Allerh. Kabinetts¬
order aus 1911 sagt daher auch: „Versuch des Selbstmordes ist nicht
strafbar, ist auch kein Bruch des Fahneneides. Er kann kein ehren-
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Kleinere -Mitteilungen
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490
Kleinere Mitteilungen.
selbst bezeichnete die Dissertation als mustergültig. Nach seiner Ap¬
probation wurde Grashey Assistenzarzt bei Rinecker in der Irrenabteilung
des Juliusspitals. Zu seiner Fortbildung besuchte er auch die Klinik
Meynerts in Wien. Sodann wurde er Hilfsarzt und später Oberarzt an
der Kreisirrenanstalt zu Werneck, die damals unter der Leitung Bernhard
Guddens stand. Später wurde Grashey Direktor der niederbayerischen
Kreisirrenanstalt zu Deggendorf. Nach Rineckers Tode wurde er 1884
als Professor der Psychiatrie und Oberarzt am Juliusspital nach Würz¬
burg berufen. Im Juni 1886 wurde er beauftragt, bei der Begutachtung
des unglücklichen Königs Ludwig II. mitzuwirken. Die Tätigkeit der
hierzu berufenen Sachverständigen, den weiteren Verlauf der Angelegen¬
heit und das tragische Ende des Königs und Guddens hat Grashey selbst
im Archiv für Psychiatrie (Bd. 17, H. 3) ausführlich beschrieben. Als
Nachfolger Guddens wurde Grashey nach München berufen. Er wirkte
dort als Professor der Psychiatrie an der Kreisirrenanstalt, zugleich auch als
Arzt des Königs Otto, bis er 1897 als Nachfolger Kerschensteiners als Vor¬
stand des Medizinalwesens in das Ministerium berufen wurde. Im Jahre
1909 ging er in Pension, und im Frühjahr 1914 legte er auch sein Amt
als Arzt des Königs nieder.
Sowohl in der Forschung wie im Unterrichte strebte Grashey stets
nach dem höchsten Grade von Klarheit. Am liebsten arbeitete er in physi¬
kalischen Experimenten. Darauf beruhen seine ausgedehnten Unter¬
suchungen über die Bewegung von Flüssigkeiten in Röhren, dann in elasti¬
schen Röhren, und die Anwendung der Ergebnisse auf die Bewegung
des Blutes in der Schädel- und Rückgratshöhle. Verwandt damit sind die
sphygmographischen Untersuchungen des Pulses bei Geisteskranken
(Arch. f. Psych. Bd. 13). Auf einem andern Gebiete lag die 1884 erfolgte
Veröffentlichung über Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmung
(Arch. Bd. 16); auch hier bewährt er eine große Klarheit und Schärfe der
Untersuchung. Ein großes Verdienst erwarb sich Grashey durch die
Herausgabe der gesammelten und hinterlassenen Abhandlungen Bernhard
v. Guddens mit 41 Kupfertafeln (Wiesbaden, Bergmann, 1889).
Im klinischen Unterrichte liebte Grashey es, nicht eine Fülle von
Material vorzuführen, sondern er behandelte einen einzelnen Fall so
gründlich, daß jedem Zuhörer ein klares Krankheitsbild mit allen Einzel¬
heiten vor die Augen gestellt wurde. Es war eine Freude, zu beobachten,
wie er oft einen jungen Praktikanten aus verworrenen, unklaren An¬
schauungen langsam und stetig fortführte bis zu einem klaren Verständnis
des Krankheitsfalles.
So hat Grashey sowohl durch seine Forschung wie durch seinen
Unterricht viel dazu beigetragen, Licht über die psychischen Krank¬
heiten zu verbreiten. Seine Fachgenossen und besonders seine Schüler,
werden ihm ein dankbares Andenken bewahren.
O. Lüneburg.
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Kleinere Mitteilangen.
491
Der Vorstand des Deutschen Vereins für Psychiatrie hat
beschlossen, für Ende April 1918 zu einer Versammlung in Würzburg
einzuladen, die vorläufig als außerordentliche in Aussicht genommen ist.
Geschäftliche Angelegenheiten sollen, soweit irgend angängig, für die
nächstfolgende Versammlung zurückgestellt werden. Doch besteht die
Absicht, eine Änderung des § 7 Absatz 4 der Satzung für eine spätere
Beschlußfassung vorzubereiten in der Richtung, daß durch eine Begren¬
zung der Amtsdauer der Vorstandmitglieder ein häufigerer Wechsel in
der Zusammensetzung des Vorstandes erreicht wird. Als einziger Gegen¬
stand der Berichte ist vorgesehen: Folgen der Hirnverletzungen
und ihre Behandlung, und zwar hat Fors/er-Berlin die Einführung
in die allgemeine Pathologie, Kleist- Rostock in die Lokalisation, Reichardt-
Würzburg in die Hirnschwellung und Goldstein- Frankfurt a. M. in die
Behandlung und Fürsorge übernommen. Da eine eingehende Besprechung
erwünscht und zu erwarten ist, dürfte für besondere Vorträge die Zeit
mangeln.
I^ersonalnachrichten.
Dr. Karl Knorr, San.-Rat, bisher Dir. in Teupitz, ist Direktor der Landes¬
anstalt Neuruppin,
Dr. Hugo Wörnlein , Oberarzt in Sorau, Direktor der Landesanstalt
Teupitz,
Dr. Friedrich Ostmann und
Dr. Straub in Neustadt (Holstein), sowie
Dr. Lothar Summier in Colditz, sind Oberärzte geworden.
Dr. Erich Noack, Oberarzt, wurde von Teupitz nach Neuruppin ver¬
setzt.
Dr. Theodor Ziehen, Geh. Med.-Rat, der seit 1912 nach Niederlegung seiner
Berliner Professur in Wiesbaden psychologischen und erkenntnis¬
theoretischen Studien lebt, hat einen Ruf als o. Prof, der Philo¬
sophie nach Halle erhalten und angenommen.
Dr. Georg Ilberg, Obermedizinalrat, Dir. d. Sonnensteins, ist zum Geh.
Medizinalrat,
Dr. Paul Nitsche, stellvertr. Dir. d. Sonnensteins,
Dr. Otto Arnemann, Oberarzt in Hubertusburg, und
Dr. Paul Nerlich, Oberarzt in Großschweidnitz, sind zu Medizinalräten,
Dr. Leonhard Rosen, Oberarzt in Görden,
Dr. Wilhelm Richsuin, Oberarzt in Neuruppin,
Dr. Hugo Wörnlein, Oberarzt in Sorau,
Dr. Friedrich Reich, Oberarzt in Buch,
Dr. Karl Westphal, Oberarzt in Wuhlgarten,
Dr. Hans Havemann, Oberarzt in Tapiau,
Dr. Ernst Winckler, Oberarzt in Bethel bei Bielefeld,
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492
Kleinere Mitteilungen.
Dr. Wendelin Herwig, leit. Arzt der Idiotenanstalt in Niedermarsberg,
Dr. Gustav Brunner, leitender Arzt der Privatanstalt Neuemühle bei Cassel,
und
Dr. Peter Neu, Oberarzt in Galkhausen, zu Sanitatsräten,
Dr. Josef Berze, Dir. d. Landesanstalt Klosterneuburg, und
Dr. Josef Quirchtmayer, Dir. d. Landesanstalt Gugging, zu Regierungs¬
räten ernannt worden.
Dr. Franz Viedenz, Oberarzt in Eberswalde, hat das Eiserne Kreuz
1. Kl.,
Dr. Ernst Böck, Dir. d. Landesanstalt Troppau, den Orden der Eisernen
Krone 3. Kl.,
Dr. Adolf Friedländer, Prof. u. Hofrat, Dir. d. Privatanstalt Hohe Mark,
das Mecklenburgische Kriegskreuz und das österr. Ehren¬
zeichen 2. Kl. vom Roten Kreuz mit der Kriegsdekoration,
Dr. Friedrich Vocke, Obermed.-Rat, Dir. von EglQng, den Verdienstorden
vom hl. Michael 3 Kl.,
Dr. Franz Sendtner u. Dr. Wilhelm Körte, Oberärzte in Eglfing, den Ver¬
dienstorden vom hl. Michael 4. Kl.,
Dr. Paul Bentsch, Oberarzt auf dem Sonnenstein, und
Dr. Gustav A. Hecker, San.-Rat, dir. Arzt der städtischen Heilanstalt
Dresden, das Ritterkreuz 1. Kl. des Albrechtordens erhalten.
Dr. Georg Pförringer, Abt.-Arzt an der staatl. Anstalt Friedrichsberg in
Hamburg ist am 24. April an schwerer Cerebrospinalerkrankung,
Dr. Albert Eulenburg, Geh. Med.-Rat und ao. Prof, in Berlin, nach mehr¬
monatigem Krankenlager, 76 Jahre all, am 3. Juli,
Dr. Adolf Stoltenhoff, Geh. San.-Rat, Dir. der Prov.-Anstalt Kortau bei
Allenstein, am 7. Juli gestorben.
Dr. Eberhard Rauch, Oberarzt in Landsberg, Inhaber des Eisernen Kreuzes
1. Kl., ist im April bei einem Sturmangriff im Westen,
Dr. Otto Ranke, ao. Prof, in Heidelberg, ist als Bataillonsarzt auf dem
Felde der Ehre gefallen.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung
Kurlands.
Von
Dr. Harald Siebert, Nervenarzt und leit. Arzt der psychiatr. Abteilung
am Stadtkrankenhause in Libau.
Einleitung. — Das innige und enge Zusammenleben vieler
Völkerschaften bezw. Rassen auf einem verhältnismäßig begrenzten
Territorium bringt es unwillkürlich mit sich, daß man den individu¬
ellen Eigenschaften einer jeden solchen Menschengruppe besondere
Aufmerksamkeit schenkt. Von diesem Gesichtspunkte aus haben sich
sowohl eine anthropologisch-morphologische Betrachtungsweise, als
auch eine soziologisch-ökonomische, eine sprachliche und noch vielo
andere entwickelt. Naturgemäß kann auch der Arzt, welcher in
einem solchen I^ande seine Tätigkeit ausiibt und durch seinen Beob¬
achtungskreis Personen der verschiedensten Völkerschaften ziehen
sieht, auf dem Gebiet der Krankheitslehre vergleichende Untersuchun¬
gen anstellen. Hierbei darf sich jedoch niemand die großen objek¬
tiven und subjektiven Schwierigkeiten verhehlen, welche eine solcho
Betrachtungsweise leicht zu einer überaus fehlerhaften machen können.
Da stellt z. B. eine Volksart gewissermaßen die Oberschicht der Ge¬
sellschaft dar, welche durch größere Bildung und ihren Wohlstand
vor einer anderen den Vorzug vom rein sozialen Standpunkt aus be¬
sitzt, während jene vielleicht wiederum lediglich die Arbeiterschaft
oder die Bauernschaft repräsentiert. Andererseits ist es unvermeidlich,
daß in Ländern mit gemischten Nationalitäten sich neben den allge¬
mein bekannten wirtschaftlichen Kämpfen denselben teils subordi¬
nierte, teils koordinierte rein nationale Streitigkeiten abspielen. Daß
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 6. 35
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UNIVERStTY OF MICHIGßfl
494
Siebert,
bei solchen Momenten leider nur zu häufig rein soziale Auswüchse
und Schattenseiten aus Gründen mangelhafter Kritik fälschlicher¬
weise als nationale Eigentümlichkeiten der einen oder der anderen
Volksart angebrochen werden, ist eine Tatsache, welche nur zu oft
einen stark die Beobachtung trübenden Einfluß ausübt, sie verdient
aber immerhin hervorgehoben zu werden, da man ein präzises Maß
in der Beurteilung dieser Fragen nicht anlegen kann und die subjek¬
tive Auffassungsgrenze wohl vielfach in den weitesten Graden einer
Schwankung unterworfen sein dürfte. Trotz aller solcher Bedenken
bleibt sicherlich eine ganze Reihe von Eigenschaften bestehen, welche
der einen oder der anderen Rasse oder Nationalität als spezi¬
fisch zugesprochen werden muß, und gerade auf diesem Gebiet erschei¬
nen die psychisch-nervösen Krankheiten insofern ein recht dankbares
Objekt darzustellen, als durch die Beschäftigung mit ihnen und die
Erkenntnis der einzelnen Fälle gerade das Studium des Charakters
und der Persönlichkeit gefördert wird. Als selbstverständlich muß
natürlich auch nur das objektivste Urteil des Arztes in Frage kommen,
doch spielt der Arzt bei all diesen die einzelnen Menschenarten trennen¬
den Fragen sicherlich eine mehr vermittelnde und ausgleichende,
als gerade entzweiende Rolle.
Ich habe bereits früher darauf hingewiesen 1 ), daß ich mich in syste¬
matischer Weise mit der vergleichenden Betrachtung psycho-neuroti-
scher Zustände der einzelnen Nationalitäten beschäftige, welche Kurland
(und Litauen) bewohnen und dadurch in großer Anzahl in meinen Be¬
obachtungskreis gelangen, glaubte jedoch noch einige Jahre darüber ver¬
streichen lassen zu sollen, ehe ich an die Zusammenstellung der Arbeit schritt,
um das Material noch größer und vielseitiger zu gestalten, aber auch um
eventuelle vorgefaßte Meinungen, die einer strengen Kritik nicht stand¬
halten, abzustreifen. Ob ich nuh auch in meinen Ansichten einen rich¬
tigen Weg gehe und das Wesentliche vom Unwesentlichen herauszu¬
schälen vermocht habe, wage ich nicht zu untersuchen. — Eine andere
Frage, die vielleicht auch gestellt werden könnte, wäre die, welchen
Zweck solche Betrachtungen an und für sich besitzen, und welches wissen¬
schaftliche Interesse sie wohl beanspruchen dürften. Hierin glaube ich
nun einen solchen eventuellen Einwand dahin beantworten zu können,
daß gerade der Weltkrieg die einzelnen Völkerschaften einander doch
x ) H. Siebert, Einige Bemerkungen über die allgemeinen Neurosen.
Mtschr. f. Psych. XXXV, H. 4, S. 395.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 495
insofern genähert hat, daß ganze Länder mit ihrer Einwohnerschaft,
weiche bis dahin oft kaum dem Namen nach bekannt waren, jetzt von
einem anderen, viel weiteren Gesichtspunkt aus angesehen werden.
Bei meinen Ausführungen beabsichtigte ich eigentlich die Gesamtbevölke¬
rung der Ostseeprovinzen dem Versuch einer vergleichenden Analyse in bezug
auf ihre psychisch-nervösen Störungen hin zu unterziehen, ich muß darin
aber hinsichtlich der Esten Abstand nehmen. Obgleich ich im Laufe
von drei Jahren als Arzt der Livländischen Heil- und Pflegeanstalt
„Stackein“ hinlänglich Zeit und Gelegenheit fand, die Eigenheiten der
psychisch-nervösen Krankheiten bei den Esten zu studieren und die¬
selben mit denjenigen der Deutschen, Letten und Russen zu vergleichen,
muß ich jetzt doch davon Abstand nehmen, da ich durch den Krieg der
Möglichkeit beraubt bin, in den Besitz des gesamten Slackelnschen Ma¬
terials zu gelangen. So sollen denn diese Ausführungen sich lediglich
mit Vergleichen an Deutschen, Letten, Litauern, Juden und Russen
beschäftigen; die anderen Völkerschaften, welche Kurland bewohnen,
kommen ihrer geringen Zahl wegen überhaupt nicht in Frage.
Es sollen in erster Linie betrachtet werden die manischen und
melancholischen Psychosen, die Dementia praecox, die Epilepsie, die
angeborenen Schwachsinnformen und die allgemeinen Neurosen in
ihren schwersten Formen, soweit sie dann eben Objekte der Psychiatrie
werden, als endogene Störungen psychischen Geschehens, die
progressive Paralyse und die alkoholischen Seelenstörungen — als
exogene Formen des Irreseins. Diese erst zu schildernden Krankheits¬
zustände sind sämtlich Objekte der Anstaltspsychiatrie gewesen. In
zweiter Linie werden summarisch die allgemeinen Neurosen degenera-
tiven Charakters der Besprechung unterzogen werden, welche meist
in ambulanter Beobachtung untersucht wurden. Die Gesamtzeit für
die Entstehung der Auffassung umfaßt neun Jahre. — Es dürfte nun
noch an dieser Stelle erwähnt werden, daß das Material der Ostseepro¬
vinzen an psychischen und nervösen Krankheiten in qualitativer Hin¬
sicht ein immerhin reiches sein muß — vielleicht gerade durch den
bunten ‘Wechesl der Nationalitäten —, sind doch gerade hierzulande
in früherer und jetziger Zeit viele einschlägige Arbeiten auf diesem
Gebiet entstanden. Ich erwähne die psychiatrischen Schriften von
Tüing , Mercklin, A. Behr und J. Schröder, ferner die Abhandlungen
von C. Dehio, Val. Holst, Unverricht, Sokolowsky, meinem Vater C.
Siebert, Ed. Schwarz u. a. auf dem Gebiet der allgemeinen Neurosen,
welche zum Teil in der deutschen Petersburger medizinischen Zeit-
Bö*
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496
Siebert,
schrift, zum Teil in den deutschen fachärztlichen Blättern veröffentlicht
worden sind.
In den Ausführungen, die weiter unten folgen sollen, wird es in
jeder Hinsicht vermieden werden, Zustandsbilder zu schildern, welche
in irgendeiner Weise durch den Krieg hervorgerufen worden sind,
hierauf ist grundsätzlich Verzicht geleistet worden. Ferner muß be¬
rücksichtigt werden, daß alle zahlenmäßig oder prozentuell ausge¬
drückten Daten sich auf die Zeit vor dem Kriege beziehen.
Allgemeine Vorbemerkungen. — Im wesentlichen kommt
das Material der Stadt Libau in Betracht, deren Einwohnerzahl vor dem
Kriege nahe an 100 000 betrug; nach oberflächlicher Schätzung waren
davon 38 000 Letten, 20 000 Litauer, 15 000 Juden, 12 000 Deutsche
und 8000 Russen, der Rest wurde von den verschiedenartigsten Völker¬
schaften gebildet. Neben den aus diesen Einwohnergruppen sich zu¬
sammensetzenden Objekten gelangten in früherer Zeit noch viele psychisch -
nervöse Affektionen aus Westkurland und Litauen, speziell dem nörd¬
lichen Teil desselben, zur Beobachtung, sowie die in den Sommermonaten
in reichlicher Anzahl das Seebad aufsuchenden Kranken. Die Grundlage
für die Bildung der vergleichenden Auffassung wurde durch das vor¬
handene klinische Material aus der psychiatrischen Abteilung des Städti¬
schen Krankenhauses und der Nervenabteilung einer Privatklinik einer¬
seits, durch Sprechstundentätigkeit und poliklinische Beobachtung an¬
dererseits gebildet. Die aus diesen Erfahrungen heraus gewonnenen
Resultate sind dann später gesichtet worden, um den Versuch einer theo¬
retischen Darstellung vorzunehmen. Am eindruckvollsten erscheint es
jedenfalls, wenn man im engen Nebeneinanderleben oder Nebeneinander¬
liegen die einzelnen Nationalitäten in klinischer Behandlung studieren
kann; durch einen solchen Betrachtungsmodus wird unzweifelhaft die
Gesamtauffassung am meisten gefördert, während eine poliklinische
Kenntnis der Zustandsbilder hinsichtlich der nationalen Vergleiche für
individuelle Momente die beste Aussicht gewährt. — Der Mangel an
Anstalten für Psychischkranke, speziell in Kurland 1 ), bringt es ferner
mit sich, daß der Arzt in die Lage gesetzt wird, den Verlauf von Psy¬
chosen auch außerhalb der Anstalt zu beobachten, also oft gewisser¬
maßen Kunstprodukte einer unzweckmäßigen Behandlung und Pflege
zu Gesicht bekommt, wie solches in Westeuropa wohl kaum mehr der
Fall sein dürfte. Dieser Umstand bedingt es wiederum, daß man einzelne
familiäre und nationale Eigenschaften der Angehörigen der Kranken
aufs beste kennenlernen kann. Ob in den hier erwähnten Länderbezirken
*) //. Sichert , Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 72. II. 4 u. 5.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 497
mehr psychisch-nervöse Störungen Vorkommen als in anderen Ländern,
wird überhaupt nicht beantwortet werden können, neben der an sich
sehr schwer diskutierbaren Frage dürften vor allen Dingen die äußerst
mangelhaften Statistiken den Ausschlag geben. —
Die deutsche Bevölkerung bildet in Kurland (sowie auch in
Liv- und Estland) gesellschaftlich die Oberschicht; aus deutschen
Elementen setzen sich zusammen die Großgrundbesitzer, welche zum
größten Teil dem Landadel angehören, die studierten Berufsschichten in
Stadt und Land, die Großkaufmannschaft, die leitenden und mittleren
Stellungen in der Industrie, das Handwerk, das Gewerbe und die kleinen
nicht genau präzisierbaren Beschäftigungszweige. Seit etwa zehn Jahren
kamen dazu noch mehrere Tausend deutscher Ackerbauern, sogenannte
Kolonisten, die aus den inneren Gouvernements des russischen Reiches
nach Kurland übersiedelten, wo sie teils als Ackerbauern, teils als kleine
Grundbesitzer sich ansiedelten.
Die Letten stellen allgemein die Bauernschaft des Landes
dar. Fast der ganze Kleingrundbesitz Kurlands befindet sich im Besitz
der Letten. In den Städten bilden sie numerisch den größten Teil der
Bevölkerung, so daß sie bereits in vielen kleinen Ortschaften politisch
die führende Rolle spielten. Auch ein Teil der studierten Berufe rekrutiert
sich aus den Letten, ferner der Kleinhandel, das Handwerk und das Gros
des Fabrikarbeitertums.
Bei den Juden müssen einige Momente besonders berücksichtigt
werden; während in Kurland die jüdischen Elemente meist eingesessene
Kaufmanns- und Handwerkerfamilien darstellen, die über bedingt gute
Schulbildung verfügen und aus ihrer Mitte eine ganze Reihe den gelehrten
Berufen sich widmender Persönlichkeiten hervorgehen lassen, bilden die
litauischen Juden ein kulturell weit niedriger stehendes Element, so
daß Analphabeten z. B. unter ihnen nicht selten sind.
Bei den Litauern überwiegt der Kleinhandel und das Fabrik-
arbeitertum in der Stadt, das Bauerntum auf dem Lande. In akademi¬
schen Berufen sah Kurland wenig Litauer, während gerade in den erst
hervorgehobenen Professionen ein starker Zuwachs dieser Volksart inner¬
halb der letzten zehn Jahre in unserem Lande nachzuweisen war.
Die Russen, ihrer Herkunft nach an sich weit abgelegen, kamen
meist nur als fremde Elemente ins Land; die höheren Beamtenkreise
setzten sich fast ausschließlich aus Russen zusammen, dabei war ein stetes
Kommen und Gehen die Regel. Gericht, Lehrstellen, Zoll, Post, Bahn¬
wesen usw. wurden in leitenden und subalternen Stellen von Russen ver¬
sehen, daneben waren die Russen in einigen Tausend Personen als so¬
genannte Schwarzarbeiter, d. h. als Arbeiter für die gröbsten, keine Detail¬
kenntnisse erheischenden Dinge in Kurland vertreten.
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Siebert,
498
Nicht jeder Leser wird sich bei Erwähnung dieser fünf Volksarten
über die gegenseitigen Beziehungen zueinander vom rein rassischen
Standpunkt aus klar sein, so daß hierin doch kurze erläuternde Bemer¬
kungen als erwünscht erscheinen dürften. Wenn über die Volksart der
Deutschen und Juden weiter keine Erklärungen notwendig sind, so er¬
fordern doch die drei anderen Varietäten eine wesentlichere Betrachtung.
Ratzel l ) erwähnt, wenn von Völkerunterschieden unseres Erdteils die
Rede ist, Germanen, Slawen und Romanen, wobei die Wissenschaft
in letzter Zeit- in Europa eine vierte über den Nationalitätsunterschieden
stehende Gemeinschaft gebildet hat, die der Völker der finnischen
Familie. Dieser Gruppe ural-altaischer Völker gehören auch die Esten
an, welche als finnisch-ugrischen Ursprungs bezeichnet werden müssen
und den Magyaren anscheinend verwandt sind. Sie bewohnen Estland
und Nordlivland. Sie finden hier, wie bereits oben erwähnt wurde, als
Volksstamm in der vergleichenden Betrachtung keine Berücksichtigung; ich
hebe diese Volksart nur deshalb hervor, weil sie vielfach mit den Letten
und Litauern gemeiniglich verwechselt und identifiziert wird. Lasse
ich hierin einem der erprobtesten Kenner baltischer Art und baltischer
Rassen- und Kulturverhältnisse, S. Broedrich 2 ), das Wort, so erfahren
wir: „Esten sowie Letten und Litauer sind nicht Slawen, sondern erstere
wahrscheinlich von germanischer Urbevölkerung schon mit germanischem
Blute erfüllt, so daß die spätere außerordentlich starke Blutmischung
mit Schweden und Deutschen nicht mehr viel zu dem blonden, blauäugigen
Typus des hochgewachsenen Volkes beigetragen hat; die lettisch¬
litauische Rasse ist wesensgleich mit der ausgestorbenen preußischen
Urbevölkerung, ein indogermanischer Stamm, das Bindeglied zwischen
Germanen und Slawen, mehr germanisch als slawisch. Diese Wesens¬
verwandtschaft wäre nicht zu erklären, wenn Deutsche und Letten ver¬
schiedenen Rassen angehörten, denn jede Rasse besitzt ihr eigentüm¬
liches Gefühls- und Empfindungsleben, in das einzudringen dem An¬
gehörigen einer fremden Rasse gar nicht oder doch nur höchst unvoll¬
kommen möglich ist. Nach Virchows Ansicht sind die lettischen Schädel
am ehesten den Schädeln eines deutschen Reihengräberfeldes zu ver¬
gleichen.“ Erwähnt sei noch an dieser Stelle, daß O. Waeber*) in sei er
Arbeit an einem großen lebenden Lettenmaterial die längliche Kopfform
dieser Volksart nachwies. — Bezüglich der Russen muß darauf hinge¬
wiesen werden, daß dieser Begriff mehr ein politischer als ein rein völki¬
scher ist. Abgesehen von der klar hervortretenden Dreiteilung in Groß-,
Klein- und Weißrussen, bei der die Wesensverschiedenheit jeder ein-
M Ratzel, Völkerkunde. III. Leipzig. Bibliographisches Institut.
2 ) G. Broedrich , Das neue Ostland. Charlottenburg 1916.
*) O Waeber, Beiträge zur Anthropologie der Letten. Diss. Dorpat 1879.
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Die Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 499
zclnen Art klar auf der Hand liegt, muß noch mit der starken Vermischung
dieser Völker mit Mongolen und Turkvölkern gerechnet werden, wo¬
durch die Gesamtauffassung über das Russentum als Volksart natur¬
gemäß einen viel komplizierteren Charakter annimmt.
Wenn auch keine genauen Zahlenreihen zur Verfügung stehen,
welche über die Einwohnerschaft Kurlands genauen Aufschluß geben —
die letzte Volkszählung war im Jahre 1897 vorgenommen worden —,
so sollen doch die zu Gebote vorliegenden Ziffern Erwähnung finden 1 ).
Demnach waren in Kurland ansässig: 51 017 (7,75 %) Deutsche; 505 994
(75,07 %) Letten; 38 276 (5,68 %) Russen; 36 219 (5,37 %) Litauer
(und Polen); 37 689 (5,59 %) Juden; 4839 (0,72 %) andere Nationali¬
täten — in Summa 674 034 Köpfe. In der Zwischenzeit dürfte sich durch
Zuzug der deutschen Kolonistenbauern und der litauischen Fabrik¬
arbeiter (letztere wohl nach Libau) das Zahlenverhältnis doch in mancher
Hinsicht verschoben haben, nähere Daten hierüber fehlen jedoch zurzeit
überhaupt.
Psychische Störungen — Objekte der Anstaltsbehandlung.
Obgleich ich der psychiatrischen Abteilung in Libau erst
4*4 Jahre vorstehe, habe ich das Material derselben auch
aus einer früheren Zeit in der Weise statistisch zu verwerten gesucht,
indem ich zwei Zeitabschnitte, und zwar die Jahre 1905 bis 1909 und
1910 bis 1914 einschließlich, derart in Frage gebracht habe, daß die
Summe der jeweiligen innerhalb der entsprechenden fünf Jahre in
die Abteilung aufgenommenen und behandelten Kranken wechselseitig
in bezug auf Krankheitsform und Nationalität zergliedert wurde. Von
der Darstellung der absoluten Zahlen habe ich Abstand genommen
und der Übersicht halber lediglich die abgerundeten Vomhundert-
ziffern mit ihren Dezimalteilen angeführt. Wenn auch eine solche
Methode vom strengen Standpunkt der Genauigkeit aus durchaus
anfechtbar erscheint, so beweist doch einerseits das recht offensichtliche
Übereinstimmen der wichtigsten Krankheitsformen in beiden Zeit¬
abschnitten, daß diese Auffassung jedenfalls dem Kern der Sache
nicht fern liegt, andererseits hätte die Arbeit sonst einen unerwünschten
und unbeabsichtigten Umfang erhalten; auch eine getrennte Betrach¬
tung der Geschlechter ist aus letzterem Grunde unterblieben.
*) Baltische Bürgerkunde. Riga 1908.
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500
Siebert,
Die weiter folgenden vier Tabellen geben die Übersicht über Krank¬
heitsformen und Nationalitäten der in die psychiatrische Abteilung
aufgenommenen Störungen; die exogenen einfachen Seelenstörun¬
gen, die Fieberdelirien und Intoxikationen sind von der Gesamtzahl
der Krankenaufnahmen gestrichen worden.
In den Jahren 1905 bis 1909 einschließlich wurden aufge¬
nommen 770 Personen.
Von den
(Tabelle I.)
Deut¬
schen
0/
/o
Juden
o r
/o
Letten
%
Li¬
tauern
%
Russen
o r
/o
litten an:
Manie .
8,0
26,0
2,6
5,0
5,0
Melancholie.
3,0
8,0
9,5
3,2
3,2
Dementia praecox.
34,2
46,0
49,1
47,0
47,0
Paralysis progressiva.
20,0
10,3
14,1
13,5
13,5
Delirium tremens.
21,5
3,0
15,6
10,5
10,5
Epilepsie.
8,0
—
3,8
7,0
7,0
allgemeinen Neurosen.
5,3
1,7
4,6
12,0
12,0
angeborenem Schwachsinn.
—
5,0
0,7
1,8
1,8
Summa
100,0
100,0
100,0
100,0
100.0
Andererseits waren von den an
(Tabelle II.)
Manie
o r
/O
Melan¬
cholie
o r
/o
De¬
mentia
praecox
0/
/o
Paraly-
sis pro¬
gressiva
%
Delirium
tremens
0/
/o
Epi¬
lepsie
o r
/o
allge¬
meinen
Neu¬
rosen
0/
/o
ange¬
borenem
Schwach¬
sinn
%
leidenden Kran¬
ken ihrer Natio¬
nalität nach:
Deutsche ....
20,6
9,0
10,4
24,0
25,0
35,0
18,0
Juden .
51,2
21,0
16,6
10,0
4,0
—
4,0
60,0
Letten.
13,7
52,0
50,3
38,0
41,0
35,0
32,0
20,0
Litauer.
10,2
9,0
17,5
14,0
10,0
23,0
32,0
20,0
Russen.
4,3
9,0
5,2 j
14,0
20,0
7,0
14,0
—
Summa
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 501
In den Jahren 1910 bis 1914 einschließlich wurden auf ge¬
nommen 886 Personen.
Von den
(Tabelle III.)
Deut- !
Hohen 1
o/ ;
/o 1
!
Juden
0 /
1 /o
Letten
%
Li-
tauern
%
Rossen
%
itten an:
Manie.
8,0
46,0
4,0
6,7
5,0
Melancholie.
2,0
9,5
4,0
2,2
Dementia praecox.
34,0
40,0
42,5
41,8
24,4
Paralysis progressiva.
21,5
7,8
6,0
8,1
21,6
Delirium tremens.
26,5
—
26,0
20,4
41,4
Epilepsie.
4,0
3,8
8,0
1,8
2,2
allgemeinen Neurosen.
4,0
2,4
2,0
17,2
3,2
angeborenem Schwachsinn.
—
2,0
—
—
Summa
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Von den an
(Tabelle IV.)
Manie
Melan¬
cholie
De¬
mentia
praecox
Paraly¬
sis pro-
gTessiva
1 Delirinm
tremens
1 Epi-
| lepsie
allge¬
meinen
Neu¬
rosen
ange¬
borenem
Schwach¬
sinn
0/
/o
0/
/o
0/
/o
%
o r
/o
1 0/
! /n
%
0/
/o
leidenden Kran¬
ken waren ihrer
Nationalität nach:
i
i
i
i
l
i
!
i
1
Deutsche ....
13,0
4,0
13,0
34,0
19,0
12,0
13,0
—
Juden .
52,1
—
j 20,0
8,0
—
8,0
8,0
—
Letten.
17,6
79,5
i 44,0
26,0
49,0
70,0
13,0
100,0
Litauer .
10,9
12,5
17,0
12,0
14,5
5,0
60,0
—
Russen.
6,4
4,0
6,0
20,0
17,5
5,0
6,0
—
Summa
100,0
100,0
100‘0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
a) Manie und Melancholie. Die affektiven Seelenstörungen
werden hier grundsätzlich nach der Komponente gesondert betrachtet,
unter welcher sie in klinischer Beobachtung waren; auf diese Weise
konnte in der tabellarischen Zusammenstellung eine Person z. B. zwei¬
mal unter der Krankheitsrubrik Manie und einmal unter Melancholie
registriert werden. Bei Durchsicht der Tabellen nehmen die Juden
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502
Sichert,
unter allen maniakalischen Kranken weitaues die erste Stelle ein, indem
über die Hälfte aller dieser Psychosen auf die erwähnte Rasse entfällt;
in dem Zeitabschnitt 1910 bis 1914 erweist sich die Manie überhaupt
als die absolut häufigste psychische Affektion der Juden, während
bei den anderen Nationalitäten keine besonders auffallenden Schwan¬
kungen im zahlenmäßigen Verhältnis zur Beobachtung gelangen. Die
Manie der jüdischen Rasse äußert sich anscheinend in schwererer
Ideenflucht, als bei den übrigen Völkerschaften, während der heitere
Affekt gegenüber dem erstgenannten Symptom stark in den Hinter¬
grund tritt. Von sonstigen auffälligen Symptomen sei nur noch die
groteske Schamlosigkeit fast aller maniakalischen litauischen
weiblichen Kranken hervorgehoben, welche sogar unter dem
Pflegepersonal als sprichwörtlich gilt. Es liegt hier ja naturgemäß
eine Nivellierung der normalerweise überwertigen Vorstellungen
im Sinne Wernicke s vor, wie sie ja schließlich bei allen Geistesstörungen
und bei der Manie besonders zur Beobachtung kommt, doch scheint
hierin vielleicht doch mehr als lediglich ein zufälliges Ereignis zu
stecken. Die Dauer des Krankheitsprozesses erwies sich als überaus
schwankend, worin jedenfalls weder ein nationales, noch ein soziales
Moment von irgendeinem Einfluß zu sein schien. Auch die manischen
Erkrankungen der Deutschen, Letten und Russen verliefen teils in
typischer, teils in atypischer Form, wiesen aber untereinander keine
beachtenswerten Differenzen auf.
Gehen wir zum direkten klinischen Gegensatz der Manie, zur
Melancholie über, so überrascht sofort bei Ansicht der Tabellen III und
IV das Fehlen jeder melancholischen Störung bei den Juden, sowie
auf allen Tabellen der niedrige Prozentsatz bei den Deutschen. Diese
Tatsache darf inde nicht als schlagender Beweis angesehen werden,
sondern erklärt sich aus dem Umstande, daß gerade bei anscheinend
leichteren depressiven Zuständen die Altgehörigen der wohlhabenderen
Gesellschaftsschichten den Versuch einer häuslichen Behandlung
anstrengen oder aber Sanatorien zur Behandlung der erkrankten Fa¬
milienglieder heranziehen, von der Voraussetzung ausgehend oder sie gar
auf fälschlichen Erfahrungen früherer Zeiten basierend, daß der Auf¬
enthalt in einer öffentlichen oder geschlossenen Anstalt rein psycholo¬
gisch die Krankheit verschlimmern könne. Während bei der Erregung
und der Schwatzhaftigkeit manischer Kranker solche Bedenken den
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 503
Angehörigen weniger kommen, da die Anwesenheit solcher Personen
im Hause unbedingt sehr störend empfunden werden muß, halten gerade
ruhige Depressionen nicht selten den Entschluß zur Anstaltsver¬
bringung zurück. Neben all dem bleibt bei den Letten numerisch
das weitaus größte Übergewicht bezüglich der melancholischen
Störungen bestehen; innerhalb dieser Volksart hält sich die Zahl
in der Vomhundertberechnung so ziemlich auf der gleichen Höhe. Die
lettischen Melancholien sind scheinbar schwer, von starkem traurigem
Affekt begleitet; die Angst tritt jedenfalls gegenüber dem traurigen
Affekt wesentlich in den Hintergrund. Meist sind es von Hause aus
begabte, aber durchaus depressiv veranlagte, vielfach konstitutionell
verstimmte Persönlichkeiten, bei welchen die schwere melancholische
Phase dann lediglich die Exazerbation vorbestehender krankhafter
Momente darstellt, bei anderen setzt die Psychose wiederum gänzlich
unvermittelt ein. Selbstmordneigung ist bei den Letten stark,
nicht selten erfährt man von ehemaligen geheilten Kranken, daß sie
nach Jahren oder Monaten plötzlich sich das Leben genommen. Die
Deutschen und Juden zeigen in den affektiven Depressions¬
stadien diese Neigung weniger, bei den Russen und Litauern
scheint sie sehr gering vorhanden zu sein. Dagegen haben diese
Nationalitäten keineswegs überwiegend den traurigen Affekt im Ver¬
lauf ihrer melancholischen Störungen aufzuweisen, der Affekt der
Angst bildet, sei es im Gemisch, sei es in selbständiger Form, ein ebenso
häufiges Symptom der melancholischen Verstimmung. Neben den
rein affektiven Seiten, also den Grundkomponenten, müssen noch
die somatopsychisehen Störungen Erwähnung finden, welchen die
Letten in ihren melancholischen Zuständen in stärkstem Maße unter¬
worfen sind. Es erscheint mir unzweifelhaft, daß sie den schweren
Körperwahnvorstellungen ausgiebiger unterliegen, als die anderen
beobachteten Kranken, deren abnorme melancholische Ideenkom¬
plexereichlich soviel auf allopsychischen Störungen beruhen. Diese
Erscheinung dürfte darin zu suchen sein, daß bei der lettischen Nation
überhaupt ein starker hypochondrischer Einschlag sich zeigt, worauf
noch weiter unten eingegangen werden wird; entsteht nun auf der
endogenen Grundlage eine melancholische Störung, so entwickelt sich
eben aus der primären hypochondrischen Auffassung die melancho¬
lische Körperwahnvorstellung in ihrer schwersten Form.
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504
Siebert,
In bezug auf eine vergleichende Betrachtung kann nur noch er¬
wähnt werden, daß ich Dipsomanien als Symptom der Melancholie
ausschließlich bei Deutschen und Russen beobachtet habe. Da jedoch
solch eine klinische Erscheinung immerhin zu den Seltenheiten gerech¬
net werden muß, soll dieselbe lediglich zur Registrierung der Tatsache
herangezogen werden. Hereditäre Momente konnten bei den affektiven
Seelenstörungen lediglich in einzelnen Fällen, zudem nur bei Deutschen
und Juden, erbracht werden.
b) Dementia praecox. Im Gegensatz zu den affektiven Er¬
krankungen, bei welchem eigentlich nur geringe rassenindividuelle
Momente zur Beobachtung gelangten, bietet die Gruppe der Demen¬
tia praecox doch eine Reihe vom vergleichend-nationalen Standpunkt
aus sehr beachtungswerter Tatsachen dar. Fast bei allen Volksarten
bildet dieser Vorgang die prozentuell am stärksten vertretene Zahl,
lediglich in der Zeit 1910 bis 1914 überwiegt bei den Juden die Manie
und bei den Russen das alkoholische Delirium; absolut gerechnet,
stellt das Jugendirresein, wie dieses auch zu erwarten sein
muß, den weitaus größten Prozentsatz an seelischen Störungen
dar. Den einzelnen Nationalitäten nach geordnet, sieht man
deutlich an der Hand der Tabellen, daß eine Gesetzmäßigkeit
bei der Anordnung in übereinstimmendster Weise vorhanden ist. Man
kann fast sagen, daß die Aufnahmeziffer durchaus der Bevölkerungs¬
zahl entspricht, denn bei kaum einer einzigen anderen Krankheits-
rubrik läßt sich ein solch deutlich ausgesprochenes Verhältnis nach-
weisen. Entsprechend ihrer absolut größten Einwohnerzahl, haben
die Letten die erste Stelle. Bei ständigem Zuzug vom Lande
zu einem Industriezentrum erlebt man es nicht selten, daß ehemalige
Landlcute während der Pubertät zur Stadt ziehen, sich hier der Fabrik¬
oder Schwarzarbeit widmen und dann psychisch erkranken, auch
läßt es sich feststellen, daß viele der Erkrankten als Kinder oder zu
Beginn der Pubertät zur Stadt gezogen sind, wo sie dann plötzlich
aus dem ruhigen Landleben in die unhygienischen städtischen Ver¬
hältnisse versetzt wurden und sich genötigt sahen, eine ihnen bis dahin
ungewohnte und anfangs das körperliche und vielleicht auch das geistige
Vermögen weit übersteigende Arbeit zu leisten. Ich glaube nun keines¬
wegs, daß in dem gelegentlichen Nichtübereinstimmen von Können
und Anforderung eine Ursache für das Entstehen einer Defektpsychose
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Die Psychosen und LNearasen bei der Bevölkerung Kurlands, öOö
g« «tichötr wäre, lebbetrachte dio-sm Kiänkiitfitjssu^tMödß als
«ndtigäne ' C eh1 r n&ff ek t iv>nc- n, will mich aber auch keineswegs
der» Momenten als sogenannten Ifilf^frikt^reö verschließen.
Auffallend' ist mir. in bezug auf die Lelien das ;$pätc ‘
KiüSfctzeh de) Ui liranknrig: die .«leisten iMbniugt*« ■■gelangen wohl
zwischen dein -22, und .30. Lebensjahre zum A»iKbnu*fa und sind fast
alle durpli starke* ilorvortrefe« imtatonimlmr ifrsrhrnuHStrii chara-b-
terisiett. Meist, ergibt die Vorgeschichte keine Atdudtpunkte, die
für eine Heredität <idef eine wirklich exogene Crsayhe Sprechern die
Krankiieit sotzt hi der Kegel afoii:, seltener subaUnt ein,? ffci dem
sch an etwas VofgeniekbiM Aller Uiif# der Arbeiter sei) »ft der ♦.
Afköbotisniu* entschieden etm* bagihistig^mle Holle zu spielen,. .Die
Walmbiidring tritt, bei den Letten axis» hebumd 'in 'geringerem Maße
auf, als hei d<m anderen Völkerschaften; kihgegcü lassen sieh in den
Füllen seht l$>hÄft<et naeliwelsen. Infolge
Lberwiegens katatoniKchrr Symptome tritt- -öfter. Mutismus md. der
.na.turgen.uffj die Uniecssmhibvgefi .'sehr ersehwert. Unter den Letten
habe ich gerade die ; d^werstibi ;akut atisbreehende« katut einen iÄryb.;ü'L
in denen sie überaus aerstöruii^-
süchtig emdbeUeb und in ivu&nrst gcd&brLieher •Weise gewalttätig
wurden, dabefofi gerade gegen eigene Fawbengliedo» Ks. dlirl'te wohl
anzuflehffk?! sein, da 15' diese: Krsehdttuitg ein: !V"(h*lii bdiler-
haften Umganges mit der im Beginn der pm-hw-hgi) Urknsniomg
stehenden Uersonlh likeil ist. .indes habe Uh solche Zid-hmle hei let¬
tischen Kranken aller fieseUsctedts-, und Vörtuiigehslilft^rn heohr .u.
achtet.; Pas- Enrirejtnltat. der Prozesse Ist'-'llher.atlS'.-W^Hfilnd,,' virffaieli
blöder sehehibaretÖi^esuhg-lfk viel e werdbnyU ; ;
b e d i n gi arbftit sf »hi tu tec/tz andau Irrt der Äkoasmen. und leben iineh
viele ,bdire als Versorger der Uanabmi in ihrer HämdhTikeii. Jt. Bthi,
der ein au Tausenden zahletides Material von Psychosen nti Leiten
studiert liat; teilte Ifdd rmtj dab gr urfter der lettischen ländlichen
Bevölkerung kaum rein nmmsvlie Psychosen beobachtet, in kürzerer
ntler längerer %oit sieh »iik dem pset^hirfliftistheB.- jßildö
ein Verbiödungsprozeß,. dem kamtrme '• Symptome oder, sonstige
■ cbmalUoristiselm Züge sL-h zugosdLXn.
Anders ist es fjei dm?. Juden; bei den Fällen von Ibmeidia prae-
wok läßt siyh in '. w*ynft ' .
Co gle
506
Si e be rt.
direkt hereditäres Auftreten von Geistesstörungen nachweisen. Die
Rüdimchen Theorien über Vererbung und Neuentstehung der Dementia
praecox an der Hand meines Materials zu prüfen war mir leider nicht
möglich, die Schwierigkeit besteht auch ferner darin, daß unter den
Juden in Kurland und besonders in Litauen, trotz des tiefen Bildungs¬
standes, die Frage der Erblichkeit und der Familiarität der Psychosen
— vielleicht durch praktisches persönliches Beobachten — so bekannt
ist, daß sie auch dem Arzt gern das Bestehen solcher Störungen in
der eigenen Familie verschweigen. Gerade bei Töchtern der niedersten
Bevölkerungsschichten wird das Bekanntwerden einer vorübergehen-
• den Geistesstörung meist als Gefahr von dem Gesichtspunkte aus
angesehen, daß ein Mann sich zur Heirat mit einer Person, deren
Familie zu Geisteskrankheiten neigt, kaum entschließen würde. Hin¬
gegen erhält man aber zuweilen objektive Angaben von Bekannten
oder seitwärts stehenden Verwandten, wodurch gelegentlich ein gutes
Errichten von eventuellen Krankheitsstammbäumen ermöglicht wird,
doch ist das immerhin nur für eine ganz kleine Zahl von Fällen von
Belang. — Während ich bei den Letten nicht selten während des
Dienstjahres nach Absolvierung des Gymnasiums, auch gar nach
abgeschlossenem Universitätsstudium die Psychose ganz unvermittelt
ausbrechen sah, läßt sich bei den Juden meist schon vor der
Pubertät eine gewisse Disharmonie im psychischen Ge¬
schehen nachweisen. Oft sind es gerade Musterschüler, die plötzlich
versagen, dann wieder Kinder, die mit 12 oder 13 Jahren musikalische
Meisterstücke darbieten, auffallend gut Schach spielen, schwere Lek¬
türe treiben, überraschend leicht die verschiedensten Sprachen er¬
lernen und anderes mehr. Auch sexuelle Frühreife läßt sich beob¬
achten. [Nach meinen Erfahrungen beginnt die Pubertät fast regel¬
mäßig um etwa 1 bis iy 2 Jahre früher bei den Juden, als bei den
Deutschen und Russen, um 2—3 Jahre früher, als bei den Letten und
Litauern.] Zwischen dem 18. und 20. Jahre, meist während der
Schulzeit oder zu Beginn des Studiums bezw. der Lehrlingsperiode,
setzt dann die Psychose ein. Man kann oft finden, daß gerade der Mi¬
lieuwechsel die Störung deklariert, nicht aber, wie die Angehörigen
gemeiniglich angeben, hervorbringt. In den Schulen wird so manche
bereits krankhafte Gepflogenheit noch lange nicht als pathologisch
angesprochen, zumal wenn die Leistungen nicht irgend hinter dem
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 507
Gewöhnlichen Zurückbleiben. Die meisten der Störungen beginnen
dann den Angehörigen durch lebhafte Wahnbildung als krankhaft auf¬
zufallen. Von diesem Stadium ab nimmt die Krankheit der Kegel
nach einen rapiden Verlauf und führt in kurzer Zeit unter
Zerfall der geistigen Persönlichkeit zur schweren Ver¬
blödung, die gewöhnlich infolge unsozialen Wesens, Unruhe und
Unlenksamkeit zu dauerndem Anstaltsaufenthalt führt. Sehr selten
sah ich eine Dementia praecox bei jüdischen Kranken sich so weit
bessern, daß eine Beschäftigung, wenn auch in verringertem Umfange,
wieder aufgenommen werden konnte. Auch schubweiser Verlauf,
gelegentlich unter dem Bilde einer affektiven Psychose, läßt sich
beobachten. Die voll entwickelte Psychose verläuft ohne irgendeine
charakteristische Schattierung, es sei nur nochmals auf das stets früh¬
zeitige Einsetzen der Störung und die sonderbaren, oft einsei¬
tigen, hervorragenden Eigenschaften solcher Kranker im
Vorstadium des Leidens hingewiesen.
Die Dementia praecox der Deutschen ergibt auch in etwa 25%
hereditäre Belastung. Mehr als bei den Letten und Juden findet sich
bei den Eltern Konsanguinität; erwähnt sei noch, daß sich häufig
Alkoholismus des Vaters nachweisen läßt. Der Beginn der Krankheit
war an meinem Material durchaus mehr schleichend und vom Nor¬
malen zum Pathologischen fließend, wie bei den erst angeführten
Volksarten. Die Kranken scheinen längs am mehr und mehr intellek¬
tuell zu versagen, auch fällt ihre Gemütsstumpfheit vielfach auf.
Das Altersoptimum liegt zwischen 16 und 24 Jahren. Heilung mit
Defekt erfolgt ungleich häufiger, als bei den Juden, in Parallele
zu letzteren ist schubweiser Verlauf nicht selten.
Bei den Litauern sah ich meist ein jähes Verlaufen der Psy¬
chose, welche ungemein viele Symptome hysterif ormen C harak-
ters bei dieser Volksart darbietet, so daß für die anfängliche Diagnosen¬
stellung große Schwierigkeiten entstehen können. So habe ich aus¬
gesprochene Tics convulsifs, vorübergehende Hemi- und Paraplegien,
Gefühlsstörungen, Krampfzustände usw. in großer Anzahl beobachtet,
während selbst bei den allgemein zu motorischen Reiz- und Ausfalls¬
erscheinungen neigenden Juden solche Scheinsymptome nur als sel¬
tenes, immerhin auffälliges Ereignis zu Gesicht kommen. Die Er¬
krankung setzt bei den Litauern eigentlich in jedem in Frage kommen-
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508
Siebert,
den Alter ein, die Verblödung ist später tief, Heilung mit Defekt
selten. Die Hereditätsfrage kann überhaupt nicht angeschnitten
werden.
Die Psychose der Guppe des Jugendirreseins bietet bei den Russen
nichts sie wesentlich von den Verlaufsarten und -formen bei den an¬
deren Nationalitäten Unterscheidendes dar; man kann jedenfalls keine
besonders charakteristischen Merkmale feststellen. Belastende Mo¬
mente lassen sich gelegentlich durch Alkoholismus des Vaters und
Hysterie der Mutter erbringen, ob sie wirklich als die effektiven Ur¬
sachen angesprochen werden dürfen, bleibe offen. Recht oft besteht
im Beginn der Psychose bei den Russen Selbstmordneigung, der
dann meist eine wahnhafte, eventuell durch Sinnestäuschungen ge¬
nährte, pseudodepressive Idee zugrunde liegt. Ich habe eine große
Reihe von Selbstmorden gerade unter jugendlichen Russen beobachtet,
bei welchen sich eine Dementia praecox zu entwickeln begann, wo die
Kranken gegen ärztlichen Rat in ihrer Häuslichkeit gelassen wurden.
Es besteht in diesem Punkt eine sonderliche Gegensätzlich¬
keit zwischen affektiven und intellektuellen Seelenstö¬
rungen, indem die erwähnte Neigung sich, nächst den Russen, am häu¬
figsten bei den Juden findet, während ich sie bei Deutschen, Letten
und Litauern sehr selten nachweisen konnte.
Solch ein wechselndes Vorkommen der Dementia praecox in bezug
auf Rasse und Nationalität spielt jedenfalls sicher bei vielen Völker¬
schaften eine beachtenswerte Rolle. So betont Ziehen x ) das wesent¬
lich häufigere Vorkommen der Dementia hebephrenica in Holland,
als in Thüringen. — Daß gerade unter denDeutschen und Letten
die Dementia praecox in einem ansehnlichen Prozentsatz eine bedingte
Arbeitsfähigkeit im Endstadium hinterläßt, dürfte zweifellos bei
Errichtung moderner Heil- und Pflegeanstalten mit aus¬
gedehntem Arbeitsbetrieb gute Erfolge in der Beschäftigungs¬
therapie zeitigen, andererseits wäre rein soziologisch dieses Moment
nutzbringend zu verwerten. Ich möchte nur flüchtig auf das glänzende
Ergebnis der ersten größeren Versuche dieses Stils von A. Behr in
Stackein hinweisen.
c) Progressive Paralyse. — Spricht man von dem Vor-
x ) Ziehen, Psychiatrie, 1911, S. 822.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 509
kommen dieser Krankheit bei den einzelnen Völkerschaften, so werden
sofort die vielen verschiedenen Theorien lebendig, welche sich mit
der näheren und allgemeinen Entstehungsursache des Leidens befassen;
sind doch gerade in bezug auf die so wohl charakterisierte Gehirn-und
Seelenstörung überaus viele vergleichende Betrachtungen angestellt
worden, bald zwischen einzelnen europäischen Völkern und Bassen,
bald zwischen weißen und farbigen. Bald hören wir die Zivilisation
als grundlegendes Moment angeben, bald werden mehr neurotrope
Spirochätenstämme beschuldigt. Klarheit herrscht jedenfalls in
dieser Frage keineswegs. Westhoff hat die Ansicht vertreten, daß
die Paralyse eine Rassenkrankheit sei, die vorzugweise die höheren,
speziell die germanische Basse, befällt, und erklärt erst durch die Ver¬
mischung der jüdischen mit einer anderen — namentlich der ger¬
manischen — Rasse die Erkrankung der Juden an Paralyse. Sichel x )
vermißt nach Durchsicht seines Frankfurter Materials jede Unter¬
lage für die Annahme einer Bassendisposition. Durch Rassenmischung
glaubt auch Barnes a ) die Häufigkeit der Negerparalysen in der Jetzt¬
zeit erklären zu können, während vor etwa einem halben Jahrhundert
der Vollblutneger so gut wie immun gegen Paralyse war. Man muß
sich auch in bezug auf die Paralyse in Kurland darüber klar sein, daß
jedenfalls unter der Landbevölkerung einerseits die Lues als Ursache
und andererseits auch die Paralyse als Folgekrankheit derselben eine
verhältnismäßig geringe Rolle spielen. Beide Krankheiten kommen
ja unter den Landbewohnern vor, spielen jedoch gegenüber den Zahlen
in der Stadt eine kaum beachtenswerte Rolle. A. Behr 8 ) hat unter
der lettischen und estnischen Bauernbevölkerung, welche in der großen
von ihm geleiteten Landesanstalt Aufnahme fanden, progressive
Paralyse fast ausschließlich bei Personen feststellen können, welche
eigentlich „Städter“ waren, die nur nominell als Steuerzahler zu den
Landgemeinden gehörten. Unter den deutschen (Kolonisten), let¬
tischen und litauischen Ackerbauern habe ich auch nur ganz ver¬
einzelt eine progressive Paralyse beobachten können, die Zahl der-
x ) Sichel, Die progressive Paralyse bei den Juden. Arch. f. Psycli.
Bd. 52, 1913.
*) Barnes, zit. nach Neurol. Ztlbl. 1914, Nr. 1, Referate.
8 ) Behr, Bericht über die Livländische Landes-Heil- und Pflegc-
anstalt Stackein. 1907—1910 und 1911—1913.
Zeitschrift für Psychiatrie LXXIII. 6. 36
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510
Siebert.
selben ist jedenfalls so gering, daß sie unberücksichtigt gelassen werden
kann. Die in der psychiatrischen Abteilung behandelten Fälle bilden
also ein ausschließlich städtisches Material. Den weitaus größten
Prozentsatz an Paralysen stellen die Deutschen; nicht nur, daß in
den Jahren 1910 bis 1914 die Deutschen mit 34% aller paralytischen
Störungen vertreten sind, auch über 20% aller Psychosen bei Deut¬
schen wurden in zehn Jahren von dieser Krankheit gebildet. Unter
den Letten ist die Zahl der Paralysen verhältnismäßig gering, zudem
noch in den letzten fünf Beobachtungsjahren zurückgegangen, ab¬
solut gerechnet nehmen sie hingegen in der zweiten Periode den nach
den Deutschen folgenden Platz ein, in der ersten überwiegt ihre Zahl.
Ich glaube nun doch hierin ein wenigstens zeitweises rassenindividu¬
elles Moment erblicken zu dürfen. Während in den höheren Gesell¬
schaftsschichten die Paralyse sowohl bei Deutschen und Letten an¬
scheinend im gleichen Umfang, wohl lediglich in Abhängigkeit von
den erforderlichen exogenen Momenten, vorkommt, ist das Leiden bei
dem Mittelstände, den besser situierten Handwerkern, Händlern,
kleinen Unternehmern usw. unter den Letten vermutlich geringer ver¬
breitet, als unter den entsprechenden deutschen Kreisen. Obwohl
man über die richtige Auffassung so mancher Rassenaßektion sich
gelegentlich Zweifel vorlegen muß, erscheint mir diese letzte Beob¬
achtung doch ganz unanfechtbar dazustehen. Ich muß dabei den
alten, neuerdings wiederum betonten Begrifi der Zivilisation 1 )
hervorkehren und ihn als Erklärung für diese Erscheinung anzuwenden
versuchen. Die Deutschen haben oft in sechs und mehr Generationen
in der Stadt gelebt, besitzen vielfach von ihren Voreltern ererbte, meist
materiell sichergestellte Geschäftsbetriebe, so daß sie bei relativ ge¬
ringerer Arbeit ein breiteres und auch weniger arbeitsvolles Leben
führen können, als die Letten; daß diese Lebensverhältnisse leicht
ausschweifendere und in mancher Beziehung unhygienischere Da¬
seinsbedingungen hervorzurufen imstande sind, läßt sich leicht er¬
klären und kann vom unbefangenen Beobachter nicht übersehen
werden. Ich spreche in diesem Sinne von einem zeitweisen rassenin¬
dividuellen Moment, denn, während die lettische Nation die bürger¬
lichen Berufe, wie die Deutschen, zurzeit in der ersten, höchstens in der
*) B. v. Krafft-Ebing , Lehrbuch der Psychiatrie 1903, S. 138.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 511
zweiten Generation ausübt, haben die deutschen Landesbewohner be¬
reits, wie oben erwähnt, seit Menschenaltern die gleichen Existenz¬
verhältnisse aufzuweisen gehabt. Daneben dürften noch Alkoholis¬
mus und Konsanguinität der Eltern, eventuelle erbliche Belastung
und anderes mehr der Erwähnung wert sein, alles Momente, welche
bei den Deutschen, in ungleich größerem Maße anzutreffen sind, als
bei den Letten, bei welchen wohl in ein bis zwei Generationen die
gleichen Schädlichkeiten in Frage kommen werden. Es erscheint mir
selbstverständlich, es sei denn, daß unsere Therapie inzwischen noch
unbekannte Fortschritte machen sollte, daß dann auch bei den Letten
die Zunahme der paralytischen Seelenstörungen sich in einer solchen
Weise vollziehen wird, daß die zeitweisen völkischen Differenzen in
diesem Punkt sich ausgleichen. Auch Ziehen x ) hebt neben der Lues
die betonten und andere Ursachen mehr für die Entstehung der Para¬
lyse hervor. Für die völkischen Unterschiede im Auftreten der Para¬
lyse kann ich mich nicht diesen hervorgehobenen Tatsachen als Fragen
von Bedeutung verschließen. Der Lues allein dürften Deutsche und
Letten wohl in gleicher Weise ausgesetzt gewesen sein, und in der Be¬
handlung des venerischen Leidens wird man wohl kaum beträchtliche
Unterschiede nachweisen können. Ich habe in anderen Arbeiten
schon mehrfach meinen diesbezüglichen Standpunkt präzisiert 2 ),
daß trotz aller Forschungsresultate, welche unseren diagnostischen
Apparat bis aufs einzelste vervollkommnet und den Zusammenhang
zwischen Lues und Paralyse einwandfrei bewiesen haben, ein unbe¬
kanntes endogenes Etwas die Entwickelung dieses zurzeit
jedenfalls unheilbaren Hirn- und Seelenleidens mitbedingt. Der Ver¬
lauf der Krankheit bietet nichts Charakteristisches bei diesen beiden,
am meisten unter allen erwähnten Völkerschaften zu Vergleichen
in bezug auf Paralyse auffordernden Nationalitäten dar.
Bei den Juden ist die Paralyse keine häufige Erkrankung; ob
das an regionären Erkrankungen liegt, ob mehr die früheren Heiraten
gerade unter den unbemittelten und ungebildeten Schichten der jü-
- *) Ziehen, Psychiatrie S. 755.
2 ) H. Siebert, Beiträge zur Pathologie der Pupillenbewegung. Würz¬
burg 1912. Über progressive Paralyse. Petersb. med. Ztschr. 1914, H. 2.
Zur Klinik der Geschwisterpsychosen anscheinend exogenen Ursprunges.
Mtschr. f. Psych. XLII, H. 1. 1917.
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512
Siebert,
di sehen Rasse häufige luische Infektionen ausschließen, kann ich
keineswegs entscheiden. Die für die Letten als stichhaltig herange¬
zogenen Gründe haben selbstredend für die Juden keine Bedeutung..
Hervorgehoben sei der meist schnelle Verlauf bei der Paralyse der Ju¬
den. Bei den Russen hat die Krankheit einen ähnlichen Charakter
wie bei den Deutschen, sowohl was das etwaige Zahlenverhältnis,
als auch die gesellschaftliche Prädisposition anbelangt.
Ein Altersoptimum läßt sich bei keiner Volksart nachweisen, die
Krankheit scheint bei jeder einzelnen in den gewöhnlichen Lebens¬
abschnitten zum Ausbruch zu kommen, die spätesten Paralysen habe
ich allerdings bei Letten gesehen, indem solche noch nach dem
70. Jahre zu wiederholten Malen von mir beobachtet wurden, wobei
dann reflektorische Pupillenstarre, Sprachstörung und der positive
Ausfall der vier Reaktionen die Diagnose gegenüber der senilen Demenz
sicherstellten. Während ich bei den sogenannten einfachen Geistes¬
störungen keine wesentliche Scheidung der Geschlechter in der
Betrachtungsweise vorgenommen habe, muß ich bezüglich der Para¬
lyse auf das Verhältnis der Erkrankung bei den einzelnen Geschlechtern
hinweisen. Ziehen erwähnt ältere Statistiken, laut welchen die Para¬
lyse sieben bis achtmal häufiger bei Männern, als bei Frauen auf-
treten soll, glaubt jedoch, daß sich nach neueren Statistiken das Ver¬
hältnis mehr ausgeglichen habe, ja daß für gewisse Länder es sich
auf 3:1 stellte. Die Beobachtungen von Sichel ergeben bezüglich
seines jüdischen Materials ein Verhältnis 13:1. Die meisten Frauen¬
paralysen kamen in meinem Beobachtungskreis unter den Litauern
vor; aus der Zahl der in meiner Abteilung verpflegten paralytischen
Litauer war mehr als die Hälfte weiblich. Dieses wäre
einerseits durch die große Anzahl der litauischen Prostituierten zu
erklären, andererseits ist es bekannt, daß die Litauerinnen über¬
haupt starke erotische Züge aufweisen und sich, ohne direkt der Prosti¬
tution zu verfallen, lebhaft sexuell betätigen, sei es vor der Ehe, sei
es außerhalb derselben. Daß hierdurch der syphilitischen Infek¬
tion Tür und Tor offen steht, ist verständlich und wird wohl aueh
den wesentlichsten Grund für die Häufigkeit der Paralyse abgeben.
Nächst den Litauern kommen hier die Frauenparalysen bei den
Juden in Betracht. Auf fünf männliche konnte je eine weibliche
Paralyse im Laufe von zehn Jahren nachgewiesen werden, ein jedenfalls
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Die Psychosen nnd Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 513
wesentlich ungünstigeres Verhältnis, als es sich Sichel darbot. Auch un¬
ter einem Teil der Jüdinnen, speziell den niedersten Schichten, ist die
Prostitution bezw. die freie Liebe sehr verbreitet, und müssen diese
Faktoren auch hier als Erklärung herangezogen werden. Bei den
Russen ist das Verhältnis 8:1, den Letten 10:1, den Deutschen 12:1.
Sicherlich rekrutiert sich der geringste Prozentsatz der Prostituierten
hierzulande aus den Deutschen, auch die Russen kamen nicht we¬
sentlich in Frage; die Letten geben gewiß absolut die größte Zahl,
relativ jedoch ungleich weniger als die Litauer und Juden. Immer¬
hin sprechen diese zahlenmäßigen Anordnungen einstweilen in dem
Sinne, daß die Russinnen, Lettinnen und die deutschen Frauen, sei
es aus inneren, sei es aus äußeren Gründen, weniger der paralytischen
Affektion unterworfen sind, als die Litauerinnen und Jüdinnen.
d) Alkoholismus. —Die Lage Kurlands in 56° bis 58° nördlicher
Breite, sowie ferner das russische Branntweinmonopol haben es mit
sich gebracht, daß eine offensichtliche Zunahme des Alkoholkonsums
von Jahr zu Jahr zu verzeichnen war. Als Objekt der Psychiatrie
kam dabei fast ausschließlich das Delirium tremens zur Beobachtung,
die Korsakowsche Störung habe ich unter den Anstaltsinsassen nur
einzelne wenige Male zu Gesicht bekommen. Es ist mir darin eine son¬
derliche Gegensätzlichkeit aufgefallen, daß unter den niederen Ge¬
sellschaftsschichten das Delirium tremens ungleich häufiger,
die Polyneuritis alcoholica mit oder ohne amnestisches Irresein
sichtlich weniger zur Entwicklung gelangt, als bei den höheren
Schichten, welche darin ein geradezu umgekehrtes Verhalten zeigen.
Diese Erscheinung läßt sich hier bei allen Volksarten beobachten
und scheint eigentlich nur einen rein sozial-hygienischen Faktor zu
repräsentieren. Die Erklärung wäre wohl darin zu suchen, daß
die wohlsituierteren Klassen Schnaps sicherlich nicht in den un¬
sinnigen Quantitäten vertilgen, wie der einfache Mann, andererseits
gerade die ersteren meist wohl eine kräftigere und rationellere Kost
verwenden, als letztere, worin auch ein der Entwicklung des Zitter¬
deliriums vorbeugendes Moment zu suchen wäre 1 ). Die Zahl der Deli¬
rien hat in den Jahren 1910-14 zugenommen, jedenfalls sprechen die Ta¬
bellen I und III in klarster Weise zugunsten dieser Tatsache, indem bei
*) P. Schröder, Intoxikationspsychosen.
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514
Sieber t.
allen Völkerschaften sich der Prozentsatz der registrierten alkoholischen
Delirien gehoben hat, bloß bei den Juden ist in dem Zeitraum nicht ein
einziger Fall yorgekommen. 1905-09 bildeten die Juden 4% aller
Delirien; es handelte sich dabei ausschließlich um jüdische Prostituierte,
bei welchen sich, sei es in der Haft, sei es post trauma oder durch irgend¬
ein anderes auslösenden Moment, das Delirium entwickelte und zur
Verbringung in die psychiatrische Abteilung führte. Allgemein
trinken die Juden ungleich weniger als die christlichen Bewohner
Kurlands; auch in den gleichen Berufen, bei welchen das Trinken ge-
gewissermaßen einen professionellen Charakter 1 ) trägt und
sich so ziemlich in analoger Form bei den anderen Nationalitäten findet,
wird es bei den Juden meist vermißt. Trinkt aber ein Jude einmal
Alkohol in regelmäßiger Weise, so gilt es als Regel, daß er enorme
Quantitäten vertilgt; meist handelt es sich dann um einen chronischen
Schnapsmißbrauch. Betrunkene Juden sind auch eine Seltenheit;
dieselben schweren Schnapstrinker nehmen im Laufe des Tages vom
frühen Morgen an Branntwein zu sich, verfallen jedoch nicht dem
Delirium tremens, obgleich ich Personen beobachtet habe, welche
bis über 1 Liter Schnaps täglich tranken und diesen Abusus innerhalb
von mehr als 20 Jahren fortsetzten; Myokarditis, schwere toxische
Arteriosklerose mit hoher Blutdrucksteigerung und Polyneuritis traten
als Folge solcher chronischen Giftzufuhr auf, jedoch kein Delirium.
Ein Teil derselben Momente, welche eine eventuelle Disposition für
die Entwicklung der Paralyse aufzugeben scheinen, spielt auch be¬
dingt für die Entwickelung des chronischen Alkoholismus eine Rolle,
nur dürften für das Zustandekommen des Delirium tremens keineswegs
im allgemeinen so viele Faktoren notwendig sein, da es sich um einen
rein toxischen Prozeß handelt. So sehen wir auch diese Gehirnaffek¬
tion unter Deutschen, Letten, Litauern und Russen in derselben
Weise auftreten, nur schwankend in der Relation und gelegentlich
in scheinbarer Abhängigkeit von den Berufen. Es handelt sich bei
diesen Kranken um Gastwirte, Schankkellner, Restaurantmusikanteu,
kleine Beamte (besonders solche, welche an der Branntweinversteue¬
rung tätig waren), Fleischer(!), Viehhändler(!). Diese Berufe werden
l ) F. Appel, Über die Entstehungsursachen des chronischen AI-
koholismus. Inaug.-Diss. Würzburg 1911.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 515
von allen vier erwähnten Volksarten ausgeübt und gestatten daher
eine vergleichende Betrachtung ohne grobe Fehlerquellen. Delirien
bei Frauen sind in den Jahren 1910 bis 14 nicht beobachtet worden.
Zweifellos entspricht wiederum der hohe Prozentsatz an Letten der
numerisch größten Zahl derselben. Was die Russen anbelangt, so dürfte
ihre Erkrankungsziffer sicherlich größer sein, als das Material mir dieses
aufweist, denn die in den einzelnen Bahn- und Baubetrieben erkrank¬
ten Arbeiter, welche fast ausschließlich Russen waren, werden in eige¬
nen Krankenhäusern behandelt. Psychosen konnten eigentlich in
dieselben nicht aufgenommen werden, während alkoholische Delirien,
in Anbetracht des kurzdauernden Verlaufs der Störung, in Isolier¬
zellen behandelt wurden. Über die Zahl solcher Erkrankungen bei
dieser Gruppe von Menschen habe ich leider, trotz aller Bemühungen,
keine Aufschlüsse erhalten können; da aber die Summe solcher Fälle
nicht gering war, dürfte sich das Verhältnis anderer Völkerschaften
in bezug auf die Russen noch verschieben; beachtenswert erscheint
jedenfalls auf Tabelle III der hohe Satz von über 40%. — Bei Kriegs¬
ausbruch erließ die russische Regierung ein strenges Alkoholverbot
und schloß alle Branntwein Verkaufsstellen. Wenn auch dieses Verbot
in weitestgehendem Maß übertreten wurde, so waren die Preise für
Schnaps und ähnliche Getränke doch so enorm gestiegen, daß ein
andauerndes Trinken, wie es bei dem billigen Branntwein möglich war,
kaum von irgendeiner Gesellschaftsschicht geübt werden konnte. So
lange die eventuellen Vorräte ausreichten, fanden noch Aufnahmen
von Delirien statt, seit Oktober 1914 nicht mehr. Neben der Schwie¬
rigkeit in der Alkoholbeschaffung kommt aber auch noch der Umstand
in Frage, daß gerade dasjenige Menschenmaterial, bei welchem sich im
wesentlichsten das Delirium tremens antreffen ließ, zum größten Teil
von der russischen Regierung in den Heeresdienst einberufen worden
war. Seit Oktober 1914 habe ich in 2 1 /, Jahren bloß zwei Fälle von De¬
liriums tremens zur Aufnahme bekommen, einen Arbeiter aas einem
Schnapsdepot, welcher bereits vor fünf Jahren wegen dieser Störung
in der Abteilung interniert war, und der vor Ausbruch der Störung
wegen Entwendung von Schnaps in Gefängnishaft sich befand, woselbst
am dritten Tage ein typisches Delirium ausbrach, und ein Gastwirt,
bei dem das Delirium im Verlauf einer septischen Endokarditis sich
einstellte. An sich bietet der klinische Verlauf des Delirs keinerlei
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516
Sichert,
Unterschiede bei der einen oder anderen Volksart dar, die Schwere
des Krankheitsverlaufs scheint ausschließlich von der Intensität
der Vergiftung oder von der jeweiligen Konstitution abhängig
zu sein.
Ätherismus ist hier häufiger nur bei Litauern beob¬
achtet worden. Unter den Letten wird Äther selten mißbraucht, ebenso
nicht bei den Deutschen und Russen. Gelegentliches Vorkommen bei
ihnen spricht nur im Sinne einer persönlichen Erkrankung. [Ich
will nur darauf hinweisen, daß im Norden Livlands, in der Gegend
der Stadt Werro, der Ätherismus gewissermaßen als Volksseuche be¬
trachtet werden mußte. Speziell ein estnischer Volksstamm, die Setu-
kesen, war dem Ätherismus in hohem Maße verfallen. Wegen Mangels
an zuständiger Literatur bin ich eben nicht in der Lage, die erschreckend
hohen Quanten zahlenmäßig auszudrücken, welche, auf dem Wege
des Schmuggels ins Land geschafft, von der Bevölkerung aufgekauft
und konsumiert werden. Der psychische und somatische Verfall bei
chronischem Ätherismus ist, wie ich mich überzeugen konnte, ungleich
schwerer, als beim Alkoholismus]. Bei den Litauern sind es haupt¬
sächlich Frauen, welche dieses Narkotikum der Fettreihe verwenden,
der Abusus scheint sich bei ihnen hauptsächlich auf dem Boden der
Hysterie, jedenfalls stets auf Grund einer schweren degenerativen An¬
lage zu entwickeln. Ich habe in Beobachtung sechs Litauerinnen und
zwei Litauer gehabt. Vier Frauen habe ich in ihren Schicksalen ver¬
folgen können, die anderen Kranken sind aus meinem Beobachtungs¬
kreis entschwunden. Zwei Frauen waren jung der Prostitution ver¬
fallen, drei andere boten charakteristische hysterische Züge dar, des¬
gleichen der eine Mann; eine Frau und ein Mann waren nach an¬
amnestischen Angaben leicht debil. Bei den Kranken hatte ein während
mehrerer Wochen fortgesetzter Äthermißbrauch zu schweren allge¬
meinen Erregungszuständen geführt, welche nach kurzer Anstaltsbe¬
handlung abklangen. Die eine Frau hat sich bereits viermal in An¬
staltsbehandlung befunden, jetzt ist sie total verblödet, lebt bei ihren
Angehörigen, hat seit drei Jahren keinen Äther mehr erhalten, scheint
ihn auch nicht zn vermissen. Die drei anderen Frauen sind seit 3 bezw.
4 Jahren anscheinend (?) nicht wieder in Ätherabusus verfallen,
sie würden in letzter Zeit wohl auch kaum Äther erhalten können.
Alle drei sind arbeits- und erwerbsfähig, die eine in der erwähnten
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 517
Weise leicht schwachsinnig, die beiden anderen offenbaren nach wie
vor die Anzeichen ihrer schweren Psycho-Neurose.
e) Epilepsie. — Über das Vorkommen bezw. die Häufigkeit
dieser Störung bei den Völkerschaften Kurlands läßt sich nichts Be¬
stimmtes angeben. Die aus den Tabellen hervorgehende statistische
Betrachtung hat wohl reichlich evidente Fehlerquellen aufzuweisen,
muß man sich doch hierbei stets Vorhalten, daß Epileptiker zu Objekten
der Anstaltspsychiatrie wohl meist nur in schweren Erregungs- und
Dämmerzuständen werden, oder aber nach langem Leiden im Zu¬
stande vorgeschrittener Verblödung. Während die übrigen Seelen¬
störungen, weiche hier rubriziert sind, für die summarische Betrach¬
tung von Völker- und Rassenpsychosen sich unbesehens eignen,
darf der zahlenmäßigen Darstellung epileptischer Affektionen
keinerlei wesentliche Bedeutung zugesprochen werden. Ziehe ich
noch mein recht großes Material an epileptischen Störungen, welche
ich in der Sprechstunde behandelt, hinzu, so ergeben sich jedenfalls
ganz andere Zahlenverhältnisse, besonders muß der hohe Prozentsatz
der Letten mit 70% in Tabelle IV stark herabgesetzt werden. Im all¬
gemeinen fand ich eigentlich nichts, was in bezug auf Epilepsie bei
einer oder der anderen Volksart besonders charakteristisch gewesen
wäre. Auch die Hereditätsfrage konnte in keiner Weise mit irgend¬
einem befruchtenden Resultat angeschnitten werden, teils war dem
niedrigen Bildungsgrade der Kranken und ihrer Angehörigen zufolge
die Angelegenheit nicht diskutabel, teils fehlten eben alle entsprechen¬
den Momente in der Vorgeschichte. Über die Beziehungen des Al¬
kohols zur Entstehung der Epilepsie konnte ich nichts ermitteln, und
einwandfreie Lues bei syphilitischer hereditärer Epilepsiegenese fand
ich einmal durch serologische Untersuchung bestätigt 1 ).
f) Allgemeine Neurosen. — Wenngleich die Betrachtung
über die allgemeinen Neurosen im zweiten Teil dieser Arbeit erfolgen
soll, so kann ich nicht umhin, diejenigen Psycho-Neurosen, welche
in einem psychiatrischen Institut Aufnahme finden, gesondert von
denjenigen durchzusprechen, welche in der freien Praxis zur Beob¬
achtung gelangen. Es ist selbstverständlich, daß nur die schwersten
*) H. Sieben , Erfahrungen mit der WaR. in der neurologischen
Praxis. Dtsch. med. Wschr. 1917, Nr. 17.
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und allerinsuggestibelsten Formen in die Lage kommen werden, in
einer geschlossenen Anstalt behandelt zu werden. In den Tabellen
bemerkt man hier gleich das zahlenmäßige Überwiegen der Litauer.
Diese Volksart neigt ganz besonders stark zu den für die Neurosen
charakteristischen Erregungszuständen. Bei aller Reserve, welche
man auch hinsichtlich der Verallgemeinerung des Hysteriebegriffs
hegen muß, können diese Zustände nur in eine solche Kategorie ein¬
gereiht werden. Auch schwere psychogene Krampfzuständc, Pseudo¬
chorea und andere Krankheitsbilder lassen sich in elementarster Form
bei den Litauern beobachten und bedingen eine zeitweise Anstalts¬
verbringung. In einigen Tagen kann dann, der Regel nach, bei Wie¬
derherstellung des psychischen Gleichgewichtes die Entlassung erfol¬
gen. Die Affekte scheinen bei den Kranken dabei eine große Rolle zu
spielen, ihr labiles Verhalten überträgt sich wie ein Blitz auf körper¬
liche Zustände. Es wurde bereits in den Beobachtungsresultaten an
der Dementia praecox der Litauer darauf hingewiesen, daß diese
Volksart besonders im Beginn des Jugendirreseins oft hysteriforme
Züge darbietet, so daß nur ein genaues Zusehen, vielfach aber erst
der weitere Verlauf der Störung imstande ist, die Diagnose nach der
einen oder der anderen Richtung hin zu erhärten. Selbstverständlich
ist bei den hier in Frage kommenden Zuständen die Betrachtung ein¬
wandfrei in dem Sinne abgeschlossen worden, daß es sich um regel¬
rechte Psycho-Ncurosen und nicht um einen zerebralen Abbauprozeß
handelte. Die Entwicklung einzelner Paroxysmen wird durch den
Mißbrauch, sei es auch nur gelegentlicherweise, jeder Art Täuschen¬
der Genußmittel hervorgerufen. Ich will dabei keineswegs von einer
alkohologenen Hysterie im Sinne Charcots sprechen, sondern nur eine
Beobachtung erwähnen, welche sich hier öfters anstellen läßt, und zwar
daß die hierzu disponierten Individuen in ganz unberechenbarer Weise
auf diese zerebralen Gifte reagieren. Auf das Vorkommen des Ätheris¬
mus bei Hysterie wies ich schon hin. Es gilt unter den Litauern
als Heilmittel, bei Einsetzen nervöser Reizzustände sofort mehrere
Tropfen Aether sulfuricus in Wasser zu verabfolgen, was auch in der
Tat meist von promptem Erfolge begleitet ist, besonders wenn noch
keine Gewöhnung vorliegt. Dieser Umstand erklärt auch die große
Verwendung der ätherischen Baldriantropfen durch die Litauer.
Die Affinität des Äthers zum Zentralnervensystem erklärt aber auch,
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 519
daß ein einmaliger Mißbrauch, statt lediglich motorische Zentren zu
beruhigen, koordinierende und hemmende Zentren lähmen und da¬
durch zu schwersten Erregungen führen kann. Auch der Effekt der
durch Äther hervorgerufenon Beruhigung kann infolge der Gewöh¬
nung verhängnisvoll werden, so daß es sich bei diesen Dingen um einen
unentwirrbaren Circulus vitiosus zwischen Noxe und neurotischer
Konstitution handelt. Neben den durch diese äußeren Schädlich¬
keiten bedingten Krankheitsfällen bleibt der größte Teil der beob¬
achteten Störungen doch als lediglich endogene Affektion zurück,
an der Tatsache muß jedoch festgehalten werden, daß unter den
Litauern, mehr noch als bei der jüdischen Rasse, hysterische bezw.
hysteriforme Paroxysmen schwersten Charakters beobachtet werden,
welche zur Verbringung in die geschlossene Anstalt nötigen.
Bei den sonstigen Völkerschaften waren die allgemeinen Neurosen
meist mehr von „neurasthenischem“ Charakter, teils waren es quä¬
lende Zwangsvorstellungen, teils somatopsychische Empfindungen,
die bei Kranken, wo fast alle Heilversuche fehlgeschlagen waren, den
Anlaß zum freiwilligen Aufsuchen der Anstalt gaben. Auch bei solchen
Zuständen war es dringend erforderlich, eine strenge Abgrenzung
dieser Störungen gegenüber den paranoischen Erkrankungen oder
melancholischen bezw. zirkulären Prozessen durchzuführen. In der
freiwilligen Meldung zur Aufnahme kann man ja vielfach, aber lange
nicht stets, eine Erscheinung suchen, welche mehr für eine eingewur¬
zelte, wenn auch schwere, Neurose spricht, doch gibt es unzweifelhaft
auch Psychosen vom oben erwähnten Charakter, bei welchen die Patien¬
ten einebeträchtliche Krankheitseinsicht aufweisen und die Absichtihre s
Anstaltseintritts reichlich motivieren können. Die schwersten neur-
asthenischen Formen boten unter den einzelnen Völkerschaften die
Letten, nächst ihnen die Deutschen, dar. Diese beiden Nationalitäten
geben aber dann meist sehr schwer zu behandelnde, in der Prognose
ungünstig zu beurteilende Patienten ab. Die Juden stellen fast aus¬
schließlich hysterische Psychosen zur Beobachtung, jedoch, wie schon
hervorgehoben, nicht so schwerer Art, wie die Litauer. Auf
die Russen wird weiter unten noch eingegangen werden.
g) Angeborener Schwachsinn. — Hier läßt sich aus den
Aufnahmeziffern gar kein Schluß auf das Vorkommen oder die spezi¬
elle Eigenart dieser Krankheit ziehen. Die Jahre 1910 bis 14 zeigen
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nur Aufnahmen von Letten. Meist waren es polizeilich eingelieferte
Idioten oder zur Begutachtung überwiesene leichte Schwachsinns-
formen. Da überhaupt keine Statitik über die Zustände angeborenen
Geistesdefektes in Kurland vorliegt, kann man sich auch sonst keine
Vorstellung über das Verhältnis dieser Störungen innerhalb der ein¬
zelnen Volksarten machen. Auch die private Praxis ergibt kaum
irgendwelche Aufschlüsse, da die wohlhabenderen Kreise meist solche
Angehörige einer entsprechenden Anstalt überweisen, die weniger
bemittelten hingegen, speziell die arbeitenden Klassen, bei festge¬
stelltem Schwachsinn, besonders der geringsten Andeutung einer un¬
sozialen Form desselben, meist solche Kranke gegen ein geringes
Kostgeld auf dem Lande verpflegen lassen, ein Modus, der sehr ver¬
breitet und leider fast stets als überaus ungenügend und schädlich
bezeichnet werden muß. —
Hiermit sollen die vergleichenden Betrachtungen über Psychosen
abgeschlossen werden, dabei will ich nochmals hervorheben, daß, ab¬
gesehen von anderen einschränkenden Gründen, auch mein statistisches
Material zu gering ist, um als bindende Tatsache die niedergelegten
Auffassungen bestätigen zu können; hebt doch auch Kraepelin 1 ) die
Schwierigkeit in der Beurteilung vom Einfluß der Volksart auf die
Entwicklung geistiger Erkrankungen mit Nachdruck hervor. Wenn
ich doch, neben dem rein sachlichen, das statistische Material heran¬
gezogen habe, sogeschah es vom Standpunkt aus, daß die psychiatrische
Abteilung hierselbst fast das einzige Institut sein dürfte, welches alle
Volksarten Kurlands in buntem Gemisch durch sich ziehen sieht. Die
großen Anstalten Livlands und Estlands werden bald nicht in der Lage
sein, Letten, bald Juden oder Litauer beobachten zu können, während
in Libau speziell und in Kurland überhaupt gerade ein Nebeneinander¬
leben der Völkerschaften in ausgesprochener Weise zutage tritt.
Da mit Ausnahme der Litauer, welche jedenfalls in Kurland
mehr den niedersten Volksschichten angehören, bei allen Völkerschaften
sich Unterschiede des Kultur- und Bildungsniveaus nachweisen lassen,
ist es ja verständlich, daß sich in diesem Punkt wiederum ein Unter¬
schied zwischen den einzelnen Schichten bemerkbar machen muß. Ich
habe darin mehr oder weniger aus meinem Material eine Bestätigung
x ) Kräpelin, Psychiatrie I, 1910, S. 152.
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Oie Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 521
der von Stern 1 ) niedergelegten Ansichten ersehen können: mit Zu¬
nahme des Kulturkreises Zunahme der funktionellen (affektiven) See-
lenstörangen und der progressiven Paralyse, dagegen ein Zurücktreten
der Dementia praecox; die gleichzeitig vom Autor erwähnte Abnahme
der Epilepsie und Imbezillität habe ich aus oben angeführten Gründen
an meinen Kranken nicht verfolgen können. In bezug auf Alkohol
glaube ich schließen zu können, daß sozial höher stehende Elemente
mehr polyneuritische Störungen erwerben, die niedriger stehenden
mehr das Delirium tremens.
Die Neurosen.
In dieser Hälfte der Abhandlung soll über die allgemeinen Neu¬
rosen in vergleichender Form berichtet werden, jedoch wird auf die
Registrierung einzelner Volksarten bezw. der entsprechenden Krank-
heitsbitder auf einzelnen Tabellen verzichtet. Es steht mir zu dem
genannten Zweck ein Gesamtmaterial von etwa 3500 Personen zur
Verfügung, welche von mir zum größten Teil ambulant, zum gering¬
sten klinisch behandelt worden sind. Diese Zahl dürfte groß genug sein,
um sich ein Bild für eine vergleichende Neurosenlehre der einzelnen
Nationalitäten zu machen. Auch die in bezug auf Neurosen darzulegen¬
den Ansichten können keineswegs Anspruch auf Allgemeingültigkeit
erheben, sie stellen lediglich das Produkt einer eingehend vorgenom¬
menen Betrachtungsweise dar. Ich schicke gleich voraus, daß ich nach
Möglichkeit Begriffe, wie Neurasthenie und Hysterie, in meiner neuro¬
logischen Auffassung vermeide, da dieselben vielfach keineswegs die
Gesamtstörung der nervösen Funktion umfassen und nur die
Charakteristik einzelner Krankheitsepisoden darstellen können, ja
daß ferner alle diese Zustände sich so weit miteinander vermischen
und verquicken, daß es dem Belieben des einen oder anderen Dia¬
gnosestellers anheimgestellt werden kann, welche Krankheitsbezeich¬
nung er bevorzugt. Ich habe es versucht, nach Möglichkeit die ein¬
zelnen Zustände in ihren Grundkomponenten zu analysieren und
dementsprechend den Krankheitsverlauf genau zu verfolgen. Auf
eine Diagnosestellung an sich legte ich weniger Wert. Gerade hin¬
sichtlich der Hysterie dürfte es Vorkommen, daß dieser Begriff, als
1 ) Stern, Kulturkreis nnd Form der geistigen Erkrankung. Hoches
Sammlung zwangt. Abh. 1912, H. 2.
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nosologische Einheit, allgemein doch in zu weitem Umfange Verwen¬
dung findet; nur zu oft verleiten einzelne für Hysterie charakteristische
Symptome schon zur Auffassung, daß eine solche Störung vorliege.
Dieses erscheint mir jedenfalls insofern ungerechtfertigt, als eine ge¬
sonderte Krankheitsform — Hysterie — stets eine weitgehende quali¬
tative Störung der psychisch-nervösen Funktionen darstellt und
labile, leicht erweckbare Affekte und eine Alteration des Vorstellungs¬
lebens voraussetzt. Ein Teil der bei diesem Leiden anzutreffenden
Zeichen, seien sie somatischer Art, Sensibilitätsstörungen, Globus
usw., oder psychischer, wie Zwangsvorstellungen, Weinkrämpfe und
anderes mehr, lassen sich bei vielen anderen Formen der Neurosen
beobachten, ohne daß die betreffenden Objekte auch gleichzeitig an
der schweren endogenen Disharmonie des Nerven- und Geisteslebens
zu leiden hätten. Gelegentliche hysteriforme (sit venia verbo) Er¬
scheinungen dürften sich in der Tat auch bei manchen Personen beob¬
achten lassen, wenn sie unerwartet von einem schweren äußeren Er¬
eignis überrascht werden; in solchen Fällen bestände die Berechtigung,
den Zustand mit Psychogenie zu bezeichnen, die Voraussetzung er¬
scheint dabei dann aber auch, daß sich die einen solchen
Kurzschluß hervorrufenden Momente von selbst in kürzester Zeit
lösen, vom Kranken als etwas Fremdes, bei klarer Einsicht leicht Be¬
seitigendes empfunden und beurteilt werden. Bei regelrechter Hysterie
liegen die Verhältnisse anders, viel komplizierter, jedenfalls nicht in
allem präzise definierbar. Über die Hysteriefrage ist oft und andau¬
ernd diskutiert worden, wobei man den Eindruck hat, daß die meisten
dasselbe meinen, nur anderes dabei sagen. Auf alle Fälle muß ich,
lediglich auf eigenen Beobachtungsresultaten fußend, meinen Stand¬
punkt dahin aussprechen, daß die Hysterie, als eigenartiges Verhalten
des Geisteslebens, eine endogene funktionelle Störung darstellt, daß
das stärkere und wechselnde Hervortreten einzelner, für die Störung
charakteristischer Erscheinungen meist, jedoch nicht immer, psycho¬
gener Natur ist, daß aber andererseits gewisse, unseren medizinischen
Beobachtungen zugängliche Vorgänge, welche den hysterischen ho¬
molog sind, bei vielen Personen auf rein psychogenem Wege auf treten
können, ohne daß man aus denselben einen Schluß auf eine hysterische
Konstitution ziehen dürfte: die meisten hysterischen Störun¬
gen sind psychogen bedingt, aber weit weniger psycho-
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 523
gene Störungen sind hysterisch. Wenn man auch bei genauem
Zusehen und bei sorgfältiger Betrachtung des Gegenstandes immer
gewisse nervöse Zustände beobachten wird, bei welchen eine äußere
Ursache einzig und allein den Grund für die Entstehung der Störung
darbietet, so muß man doch an der Tatsache festhalten, daß weitaus
der größte Teil dieser krankhaften Äußerungen aus inneren Gründen
hervorgeht.
Interessant vom vergleichenden völkischen Standpunkt aus er¬
scheint es nun zu sein, wie überaus wechselnd die einzelnen Volksarten
oft bei der gleichen inneren Anlage auf gewisse gleiche äußere Vor-
komnisse reagieren. Die Frage der Neurosen gestaltet sich vielleicht
noch schwieriger als die der Psychosen bei der vergleichenden Be¬
trachtungsweise, da letztere doch mehr oder weniger glatt umrissene
Bilder darstellen; diu Neurosen hingegen nehmen in dieser Hinsicht
eine ganz andere Stelle ein, indem sie einerseits bald qualitativ, bald
quantitativ zum normalen, physiologischen Geschehen hinneigen, nur
verschärfte oder bizarr entartete normalpsychologische Züge aufwei¬
sen, während andererseits die Züge der meisten Neurosen eine innige
Verwandtschaft und Hinneigung sowohl zu einzelnen Symptomen
affektiver Seelenstörungen, als auch zu den Frühstadien gewisser
intellektueller und der seltenen paranoischen Erkrankungen besitzen.
Obwohl hierdurch eine Schwierigkeit in vergrößertem Umfange für
die richtige Beurteilung entsteht, gewährt dieser Umstand doch wieder¬
um die Möglichkeit, sich tiefer mit dem Charakter und speziellen völ¬
kischen Eigenschaften zu beschäftigen. —
Weitaus am häufigsten erscheinen die nervösen Stö¬
rungen bei den Juden. Je tiefer und unentwickelter der Kreis,
ist, aus dem der betreffende Kranke hervorgeht, um so vielgestaltiger
und mannigfaltiger projiziert sich die Krankheit nach außen, dabei
läßt die Intensität der äußeren, rein körperlichen Erscheinungen
keineswegs einen Schluß zu auf eine gleichzeitige analog starke Affek¬
tion der Grundstörung des psychisch-nervösen Geschehens. Bei den
Juden kann in der Neurosenlehre eine auffallende Gegensätzlichkeit
der Geschlechter im Verhältnis zum Kultur- und Bildungskreis nach¬
gewiesen werden: bei den gebildeten Schichten überwiegen
die nervösen Störungen der Frauen, bei den niederen
Schichten die der Männer. Allgemein sieht man, wie diese
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Rasse zu nervösen Störungen neigt, wenn man oft ganze Familien
von fünf und mehr Personen zur Beobachtung bekommt, bei welchen
ziemlich gleichartige nervöse Zustände sich bemerkbar machen. Räumt
man auch den suggestiven Einflüssen eine Rölle ein, indem die Toch¬
ter von der Mutter, der Bruder von der Schwester und ähnlich weiter
ein nervöses Symptom nach dem anderen gewissermaßen durch in¬
nigen Konnex ererbt oder übernimmt, so muß doch immerhin für den
grandiosen Umfang, den diese Krankheiten besitzen, eine besonders
auffällige Disposition vorhanden sein. Warum die Juden gerade
häufiger zu schweren Neurosen neigen, als andere Volksarten, wird
wohl kaum jemand in vollkommen befriedigender Weise beantworten
können, daß diese Tatsache als solche aber einwandfrei dasteht, wird
ein jeder Arzt, welcher in einem Lande seine Tätigkeit ausübt, wo
neben anderer Bevölkerung auch Juden in größerer Zahl wohnen,
ohne Bedenken bestätigen müssen. In bezug auf die Hysterie, welche
doch vielleicht als eine der schwersten funktionellen Erkrankungen
des Nervensystems angesprochen werden muß, hebt Oppenheim J )
hervor, womit er das stete Vorkommen der Erblichkeit dieses Leidens
(Charcot) ablehnt, daß heftige Gemütserschütterungen eine Hysterie
unmittelbar hervorzurufen imstande sind, meist jedoch sind es länger
anhaltende, wiederholentliche schmerzliche Aufregungen und weit
mehr die Schmerzen, die der Mensch dem Menschen, als die, welche
das Schicksal ihm bereitet. Durch die psychischen Traumen erklärt
Oppenheim es auch in erster Linie, daß die jüdische Rasse in so
hervorragendem Maße von den Neurosen und besonders von der Hy¬
sterie heimgesucht wird, doch mögen auch andere Momente, wie
die Häufigkeit der Verwandtenehen, die mangelhafte Ausbildung
der Körperkräfte, die durch die erschwerten Daseinsbedingungen
gezeitigte Erwerbssucht und anderes mehr im Spiele sein.
Bei aller Vielgestaltigkeit der Neurosen der jüdischen Rasse
muß die große Suggestibilität beachtet werden, welche, wenn auch
nur in bezug auf einzelne auffällige Symptome, wohl fast bei den
meisten Kranken in stärkerem oder schwächerem Grade beobachtet
wird. Dieser Umstand erklärt es auch, daß so viele Ärzte, welche den
nötigen psychlogischen Scharfblick besitzen, so überraschend schnelle
x ) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten Bd. 2, 1908, S. 1200.
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Die Psychosen nnd Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 525
und durchschlagende Augenblickserfolge in der Behandlung von
Neurosen bei Juden erzielen. So umgehend die Suggcstibilität aber
Heilerfolge zeitigt, so plötzlich kann aber auch dank derselben an¬
dererseits wiederum irgendein komplizierendes Moment neue Erschei¬
nungen einer Störung heraufzaubern. Diese labilen Konstitutionen
sind eigentlich stets im Wechsel zwischen der manifesten psycho-
neurotischen Dysfunktion und scheinbarer Gesundheit. Dem beob¬
achtenden Auge präsentieren sich die krankhaften Zustände als Läh¬
mungen, Gefühlsstörungen, isolierte und universelle Krämpfe, Zittern,
ferner von seiten innerer Organe als Sekretionsanomalien, perverse
Atmimgs- und Schluckbewegungen, Reiz- und Ausfallszustände des
Magendarmkanals, wie Aufstoßen, Brechen, Darmatonie usw. All
dieses erläutert, wie überaus vielseitig das gesamte Nervensystem
solcher Kranken dabei alteriert ist, daß die zerebrospinalen, vom
Willen abhängigen, sowohl wie die vagosympathischen, vielfach von
den Gemütsbewegungen getriebenen und überhaupt die vegetativen
Nervenfunktionen in gleicher Weise an den geschilderten Affektionen
beteiligt sein können. Bei keiner einzigen anderen zum Vergleich
herangezogenen Volksart findet man eine solche vielseitige Störung
der Sekretion und Vasomotion, wie bei den Juden. Während sonst
solche Störungen meist mehr als Anomalien einzelner Personen von
rein individuellem Charakter auftreten, bilden sie bei der jüdischen
Rasse ein verhältnismäßig häufiges Vorkommnis. Die von mir be¬
obachteten Angio-und Trophoneurosen von mehr oder weniger schwe¬
rem Charakter betrafen fast ausschließlich Juden. Unter angestellten
Beobachtungen über das flüchtige, akute Hautödem x ) fand ich eine
einzige solche Affektion bei einem Deutschen, wobei immerhin als Neben¬
ursache exogene Schädlichkeiten mitspielten, alle anderen Kranken wa¬
ren Juden, bei denen nur der endogene Faktor, die Instabilität des vege¬
tativen Nervensystems, in Frage kam. Auf Grund der auffälligen
Erscheinungen, die bei der geschilderten Rasse zutage treten, müssen
wir mit Reichardt 2 ) zwei Typen von Menschen unterscheiden, welche
oft als „hysterisch“ bezeichnet werden: „erstens solche, bei denen
lediglich eine primäre reine psychische Abnormität vorliegt, und die
vegetativen Funktionen im wesentlichen normal funktionieren; und
») Siebert, Neurol. Ztlbl. 1917, H. 1.
*) Reichardt, H. 8 der Arbeiten aus d. Psych. Klin. zu Würzburg, S. 105.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 6. 37
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Sichert,
zweitens Patienten, bei denen die vegetativen Organe bezw. deren
nervöse Zentren selbst in einer zum Teil sehr starken Weise erkrankt sind,
so daß diese Erkrankung die Hauptquelle für die subjektiven, vielfach
als hysterisch angesehenen Klagen bilden kann. Daß derartige Wesen
so häufig, außer ihren vegetativen Störungen, auch psychisch-nervöse
Anomalien aufweisen, dies kann mehr oder weniger Zufall sein; es
kommt allerdings auch ein innerer Zusammenhang zwischen den
Symptomen, die sich auf dem Gebiet der Psyche, und denen,
die sich auf dem Gebiet des autonomen bezw. sympathischen Sy¬
stems äußern, als möglich in Betracht“. Ich muß annehmen an der
Hand der ganz besonders oft zu beobachtenden Schwankungen im
Tonus der Gefäßinnervation, in der Turgeszenz des Gesichtes, der
Regulation gewisser Organfunktionen usw., daß viele, jedoch nicht
alle, Beschwerden von Kranken, welche an einer komplizierten allge¬
meinen Neurose leiden, nicht hypochondrisch eingebildet oder auto¬
suggeriert oder halluziniert sind, sondern in reell begründeter Weise be¬
stehen. Auffallend erscheint hierin ein Umstand zu sein, daß die Kinder
aus Mischehen zwischen Juden und Deutschen vielfach sehr ausge¬
sprochene neurotische Störungen aufzuweisen pflegen, ja ich habe Fälle
beobachtet, wo der jüdische Einschlag aus der ersten Generation sich bei
der dritten Geschlechtsfolge in Form chrakteristischer schwerer angio-
und trophoneurotischer Störungen äußert.
Oben deutete ich bereits an, daß die Schwierigkeit groß ist, bei
gewissen Krankheitsprozessen Unterschiede zwischen hysterischen und
neurasthenischen Formen zu ziehen, besonders da eine ganze Reihe
von Erscheinungen sich untereinander mischt, doch bleibt jedenfalls
die Tatsache feststehend, daß bei den Juden die Neurosen einen mehr
somatischen bezw. somato-psychischen Charakter besitzen, als bei den
anderen Volksarten Kurlands. Es entsteht eben anscheinend durch
die Labilität und Instabilität der Organ-, Bewegungs- und Empfin-
dungsfunktionen in rückwirkender Weise leicht das psychische Korre¬
lat dazu, während primär eingewurzelte psychische Vorstellungen
bei den Juden weit weniger anzutreffen sind, als bei den unten zu be¬
schreibenden Nationalitäten. Es erscheint daher auch leicht verständ¬
lich, wenn Herz-, Magen- und andere Neurosen infolge der durch die
Dysfunktion bedingten Sensationen entsprechende Körpervorstel¬
lungen wachrufen.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 527
Nächst den Juden lassen sich die Neurosen ähnlicher Art,
wie die oben geschilderten Typen, am häufigsten bei den Li-
•tauern beobachten. Es wurde schon hervorgehoben, daß nicht
selten gerade die Litauer im Beginn von Verblödungsprozessen aus¬
gesprochen hysteriforme Erscheinungen beobachten lassen, bis dann
schließlich der weitereVerlauf erst die Erankheitvollkommendeklariert;
-bei voll entwickeltem Prozeß schwinden übrigens meist wieder die der
Neurose homologen körperlichen Reiz- und Ausfallserscheinungen.
Wenn auch die Tropho- und Angioneurosen bei den Litauern lange
nicht in dem Maße zutage treten, als bei den Juden, und dagegen mehr
Krämpfe bezw. Lähmungen der willkürlich innervierten Muskulatur
und Sensibilitätsstörungen der Hautdecken oder tiefer gelegenen Ge-
websschichten sich bemerkbar machen, so ist der rein psychische
Faktor bei ihren Störungen mehr ausgesprochen, als bei den Juden.
Es überwiegen auch die somatopsychischen Vorstellungen, welche
• vielfach sich bis zu schweren hypochondrischen Denkstörungen steigern
können, doch auch auf anderen Komponenten des Geisteslebens macht
sich die nervöse Affektion reichlich bemerkbar. So sind Zwangsvor¬
stellungen bei den Litauern nicht ungewöhnlich, auch allerhand Pho¬
bien gehören zu den nicht selten auftretenden Bestandteilen der
nervösen Erkrankungen. Besonders lebhaft sind die sexuellen Be¬
schwerden der phantastischsten und sensationellsten Art. Während bei
den Juden die Vita sexualis entweder eine Steigerung oder meist jedoch
eine Abschwächung der Funktion im Verlauf der neurotischen Störung
erleidet, entwickeln sich bei den Litauern seltener regelrechte Verände¬
rungen des Geschlechtslebens an sich, als vielmehr die sonderbarsten
Empfindungen in bezug auf die Genitalorgane, wie das Gefühl des
Schrumpfens, der Schwellung usw. Ob diese Beschwerden nun rein
hypochondrisch halluziniert sind oder aber wirklich eine reale Grund¬
lage besitzen, läßt sich der Regel nach nicht entscheiden. — Im Gegen¬
satz zu den Juden sind die Litauer weit weniger suggestibel,
man muß in der größten Anzahl von Krankheitsfällen es beobachten,
wie die Macht der Vorstellung sich nicht durch die sogenannte ra¬
tionelle Psychotherapie oder in Wachsuggestion beseitigen läßt; die
Autosuggestion bezw. das psychogene Moment spielen bei den psy¬
chischen Anomalien der neuropathischen Litauer keine irgend nennens¬
werte Rolle. Die Krankheit verläuft, soweit sie in Heilung ausklingt
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oder ihre manifesten Anzeichen verliert, nach inneren Gesetzen und ist
eigentlich von therapeutischen Maßnahmen nicht abhängig. Die
schweren Störungen körperlicher Natu/, seien sie nun Reiz- oder Aus¬
fallserscheinungen, trotzen desgleichen, wenn auch nicht so intensiv
und erfolglos, wie die psychischen, den kurativen Einflüssen. Eine
hysterische Lähmung ist z. B. bei dieser Volksart ein schwieriges Be¬
handlungsobjekt, welches wesentlich ungünstiger in der Prognose zu be¬
werten ist, als die meisten gleichwertigen Störungen bei anderen Völker¬
schaften. Diese Krankheitszustände treten dabei gleich intensiv bei
Männern und Frauen auf, und die Behandlung bietet keine wesent¬
lichen Unterschiede beim einen oder anderen Geschlecht dar. Daß al¬
koholische Exzesse oft hysteriforme Erscheinungen, in der Regel leb¬
hafte allgemeine Erregungszustände und Krampfanfälle, hervorrufen,
wurde bereits oben erwähnt, es betraf die erste Schilderung der schwer¬
sten Formen, welche meist solche Kranke zu zeitweisen Objekten der
Psychiatrie macht, während die leichteren Formen meist in der Häus¬
lichkeit, oft auch ohne ärztliche Hilfe, vorübergehen. Fan gewisser
Hang zum Mystischen, zum Geheimnisvollen veranlaßt die Litauer
vielfach, nicht den Arzt aufzusuchen, sondern sich— besonders bei
psychisch-nervösen Leiden — von Homöopathen, allerhand Kur¬
pfuschern, sogenannten „Bläsern“, usw. behandeln zu lassen. Die
geringe Suggestibilität dieser Volksart läßt aber auch diese Behand¬
lungsmethoden gewöhnlich, trotzdes Glaubens an dieselben, vollkommen
versagen. Dieser Hang zu solcher Art Therapie findet sich in fast
gleichem Maße mehr oder weniger bei allen Schichten des Volkes, so
daß neben allerhand rein propagandistischen rein äußeren Momenten
ohne Zweifel ein gewisses inneres Streben nach etwas Außergewöhn¬
lichem vorausgesetzt werden darf.
Was die Russen anbelangt, so weist diese Volksart unzweifel¬
haft in bezug auf die Neurosen weit mehr verwandte Züge mit den
Juden und Litauern auf, als beispielsweise mit den unten zu er¬
wähnenden Deutschen und Letten. Die Russen sind sehr suggestibel,
entbehren dabei aber durchaus des Hanges zur nichtärztlichen Be¬
handlung und stellen dadurch für den Arzt ein immerhin leichter zu
behandelndes Objekt dar, da sie der wissenschaftlichen Medizin ein
vollkommenes Vertrauen entgegenbringen. Allgemein überwiegen
bei den Russen die psychischen Anomalien der Neurosen, die körper-
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Die Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 529
liehen sind der Regel nach Reizerscheinungen; ich habe funktionelle
greifbare Ausfallssymptome bei ihnen eigentlich nie beobachten können.
Die psychischen Störungen sind in so gewaltigem Grade abhängig
von den Affekten, daß der mit diesen Erscheinungen nicht vertraute
Beobachter gar zu leicht geneigt sein kann, an irgendeine in der Ent¬
wickelung begriffene Psychose zu denken. In gewissen Fällen ent¬
wickeln sich in kurzer Zeit wahnhafte Beeinträchtigungs- und Ver¬
folgungsideen bezw. andere schwere psychische Anomalien, die je¬
doch keineswegs zu einer dauernden Geistesstörung oder einem Ver¬
blödungsprozeß führen, sondern oft unter dem Einfluß ärztlicher Be¬
handlung ihrem Ende zuneigen. Viele solcher Zustände lassen sich
angeblich durch Hypnose gut beeinflussen, ich persönlich besitze auf
diesem Gebiet keine Erfahrung, um über die Wirksamkeit derselben
urteilen zu können. Die verhältnismäßig häufige Verwendung der
Hypnose seitens der russischen Ärzte spricht ja doch eigentlich in
dem Sinne, daß dieselben bei ihren Volksgenossen günstige Objekte
für diese Art der Therapie finden. Daß es sich dabei immer um die
Beseitigung eines Symptoms handelt und nicht um die Heilung des
Krankheitsprozesses, ist selbstverständlich. Zwangsvorstellungen,
Befürchtungen, überhaupt neurasthenische und hypochondrische
Symptomenkomplexe haben bei den Russen lange nicht so stabile
Formen, als bei vielen anderen Volksarten, obgleich sie meist endogener
Natur sind. Diese Erscheinungen tragen bei ihnen einen mehr peri¬
odischen Charakter, wo zu gewissen Zeiten die Beschwerden in den
Vordergrund treten, um dann wieder zu schwinden. Der endogene Fak¬
tor läßt sich jedenfalls in reichlicher Anzahl durch gleichzeitiges Vor¬
handensein neurotischer Störungen bei den Erzeugern als sicher be¬
legen; daß daneben der ständige Einfluß einer solchen Umgebung
seine Schädigung auf eine disponierte Persönlichkeit ausüben muß,
läßt sich nur zu oft in deutlichster Weise beobachten. Die Suggestibilität
der Russen, nebst der leicht auslösbarenAffekterregbarkeit derselben
bedingen durch innigen Konnex auf dem Gebiet des Nerven- und
Seelenlebens lebhafte Entladungen bei einer größeren Anzahl von
Menschen. Diese Paroxysmen sind psychogen entstanden, finden
aber für ihre Entwickelung einen stets reifen Boden. Ich habe bei
ganzen Gruppen die sensationellsten hypochondrischen Vorstellungen
durch irgendeinen einschlägigen Fall oder gar eine aufgebauschte
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S i e b e r t,
Erzählung entstehen gesehen, war in der Lage, gewaltige Affektschwan-
kungen nach der positiven Seite und nach der negativen hin zu beob¬
achten, ohne daß sich solche Vorstellungen bei den Objekten lange
zu halten vermögen. „Die suggestive Vorstellung erregt nicht nur
direkt eine subjektive Überzeugung, sondern sie ist lebhaft sinnlicher,
anschaulicher Art, sie entsteht ohne Reflexion und ist geeignet, in
andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt zu werden (zum
Unterschiede von der Überredung), und sie erzeugt weiter einen starken
Impuls zur Aktivität.“ Diese Worte Friedmanns x ) haben unzweifel¬
haft die Möglichkeit vollkommenster Anwendbarkeit in bezug auf
die stets labile Affekterregbarkeit der Russen. Man muß ferner strikt
daran festhalten, daß, wenn wir für vieles Pathologische im psychisch¬
nervösen Geschehen exogene, rein psychisch bedingte Entstehungs¬
ursachen verantwortlich machen können — wie oben bereits erwähnt
wurde —, die Reaktion der russischen Volksart auf äußere
Einflüsse eine stärkere ist, daß sie auch da stürmisch auf-
treten kann, wo bei anderen Volksarten überhaupt keine beachtens¬
werte Erwiderung einsetzt, daß aber deswegen keinesfalls von einer
Exogenese der allgemeinen Neurosen bei den Russen die Rede sein
soll, dieselben weisen selbstverständlich die gleichen Krankheitsfor¬
men auf, wie jede andere Volksart.
Wesentlich anders als bei den Juden, Litauern
und Russen liegen die Verhältnisse bei den Deutschen
und Letten. Es ist für mich in derZeit, wo ich diesbezügliche Beob¬
achtungen angestellt habe, als ziemlich klar anzusehen, daß die
Formen, in denen sich die Störungen des nervösen Geschehens zeigen,
bei Letten und Deutschen keineswegs in einer solch differenten Art
verlaufen, wie bei den andern Volksarten. Während die rein körper¬
lichen Anzeichen oder Begleitsymptome der allgemeinen Neurosen
bei diesen beiden zuletzt erwähnten Nationalitäten sichtlich weniger
hervortreten, als bei den anderen, lassen sich gerade die rein psychischen
Anomalien, die Denkstörungen und abnormen Vorstellungen, am
wesentlichsten beobachten, zudem ist entschieden eine sehr ausge¬
sprochene Stabilität der krankhaften Verstellungen bei den Letten
und Deutschen nachweisbar. Selten sind rein psychogene Störungen,
*) Friedmann , Wahnideen im Völkerleben. Wiesbaden 1901. S. 205.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 531
die zu voll entwickelten neurotischen Symptomenkomplexen führen.
So oft gerade unter der Landbevölkerung der Schreck — das doch
entschieden häufigste psychogene Moment — als auslösende Ursache
für die Entstehung von Psychosen angesehen wird, so wenig Berech¬
tigung konnte ich diesem Faktor für die Entstehung der Neurosen
bei diesen beiden Nationalitäten, sowohl den Landbewohnern als
auch den Städtern, beimessen. Es scheint jedenfalls, als ob diese
Volksarten sichtlich viel geringer mit vom Gewöhnlichen abweichen¬
den Vorstellungen und Innervationstörungen auf äußere Eindrücke
reagieren, als die anderen um sie herum wohnenden Völkerschaften.
Ich habe es wohl gesehen, daß z. B. die Nachricht von einem schweren
Eisenbahnunfall bei einer anscheinend nicht hysterischen Frau let¬
tischer Nationalität, die ihren Mann im betreffenden Zuge wußte, eine
linksseitige Bewegungs- und Empfindungslähmung hervorrief, die
prompt in einigen Tagen sich zurückbildete, auch Explosionen und
andere Ereignisse waren gelegentlich imstande, Beiz- und Ausfalls¬
erscheinungen auf psychogenem Wege zu bedingen, allgemein muß
ich aber, auf meinen Beobachtungen fußend, immer wieder auf die
relative Widerstandsfähigkeit des Nervensystems dieser beiden Volks¬
arten gegenüber den anderen hinweisen. Bei den an Neurosen kran¬
kenden Deutschen und Letten ist der degenerative Charakter sehr stark
ausgesprochen. Es läßt sich bei weitaus der größten Zahl nachweisen,
daß hierbei ein ererbtes bezw. familiäres Leiden im Spiele ist. Die
schwersten hypochondrischen Zustände, welche bleibend das psychische
Geschehen begleiten, lassen sich gerade bei den Deutschen und mehr
noch bei den Letten beobachten, sowohl bei der Stadt-, als auch bei
der Landbevölkerung. Bei der Betrachtung der allgemeinen Neu¬
rosen, soweit sie eben ein Objekt der Anstaltspsychiatrie wurden, hob
ich bereits hervor, daß die Aufnahme von Letten und Deutschen
meist bei schweren Formen von neurasthenisch-hypochondrischem
Typus erfolgte, also ein direkter Gegensatz zu den übrigen Nationali¬
täten bestand, bei welchen mehr die hysterischen bezw. rein psycho¬
genen Störungen zur Beobachtung gelangten. Neben der sichtlich
degenerativen Anlage, welche die den allgemeinen Neurosen eigenen
psychischen Anomalien bedingt, spielt bei der lettischen Volksart eine
vielfach zu Grübeleien über die Umgebung und über das eigene Ich
hinneigende Denkrichtung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Da ß
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532
Siebert,
dieses Moment eine angeborene hypochondrische Anlage wesentlich
fördern und vertiefen muß, erscheint als selbstverständlich, der Kranke
kommt nie von seinen Gedanken, gegebenen Falles von seinen somato-
psychischen Vorstellungen los. Tatsächlich läßt sich eine Periodizität
im Verlauf solcher Neurosen relativ selten bei den Letten beobachten.
Die negative Komponente zieht sich wie ein roter Faden durch das
Leben des betreffenden Menschen, nur ein leichtes An- und Abschwellen
der krankhaften Erscheinungen tritt gelegentlich zutage, nie ein
vollkommenes Schwinden derselben. Dabei muß stets auf das Vor¬
kommen im wahren Sinne des Wortes eingebildeter Krankheitsvor¬
stellungen aufmerksam gemacht werden, wie solche nur zu leicht bei
ungebildeten Personen durch unzweckmäßige Lektüre entstehenkönnen.
Gerade unter der lettischen Bevölkerung habe ich dieses in großem
Maßstabe beobachten können. Auch ohne das Vorhandensein von
ausgesprochenen nervösen Störungen und dazu disponierenden Mo¬
menten bildet gerade das Lesen solcher Abhandlungen oft eine Quelle
von Vorstellungen, die nicht so leicht den ärztlichen suggestiven Ein¬
flüssen weichen. Wenn ich mich so ausdrücken darf, scheint jeden¬
falls das somatopsychische Moment bei den psychisch¬
nervösen Affektionen der Letten durchaus im Vorder¬
gründe zu stehen. Ich habe dieses reichlich bei allen Kultur- und
Gesellschaftsschichten verfolgen können, die Landbevölkerung ist
keineswegs mehr davon verschont, als die Bürgerschaft und die Ar¬
beiter der Städte. Der Unterschied ist dabei lediglich quantitativer
Art, nicht qualitativer. Im gewöhnlichen Leben mit unserer Alltags-
psycholögie ist oft ein fließender Übergang von normalen Empfin¬
dungen zu krankhaften wahrzunehmen. „Die Organempfindungen
werden umgeformt, und unter dem Einflüsse einer krankhaften kom¬
binatorischen, phantatischen Gehirntätigkeit entwickelt sich der Irr¬
tum des Hypochonders zum Irrsinn des Paranoischen. Die gleichen
seelischen Vorgänge sind in beiden Fällen in unserem Bewußtsein
tätig, aber die eigenartige persönliche Veranlagung schafft hier den
Hypochonder, dort den Paranoischen“ ( A.Behr ) 1 ). Das individuelle
Abwägen und Abschätzen einzelner somatopsychischer Beschwerden
x ) A. Behr, Über den Glauben an die Besessenheit. Allg. Ztschr.
f. l’sych. Bd. 63, H. 1.
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 533
muß daher stets mit sehr viel Reserve und dem Versuch näheren Ver¬
ständnisses geübt werden, indem z. B. die allgemein primitiveren Be¬
schwerden der Landbauem gelegentlich einen solchen phantastischen
Charakter annehmen können, daß man bei einem Städter schon mit
einer paranoischen Organ-Wahnidee rechnen müßte. Jedenfalls ist
dieses Gebiet durchaus in der Hinsicht so beachtenswert und lehrreich,
daß man sich stets im äußersten Grenzgebiet zwischen Psychose und
Neurose weiß.
Die Deutschen zeigen gleichfalls wenig ausgesprochene An¬
zeichen der Neurosen auf körperlichem Gebiet. Lähmungen
psychogener Natur sind selten, Tics, Klonismen gleichwie Sensibili¬
tätsstörungen lassen sich eher nachweisen. Die Erblichkeit im Sinne
psychisch nervöser Erkrankung der Eltern, sogar der Voreltern kann
unverkennbar bei den meisten schweren Neurosen beobachtet werden,
daneben kommen vielfach auch andere disponierende Momente bei
den deutschen Neurotikern in Frage, wie häufigere Konsanguinität
der Eltern und anderes mehr. Alkohologene hysteriforme Krank¬
heitserscheinungen, welche bei fortgesetzter Abstinenz schwanden
und nicht mehr manifest wurden, habe ich auch bei Deutschen, beson¬
ders bei Frauen beobachtet, wesentlich mehr als bei den Letten. Die
weitaus häufigste Form der von mir bei den Deutschen feststell¬
baren nervösen Störungen war ein allgemeines Insuffizienzge¬
fühl von stark neurasthenischem Charakter; der endogene
Faktor ist bei diesen Affektionen unschwer festzustellen, in dem Sinne
spricht .auch die auffallend geringe Suggestibilität der Deutschen. Die
deutschen Landbauern zeigen sichtlich geringere phantastische Beschwer¬
den—meist zwar auch somatopsychischer Art—, als ihre entsprechen¬
den nervenkranken Nachbarn lettischer Nationalität. Stabile Zwangs¬
vorstellungen habe ich am häufigsten unter deutschen Patienten zu
beobachten gehabt. —
Geschlechtliche Iusuffizienz ist, wie überhaupt die Kri¬
terien der sexuellen Neurosen, am häufigsten bei den Juden
und Rus sen, nächst denselben bei den Deutschen zu beobachten. Ge¬
schlechtliche Perversitäten, soweit es sich nicht um schwere, meist von
Idioten oder Imbezillen ausgeführte Delikte handelt, habe ich recht
wenig als Objekt neurologischer Behandlung oder Begutachtung gehabt.
Das Material dieser Abnormitäten war so gering, daß es für die Frage
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Siebert,
einer vergleichenden Betrachtung völlig bedeutungslos ist, es handelt
sich dann jedenfalls um Juden und Deutsche, wobei sich ein stark
degenerativer Einschlag deutlich nachweisen läßt. — In letzter Reihe
will ich noch einige Bemerkungen über die hysterischen Dämmer¬
zustände anknüpfen, deren ich eine größere Anzahl beobachten
konnte, und die gerichtsärztliche Beurteilung, welche mir oblag. Zur
Annahme solcher Zustände habe ich mich in forensischen Fragen,
als auch in rein ärztlicher Auffassung, sehr schwer und nur bei sorg¬
fältig erhobener Vorgeschichte entschlossen. Oben wurde bereits
auf die große Zahl schwerer Hysterien bei den Litauern hingewiesen,
und gerade bei dieser Volksart habe ich die Dämmerzustände oft ge¬
sehen. Von anhaltenden Dämmerzuständen wurden in meinem Be¬
obachtungskreis am meisten befallen Russen und Juden. Angenom¬
men wurden solche Störungen nur dort, wo vorher längere Zeit hin¬
durch, meist jahrelang, anderweitige hysterische Symptome bestanden,
bis dann eine Affekterregung einen Dämmerzustand hervorrief.
Bei einer deutschen Patientin habe ich regelmäßig sich wiederholende
einwandfreie hysterische Dämmerzustände beobachtet, und zweimal
konnte ich solche bei lettischen Frauen, sowie einmal bei einem let¬
tischen Mann feststellen, sonst betrafen diese Störungen ausschließlich
die übrigen Volksarten. —
Ergebnis des zweiten Teils:
Berücksichtigt man die große Frage des Einflusses, welche der
jeweilige Bildungsgrad, die mateiielle Lage, die Art der Beschäfti¬
gung nebst den entsprechenden nutzbringenden hygienischen Ein¬
richtungen (bezw. dem Fehlen solcher) und überhaupt der gesamte
Kulturzustand einer ganzen Volksart auf die Entstehung oder die
Verhütung von psychisch-nervösen Erkrankungen auszuüben imstande
sind, so muß man immer wieder von neuem sich die Tatsache Vorhalten,
daß gewisse Störungen bezw. Reaktionsformen des Nervensystems
nicht Volkskrankheiten im eigentlichen Sinne des Wortes sind, sondern
nur gewisse soziale Unterschiede darstellen. Immerhin bleiben, auch
bei der allerkritischsten Betrachtungsweise, noch viele wohlcharak¬
terisierte Erscheinungen, als eigenartige rassen- und volksindividu-
elle Symptome, bei den einzelnen Neurosen übrig. Diese Unterschiede
sind auch sichtlich krasser, als bei den Psychosen, und wenn ich alles
zusammenfassc, scheint es mir doch festzustehen, daß bei den Juden,
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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 535
den Litauern und Bussen die Disposition zu nervösen Störungen
durch äußere Einflüsse leicht psychogene Reaktionsformen hervorruft,
welche dann meist in auffälliger Weise sich in somatisch greifbarer
Art nach außen hin dem Blick des Beobachters darbieten, — am
wenigsten scheinen die Russen diese Erscheinungen aufzuweisen —,
während die Deutschen und Letten mehr in psychischer Hinsicht Ano¬
malien des psychisch-nervösen Geschehens zeigen, indes die körper¬
lichen Projektionssymptome des psychischen anormalen Lebens
sich weniger, als bei den oben erwähnten Volksarten, auf die Organ¬
funktionen — Bewegung, Empfindung und Sekretion — übertragen.
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkunst! erin.
Von
Dr. Rudolf Ganter, Wormditt.
Die Patientin ist jetzt 24 Jahre alt. Mit 12 Jahren kam sie in
die Anstalt. Zu Hause hatte sie die Schule vom 6. Jahre ab besucht,
hier ging sie noch 2 Jahre in die Anstaltschule. Sie war eine der besten
Schülerinnen, was bei uns allerdings nicht viel besagen will Immerhin
beantwortete sie gelegentlich Fragen aus dem kleinen, und soweit
mitunter darüber hinübergegriffen wurde, auch aus dem großen Ein¬
maleins mit großer Raschheit. Damit hatte es dann sein Bewenden.
Einmal aber, als ich zufällig — es war im Sommer 1916 — beim Rund¬
gang einige Rechenaufgaben stellte, kam auch unsere Kranke heran,
hörte lächelnd zu und löste sie fix, wenn die andern versagten. Dem
fügte sie dann noch die Aufforderung bei: Sie können noch weiter
fragenl Ich tat es, und damit war die Kranke als Rechenkünstlerin
entdeckt. 12 Jahre hat’s hierzu gebraucht.
Zunächst wollen wir die Kranke vorstellen:
Helene B. wurde am 6. November 1893 in Danzig geboren. Der
Vater, Steinschläger, trank, litt an Krämpfen im linken Bein und starb
mit 41 Jahren an Lungenschwindsucht. Eine Schwester des Vaters wurde
von ,,Wutkrämpfen“ befallen. Die Mutter lebt und ist gesund. Die Kranke
ist das älteste Kind. Sonst machte die Mutter noch folgende Geburten
durch: 1. ein Junge, Zangengeburt, kam tot zur Welt; 2. ein Mädchen,
21 Jahre alt, gesund. Lernte gut in der Schule; 3. Mädchen, Totgeburt.;
4. Mädchen, Totgeburt. Die Mutier hat ein enges Becken, worauf wohl
diese Störungen beruhen. Dafür sprechen auch die Geburtstörungen
aus einer zweiten Ehe, aus der von fünf Geburten nur drei durchkamen:
1. Mädchen, Spontangeburt, gesund; 2. Kranioklasie; 3. Junge, Spon¬
tangeburt, ein Jahr alt an Masern gestorben; 4. Geburt von sieben Mo¬
naten (häufige Blutungen der Mutter), lebte nur eine halbe Stunde;
5. Junge, gesund.
Von Kinderkrankheiten hat Patientin nach dem ärztlichen Zeugnis
die Masern durchgemacht. Sie bekam schon als kleines Kind Zuckungen
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
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in der linken Hand und im rechten Fuß. Sie besuchte die Volksschule
mit Erfolg, zeigte sich gelehrig, schnell fassend, von gutem Gedächtnis.
Nach ihrer eigenen Angabe mußte sie die unterste Klasse wiederholen.
Von Charakter lebhaft, zänkisch, bösartig. Die Anfälle (die wohl auf
die früheste Kindheit zurückgehen: Zuckungen) traten unregelmäßig bei
Tag und bei Nacht, zuweilen täglich auf. Vor dem Anfall wurde es ihr
schlecht, mit einem Schrei fiel sie hin, war bewußtlos und steif, nachher
kurze Zeit benommen. Körperlich gesund, etwas schwerhörig. Ohne
Erfolg ärztlich behandelt. Die Kranke wurde am 12. Oktober 1905 in
die hiesige Anstalt aufgenommen.
Derzeitiger körperlicher Befund: Größe 145 cm, Gewicht in den
letzten Jahren 42—44 kg, bei der Aufnahme 133 cm und 31 kg. Die
Kranke ist also in den 12 Jahren nur um 12 cm gewachsen, ihr
Gewicht um etwa 12 kg gestiegen. Sie ist ziemlich klein, schmächtig
gebaut und steht ihrer körperlichen Entwicklung nach auf der Stufe
eines etwa 16 jährigen Mädchens. Kopfumfang 52 cm; Nase - Hinter¬
hauptshöcker (Bandmaß) : 30cm, (Zirkelmaß): 16,8 cm; Ohr - Ohr (Band¬
maß): 29 cm (größteBreite, Zirkelmaß): 13cm; Breite der Stirn 12cm,
Höhe 6 cm; Nasenwurzel - Kinn 12 cm. Rechte Kopfhälfte etwas kleiner,
Gesicht etwas schmal. Die Crista frontalis über der äußeren Orbital¬
gegend tritt beiderseits ziemlich vor 1 ). Die Scheitelhöcker wölben sich
leicht kugelig vor. Die Hinterscheitelgegend nach der Hinterhaupts¬
schuppe zu schief abfallend. Schlitzaugen mäßigen Grades. Gaumen
ziemlich eng, hoch. Zahnbildung ohne Besonderheit, untere Schneide¬
zähne eben abgeschliffen (hinter den oberen stehend). Größe des rechten
Ohres 7 x 3,5 cm, des linken 6x3 cm. Auf dem linken Ohr verschwindet
die Helix von der Mitte ab. Ohrläppchen angewachsen. Leichte, nach
rechts konvexe Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule. Eine Folge dieser
Verbiegung mag sein, daß die Kranke den Kopf immer steif nach links
geneigt hält, eine Erscheinung übrigens, die mir seinerzeit auch bei ihrer
rechten Schwester aufftel. Die Kranke ist linkshändig. Sie macht Hand¬
arbeiten links, schreibt aber und ißt rechts. Menses mit 13 Jahren, an¬
fangs unregelmäßig, später regelmäßig 2 ). Kniereflex links + -f, rechts + .
Fuß-, Bauchreflex +. Berührungs- und Schmerzempfindung +. Pu¬
pillenreaktion + .
Was die epileptischen Anfälle betrifft, so treten diese in typischer
2 ) Trotz mehrmaliger Betrachtung bin ich nicht um diese Stirnecke
herumgekommen und weiß jetzt noch nicht, ob sie dasselbe bedeutet
wie die berühmte Mathematikerstirnecke von Möbius.
2 ) Seit Februar 1916 ausgeblieben. Dieselbe Erscheinung machte
sich auch bei andern Kranken geltend als Folge der Kriegsernährung.
Auch in der Praxis draußen wurde diese Kriegsamenorrhöe beobachtet
[Schweitzer, Kriegsamenorrhöe. Münch, med. Wschr. Nr. 1917, 17, und
Gräfe, über Kriegsamenorrhöe. Ebenda Nr. 18).
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Ganter,
schwerer Weise auf mit tonisch-klonischen Krämpfen und darauffolgender
Benommenheit. Daneben kommen auch solche leichterer Art vor, indem
die Kranke hinsinkt, etwas vor sich hin murmelt, speichelt und dann
noch kurze Zeit herumtorkelt. Keine Aura. Über die Zahl der Anfälle
im Laufe der Jahre, die leichteren sind eingeklammert, gibt folgende
Zusammenstellung Auskunft:
1906 : 24 (104). 4.0—6.0 Brom. Pausen von 8—10 Tagen, auch kürzer,
dann meist 3—4 Tage hintereinander Anfälle.
1907 : 15 (77). 4.0 Br. Pausen wie oben. Fünf Monate nur leichtere
Anfälle, dann auch wieder schwerere.
1908 : 33 (53). 3.0 Br. Einen Monat ganz frei, einen Monat beurlaubt,
sonst unverändert.
1909 : 62 (95). 3.0 Br. Pausen etwas kürzer. Anfälle meist an 3—4
Tagen hintereinander.
1910 : 62 (52). 2.0 Br. Im Oktober keinen Anfall, sonst gleich.
1911 : 55 (37). 2.0 Br. Einen Monat beurlaubt, sonst gleich.
1912 : 59 (98). Vier Monate ohne Br., fünf Monate 2.0 Br., ohne großen
Unterschied; drei Monate Zimmtsäurebr. ohne Wirkung.
1913:26 (41). Die ersten drei Monate 2.0'Br.: 20 (29), die anderen
neun Monate salzarme Kost und 2 Sedobrol.: 6 (9).
Vier Monate ganz frei, wovon zwei hintereinander,
sonst nur zwei bis drei Anfälle im Monat auf einmal,
im Dezember ein leichterer Anfall.
1914 : 14 (57). Bei salzarmer Kost und 2 Sedobrol die ersten acht Mo¬
natei (27), wovon einen Monat ganz frei. Bei 1 Sedobrol
die letzten vier Monate 13 (30)*).
1915 : 62 (50). Salzarme Kost und Sedobrol ab wegen großer Reiz¬
barkeit und Zanksucht. Dafür 3.0 Br. Nun wieder
der alte Zustand. Größere und kleinere Pausen wech¬
seln ab. Die Zahl der hintereinander auftretenden An¬
fälle nimmt etwas zu.
1916 : 41 (37). 2.0 Brom. Meist 3 Wochen Pause, dann an 4 Tagen
hintereinander Anfälle.
Was das sonstige Verhalten unserer Kranken betrifft, so zeigte sie
von jeher ein eigensinniges, störrisches, zanksüchtiges Wesen. In den
ersten Jahren ihres Aufenthaltes nahm dieses oft recht widerwärtige For¬
men an: sie strampelte, warf sich auf den Boden, heulte anhaltend.
Eine Zeitlang hatte sie die Gewohnheit, wenn ihr etwas Unangenehmes
widerfuhr, den Mund aufzusperren, nach Luft zu schnappen, den Kopf
dabei nach links drehend. Das hat sich, wie gesagt, in den letzten Jahren
*) Über die Wirkung dieser Behandlungsmethode s. unsere Abhand¬
lung: Über die Behandlung der Epilepsie mit salzarmer Kost und Sedo¬
brol, und Sedobrol und Luminal. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1916, Bd. 40.
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
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mehr gelegt, nur ihr Grundcharakter hat sich natürlich nicht verändert.
Mit den andern Kranken kann sie nicht zur Arbeit geschickt werden,
da sie sofort sich zu zanken anfängt. Sie hält sich auch selbst gern für
sich, hat sie doch schon als Kind nicht am Spiel der andern teilgenommen.
Jetzt ist sie am zufriedensten, wenn sie bei ihrer Strickerei sitzt.
Wie aus der obigen Zusammenstellung hervorgeht, zeigen die An¬
fälle ein mehr serienweises Auftreten. Vor und zwischen den Anfällen
ist die Kranke mißgestimmt und klagt über allerlei Schmerzen, ist die
Anfallperiode zu Ende, macht sich bei ihr einige Tage eine große Ge¬
schwätzigkeit geltend. Aber auch ihre sonstige Redeweise hat manches
Auffällige, ist umständlich, abschweifend, Worte am Anfang des Satzes
werden am Schlüsse in etwas anderer Umstellung wiederholt, wie wir
das weiterhin am besten an einer ihrem Briefe entnommenen Stelle zeigen
werden. Eines ihrer Lieblingsflickworte ist „gerade so“. Nebenbei be¬
merkt, habe ich diese Redeweise noch bei einem Epileptiker beobachtet,
der nach jedem zweiten oder dritten Worte „vielmehr“ sagt, wobei er sich
gewöhnlich noch mit der rechten Hand über den Hinterkopf fährt: eine
Art psychischen Tics.
Rechenprüfung. — Bei der Rechenprüfung ging ich so vor, daß
ich der Kranken die Aufgabe vorsagte und sie nachsprechen ließ. Bei
den mehrstelligen Zahlen ging das einige Male hin und her. Saß die Auf¬
gabe aber einmal fest, so wurde kein Wort mehr zwischen uns gesprochen.
Patientin hatte nur das Ergebnis anzugeben und mir im Anschluß daran
die Art ihres Kopfrechnens zu diktieren.
A. Vervielfältigung. Aufgabe 1.,45 X 37 = 1650, in V 2 Minute.
[Falsch!] Nein 1665, in y 2 Minute. Sie rechnete: 2 x 45 = 90; 90 x 37
= 3330; davon nehme ich die Hälfte = 1665.
Aufgabe 2. 62 x 84 = 5208, in 2 Minuten: „80 x 62 = 4960,
4 x 62 = 248. Nun zähle ich zu 4960 die 248 dazu: 960 + 40 = 1000,
4000 + 1000 = 5000; von 248 muß ich die 40 wieder abziehen = 208,
5000 + 208 = 5208.“
Aufgabe 3. 53 X 67 = 3551, in 1 >4 Minuten. „Von 67 bis 70 fehlen 3,
3 X 53 = 159, 70 X 53 = 3710. Nun muß ich von 3710 die 159 wieder
abziehen: 3710 — 110 = 3600, nun noch 49 abziehen: 3600 —49 =
3551.“
Die Art, wie die Patientin hier abzieht, ist so charakteristisch und
grundlegend für ihr ganzes Vorgehen, daß ich jetzt schon darauf hin-
weisen möchte, bei den größeren Aufgaben wird das noch viel deutscher
zutage treten. Sie rechnet nämlich ganz so, als hätte sie die Tafel vor
sich: 9 von 0 geht nicht, weil doch 9 mehr ist. Dann muß ich einen Punkt
machen. Das sollte 10 bedeuten, 9 von 10=1. Dann k von 9 = 5. Dann
noch 5 und 3 anschreiben. Dann ist es gerade 3551.
Nicht weniger bezeichnend ist die große Umständlichkeit, mit der
sie zu Werke geht.
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540
Ganter,
Aufgabe 4. 743 X 34 = 214 262, in 6 Minuten. [Falsch!] = 25 262,
in 11 Minuten. „60 x 743 = 44 580, davon die Hälfte = 22 290, 4 x 743
= 2972, 2290 + 2972 = 90 + 72 == 162, 1 im Kopfe behalten, 62 an-
schreiben, 22 + 29 = 51 + 1 = 52; die 52 muß ich vor die 62 setzen
= 5262, nun noch 2 davor = 25 262.“
Man sieht, Patientin erleichtert sich die Rechnung keineswegs.
Statt 60 x 743 und von der Summe dann die Hälfte zu nehmen, hätte
sie doch viel einfacher 30 x 743 rechnen können. Aber bei ihrem außer*
ordentlichen Zahlengedächtnis spielt das keine Rolle.
Aufgabe 5. 874 x 53 = 46 322, in 2 y 2 Minuten. „5 x 74 = 370,
70 anschreiben, 3 im Kopf behalten; 5 x 8 = 40 + 3 = 43. Die werden
vor die 7 geschrieben = 43 700 (noch eine 0, weil es 50 x 74 heißen muß).
3 x 874 =: 3 x 74 = 222, 22 anschreiben, 2 im Kopfe behalten; 3x8
= 24 + 2 = 26; die 26 vor die 22 = 2622; 3700 + 2622 = 37 + 26
= 63 und 22 = 6322, nun noch 4 vorsetzen = 46 322.“
Aufgabe 6. 468 x 322 = 151 096, in 7 Minuten. [Falsch!) = 151 096,
in 8 Minuten. [Falsch!] = 150 696, in 2% Minuten. „300 x 468 = 3 x
468. 468 x 3 = 1404 (rechnet wie auf der Tafel); 300 x 468 = 140 400;
22 X 468 = 468
X 2
936, noch einmal 936 darunter setzen:
936
10 296
140 400 + 10 296 = 150 696 “
Aufgabe 7. 876 x 532 = 466 032, in 10 Minuten. „876 x 5 =
4380, = 438 000, 876 x 3 = 2628, = 26 280 (so angeschrieben wie sie
rechnet). 438 000 + 26 280 (unter die drei Nullen schreibe ich 280 und
die 26 unter die 38) = 464 280, 876 X 2 = 1752, 4280 + 1752
(80 + 32 = 132, 32 anschreiben, 1 im Kopf behalten usw.). Nun noch
46 vorsetzen = 466 032.“
Aufgabe 8. 4362 x 6871 = 2 MU1. 68 Hundert 71 302, in 18 Mi¬
nuten. [Falsch!] = 26 Mill. 8 Hundert 71 302, in 5 Minuten. [Falsch!]
= 2 Mill. 96 Hundert 71 302, in 1 Stunde. [Falsch!] Das richtige Ergeb¬
nis lautet: 29 971 302. Man sieht, die fünf letzten Stellen sind richtig,
mit den andern konnte Patientin nicht zurechtkommen. Die Zahlen
verwirren sich offenbar in ihrem Kopf. Der Hauptgrund hierfür liegt
darin, daß sie eine achtstellige Zahl überhaupt nicht richtig lesen konnte.
Ich ließ sie nun die Aufgabe schriftlich machen. Jetzt brachte sie die
richtige Lösung heraus, las aber: 2 Mill. 99 Hundert 71 302. Nachdem
ich ihr auf der Tafel klargemacht hatte, wie eine derartige Zahl zu lesen
ist, gab ich ihr nach einigen Tagen eine neue Aufgabe, die sie nun richtig
löste:
Aufgabe 9. 6324 X 2175 = 13 754 700, in 35 Minuten: 6324 x 5 =
31 620, 6324 x 7 = 44 268. Nun zählte sie die beiden Summen zusam-
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
541
men, wobei sie besonders bemerkte, daß 68 unter die 62 komme und nicht
etwa unter die 20: 31 620 4- 442 68 = 474 300, 6324 x 21 = 6324 x 2
= 126 480, 6324 X 1 = 6324, 126 480 + 6324 = 132 804, 474 300 +
132 804 = 13 754 700. Auch hier bemerkt sie wieder, daß 804 unter die
743 zu setzen ist. Man sieht also auch hier, daß Patientin genau so rech¬
net wie auf der Tafel. Erst vervielfältigt sie mit 5, dann mit 7; nun zählt
sie zur Erleichterung ihres Gedächtnisses die beiden Zahlenreihen zu¬
sammen. Dann vervielfältigt sie mit 21 und berechnet die Gesamtsumme.
Sie weiß auch, wie beim Zusammenzählen die Zahlenreihen richtig unter¬
einander zu setzen sind, genau so wie es auf der Tafel gemacht wird.
Aufgabe 10. 8256 x 6932 = 57 230 592, in 38 Minuten: 8256 x 32
= 8256 X 2 = 2 x 56 = 112, 12 anschreiben, 1 im Kopfe behalten,
2 x 82 = 164 + 1 = 165, die Nummer kommt vor die 12 = 16 512;
8256 x 3 = 24 768 (wie oben gerechnet); 16 512 + 24 768 = 264 192;
8256 x 69 = 569 664 (wie oben zerlegt); 264 192 + 569 664 = 57230 592.
Aufgabe 11. 5 288 316 x 76 = 401 912 016, in 45 Minuten; Erst
vervielfältigte sie mit 6, dann mit 7 und zählte die Summe zusammen:
5 288 316 x 6, wobei sie die unterklammerten Zahlen zusammennimmt,
anschreibt, im Kopfe behält und zur folgenden Summe zuzählt, wie wir
es ja schon kennen. Merkwürdig ist, daß sie hier die Summe wieder nicht
richtig las. Sie diktierte nämlich: 40 Mill. 1 Hundert 912 Tausend und
die Null mit den 16.
B. Teilung. Da ich im Anschluß an die Vervielfältigungsaufgaben
die Patientin habe auch die Probe machen lassen, konnten jetzt gleich
größere Aufgaben gegeben werden. Auch beim Teilen verfährt Patientin
genau so, als rechnete sie auf der Tafel.
Aufgabe 1. 21 298 : 463 = 64, in 5 Minuten. [Falsch!] = 46, in
Yt Minute (sie habe sich versprochen).
21298 : 463 = 46
1852
2778
2778
Aufgabe 2. 4 057 416 : 792 = 5123, in 17 Minuten.
Aufgabe 3. 94 669 902 : 3467 = 27 306, in 18 Minuten.
94 669 902 : 3467 = 27306
69 34
25 329
24 269
1 0609
1 0401
20802
20802
Sie rechnet: 2 x 67 = 134, 34 anschreiben, 1 behalten;
Zeit schrift für Psychiatrie. LXXIII. 6.
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2 x 34 = 68,
38
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
542
Ganter,
+ 1 = 69; 34 kommt unter die 66, 69 unter die 94; 34 von 66 bleibt
32 usw. Nun habe ich 25 329 durch 3 467 zu teilen usw. 69 von 29 kann
ich nicht, ich entlehne 1; 69 von 129 bleibt 60; nun habe ich noch 242
von 252 abzuziehen, bleibt 10. Hat Patientin also eine fünfstellige Zahl
abzuziehen, so nimmt sie erst zwei und dann drei Stellen. Hat sie ab¬
gezogen, so holt sie sich die nächste Zahl herunter, also z. B. 9, und rech¬
net dann: also muß ich 10 609 : 3467 teilen usw.
Aufgabe 4. 190 595 328 : 4928 = 3976, in 65 Minuten. [Falsch!]
= 38 676, in 20 Minuten.
C. Zusammenzählung. 318 + 427 + 538 + 712 + 901 + 289 =
3887, in 14 Minuten. [Falsch!] 3185, in 2 Minuten. Patientin prägt sich
die Zahlen so ein: die erste Zahl heißt 318, die zweite 427 usw. Das
erste Mal, erklärte sie mir, habe sie von oben angefangen zusammen¬
zuzählen, als ich sagte: Falsch! von unten. Sie rechnete: 289 + 901 =
89 + 1 = 90, 2 + 9 = 11, die 11 vor 90 anschreiben = 1190; 1190 4-
712 = 190 + 712 = 902, die 1 davorsetzen = 1902; 1902 + 538 =
38 + 2 = 40, 40 anschreiben; 19 + 5 = 24, 24 vor die 40 setzen =
2440 usw. Patientin zählt also jeweils die folgende Zahl zu der vorher
erhaltenen Summe hinzu.
D. Abziehung. Aufgabe 1. 63 527 636 — 20 244 123 = 43 283 313,
in 4 Minuten. [Falsch!] 43 283 613, in 2 Minuten. [Falsch!] 43 283 613,
in 4 Minuten. [Falschl] 43 283 513, in 1 Minute. Sie rechnet in bekann¬
ter Weise: 36 — 23 = 13, 6 — 1 = 5. Die 5 kommt vor die 13 = 513; 24
— 44 geht nicht, 1 entlehnen, ich muß einen Punkt an die 5 machen;
127 —44 = 83; nun schreibe ich 83 vor die 513; nun muß ich 2 von 5
abziehen, aber ich habe 1 geborgt, also muß ich 2 von 4 abziehen = 2.
Die 2 kommt vor die 8; nun 63 — 20 = 43. Die 43 kommt vor die 2,
also bekomme ich 43 283 513. Das Rechnen geht also gerade wie auf
der Tafel und in der Umständlichkeit des Schulrechnens vor sich.
Aufgabe 2. 568 221 103 — 369 783 827 = 198 437 276, in 18 Mi¬
nuten. Patientin zog erst 827 von 1103 ab, dann 83 von 120, 7 von 11
und zuletzt 369 von 567.
Erinnerungsvermögen für Zahlen. — Bei den Aufgaben
45 x 37, 62 x 84, 53 x 87 dauerte das Rechnen und Erklären eine
Stunde. Nach dieser Stunde konnte Patientin alle drei Aufgaben und
ihr Ergebnis wiederholen. Ebenso nach 24 Stunden (16. 6. 16). Jetzt
wurde die Aufgabe 743 x 34 gestellt. Nach drei Tagen (19. 6. 16) wußte
sie die Aufgabe noch, auch die ersten drei Aufgaben brachte sie noch zu¬
sammen, wenn auch erst nach langem Nachdenken. Am 24. 6. 16, also
fünf Tage nach dem letzten Rechnen, wußte sie noch die ersten drei Auf¬
gaben, die vom 16. 6. hatte sie dagegen vergessen. Von den beiden Auf¬
gaben vom 19. 6.: 874 : 53 und 468 x 322 hatte sie die erste vergessen,
von der zweiten sagte sie 768 statt 468, sonst war die Wiederholung rich¬
tig. 26. 6. 16: Von den ersten drei Aufgaben wußte sie noch 45 x 37,
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
643
62 x 84, von dieser aber nicht mehr das Ergebnis. Die dritte Aufgabe
hatte sie ganz vergessen. Ebenso hatte sie die Aufgaben vom 16. und
19. 6. vergessen. Die Aufgabe vom 24. 6.: 21 298 : 463 aber wußte sie
noch. Hier ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß sie sich die letzte
Aufgabe auf der Abteilung öfters in Erinnerung gerufen hat. 18. 7. 17:
Patientin wußte noch die Aufgabe vom 5. 7. 16: 876 x 532 = 466 032.
Sie gab zu, daß sie heute über die Aufgabe nachgedacht habe. Immerhin
ist zu beachten, daß in dem 13 tägigen prüfungslosen Zwischenraum an
-drei Tagen hintereinander drei größere und drei kleinere Anfälle aufge-
treten waren. 31. 8. 16: Nach einer einstündigen Prüfung über Schul¬
kenntnisse wußte Patientin die gestrige Aufgabe noch richtig anzugeben:
63 527 636 — 20 244 123 = 43 283 513. 9.9.16: Sie erinnerte sich noch, abge¬
sehen von einem kleinen Fehler, an die Aufgabe vom 5. 9. 16: 568 221 103
— 369 783 827 = 168 437 276. Der Fehler bestand darin, daß sie 473
statt 437 angab. Wohlgemerkt, gestern hatte ich sie angewandte Auf¬
gaben rechnen lassen. 13. 11. 16: Nachdem sie 8256 x 6932 gerechnet
hatte, frug ich sie nach der Aufgabe vom 8. 11. 16. Sie wußte noch:
6324 x 2175 = 13 Millionen 700. Das übrige hatte sie vergessen.
Aus der Erinnerungsprüfung geht hervor, daß Patientin auch hierin
Außerordentliches leistet. Die ersten drei Aufgaben hafteten besonders
lange, wohl weil sie die Prüfung einleitend den nachhaltigsten Eindruck
auf Patientin gemacht hatten. Größere Aufgaben fangen mit fünf Tagen
an zu verblassen. Gewiß wird Patientin, sobald sie einmal bemerkt hatte,
daß ich ihr Erinnerungsvermögen prüfen wollte, sich die Aufgaben zwischen¬
durch ins Gedächtnis gerufen haben. Diesen Umstand suchte ich aber
dadurch möglichst auszugleichen, daß ich sie erst wieder neue Aufgaben
rechnen ließ, bevor ich am Schlüsse derselben oder auch erst am fol¬
genden Tage wieder auf die alte Aufgabe zurückkam.
Vergleich mit der Rechnungsart anderer Rechenkünstler-
Wisel hat den Fall einer Rechenkünstlerin veröffentlicht 1 ). Zum Ver¬
gleich habe ich unserer Kranken dieselben Aufgaben wie Wizel der seinigen
gestellt. Einige Beispiele daraus mögen genügen:
Vervielfältigung:
W.s Kranke:
unsere Kranke:
56 X 56 = 3136,
in 1
Sekunde,
in
30 Sekunden
99 X 99 = 9801,
„ 2
>>
:i
3 „
87 X 87 = 7569,
„ 6
91
11
2 Minuten
64 X 64 = 4096,
?
19
99
1 Vz „
77 x 77 = 5929,
H
11
11
45 Sekunden.
Wizel gab erst Aufgaben mit gleichnamigen Zahlen, dann mit ungleich¬
namigen :
*) Wizel, Ein Fall von phänomenalem Rechentalent bei einer Im¬
bezillen. Archiv f. Psychiatrie 1904, 38, S. 123.
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544
Ganter,
W.s Kranke:
unsere Kranke
16 X 37 = 592,
sofort,
in
1 Min.
28 X 14 = 392,
in 4 Sek.,
»>
10 Sek.
39 X 15 = 585,
„ 8 „
/>
15
56 X 18 = 1008,
„ 11 „
30 „
48 X17 = 816,
„ 12 „
n
30 „
Teilung:
FF.s Kranke: unsere Kranke:
576 :16 = 36, sofort, in 15 Sek.
336:16 = 21, „ „ 2 „
225 :15 = 15, „ „ 10 „
Beim Zusammenzählen und Abziehen versagte W.s Kranke vollständig.
Was nun die Art der Ausführung anbelangt, so zerlegte WCs Kranke die
Zahlen in Faktoren. W. fragte z. B., wie sie 36 x 36 = 1296 gerechnet
habe. Sie sagte nur 81 x 16, worauf W. annimmt, daß die Zerlegung so
war: 36 x 36 = 4x9x4x9 = 16 x 81 = 1296. Wie rechnete unsere
Kranke? 36x 3 = 108 + 0 = 1080; 36 x 6 = 216; 1080 + 216 =1296.
Also ganz wie auf der Tafel, die Zahlen untereinander geschrieben: 36
X 3
Was das Verfahren des Rechenkünstlers Inaudi betrifft, fand ich
in der Abhandlung von Wizel eine Aufgabe, wie sie Inaudi zerlegte:
325 X 638 = 207 350. Er rechnete so:
300 X 600 = 180 000 300 X 8 = 2 400
25 X 600 = 15 000 25 X 30 = 750
300 X 30 = 9 000 25 X 8 = 200
207 350.
Unsere Kranke löste diese Aufgabe in 17 Minuten in ihrer bekannten Weise:
600 x 325 = 325 x 6 (untereinander geschrieben und gerechnet wie auf
der Tafel) = 1950 + 00; 40 x 325 = 325 x 4 = 1300 + 0. Da sie
mit 40 statt mit 38 vervielfältigt hatte, zog sie 2 x 325 von 13 000
ab = 12 350. 195 000 + 12 350 = 207 350. Ein anderer Rechenkünstler,
Mondeux, zerlegte nach Wizel in folgender Weise: 2435 x 3648 = 24(00) x
36(00), 24(00) x 48, 35 x 36(00), 35 x 48. Einige Bemerkungen hierzu
wollen wir für die Zusammenfassung aufsparen.
Intelligenzprüfung. — Das Bild, das wir bisher von unserer
Kranken gewonnen haben, wäre unvollständig, wenn wir uns nicht auch
von ihrem gesamten geistigen Besitzstand, ihren geistigen Fähigkeiten
überhaupt Kenntnis verschaffen wollten. Hierzu dienen die verschiedenen
Methoden der Intelligenzprüfung. Den Übergang sollen angewandte
Rechenaufgaben bilden, die nicht mehr bloß ein mechanisches Rechnen,
sondern auch Nachdenken, Überlegen, Schließen verlangen. Viel ist es
freilich nicht, was wir der Kranken vorlegen können. Maße und Gewichte
kennt sie nicht. Ob sie das, wie sie behauptet, in der Schule nicht gehabt
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 545
habe, oder es vergessen hat, mag dahingestellt bleiben. Ich entnahm die
Aufgaben einem Rechenheft, das im 2. Volksschuljahr gebraucht wird 1 ).
Auch hier sagte ich ihr die Aufgabe vor, die sie im Kopfe lösen mußte.
1. 133 Pferde brauchen in 30 Tagen 9975 kg Heu. Wieviel macht
das auf einen Tag? — 332, Rest 15.
2. Ein Heuvorrat reicht für eine Kuh 6 Monate. Wieviel Monate
reichen damit 2 Kühe? — 3 Monate.
3. Wieviel Stunden hat der Januar? — 744.
4. Wieviel Dreimarkstücke bekommt man für 9 Zehnmarkscheine ? —
Sie rät herum, löst die Aufgabe auch nicht, als ich sie über die Geldsorten
belehrt hatte.
5. 6 Arbeiter pflastern eine Straße in 12 Tagen, wie lange braucht
1 Arbeiter? — Rät herum, sagt 2 Tage. Dann: Er muß arbeiten, bis er
Geld kriegt. Jeder muß so lange arbeiten, bis er stirbt. Nach einigen
Tagen komme ich wieder auf diese Aufgabe zurück und bemerke, daß 1
Arbeiter doch 6mal so lange arbeiten müsse, worauf sie antwortet: 6 Tage.
6. Welche Zahl ist um 3500 größer als 2500 ? — Die 500, wo hinter
die 2000 gerade ist, ist größer.
7. Zieht man von einer gewissen Zahl 2400 ab, so erhält man 7600.
Wie heißt die Zahl? — Dann sind es gerade 10 000 gewesen.
8. Ein Haufen Weizen wog 76 Pfund, ein Haufen Roggen 72 Pfund.
Um wieviel war der Roggen leichter als der Weizen? — 4 Pfund.
9. Wie lange reicht ein Pferd mit 550 1 Hafer, wenn es täglich 11 1
erhält? — 50 Tage.
10. Ein Vater ist 41 Jahre alt. Er sagt an seinem Geburtstage zu
seinem Sohne: „Heute bin ich gerade 4mal so alt wie du.“ Wie alt war
der Sohn? — 164 Jahre alt. 4x1 = 4 und 4 x 4 = 16. Ich dachte
4 x 41 zu nehmen.
11. Ein Mann rauchte täglich 6 Zigarren zu je 7 Pf. Wieviel Mark
kosteten ihm die Zigarren im Jahre? — 153 M. 30 Pf.
12. Wieviel Dreimarkstücke gibt es für einen Hundertmarkschein ? —
9 M., denn 3 x 3 M. sind 9 M. Von den 10 M. bleibt 1 M. übrig. (Hast
du schon einen Hundertmarkschein gesehen?) — Das sind 10 M.
Von den 12 Aufgaben brachte Patientin 5 nicht heraus. Charak¬
teristisch für ihr Rechnen war, daß sie ohne viel Nachdenken immer nur
vervielfältigen und teilen wollte, so daß es besonders anfangs Mühe machte,
sie an der Kandare zu halten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Aufgabe 10.
Hier berechnete sie für den Sohn, dessen Vater 41 Jahre alt ist, ein Alter
von 164 Jahren! Bei manchen Aufgaben (4, 5) verliert sie sich in ein
ödes Geschwätz. Aufgabe 2 ist vielleicht ein Zufallstreffer, besonders da
sie die ähnliche Aufgabe 5 nicht zu lösen vermochte. Alles in allem ge-
*) Büttners Rechenhefte, Ausgabe C, H. 2.
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546
Ganter,
nommen, zeigt es sich, daß unsere Patientin um so eher versagt, je mehr
Nachdenken eine Aufgabe verlangt. Wir wollen weiter sehen.
Fragen aus der Bibel. Da die Bibel in der Schule eingehend
behandelt und in den Predigten immer wieder darauf zurückgegriffen
wird, eignen sich Fragen hieraus gut sowohl zur Prüfung von Schulkennt¬
nissen als auch zur Verstandesprüfung. Mit geschichtlichen und geo¬
graphischen Fragen ist man meist bald zu Ende.
Was war vor 1917 Jahren? — Da war die Erschaffung der Welt,
Gott war allein auf der Welt.
Wann wurde J. Chr. geboren? — Am 24. Dezember, am Anfangs
der Welt. Das 1. Jahr nach der Welterschaffung kam J. Chr. auf die Welt.
Was war denn vorher? — Vorher war gar nichts.
Wann haben Adam und Eva gelebt? — Keine Antwort. *
Wer kam nach Adam? — Eva, dann Kain, Abel, dann Abraham
mit den Israeliten.
Wann wurde J. Chr. geboren? — Wie die 12 Monate zu Ende waren.
(Sie denkt offenbar an Weihnachten.)
Wann wurde J. Chr. geboren in Beziehung auf Adam? — J. Chr.
war vor Adam und Eva geboren.
Kennst du die Arche Noah? — Das habe ich gehört, aber vergessen.
Wer hat die Arche gebaut? — Simon.
Warum hat er eine Arche gebaut ? — Damit daß daraus eine Kirche
gebaut werde.
Hast du etwas von Moses gehört?— Ja, Moses hatte die Kirche
aus der Arche gebaut.
Die Zehn Gebote, die Sakramente, die üblichen Gebete kann sie gut
aufsagen.
Fragen über Zeitereignisse. Warum ist dieser Krieg ent¬
standen ? — Wenn einer sich wollte zum 1. Gott hingegeben haben.
Warum kamen die Russen? — Um die Menschen von Ostpreußen
totzuschießen.
Wer hat denn die Russen geschickt? — Der 1. Gott, denk ich auch,
der 1. Gott hat es dem Kaiser angegeben, und dann hat er die Russen ge¬
schickt.
Welcher Kaiser ist das? — Ich denke der Kaiser von Berlin, denn
von andern kenne ich keinen Kaiser. Der 1. Gott hat doch angegeben,
daß erst der Kaiser sollte zu hören kriegen, wie es sollte sich darauf be¬
denken können, wie es mit dem Kriege zu bestehen hatte sich. Ob es sollte
geschehen werden oder gar nicht.
Witzmethode (nach Vf.) 1 ). Schneider: „Jetzt ist der Kerl über alle
1 ) Cimbal hat diese Methoden zusammengestellt in seinem Taschenbuch
zur Untersuchung nervöser und psychischer Krankheiten. Berlin 1913.
Ferner Gregor, Leitfaden der experimentellen Psychopathologie. Berlin 1910.
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
547
Berge, ohne mir den Anzug bezahlt zu haben. Wenn ich das gewußt hätte,
hätte ich 20 M. mehr gerechnet.“ — Da hat der wohl was haben wollen.
Sprichwörtermethode (nach Finkh). Der Krug geht so lange
zum Brunnen, bis erbricht.—Wer der Krug möchte sein, das weiß ich nicht.
Ich denke, es ist wohl der Tod.
Satzbildung (nach Maßeion). Vogel — Nest — Baum. — Der
Vogel hat ein Nest am Baum. Wasser — Berg — Tal. — Manches
Wasser liegt zwischen Berg und Tal.
Ergänzungsmethode (nach Ebbinghaus). (Die eingeklammerten
Silben und Worte sind von der Kranken ergänzt.)
Da kam ei(ne) arme Wit(we) aus (Danzig) Nachbar (hieß), der
mein Va(ter) in bes(sere zu die) Zeiten eini(ges) (ge)tan hatte. Die bat
mei(ne) Mutter, (gut) zu stehen und mit (ihres) in die Hüt(te) zu gehen.
Sie wollte (es) los [statt les] mit ihr tei(len), sag(te) sie, was sie (in) ih(re)
Armut hät(te).
Unterschiedsfragen. Unterschied zwischen Treppe und Leiter?
— Für jeden Menschen braucht man die Treppe. Die Leiter brauchen die
Maurer, auch der Schornsteinfeger.
Zwischen Geiz und Spaisamkeit? — Geizig ist man, wenn eins von
meinen Geschwistern bitten kommt, und man würde ihm nichts geben.
. Sparsamkeit, das ist so wie dem Nächsten zur Freude zu bringen.
Zwischen Borgen und Schenken? — Richtige, wenn auch umständ¬
liche Erklärung.
Fragen über Ursache und Wirkung. Warum ist es tags hell
und nachts dunkel? — Die Tage sind zur Arbeit von morgens bis abends,
wo es hell ist. Die Nächte sind dazu wie auszuruhen. Warum bleibt die
Uhr stehen ? — Weil die Uhr sollte aufgezogen werden.
Verblüffungsfragen. Was ist schwerer, ein Pfund Blei oder ein
Pfund Federn ? — Sie sagt natürlich ein Pfund Blei.
Auf derlei Fragen ist übrigens nichts zu geben, da auch bessere
Leute darauf hereinfallen.
Erklärung eines Gedichtes. Pat. sollte ein einfaches Gedicht
durchlesen und es erklären. (Kurzer Inhalt: Ein Greis schleppt wankend
eine schwere Bürde einen Waldweg hinan, ein Knabe springt ihm bei und
hilft ihm die Bürde tragen.) — Ein Waldweg wankt ihn an, und sauer wird
ein armer Mann. Das stand so darin geschrieben auch. Sowie das Ganze
habe ich mir nicht durchgelesen von oben an.
Briefstellen. Als Probe für die umständliche, teilweise wunder¬
liche Ausdrucksweise und verzwickte Satzbildung der Pat. möge eine
Stelle aus einem ihrer Briefe dienen:
Liebe Mutter wenn ich jetzt sollte auch was von mir zu euch wirklich
sagen da frage ich euch wie es mit euch zu Mute geht. Denn es geht mir ganz
gut im Leben, u. die liebe Mutter ich wünsche auch Hans von meinen
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548
Ganter,
Herzen wenn er sollte im Monate April auf diesem Jahr anfang zu Unter¬
richt gemacht haben wie so bis jetzt er würde noch immer gehen müssen,
dann wünsche ich ihm, das er sollte mit diese schönste Freuden so wie
auf diesem Monat im September zu diese Woche auf diesen Feiertag 1 oder
auf dem Sonntag das allerschönste Sakramente des Altares wie schön er
mit den Freuden er es empfangen sollte wünschte ich es ihm auch von
meinen ganzen Herzen zu die Gesund und zu die Freundlichkeit ich es ihm.
Prüfung von Gedächtnis und Merkfähigkeit. — Im An¬
schluß an die Intelligenzprüfung mögen auch diese beiden Fähigkeiten
eine kurze Würdigung erfahren. Der Vergleich ist besonders wichtig mit
Rücksicht auf das Zahlengedächtnis.'
Ich gab der Pat. ein Gedicht zum Auswendiglernen auf: Der Tag
des braven Kindes. Es wird darin das Aufstehen, Beten, in die Schule
gehen, kurz das ganze Tagewerk eines Kindes in einfachen Versen be¬
schrieben. Das Gedicht umfaßte 10 Strophen zu je 4 Zeilen.
Pat. lernte von vormittags bis abends mit Unterbrechungen, zu¬
sammen etwa 5 Stunden. Am folgenden Tage sagte sie es auf, wobei ich
zweimal nachhelfen mußte. Nach weiteren 3 Tagen, wobei an einem
Tage noch gerechnet worden war, mußte ich ihr beim Hersagen zehnmal
nachhelfen.
Die Intelligenzprüfung ergibt, daß Pat. auf diesem Gebiete so gut
wie versagt. Einfache angewandte Aufgaben löst sie noch, wenn auch ein
Zufallstreffer darunter sein mag. Bei "nur einigermaßen Nachdenken
verlangenden Aufgaben kommt sie nicht zum Ziele. Aus der Bibel haften
in ihrem Gedächtnis noch verschiedene Tatsachen, aber alles geht ihr bunt
durcheinander im Kopfe herum. Es ist nicht die geringste Fähigkeit,
die Tatsachen logisch miteinander zu verknüpfen, vorhanden. Auch die
Zeitereignisse sind ihr ein Buch mit 7 Siegeln. Sie befindet sich zwar ja
nicht auf der geistreichsten Abteilung, trotzdem hätte man etwas mehr
Wissen erwartet für die Zeit, da die Russen die Anstalt mit Granaten be¬
dachten. Aber das hat weiter keinen Eindruck auf sie gemacht. Mit
Witzen und Sprichwörtern weiß sie nichts anzufangen. Von einem dem
kindlichen Verständnis angepaßten Gedichte vermag sie nicht einmal
den Inhalt, geschweige denn die Nutzanwendung anzugeben. Dabei
kommt es weniger darauf an, daß sie keine Antwort weiß, als darauf,
wie sie antwortet: meist der reinste Wortsalat. Am besten gelingen ihr
noch die Unterschiedsfragen, die Satzbildung und die Wortergänzung,
letztere freilich nur da, wo die zu ergänzende Silbe einem sozusagen auf
der Zunge liegt. Charakteristisch sind ihre Briefe: dieser Haufen Worte,
diese umständliche, weitschweifige, verschrobene, Worte zu Ende des
Satzes wiederholende Ausdrucksweise, aus der man nur mit Mühe heraus¬
bringt, was sie eigentlich sagen will: das ist typisch epileptisch.
Gedächtnis und Merkfähigkeit der Pat. für andere Dinge als Zahlen
bleiben unter dem Durchschnitt. Es kostet ihr ziemliche Anstrengung,
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
549
bis sie ein einfaches Gedicht auswendig kann. Auch entschwindet es
ziemlich bald wieder ihrem Gedächtnis.
Für die Schwerbeweglichkeit und mangelnde Lernfähigkeit ihres Geistes
mag folgendes Beispiel dienen: Nachdem Patientin etwa fünf Monate nicht
mehr gerechnet l\atte, gab ich ihr folgende Aufgabe: 4897 x 9320. Sie
löste sie richtig: 45 640 040, diktierte aber wieder trotz aller früheren Be¬
lehrung: 45 Millionen 6 Hundert mit 40 Tausend, darauf die 40.
Zusammenfassung. — Vergegenwärtigen wir uns noch ein¬
mal die Rechenkunst unserer Patientin, so finden wir folgendes: Sie
vervielfältigt:
eine 2stellige Zahl mit einer 2stelligen in \ —1^ Minuten,
n
o
77
7?
71
77
&
71
11
—*2*
77 1
r>
3
r>
77
77
11
3
17
11
18
„ (dann in 10),
7?
4
71
71
77
17
4
71
71
35
11 1
71
7
77
77
71
71
2
71
77
45
71 1
Sie teilt eine östellige Zahl durch eine 3stellige in 5£ Minuten,
eine 7stellige Zahl durch eine 3stellige in 17 Minuten. Sie zählt 6
3stellige Zahlen in 16 Minuten zusammen. Sie zieht eine 8stellige
Zahl von einer 8stelligen in 11 (18) Minuten ab.
Vergleichen wir mit der Rechenkunst unserer Kranken den Fall
Wizels, so zeigt sich, daß die Leistungsfähigkeit seiner Kranken weit
hinter der der unsrigen zurückbleibt. Wohl vervielfältigt sie
2stellige Zahlen, besonders wenn sie gleichnamig sind, rascher als
unsere Kranke (in 3—12 Sekunden), mitunter so rasch, daß Wizel
selbst glaubt, sie habe das Ergebnis schon fertig im Kopfe. Sie kann
auch noch eine 3stellige Zahl mit einer einstelligen vervielfältigen.
Damit aber ist ihre Fähigkeit zu Ende. Teilen geht schlecht, Zusammen¬
zählen und Abziehen kann sie überhaupt nicht. Demgemäß ist ihr
Rechentalent gegenüber dem unserer Kranken recht beschränkt.
Damit wollen wir aber ihre Fähigkeit nicht gering einschätzen, beson¬
ders da es sich um eine verblödete Kranke handelt*, aus deren geistigen
Trümmern ein immerhin bedeutendes Rechentalent hervorragt. Der
Fall gehört übrigens nicht, wie Wizel meint, zur Imbezillität, sondern
zum sogenannten sekundären Blödsinn. Die Kranke entwickelte sich
bis zum 7. Jahre normal, erst an einen Typhus schloß sich die Ver¬
blödung an. Ihr Rechentalent muß natürlich angeboren gewesen sein,
und ich nehme an, daß sie sich zu einer großen Rechenkünstlerin
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550
Ganter,
entwickelt haben würde, wenn nicht die Krankheit alles bis auf einen
allerdings noch recht bedeutenden Best zerstört hätte.
In der Literatur sind noch verschiedene Fälle auffälliger Gedächtne-
leistungen bei Schwachsinnigen veröffentlicht worden, so von Berkhan *).
van der Kolk und Jansens *). Der Imbezille von Berkhan vervielfältigte
bis zu 4stelligen Zahlen. Doch scheint er lange nicht das geleistet zu
haben wie unsere Kranke. Die Gedächtnisleistungen der meisten der von
den Autoren angeführten oder geschilderten Schwachsinnigen liegen auf
einem andern, wenn auch benachbarten Gebiet: ungewöhnliches Gedächt¬
nis für Kalenderdaten und Namen oder fremdsprachliche Worte. Allen
diesen Gedächtniskünstlern eigentümlich aber ist, wodurch sie eben be¬
sonders auffallen, der Gegensatz der einseitig entwickelten Fähigkeit und
der mangelhaft oder gar nicht entwickelten Geisteskräfte auf andern Ge¬
bieten. Auch unsere Kranke muß ja auf Grund der Intelligenzprüfung
als schwachsinnig bezeichnet werden, wenn sie auch da, soweit eine Beur¬
teilung nach den Angaben der mir vorliegenden Literatur möglich ist,
immerhin noch höher steht als ihre Kollegen. Daß man aber nicht gerade
schwachsinnig sein muß, um ein auffallendes Gedächtnis zu besitzen, zeigt
mir der Fall eines von Hansjakob erwähnten Pfarrers*).
Wir haben oben schon bemerkt, daß es sich bei der Rechenkunst
und dem Gedächtnis für Kalenderdaten, Namen und dergleichen um
benachbarte Gebiete, also nicht um ein einheitliches Gebiet handelt.
In der Tat gibt es Fälle von Schwachsinnigen mit einem hervorragen¬
den Gedächtnis für Kalenderdaten, die auf dem Gebiete des Rechnens
gar nichts leisten, z. B. der Fall van der Kolks , der nicht einmal 2x3
ausrechnen konnte. Unsere Kranke dagegen hat weder Interesse
noch Verständnis für Kalenderdaten gezeigt.
Wenn wir uns umsehen wollen, mit wem sich die Rechenkunst
unserer Kranken vergleichen läßt, so müssen wir schon über die rein
*) Berkhan , Uber talentierte Schwachsinnige. Ztschr. für die Erfor¬
schung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns 1912, Bd. 5.
*) Van der Kolk und Jansens, Außergewöhnliche Hypermnesie für
Kalenderdaten bei einem niedrigstehenden Imbezillen. Allg. Ztschr. f.
Psych. 1905, Bd. 62 S. 347.
*) Hansjakob, Verlassene Wege. Stuttgart 1902. H. erzählt (S. 276):
Der Pfarrer Strahl ist ein merkwürdiger Zahlenkünstler. Er kann von
jedem Kalenderdatum sagen, auf welchen Wochentag dasselbe fiel, auch
in vergangenen Jahrhunderten, und zwar sofort oder nach kürzestem Be¬
sinnen. Er sagte mir auch, daß seine Kunst weniger auf Berechnung als
auf innerer Anschauung beruhe, d. h. er sehe den Kalender des betreffen¬
den Jahres gleichsam vor seinem geistigen Auge aufgeschlagen.
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
551
psychiatrischen Fälle hinausgehen. Es ist kein Zweifel, daß sie den
großen Rechenkünstlern überhaupt zuzuzählen ist, also einem Dase,
Inaudi, Diamandi, die im vorigen Jahrhundert lebten. Der Piemontese
Inaudi und der Grieche Diamandi haben ihren Schilderer in Bine t
gefunden 1 ). Da ich das Buch Binela nicht kenne, sondern nur aus
zweiter Quelle schöpfe, so kann ich auch nicht angeben, welches die
Höchstleistungen dieser Rechenkünstler waren. Ich habe nur gelesen,
daß Inaudi am Ende seiner Rechnungen 300 Ziffern, die von verschiede¬
nen Aufgaben stammten, wiederholen konnte, daß Dase 2 Zahlen,
jede von 20 Ziffern, in 6 Minuten, von 40 Ziffern in 40 Minuten, von
100 Ziffern in 8 3 / 4 Stunden miteinander vervielfältigte 2 ). Soweit
hat es allerdings unsere Kranke nicht gebracht. Wenn ich sie trotzdem
zu den ersten Rechenkünstlern rechne, so geschieht das aus folgenden
Gründen; Die großen Rechenkünstler üben sich ständig, sie gehen
ganz in ihren Zahlen auf, sie haben für nichts anderes Interesse. Durch
diese stete Übung sammeln sie ein fertiges Zahlenmaterial in ihrem
Kopfe an und kommen auf allerlei Kunstgriffe, die ihnen das Arbeiten
mit großen Zahlen außerordentlich erleichtern. Und unsere Kranke ?
Sie hat sich, abgesehen von der auf etwa 6 Monate sich erstreckenden
Prüfung, nie mit Zahlen beschäftigt. Selbst in der Schule war nie
eine besondere Vorliebe für Zahlen an ihr aufgefallen, abgesehen
davon, daß sie eben besser im Kopf rechnen konnte als die andern.
Und so war es die ganze Reihe von Jahren, seit ich die Patientin kenne,
bis ich sie durch einen Zufall entdeckte. Und jetzt, nachdem die Rechen¬
prüfung vorüber und ich mich nicht mehr mit ihr beschäftige, ist sie
wiederum die alte, die strickt, gelegentlich sich zankt, ihre Anfälle
bekommt und mitunter einmal den Wunsch äußert, einen Brief zu
schreiben. Wie groß muß demnach ihr Zahlengedächtnis sein, wenn
sie, durch die Prüfung plötzlich aus ihrem täglichen Einerlei aufge¬
rüttelt, mit derartigen Zahlenreihen arbeiten kann, wie sie solche in der
Schule kaum auf der Tafel hat rechnen müssen. Dabei bedient sie
sich keinerlei Kunstgriffe; sie rechnet einfach schlechtweg wie auf der
Tafel. Nach alledem glauben wir nicht zu viel gesagt zu haben, wenn
Binet, Psychologie des grands calculateurs et joueurs d’6checs.
Paris 1894.
*) Ahrens, Rechenkünstler. Die Naturwissenschaften. 1914, 2. Jg,
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552
Ganter,
wir unsere Kranke in eine Linie mit den großen Rechenkünstlern
stellen.
Wir haben erwähnt, daß unsere Patientin nie eine besondere
Vorliebe für Zahlen an den Tag gelegt hat. Das will aber nicht heißen,
daß sie über das Rechnen keine Freude empfunden hätte. Wie die
Ausübung jedes Talentes Vergnügen bereitet, so ging auch unsere
Patientin bereitwillig an ihre Aufgabe heran und strahlte vor Ver¬
gnügen, wenn sie sie richtig gelöst hatte, und ebenso freudig teilte sie
es ihrer Umgebung mit. Anders dagegen war ihr Verhalten, wenn ich
mit der Intelligenzprüfung kam. Da wurde ihr Gesicht immer länger,
mißmutiger, verdrießlicher, und schließlich schützte sie Kopfweh vor,
um der ihr unangenehmen Sache zu entgehen.
Noch ein wichtiger Umstand — und dieser stempelt unseren Fall
zu einem bis jetzt einzig in r der Literatur dastehenden — darf bei der
Beurteilung unserer Kranken nicht außer acht gelassen werden; sie
leidet seit früher Jugend an typischen, etwa alle 3 Wochen mehrmals
hintereinander auftretenden epileptischen Anfällen. Wir wissen, wie
sehr epileptische Anfälle gerade die Gedächtniskraft zu schädigen
pflegen, dem Zahlengedächtnis unserer Kranken aber haben sie nichts
anhaben können. Dies ist ein Beweis dafür, wie tief die Anlage für
das Zahlengedächtnis im Gehirn unserer Kranken verankert «ein muß.
Des weiteren dürfte wohl dieser Umstand dafür sprechen, daß das
Zahlengedächtnis an eine bestimmte Stelle im Gehirn gebunden ist.
In Hinsicht auf die Epilepsie steht, wie gesagt, unsere Kranke
einzig da, den Schwachsinn (vollständiger Mangel der Fähigkeit zum
Urteilen und Schließen) teilt sie mit andern Rechenkünstlern. In
welcher Beziehung steht nun hier die Epilepsie zum Schwachsinn?
Am wahrscheinlichsten ist mir, daß beide auf eine gemeinsame Grund¬
ursache zurückzuführen sind. Die degenerative Anlage spielt wohl
die Hauptrolle. Patientin ist durch die Trunksucht des Vaters und
durch die Zufälle von dessen Schwester erblich belastet, weist eine
Reihe Degenerationszeichen auf, ist in der ganzen Entwicklung zurück¬
geblieben. Ob sonst eine Schädigung des Gehirns stattgefunden haben
mag ? Patientin ist linkshändig, die Sehnenreflexe links sind dauernd
gesteigert.
Einen derartig degenerativen Boden scheint Krafft-Ebing für das
Rechentalent der Schwachsinnigen geradezu vorauszusetzen. Das
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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
553
geht wohl zu weit, aber einverstanden kann man sich mit ihm er¬
klären, wenn er in dem Zahlengedächtnis etwas Instinktives sieht,
was übrigens von jedem Talent gilt. Für das Instinktive sprechen
auch die von Binet erwähnten Fälle, wo diese Fähigkeit in einem ver¬
blüffend frühen Alter sich äußerte. Mit derselben Gewandtheit, mit
der das eben dem Ei entschlüpfte Hühnchen sofort Körner aufpickt,
vermag der Rechenkünstler mit den ihm gebotenen Zahlen zu arbeiten.
Die Übung braucht dabei, wie in unserem Falle, nur eine geringe Rolle
zu spielen, wo sie aber stattfindet, befähigt sie den Rechenkünstler zu
fabelhaften Leistungen. Wenn Binet meint, die Rechenkünstler ver¬
lieren ihre Fähigkeit, wenn sie nicht ständig üben, so widerspricht dem
unser Fall. Auch Inaudi hat nur in gewissem Sinne recht, wenn er
von sich selbst sagt, er verliere viel von seiner Rechenfähigkeit, wenn
er einen Monat in Büchern studiere. Er verliert wohl die auf den
Kunstgriffen beruhende Schnelligkeit des Rechnens, nicht aber das
Rechentalent selbst. Das gilt ja überhaupt von jedem angebore¬
nen Talent.
Binet und Charcot haben untersucht, in welcher Weise die Zahlen
bei den Rechenkünstlern haften. Jnaudi eignete sich die Zahlen am
besten durchs Gehör an, Diamandi durch den Gesichtssinn. Berkhans
Fall rechnete kleinere Zahlen nach dem Gehör, größere nach Gesichts¬
eindrücken. Was unsere Patientin betrifft, so habe ich ihr die Auf¬
gaben immer nur vorgesagt, die sie dann nachsprach, bis sie sie richtig
wiedergab. Jetzt saß sie da, den Kopf leicht zur Seite gewandt, in
die Ferne blickend und flüsternd. Erklärte sie mir dann zuletzt ihre
Rechnungsweise, so machte sie bisweilen eine ausfahrende Bewegung
mit dem linken Arm, als ziehe sie einen Strich unter die Zahlen, die sie
zusammenzählte oder abzog. Dies ganze Verhalten spricht dafür,
daß Patientin mit dem Gehörs- und dem Gesichtssinn, mit dem
motorischen Apparat der Sprachwerkzeuge und des Armes (Schreib¬
bewegungen) arbeitete, also mit allen den Sinnesorganen, den Wegen,
auf denen beim Lernen die Eindrücke dem Gehirn übermittelt
werden. Sie rechnet ja auch ganz wie auf der Tafel.
Noch ein Wort über die ästhetische und nützliche Seite dieser
Rechenkunst. Vergnügen an seiner Kunst hat wohl nur der Rechen¬
künstler selbst, der Zuhörer nur so lange, als die erste Verblüffung
dauert. Ich für meinen Teil könnte wenigstens nicht behaupten, daß
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554 Ganter, Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
ich den umständlichen Auseinandersetzungen unserer Patientin mit
besonderem ästhetischen Vergnügen gefolgt wäre. Die Rechenkunst
ist eben ganz im Gegensatz zur musikalischen, zeichnerischen, male¬
rischen Kunst eine stiefmütterliche, trockene Kunst. Und bringt sie
etwa Nutzen ? Ist sie dem Besitzer irgendwie förderlich ? Abgesehen
davon, daß die öffentlich auf tretenden Rechenkünstler sich durch
ihre Kunst eine gewisse Einnahmequelle verschaffen, wüßte ich nicht,
wie. Und auch die großen Mathematiker, die wie Gauß, Euler u. a.
zugleich große Rechenkünstler waren, haben von dieser Kunst keine
wesentliche Förderung erfahren. Man rechnet eben trotz alledem
ebenso schnell und dabei viel sicherer auf dem Papier.
Und unsere Patientin ? Die Kunst geht nun einmal nach Brot.
Umsonst wollte sie ihr Licht auch nicht leuchten lassen, aber sie ver¬
langte recht bescheiden nur Süßigkeiten, das erste und wohl auch
das letzte Honorar, das sie für ihre Kunst bekommen hat.
Mag der ästhetische Genuß, der materielle Nutzen wegfallen,
eines bleibt: das Interesse der Wissenschaft. Wie jede Naturerschei¬
nung ist auch das außerordentliche Zahlengedächtnis, die Rechen¬
kunst, um ihrer selbst willen Gegenstand der Wissenschaft und der
eingehendsten Untersuchung wert.
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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse
mit besonderer Berücksichtigung der Augen¬
symptome 1 ).
Von F. Hassels.
Den ersten Fall juveniler Paralyse beschrieb 1877 Clousion.
Drei Jahre später veröffentlichte Mendel einen ebensolchen Fall,
den er allerdings weiterer Bestätigung für bedürftig erklärte. 1892
machte Gudden eine Zusammenstellung von 20 Fällen, die meist der
englischen und französischen Literatur entnommen waren. Hierauf
erfolgte im Jahre 1896 die epochemachende Arbeit Alzheimers , in
der 38 Fälle zusammengestellt waren unter Hinzufügung dreier eige¬
ner Beobachtungen. Weitere kasuistische Beiträge und Zusammen¬
stellungen folgten, so daß 1912 die Zahl der bis dahin veröffentlichten
Fälle schon 270 überstieg.
Diese ständige Zunahme ist nicht etwa durch ein gesteigertes
Vorkommen von juveniler Paralyse, sondern durch die bahnbrechen¬
den Arbeiten von Nissl und Alzheimer bedingt, die auf histologischem
Gebiete eine schärfere Diagnostik ermöglichten. Hinzu kam ferner
die Entdeckung von der Vermehrung des Zell- und Eiweißgehaltes
im Liquor, sowie die Wassermannsche Reaktion, deren Bedeutung
für die Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit noch durch das
Auswertungsverfahren Hauptmanns an Wert gewann.
Als Ursache der juvenilen Paralyse wird wohl jetzt allgemein die
Lues angesehen, und zwar meist die Lues hereditaria. Es wird dabei
unter juveniler Paralyse einzig und allein die Paralyse des Jugend¬
alters verstanden, d. h. des ersten und zweiten Dezenniums.
Es ist die Forderung aufgestellt worden, nur die Paralyse, deren
*) Aus der psychiatrischen Klinik der Universität zu Frankfurt a. M.
Direktor: Geh.-Rat Prof. Dr. Sioli.
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556
Hussels,
Ätiologie die Lues hereditaria ist, als juvenile zu bezeichnen, alle andern
Formen der der Erwachsenen gleichzustellen. Eine Infektion nach der
Geburt etwa durch die Amme oder, wie Hoffmann Fälle beschreibt, durch
Kontaktinfektion mit kranken Kindern, würde also eine Paralyse in letzte¬
rem Sinne, d. h. der Paralyse der Erwachsenen gleichzustellende ergeben,
wenn sie auch im juvenilen Alter zum Ausbruch kommt. Die Unter¬
scheidung nach dem Zeitpunkt der Infektion (intrauterin oder nach der
Geburt erworben) stößt praktisch auf große Schwierigkeiten, und es
empfiehlt sich daher, alle in den beiden ersten Dezennien beginnenden
Paralysen als juvenil zu bezeichnen. Auch sind Fälle von Paralysen im
4.—5. Dezennium beschrieben, denen angeblich eine Lues hereditaria zu¬
grunde liegen sollte. So berichtet v. Höslin über eine 52jährige Virgo
intacta mit unverletztem Hymen, die mit tabischen Symptomen er¬
krankte und positiven Wassermann im Blut aufwies. Der Vater war mit
36 Jahren an Paralyse gestorben, und die Mutter der Patientin hatte vor
dieser Geburt 3 Aborte gehabt; ein späteres Kind starb mit 7 Jahren an
Krämpfen. Es bleibt dabei immer noch die Möglichkeit eines latent
gebliebenen bzw. nicht erkannten Primäraffektes übrig, der im späteren
Leben erworben ist, und man kann in derartigen Fällen niemals mit Sicher¬
heit behaupten, daß die hereditäre Lues die in späteren Jahren auftretende
Paralyse verursacht hat. Einmal müßte festgestellt werden, daß tat¬
sächlich eine hereditäre Lues bestanden hat, dann aber auch eine In¬
fektion im späteren Alter (man muß auch an nicht erkannte, besonders
extragenitale Infektionen denken) unbedingt ausgeschlossen werden; ja,
man muß mit der Möglichkeit rechnen, daß eine kongenitale Lues zur
Ausheilung gelangt ist und bei demselben Individuum eine Reinfektion
eingetreten ist, die dann zur Paralyse geführt hat. Die Entscheidung ist
namentlich für alle Fälle schwierig, die an der Altersgrenze der juvenilen
Paralyse liegen, die ihr Maximum nach Alzheimers Statistik im 15.—16.
Lebensjahre hat. Da die Inkubationszeit beim Erwachsenen 10—15 Jahre
vom Primäraffekt an gerechnet bis zum Ausbruch der Paralyse dauert,
so hätten wir das Maximum im 35.—45. Jahre zu erwarten. Das 15.—35.
Lebensjahr müßte dann beinahe frei sein. Eine Paralyse während dieses
Alters könnte dann auf einer Lues hereditaria beruhen, die relativ spät
zur Paralyse geführt hat. Weiter ist dabei die Tatsache zu berücksichtigen,
daß die Paralyse nicht in jedem Falle 10—15 Jahre nach der Infektion
beginnt, sondern auch schon früher einsetzen kann. So wäre der Fall
denkbar, daß eine Infektion mit 12 Jahren erfolgt, die bereits mit 17 Jahren
zur Paralyse führt; indes wäre dies ein Ausnahmefall, da so kurze Zwischen¬
räume zwischen Infektion und Ausbruch der Paralyse nur sehr selten Vor¬
kommen. Indes beschreibt Marchand einen Fall, wo 2 Jahre nach dem
Primäraffekt eine Paralyse, Nonne einen Fall, wo schon 1V» Jahre post
infectionem die ersten tabischen Symptome, ferner einen andern Fall,
wo durch Verletzung mit einer Nadel unter Überspringen der Initialsklerose
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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw.
557
nach 2 Monaten Roseolen und Schleimhautpapeln auftraten, denen nach
3 Jahren die ersten Tabessymptome folgten.
Wenn wir auch eine Reihe Merkmale bei der juvenilen Paralyse
haben, die der der Erwachsenen nicht oder nur in beschränkter An¬
zahl oder in geringerer Stärke zukommen, und auf die später noch
näher eingegangen werden soll, so sind wir vorläufig doch noch nicht
imstande, aus dem klinischen Bilde zu unterscheiden, ob die Para¬
lyse auf hereditärer oder etwas später erworbener Syphilis beruht.
Natürlich wird der Einfluß der Lues auf den Organismus ein ver¬
schiedener sein, je nachdem die Infektion während des fötalen Le¬
bens in den ersten Lebensjahren oder erst später erfolgt ist. Während
in einem Falle die Lues auf einen noch in der Entwickelung begriffe¬
nen und leichter zu beeinflussenden Körper einwirkt, findet sie im
Alter den fertig entwickelten Organismus vor. Nun führt nicht jede
Lues hereditaria zur Paralyse, ebenso wie die Paralyse nicht jedem
Primäraffekt der Erwachsenen folgt. Mattauschek und Pücz ,
die das Schicksal von 4134 an Syphilis erkrankten österreichischen
Offizieren verfolgten, stellten an Hand der Akten fest, daß bis 1. Ja¬
nuar 1912 113 an Tabes, 132 an Lues cerebrospinalis und 198 an
Paralyse erkrankt waren, d. h. ungefähr 9,3 % an Paralyse und Tabes
und ungefähr 3,3 % an Lues cerebrospinalis. Einzelne Momente, die
man beim Erwachsenen als Hilfsursachen herangezogen hat, fallen
bei der juvenilen Paralyse von selbst weg, so Alkoholismus, sexuelle
Exzesse, geistige und körperliche Überanstrengungen. Das Trauma
spielt auch hier eine ganz untergeordnete Rolle und kommt höchstens
als auslösendes Moment in Frage, wenn es nicht gar sekundär durch
die bis dahin der Umgebung nicht aufgefallene Unsicherheit bedingt
ist oder gar der erste paralytische Anfall war. Es bleiben die Heredität
und die Disposition übrig, und man kann bei dieser Frage all das
Für und Wider anführen, wie es bei der Paralyse der Erwachsenen
geschehen ist.
Während Fournier sagt, daß neuropathische Belastung gar keine
Rolle spielt — er selbst fand in 112 Fällen nur 2mal nervöse Belastung,
trotzdem er ausdrücklich danach gesucht hatte —, sind ändere Autoren
der Ansicht, daß hereditäre Belastung und Disposition des Nervensystems
für die Entstehung der Paralyse bei Syphilitikern ausschlaggebend sei.
Auch bei der juvenilen Paralyse können wir zur Frage der Disposition
eine Kombination verschiedener ätiologischer Momente: psychopathische
Zeitschrift für Psjohlstrie. LXXIII. 6. 39
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558
Hassels.
Belastung, Polatorium der Eltern, schlechte soziale Verhältnisse — an-
nehrnen, ohne jedoch damit etwas zu erklären. Besonders daß man
nicht selten dieselbe Erkrankung bei Eltern und Kindern antrifTt, hat
man als Beweis der hereditären Anlage angeführt. Diese Tatsache könnte
man auf zweierlei Weise erklären, einmal durch Vererbung der Disposition,
zweitens durch die Existenz eines besonderen Luesstammes (Lues ner¬
vosa;, der häutiger zur Paralyse bzw. Tabes führt, über einen derartigen
Pall wird weiter unten berichtet werden.
Der Gedanke, die Paralyse als metasyphilitische Erkrankung de-
Gehirns aufzufassen, etwa ähnlich der postdiphtherischen Lähmung, allein
bedingt durch Toxine, die das Nervensystem elektiv schädigen, ist hin¬
fällig geworden, seitdem Noguchi als erster Treponemen im Paralytiker¬
gehirn nachwies. Förster und Toniacewsky gelang es danach, im Hirn-
punktat lebender Paralytiker in 44% Treponemen nachzuweisen. Ferner
konnte A. Marie und Levadili aus dem Blut eines Paralytikers einen
Treponemenstamm auf Kaninchenhoden züchten; auch Marinesco be¬
richtet über Erzeugung einer Skrotum-Initialsklerose am Kaninchenhoden
infolge von Injektionen von Liquor cerebrospinalis eines Kranken mit
juveniler Paralyse nach Lues hereditaria, der positiven Wassermann
im Blut und Liquor aufwies; auch das nach Neißer und Pollak gewonnene
Hirnpunktat zeigte bewegliche Treponemen. Levaditi fand ferner, daß
das Virus des von ihm gezüchteten Stammes von dem Truffischen Virus
sich durch die längere Inkubationszeit, durch die geringere Heilungstendenz
des Primäraffektes und die Nichtpathogenität für Allen unterschied; beson¬
ders wichtig ist, daß ein mit Virus Truffl genesenes Tier mit diesem Paralyse¬
stamm reinfiziert werden konnte, während es sonst immun blieb. Wenn aus
diesen Versuchen Levaditis fast mit Notwendigkeit das Postulat eines besonde¬
ren Stammes von Treponemen hervorgeht, so war diese Annahme auch durch
klinische Tatsachen anscheinendgestützt. 1903 machte Brosius die „aufsehen¬
erregende“ Mitteilung, daß von 7 im März 1891 vermittelst einer Glas¬
pfeife angesteckten Männern 4 an Tabes bzw. Paralyse erkrankt waren,
einer freigeblieben war, während die andern sich der Beobachtung entzogen.
Der Versuch, bei mehreren Paralysen den gleichen Ausgangspunkt zurück¬
konstruieren zu wollen, stößt natürlich auf ungeheure Schwierigkeiten
und ist bei positivem Ausfall immer nur bedingt zu verwerten; auch Nonne
konnte 3 Freunde beobachten, die bei derselben Puella kodiert hatten,
und wovon der eine später tabisch, die beiden andern paralytisch wurden.
Erb und Mörchen beschrieben ähnliche Fälle, woraus hervorzugehen scheint,
daß einige bestimmte Giftquellen besonders deletür für das Nervensystem
sind. Andrerseits beobachtete aber Nonne verschiedene Familienmitglieder,
die sich an verschiedenen Quellen syphilitisch infizierten und trotzdem alle
organisch nervenkrank wurden, eine Tatsache, die wieder für Disposition
und Heredität spräche. Wichtig erscheint auch die von verschiedenen Be¬
obachtern gemachte Angabe eines leichteren Verlaufs der Syphilis, wenn sie
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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 559
später zur Paralyse führt, wie denn auch umgekehrt die Lues maligna mit
schweren tertiären Haut- und Knochenerkrankungen einen Schutz gegen
spätere Tabes und Paralyse gewährt. Daher finden wir auch beim Para¬
lytiker so selten Residuen einer stattgehabten Lues. Besonders tritt dieser
leichtere Verlauf bei der konjugalen Paralyse in Erscheinung. Hauptmann
fand einen positiven Wassermann bei Leuten, deren Ehehälften an organischer
Syphilis erkrankt waren, häufig, ohne daß Infektion bekannt war, auch
ohne daß je verdächtige Symptome bestanden hatten. In fast 100 %
verlief die Syphilis bei der infizierten Ehehälfte latent, wenn der infizierende
Teil an Syphilis cerebrospinalis erkrankt war, während, wenn der infizie¬
rende Teil organisch gesund war, in über 50 % auch eine Infektion bekannt
war und Haut- und Schleimhauteffloreszenzen auftraten. Auch Nonne
kommt zu dem Ergebnis, daß die sekundäre Infektion meist latent er¬
folgte, wenn der primär erkrankte Gatte syphilogen nervenkrank war.
Hatte der primär infizierte Gatte kein Nervenleiden, so verlief sie sehr
häufig mit manifesten Erscheinungen. Hauptmann glaubt, daß die Passage
durch das Zentralnervensystem die Treponemen derart artverschieden,
d. h. abgeschwächt, gemacht habe, daß sie nicht mehr imstande sind, bei
dem infizierten Teile primäre und sekundäre Schleimhauteffloreszenzen
hervorzurufen. Gegen eine solche Erklärung lassen sich jedoch Bedenken
erheben. Namentlich schwebt die Annahme vollkommen in der Luft,
daß die Treponemen, die bei dem andern Teile zur Infektion führen, bereits
eine Passage durch das Nervensystem durchgemacht haben. Es ist doch
viel naheliegender, daß die zur Paralyse führenden Stämme von Haus aus,
was primäre und sekundäre Effloreszenzen anbetrifft, schwächer sind, daß
sie aber sehr wohl imstande sind, die schwere Erkrankung des physiologisch
weniger widerstandfähigen Nervensystems hervorzurufen.
Obzwar die juvenile Paralyse eine keineswegs seltene
Erkrankung ist, so lehrt doch die Erfahrung, daß die Kenntnis der¬
selben immer noch nicht Allgemeingut der Ärzte geworden ist. Ju¬
venile Paralysen werden sehr häufig mit der Idiotie verwechselt, und
selbst dann, wenn die syphilitische Grundlage des Leidens erkannt
ist, wird die Krankheit als Schwachsinn bei Lues oder als Lues cere-
bri diagnostiziert. Dies rührt zum Teil sicher daher, daß die bekannten
Symptome bei der Paralyse der Erwachsenen — Neigung zu Größen¬
ideen usw. — bei der Eigenart des kindlichen Seelenlebens nicht
oder nur andeutungsweise beobachtet werden und die Paralyse der
Kinder meist unter dem farblosen Bilde der einfach fortschreitenden
Demenz verläuft. Die^ Forderung, bei jedem plötzlichen Zurück¬
bleiben der Kinder in der Schule eine genaue Untersuchung auf Para¬
lyse vorzunehmen, ist deshalb sehr berechtigt. Trotz diesem auf
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Hussels,
den ersten Blick ganz anderen Verlauf der juvenilen Paralyse bestehen
weder klinisch noch anatomisch durchgreifende Unterschiede; nur
einzelne Abweichungen im oben angeführten Verlauf und zahlen¬
mäßiges Überwiegen des einen oder anderen Symptoms berechtigen,
die juvenile Form von dem ungeheuer vielseitigen Bilde der Para¬
lyse der Erwachsenen zu trennen. Neben dieser einfach progressiven
Verlaufsform treffen wir selten Bemissionen an, auch sehen wir kaum
Neigungen zu manischen, depressiven oder katatonischen Zuständen.
Größenideen hat man lange Zeit überhaupt bestritten; zweifellos
kommen sie aber vor, nur tragen sie, wie oben schon angedeutet
wurde, ein der Entwicklung der kindlichen Psyche entsprechendes
Gepräge. Zeitlich dauert die Erkrankung etwa doppelt so lange wie
beim Erwachsenen. Während infolge der größeren Möglichkeit des
Mannes, sich luisch zu infizieren, auch die Paralyse beim männlichen
Erwachsenen zwei- bis fünfmal die der Frau übersteigt, so finden
wir bei der juvenilen Paralyse beide Geschlechter annähernd gleich
beteiligt. Was die Anfälle anbetrifft, so überwiegen sie bei der juve¬
nilen Paralyse an Zahl, hinterlassen aber keine Lähmungserscheinun¬
gen ; hingegen sind die Spasmen und Kontrakturen beim erwachsenen
Paralytiker selten von der Häufigkeit und Stärke wie bei der juvenilen
Paralyse. Ein Hauptunterschied ist jedoch durch das Einsetzen der
Krankheit in der Pubertät bedingt, wodurch es zum Stillstand der
körperlichen und geistigen Entwicklung kommt, woraus denn auch
der infantile Habitus und der Mangel der sekundären Geschlechts¬
charaktere resultiert. Auch Entwicklungsstörungen, die wir nicht
ganz so selten finden, können wir auf das frühe Einsetzen der Lues
zurückführen. So beobachtete Stöcker in einem Falle einen völligen
Balkenmangel; andere Autoren berichten über Anomalien des Zen¬
tralkanals. Vielleicht sind auch die doppelkemigen Purkinjeschen
Zellen als Zeichen einer angeborenen Minderwertigkeit und Anlage
zu psychischen Erkrankungen aufzutassen. Da sie aber auch beim
erwachsenen Paralytiker und Nichtparalytiker gefunden werden,
sind sie nicht, wie man früher annahm, für die juvenile Paralyse
charakteristisch. Doch findet man sie im Gehirn von juveniler Para¬
lyse fast stets und in großer Zahl. Stein fand zweikernige Ganglien¬
zellen bei 84 % von erwachsenen Paralytikern (19 Fälle), bei 100 %
von juvenilen Paralytikern (6 Fälle), bei 63 % Dementia praecox
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J
Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw.
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(8 Fälle), bei 100% Hirntumor (3 Fälle) und bei 67 % Idiotie
(3 Fälle).
Ursprünglich hat Sträußler , dem wir die Entdeckung der zweikerni¬
gen Ganglienzellen bei der juvenilen Paralyse verdanken, die Vermutung
ausgesprochen, daß auf diesen Befund hin es möglich sein könnte, die auf
hereditärer Lues beruhende Paralyse von der durch erworbene Lues be¬
dingten Paralyse zu unterscheiden. In gleichem Sinne hat sich Lafora
geäußert. Daß die zweikernigen Ganglienzellen nicht in direktem Zu¬
sammenhang mit fötaler Lues stehen, hat Ranke bewiesen, der zweikernige
Ganglienzellen bei luischen Kindern und Föten stets vermißt hat. Na¬
mentlich aber ein weiterer Befund Alzheimers , der bei einem paralytischen
Arzt, über dessen im dritten Dezennium erworbene Syphilis die genauesten
Angaben von den behandelnden Ärzten zu erhalten waren, und in dessen
Hirn reichlich doppelkernige Purkinjesche Ganglienzellen vorhanden
waren, beweist deutlich, daß diese Zellen auch bei Paralyse nach erworbe¬
ner Lues Vorkommen können. Mit Recht sagt deshalb Alzheimer, daß
mit diesem Befunde die Lehre Sträußlers von der Spätparalyse ihre sicherste
Stütze verliert.
Die systematischen Untersuchungen Steins ergaben, daß die
doppelkemigen Ganglienzellen bei Normalen zu fehlen scheinen,
dagegen bei Psychosen häufig sind. Stein schließt sich auf Grund
des Befundes von doppelkernigen Ganglienzellen bei Hirntumoren,
die ihrerseits auf einer zur Entwicklung gekommenen Anomalie der
Anlage von Zellen entstanden sind, ferner, daß er abnorm gelagerte
Purkinje-Zellen beobachtete, die relativ häufiger Doppelkernigkeit
zeigten, der Ansicht Rankes an, wonach die doppelkernigen Zellen
angeboren sind und als Ausdruck einer abnormen Anlage aufzufassen
sind.
Im übrigen aber ist der anatomische Befund der typisch para¬
lytische, nur daß, worauf Alzheimer zuerst hinwies, die stärksten
Veränderungen sich an den Stammganglien im Gegensatz zum Be¬
funde bei erwachsenen Paralytikern vorfinden. Ein weiterer Unter¬
schied liegt in der relativ häufigen Optikusatrophie und dem häufigen
positiven Babinski bei der juvenilen Paralyse.
Stöcker fand in 6 Fällen von 18 teils partielle, teils totale Optikus¬
atrophie, also in 33 % der Fälle, während Gudden sie bei Erwachsenen nur
in 4,9%, Mendel in 12% beobachtete. Bei den beobachteten 18 Fällen
fand Stöcker 12mal Anisokorie, also in 67%, während Weiler in seinem
eigenen Material, worunter alle Formen der Paralyse gerechnet werden
müssen, 42% konstatierte. Das Endergebnis der Untersuchungen Stöckers,
mit dem Weilers verglichen, war nach seinen Angaben folgendes:
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562
Hassels,
Weiler :
Stöcker:
Mydriasis.
21 , 6 %
79 °/
reflektorische Pupillenstarre
57%
17%
totale Starre.
34%
67%
keine Veränderungen.
9%
11 %.
Ein ätiologischer Zusammenhang zwischen Mydriasis und Optikusatrophie
war nicht vorhanden, denn in 6 Fällen von Stöcker war Mydriasis ohne
Optikusveränderungen; ja, der einzig beobachtete Fall von Myosis hatte
Augenhintergrundsveränderungen aufzuweisen.
Stöcker hat in seinem Ergebnis darauf hingewiesen, daß also
bei der juvenilen Paralyse Mydriasis und totale Starre überwiegt,
während die reflektorische Starre beim Erwachsenen das Übergewicht
hat. Ein ähnliches Überwiegen der absoluten Starre über die reflek¬
torische finden wir auch bei Hirnlues.
Ich möchte nun dazu übergehen, die vier von mir beobachteten
Fälle hier anzuführen:
Artur R., geboren am 10. I. 1910. Anamnese der Mutter: Der Vater
war vor etwa 9 Jahren in der Anstalt wegen epileptischer Anfälle, sonst
sind keine Nervenkrankheiten in der Familie bekannt. Der Pat. ist das
erste lebende Kind. Vorher hatte die Mutter eine Fehlgeburt. Außer ihm
ist noch ein 5jähriger Bruder da, der bisher gesund ist. Der Vater hatte
sich früher luisch infiziert, jedoch können keinerlei Anhaltpunkte über die
Zeit gegeben werden. Die Geburt des Pat. verlief normal, jedoch trat im
ersten Lebensjahr ein Ausschlag auf, der sich angeblich über den ganzen
Körper erstreckte; hinzu trat eine Augenentzündung. Der Pat. wurde
darauf mit Quecksilbereinreibungen behandelt. Erst im 3. Lebensjahre
lernte er laufen, blieb auch sonst in allen Fähigkeiten sehr zurück und
kam deshalb 1912 ins Siechenhaus. Der Pat. trug immer ein aufgeregtes
Wesen zur Schau. Aufnahmebefund am 28. 3. 12 unter der Diagnose:
Hydrocephalus chronicus: Schlechter Ernährungszustand, großer Kopf- I
umfang, steile Stirn, Epiphysen-Verdickung von Radius und Ulna; rachiti- 1
scher Rosenkranz und Säbelscheidenverkrümmung geringen Grades der i
Tibia. Pat. kann nicht allein stehen, wohl selbständig von der liegenden
in die sitzende Haltung übergehen. Der Leib ist trommelförmig aufge¬
trieben, der Leberrand überragt 2 Fingerbreit den rechten Rippenbogen
in der Mamillarlinie. Patellarreflexe gut auslösbar. Achillessehnenreflex
und Babinski o. B. Der Pat. sieht und hört gut. Nach Aussage des be¬
handelnden Arztes setzt sich der Sprachschatz nur aus wenigen Worten,
wie Tante Julie, Uhr usw., zusammen. Die Nahrungsaufnahme geschieht
ohne Unsauberkeit. Da der Wassermann im Blute positiv ist, werden
zwei Schmierkuren gemacht. In der Zwischenzeit hat sich das Kind
gut entwickelt, besonders der Knochenbau und die Muskulatur haben
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Beiträge zur Kenntnis der jnvenilen Paralyse usw.
563
gute Fortschritte gemacht. Der Pat. kann jetzt gehen, der Gang ist aber
auffallend watschelnd und geschieht unter Nachschleppen des rechten
Beines. Starke motorische Unruhe der Hände, insbesondere, wenn der
Kleine erregt spricht. Er führt dabei immer Drehbewegungen an beiden
Handgelenken aus. Die Intelligenz ist annähernd dem Alter entsprechend.
Er spricht sehr viel unaufgefordert, ist schlecht zu fixieren und wird un¬
willig, wenn seine Wünsche nicht sofort erfüllt werden. Die körperliche
Entwicklung schreitet gut fort, jedoch fängt die geistige Entwicklung an,
krankhaft zu werden. In unbewachten Augenblicken schlägt und speit
er seine Mitpatienten an und zerrt ihnen die Decke weg. Vorhaltungen
beachtet er nicht. Der Tremor der Hände besteht unverändert fort.
Werden seine Wünsche nicht erfüllt, so fängt er jetzt an zu weinen. Was
das Gemüt anbetrifTt, so macht er einen stumpfen Eindruck, nur Musik
wirkt stark auf ihn ein; so bleiben auch Melodien und Lieder in seinem
Gedächtnis in großer Zahl haften, während sonstige Bemühungen, ihm
etwas beizubringen, dauernd fehlschlagen.
I. 7. 15 Pat. ist äußerst unruhig geworden und stört seine Mit¬
patienten durch aufgefangene gemeine Worte. Wassermann im Blut erneut
positiv, infolgedessen wird eine weitere Schmierkur eingeleitet.
17. 10. 16. Der Junge ist groß und kräftig, er spricht von sich nur
iu der dritten Person, ist sehr ideenflüehtig; außer einer großen Zahl von
Liedern und Melodien, die er richtig nachsingt, konnte ihm bisher nichts
weiter beigebracht werden. Er hat keinen Sinn für Erzählungen und Mär¬
chen; er versteht sie nicht und behält sie auch nicht.
II. 11. 16. Gesteigerte Patellarreflexe, mittelweite, träge reagie¬
rende Pupillen, normale Fußsohlenreflexe, kein Klonus, das laute Ver¬
halten des Pat. hat sich derart gesteigert, daß er am 20. 11. 16 in die
Psychiatrische Klinik eingeliefert werden mußte.
Aufnahmebefund am 20. 11 16 in der Psychiatrischen Klinik; Pat.
ruft dauernd: „Gib mal die Uhr her.“ Als ihm Schlüssel gezeigt werden,
ruft er: „Gib mir die Schlüssel.“ Stuhl und Tisch bezeichnet er richtig,
ebenso ein Handtuch. Als er einen Wasserkrahn benennen soll, ruft er
mehrmals: „Laß mal laufen“; als die Lampe angedreht wird, ruft er mehr¬
mals: „Mal Licht machen.“ Er steckt sehr häufig die Finger in den Mund.
20. 1. 16: [Wie heißt du?] „Gib mal die Uhr her, auch mal knallen
weil ich so bei bin.“ [Wie alt bist du?] „7 Jahre.“ [Was ist das?]
„Ring.“ (Richtig.) „Uhr.“ (Richtig.) „Handschuhe.“ (Richtig.)
„Schirm.“ (Richtig.) „Spiegel“ (Richtig.) „Gib mir die Uhr her.“ [Wo
ist deine Mutter?] (Wiederholt die Frage.) [Wo ist dein Vater?] „Die
Uhr her.“ Während der Untersuchung hat er Urin unter sich gehen
lassen; er wiederholt dauernd: „Gib mal die Uhr her.“
Ernährungszustand schlecht. Der kleine Gesichtsschädel wird von
dem umfangreichen Hirnschädel weit überragt, besonders die Tubera
frontalia springen stark vor. Von überstandener Rachitis ist nichts mehr
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564
Hussels,
nachweisbar, außer einer mittelstarken Kyphose, kombiniert mit rechts¬
seitiger Brust- und Lendenwirbelskoliose geringen Grades. Die Pupillen
sind weit und lichtstarr. Auf psychische Reize und Schmerz reagieren
sie ebenfalls nicht. Die Zähne stehen unregelmäßig und schief, sind schlecht
und fehlen zum Teil. Die rechte Nasolabialfalte ist etwas undeutlicher
ausgeprägt als die linke, die Lippen sind dick gewulstet, stark gerötet,
die Zunge ist verdickt und stark gefurcht, sie wird gerade herausgestreckt
und zittert. Die Ohren sind groß, stark abstehend, das Ohrläppchen ist
schlecht entwickelt. Beiderseits mittelstarker, grobschlägiger Tremor der
Hände. Die Patellarreflexe sind lebhaft, links Andeutung von Fußklonus,
auf Nadelstiche reagiert er mit starken Abwehrbewegungen; der Gang ist
etwas wankend, sonst ohne Störung. Der Pat. ist sehr unrein, schreit
viel und stört die andern durch sein lautes Wesen. Die Untersuchung
des Augenhintergrundes ergibt beiderseits atrophische Papillen mit ver¬
waschenen Grenzen und ziemlich scharf umschriebenen chorioiditischen
Herden. Die Gefäße sind im ganzen etwas verengt.
Liquorbefund: Wassermann positiv 0,2, Nonne Phase I positiv,
starke Pleozytose.
Während seines Aufenthaltes ist der Pat. dauernd unrein, zeigt ein
lautes Wesen, verläßt oft nachts das Bett und weint zuweilen. Sein
Körpergewicht zeigt keine Schwankungen.
Es handelt sich bei dem Patienten um einen Fall von juveniler
Paralyse, der recht frühzeitig zum Ausbruch gekommen ist. Die
syphilitische Infektion stammt von den Eltern. Die Diagnose stützt
sich im vorliegenden Falle hauptsächlich auf den körperlichen Be¬
fund: absolute Pupillenstarre, Reflexsteigerung, ferner auf die posi¬
tiven Ergebnisse der Blut- und Liquoruntersuchungen. Das psychi¬
sche Bild erhält dadurch ein eigenartiges Gepräge, daß die Erkrankung
sehr frühzeitig zu einer Hemmung der geistigen Entwicklung geführt
hat. Bei einer Vernachlässigung der körperlichen Symptome könnte
man den vorliegenden Fall als Idiotie bei Hydrocephalus auffassen.
Gegen derartige Auffassung spricht jedoch der progressive Charakter
der psychischen und körperlichen Symptome. Gegen das Vorliegen
einer andersartigen syphilitischen Hirnerkrankung spricht namentlich
das Fehlen von Herdsymptomen und anderen Erscheinungen, die
auf gummöse oder endarteriitische Prozesse zurückzuführen wären.
Auch daß die eingeleitete Behandlung das Fortschreiten der Krank¬
heit nicht aufzuhalten vermochte, spräche im Zweifelsfalle gegen
einen andersartigen syphilitischen Prozeß.
Anna T., geb. am 30. 7. 1904. Anamnese des Vaters 29. 10. 13:
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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse osw.
665
Die Mutter ist angeblich an einem Unterleibsleiden gestorben; eine Stief¬
schwester ist gesund. Keine Frühgeburt. Ein jüngerer Bruder starb an¬
geblich an einem Magen- und Darmkatarrh. Die Geburt der Pat. verlief
normal, sie hatte keinerlei Zeichen einer angeborenen Lues. Im ersten
Schuljahre kam sie nicht mit und klagte immer darüber, daß sie die Buch¬
staben verwechsle; ebenso fiel ihr das Rechnen schwer; infolgedessen blieb
sie sitzen. Vom 3. Schuljahr an kam sie in die Hilfsschule, wo sie gut
mitkam. Eines Tages lief sie dem Militär nach, wurde von der Polizei
aufgegriffen, weil sie sich in der Stadt verirrt hatte. Ihre Lehrerin stellte
ihr folgendes Zeugnis aus: „Die Schülerin A.T. treibt sich mit Vorliebe
auf der Straße umher. Sie war immer zerstreut und flatterhaft.“ Im
Hause hatte sie sich jedoch immer gern beschäftigt, sie war stets anhäng¬
lich, nie eigensinnig, weinte nie ohne Ursache, hatte nie Anfälle. Die
Prüfung nach Binet erfüllte sie ungefähr wie ein Kind, das im 7. Lebens¬
jahre steht.
[Wie heißt du?] (Der Name wird richtig angegeben.) — [Wie alt
bist du?] 9 Jahre. — [Wann geboren?] Das weiß ich nicht, im Novem¬
ber glaube ich. — [Zähle die Monate auf!] April, Mai, Juli, August, Sep¬
tember, Dezember. (Die Wochentage werden richtig aufgezählt.) —
[3X3?] 9. — [5 X 5?] 15! — [9 — 3?] 6. — [9 + 5?] 10!
Am 6. 11. 13 wird sie gebessert entlassen.
Anamnese der Stiefmutter am 25. 2. 15: Der Vater soll einen un¬
soliden Lebenswandel geführt haben und stark dem Trünke ergeben sein.
Ein Bruder der Pat. soll in den ersten Lebensmonaten gestorben sein.
Die Stiefmutter selbst hat mit dem Vater ein gesundes, 5jähriges Mädchen.
Eine Fehlgeburt hat sie nicht durchgemacht. Sie kennt Pat. 4 Jahre und
gibt an, sie sei immer nervös gewesen, habe in der Schule nie etwas be¬
halten. Gehen und Sauberkeit hätte sie rechtzeitig gelernt. Seit 3 Jahren
seien ihr an der Pat. Störungen der Sprache aufgefallen, und zwar sprach
sie zeitweise ganz flott, dann wieder schwerfällig und mußte sich besinnen,
um die Worte zu finden. Hinzu trat im letzten Jahre ein Undeutlich¬
werden der Sprache; auch klagte Pat. vor einem Jahre schon über Seh¬
störungen und ist seit einem Monat völlig erblindet. Im letzten Sommer
hat sie mehrfach Ohnmachtanfälle gehabt; wirkliche Krämpfe und Läh¬
mungserscheinungen sind bei ihr nicht beobachtet worden, auch sei keine
Unsicherheit im Gehen aufgefallen; wohl sei in den letzten Wochen ein
zunehmendes Zittern eingetreten, in den letzten Tagen so stark, daß sie
keine Tasse mehr festhalten konnte; Unsauberkeit ist nie bemerkt worden.
Seit mehreren Wochen hat sie zunehmende Angstzustände, ,,es kommen
Buben, die sie hauen wollten“. Auch schrie sie manchmal laut auf; nachts
schlief sie meist ruhig, jedoch war das Einschlafen erschwert. Im Hause
hat sie sich bis zuletzt mit Stricken beschäftigt und wollte immer putzen.
Vor einigen Jahren soll sie Neigung zur Onanie gezeigt haben, die aber
jetzt nicht mehr bemerkt wurde. In letzter Zeit ist es vorgekommen.
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566
Hussels,
daß sie vollständig ohne Grund mit Gegenständen auf ihre Stiefschwester
einschlug.
Status psychicus 25. 2. 15: [Wie alt bist du?] 10 Jahre. — [Wann
bist du geboren ?] Weiß net! — [In welchem Jahre ?] Ich weiß es auch
net, aber mei Mama weiß es. — [Wo bist du hier?] Hier bei Frau.
(zeigt auf die Pflegerin). — [Wie heißt die Frau?] Ich weiß net! — [Wer
bin ich?] Das weiß ich auch net! (Spontan:) Ich bin Kind, der Herr
Dokter im Marienkrankenhaus sagte, meine Augen würden wieder gut
werden. — [Welche Schule hast du besucht ?] Hallgartenschule! — [Du
hast Angst vor Buben gehabt?] Ja, ja, wenn ich vorbeiging, haben sie
das Bein hingestellt, daß ich gefallen bin. — [a, m, 1, tz.] a, p, das.
kann ich net! — [2 + 2?] 4. — [5 + 6?] Das weiß ich net!
Status somaticus: Pupillen weit, beiderseits lichtstarr, Facialis sym¬
metrisch, die Zunge wird gerade herausgestreckt, zittert stark; die Pa-
tellarreflexe sind beiderseits sehr lebhaft, kein Babinski, Achillessehnen¬
reflexe ohne Befund. Deutliches Silbenstolpern, Gang unsicher auch bei
Führung (wegen Blindheit).
24. 7. 15. Die Kranke ist sehr vergnügt, als sie hereingetragen wird;
sie lacht und ruft laut: „Herr Doktor, hier bin ich.“ Sie wird hingesetzt,
das Gesicht ist zu Boden gerichtet, sie spielt unruhig mit den Händen.
Beide Bulbi bewegen sich ruckartig, andauernd in horizontaler Richtung.
Beide Lider bewegen sich auf und ab. Spontan: „Heute geht’s besser,
heute kommt die Mama, ich habe noch ein Schwesterchen.“
[Wie alt bist du?] 7 Jahre, 7 Jahre. (Sie scharrt dabei mit den
Füßen.) — [Wie heißt denn dein Schwesterchen?] Hildegard, Hilde¬
gard! (Sie versucht zu buchstabieren, wobei sie aber nur einige Buch¬
staben sinnlos zusammenfügt.) Sie ist in die Schule gegangen, die ist
gemeldet. — [Wie heißt du denn?] Anna. Ich bin 11 Jahre alt, 11 Jahre
altbinich. — [Wann bist du denn geboren?] Ich weiß net, als hat meine erste
Mama, meinrichtigMama (traurig und mit weinerlicher Stimme) Schmerzen
gehabt, ist tot, die Engel — Himmel — ich hab noch einen Papa, ich bin’s
erste Kind, das erst’ Mädel bin ich. Hildegard g a a d. Die Mama kommt
jeden Sonntag, jeden jeden Sonntag, die Mama ist gut, heute ist Mitt¬
woch, von 3—6 gibt’s Mittagessen, heute kommt die Mama wiederl —
[Weißt du, wo du bist ?] In Irrenanstalt, der Onkel hat mich geschlagen
mit dem Hackbeil, die Hand, das hat geblutet, Marienkrankenhaus. —
[Weshalb hat er dich geschlagen ?] Der Onkel könnt’ nicht dazu, (weiner¬
lich) die Sehnen sind genäht, die Hand war ganz verbunden gewesen —
wieder geheilt, die Hand ist wieder ganz zu (scharrt fortwährend mit den
Füßen, den Kopf weit nach vorn gebeugt). — [Wie lange bist du hier?]
Weihnachten, Ostern, die Schwester ist heimgekommen und hat mich
mitgenommen im Bett drin. (Sie wiederholt dasselbe einige Male.) —
[Schläfst du gut?] Ja, im Bett abends schlafe ichl — [Weshalb bist du
hier?] Weil ich blind bin, die Schwester ist heim und hat mich mitge¬
nommen — als kleines Kind hab ich Handarbeit! — [2 x 2?] 2 x 2
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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 567
ist 4! — [Wieviel?] 51 Handarbeit!—[Hast du kein Rechnen gehabt?]
O ja, und Singen, ich gehe auch heute noch in die Schule! — [Gehst du
gern in die Schule ?] O ja, in die Schwarzbergschule, ich bin nicht dumm,
gescheit bin ich, Handarbeiten hab’ ich gemacht, ich hab’ einen Wasch¬
lappen gemacht, Stricken hab’ ich gelernt! — [2 + 2?] Ich weiß nicht. —
[Zählen:] 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, . . . 11, 12, ... 21, 23. — [Buchsta¬
biere deinen Namen:] I—s—n—i—s—s. — [Vornamen:] Anini! —
[Buchstabiere Karl:] K—u—r. — [Wie sieht Schnee aus?] Weiß! —
[Wie sehen Kohlen aus?] Schwarz! — [Veilchen?] Blau! — [Was ist
der Unterschied von Katze und Hund?] (Lacht.) Eine Katze, ich
hab’ schon eine Katze, eine Katze gesehen, die Schwester hat einen Hund
gehabt! — [Weißt du, was ein Fuchs ist ?] Das ist ein Hund, ein Fuchsl —
[Was ist ein Rabe?] Ein Klapperstorch bringt die Kinder! — [Was ist
ein Löwe?] Die Knöpfe an Ihrem Hemd. Ich mache mein Nachthemd
zu! — [Was ist das (Schlüssel)?] Schlüssel! — [Was ist das (Uhr)?]
Uhr. (Lacht und freut sich.) — [1, 2, 4.] 1, 2, 3, 4. — [1, 2, 4, 6.]
1, 2, 3, 4, 5, 6. — [Darf man lügen?] Nein, nein! — [Weshalb nicht?]
Wer Wahrheit sagt, der kommt Engel — wird Engel. ... Wer lügt, der
kommt in die Hölle, da wird man verbrannt. Ich hab’ immer die Wahrheit
gesagt, ein Engel werd’ ich. Die Mama und die Hildegard wird auch ein
Engel. (Die Stimme*ist traurig und zittert, sie wiederholt den letzten
Satz.) — [Darf man stehlen?] Nein, ich hab’ immer die Wahrheit
gesagt. (Sie wiederholt obige Antwort.) Das dauert lange, bis man tot
ist. — [Weshalb darf man nicht stehlen?] Das darf man nicht! (Sie
wiederholt, daß sie immer die Wahrheit gesagt habe, die Hände und Finger
sind andauernd in Bewegung. Sie hört plötzlich das Surren der ange¬
drehten Zentralheizung:) Das ist ein Zeppelin, nicht wahr, Herr Doktor?
Status somaticus: Ernährungszustand schlecht. Der Schädel ist
symmetrisch, ohne Narben, nicht klopfempfindlich; die Pupi len sind
weit und entrundet; sie sind starr auf Lichteinfall und Konvergenzreaktion,
auch reagieren sie nicht auf psychische und Schmerzreize. Die Bulbi-
bewegung ist frei, es besteht starker, horizontaler Nystagmus. Ein dicht
vor die Augen gehaltenes Licht vermag sie als hell zu unterscheiden. Der
Augenhintergrund zeigt beiderseits Optikusatrophie. Die Peripherie ist
normal. Die Gefäße sind deutlich verengt. Die Zunge wird gerade heraus¬
gestreckt und zittert stark. Die Sprache zeigt deutliches Silbenstolpern,
ist etwas näselnd und verwaschen. Die einzelnen Laute werden unscharf
verbunden, ab und zu werden Silben ausgelassen. Kein Tremor der Hände.
Patellarreflexe sind beiderseits sehr lebhaft. Patellar- und Fußklonus sind
rechts und links leicht auslösbar. Am ganzen Körper scheint Hyper¬
sensibilität zu bestehen. Kein Babinski.
5. 9. 15. Die Kranke ist sehr erregt, näßt öfters das Bett, zuweilen
schreit sie mitten im Schlaf auf: „Ich werde verbrannt!“ Nachts schläft
sie oft schlecht und spricht laut vor sich hin.
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568
Hassels.
2. 12. 15. Das laute Verhalten hat sich nicht geändert, sie ver¬
unreinigt öfters das Bett.
2. 6. 16. Das erregte Verhalten dauert an. Zuzeiten schimpft
sie in gemeiner Weise, sie beruhigt sich aber wieder bei Nahrungsaufnahme.
Die Verunreinigungen sind dieselben. Es haben sich starke Spasmen
entwickelt.
Nonne positiv, Phase I; Wassermann im Blut und Liquor positiv;
Pleozytose.
Die Erkrankung trat zum ersten Male bei Pat. in Erscheinung,
als sie in die Schule kam. Charakteristisch ist, außer daß ihr das
Lernen schwer fiel, das Verwechseln der Buchstaben. Gerade die
letztere Erscheinung deutet darauf hin, daß ihre schlechten Leistungen
in der Schule nicht Folge einer angeborenen geistigen Schwäche,
sondern der paralytischen Erkrankung sind. Dafür spricht auch die
progressive Verschlechterung ihrer Leistungen. Hinzu kommen ge¬
wisse Störungen, wie wir sie beim Beginn der Paralyse beim Erwach¬
senen beobachten: planloses Fortlaufen, Reizbarkeit, Labilität der
Stimmung, Neigung zu Gewalttätigkeiten (gnpidloses Schlagen der
Schwester), auch Angstzustände und ängstliche Befürchtungen (Angst
vor Buben, die sie hauen wollten), ebenso wie die Störungen des
Schlafes. Auch scheint es, als ob die Steigerung der geschlechtlichen
Erregbarkeit, die zur Onanie geführt hat, auf die sich entwickelnde
Gehirnerkrankung zurückzuführen sei. Wir können diesem Symptom
keinerlei diagnostische Bedeutung beimessen, da bei schwachsinnigen
und psychopathischen Kindern bekanntlich eine mitunter hohe Grade
erreichende Masturbation nicht selten beobachtet wird. Dagegen
finden wir in unserem Falle alle Zeichen der Sprachstörung, wie sie
für den Erwachsenen charakteristisch sind. Auffallend ist ihr Rede¬
drang, der deutliche Ideenflucht aufweist; auch könnte man einige
Antworten als Andeutung von Größenideen auffassen (z. B. daß sie
sehr gut rechnen kann). Ein gewisses Krankheitsbewußtsein ist er
halten, auch sind die Erinnerungen, die immer wieder in ihren zu¬
sammenhanglosen Reden auftauchen, durchaus richtig (z. B. die
Verletzung durch das Beil und die durchgemachte Operation). Die
Optikusatrophie setzte sehr frühzeitig ein und erreichte einen sehr
hohen Grad, so daß das Kind jetzt geradezu amaurotisch ist; dies
kam der Kranken selbst zum Bewußtsein. Auch der positive Befund
im Blut und Liquor ebenso wie die Pleozytose sichern die Diagnose.
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UMIVERSITY OF MtCHIGAN
Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 569
Außerdem bestehen weite und vollkommen starre Pupillen. Die
Sehnenreflexe sind sämtlich hochgradig gesteigert, und mit der Re¬
flexsteigerung gehen starke Spasmen und Kontrakturen einher.
Johann V., geboren am 25. 7. 03. Anamnese der Mutter: Der Vater
ist gesund und steht seit dem 6. Mobilmachungstage ira Felde, sie selbst
war einmal in einer Lungenheilanstalt. Ihre beiden ersten Kinder (Zwil¬
linge) starben 4 Wochen alt an Krämpfen. Pat. selbst ist das Zweitälteste
Kind, die drei übrigen Geschwister von ihm sind angeblich gesund. Die
6jährige Schwester hat jedoch eine Sattelnase und Rhagaden um den
Mund, während die beiden andern Geschwister, ohne luische Stigmata
zu haben, positiven Wassermann im Blut aufweisen. Uber eine luische In¬
fektion ihres Mannes oder von sich selbst weiß die Mutter nichts zu berichten.
Die Geburt des Pat- verlief normal; er lernte mit 2 Jahren laufen un<k
sprechen und litt im 2., 6. und 7. Jahre an Krämpfen (epileptische An¬
fälle); er wurde dabei zyanotisch und hatte Schaum vor dem Munde.
Körperlich blieb er immer etwas zurück. Im ersten Schuljahre lernte er
gut, seit dem 7. Lebensjahre finden wir jedoch einen auffallenden Rück¬
gang der geistigen Fähigkeiten, er lernte immer schwerer, wurde sehr
reizbar und warf riiit dem Messer, wenn er geärgert wurde. Seit 2 Jahren
hat sich die Sprache immer mehr verschlechtert. Zeitweise war er sehr
ausgelassen, näßte des öfteren das Bett. Seine Lehrerin klagt darüber,
daß er schlecht hörte und undeutlich spräche: „Im Schriftlichen fehlt
ihm jedes Wortbild, namentlich ist er im Rechnen ganz unbefähigt. Wird
er gereizt, so wehrt er sich wütend mit Treten und Steinewerfen; er trägt
ein rabiates Wesen zur Schau und hat häufig Wutanfälle, wobei er seine
Umgebung beißt.“ Seine Leistungen waren derartig, daß er in den beiden
ersten Schuljahren überall genügend hatte, im Schuljahr 1912/13 meist
mangelhaft und 1913/14 alles mangelhaft und sehr oft ungenügend. .
Status psychicus: Der Kranke sitzt ruhig da, sieht im Zimmer umher>
der Gesichtsausdruck ist stumpf.
[Wie heißt du?] (Kaum zu verstehen:) Johann. — [Wie alt bist
du?] 13. — [Wann geboren?] (Zeigt mit den Fingern 5 und weiter:)
Juli. — [Welches Jahr?] (Keine Antwort.) — [Was haben wir jetzt
für ein Jahr?] 1915. — [Wie lange bist du hier?] Seit 6 Wochen. —
[In welche Klasse bist du gegangen?] (Zeigt 4.) — [Hast du in der
Schule etwas gekonnt?] Sehr viell — [2 x 2?J (Verzieht das Gesicht,
lacht.) 6! — [2 + 2?] 4, darauf 61 — [2 + 3?] 5. — [2 + 4?] 81 —
[4 — 2?] 2. — [8 — 2?] 7! (Die Wochentage werden richtig aufge¬
zählt.) — [Umgekehrt aufzählen.] (Keine Antwort.) — [Was ist das
(Schlüssel)?] Schlüssel. (Wiederholt es mehrmals.) — [Was ist das
(Uhr)?] Uhr. — [Wozu ist der Schlüssel da?] Zum Schließen. —
[Wie heißt unser Kaiser ?] Kaiser Wilhelm II. — [Wie heißt diese Stadt ?]
Frankfurt. — [An welchem Fluß?] Am Main. — [Wo fließt der Main
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570
Hassels,
hin?] Ins Meer. — [Wieviel Zentimeter hat ein Meter?] 100 Meter. —
[Wieviel Zentimeter?] 100 Meter! — [Wann ist Weihnachten?] Voriges
Jahr! — [Im Januar?] Ja! — [Was für ein Unterschied zwischen Katze
und Hund ?] Ein Hund ist groß! — [Teich und Fluß ?] Teich ist größer!
— [Darf man lügen?] (Schüttelt mit dem Kopfe.) — [Weshalb nicht?]
(Nach wiederholtem Fragen:) Weil man in die Hölle kommt. (Pat. soll
die Fabel vom Fuchs und Raben nacherzählen, er wiederholt nur die
letzten Sätze, läßt Worte aus, lacht und räkelt sich auf dem Stuhl.) —
[Wie sieht der Schnee aus?] Grau! — [Kohlen?] Schwarz. — [1, 5,
7, 2, 9?] 1, 7, 2, 9. — [2, 8, 6, 3, 5, 7?] 2, 6. (Sieht’seine Nägel
an.) — [Monate aufzählen. Januar, weiter?] Januar, ... April, ...
Oktober, ... — [Was ist das (eine vorgelegte Kirche) ?] Ein Turm. —
[Was ist das (Kanone)?] (Sofort:) Kanone. — [Buchstabiere deinen
Warnen.] F—e—t—a—e—t—e—1—e. (Er schreibt ihn richtig auf.)
Status somaticus: Pat. ist in seiner körperlichen Entwicklung stark
zurückgeblieben. Der Ernährungszustand ist gut; die Haut ist auf dein
ganzen Körper etwas geschrumpft, trocken und schuppt leicht (Ichthyosis);
Pubertätszeichen fehlen. Das Gesicht ist dick und unförmig. Es besteht
die Andeutung einer Sattelnase, die Zähne sind unregelmäßig gestellt und
schlecht entwickelt. Kein Hutchinson- Typ. Um den Mund befinden sich
Rhagaden. Die Lidränder sind geschwollen und ekzematös. Die linke
Nasolabialfalte ist deutlicher ausgeprägt als rechts, und es wird beim
Lachen der linke Mundwinkel etwas höher als auf der rechten Seite ge¬
zogen; auch bleibt der rechte Mundwinkel beim Sprechen etwas zurück.
Die Zunge ist wenig belegt, sie wird gerade herausgestreckt und zeigt
feine Zuckungen. Die Augenbewegungen sind frei, der Augenhintergrund
ist ohne Befund. Die Pupillen sind beiderseits weit, gleich, etwas entrundet
und reagieren weder auf Lichteinfall noch auf Konvergenz; sie sind voll¬
kommen starr. Die Patellarreflexe sind beiderseits sehr lebhaft; bisweilen
gelingt es, einen kurzdauernden Fußklonus zu erzeugen. Die Periost-
Sehnen- und Bauchdeckenreflexe sind ebenfalls lebhaft. Der Babinskische
Reflex ist links schwach positiv. Die Sprache ist sehr verwaschen, häufig
stolpernd. Nonne positiv bei Phase I; Wassermann bei Blut und Liquor
positiv (0,2); Pleozytose.
Von besonderem Interesse ist es, daß dem Ausbruch der Para¬
lyse Krämpfe vorangingen. Bekanntlich sind Krämpfe schon in
erster Kindheit häufig bei Epileptikern; es kommt jedoch vor, daß
solche bloß den Ausdruck einer spasmophilen Diathese darstellen
und als Zeichen einer konstitutionellen Minderwertigkeit des Zentral¬
nervensystems zu betrachten sind, ohne daß es dabei zur Epilepsie
kommt, ln diesem Falle sind sie wohl anders zu beurteilen, da sie
nicht nur in den ersten Lebensjahren, sondern auch später auftraten.
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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw.
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Wir werden wohl nicht fehlgehen, sie mit der Syphilis in Zusammen¬
hang zu bringen und als Vorläufer der Paralyse anzusehen. In die
Augen fallend ist das Zurückbleiben der körperlichen Entwicklung;
der Patient zeigt nicht die geringsten Merkmale der Pubertät. Dies
beobachtet man häufig bei der juvenilen Paralyse, aber auch ebenso
bei hereditär luischen Kindern, die nicht paralytisch werden. Es ist
daher wohl nur die Syphilis als solche für die Hemmung der Ent¬
wicklung verantwortlich zu machen. Im vorliegenden Falle geht
aus der Vorgeschichte klar hervor, daß die Paralyse zu einem ganz
bestimmten Zeitpunkte einsetzte. Während die Leistungen in den
ersten beiden Schuljahren genügend waren, waren sie im folgenden
durchweg mangelhaft und im nächsten Jahre sogar unter mangelhaft;
es trat dann ein allgemeiner Rückgang der geistigen Fälligkeiten ein.
Wir sehen also, daß in diesem Punkte die juvenile Paralyse sich nicht
von der der Erwachsenen unterscheidet, und es ist wohl gerade auf
den ziemlich plötzlichen Beginn der Erkrankung in einem bestimmten
Lebensalter das Hauptgewicht bei der Diagnosestellung zu legen.
Die Möglichkeit einer angeborenen Entwicklungshemmung braucht
nicht erörtert zu werden. Auch für eine tertiär luische Erkrankung
spricht nichts; insbesondere fehlen Herdsymptome. Die Charakte¬
ristika der Paralyse sind in vorliegendem Falle durchaus typisch.
Wir finden außer einem Fehlen der Pupillenreaktion und Steigerung
der Reflexe namentlich eine ausgesprochene Sprachstörung. Von
besonderem Interesse erscheint die Beobachtung, daß der Kranke
im Beginn einen Erregungszustand mit heiterer Stimmung zeigte;
auch die Wutausbrüche, die mitunter zu Gewalttätigkeiten führten,
sind Erscheinungen, die bei der Paralyse der Erwachsenen wohl
bekannt sind, freilich auch bei anderen Formen geistiger Störung
Vorkommen. Auch der Blut- und Liquorbefund war in diesem, Falle
durchaus typisch für Paralyse.
Charlotte V., geh. 15. 12. 06. Anamnese der Mutter am 17. 2. 17
(ilie Angaben der Mutter entstammen einer Zeit, wo sie noch nicht typisch
alteriert war). Die Mutter selbst klagt darüber, daß sie leicht nervös sei,
ebenso wie ihr Mann. Potus ist nicht in der Familie. Außer der Pat.
ist noch eine ältere und jüngere Schwester vorhanden, die beide gesund
sind. Vor der Geburt ihrer jetzigen Kinder hat die Mutter im 8. Monat
einen Mißfall gehabt. Vor 19 Jahren hat sie ein Geschwür an den Ge¬
schlechtsteilen gehabt. Ausschlag hat sie aber nicht bemerkt; behandelt
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Hussels.
wurde eie damals nicht. Vor 2 Jahren wurde bei der Mutter das Blut
untersucht und die Mutter einer Quecksilberkur wegen positiven Wassermann
unterzogen. Die Geburt des Kindes selbst verlief normal. Pat. war ein
gesundes, kräftiges Mädchen, hatte nie einen Ausschlag; dagegen litt sie
bis zum 5. Monat an einem Darmkatarrh, entwickelte sich aber darnach
sehr gut. Krämpfe sind nie zur Beobachtung gekommen. Mit 13 Monaten
lernte sie laufen und sprechen, mit 5 Jahren hatte sie einen heftigen
Keuchhusten, der y 2 Jahr dauerte. Darnach bemerkte die Mutter, daß
das Kind nicht mehr so laufen konnte wie früher; dann verschlechterte
sich auch die Sprache; das Kind wurde von Tag zu Tag nervöser und
aufgeregter; alles, was ihr in die Hände kam, zerriß sie. Kurze Zeit besuchte
sie die Schule, sie konnte aber nur % Jahr dort bleiben, weil sie den Unter¬
richt dauernd störte. Sie sprang auf und lärmte. Ihr etwas beizubringen,
war unmöglich, für nichts hatte sie Verständnis. Zuletzt besuchte sie
den Kindergarten, aber auch von dort wurde sie heimgeschickt. Von der
Zeit an war sie dauernd zu Hause, und die Mutter ließ sie den ganzen Tag
über zu Bett. Nachts war sie häufig sehr ängstlich, schrie laut auf; das
Bett näßte sie sehr selten, ebenso litt sie nie an Krämpfen.
Als sie hereingetragen wird, ruft sie: ,,Mein Bettchen, mein Bett¬
chen.“ [Wie heißt du?] Mein Bettchen, mein Bettchen. (Aus einem
ihr vorgehaltenen Buche reißt sie ein Blatt heraus.) O mein Bettchen,
mein Bettchen. Papier arbeiten, nicht baden. — [Wo ist dein Vater?]
.— [Wo ist deine Mutter?] Da ist sie. Keller, Keller, Mutter ist
heim. — [Wie heißt du?] Lieber, lieb, mein Bettchen! — [Zeig’ mal
deinen Mund.] (Zeigt ihn mit beiden Händen und ebenfalls die Zunge.) —
[Zeig’ mal deine Nase.] (Zeigt die Zunge, jedoch nicht unartig.) — [Zeig’
mal deine Augen.] (Zeigt die Zähne.) — [Womit kannst du sehen?]
Die Mutter auch!.— [Nachsagen: Die Kuh gibt uns die Milch.]
Mein Dok .. . (spricht unverständliches Zeug, klatscht in die Hände und
schlägt auf die Wärterin).
Der Ernährungszustand ist gut. Beim spontanen Gehen, welches
sehr mühsam erfolgt, wird das rechte Hüftgelenk geschont. Der Gang
ist spastisch. Die Bewegungen an den Armen sind passiv und aktiv frei.
Es scheint am ganzen Körper Hypersensibilität zu bestehen. Die Patellar-
rellexe sind sehr lebhaft. Die rechte Pupille ist weiter als die linke, beide
sind sehr weit und reagieren weder auf Lichteinfall noch auf Konvergenz.
Der Augenhintergrund ist ohne Befund. Die Zunge wird gerade heraus¬
gestreckt und zittert nicht. Der Puls ist weich und regelmäßig, 120 Schläge
in der Minute.
Nonne positiv, Phase I; Wassermann im Blut und Liquor positiv,
Phase 2; Pleozytose.
15. 3. 17: Pat. hat oft Anfälle, sie schreit und schnalzt sehr laut mit
der Zunge. Nachts schläft sie meist sehr gut und näßt oft das Bett. Sie
ist unsauber und nimmt in letzter Zeit sehr wenig Nahrung zu sich.
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Beiträge zur Kenntnis der jnvenilen Paralyse usw.
573
April 1917: Die Pat. ist durchweg sehr unruhig, will öfters das Bett
verlassen. Sie hat manchmal am Tage 5 Anfälle hintereinander, die durch¬
schnittlich 2—3 Minuten dauern, meis.t jedoch täglich nur 1—2 Anfälle.
Die Mutter, Frieda V., geboren am 6. 2. f875. Anamnese des
Mannes: Seit 15 Jahren ist sie mit ihm verheiratet. Aus der Ehe stammen
4 Kinder, von denen die andern 3 gesund sind. Vorher hat die Frau 3 Tot¬
geburten gehabt. Die Pat. ist schon seit 5—6 Jahren auffallend nervös,
ihr Vater starb mit 89 Jahren, ihre Mutter lebt noch. In der Familie sind
keinerlei Nervenkrankheiten nachzuweisen. Seit % Jahre ist ihm an der
Pat. aufgefallen, daß sie schlecht ißt, nachts sehr unruhig sich im Bett
umherwirft und an Gedächtnisschwäche leidet. Auch steht sie manchmal
ganz traumverloren da. Der Ehemann weiß nichts von einem Primär-
affekt. Er hat selbst eine undeutliche Sprache, die aber wohl damit zu¬
sammenhängt, daß er ein künstliches, schlecht sitzendes Gebiß trägt. Er
rechnet schlecht, die Pupillen sind weit, different und reagieren träge.
Die Patellarreflexe sind beiderseits lebhaft. Die Zunge ist belegt, weicht
etwas nach links ab und zittert stark. Sehr starke Arteriosklerose der
Radialarterie. Bei ihm ist: Nonne negativ, Wassermann im Blut und
Liquor negativ; keine Zellvermehrung.
Status psychicus der Mutter. 20. 3.17: [Wie alt sind Sie?] 42 Jahre.
— [Wann geboren?] 6. 2.1875. — [Seit wann verheiratet ?] Seit 1901. —
[Wieviel Kinder haben Sie?] Vieri — [Sind alle gesund?] Die Lotte
ist ja hier; ich habe eine mit 10, eine mit 12 und eine mit 7 Jahren. —
[Mißfall gehabt?] Zweimal. — [Sind Sie geschlechtskrank gewesen?]
Ja, mit 20 Jahren. — [Von Ihrem Manne?] Nein, von meinem Ver¬
lobten. — [Ist es geheilt worden?] Ja. — [Was ist dagegen getan
worden ?] Mit Salbe eingerieben. — [Wie oft ?] Ich weiß nicht mehr. —
[Sind Sie sonst gesund gewesen?] Ja. — [Warum sind Sie hier?] Ich
bekomme immer so Schwindelanfälle, und dann weiß ich nicht, wo ich
bin. — [Fallen Sie dabei hin?] Ja, zweimal habe ich so ein Zusammen¬
fahren beim Schlafen gehabt, das hängt wohl mit dem Blut zusammen. —
[Haben Sie auch das Bewußtsein verloren ?] Ja. — [Viel Kopfschmerzen ?]
Ja. — [Nachts schlimmer?] Nein, im Gegenteil. — [Ist das Gedächtnis
schlechter geworden?] Ja, vollständig, ich vergesse alles. — [Welches
Datum?] Ich weiß nicht. — [Welches Jahr?] 1917. — [Welcher
Monat?] März. — [Anfang oder Ende?] Ende. — [Wo sind Sie hier?]
Im Irrenhaus?. — [Haben Sie zu Hause Ihren Haushalt verrichtet] Zu¬
letzt konnte ich nicht mehr putzen. — [Wie war denn das Tdben
zu Hause ?] Es kamen so Anfälle, daß ich so aufgeregt war und alles klein
schlagen mußte. — [Wie sind die Verhältnisse zu Hause?] Sehr unge¬
nügend. — [Vermögend?] Gar nicht. — [Wie ist Ihre Stimmung?]
Ich bin völlig gefühllos geworden. — [Nicht besonders freudig?] Nein,
im Gegenteil, ich leide an Weinkrämpfen. — [8x9?] 72. — [7 X 17?]
1091 — [Hauptstadt von Bayern?] München. — [Hauptstadt von
Zeitschrift für Psyohiatrie. LXXII1. 6.
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Hassel»,
Baden?] Karlsruhe. — [Ein Gedicht von Schiller?] Die Glocke. —
{Unterschied von Fluß und Teich ?J Teich ist ein stilles Gewässer, n r>. •
der Fluß fließt. — [Unterschied zwischen Irrtum und Luge?] Das i*r
entgegengesetzt. — [Ist es dasselbe?] Nein, verschieden. — [8. 5. >.
9, 6?] 8, 5, 3, 9, 6. — [1, 7, 4, 1, 2, 9?] 1, 7, 4, 8, 9! — [Sprich¬
wort erklären: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?] Gewöhnlich
nennt man es, wenn Vater und Sohn die gleichen Eigenschaften haben. —
[Wann ist Christus geboren?] Weiß nicht. — [Welches Jahr ist jetzt ?'
1917 nach Christus. — [Wann ist er also geboren?]' Im Jahre 1.
Status somaticus: Mittelgroße, gut genährte Frau mit etwas ange¬
wachsenen Ohrläppchen, hoher, steiler Gaumen; die Gesichtszüge haben
etwas maskenartig Starres. Die rechte Nasolabialfalte ist etwas mehr
verstrichen als die linke. Zähnezeigen, Pfeifen, Stirnrunzeln ohne Befund.
Die linke Pupille ist etwas weiter als die rechte. Beide Pupillen sind weit,
reagieren nicht auf Lichteinfall und Konvergenz. Der Puls ist regel¬
mäßig, gleichmäßig und voll. Die Frequenz beträgt 92. Die Bauch¬
decken sind schlaff. Die Bauchdeckenreflexe sind nicht auslösbar. Die
Patellar- und Achillessehnenreflexe sind auch nach Jendrassik nicht aus¬
lösbar. Kein Babinski. Bei Prüfung des /?omi«vgschen Symptoms gleich¬
mäßiges Schwanken nach allen Seiten. Die Empfindung am ganzen
Körper ist gleichmäßig etwas herabgesetzt.
Nonne Phase I, positiv; Wassermann im Blut und Liquor positiv
(0,2); Pleozytose.
Ich habe in diesem Falle die Erkrankung der Mutter kurz wieder¬
gegeben, weil dieselbe bei der gleichzeitigen Erkrankung des Kindes
nicht ohne Interesse zu sein scheint. Es handelt sich bei der Mutter
zweifellos um eine Paralyse. Dies ergibt sich nicht bloß aus dem
positiven Ausfall der Blut- und Liquorreaktion, sondern auch aus
den typischen paralytischen Symptomen auf geistigem und körper¬
lichem Gebiete. Bei dem Kinde finden wir ebenfalls die typischen
Symptome einer Paralyse: Pupillenstarre, Sprachstörungen, Reflex¬
steigerungen sowie eine allmählich fortschreitende Demenz, begleitet
von zeitweisen Erregungszuständen. Auch der Blut- und Liquor¬
befund ist der der Paralyse. Wir haben also in vorliegendem Falle
zwei Erkrankungen an Paralyse, die derselben Infektionsquelle ent¬
stammen. Es ist von Interesse, daß die Erkrankung bei dem Kinde
etwas früher zum Ausbruch kam als bei der Mutter, deren Infektion
doch schon etwa 20 Jahre zurückliegt, während bei dem Kinde die
Erkrankiuig erst mit dem 5. Lebensjahre einsetzte. Wir haben dabei
den Beginn der Erkrankung der Muttor nach den auffallenden psychi¬
schen Symptomen angesetzt, trotzdem bereits vor dem Ausbruch der
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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw.
575
Psychose bei der Mutter Pupillenstörungen festgestellt waren. Es
wäre namentlich vom wissenschaftlichen Standpunkte exakter, den
Beginn der Paralyse bei der Mutter schon in den Zeitpunkt der Ent¬
stehung der Pupillenstörungen zu verlegen, aber da sich natürlich
dieser Zeitpunkt in unserem, wie überhaupt in den meisten Fällen
schwer feststellen läßt, da wir andererseits wissen, daß Pupillen¬
störungen nicht nur dem Ausbruch einer Tabes oder Paralyse jahre¬
lang vorausgehen können, sondern auch unter Umständen das ein¬
zige Symptom einer überstandenen Lues sein können, ohne daß sich
später ein syphilogenes Nervenleiden entwickelt, so werden allgemein
die ersten psychischen Störungen als Beginn angenommen oder auch
die für Paralyse pathognomonischen körperlichen Symptome, z. B.
Sprachstörungen. Was den Vater anbetrifft, so war die Sprach¬
störung nicht typisch paralytisch, sie war wohl verwaschen, aber es
fehlte das Silbenstolpern, so daß wir sehr wohl das schlecht sitzende
Gebiß als Ursache dafür anschuldigen können; auch war keinerlei
psychische Alteration vorhanden, die die Diagnose einer Paralyse
rechtfertigte. Auch die Steigerung der Reflexe kann Folge des sehr
herabgekommenen Ernährungszustandes sein, vielleicht auch mit der
Arteriosklerose in Zusammenhang stehen. Jedenfalls hat die Unter¬
suchung von Blut und Liquor keine Anhaltpunkte für bestehende
oder im Anzug befindliche Paralyse ergeben.
Wenn ich auch nur ein verhältnismäßig kleines Material zur
Frage der juvenilen Paralyse beizubringen vermag, so zeigen doch
alle Fälle in übereinstimmender Weise einige Symptome, die bei der
Paralyse der Erwachsenen seltener Vorkommen. Es geht natürlich
nicht an, aus vier Fällen ein prozentuales Verhältnis aufstellen zu
wollen, vielleicht kann ich sie in die Befunde Stöckers einreihen.
Auch bei unseren Fällen bestand überall absolute Pupillenstarre, d. h.
os fehlten 1. die direkte und indirekte Lichtreaktion und 2. die Kon¬
vergenzreaktion. Ferner war in allen vier Fällen Mydriasis vorhan¬
den. Diese Pupillensymptome scheinen in der Tat wichtige Zeichen
der juvenilen Paralyse zu sein und haben als solche früher keine ge¬
nügende Beachtung gefunden; und doch sind diese Symptome nicht
bloß vom theoretischen Standpunkt aus interessant, weil sie mög¬
licherweise einem stärkeren Befallensein des Hirnstammes von dem
paralytischen Prozesse bei der juvenilen Paralyse entsprechen, son-
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576
H uss eis,
dem sie sind auch praktisch wichtige Zeichen. Es sei jedoch erwähnt,
daß die Anschauung Stöckers, die den Sitz der absoluten Pupillen¬
starre in den Hirnstamni verlegt, nicht von allen Autoren geteilt
wird, namentlich Wübrand, Sänger und Nonne vertreten den Stand¬
punkt, daß die absolute Pupillenstanre nicht in einer Sphinkterkern¬
läsion zu suchen ist, die man im frontalen Polteil des lateralen Haupt¬
teils des Okulomotoriuskerns angenommen hat, sondern im N. oculo-
motorius selbst sitze, während Marina dieselbe Störung in das Gang¬
lion ciliare lokalisiert. Ich selbst bin nicht in der Lage, Material für
die strittige Frage beizubringen, und will mich auf eine Diskussion
nicht einlassen, sondern bloß der Tatsache Rechnung tragen und das
Hauptgewicht auf die praktische Bedeutung dieser Erscheinung für
die Diagnostik legen. Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß Alz¬
heimer im Hirnstamm bei der juvenilen Paralyse bloß eine stärkere
Ausprägung von paralytischen Veränderungen festgestcllt hat, und
daß in diesem Falle nicht etwa (was bei der Paralyse auch gelegentlich
vorkommt) eine Kombination von paralytischen mit tertiär-luischen
Veränderungen vorliegt. Bekanntlich hat namentlich Sträußler auf
das Vorkommen von miliaren Gummen, sowie auch endarteriitischen
Prozessen bei klinisch und anatomisch einwandfreien Paralysen hin¬
gewiesen. Außer diesen intrazerebralen Läsionen kann die absolute
Starre aber auch Folge einer Rindenreizung sein, da bekanntlich fast
alle Krampfzustände der Pupille im Gegensatz zu den Lähmungen
kortikal bedingt sind. Bei Erwachsenen tritt die absolute Pupillen¬
starre sehr in den Hintergrund. Uthofl fand unter 300 Beobachtungen,
von denen 71 % Pupillenstarre zeigten, nur in 16 % absolute Starre
und in 55 % isolierte reflektorische Starre. Hingegen ist die absolute
Pupillenstarre, teils isoliert, teils in Verbindung mit Lähmungen
der äußeren vom Okulomotorius versorgten Augenmuskeln, häufig ein
Symptom tertiär luischer Gehirnerkrankung, abgesehen natürlich von
den Fällen, wo ein anderes Leiden, multiple Sklerose, Hirntumor
oder andere basale Prozesse vorliegen. Wenn man auch niemals die
Differentialdiagnose zwischen Paralyse und Hirnsyphilis auf Grund
einzelner Symptome stellen darf, so sind doch absolute und reflektori¬
sche Starre diagnostisch nicht gleichwertig. Wenn gleichzeitig andere
Hirnnervenlähmungen oder zerebrale Herdsymptome vorhanden sind,
so spricht dies für das Bestehen einer tertiär syphilitischen Gehirn-
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Beiträge znr Kenntnis der juvenilen Paralyse usw.
577
Erkrankung; in Fällen, wo bloß absolute Pupillenstarre nachweisbar
ist und aus den übrigen Symptomen keine Schlüsse in bezug auf die
Differentialdiagnose gestellt werden können, kommt ihr keinerlei Be¬
deutung zu. Bei Erwachsenen wird man in derartigen Fällen immer
an die Möglichkeit einer Lues cerebri denken müssen, und die einge¬
schlagene Therapie wird in den meisten Fällen unsere Vermutung
bestätigen. Bei der juvenilen Paralyse kommt jedoch die absolute
Pupillenstarre so häufig vor, daß dieser Erscheinung niemals der
geringste differentialdiagnostische Wert für eine etwa bestehende Lues
cerebri beizumessen ist. Wir haben eingangs erwähnt, daß die juvenile
Paralyse nicht selten als Lues cerebri diagnostiziert wird, und es scheint,
daß dieses eigenartige Verhalten der Pupillen zu dieser Fehldiagnose
geführt hat. Auffallend ist jedoch die Tatsache, daß der paralytische
Prozeß bei der juvenilen Paralyse bloß die Funktion der inneren
Augenmuskeln zu schädigen scheint, während er die Funktion der
äußeren intakt läßt, denn wir fanden in unseren Fällen, soweit sich
das feststellen ließ, keine Ptosis in der Anamnese und auch keine
jetzt bestehenden Störungen der äußeren Augenmuskulatur. Diese
Feststellung hat natürlich nur bedingten Wert, da man berücksichti¬
gen muß, daß bei den meist erheblich dementen juvenilen Paralysen
eine genaue Untersuchung z. B. auf Doppelbilder unmöglich ist. Bei
den von Stöcker beobachteten 18 Fällen finden wir nur in einem Falle
über diesen Punkt eine Angabe; es heißt dort: ,,In einem Falle war die
Prüfung auf Konvergenzreaktion nicht möglich wegen des Strabismus
divergens.“ Demnach scheinen bei den anderen Fällen irgendwelche
Lähmungen der äußeren Augenmuskulatur nicht vorhanden gewesen zu
sein; und in diesem Falle wird es sich wohl um konkomittierenden
und nicht paralytischen Strabismus gehandelt haben, da Stöcker
nichts über Lähmungen berichtet. Was die Optikusatrophie der Er¬
wachsenen anbetrifft, so ist sie meist ein Frühsymptom der Tabes
resp. Taboparalyse. Bei der juvenilen Paralyse ist sie jedoch nicht
mit Hinterstrang-, sondern mit Seitenstrangsymptomen (Spasmen)
verbunden. Auch in unseren Fällen finden wir zweimal solche Augen¬
hintergrundstörungen vor. Die damit verbundene Mydriasis ist auch
hier nicht etwa durch fortschreitende Atrophie des Sehnerven be¬
dingt, denn die beiden anderen Fälle ergaben auch Mydriasis, ohne
daß irgend etwas an dem Augenhintergrund hätte nachgewiesen werden
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578
Hassels,
könfien. Worauf die Häufigkeit der Optikusatrophie gerade bei der
juvenilen Pafalyse beruht, ist mangels einer genauen Kenntnis über
den Entstehungsmechanismus, insbesondere den Angriffspunkt der
Atrophie, nicht zu entscheiden. Die Untersuchungen Stargafds bei
Optikusatrophie der Erwachsenen haben gelehrt, daß sich bei Optikus¬
atrophie im Optikus selbst entzündliche Veränderungen, z. B. Plasma¬
zelleninfiltrationen, vorfinden, yielleicht können uns genaue ana¬
tomische Untersuchungen der Sehbahnen bei der juvenilen Paralyse
einmal bessere Aufschlüsse über die Entstehung der Sehnervenatrophie
nicht bloß bei der juvenilen Paralyse, sondern auch der tabischen
Optikusatrophie überhaupt geben.
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Kleinere Mitteilungen.
Provinzialheilanstalt Suttrop. — Infolge der bisherigen Be¬
zeichnung der Anstalt sind bei den Ämtern Warstein und Altenrüthen
fortgesetzt dadurch Weiterungen entstanden, daß amtliche, die Ein¬
gesessenen der Anstalt, namentlich die zahlreich hier befindlichen Heeres¬
pflichtigen betreffende Schriftstücke an das Amt in Warstein gerichtet
worden sind, während das Amt in Altenrüthen zuständig ist. Zur Be¬
seitigung dieser Unzuträglichkeiten hat der Herr Landeshauptmann der
Provinz Westfalen bestimmt, daß die Provinzialheilanstalt Warstein
zukünftig die Bezeichnung „Provinzialheilanstalt Suttrop, Post Warstein“
führt.
Zur Erinnerung an Carl Pelman. — Seinem Freunde Heinrich
Schule ist Carl Pelman rasch in die Ewigkeit gefolgt. Eine unter recht
bedrohlichen Erscheinungen einsetzende Influenza-Pneumonie schien bei
dem bisher leidlich Rüstigen noch einen günstigen Verlauf nehmen zu
wollen, bis eine plötzlich eintretende Herzschwäche nach nicht acht¬
tägigem Krankenlager seinem Leben in der Frühe des 21. Dezember
1916 ein rasches Ende setzte. Die jetzigen Ernährungsschwierigkeiten
waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Es machte ihm zwar
Freude, daß er an Körpergewicht ordentlich abnahm, daß er nach Jahr¬
zehnten endlich mal wieder unter 200 Pfund anlangte; doch fühlte er
schon längere Zeit eine große Müdigkeit und zunehmende Schläfrigkeit;
längeres Lesen, zeitlebens seine Lieblingsbeschäftigung, strengte ihn an,
ebenso längere Unterhaltung. Auch hat er den Anfang 1916 erfolgten
Tod seiner Schwester Marie, die seit Jahren den Haushalt mit ihm teilte,
nicht überwinden können. Ihr Verlust und der Tod einer Reihe ihm
besondersNahestehender machten auch, daß er sich vereinsamt vorkam,
so daß seine Äußerung bei Schülcs Tode, daß er selbst nun auch bald
Abschied nehmen würde, ihm von Herzen zu kommen schien. Sein Tod
war denn auch ein leichter, der Schluß eines im ganzen harmonisch ab¬
gelaufenen Menschenlebens.
Pelman, der am 28. Januar 1838 in Bonn geboren war, hat ein Alter
von nahezu 79 Jahren erreicht. Als er die Leitung der Provinzial-Heil-
anstalt in Bonn niederlegte, im Jahre 1904, stand er im 67. Lebensjahre.
Die allgemeinen Daten seines Lebens sind damals mitgeteilt worden
(Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie 1902, S. 919). Der Schritt aus dem ihm so
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lieben Anstaltsbetrieb in den Ruhestand ist ihm recht schwer geworden,
wenn auch der Entschluß dazu schon seit Jahren in ihm gereift und an¬
deren mitgeteilt war. Pelman hatte vielfach gesehen, daß alte Beamten
aus Mangel an Selbsterkenntnis oft nicht den richtigen Zeitpunkt er¬
fassen, den Abschied zu nehmen, und äußerte wohl auch mal die Be¬
fürchtung, daß man ihm den Wink geben könnte, vom Schauplatz seiner
Tätigkeit abzutreten; — geglaubt hat er dies sicher selbst nicht. An Ver¬
suchen, seine erprobte Kraft noch länger der Provinz zu erhalten, hat
es ja auch nicht gefehlt. Pelman war beim Abgang auch körperlich und
geistig noch recht rüstig. Die Anstalt hätte er gut noch einige Jahre lei¬
ten können. Anders stand er aber der psychiatrischen Klinik gegenüber.
Im vertrauten Kreise machte er kein Hehl daraus, daß er es für nötig
hielt, die Professur für Psychiatrie einer jüngeren Kraft zu überlassen»
die von der Pike auf gedient hätte und besser imstande wäre, den großen
Fortschritten, welche das psychiatrische Wissen seit den letzten Jahr¬
zehnten gemacht, zu folgen und daran mitzuarbeiten. Dazu war vor allem
der Bau einer psychiatrischen Klinik nötig, und solchen Aufgaben wußte
sich Pelman nicht gewachsen. Er hat sein Wissen und Können nie über¬
schätzt. Zur Übernahme der Professur in Bonn 1889, als Nachfolger von
Werner Nasse, hatte er sich nur unter großem Widerstreben und auf
hartnäckiges Drängen von Friedrich Althoff bereden lassen. Er wäre
lieber in Grafenberg geblieben und hätte die nach seinem Geschmack
eingerichtete Anstalt bis an sein Lebensende geleitet, zumal er im nahen
Düsseldorf den angenehmsten Verkehr, namentlich in Künstlerkreisen,
hatte und seine konsultative Praxis eine ausgedehnte und entsprechend
der Bevölkerung eine recht einträgliche war. Erst nach mehrtägigen Ver¬
handlungen in Berlin gab Pelman damals nach und schilderte später sehr
lebendig, wie Althoff ihn schließlich in einen großen Saal des Ministeriums
über Mittag eingesperrt und so durch Hunger mürbe gemacht habe! Man'
darf wohl ruhig sagen, daß Pelman am Abhalten der Klinik nie den rechten
Geschmack fand. Er war selbst ein guter Psychologe, hatte volles Ver¬
ständnis für die Psyche des Menschen in gesunden und kranken Tagen,
Verstandes meisterhaft, wahrheitsgetreu und plastisch zu schildern, dabei
war er ein guter Redner, den nichts aus dem Gleichgewicht bringen konnte,
der es auch verstand, seine reiche Lebenserfahrung und namentlich seine
große Literaturkenntnis geschickt in seinem Unterricht zur Geltung zu
bringen für einen guten Lehrer der medizinischen Jugend hat er sich
nie gehalten. Ich glaube ihm nicht unrecht zu tun, wenn ich sage, daß
es ihm in den letzten Jahren lästig war, die Klinik abzuhalten. Unan¬
genehm war ihm auch das Examinieren, namentlich als er gezwungen
war, vorübergehend dabei innere Medizin zu prüfen. Vor dem ersten
Examen erfaßte ihn damals im Hinblick auf sein eigenes Wissen ein ge¬
wisses Fieber, so daß er die Vermutung aussprach, die Examinanden
würden Mitleid mit dem Examinator haben, wenn sie wüßten, welch große
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Angst er selbst hätte! — Anders war es mit seinen Vorlesungen für alle
Fakultäten, die er einmal wöchentlich abhielt. Hier war er in seinem Fahr¬
wasser, hier konnte er aus seinem reichen Allgemeinwissen schöpfen, so
viel er wollte, hier durfte er Kritik üben an Hoch und Niedrig, hier konnte
er vor allem seinen Humor sprudeln lassen. .Seine Kritik war übrigens
nie bösartig, verletzend. Während es Pelman auch nicht schwer wurde,
die Besucher seiner Klinik bis zum Semesterschluß zusammenzuhalten,
wurde es uns immer schwieriger, für das Publikum, das längere Zeit wohl
das meist besuchte Kolleg der Bonner Universität war, die nötigen Räume
in der Anstalt zu finden. Wenn dann zum Schluß dreihundert und mehr
Hörer in der üblichen Weise dem beliebten Lehrer ihren Beifall durch
Trampeln zu erkennen gaben, war für uns in den unteren Räumen Ar¬
beitenden die Befürchtung nicht unberechtigt, daß die Decke mal nach¬
geben würde. War es doch nicht unbekannt, daß beim Bau der Anstalt
in den sogenannten Gründerjahren die Bauleiter erst in zweiter Linie
auf Solidität und Festigkeit der Bauten gesehen hatten. Da es übrigens
in heißen Sommertagen wiederholt bei den Zuhörern zu Schwäche- resp.
Ohnmachtsanfällen gekommen war, wurde bei den Vorlesungen eine
Sanitätswache in der Nähe bereitgestellt. —
Wie seine Studenten, so wußte Pelman überhaupt die Menschen
zu nehmen; es war ihm ein leichtes, mit Hoch und Niedrig, Arm und
Reich, mit allen Berufsarten zu verkehren und zu verhandeln. An Ge¬
legenheit dazu hat es ihm nie gefehlt. Seine Stellung in Grafenberg
und Bonn verschaffte ihm Bekanntschaften in reichem Maße. Grafenberg
war damals die einzige größere Irrenanstalt am Niederrhein; Pelman s
Ruf sorgte dafür, daß auch die besseren Klassen immer voll besetzt waren.
War er doch lange Zeit der meistbeschäftigte Psychiater der Rheinprovinz.
Auch nach außen wurde sein Rat bis in allerhöchste Kreisein Anspruch
genommen. Und dies nicht nur in rein psychiatrischen Angelegenheiten.
Pelman war ungemein praktisch veranlagt und ein ausgezeichneter Or¬
ganisator. Als solchen suchte man ihn auch nach einer der Hansestädte
als Verwaltungsdirektor der Krankenanstalten zu ziehen.- Das wußte
auch Friedrich Althoff, mit dem er von seiner Bonner Studienzeit her
bekannt und befreundet war, als er ihn 1871 von Siegburg fortholte
und ihm die Irrenanstalt Stephansfeld anvertraute. Die Überleitung
der großen elsässischen Anstalt aus französischen in deutsche Verhält¬
nisse hat Pelman viel Arbeit gekostet, aber auch viel Freude bereitet.
Althoff hat damals Pelmans Rat und Hilfe auch in anderen, nicht psy¬
chiatrischen Fragen öfters in Anspruch genommen, und ihre häufigen Zu¬
sammenkünfte im Hotel Ville de Paris in Straßburg waren nicht nur kuli¬
narischen Zwecken gewidmet. Das Vertrauensverhältnis zwischen beiden
Männern hat denn auch bis zu Althoffs Tod fortbestanden, sie besuchten
wohl nie Berlin oder Bonn, ohne Gelegenheit gefunden zu haben, sich
wiederzusehen. —
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Daß Pelman nach Erledigung seiner Aufgabe in Stephansfeld 1876
die Leitung der Anstalt Düsseldorf-Grafenberg übernahm, lag einmal in
seiner Liebe zur Heimat und Heimatprovinz — er war mit Leib und Seele
Rheinländer —, dann aber auch reizte es ihn, die noch im Bau begriffene
rheinische Anstalt ganz naph seinem Geschmack einzurichten. Das ist
ihm denn auch reichlich gelungen. Daß er dabei nicht alle seine Wün¬
sche und Pläne erfüllt sehen würde, wußte er im voraus. Dankbar hat
übrigens Pelman später immer anerkannt, daß er bei seiner Vorgesetzten
Behörde doch meistens Verständnis und Entgegenkommen für seine
Absichten und Pläne gefunden hätte. Er wußte freilich auch seine Vor¬
gesetzte Behörde richtig zu nehmen!
Die Liebe zum Rhein war es auch in erster Linie, die Pelman weitere
Berufungen und ehrenvolle Anerbieten nach außen ablehnen ließ.
Am schwersten scheint es ihm geworden zu sein, einen Ruf nach Süd¬
amerika, den er als junger Psychiater bereits erhielt, nicht Folge zu leisten.
Er hätte dort seine vielseitigen Sprachkenntnisse verwerten und erweitern
können. Denn er war ein Polyglotte; er beherrschte mündlich und schrift¬
lich die italienische, französische und englische Sprache, war in der Lite¬
ratur dieser Länder wie in der deutschen bis auf die Neuzeit zu Hause.
Er besaß eine große Bibliothek, die er gern anderen zugänglich machte.
Auch im Lateinischen war er noch recht bewandert. In der Unterhaltung
liebte er es, seine Literaturkenntnis zum besten zu geben. Sich mit
Gleichgebildeten zu unterhalten, war ihm ein Hochgenuß. Mit zu den
schönsten Tagen seines Lebens rechnete er daher eine Woche, die es ihm
vor Jahren vergönnt gewesen war im nahen Verkehr mit einer literarisch
hochgebildeten und selbst schaffenden rheinischen Fürstentochter zu
verleben. Unter dem blauen Himmel des Südens und unter blühenden
Magnolien wandernd und sitzend maßen beide stundenlang ihre Lite¬
raturkenntnisse, und Pelman konnte nachher berichten, wie er in mancher
Hinsicht der Fürstin übergewesen war. Dieser Umstand scheint übrigens
der Kranken — Pelman war in erster Linie als Arzt hinzugerufen — das
richtige Vertrauen zu Pelman gegeben und somit ihre Heilung in die
richtigen Wege geleitet zu haben. Der Eindruck, den er hinterließ, war
ein derartiger, daß die Genesene später das Verlangen hatte, ihn ihrer
königlichen Schwester vorzustellen. Der Aufforderung, im nahe gelegenen
rheinischen Nizza zur Audienz zu erscheinen, wollte Pelman erst nicht
Folge leisten; der Männerstolz vor Königsthronen bäumte sich in ihm.
Schließlich beruhigte er diesen damit, daß er selbst Tag und Stunde
seines Besuches bestimmte! Er hat es denn auch nie bereut, einen Nach¬
mittag mit dem feingebildeten Schwesternpaar verlebt zu haben. —
Pelman mußte Eindruck machen; schon sein Äußeres hatte etwas
Imponierendes. Der mächtige Schädel mit der hohen Stirn ruhte auf
einem massiven Körper; der lange weiße Bart gab ihm etwas Patriar¬
chalisches. Prächtig stand ihm der akademische Senatorenmantel, in
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dem er sich übrigens auch für die Bonner Anstalt malen ließ. Gelegent¬
lich eines längeren Aufenthaltes in Neapel verfolgte ihn auf der Via'Ca-
racciolo tagelang ein Italiener, der dann bei Pelmans Frage sich als scul-
tore vorstellte und den bello Tedesco bat, ihn aushauen zu dürfen, es
geschähe nur der Kunst wegen. Pelman konnte nicht nein sagen. Die
Büste wurde wirklich gut, doch kam Pelman die Kunst auf 1200 Lire
zu stehen! —;
Zu seinem Äußeren paßte seine olympische Ruhe, die ich übrigens
schon vor 35 Jahren an ihm bewunderte; schon damals machte er einen
völlig abgeklärten Eindruck. Ungeduldig sah man ihn nie, nervös konnte
er nicht werden. Willig hörte er die monotonsten Lamentationen, die
langweiligsten Expektorationen an. Heftig konnte er nicht werden.
Auch hatte er ein goldenes Herz. Niemand klopfte wohl vergebens bei
ihm an. Dabei gaben ihm seine ausgedehnten Verbindungen reichlich
Gelegenheit, Anderen zu helfen. Er war auch in materieller Hinsicht
nicht geizig. Auch konnte er es im Betteln mit dem besten Bettelmönch
aufnehmen; milde Beiträge für seine Anstalt fielen ihm in Menge und
in jeder Art zu. Auch manche Kriminellen hat er wieder auf die Beine
gebracht. Noch 14 Tage bevor er sich legte, korrespondierte er mit einem
berühmten Kriminalisten in Berlin in Sachen eines Mannes, der vor Jahren
seine Geliebte ermordet hatte, aber noch in Strafvollzug war und die Ab¬
sicht hatte, sich jetzt durch den Krieg zu rehabilitieren.
Seine ganze Persönlichkeit war wie geschaffen zum praktischen
Irrenarzt und Anstaltsleiter. Die Morgenrunde mit ihm zu machen war
ein Genuß. Er nahm jeden Kranken individuell, bot jedem sein Ohr.
Die Kranken vergötterten ihn teilweise. Er war für sie „der alte Kaiser“
oder der Kaiser Barbarossa, die Paralytiker überhäuften ihn mit Gold
und Edelsteinen. Auch den Portierposten an einem Brothelhouse, das
eine Prostituierte für einige tausend Mädchen in London-Ostend erbauen
wollte, mußte er über sich ergehen lassen. Er erreichte auch meist bei
den Kranken, was er wollte. Doch nahm er es auch nicht übel, wenn
es ihm einmal nicht gelang, seiner Persönlichkeit zum Siege zu verhelfen.
So erzählte er mit gutem Humor, wie er vor Jahren im Winterschnee
über die Alpen reiste, um ein mittelalterliches Fräulein im Salonwagen
aus einem Hotel in Oberitalien nach einem deutschen Krankenhaus über¬
zuführen. Es gelang ihm nicht, dagegen folgte die Widerspenstige nach
einigen Tagen dem Hotelkellner in einem Coupö niederer Güte nach hier.
Seinen Untergebenen und Mitarbeitern war er bis zuletzt ein an¬
genehmer Chef. Wie er ein Frühaufsteher war — er erschien im Sommer
und Winter morgens 7% Uhr in der Anstalt —, und wie er jede Arbeit
nach Möglichkeit sofort erledigte, so verlangte er auch von seinen Ärzten
Pünktlichkeit im Dienst und volle Hingabe an den einmal gewählten Be¬
ruf. Dabei kehlte er eigentlich den Vorgesetzten niemals heraus; mußte
er mal tadeln, so geschah es in schonender, väterlicher Weise. Hatte man
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ein Anliegen, so war es das Gegebene, zuerst zu ihm zu gehen, denn er
nahm auch persönlichen Anteil an dem Ergehen seiner Mitarbeiter. I n
Krankheitsfällen war es ihm Bedürfnis, täglich nach einem zu sehen,
ein Erfrischungsmittel zu bringen und dgl. —
Er pflegte auch sonst die Geselligkeit. Bei seinen Einladungen zum
Essen liebte er es, besondere Leckerbissen, meist exotischer Art, vor¬
zuführen. Er war ein Feinschmecker, Gourmet, nicht Gourmand, auf
die Menge gab er nichts. Es war bekannt, daß er die Zubereitung des
Mahles selbst überwachte, daß er Seite und Paragraphen des Kochbuches
vorschrieb. Er besaß auch eine große Sammlung von Kochbüchern;
gute Freunde, die seine Liebhaberei kannten, beschenkten ihn damit.
Gelegentlich teilte er mir mit, daß er das Hundert solcher Bücher jetzt
voll habe. Gern sprach er auch über seine Erlebnisse kulinarischer Art
in fremden Ländern. Er vertrat den richtigen Standpunkt, daß man nur
dann ein Volk richtig kennt, wenn man weiß, wie es sich nährt. Daß Pel¬
man auch ein guter Weinkenner war, brauche ich nicht zu sagen; er war
geborener Rheinländer und hatte die nötige Zunge. Aber auch im Trinken
war Pelman nicht unmäßig. Daß man ihn gelegentlich in einer Bierzeitung,
nicht in Bonn, als den alten Zecher Nestor bezeichnet hatte, hat ihn
lange geärgert. Verließ man dann zu später Stunde das gastliche Haus,
so konnte man im Zweifel sein, ob die materiellen oder die geistigen Ge¬
nüsse des Abends höher zu werten seien. Denn nach dem eigentlichen
Mahl, beim Glase Bowle, Kardinal oder dgl., war es Pelman, der am run¬
den Tische im bequemen Lehnsessel sitzend die ganze Tafelrunde unter¬
hielt. Da hörte man immer wieder gern, wie es im alten Bonn zur Zeit,
als die Weingärten noch an den Toren der Stadt begannen, aussah und
zuging, da erfuhr man, wie der erste Ausschank von Bier die Stadtbe¬
wohner in zwei feindliche Lager schied, wie Pelmans Vater wochenlang
den Sohn wie Luft behandelte, weil er einen Abend in einer Bierkneipe
zugebracht hatte, und dgl. Dann gab Pelman seine Erlebnisse in Sieg¬
burg, Stephansfeld, Grafenberg zum besten, schilderte in drastischer
Weise, wie eigentlich die jungen Psychiater in Siegburg die Stadtgewalt
in Händen hatten, wenn sie auch nicht mal über einen eigenen Haus¬
schlüssel verfügten und oft genug beim nächtlichen Nachhausekommen
beim Übersteigen des Anstaltstores an den Stacheln hängen blieben,
so daß z. B. ein später recht berühmt gewordener Berliner Kollege am
anderen Morgen in Pelmans Beinkleidern dem hohen Chef seine Auf¬
wartung machen mußte. Denn Siegburg war in damaliger Zeit das Mekka
der Psychiatrie. In Stephansfeld hat Pelman offenbar sehr glückliche
Tage verlebt, namentlich im Beisammensein mit Krafft-Ebing. — War
Pelman sehr animiert, so erzählte er auch aus seiner Manöverzeit ä la
Hackländer oder Kossak; dann erweckte er auch Zweifel in einem, ob
die Historiographen nicht unrecht tun, wenn sie die Erstürmung der Düp-
peler Schanzen nur allein Helmut v. Moltke, Papa Wrangel und dem Prin-
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jAN
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zen Friedrich Karl als Plus buchen. Dann kam man aus dem Lachen
nicht heraus. Pelman blieb bei seinen Mitteilungen aber immer diskret,
brauchte nie ein verletzendes Wort. Er war ein Feind jeden Klatsches
und namentlich jeder Zote.
Auch wäre das Bild von Pelman nicht wahrheitsgetreu, wollte man
ihn beurteilen allein nach dem, wie er sich gab in der Öffentlichkeit und
in größerem Kreise, wo er nicht merken ließ, welch reiches Gemütsleben
in ihm steckte, wie er sich für Natur und Kunst begeistern konnte. Traf
man ihn allein und bei Stimmung, so konnte er geradezu schwärmen in
Erinnerungsbildern, dann fühlte man, daß er neben seinem Schönheits¬
sinn auch ein recht empfängliches Herz hatte; es hat offenbar Zeiten
und Gegenden gegeben, wo er sich in eine Art Schönheitstrunkenheit
versetzt sah. So hatte es ihm in jungen Jahren Schottland angetan, später
der Süden, Florenz, Pisa, Capri, Sorrent, namentlich Taormina. Bei
der Kunst war es ebenso. Wie konnte er sich bis zuletzt noch begeistern
für die Stanzen Raffaels und seine Loggien! Den Eindruck, den vor 50
Jahren die Peterskirche, San Paolo fuori le mure u. a. auf ihn gemacht
hatten, merkte man jetzt noch in ihm. Bei solchen Schilderungen schlug
übrigens auch eine religiöse Saite in ihm an. Zustatten kam dabei Pelman
sein vorzügliches Gedächtnis. In Geschichte, Kunst, Literatur war er
überall zu Hause. Namen von Kranken zu behalten wurde ihm schwerer.
Auch Sachen, die ihn weniger interessierten, vergaß er leicht. So war
es auffallend und sprach zugleich für seine Stellung zu Orden und Ehren¬
zeichen, daß er vor nicht langer Zeit mich bat, Nachforschungen anzu¬
stellen, ob es wirklich wahr sei, daß man in einer gewissen rheinischen
Großstadt einer Straße seinen Namen gegeben hatte. Das war wirklich
der Fall und bereits vor über 20 Jahren geschehen. Daß man ihn seiner¬
zeit nicht um Erlaubnis gebeten haben soll, ist kaum zu glauben.
Pelman hatte nach Abgabe der Professur und Anstaltsleitung seine
Tätigkeit im Medizinalkollegium der Rheinprovinz auf Bitten seines Nach¬
folgers noch einige Zeit beibehalten, bis ihm das Beiwohnen längerer
Gerichtssitzungen zu schwer wurde; dann gab er das Amt an Thomsen
ab, um auch diesen noch zu überleben. Den Vorsitz im Psychiatrischen
Verein der Rheinprovinz hat er auf unser Drängen bis zu seinem Tode
beibehalten. Er hatte den Verein 1867 mitgegründet, seit 1889, seit dem
Tode von Werner Nasse, führte er den Vorsitz. Er verstand es prächtig,
eine Versammlung zu leiten; mochten auch die Wogen der Debatte noch
so hoch schlagen, die Ruhe verlor er nie, und meisterhaft verstand er es,
bei den peinlichsten Situationen einen befriedigenden Ausweg zu linden.
Zur allseitigen Freude konnte er auch noch der so wohlgelungenen Kriegs¬
sitzung im Juni 1916 präsidieren. Der Verein wird dem alten Vorsitzen¬
den noch lange nachtrauern.
Pelman hatte keine Feinde. Die Schar seiner Verehrer und nament¬
lich Verehrerinnen war groß. Wie es ihm an Orden und Ehrenzeichen
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nicht gefehlt hat, so überschütteten ihn seine Freunde bis in die letzten
Lebenstage mit Zeichen der Liebe. Oft wurde es ihm freilich lästig. So
mußte er z. B. darüber klagen, daß eine Verehrerin ihn hoch zu Roß mit
seinem Morgentrunk vom Balkon ins Zimmer trieb, daß eine andere
ihm auch in fernen Hotels Blumen auf das Nachttischchen zu zaubern
wußte. Daß eine andere ihn, noch in späten Jahren, zu einem trauten
Stelldichein zur Mitternachtsmette in eine russische Kapelle einlud, hat
ihn höchlichst amüsiert, Gebrauch hat er davon nicht gemacht. Nicht
verraten habe ich ihm, daß eine weitere Freundin mir Mitteilung machte,
sobald die Harnanalyse, die sie in fremden Hotels mit Hilfe des Zimmer¬
mädchens fertig brachte, ungünstig ausgefallen war.
Pelman ist unbeweibt geblieben. Er stammte aus kleinbürgerlichem
Kreise und hatte zahlreiche Geschwister, die er alle überlebt hat. Er
hatte das Glück, seine Mutter bis zu ihrem 98. Lebensjahre in voller gei¬
stiger Frische zu behalten. Rührend war es anzusehen, wenn der große
Mann der kleinen Frau — sie war halb so lang und nicht ein viertel so
schwer als er — im wohlgepflegten Garten seine Schätze zeigte; denn
er war auch ein großer Gartenkünstler.
Carl Pelman ist auf dem stimmungsvollen Alten Friedhof in Bonn
beigesetzt worden. Die Ruhestätte so mancher berühmter Menschen
lockt alljährlich eine große Anzahl Besucher dahin — auch Pelmans Grab
wird noch längere Zeit das Ziel vieler sein, die nicht aus Neugier, sondern
aus anderen Gefühlen kommen; denn hilfreich war der jetzt hier Ruhende,
edel und gut.
Pelman hat die Ruhe seines Alters dazu benutzt, die Vorlesungen,
die er während seiner akademischen Tätigkeit publice gehalten hat, in
erweiterter Form für ein größeres Publikum bei Friedrich Cohen in Bonn
herauszugeben. Diese „Psychischen Grenzzustände“ haben auch, wie zu
erwarten war und wie sie verdienen, viel Anklang gefunden, so daß be¬
reits mehrere Auflagen nötig wurden; es sind wahre Kabinettstücke
darunter. Sie geben Zeugnis von dem großen Wissen des Autors auf allen
möglichen Gebieten, namentlich Geschichte und Literatur. Sie geben
auch Zeugnis von der eleganten Schreibweise Pelmans. So ist seinen aka¬
demischen Vorlesungen ein bleibender Wert gesichert.
Auch die „Erinnerungen eines alten Irrenarztes“, ebenfalls bei
Friedrich Cohen erschienen, werden ihren Wert behalten, namentlich
für alle, die sich mit der Geschichte der Psychiatrie beschäftigen. Es
hat übrigens lange gedauert, ehe Pelman sich zur Niederschrift entschlos¬
sen hat. Von vielen Seiten ist er dazu gedrängt worden. Schließlich
hat wohl Hans Laekrs Wunsch in dieser Zeitschrift (Band 67, S. 491)
gelegentlich seines 50jährigen Doktorjubiläums das Eis gebrochen. Wer
die Erinnerungen liest, wird zugeben, daß es ein Verlust gewesen wäre,
wenn Pelman sie mit ins Grab genommen hätte. Manche seiner Freunde
bedauern übrigens, daß er nicht mehr von seinen Erlebnissen uns mit-
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geteilt hat. Vermutlich hat seine rigorose Ansicht in betreff Diskretion
ihn abgehalten.
Im übrigen war Pelman zeitlebens sehr viel literarisch tätig. Er
war bis zuletzt unter den Herausgebern dieser Zeitschrift, jahrelang der
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, damals
herausgegeben von Hermann Ebbinghaus und Arthur König. Für die
Real-Enzyklopädie der gesamten Heilkunde {Albert Eulenburg) und
die Deutsche Klinik am Eingänge des XX. Jahrhunderts (o. Leyden und
Klemperer) hat er verschiedene Artikel geschrieben. Die Generalregister
der grünen Hefte zeugen von seiner fleißigen Mitarbeit. Unzählige Re¬
ferate stammen von ihm, auch in der Tagespresse nahm er oft zu aktu¬
ellen Fragen das Wort. Eine einigermaßen vollständige Aufzählung von
Pelmans Arbeiten würde hier zu weit führen, doch gebe ich hier noch eine
kleine Zusammenstellung von einem seiner Freunde, die zwar nur eine
Reihe von Jahren umfaßt und auch nicht den Anspruch macht, voll¬
ständig zu sein, die aber doch zeigt, wie sehr man sich um Pelmans
Mitarbeit bemühte und wie vielseitig er auch literarisch tätig war.
Gutachten behufs Aufhebung einer Entmündigung. Irrenfreund (Bro-
sius), 39. Jahrg., Nr. 5 und 6. 1897.
Über die Entwickelung der Psychiatrie. Prag. Med. Wochenschrift
XXIII. 44—45. 1898.
Gutachten über den Gemütszustand der Margarethe E. Irrenfreund,
39. Jahrg., Nr. 9—10. 1898.
Uber die Einrichtung von Sanatorien für Nervenkranke. Zentralbl. f.
allg. Gesundheitspflege, 19. Bd., S. 441. 1900.
Dasselbe: Zeitschrift für Krankenpflege, 1901, Nr. 1.
Uber die Notwendigkeit der Gründung von Trinkerheilstätten. Alko¬
holismus, II. Bd., S. I. 1901.
Material zu § 1569 B. G. B. Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift Nr. 411.
S. 409. 1902.
Uber verminderte Zurechnungsfähigkeit. 75. Jahresbericht der Rhein.
Westfäl. Gefängnisgesellschaft. 1902.
Strafrecht und verminderte Zurechnungsfähigkeit. Polit.-Anthropol.
Revue. April 1903.
Über Fanatismus, Geistesstörung und Verbrechen. Deutsche Revue,
XXXI, S. 160. 1906.
Zäsarenwahnsinn. Deutsche Revue, XXXIII, S. 86. 1907.
Swedenborg — ein Verrückter? Psychische Studien, Heft 5. 1912.
_ Umpfenbach-Bonn.
Direktor Dr. Leopold Oster- Konstanz f- — Am 13. Januar
1917 verschied nach eben überstandener schwerer Erkrankung (einer
Lungenentzündung nach Influenza) plötzlich an einem Anfalle von Herz¬
schwäche der erste Direktor der neuen Heil- und Pflegeanstalt bei Kon¬
stanz, Medizinalrat Dr. Oster im Alter von 53 Jahren.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXITI. fl.
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Mit ihm sind innerhalb wenig mehr als zwei Jahren drei badiscl
Anstaltsdirektoren ins Grab gesunken: Franz Fischer in Pforzheir
Heinrich Schule in Illenau und nun der jüngste von uns, Leopold Oste
der Direktor zugleich der jüngsten der badischen Anstalten. Alle dr
verstorbenen Direktoren sind hervorgegangen aus der Illenauer Psj
chiaterschule, als deren Lehrmeister mit den Begründern Roller un
Hergt vor allem Heinrich Schule selbst zu nennen ist; Franz Fischer un
Oster bezeichneten sich mit Stolz als seine Schüler, und Oster hat übe
25 Jahre unter seiner Leitung gewirkt.
Leopold Oster ist geboren am 31. Oktober 1863 in Rastat
als Sohn eines gesuchten praktischen Arztes. Während seii
Vater früh starb, überlebt die Mutter, jetzt eine über 82 jäh
rige rüstige und ehrwürdige Matrone, nun ihren jüngsten Sohn
Nach Vollendung des medizinischen Studiums in Straßburg, Heidelberg
und Freiburg trat Oster bald nach dem Examen, am 9. Juli 1887 in Illenau
als Hilfsarzt ein, wo damals der erste Nachfolger Rollers, Geh. Rat Dr.
Hergt, das Zepter führte, während Geh. Hofrat Dr. Schäle noch zweiter
Arzt war. Unter Hergt, diesem weisen und milden Herrscher, diesem
großen psychiatrischen Praktiker und Therapeuten, der so ganz in seinem
Berufe aufging, daß er weder tägliche Erholung noch Jahresurlaub kannte
und zu jeder Tages- und Nachtstunde für seine Kranken erreichbar war,
machte Oster seine ersten psychiatrischen Studien; er hätte keinen besse¬
ren Lehrer finden können als diesen Meister in der klinischen Unter¬
suchung, Beobachtung und Behandlung. Die feinsinnige, eindringliche
und doch schonende Art der Erforschung der menschlichen Seele und
ihrer Irrgänge, die alle Möglichkeiten erschöpfende und durchdenkende
Feststellung des Heilplans, das liebevolle Sichversenken und Mitgehen
mit dem Kranken durch seinen Leidensgang und damit auch zugleich
die Macht der seelischen Einwirkung war Hergis eigentliche Domäne.
Unter seiner Hand wurde manche Untersuchungs- und Behandlungs¬
methode ausgebildet und geübt, lange bevor sie in der Literatur beschrie¬
ben wurde; ich nenne hier nur die Kunst der Wachsuggestion und die
Methode des Abreagierens, womit die Illenauer Ärzte von jeher ver¬
traut waren. Auch der Nachfolger Hergts, der dritte Direktor Illenaus,
Heinrich Schäle hat diese Größe der Hergtschen menschlichen und ärzt¬
lichen Persönlichkeit stets voll auf sich wirken lassen und sie ehenso an¬
erkannt wie die wiederum anders geartete machtvolle Natur Rollers,
des Erbauers und Begründers von Illenau, des großen Organisators des
ganzen badischen Irrenwesens.
Oster hat diesen Zusammenhang mit Hergt, dem er sich innerlich
verwandt fühlen mochte, gern betont und hat ihm ein dankbares An¬
denken bewahrt wie nicht minder seinem zweiten großen klinischen
Lehrmeister Schäle, der ira Jahre 1890 nach Hergts Tod als genius rector
unter uns trat. In solcher Schule reifte Oster zum tüchtigen Psychiater
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und erfahrenen Abteilungsarzte heran. Eine ausgesprochene Befähigung
zu diesem Berufe war ihm unverkennbar eigen. Er vereinigte in sich
unbedingte ärztliche Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit bis ins kleinste
mit einem förmlichen Drang, sich bei jedem einzelnen Kranken in alle
Beziehungen und Seiten seiner Gesamtpersönlichkeit zu vertiefen, sich
die ursächlichen Zusammenhänge der krankhaften Veränderung auf
Grund eingehender und umfassender Erforschung aller Faktoren klar zu
machen und darauf seine ärztlichen Anordnungen und die psychische
Beeinflussung aufzubauen. Er hielt sich dabei frei von theoretischen
oder spekulativen Deduktionen, blieb in allem auf dem Boden
der Wirklichkeit und war nicht zum wenigsten darum ein stets verlä߬
licher Arzt, dem die Fürsorge für seine Kranken zudem als innerste Her¬
zenssache galt. Dazu kam ein offener natürlicher Sinn für das Praktische
und die Überzeugung von der Notwendigkeit der realen Grundlagen
auch für alle höheren menschlichen Ziele. Ein wirklich liebevolles Ein-
und Aufgehen in der Verfolgung dieser Beziehungen adelte sein Streben.
Diese Eigenschaften in ihrer gesunden Vereinigung kamen Oster sehr
zustatten nicht nur in der sorgfältigen Einzelbehandlung, sondern auch
in der Gesamtführung seiner Abteilungen, die stets in peinlicher Ord¬
nung waren — er sah alles —, wie auch in der Ausbildung und Anlei¬
tung des Personals, das ihm in gleichem Maße Belehrung und Unter¬
stützung verdankte.
Die Illenauer Lehrzeit Osters waren schöne Jahre gemeinsamen
Strebens mit Gleichgesinnten, von denen ich an älteren die Namen Franz
Fischer, Stark, Seldner, Länderer, Dietz, die alle bereits dahingeschieden
sind, und von Lebenden außer mir selbst noch Colla, Horstmann, Thoma
und Hegar nenne. Es waren schöne Jahre in der von einer gottbegnadeten
Natur umgebenen Illenau, Jahre ernster aber freudig getaner ärztlicher
Arbeit unter der begeisternden Führung Heinrich Schüles. Den Kranken,
ihrer klinischen Erforschung und Behandlung, der sorgfältigen Nieder¬
legung der Beobachtungen in den Krankengeschichten, der wissenschaft¬
lichen Besprechung und Bearbeitung des Materials in den gemeinsamen
Referaten und Konferenzen galt unser ganzes Streben. Für die Kranken
hatte man immer Zeit, viel Zeit. Stundenlang ließ sich der Arzt auf jeder
seiner Abteilungen nieder, setzte sich ans Bett oder in den Tagsaal unter
seine Kranken, am liebsten und längsten bei den Unruhigen; man be¬
lauschte jede Einzelheit, machte frisch seine Aufzeichnungen, kurz be¬
schäftigte sich aufs eingehendste mit jedem einzelnen. Das gab dem
Arzte, weil er den Kranken und sie ihm innerlich näher und näher traten,
ihn als Vertrauten betrachteten, auch die Macht der Einwirkung auf
Willen und Gemüt und erleichterte aufs natürlichste, weil beiden kaum
bewußt, die Leitung des Pflegebefohlenen. Es führte aber auch den Arzt
immer wieder zu eigenem Nachdenken über die Besonderheit des ein¬
zelnen Kranken, wobei jeder Fall ein „interessanter“ blieb, und regte
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Kleinere Mitteilungen.
ihn infolge seiner innerlichen Beteiligung zu immer neuen Heilbestrebun¬
gen an. So verstanden wir die klinische Psychiatrie in der Ausübung.
Nach getaner Arbeit kam aber auch gemütvolle Geselligkeit bei uns
zu ihrem Rechte unter dem Zeichen befreienden Humors, worin gerade
Oster ein treffsicherer, doch nie verletzender Schütze war, und echter
Männerfreundschaft, die fürs Leben galt und alle Proben bestand.
Vom jüngsten Hilfsarzte rückte Oster im Laufe der Jahre zum
selbständigen Abteilungsarzte zunächst der Pflegeabteilung, dann der
Heilabteilung der Männer und schließlich der Heilabteilung der Frauen
auf, wurde etatmäßiger Anstaltsarzt, Oberarzt, Medizinalrat und war
als zweiter Arzt lange Jahre der Vertreter des Direktors, womit bei den
besonderen Verhältnissen der Illenau eine erhöhte Geschäftslast und Ver¬
antwortlichkeit einhergeht. An vielen wichtigen Vorlagen an die Re¬
gierung war er beteiligt, wobei ihn sowohl eingehende Sachkenntnis und
reiche Erfahrung wie auch eine ausgesprochene Fühlung für das jeweils
Erreichbare auszeichnete. Eine andere wichtige Seite des Osterschen
Wirkens ist seine Sachverständigentätigkeit. Es wird wenig Ärzte geben,
die eine solche Fülle von großenteils sehr schwierigen gerichtlichen Gut¬
achten bewältigt haben. Auch hierin kamen seine Vorzüge: Sachlich¬
keit, Gründlichkeit, allseitige Beleuchtung und Durchdringung des Stoffs,
ruhiges objektives Urteil voll zur Geltung.
Literarisch ist Oster nicht hervorgetreten; das war ein Betätigungs¬
zweig, der ihm nicht lag. Er widmete sich lieber seinen Abteilungen.
Es ist aber schade, daß so sein reiches Wissen, sein reifes Urteil und seine
praktische Erfahrung sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht wie in allen
psychiatrischen Tagesfragen für weitere Kreise verloren ging. Wer sich
mit ihm darüber aussprechen konnte, der ging nie ohne Gewinn von ihm.
Im Juli 1912 konnte Oster sein 25jähriges Dienstjubiläum als An¬
staltsarzt in Illenau feiern und durfte dabei die große Anhänglichkeit
seiner Kranken und der vielen unter seiner Hand Gesundgewordenen,
die Wertschätzung seines Direktors und seiner Kollegen sowie aller, die
ihm beruflich oder persönlich nähergetreten waren, entgegennehmen.
Bald sollte an ihn aber der Ruf zu einer höheren Aufgabe an lei-
tender Stelle ergehen. Sofort nach der Inangriffnahme der Heil- und
Pflegeanstalt Wiesloch hatte die Regierung auch das Projekt der zweiten
neuen Heil- und Pflegeanstalt für Baden, der bei Konstanz, aufgenommen
und auf dem schönen Bauplatze am Untersee gegenüber der Insel Rei¬
chenau, in einer landschaftlich ausgezeichneten Lage zur Ausführung ge¬
bracht. Es war gleichfalls eine moderne Anstalt im Pavillonsystem, bei
deren Erstellung die an der Wieslocher Anstalt gemachten Erfahrungen
in Bau und Einrichtung berücksichtigt werden konnten. Zum Direktor
dieses großen Werks der Irrenfürsorge wurde von der Regierung im Au¬
gust 1912 Medizinalrat Dr. Oster berufen. Die Wahl hätte keinen Wür¬
digeren treffen können. Er widmete sich seiner Anstalt denn auch mit
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Kleinere Mitteilungen.
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der ganzen ihm eigenen unermüdlichen Sorgfalt, Umsicht und Tatkraft,
wie sie allerdings ein bei der Eröffnung im Anfangsstadium befindliches,
stalt nicht kennt, sind hier zu überwinden. Oster richtete die Anstalt
auf Grund seiner reichen praktischen Erfahrungen, die er durch gründ¬
liche Besichtigung einer Reihe von neuen Anstalten ergänzt hatte, voll¬
ständig ein. Gegen den Herbst 1913 waren alle Vorbereitungen so weit
gediehen, daß man an die Inbetriebnahme gehen konnte. Am 11. Oktober
1913 fand eine Besichtigung der neuen Anlage durch die Spitzen der Be¬
hörden, die drei Herren Minister des Innern, der Finanzen und des Kul¬
tus und Unterrichts und andere hohe Beamte des Landes und aus dem
nahen Konstanz statt, die mit einer festlichen Zusammenkunft im präch¬
tigen Raume des Festsaals der neuen Anstalt endete, wobei des gelunge¬
nen Werkes und der hauptsächlichsten Mitarbeiter gedacht wurde. Da¬
mit war die Anstalt eröffnet. Die folgenden Jahre waren arbeitsreich
und mühevoll, sollte doch die neue Anstalt mit Beschleunigung ausge¬
baut werden, um der Not in der Landesirrenfürsorge nach Möglichkeit
zu steuern. Eine außerordentlich rege Tätigkeit auf allen Gebieten, so¬
wohl im Anstaltsbetriebe wie auch bei der Beratung und der Fortführung
des Neubaus mußte vom Anstaltsleiter entfaltet werden. Ein neuer Pa¬
villon nach dem andern erstand; für alle mußte die innere Einrichtung,
die feste und die bewegliche, beschafft werden, wobei die neuesten Er¬
fahrungen benutzt wurden. Dazu kam die organisatorische Arbeit bei
der Neuformung des ganzen Betriebs, der Einführung des Personals,
der Heranbildung vieler jungen ungeübten Kräfte, der Erziehung aller
zum gemeinsamen Werke in einheitlichem Geiste, wobei Oster die unüber¬
treffliche Illenauer Tradition als Vorbild diente, gut gemengt mit dem,
was eigene Erfahrung und Erkenntnis in langen Jahren in ihm gereift
hatte. Unermüdlich und begeistert ging Oster in dieser ihn voll befriedi¬
genden Arbeit auf. Dazu besorgte er vielfach Abteilungsdienst oder hielt
regelmäßige und häufige Visiten ab, sowohl auf den Krankenabteilungen
wie auch in den anderen Anstaltsbetrieben.
Mitten in diese wichtige Zeit des Aufbaus und der Neugestaltung
griff dann als unerbittliches Hemmnis für alle Bauarbeiten, aber auch
für die innere Festigung des neuen Unternehmens der Weltkrieg mit sei¬
ner gewaltsamen Umstürzung aller menschlichen Verhältnisse ein. Es
war Oster die größte Sorge seines Lebens, daß dadurch so ziemlich alles
liegen bleiben mußte, wie es war. Aber auch so bewährte er sich als der
ruhige und besonnene Anstaltsleiter. Er nahm noch ein Vereinslazarett
für Verwundete in seine Anstalt auf, dem er selbst größte Sorgfalt wid¬
mete; er sprang für einen zur Fahne einberufenen Kollegen selbst viel¬
fach als Abteilungsarzt ein. Er schuf, ungeachtet der großen Schwierig¬
keiten, die Kriegswirtschaft seiner Anstalt in geradezu vorbildlicher
Weise um, wobei er die soziale Fürsorge für seine Beamtenschaft nicht
Vergaß.
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Kloinere Mitteilungen.
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von Jahr zu Jahr im Ausbau anwachsendes Unternehmen auch durch¬
aus erforderte. Viele Schwierigkeiten, die der Betrieb einer fertigen An-
Möglicherweise hatte Oster dabei seiner Kraft zuviel zugemutet;
wenigstens datiert aus dieser Zeit ein Rückgang seiner Konstitution,
zumal er sich nie geschont, keinen Urlaub sich gegönnt, sondern sich mit
eiserner Energie immer voll eingesetzt hatte.
Er war eben ein Mann der Pflicht, die, wie es sein soll, als ein inne¬
rer Drang, der die höchsten Anforderungen an sich selber stellt, sein
ganzes Wirken leitete. So hat er als ein tüchtiger Mensch, als vorbild¬
licher Arzt, als ein allem und jedem gerechter Vorgesetzter, als pflicht¬
treuer Beamter und Staatsbürger, als ein aufrechter, ganzer deutscher
Mann, ein untadeliger Charakter von unbedingter Wahrhaftigkeit und
Zuverlässigkeit seine Erdenaufgabe aufgefaßt und sein Leben restlos
damit erfüllt, bis zum Tode seinem geliebten und schönen Amte als Arzt
und Menschenfreund getreu. Max Fischer- Wiesloch.
Personalnachrichten,
Dr. Alfons Schaefer, Dir. des Genesungshauses zu Roda, wurde zum
Geh. Medizinalrat,
Dr. August Homburger, Priv.-Doz. in Heidelberg, zum ao. Professor,
Dr. Otfried Förster, Priv.-Doz. in Breslau, zum ord. Honorarprofessor
ernannt.
Dr. Hans Willige, Priv.-Doz. in Halle, wurde der Titel Professor verliehen.
Freiherr Dr. Karl von Blomberg, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Kosten,
ist zum Ehrenritter des Johanniterordens ernannt worden.
Dr. Karl Blümcke, z. Z. in englischer Gefangenschaft, und
Dr. Karl Volland, beide Oberärzte in Bethel b. Bielefeld, haben das
Eiserne Kreuz 1. Kl.,
Dr. Hubert Schnitzer, leit. Arzt d. Kückenmühler Anstalten in Stettin, und
Dr. Emil Schröder, Arzt in Weißenau, das Eiserne Kreuz 2. Kl., Dr.
Schröder außerdem das Ritterkreuz 1. Kl. des Württ. Frie¬
drichsordens mit Schwertern,
Dr. Alfons Schaefer in Roda das Fürstlich Reußische Ehrenkreuz
3. Kl. mit Krone, und
Dr. Erwin Friedei, Oberarzt des Genesungshauses in Roda, die Herzog
Ernst-Medaille erhalten.
Druckfehler.
Im Bericht über die Münchener Versammlung ist S. 171 dieses
Bandes statt GoMstein-Frankfurt a. M. zu setzen: Goldstein -Halle a. S.
Ferner soll es in den Kleineren Mitteilungen des 5. Heftes S. 488,
Z. 20 heißen: „daß das gewählte Mittel zunächst eine (statt: keine) Er¬
krankung zur Folge haben werde“.
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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BONHOEFFER und KREUSER
BERLIN WINNENTAL
DURCH
HANSLAEHR
SCHWEIZERHOF
DREIUNDSIEBZIGSTER BAND
I. LITERATURHEFT
BERLIN
W. 10. GENTHINERSTRASSE 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1917
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A. Neurosen.
Der Krieg hat hier ein sehr reiches Beobachtungsmaterial geliefert
und besonders die Gelegenheit gegeben, ganz „reine“ Fälle zu untersuchen,
deren Ätiologie von vornherein klar war. Besonders war es möglich, eine
Zahl von Beobachtungen auszusondern, deren Form den traumatischen Neu¬
rosen entsprach. So ist denn der alte Streit über das Wesen dieser Er¬
krankung wieder aufgenommen.
Oppenheim (118) betont ausdrücklich, daß er für eine „traumatische
Kriegsneurose“ nicht eingetreten ist. Zur Vermeidung von falschen Deu¬
tungen legt er noch einmal seinen Standpunkt klar und führt aus, daß unter
den Neurosen traumatischer Natur die Neurasthenie eine große Rolle spielt,
zum großen Teil in Verbindung mit Hysterie. Viele Symptomenkomplexe
passen aber in diesen Rahmen nicht recht hinein, wie z. B. der Tic, die ver¬
schiedenen Formen des Zitterns und namentlich die Crampi musculorum.
Diese Phänomene sind nur verständlich, wenn man die von Oppenheim auf¬
gestellte Erschütterungstheorie zu Hilfe nimmt, nach welcher sowohl das zentral
wie das peripher angreifende Trauma nicht anatomische, aber doch physi¬
kalische Veränderungen hervorruft Es entsteht dann eine Betriebsstörung
im Mechanismus der zentralen Innervation, die ihren Ausdruck findet 1. in
der falschen Verteilung der motorischen Impulse, 2. in der Hypoinnervation
und 8. in der Hyperinnervation der Muskeln derart, daß an die Stelle der
einfachen Muskelkontraktion der Tremor und die tonische oder die spastische
Muskelaktion, der Crampus, tritt Den höchsten Grad dieser Anomalie
bildet die Lähmung. Verf. hat sich mehr und mehr von der Richtigkeit
dieser Auffassung überzeugt Der von seinen Gegnern geschaffene Begriff der
Rentenhysterie würde sich nur aufrechterhalten lassen unter Voraussetzung
der psychischen, der ideogenen Entstehung aller Erscheinungen mit der so
bequemen Verschiebbarkeit der Grenze zwischen Hysterie und Simulation
Von letzterer sowie von Mangel an Energie, die Krankheit zu überwinden,
hat Oppenheim bei den Kriegsteilnehmern nicht viel gesehen. Er hebt noch
besonders hervor, daß er nicht etwa nur Berliner Material, sondern Soldaten
aus allen Gegenden des Reiches in Behandlung hat, und daß er auch eine
etwaige psychische Beeinflussung nicht beobachtet hat-
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16 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
In einer weiteren Veröffentlichung kündigt Oppenheim (119) eine später
erscheinende Monographie über Neurosen nach Kriegsverletzungen an. Er
hat das Gebiet in fünf Gruppen eingeteilt: I. traumatische Hysterie,
II. traumatische Neurasthenie, III. Hysteroneurasthenie, IV. traumatische
Neurose im engeren Sinne, V. Kombination von organischen Erkrankungen
des Nervensystems mit Neurosen traumatischen Ursprungs. Abteilung
III und IV umfassen die traumatische Neurose im engeren Sinne. Verf.
betont besonders, daß die psychogene resp. ideogene Entstehung der Sym¬
ptome, der „traumatischen Hysterie“, nur eine geringe Rolle spielt Die Krank¬
heitsbilder sind fast durchweg das Ergebnis einer psychischen und physischen
Erschütterung; auch durch Reizzustände in der Peripherie ausgelöste reflek¬
torische Zustände kommen sehr in Betracht. Bei den als Akinesia amnestica
und Reflexlähmung bezeichneten Lähmungszuständen hat sich eine starke
Bevorzugung der linken Seite herausgestellt, eine Tatsache, die ebensowenig
mit der Annahme einer ideogenen Entstehung in Einklang zu bringen ist
wie die Beobachtung, daß am Bein die Lähmung so gut wie immer distal-
wärts zunimmt und am längsten in den Fußmuskeln persistiert.
Weiter berichtet Oppenheim (120) über seine Kriegserfahrungen, die in
mancher Hinsicht bisher nicht bekannte Tatsachen zutage gefördert haben.
So ist bei den Kriegsverletzungen des Gehirns die große Seltenheit der
Spätabszesse aufgefallen; die Kenntnis der Symptomatologie der Hirnschüsse
konnte erheblich erweitert werden. Bei den Schüssen, die das Rückenmark
verletzt hatten, wurde als häufigste Folge eine umschriebene Nekrose be¬
obachtet; ferner ist das Vorkommen disseminierter Herderkrankungen festge¬
stellt, auch in seltenen Fällen Broten-Sfquardsche Lähmung mit homolate¬
raler Anästhesie. Die Verwundungen des peripheren Nervensystems haben
die Bestätigung der Stoffel sehen Lehre von den gesonderten Bahnen im
Nerven gebracht, besonders beim Ischiadikus ist dies sehr hervorgetreten.
Auch das Verhalten der elektrischen Erregbarkeit bei peripherischer Nerven¬
lähmung gab Veranlassung zu neuen Beobachtungen, ebenso eine Reihe von
Begleiterscheinungen der traumatischen Neuritis. Der Verf. betont auch hier
seine Überzeugung bezüglich der Entstehung der Neurosen und führt weiter
aus, daß organische und funktionelle Nervenkrankheiten auffallend häufig mitein¬
ander verknüpft sind. Unter den Symptomen der traumatischen Neurasthenie
nennt er die Neigung zu leichten Temperatursteigerungen, Symptome von
Hyperthyreoidismus, Akinesia amnestica und Reflexlähmung. Die enorme
Bevorzugung der linken Körperhälfte ist wohl auf die Unterwertigkeit der
rechten Hirnhemisphäre zurückzuführen.
Einen anderen Standpunkt in der Auffassung der traumatischen Neu¬
rosen vertritt Nonne (114). Er fand unter 66 Fällen funktioneller Er¬
krankungen des Nervensystems bei Kriegsverletzten nur sechsmal das Krank¬
heitsbild, das man früher als „traumatische Neurose“ bezeichnet». Am
häufigsten unter den Neurosen war die Hysterie, dann die Neurasthenie,
konstitutionelle Nervosität und die Erschöpfungsneurose. Die häufigste Ur-
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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
17*
sache der Neurosen nach Trauma im Kriege sind Granatexplosionen, wobei
der psychische Schock die größte Rolle spielt. Durch geeignete suggestive
Therapie kann man oft plötzliche Heilung erzielen, es spricht dies gegen
die Annahme anatomischer Veränderungen. Die Prognose der Neurosen ist
an sich günstig. Der Name „traumatische Neurose“ ist zu vermeiden, weil
sich mit ihm häufig der Begriff der Unheilbarkeit verknüpft und es auch
eine durch Trauma bedingte charakteristische, spezifische Neurose nicht gibt.
Auch Bunnetnann (26) ist nicht geneigt, die Symptome der traumati¬
schen Neurose durch physikalische Folgen der Erschütterung im Sinne
Oppenheims zu erklären, und führt eine Reihe von Gründen gegen diese
Theorie an.
Oppenheim (121) bringt einige Beiträge zur falschen Innervation (In¬
nervationsentgleisung); er versteht darunter die Erscheinung, daß der Ver¬
letzte die Bewegungsenergie auf andere Muskeln ablenkt oder die Antago¬
nisten kontrahiert. Besonders häufig hat er diese Erscheinung bei Schu߬
verletzungen des N. accessorius gesehen, ferner mehrfach bei Beschädigung
des Ischiadikus sowie bei nicht organisch bedingter Paraplegie oder Mono¬
plegie des Beines meist infolge von Granatexplosionen. In den letzteren
Fällen betraf die Lähmung immer am stärksten und längsten die Fu߬
muskeln ; wenn die Patienten schließlich den Fuß strecken konnten, geschah
dies nur unter gleichzeitiger Kontraktion des Quadrizeps.
Bruns (23) hat bei Kriegsverletzten vielfach Verletzungen der peri¬
pheren Nerven gesehen. Aufgefallen ist ihm die rasche Herabsetzung der
galvanischen Erregbarkeit, die Beobachtung Oppenheims des späten Eintretens
der Zuckungsträgheit hat er noch nicht gemacht. Heftige Schmerzen spre¬
chen nach Ansicht des Verf. für partielle Läsion oder echte infektiöse Neu¬
ritis. Auffallend waren noch die Schlafstörungen und das starke Schwitzen
der Verletzten. Bruns rät bei starken Schmerzen zu baldiger Operation,
in einigen Fällen half die Neurolyse, in anderen nicht. Wärme wurde meist
wohltuend empfunden, vermehrte aber bis weilen auch die Schmerzen.
Oppenheim (122) hat öfter bei Soldaten den von ihm als Myotono-
clonia trepidans bezeichneten Symptomenkomplex beobachtet. Die moto¬
rische Störung bestand aus einer Neigung zu tonischer Muskelanspannung
oder Crampus, zu klonischen Zuckungen und zu Zittern, ln der Ruhe fehlten
diese Erscheinungen meist, es genügte schon die Bewegungsiutension, um
sie auszulösen. Oppenheim sah das Leiden am häufigsten bei Männern im
Anschluß an Verletzungen auftreten, und zwar im Geleite der Hysteroneur-
asthenie und Neurose, nur ausnahmsweise bildet sie das einzige Krankheits¬
symptom. Es ist anzunehmen, daß die neuropathische Diathese das Zu¬
standekommen des Syndroms begünstigt, und daß es in erster Linie durch
psychischen und physischen Schock hervorgerufen wird. Es kann sich dabei
nur um feinste Schädigungen.des zentralen Innervationsmechanismus handeln.
Die Möglichkeit eines muskulären Ursprungs muß verneint werden.
Löwenstein (92) hat bei einer größeren Anzahl von Patienten mit
Zeitschrift für Psychatrie. LXXIII. Lit. b
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18 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Schußverletzungen peripherer Nerven und bei Polyneuritiden die Schmerzen
durch Injektionen von Vakzineurin gebessert und zum Teil auch völlig ge¬
heilt. Vakzineurin ist eine Mischung von Antolysaten des Bacillus prodigiosns
und des Staphylokokkus und wird dreimal wöchentlich in steigender Dosis mit
V#o ccm beginnend intramuskulär eingespritzt. Nachteilige Folgen wurden
nicht bemerkt.
Riebeth (141) hält eine zweimonatliche Behandlnngsdauer der Kriegs¬
neurastheniker im Lazarett für ausreichend, damit nicht Dauerinsassen ge¬
züchtet werden. Die Rückverweisung zur Trappe als garnisondienst- oder
arbeitsverwendungsfähig ist stets im Auge zu behalten. Als bestes Mittel
zur Vermeidung der Schädlichkeiten des Rentenkampfes sieht Verf. die ein¬
malige Abfindung an, trotzdem auch diese nicht frei von Nachteilen ist.
Sehr wichtig ist noch ein möglichst großes Entgegenkommen der Arbeitgeber
und Arbeitsvermittlungsstellen, wobei die Ärtzte in ausgedehntester Weise
mitwirken müssen.
Juliusburger (75) bringt die Krankengeschichten dreier Individuen mit
ausgesprochen infantilen Zügen und psycho-sexueller Indifferenziertheit, bei
denen ein stark femininer Einschlag im Seelenleben und den körperlichen
Ausdrucksbewegungen unverkennbar war. Ist die feminine Veranlagung
erheblich, so hat es keinen Zweck, die Patienten dem Heeresdienst wieder
zuzuführen, in den angeführten Fällen hatten sich die Kranken als dienst¬
untauglich erwiesen.
Horn (71) tritt für die einmalige Kapitalabfindung bei Unfallneurosen
ein, wenn es sich um Haftpflicht handelt. Bei Neurosen nach gewerblichen
Unfällen soll man ebenfalls vom Abfindungsverfahren möglichst Gebrauch
machen. Vollrente ist nur ausnahmsweise angebracht, meist werden sich
Renten von 30—60%. die allmählich zu entziehen sind, empfehlen. Berufs¬
wechsel ist meist nicht notwendig, die Errichtung staatlicher Arbeitsnach¬
weisstellen für beschränkt Erwerbsfähige ist notwendig. Verf. schlägt vor,
daß die Kapitalabfindung bei gewerblichen Arbeitern schon bei Teilrenten bis
33%% ermöglicht wird; in Haftpflichtfällen mnß der § 843,3 BGB. dahin
abgeändert werden, daß auch auf alleinigen Antrag des Haftpflichtigen hin
Kapitalabfindung statt Rente zugesprochen werden kann.
In einer weiteren Veröffentlichung betont Horn (69), daß der weitere
Verlauf der Unfallneurosen fast ausschießlich von der Handhabung des Ent-
schädignngsverfahrens abhängt. Von 136 abgefundenen nervösen Erkran¬
kungen nach Eisenbahnunfällen waren schon wenige Jahre später geheilt im
sozialen Sinne 70%, wesentlich gebessert 16%, unverändert ll,8 # /c ver¬
schlechtert 2,2%. Unter 31 Fällen desselben Materials, die Rente erhielten,
war nur zweimal eine derartige Besserung festzustellen, daß Rentenver-
minderang statttinden konnte. Komplikationen mit organischen Krankheiten
verschlechtern natürlich die Prognose. Den Namen „traumatische Neurose*
will der Verf. fallen lassen, da mit ihm der Begriff der Unheilbarkeit vielfach
verbunden wird.
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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
19 *
Derselbe Verf. (70) schätzt die partielle Simulation bei Unfallneurosen
auf mindestens */» aller Fälle, während totale Simulation sehr selten ist
Die durch unberechtigten Rentenkampf entstandenen nervösen Beschwerden
sind sowohl bei Privatpersonen als unfallversicherten Arbeitern nicht als
Unfallfolgen anzuerkennen. Die günstigsten Heilungsaussichten bieten die
Schreckneurosen, die in mittelschweren Fällen meist spätestens nach zwei
Jahren völlige Wiederherstellung erwarten lassen; auch die nach Rommotion
und sonstiger lokaler Läsion entstandenen Neurosen heilen gewöhnlich nach
einigen Jahren aus.
In einer weiteren Arbeit hat Horn (67) die Schreckneurosen aus dem
Gebiet ber Unfallneurosen in klinischer und nnfaUrechtlicher Beziehung ab¬
zugrenzen versucht, wozu ihm ein Material von 100 „reinen“ Fällen zur
Verfügung stand. Er betont, daß auf psychischem Gebiete besonders die
Erscheinungen der akuten Verwirrtheit hervortreten, daß aber auch in soma¬
tischer Beziehung ein charakteristischer Symptomenkomplex besteht, der in erster
Linie das Herz und die Blutgefäße betrifft. Die große Mehrzahl der Kranken
besteht aus schon vorher nicht intakten, zum mindesten stark disponier¬
ten Individuen. Die Auslösung resp. Verschlimmerung von Diabetes melli¬
tus, insipidus, M. Basedowii und anderen organischen Erkrankungen durch
Schreck erfolgt durch das vegetative Nervensystem. Verf. weist abermals
auf den großen Wert der Kapitalabfindung hin; die Regelung der Entschädi¬
gungsansprüche ist ausschlaggebend für die Prognose.
Horn (68) betrachtet die Schreckneurosen als scharf umschriebene
Gruppe der Unfallneurosen. Neben den psychischen Erscheinungen treten
besonders kardiovaskuläre Symptome hervor. Die Heilungsaussichten sind
bei einmaliger Abfindung günstig, selbst in anfangs sehr schwer erscheinenden
Fällen. Die Zuerkennung einer zeitlich begrenzten, fallenden Rente ist
lediglich als Notbehelf anzusehen.
Weber (176) betont, daß die Unfallneurosen in erster Linie psychogen
bedingt sind, und warnt dringend davor, bei der ersten Untersuchung und
Begutachtung Krankheitsvorstellungen zu erwecken und die Aufnahme eines
genauen Nervenstatus zu versäumen. Er führt eine Beobachtung an, in
welcher erst durch das Eingreifen des Arztes aus einem harmlosen Vorfall
ein Unfall wurde. Die Gewährung einer Rente wurde dann für die Frau
die Veranlassung, eine spätere Verletzung entsprechend auszunutzen und einen
dritten Unfall anscheinend zu erfinden. Erst die Anstaltsbeobachtung ergab das
Fehlen aller schädlichen Folgen.
Rumpf (146) hat die Frage der nervösen Erkrankungen nach Unfällen
einer Prüfung unterzogen. Die Untersuchung der Spätfolgen von 90 Schädel¬
brüchen zeigte neben Ausfallserscheinungen und außer der nicht seltenen
Epilepsie vorwiegend Kopfschmerzen, Schwindel, Abnahme des Gedächtnisses
und der Merkfähigkeit, Intoleranz gegen Alkohol, Aufregungszustände, Charak¬
terveränderung und Erhöhung des Druckes der Lumbalfiüssigkeit. Ferner
wurde in 173 Fallen der Verlauf nervöser Erkrankungen nach Eisenbahn-
b*
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20*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Unfällen geprüft. Es ließ sich hier ein Krankheitsbild abtrennen, das einen
im wesentlichen vasomotorischen Symptomenkomplex zeigt und besser als
Schreckneurose wie als Hysterie zu bezeichnen ist. Wesentlich verschieden
davon sind die nervösen Störungen nach Kopftraumen mit zerebralen Er¬
scheinungen. Nach allgemeinen Erschütterungen treten wieder ausgesprochen
neurasthenische Symptome auf. Wirken mehrere ätiologische Momente
ein, so werden die Krankheitsbilder wesentlich komplizierter. Geheilt waren
68% der Fälle, gebessert 13,3, unverändert 28%, verschlimmert 2,7%
Dagegen waren, wenn man nur die Fälle berücksichtigte, die im ersten Jahre
dnrch Kapital definitiv abgefunden waren, 81,6% geheilt, 8,6% gebessert;
es ist also bei dieser Kategorie die Prognose sehr günstig. Bei den durch
Eisenbahnunfälle hervorgerufenen funktionellen Erkrankungen des Nerven¬
systems ist also eine baldige Kapitalabfindung sehr erwünscht, bei der
Arbeiterversicherung dagegen überwiegen Krankheitsbilder, bei denen lokale
Verletzungen zu den Störungen des Nervensystems hinzukommen, so daß
hier die Möglichkeit der einmaligen Entschädigung jedenfalls stark einge¬
schränkt erscheint, da die Prognose erheblich verschlechtert wird. Völlige
Simulation wurde nur in 1-2% der genau verfolgten 173 Fälle gefunden.
Berger (7) stellt hauptsächlich auf Grund zahlreicher eigener Beobach¬
tungen die Beziehungen zwischen Trauma, namentlich vom Standpunkt des
Betriebsunfalls, und nachfolgender geistiger Erkrankung übersichtlich zu¬
sammen. Indem er zuerst die gesetzlichen Bestimmungen und den Begriff
des Unfalls bespricht, weist er auch darauf hin, daß auch die außerge¬
wöhnliche Anstrengung bei einer Arbeit einen Unfall im gesetzlichen Sinne
darstellen kann. Sehr ausführlich wird die Hirnerschütterung in ihren
klinischen und anatomischen Erscheinungen besprochen; dabei wird bemerkt,
daß die Symptome einer Hirnerschütterung für die Beurteilung der Folge¬
erscheinungen nicht von ausschlaggebender Bedeutung sind, weil schwere
Hirnverletzungen und darauf zurückzuführende Erkrankungen Vorkommen,
ohne daß Kommotionssymptome zu beobachten waren. Im einzelnen werden
dann als organische Psychosen besprochen die Kommotionspsychose, die
traumatische Demenz, ferner die Epilepsie, wobei eine traumatische Epilepsie
und eine Reflexepilepsie von der traumatisch ausgelösten genuinen Epilepsie
getrennt wird, dann alkoholische Psychosen, Paralyse, arteriosklerotische
und senile Psychose und Dementia praecox; immer wird dabei auf die Kenn¬
zeichen hingewiesen, die das Trauma als Ursache für die psychische Er¬
krankung anzusprechen gestatten; diese Kennzeichen entsprechen den
auch von anderen Autoren angenommenen Gesichtspunkten. Ähnlich werden
die nach Unfall auftretenden funktionellen Psychosen besprochen und ihre
Differentialdiagnose gegen reine Neurose eingehend gewürdigt. Die Arbeit
mit vielen lehrreichen Einzelbeobachtungen ist gerade jetzt aktuell, wo nns
der Krieg so häufig vor die Beurteilung traumatischer Folgezustände auf
psychischem Gebiet stellt. (Weber- Chemnitz.)
Rhein (139) beschreibt eine Reihe von Fällen mit allgemeiner Neur-
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Schütte, Nenrosen und Schilddrüsenerkrankungen. 21*
asthenie, in denen Schmerzen in der Schulter und im Arm auftraten, ver¬
bunden mit Adhäsionen im Gelenk, dazu gesellte sich Schwäche in den Arm¬
muskeln. Meist war nur eine Seite befallen, selten beide. Verf. glaubt, daß
es sich um eine Entzündung im Plexus brachialis handelt, und schlägt den
Namen „Arthritic neuritis“ vor. Die Behandlung besteht neben allgemeinen
Maßnahmen in Anwendung von Elektrizität, Massage und Gelenkbewegungen.
Die Prognose ist meist günstig.
EngeUiom (42) hat die klimakteriellen Beschwerden, unter denen
nervöse Störungen von seiten des Herzens und der Gefäße eine große Rolle
spielen, durch ein- oder mehrmalige Blutentziehung von 100 ccm sehr günstig
beeinflußt. Anch bei den durch Dysfunktion des Ovars bedingten nervösen
Erscheinungen der Entwicklungsjahre hat ein Aderlaß gute Erfolge erzielt.
Die Behandlung der Trigeminusneuralgien mit Alkoholinjektionen wird
von Donath (35 a) sehr empfohlen. Er hat von 16 Kranken 11 geheilt und
4 gebessert; nur in einem Fall mußte die Behandlung des 66jährigen, an
Arteriosklerose und Myodegeneratio cordis leidenden Patienten anfgegeben
werden. Verf. ist der Ansicht, daß das Gebiet der blutigen Resektionen des
Trigeminus durch die Alkoholinjektionen erheblich eingeschränkt werden wird.
Bohrer (145) bringt die Krankengeschichte eines 27 jährigen Arztes,
der an Hemicrania ophthalmica litt. Er nimmt an, daß sich der Vorgang in
der Rindenregion des Sehapparates abspielt, wahrscheinlich entsteht er durch
eine Störung des Zellchemismus, hervorgerufen durch einen toxischen Stoff.
Verf. faßt die Hemikranie als eine Krankheit auf, die entsteht durch das
Zusammenwirken einer Disposition des Organismus und einer toxischen Noxe
und unter anaphylaktischen Erscheinungen verläuft.
Frö8chel8 (48) wendet sich gegen die Anschauung von Kußmaul und
Gutzmann , daß das Stottern ein Krampf sei. Er führt aus, daß bei dieser
Sprachstörung keine Krämpfe vorliegen, sondern abnorme Bewegungen, welche
aus willkürlichen Bewegungen hervorgegangen sind und auch immer in
einem gewissen Zusammenhang mit dem Willen stehen.
Die Beziehungen der Sprachheilkunde zur übrigen Medizin erörtert
Frösche!* (47). Er nennt hier die funktionellen Atemstörungen beim Stottern,
bei verschiedenen Stimmkrankheiten und bei Taubstummen und bringt
interessante Atemkurven. Ferner bespricht er das Stammeln, die Hörstummen
und organische Erkrankungen des Zentralnervensystems mit Sprachstörungen.
Auch in der Stomatologie spielt die Sprachheilkunde eine Rolle, so bei
Behandlung des Lispelns der Über- und Unterbeißer und bei der Obturatoren¬
therapie der Uranoschismen. Postoperative Aphasien werden ebenfalls
sprachärztlich beeinflußt, ferner bringt die Ohrenheilkunde allerlei Beziehun¬
gen, ebenso die Erkrankungen der Nase. Dankbar ist die Aufgabe, die
Laryngektomierten in der Erzeugung der Pharynxstimme zu unterrichten.
Schließlich hebt der Verf. noch hervor, daß blind geborene Kinder eine
verzögerte Sprachentwicklung zeigen, ein Beweis, daß auch das Auge hier
eine Rolle spielt.
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22* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Eine sprachärztliche Kriegsabteilung, über die Fröachds (49) berichtet,
ist von dem Wiener Militärkommando eingerichtet. Die Resultate sind sehr
erfreulich. Erwähnt soll hier nor werden, daß bei den Stotterern fast durch*
weg als Ursache das Niedergedrücktwerden durch den Luftdruck eines ex*
plodierenden Schrapnells angegeben wird, in einzelnen Fällen Verschüttet¬
werden mit Erde. Die Behandlung dieser Kriegsstotterer ist äußerst mühe¬
voll. Auch bei hysterischen Aphonien, organischer Stimmbandlähmung und
Gaumenlähmung sind die Erfolge gut
Die Untersuchungen an 25 stotternden Individuen führten Browning (20)
zu dem Ergebnis, daß regelmäßig eine Vergrößerung oder Persistenz der
Thymus vorliegt Eine weitere Rolle spielen Zirkulationsstörungen, die etwa
in der Hälfte der Fälle vorhanden waren. Auch rhachitische Veränderungen
fanden sich häufig. Vergrößerung der Thyreoidea fand sich häufiger bei Mäd¬
chen als bei Knaben. Die Tatsache, daß Mädchen weniger oft stottern als
Knaben, erklärt Verf. damit, daß bei ersteren die thymo-lymphatische Kon¬
stitution seltener ist, auch die kostale Atmung spielt eine Rolle. Heredität
ist weniger für das Stottern selbst nachweisbar als für die Neigung zu einer
Hyperplasie der Thymus.
B. Epilepsie.
Obersteiner (116) betont, daß auch bei den sog. exogenen Nervenkrank¬
heiten ein endogeuer Faktor, und zwar die Anlage, eine große Rolle spielen
kann. Eine angeborene Anlage ist besonders bei Tabes nachgewiesen, wird
auch wohl mit Recht bei der multiplen Sklerose vorausgesetzt, wenn hier
auch vielleicht nur eine Disposition vorhanden ist. Für die echte Syringo¬
myelie sind entwicklungsgeschichtliche Anomalien festgestellt, die vielleicht
auch für die meisten eigentlichen Gliome gelten. Ebenso wie jetzt schon
bei der juvenilen Form wird sich auch für die Paralyse der Erwachsenen
eine spezifische Anlage nachweisen lassen. Ferner finden sich bei Dementia
praecox, der genuinen Epilepsie und auch bei vielen Hirntumoren kongenitale
Abweichungen, ferner bei hereditärer Ataxie, amaurotischer Idiotie, Kern¬
aplasie, Pseudosklerose und TPtfconscher Krankheit.
Friedmann (45) faßt das in den „gehäuften kleinen Anfällen“ sich
äußernde Leiden zunächst nur als einen Symptomenkomplex auf. Bisweilen
stellen sich nach längerer oder kürzerer Zeit doch echte epileptische Krämpfe
und epileptische Degeneration ein, oder es sind lange andauernde Konvulsionen
in der ersten Kindheit vorausgegangen, oder es findet sich noch eine für die
Spasmophilie typische elektrische Oberregbarkeit. Eine dritte Form der „ge¬
häuften kleinen Anfälle“ gehört der Hysterie an. Dagegen ist das primäre
narkoleptische petit mal ein ganz selbständiges Leiden, das stets denselben
Anfallstypus darbietet, in welchem allein der Ausfall der höheren Denk- und
Willensfunktion sich bekundet. Gewöhnlich ist es nur von einer Aufwärts¬
drehung der Augen und leichtem Lidflattem begleitet, nicht selten auch von
einer Schwäche der Arme und Beine. Wahrscheinlich handelt es sich hier
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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
23 *
um eine eigenartige Gestaltung der Gehirnmüdigkeit, welche zu plötzlichem
vorübergehenden Versagen der geistigen Funktionen führt Die Prognose
ist gut
Nach Redlich (137) gehört die Mehrzahl der bisher als Narkolepsie be¬
schriebenen Fälle in andere Kategorien. Er selbst hat nnr einen Fall be¬
obachtet, auf den alle Charaktere der von Gtlineau beschriebenen Narko-
epilepsie paßten. Es handelte sich um einen 19jährigen Mann, Sohn eines
Trinkers, der mehrfach am Tage bei der Arbeit, beim Gehen, meist aber bei
ruhigem Sitzen Schlafanfälle bekam, die von einigen Minuten bis zu mehreren
Stunden dauerten. Nur selten konnte der Patient das Schlafbedürfnis unter¬
drücken, durch Anrufen und Rütteln konnte er geweckt werden. Gemütsbe¬
wegungen hatten keinen Einfluß auf die Häufigkeit der Anfälle. Beim Lachen
hatte der Kranke das Gefühl, als müsse er zusammensinken, und knickte in
den Knien ein. Epileptische und hysterische Symptome fehlten. Es handelt
sich nach Ansicht des Verf. um ein gesteigertes Schlafbedürfnis, das sich in
einer pathologischen Form äußert.
Zimmermann (186) konnte in den anfallsfreien Zeiten bei Epileptikern
keine Veränderung des Blutbildes finden. Vor dem Anfall machte sich eine
starke Vermehrung der weißen Blutkörperchen bemerkbar. Regelmäßig ver¬
mehrt waren die Lymphozyten, vielfach auch die mononukleären; die eosino¬
philen dagegen gingen zurück. Im Anfall selbst kam es zu einem mäßigen
Rückgang der neutrophilen Leukozyten, die Steigerung der Lymphozyten hielt
an. Nach 1—2 Tagen glich das Blutbild sich wieder aus.
Unter 33 epileptischen Soldaten, die Bonhoeffer (17) untersuchte, waren
bei 20 die Anfälle schon vor dem Feldzuge aufgetreten, bei 10 anderen hat¬
ten sichere epileptische Anzeichen schon vor der aktiven Dienstzeit bestanden.
Bei den im Feldzug zum erstenmal beobachteten Anfällen ließ sich stets eine
Disposition nachweisen. Es wurde kein sicherer Fall gefunden, bei dem aus¬
schließlich die Kriegsereignisse als Ursache der Epilepsie in Betracht ge¬
kommen wären, ausgenommen die Epilepsie nach Schädeltraumen. Andererseits
war aber nicht zu verkennen, daß Gemütsbewegungen und Überanstrengungen
die Anfälle auslösten. Neben den epileptischen fanden sich Anfälle bei Indi¬
viduen mit labilem Vasomotorium. Diese haben die Neigung, psychogen
auslösbar zu werden, ohne daß sich sonst ein hysterischer Habitus entwickelt.
Die Beziehungen von Epilepsie und Schwangerschaft behandelt die
Dissertation von Meyer (99). Er bringt vier einschlägige Beobachtungen, in
einer derselben war die Epilepsie zum erstenmal während des Puerperiums
auf getreten, in einem zweiten Falle erst während der Schwangerschaft. Bei
einer anderen Frau war ein günstiger Einfluß der Gravidität auf die Epilepsie
unverkennbar.
Hebold (62) hat an einem großen Material untersucht, auf welche Art
der Tod der Epileptiker eintritt. Nur in wenigen Fällen fanden sich keine
äußeren Ursachen, so daß hier nur die Annahme eines Herzschlags übrig
blieb. Bei weitem am häufigsten kamen Unfälle in Betracht; im Endzustände
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24 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
des Anfalles, dem Zustande der Bewußtseinsstörung kann der Tod durch
Selbstmord herbeigeführt werden. Nach dem Anfall kann der Tod durch
Folgen der Verletzungen eintreten; so wird das seltene Vorkommen eines
Balkenrisses angeführt.
Die Untersuchungen Cuneos (32) richten sich auf das Verhalten des
Stickstoffs und des Blutes bei Epileptikern. Er faßt die Ergebnisse seiner
biochemischen Untersuchungen in folgenden 4 Leitsätzen zusammen. 1. Die
Analyse des in der Zeit des Anfalles produzierten Harns ergibt, daß die
Harnstoff bildende Funktion sich in normaler Weise vollzieht und daß kein
Anzeichen ammoniakalischer Autoinfektion vorhanden ist. 2. In der Anfall¬
periode macht sich eine starke Neigung zur Azidität bemerkbar oder auch
eine starke Bildung organischer Säuren, die, wenn sie als Ammoniumsalze
infolge des Fehlens von Natrium- und Kaliumverbindungen ausgeschieden
werden, eine außerordentliche Menge von Ammoniak im Harn erzeugen, je¬
doch ohne daß die Harnstoffproduktion beeinträchtigt wird. 3. Gesteigerte Stick¬
stoffzufuhr hat beim Epileptiker eine namhafte Vermehrung des Stickstoffge¬
haltes der Fäzes zur Folge; diese Tatsache läßt auf eine Störung in der
Funktion der intestinalen Resorption schließen. 4. In dem sofort nach dem
Anfall entnommenen Blute ist eine Substanz nachweisbar, die alle Eigen¬
schaften der Albumosen besitzt, sich aber in der anfallsfreien Zeit nicht findet.
Verf. glaubt, daß man auf Grund dieser Ergebnisse in der Erforschung der
Pathogenese der Epilepsie weiter kommen kann, vorläufig genügen sie aller¬
dings nicht zur Aufklärung dieses schwierigen Gebietes.
Kellner (78) hat mit der Flechsigschen Opium-Brom-Rur unleugbar
gute Resultate erzielt. Unter 260 Kranken konnte er niemals eine dauernde
Schädigung durch diese Behandlung feststellen, dagegen konnte er in 20—25%
der Fälle Besserung und Heilung erzielen. Verf. gibt im Laufe von 60 Tagen
Opiumdosen, die von 3 mal täglich 0,05 Extr. Opii beginnend bis 3 mal täglich
0,29 Extr. Opii ansteigen. Dann folgt die Bromdarreichung, anfangs 5, dann
6 und 7 g, die dauernd genommen werden, falls der Kranke es verträgt
Die allgemeinen diätetischen Vorschriften sind selbstverständlich zeitlebens
von dem Epileptiker innezuhalten.
Barakov (H) beschäftigt sich zuerst mit den bisherigen Erfolgen ver¬
schiedener Therapiearten bei der Epilepsie und bespricht dann eingehend seine
eigene Methode, die Borsäure-Epilepsiebehandlung. Er ordiniert am Beginn
der Krankheit in wässeriger Lösung 2 g Borsäure pro die (morgens und abends
je 1 g), nach 2 Tagen gibt er 3 g pro die, nach weiteren 3 Tagen 4'/2 g pro
die und nach weiteren 10 Tagen 6 g, auf welcher Dosis er etwa 14 Tage
verbleibt. Auf diese Art und Weise will er in etwa 75% seiner Fälle gute
Resultate beobachtet haben. Bei jugendlichen Patienten erzielte er entweder
eine wesentliche Besserung des Zustandes, Verminderung der Anfällezahl oder
vollständige Heilung, bei veralteten Fällen war aber die Therapie machtlos.
Andere Medikamente gibt er gleichzeitig nicht; salzarme Kost.
( Jar. StucMfk.)
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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
25 *
Zur Behandlung „traumatischer Epilepsie“ nach Hirnschußverletzung
empfiehlt Spielmeyer (160) systematische Kühlungen der Hirnoberfläche; er
wurde zu dieser Behandlung durch die Versnche des Physiologen Trendelen¬
burg angeregt. Er erzielte mehrfach gute Erfolge bei Verletzten mit Schädel -
knochendefekt, der die Kühlung vermittelst Eisbeutels und kalter Umschläge
gut ermöglichte. Zugleich macht Verf. auf die von Trendelenburg angegebene
Unterschneidung der Hirnrinde aufmerksam, die namentlich bei traumatischer
Epilepsie mit Lähmungserscheinungen monoplegischer und hemiplegischer Art
nach gröberen Hirnschädigungen angewandt zu werden verdient.
C. Chorea und andere motorische Neurosen.
Swift (167) bringt eine kurze Anleitung, um die Stimmveränderung bei
Choreatischen zu prüfen. Er empfiehlt, ein langgezogenes „a“ aussprechen
zu lassen und auf die Veränderungen in der Höhe und Intensität des Vokals
zu achten, die durch choreatische Kontraktionen erhöht werden.
Dost (36) konnte das Gehirn einer an Huntingtonscher Chorea ver¬
storbenen Patientin genau untersuchen. Es wog nur 810 g, zeigte aber keine
sicheren Anzeichen einer Entwicklungsstörung. Es fand sich eine Pachymenin-
gitis haemorrhagica, deren Zusammenhang mit einem Unfall, den die Kranke
kurz vor Auftreten der ersten choreatischen Symptome erlitten hatte, nicht
angenommen werden konnte. Mikroskopisch erscheinen die Tangential- und
Supraradiärfasern mäßig gelichtet, ferner waren die Ganglienzellen der ge¬
samten Hirnrinde, des Thalamus, Streifenhügels, Nucl. ruber, Nucl. dentatus,
weniger der Kleinhirnrinde und des Rückenmarkes erkrankt. Meist lag eine
Schwellung des Zelleibes mit Zerfall der Nißl-Granula und Ansammlung von
Pigment vor, Schrumpfung der Zellen wurde weniger beobachtet. Die Fibrillen
waren vielfach staubförmig zerfallen. Die Glia war mäßig gewuchert; in
den Lymphscheiden der Gefäße und in den Zellen der Gefäßwand lag viel
Pigment. Arteriosklerose fehlte. Der Befund ist mit großer Wahrschein¬
lichkeit auf die Chorea Huntington zu beziehen. Das Gehirn war angeboren
minderwertig.
Bruhn (22) bringt in seiner Inaugural-Dissertation die Beschreibung
eines Falles von Huntingtonscher Chorea, der nichts Besonderes bietet. Zwei
weitere Beobachtungen dieser Krankheit sind in der Dissertation von Fritze
(46) veröffentlicht.
Die Dissertation von Heinrichs (63) bringt zwei Fälle von Chorea minor
mit Psychose. Dasselbe Thema behandelt Kühl (86), der mit Salvarsan-
injektionen keinen nennenswerten Erfolg erzielen konnte. Bei dem von ihm
beobachteten jungen Mädchen hatten die Zuckungen ihren Höhepunkt am Ende
der 3. Woche erreicht, die psychischen Erscheinungen dagegen erst in der
6. Woche. Nach 4 Monaten war völlige Heilung eingetreten.
Michels (104) beschreibt in seiner Dissertation einen Fall von Chorea
hysterica bei einem 14 jährigen Knaben, der nach fast zweimonatlicher Be¬
handlung geheilt wurde.
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26 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
Engelhard (41) konnte unter 212 Personen aus einer Familie, die über
5 Generationen verteilt waren, 20 mit Nystagmus behaftete nachweisen, und
zwar 19 Männer und 1 Frau. Der Nystagmus war konstant begleitet von einem
gewissen Grad von Pigmentarmut im Fundus oculi und von einem schlechten
Visus, der teilweise auf einer leichten Atrophie des Optikus zu beruhen schien. Der
Vererbungstypus war derart, daß ein kranker Mann nur selten direkt, wohl
aber über eine gesunde Tochter die Abweichung vererbte, daß ein gesunder
Mann gesunde Nachkommenschaft hatte, daß jedoch das Fehlen des Nystag¬
mus bei einer Frau das Nichtvorhandensein der Anomalie bei ihrer Nachkom¬
menschaft nicht garantierte.
D. Hysterie.
Die Kriegshysterien werden von Binewanger (10) eingeteilt in zwei
Hauptgruppen, nämlich erstens die Fälle, in denen schon vor Ausbruch des
Krieges konstitutionelle hysteropathische Veranlagung bestand, und zweitens
in solche, bei denen jede derartige konstitutionelle Erkrankung auszuschließen
war. Beobachtungen der letzteren Art sind bei weitem am häufigsten. Die
hystero-soraatischen Krankheitsbilder entwickeln sich entweder unmittelbar im
Anschluß an psychisch erschütternde, mechanisch oder toxisch schädigende
Ereignisse ,oder sie traten erst nach einem Inkubationsstadium zutage. Die
hystero-somatischen Symptome sind bei beiden Kategorien nicht verschieden,
vorwiegend sind die verschiedenen Tremorarten bis zum Schüttelkrampf, die
Dysbasien und Astasien, monoplegische resp. monoparetische und hemipare-
tische Erscheinungen mit Kontraktur oder leichteren spastischen Zuständen
und endlich die Störungen der Hautempfindung und der Schmerzgefühlsreaktion.
Bei der Entstehung der spezifisch hysterischen Merkmale spielt der psychische
Faktor die Hauptrolle, doch bleibt der Mechanismus der psychischen Vorgänge
selbst völlig ungeklärt. Die Behandlung besteht in Anwendung der Verbal¬
suggestionen unter Zuhilfenahme physikalischer arzneilicher Mittel; dazu kommt
eine ausgedehnte Beschäftigungstherapie. Die Erfolge sind gut, als besonders
hartnäckig haben sich aber die hysterischen Sprach- und Phonationsstörungen
erwiesen.
Nonne (111) hat zwar viele Neurosen und schwere Hysterien bei Sol¬
daten gesehen, schließt daraus jedoch keineswegs auf eine größere Verbreitung
und betont, daß viele der schwersten Verletzungen fast durchweg ohne Neu¬
rosereaktion ertragen werden. Fälle von grande hysterie sah er unter den
verschiedensten Bildern, wie Mutismus, Stottern, isolierte klonische Krämpfe
einzelner Muskeln als Monoplegien verschiedener Extremitäten usw. Besonders
häufig waren Fälle von Abasie. Auch sah Verf. nicht selten, daß hysterische
Symptome organisch bedingten Krankheitsbildern superponiert waren. Bei
einer großen Reihe von Fällen konnte durch Suggestion in Hypnose über¬
raschend schnelle, sog. „Wunderheilung“ erzielt werden. So war bei einem
Kranken mit klonischen Zuckungen der Gesichtsmuskeln und voller Astasie
und Abasie nach 3 Sitzungen ein Verschwinden der Krankheitszeichen bewirkt.
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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
27 *
Hoche (65) hat zu seiner Freude feststellen können, daß die schon früher
von ihm bestrittene Lehre von der Dekadenz unseres Volkes durch den Krieg
widerlegt ist. Weiter betont er, daß die Luxussanatorien sich geleert haben
and daß viele neurasthenische Individuen überraschende Leistungen im Felde
vollbracht haben. Auch die psychoanalytische Literatur ist zurückgegangen.
Hocke ist der Ansicht, daß jeder Kriegsteilnehmer bei entsprechenden Erleb¬
nissen hysterisch werden kann. Die meisten Fälle von Kriegshysterie sind
psychogen entstanden, teils in dem Sinne des Bestimmtseins durch entspre¬
chende Vorstellungen, teils durch Auslösung auf affektivem Wege. Inter¬
essanter aber sind die Fälle, bei denen z. B. eine Granatexplosion unmittelbare
Bewußtlosigkeit zur Folge hat, nach deren Verschwinden der Patient mit
einer Reihe hysterischer Ausfalls- oder Reizerscheinungen erwacht, also eine
psychische Einwirkung als vermittelndes Zwischenglied nicht in Frage kommt.
Es muß also diese Störung sowohl von der psychischen wie von der materiellen
Seite her ausgelöst werden können.
Gaupp (52) hat die Beobachtung gemacht, daß seit etwa Dezember 1914
die Zahl der nervenkranken Soldaten gewachsen ist, bei denen heftiger
Schreck nach Granatkontusion als hauptsächliche Ursache angegeben wird.
Diese und andere nervöse Zustände, besonders aber die hysterischen, heilen
nach den Erfahrungen des Verf. oft nicht eher, als bis der Patient die Ge¬
wißheit hat, daß er nicht mehr zur Front zurückzukehren braucht. So be¬
trübend diese Tatsache auch ist, so tut mau doch am besten, den Kranken
nachzugeben, da sie als minderwertiges Material doch nichts nützen und später
nur hohe Renten beanspruchen. Eine zweite Gruppe besteht aus älteren
Männern, die bald nach der Einziehung hysterische Symptome bekommen,
ln vielen Fällen wird es auch hier nützlich sein, nach einer passenden anderen
Verwendung solcher Mannschaften zu suchen, ein militärisches Arbeitsnach¬
weisamt bei jedem Armeekorps würde dieser Forderung wohl am besten ge¬
recht werden können.
Auf die Wichtigkeit der Differentialdiagnose zwischen Hysterie und psycho¬
pathischer Konstitution gegenüber der Hebephrenie im Felde macht Bonhoeffer
(18) aufmerksam. Besonders groß sind die Schwierigkeiten bei Fällen von
hysterischer Pseudodemenz und Ganserschem Dämmerzustand. Verf. führt
mehrere Beispiele an, bei denen die Symptome zu Anfang noch wenig aus¬
geprägt waren. Stets lag der springende Punkt der Differentialdiagnose im
Verhalten der Affektreaktion und der damit im engsten Zusammenhänge
stehenden geistigen Aktivität. Man ist bei der Beurteilung vorläufig auf das
psychische Bild angewiesen, da objektive Maßstäbe für das Verhalten der
Affektivität wie die Messung des Pupillarspiels gerade in der Zeit der be¬
ginnenden Erkrankung oft versagen.
Nach dem Vorgang von Siemerling unb Stern bezeichnet Bnecke (133)
als „Situationspsychosen“ Zustände, die durch äußere Umstände und die
damit zusammenhängenden psychischen Eindrücke hervorgerufen und durch
einen Wechsel der äußeren Situation beseitigt oder verändert werden. Dazn
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28 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
gehören namentlich ein Teil der durch den Einfluß der Haft entstehenden
akuten Geistesstörungen, und man hat die Beeinflußbarkeit dieser Psychosen
durch äußere Momente, z. B. durch die Verbringung des Kranken aus der
Haft in eine Krankenanstalt vielfach als Beweis für die hysterische Natur
dieser Krankheitszustände angesehen. R. zeigt aber an einigen Beispielen,
daß auch akute Krankheitszustände, die nach dem weiteren Verlauf sicher
der Dementia praecox zugerechnet werden müssen, einer ähnlichen Beeinflu߬
barkeit zugängig sind; man muß deshalb auch mit katatonen Situations¬
psychosen rechnen und immer wieder versuchen, aus der Symptomatologie
Gesichtspunkte für die differentialdiagnostische Abgrenzung zu gewinnen.
(TVeter-Chemnitz.)
Nonne (112) hat mit der Hypnose bei Kriegshysterie sehr gute Erfolge
erzielt und empfiehlt diese Behandlung als geradezu spezifisch. In 63 Fällen
konnte er nur einmal eine partielle Schnellheilung spontan und nur fünfmal
eine solche durch Wachsuggestion hervorrufen, in 28 Fällen dagegen erzielte
er eine Schnellheilung durch hypnotische Suggestion, ln allen diesen Fällen
war die Hypnose tief, auch in den 23 Beobachtungen von allmählicher Heilung.
Die häufigste Ursache der Entstehung der hysterischen Symptomenkomplexe
waren Granatkatastrophen. Neuropathische Belastung und nervöse Anteze-
dentien im Vorleben waren -nur zehnmal nachzuweisen. Die Hypnose gelang
auch bei Soldaten mit normalem Nervensystem, Städter und Landbewohner
unterschieden sich nicht. Unter den Fällen von Schnellheilung war die Ent¬
stehung des Symptomenkomplexes mit einer Ausnahme stets akut gewesen,
war die Krankheit allmählich entstanden, so ging auch die Heilung nur all¬
mählich vor sich. In Fällen von motorischer Lähmung war eine Störung der
Sensibilität fast ausnahmslos vorhanden, sie entsprach fast immer der funk¬
tionellen Einheit der Extremitäten, d. h. sie schnitt gliedweise ab. Vasomo¬
torische Störungen waren auffallend häufig, sie heilten in den meisten Fällen
spontan und schnell. Auffallend war es, wie leicht die tiefste Hypnose bei
vielen Kranken gelang.
Engelen (39) ist ein Anhänger des PersuasionsVerfahrens bei Psycho-
neurosen. Er führt aus, daß bei dieser Behandlungsweise die Suggestion eine
große Rolle spielt. Daneben soll man aber nicht auf die körperliche Therapie
verzichten. Bei Unfall- und Kriegsneurosen ist weitgehende Aufklärung des
Kranken notwendig; die Belehrung erfolgt am besten in der von Dubois aus¬
gearbeiteten Gesprächsweise.
Bei den Kranken mit nervösen Störungen durch Granatexplosionen handelt
es sich nach Bittorf (12) fast ausnahmslos um hysterische Krankheitsbilder,
die durch psychischen Schock und mechanische Momente (Luftdruck) hervor¬
gerufen sind. Die Behandlung muß in erster Linie psychotherapeutisch sein,
der Grundton der psychischen Beeinflussung soll ernst, selbst streng sein, um
das Pflichtgefühl, den Willen zur Gesundheit zu wecken. Dazu müssen sug¬
gestive Maßnahmen wie die Anwendung des elektrischen Stromes kommen.
Die Resultate dieser Behandlung sind sehr gut. Die Kranken sollen nach der
Heilung möglichst bald der Truppe zugeführt werden.
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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
29 *
Witte (181) beschreibt einen Fall von Hysterie bei einem 39 jährigen
Militärkrankenwärter. Die Krankheit schwand rasch bei Ruhe, körperlicher
Erholung und psychischer Beeinflussung. Verf. macht den Vorschlag, derartige
Kranke möglichst bald aus den Lazaretten zu entfernen und geeigneten An¬
stalten zuzuführen.
Die Dissertation von Vogt (172) bringt die Beschreibung einer hysterischen
Frau, die während eines Verwirrtheitszustandes unter dem Einfluß von ehe¬
lichen Streitigkeiten und Alkoholgenuß eine Brandstiftung begangen hatte.
Es konnte ihr der Schutz des § öl zugebilligt werden.
Schilling (150) konnte bei einer 40 jährigen, leicht hysterischen Frau
ein Maiskorn aus dem linken unteren Nasenflügel entfernen, das angeblich
dort 8 Jahre gesessen hatte. Näheres konnte nicht ermittelt werden.
E. Basedow and Erkrankungen anderer endokriner
Drüsen.
Oswald (125) hat festgestellt, daß die für Jod überempfindlichen Men¬
schen ausnahmslos ein geschädigtes Nervensystem haben. Bei solchen Indi¬
viduen ist auch Kokainempfindlichkeit sehr häufig vorhanden. In der Aszendenz
der Jodempfindlichen kommen oft Stoffwechselkrankheiten vor, namentlich
Diabetes; diese Tatsache deutet schon auf einen genetischen Zusammenhang
hin zwischen Störungen des Stoffwechsels und Schädigungen des Nervensystems.
Auch für die Konstitutionskrankheiten würden diese Beziehungen Geltung
haben.
In einer zweiten Arbeit wendet sich Osxcald (126) gegen den Begriff
„metabolisiertes Jod“ und setzt auseinander, daß es sich doch nur um das
Jodthyreoglobulin handelt. Das Fehlen von Jodthyreoglobulin ist die Ursache
des Myxödems und Kretinismus. Beim primären Basedow ist das Nerven¬
system von vornherein ansprechbarer, eine Folge der verstärkten Innervation
der Drüse ist die Überflutung des Kreislaufes mit Jodthyreoglobulin. Beim
sekundären Basedow erfolgt eine chronische Reizwirkung seitens des anhaltend
mehr produzierten Sekretes, welches mit der Zeit das Nervensystem ansprech¬
barer macht. Verf. konnte nachweisen, daß das Jodthyreoglobulin eine ex¬
quisit Nerventonus erhöhende Substanz ist, es erhöht die Ansprechbarkeit des
vegetativen wie des animalen Nervensystems. So erklären sich die Symptome
bei Fortfall der Schilddrüsenfunktion, der träge Stoffwechsel, die trockene
Haut, die geistige Apathie usw., anderseits aber auch die Bilder des Hyper-
thyreoidismus und des Basedow mit dem gesteigerten Stoffwechsel, der An¬
sprechbarkeit des Nervensystems usw.
Derselbe Verfasser (127) geht bei seiner Besprechung der Theorie des
Basedow vom Hyperthyreoidismus aus. Er weist nach, daß die gegen Schild¬
drüsensubstanz empfindlichen Menschen regelmäßig zu den Neuropathischen
im weitesten Sinne des Wortes gehören, und schließt daraus, das man auch
für den typischen Basedow einen im Nervensystem gelegenen Faktor annehmen
muß. Auch die klinische Beobachtung bestätigt diese Tatsache. Das Struma
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30 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
kommt dann als sekundäres Symptom hinzu. Es ist nachweisbar, daß die
Schilddrüse unter dem Einfluß nervöser Momente ihr Volumen vermehren kann,
besonders bei vaskulären Strumen. Die Drüse wird bei stärkeren Reizen
mehr Sekret abgeben, so daß der Nerventonus erhöht wird, der seinerseits
dann wieder die Schilddrüse anregt. Bei dem sog. sekundären Basedow spielt
dagegen die Schilddrüse die primäre Rolle, indem sie längere Zeit nerven-
tonuserhöhende Substanzen abgibt.
Anknüpfend an zwei Fälle von Morbus Basedowii bespricht Ortner (123)
die Symptome dieser Erkrankung. Er betont, daß jedes Augensymptom fehlen
kann, nur das Glanzauge hat er niemals vermißt. An dem Zustandekommen
der Basedow-Erkrankung nimmt auch die Thymus Anteil, ferner möglicher¬
weise auch noch die Nebennieren und das Ovarium. Verf. hebt hervor, daß
im initialen Stadium durchaus nicht immer Tachykardie zu finden ist, vielmehr
Labilität und Irregularität der Herzaktion auffällig ist. Bradykardie ist eben¬
falls beobachtet. Auch die Abmagerung ist nicht immer vorhanden. Ferner
kommen subfebrile sowie erhöhte Temperaturen vor. Bezüglich der Lungen¬
tuberkulose bei Basedow erwähnt Verf., daß sie nur selten vorkommt und
einen gutartigen Charakter trägt, falls es sich nicht um einen hochgradig ent¬
kräfteten Kranken handelt.
v. Korczynsh (83) beschreibt einen Fall von infantiler Hypothyreose bei
einem 15 jährigen Mädchen, das körperlich und geistig zurückgeblieben war.
Die Haut war in den oberen Schichten trocken, in den unteren Lagen derb,
ferner leicht frierend. Im Blute waren die neutrophilen Zellen stark zurück¬
gegangen, die mononukleären Leukozyten vermehrt, auch kamen relativ reich¬
liche Knochenmarkzellen vor. Die eosinophilen Leukozyten waren stark
vermehrt, die roten Blutkörperchen an Zahl fast normal, der Hämoglobin-
gehalt sehr niedrig. Wassermann positiv. Eine antiluetische Kur verbunden
mit Darreichung von Tbyreoidin brachte sehr guten Erfolg. Hereditäre Lues
kann also sehr wohl als Ursache für infantile Hypothyreose in Frage kommen.
Stiefler (164) beschreibt einen Fall von Myotonia congenita mit my¬
atrophischen und myasthenischen Erscheinungen. Trotzdem das Leiden bereits
ausgebildet war, wurde der Kranke doch zum Militär eingezogen, versagte
aber natürlich rasch. Die Myotonie betraf die gesamten willkürlichen Mus¬
keln. Exzidierte Stückchen zeigten mikroskopisch eine enorme Verbreiterung
der Muskelfasern, Vergrößerung und Vermehrung der Sarkolemmkerne und
Verbreiterung der Bindegewebssepten. Die Atrophie beschränkte sich auf die
kleinen Handmuskeln und hatte keinen degenerativen Charakter. Dazu kamen
myasthenische Erscheinungen. In pathogenetischer Hinsicht bietet das gemein¬
same Vorkommen von Myotonie und Myasthenie insofern ein Interesse, als
beide Krankheiten als parathyreogene aufgefaßt werden.
Hoppe-Seyler (66) konnte in einem Falle von Diabetes insipidus durch
subkutane Injektionen von Pituitrin erhebliche Besserung erzielen. Rinder¬
hypophyse, Thyreoidin und Pituglandol versagten, ebenso Pituitrin per os.
Zweifellos lag eine Störung in der Hypophyse vor; der Diabetes insipidus
ist als Ausdruck einer ungenügenden Funktion der Hypophyse anzusehen.
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
31 *
Rhein (138) gibt eine Übersicht über die bei Erkrankung der Hypophyse
aultretenden Symptome. Erhöhte Tätigkeit der Hypophyse bringt Riesenwuchs
und Akromegalie hervor, herabgesetzte Funktion dagegen Fettsucht, Entwick¬
lungsstörungen und sexuellen Infantilismus.
Fürth (50) hat eine Akromegalie zehn Jahre hindurch behandelt. Gegen
die bestehenden Sehstörungen war anfangs Jodnatrium sehr wirksam, später
versagte es. In der letzten Zeit der Behandlung erschien es aber wieder
wirksam. Vertragen wurden sehr hohe Dosen bis 14 g pro die. Es bestand
zweifellos ein Tumor der Hypophyse. Zuletzt blieben die Sehstörungen sta¬
tionär, wobei vielleicht der Umstand mitwirkte, daß die Patientin inzwischen
in das klimakterielle Alter gelangt war.
Leva (90) hat zwei Fälle von Akromegalie beobachtet. Die Mütter der
Patienten waren Schwestern, aber auch sonst bestanden noch enge verwandt¬
schaftliche Beziehungen. Bei beiden Kranken fehlten Himdrucksymptome ;
dagegen bestanden eigentümliche Hautveränderungen. In einem Falle konnte
die Sektion gemacht werden; die Hypophyse war hier eher atrophisch als
vergrößert, es konnte mikroskopisch nur eine Vermehrung der eosinophilen
Zellen nachgewiesen werden. Riesenwuchs fehlte. Verf. nimmt an, daß hier
eine in der Konstitution gegebene und durch Konsanguinität vielleicht kumu¬
lierte neuropathische Anlage zur Entwicklung der Akromegalie geführt hat.
2. Gerichtliche Psychopathologie.
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105. Williams, Tarn A. (Washington, D. C.), The prevention of
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I.
L. W. Weber (97) betont mit Recht, daß der psychiatrische Gutachter
im allgemeinen in seinen Äußerungen nicht über sein Fachgebiet hinaus¬
gehen soll, daß es aber doch gelegentlich erwünscht sein kann, daß er sich
auch dann über die Psyche eines Prozeßbeteiligten äußert, wenn es sich nicht
um Fragen aus der Psychiatrie, sondern aus der Psychologie handelt. Er
muß dabei nur hervorheben, daß seine Ausführungen sich nicht auf seine
Fachkunde, sondern auf seine allgemeinärztliche Erfahrung stützen. Es
empfiehlt sich nicht, die Beantwortung derartiger Fragen abzulehnen, wenn
sie gelegentlich vom Gericht gestellt werden. Damit würde man nur dem
psychologischen Kurpfuschertum, wie es jetzt auf dem Boden der Freudschen
Schule üppig wuchert, in die Hände arbeiten, und weder dem Richter noch
dem Arzt oder der Rechtsfindung wäre damit gedient. An einem Beispiel
von sexueller Anschuldigung eines Dienstmädchens gegen ihren Dienstherrn
zeigt er dann in mustergültiger Weise, wie der Arzt, speziell als Psychiater,
sich über die Zeugeneigenschaften normaler Menschen äußern kann, ohne die
seiner Gutachtertätigkeit gezogenen Grenzen zu verletzen. Schlicht und klar
setzt er dem Gericht auseinander, welche Momente die Zeugenaussagen der
Altersklasse beeinflussen können, welcher die Zengin angehörte, und welche
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40*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
Umstände in dem besonderen, ihm vorgelegten Falle ihn als Mensch und Arzt
bestimmen mußten, die Glaubwürdigkeit der Zeugin in Zweifel zu ziehen.
Heilung (39.) bekämpft die Ansicht des Reichsgerichts, daß ein Ge¬
schworenenurteil auch dann nicht anfechtbar wäre, wenn einer der Ge¬
schworenen während der Verhandlung nachweislich geschlafen hätte. Es ge¬
nügte nicht, daß der Richter anwesend sei, er müßte sich auch in einem
Geisteszustände befinden, der ihm gestatte, mit voller Aufmerksamkeit
der Verhandlung zu folgen. Demnach sei auch ein geisteskranker Richter
abzulehnen und ein Gericht nicht als vollbesetzt anzusehen, wenn einer der
Richter bewußtlos oder in seiner Geistestätigkeit so gestört sei, daß er der
Verhandlung nicht folgen könnte.
Der Begriff, die Ursache und die verschiedenen Arten der Gern ein -
gefährlichkeit werden von Göring (35) in einer gründlichen Arbeit er¬
läutert und die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung nach dem geltenden und
künftigen Recht erörtert. Das komplizierte Thema, welches dem Gerichtsarzt
oft große Schwierigkeiten in der praktischen Tätigkeit macht, wird vom
juristischen und medizinischen Standpunkte aus eingehend untersucht, an der
Hand praktischer Beispiele werden dem Leser die verschiedenen Arten der
Gemeingefährlichkeit — auch der geistesgesunden Verbrecher — vor Augen
geführt und zum Schluß werden die verschiedenen Maßnahmen zur Behandlung
und Bekämpfung der Gemeingefährlichkeit aufgeführt und auf ihre Wirksamkeit
untersucht. Ein sehr fleißiges und für den Praktiker und Wissenschaftler
gleich lehrreiches Werkchen.
Ein anderes wichtiges Problem, das der Zurechnungsfähigkeit
behandelt Türkei (92), der schon mehrfach in Arbeiten darüber hervorgetreten
ist. In drei Kapiteln beschäftigt er sich mit den medizinischen, strafrechtlichen
und philosophischen Problemen der Zurechnungsfähigkeit im allgemeinen,
ferner mit der geschichtlichen Darstellung der die Zurechnungsfähigkeit
regelnden Bestimmungen der österreichischen Strafgesetzgebung und kritisiert
im letzten hauptsächlich die Zurechnungsfähigkeit der Paranoiker.
Die gerichtsärztliche Bedeutung der arteriosklerotischen Psy¬
chosen, deren Klinik in den letzten Jahren so erheblich gefördert ist, bespricht
Patschke (71) in einer kurzen Arbeit Geschäftsfähigkeit, Entmündigung und
Testierfähigkeit der Arteriosklerotiker, ihr Eherecht, ihre Verantwortlichkeit
in Haftpflicht- und Unfallprozessen wird eingehend geschildert und ebenso
der Einfluß dieser Krankheitsform auf die Zurechnungs-, Zeugnis-, Verhand-
ungs- und Strafvollzugsfähigkeit.
Meyer von Sehauensee (64) macht an der Hand eines v. Monakotcscheo-
Gutachtens wiederum darauf aufmerksam, daß die Tatsache eines Schlag¬
anfalles nicht genügt, die Handlungsfähigkeit eines Apoplektikers in
Frage zu ziehen.
Eine große Zahl von Simulanten geistiger Gebrechen schildert Mönke-
möller (67) in seiner bekannten, frischen, humorvollen Art. Auf Einzelheiten
der wichtigen, umfangreichen Arbeit einzugehen, verbietet leider der Raum.
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
41*
Jeder Gerichtsarzt sollte sie aber eingehend studieren, denn die vielen Beispiele
sind für die Praxis von großem Wert.
Straßmann (88) schildert einen der nicht seltenen Fälle, in denen ein
Schwerverletzter (Schädelbruch nach Sturz vom Rade) vom Arzt der Unfall¬
station als Betrunkener behandelt war. Gegen den Arzt wurden Schaden¬
ersatzansprüche geltend gemacht. Str. kommt zu dem Gutachten, daß das
Verhalten des Arztes nicht korrekt gewesen, aber angesichts der Schwere
der Verletzung auch ohne Einfluß anf den bald erfolgten Tod des Verletzten
geblieben wäre.
Prasses (74) Dissertation aus der Kieler Klinik hat einen Fall von alko¬
holischem Eifersuchtswahn als Grundlage. Es handelt sich um einen
trunksüchtigen Weichensteller, der seine Frau erschießen wollte. Alkoholische
Demenz lag nicht vor, pathologischer Rausch und eigentliche krankhafte
Wahnbildung auch nicht. Die Eifersucht war nur die Folge moralischer
Degeneration. Das Gutachten konnte demnach sich nicht für die Anwendung
des § öl aussprechen.
Kalmus (46) schildert den Fall eines geisteskranken Dokumenten-
fälschers (Paranoikers), dessen Krankheit erst sehr spät erkannt wurde.
Thumm (89) bringt ein Gutachten über eine etwas psychopathische
14 jährige, welche mehrfach Diebstähle und zuletzt 2 Brandstiftungen
aus Heimweh begangen hatte. Das Gutachten lautete: zurechnungsfähig
im Sinne des § 61, aber ohne Einsicht im Sinne des § 56 St.-G.-B. Freispruch.
Möring (68) schildert 2 Fälle von Familienmord und 2 Fälle von mili¬
tärischen Vergehen (Fahnenflucht, Entziehung vom Dienst) infolge transi¬
torischer Depressionszustände bei Entarteten, Neurasthenischen, Imbezillen
und echter Melancholie.
Heilung (38) macht darauf aufmerksam, daß die moderne Aussage-
Psychologie nur die wissenschaftliche Grundlage für Erfahrungen und
Kenntnisse auf diesem Gebiete geliefert hat, welche schon lange bekannt und
nur in Vergessenheit geraten waren.
Für das Kapitel von der Zeugenaussage ist auch die meisterhafte
Darstellung der sexuellen Falschbeschuldigungen der Hyste¬
rischen durch Karl Birnbaum (6) besonders lehrreich. Er setzt zunächst
auseinander, daß die Gedankenverbindung: sexuelle Falschbeschuldigung —
Hysterie ihren Grund in der pathologischen Wesensart der Hysterischen hat,
namentlich in der Labilität ihres Vorstellungslebens und phantastischen
Erregbarkeit sowie der Egozentrizität. Zwei verschiedene Grundlagen gibt
es für diese hysterischen Falschbezichtigungen, bei den einen ist der hyste¬
rische Charakter der Grund- und Dauerzustand, welcher die Basis für die
geistigen Prozesse abgibt, bei den anderen sind es psychotische Ausnahme¬
zustände, also vorübergehende krankhafte Episoden. Außerdem gibt es noch
Obergangsformen, welche zwischen beiden die Mitte halten. Neben den
hysterischen Momenten spielen noch disponierende Faktoren beim Zustande¬
kommen der sexuellen Falschbeschuldigungen eine Rolle, welche nicht
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42* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
krankhaft sind, z. B. die weibliche Geschlechtsartung, das jugendliche und be¬
sonders das Pubertätsalter. Die soziale Bedeutung der Falschbeschuldigungen
der Hysterischen und die Aufgaben, welche der Kriminalpsychologie pnd
Kriminalistik durch sie erwachsen, sind recht bedeutend, und dem Gutachter
können bedeutende Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Geisteszustandes
der Täterinnen, denn um solche handelt es sich fast ausschließlich, entstehen.
Den selteneren Selbstbezichtigungen liegen dieselben krankhaften Motive zu¬
grunde, wie den gegen andere vorgebrachten.
Die -Bür^erschen (13) Arbeiten aus dem Gebiete der gerichtlichen und
versicherungsrechtlichen Medizin bringen zahlreiche interessante Einzelfälle,
z. T. mit Rechtsprechung aus den verschiedensten Gebieten der Medizin.
II.
Eine sehr wichtige Zusammenstellung von Urteilen der höheren Gerichte
über die Rechtsgültigkeit der Strafunterbrechung beim Verfall eines
Strafgefangenen in Geisteskrankheit bringt Rixen (79), dessen vorjährige Ab¬
handlung über das gleiche Thema im vorigen Bericht besprochen ist. Er
zeigt, daß die Rechtsprechung der Gerichte in diesem Punkte keineswegs
einheitlich ist. Sicher ist, daß ohne ausdrückliche Verfügung derjenigen
Staatsanwaltschaft, der die Strafvollstreckung obliegt, keine Unterbrechung
der Strafe stattfinden kann.
Többen (91) ist im Gegensatz zu Wilmanna der Ansicht, daß eine
individualisierende Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen im
Strafvollzüge sehr wohl möglich sei, auch ohne durchgreifende Änderung
der geltenden Bestimmungen über den Strafvollzug.
Moeli (65) bespricht eine neue Entscheidung des Oberverwaltungs¬
gerichtes (Entscb. 65. 261ff. vom 29. 9. 13), nach welcher die Entlassung
der polizeilich in Irrenanstalten eingewiesenen Kranken nicht von der
Entscheidung des Landesdirektoriums, sondern von der Entschließung der
einweisenden Polizeibehörde abhängig ist.
Tintemann (90) gibt einen interessanten Überblick über die ersten
5 Jahre des Bestehens des Provinzialverwahrungshauses zu Göttingen.
Das Haus, nach einfachem klaren Grundriß und sehr fest erbaut, hat sich
durchaus bewährt, nur einige schallsichere Einzelzimmer wären bei einem
Neubau noch einzubauen. Bei der Aufnahme neuer Kranken muß man streng
daran festhalten, daß nur insoziale Geisteskranke, und zwar solche, welche
bewußt unsoziale Handlungen begehen, aufgenommen werden. Die kriminelle
Vergangenheit spielt daneben nicht die Hauptrolle. 20% der Insassen waren
nicht vorbestraft, 12% waren in Fürsorgeerziehung gewesen, 27 waren Zucht¬
häusler und 23o/ 0 Vagabunden. Unter den Krankheitsformen nehmen para¬
noide und Haftpsychosen sowie der Schwachsinn die vorderste Stelle ein.
Von 54 Kranken, welche in den 5 Jahren entlassen wurden, haben sich 10
in der Freiheit gehalten, alle übrigen sind wieder in Strafanstalten oder
Irrenhäusern gestrandet.
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
43*
III.
Ein interessanter, nicht krimineller Fall von Bewußtseinsstörung
infolge Schlaftrunkenheit wird von Türkei (93) berichtet. Ein Rechts¬
anwalt befand sich mit seiner Frau auf der Hochzeitsreise. Die Frau verließ
am Morgen zeitig das Bett und das Zimmer. Der Anwalt erwachte von dem
Geräusch und versperrte, ohne die Situation zu erkennen, die Tür. Als seine
Frau zurückkam und klopfte, öffnete er die Tür, ließ die Frau aber nicht
herein, sondern sprach längere Zeit mit ihr als einer Fremden. Erst als die
Frau erschreckt äußerte, er sei wohl verrückt geworden, kam er zum Bewußtsein.
Der Mann war alkoholabstinent und hatte nie solche Anfälle gehabt.
Boas (7) kritisiert einige Fälle von Warenhausdiebinnen der Litte-
ratur, und Welsch (99) bringt einen Fall sexueller Erregung an Frauen Unter¬
hosen, welche zum Diebstahl geführt hat.
Heilung (37) gibt einen älteren Fall von Totschlag aus Aberglauben
wieder und knüpft daran die berechtigte Forderung, daß ein noch so felsen¬
fester Aberglaube kein Ausschließungsgrund im Sinne des § 61 ist. Dazu ist
unbedingt der Nachweis erforderlich, daß der Täter zur Zeit der Tat geistes¬
krank war.
Marcuses (60) Arbeit über den Inzest bringt eine umfassende Wieder¬
gabe aller geschichtlichen und rassehygienischen Untersuchungen über die
Blutschande, die krankhaften und sozialen Ursachen dieses Verbrechens und
die Strafgesetzgebung darüber.
IV.
Engelen (22) beklagt die Tatsache, daß die ärztlichen Gutachten,
namentlich die über traumatischeNeurosen, sehr oft jeden oder wenig¬
stens jeden brauchbaren objektiven Untersuchungsbefund vermissen
lassen. Die Entwickelung des Leidens, Verschlimmerungen und Besserungen
lassen sich dann später nicht mehr feststellen. Er hält die Einführung eines
Untersuchungsschemas für Unfallneurosen, am besten für alle Unfallbegut¬
achtungen durch die Versicherungsgesellschaften, Berufsgenossenschaften und
Behörden für notwendig. Er hat ein Schema entworfen, das Richard Schoetz
verlegt. Weitere Arbeiten von Engelen und Rangette (23) (24) (25) beschäf¬
tigen sich mit der experimentalpsychologischen Untersuchung von Unfallver¬
letzten, Rentensüchtigen und Simulanten und ihre Methodik. Die Untersuchungs-
ergebnisse sind nach Engelen beachtenswert und zuverlässig.
L. W. Weber (98) nahm in einem Falle von Paralyse nach Wund¬
infektion an der Hand einen Zusammenhang zwischen Paralyse und der
als Unfall anerkannten Infektion in dem Sinne an, daß die Paralyse bei dem
zweifellos syphilitischen Manne (Wassermann +, Optikusatrophie, Chorio¬
retinitis) durch die Infektion im Verlauf beschleunigt sei. Den Anteil des
Unfalls an der Verschlimmerung schätzte er auf 10°/ 0 .
Paul Horn (41), als Verfasser zahlreicher guter Arbeiten aus der Unfall¬
heilkunde und Versicherungsmedizin bekannt, hat ein kleines Werk über die
neuere Rechtsprechung bei Unfallneurosen erscheinen lassen, von
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44*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
dem er hofft, daß es eine bestehende Lücke ausfüllen und manche Unklar¬
heiten beseitigen wird. Es ist zweifellos, daß es für den Kranken besser
ist, wenn der Arzt, der ihn behandelt, mit der Rechtsprechung der Gerichte
vertraut ist und ihn von vornherein über die Aussichten seiner Schadener¬
satzansprüche richtig informiert, als wenn er in ihm durch zu weites Ent¬
gegenkommen unbegründete Befürchtungs- und Begehrungsvorstellungen
erweckt. Diese Aufgabe, den Arzt gewissenhaft zu informieren, erfüllt das
kleine Schriftchen bei seiner nachahmenswerten Kürze in vollem Umfange.
Horn erörtert zunächst die Heilungsaussichten und die Frage der Simulation
bei den nervösen Erkrankungen Rentenbegehrender, dann die Bestimmungen
des Keichshaftpflichtgesetzes und der gewerblichen Unfallversicherung und
die Stellungnahme des Reichsgerichts und anderer Gerichte zu dieser Gesetz¬
gebung in bestimmten Fällen. Besonders gut ist die Darstellung der Sinnes¬
änderung dieser Gerichte in ihrer neueren Spruchpraxis den älteren Entschei¬
dungen gegenüber, welche wohl im wesentlichen auf die zahlreichen, guten,
ärztlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Versicherungsmedizin zurückzuführen
ist. Sie haben die ganze Unfallbegutachtung auf eine festere Basis-gestellt
und verhindern, daß wie früher der Haftpflichtige den Unfallansprüchen der
Verletzten machtlos ausgeliefert wird. Hier sei auch noch auf eine zweite
Arbeit von Horn (43) verwiesen, welche in sehr gründlicher und klarer Form
den Zusammenhang von Nervenleiden nach Unfällen und Arteriosklerose
behandelt.
Einen anderen sehr interessanten und auch durch den Sektionsbefund
erhärteten Fall von Arteriosklerose der Gehirngefäße nach Schädel¬
trauma beschreibt Geipel (34). Ein Werkmeister, der als 36 jähriger Mann
einen Schädelbruch mit Gehirnerschütterung erlitten hatte, starb 9 Jahre später
an Gehirnerweichung infolge Thrombose der rechten Arteria fossae Sylvii.
Bei der Sektion fanden sich alte, auf den Unfall direkt zurückzuführende
Veränderungen am Schädel, den Hirnhäuten und am Gehirn und daneben
jüngere: Thrombose und Aneurysmabildung. Außer diesen Gefäßverände¬
rungen an der Stelle der Verletzung fanden sich am Gefäßsystem keine
arteriosklerotischen Erkrankungen. Zusammenhang zwischen Tod und Unfall
wurde angenommen. Interessant ist besonders die lokalisierte Erkrankung
der Gefäße an der durch den Unfall verletzten Stelle des Schädels und seines
Inhalts und die Entwickelung des Leidens in fast 10 Jahren.
V.
Naturgemäß hat auch im Berichtsjahre die Beschäftigung der Ärzte mit
der Militärpsychiatrie angehalten. Es liegen zahlreiche gute Arbeiten
darüber vor. Eine eingehende und trotz der Kleinheit des Materials
(106 Kranke) sehr beachtenswerte Arbeit bringt Weyert (102) in Marholds
zwanglosen Abhandlungen. Es sind Beobachtungen aus der Friedenszeit, die
in der Beobachtungsstation zu Posen gemacht sind. Alle Krankheitsformen
werden in ihren Beziehungen zum Militärdienst eingehend geschildert. Joüy
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
45*
44) behandelt die Frage der Dienstfähigkeit nnd der Rentenfrage bei nerven-
tranken Soldaten, insbesondere bei verwundeten Feldzngsteilnehmem, und
TZastan (47) berichtet über forensisch-psychiatrische Beobachtungen an
V21 Angehörigen des Feldheeres.
3. Funktionelle Psychosen.
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Brown (19) hat 8 Fälle zusammengestellt von manisch-depressivem
Irresein, in denen nach langem Bestehen des Leidens Genesung nicht eintrat,
sondern sich ein chronischer Zustand und allgemeine Degeneration einstellte.
Nach Serejskis (130) Beobachtungen in der Münchener Psychiatrischen
Klinik eignet sich das Diogenal unter anderem auch für leichtere Fälle von
Manie und Melancholie, namentlich für letztere.
Singer (132) beschreibt unter Anlehnung an Kraepelin einige Misch¬
zustände und atypische Fälle von manisch-depressivem Irresein; sie sind
aufzufassen als affektive Schwankungen, bedingt durch die individuelle Ver¬
anlagung der betreffenden Kranken.
b) Paranoia.
Birnbaum (11) will den Versuch machen, gegenüber den so verschieden
gerichteten neueren Tendenzen in der Paranoiafrage wieder einen festeren
Standpunkt durch Anknüpfung an frühere Traditionen und erneute Hinein-
stellung der Wahnbildung in den Mittelpunkt des Krankheittypus zu gewinnen.
Er kommt bei seinen Betrachtungen zu folgendem Ergebnis: Die Bedenken,
die sich gegen die bisher aufgestellten Kennzeichen der Paranoia (besonderer
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 57*
Verlauf, Ausgang, Auslösungsart usw.) erheben lassen, legen es nahe, von
diesen abzusehen und nach neueren pathognostischen Momenten zu suchen.
Hierfür erscheint am geeignetsten der eigenartige paranoische Wahnmecha¬
nismus, der besondere paranoische Wahntyp. Als Paranoiagruppe lassen sich
demgemäß solche Krankheitsfälle zusammenfassen, bei denen es auf einem pa¬
thologisch vorbereiteten Boden von bestimmter pathologischer Eigenart (Ver¬
schiebung der seelischen Gleichgewichtsverhältnisse) zu einseitig fixierter Ge¬
fühlsbetonung und damit zu ständiger Heraushebung und inhaltlicher Ver¬
fälschung gewisser Vorstellungskreise kommt, jede weitere logische und asso¬
ziative Gedankenarbeit nun im Sinne und zugunsten dieser einseitig herausge¬
hobenen Fehlanschauungen erfolgt und so mit psychologischer Folgerichtigkeit
sich immer weitergehende Urteilsfälschungen entwickeln, ohne daß der Krank¬
heitsprozeß während seines ganzen Verlaufs durch Elemente beeinträchtigt
würde, die seiner eigenartigen Grundlage und seinen Mechanismen wesens¬
fremd sind.
Ein bestimmter Verlauf und Ausgang liegt nicht im Wesen dieser Krank¬
heitsform, ebensowenig wie eine bestimmte degenerative Grundige und das
Bestehen oder Fehlen eines auslösenden psychischen Faktors zu den unbe¬
dingten Voraussetzungen der Erkrankungen gehören. Gewisse Differenzen be¬
züglich der allgemeinen Grundlage und des äußeren Anstoßes kommen im
Rahmen dieser Krankheitsgruppe vor, ebenso wie solche bezüglich des Ver¬
laufs und Ausgangs. Ihm wäre durch weitere Untergruppierungen und Varie¬
tätenaufstellung Rechnung zu tragen.
Eüath (33) behielt bei 3620 Aufnahmen, wenn er alle Fälle, welche
einer anderen Grundkrankheit angehörten, wegließ, nur 14 Fälle mit paranoi¬
schem Charakter, die teils zur Paranoia Kraepelins (1 Fall), teils zum Queru¬
lantenwahn (4 Fälle) und zur Paraphrenia systematica (9 Fälle) eingeteilt
wurden. Bei 6 der Paraphrenien entstanden die Wahnvorstellungen auf hallu¬
zinatorischer Basis, bei 3 nahmen dieselben einen kombinatorischen Anfang.
Diese beiden Abarten der Paraphrenia, die nicht in Verblödung verfielen, bilden
die Gruppe der Paraphrenia systematica ohne Ausgang in Schwachsinn. Die
Fälle von senilem Verfolgungswahn, welche der Paraphrenia systematica ähnlich
sehen, aber in Schwachsinn übergehen, bilden eine besondere Art der senilen
Demenz, während die Fälle, dei denen Verstimmungen eine große Rolle spielen
und die Wahnideen zeitweise schwinden, zum manisch-depressiven Irresein
gehören. E. macht den Vorschlag, daß man zu den nicht verblödenden para¬
noiden Erkrankungen nebst den Querulantenwahn und der Kraepelinschsn
Paranoia auch die nicht zu Schwachsinn führenden Fälle von Paraphrenia
systematica rechnet, und die Paranoia Kraepelins mit der systematischen
Paraphrenie ohne Verblödung als Paranoia im weiteren Sinne zusammenfaßt.
Heveroch (56) kommt, von seinem in einigen früheren, bereits refe¬
rierten Arbeiten definierten und analysierten Begriffe ausgehend, zu folgender
Auffassung der Paranoia: Die Paranoia ist eine Form der Ichtumsstörung,
die darin besteht, daß : 1. in das Bewußtsein des Pat. Gedankeninhalte ein-
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58* Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
treten, die in einem bestimmten Verhältnis zu der Person des Pat. stehen,
einmal als Gedanken, ein andermal als Wahrnehmungen (Halluzinationen); 2.
dem Pat. das Bewußtsein der die Gedankeninhalte ins Bewußtsein bringenden
Tätigkeit bezw. der Taten des Pat. fehlt; 3. von diesen Inhalten und ihren
Erläuterungen der Pat. unwiderlegbar überzeugt ist. — Es ist also dem Verf.
die Paranoia eine von den drei Ichtumserkrankungen im breiteren Sinne des
Wortes; bei ihr treten diese Störungen im positiven, bei den Obsessionen
und der Psychasthenie resp. Ichtumsstörungen s. s. im negativen Sinne auf.
Jar. Stuchlüc.
Hirschfeld (58) bespricht hier auch den Eifersuchts-, Beziehungs- nnd
Verfolgungswahn des sexuellen Hypochonders.
c) Dementia praecox.
Bonhoe/fer (14) zeigt an einigen Beispielen, wie schwer es unter Um¬
ständen ist, die richtige Differentialdiagnose zu stellen bei Beginn der Er¬
krankung, wo grobe hebephrenische Wahnbildungen, ausgesprochen schizo¬
phrene Zerfahrenheit, grobe katatonische Symptome noch fehlen. Der sprin¬
gende Punkt der Diagnose ist dann im Verhalten der Affektreaktion und der
damit im engsten Zusammenhang stehenden geistigen Aktivität gelegen. Ob¬
jektive Maßstäbe für das Verhalten der letzteren wären von großer Wichtigkeit.
Die bisher bekannten Methoden versagen im Beginn der Erkrankung.
Breigers (17) Beobachtungen betreffen etwa 100 Kranke vom Haus
Schönow, welche sich im Frühstadium der Erkrankungen befanden. Er urteilt
selbst über seine Ergebnisse, daß einer näheren Betrachtung nur wert sind
die Pupillenstörungen, das Verhalten der Reflexe, der Sensibilität sowie die
vasomotorischen Störungen (Algesie) auf der einen und die motorischen Stö¬
rungen auf der anderen Seite. Die Diagnose ermöglichte in allen Fällen
eigentlich einzig und allein der charakteristische psychische Defekt. Die be¬
obachteten körperlichen Symptome sind Begleiterscheinungen des jeweilig
bestehenden psychischen Zustandes. Bei einer Lebhaftigkeit der assoziativen
Tätigkeit und bei einer Reichhaltigkeit an Affekten und Vorstellungen waren
auch auf körperlichem Gebiete gesteigerte Reaktionen wahrnehmbar. Das um¬
gekehrte Verhalten war bei einer Armut des affektiven und intellektuellen
Geschehens nachweisbar. Eine Verringerung respektive ein Fehlen der Psycho-
reflexe an den Pupillen scheint im Frühstadium der Erkrankung sehr selten
beobachtet zu werden. Dann hat dieses Symptom differentialdiagnostische
Bedeutung.
Förster und Schlesinger (39) haben gefunden, daß die physiologische
Pupillenunruhe sowie die auf sensible, sensorische und psychische Reize er¬
folgende Pupillenerweiterung eine Folge ständiger kleiner Schwankungen der
Akkommodation eventuell auch der Lichtintensität ist. Der Patient ändert
seine Akkommodationseinstellung. Ihr Fehlen bei der Dementia praecox
erklärt sich leicht durch die geringe psychische Regsamkeit der Kranken, die
sich durch unbedeutende äußere Reize wenig oder gar nicht ablenken lassen.
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Um pienhwcftFunktioneJte Psychosen. 59*
Hriupimann i'hä). ging von diu Tatsache aus. daß Hypersekretion der
Schilddrüse eint* Verzögerung. der BWgerinnnung zur Folge hat, dagegen
HyposekretiUn eine ÜcschlMlmgnng. Nach der von Schnitze (Miiueh. Media.
Wochenschrift ifHl5) angvgebnuon Methode wurden .101 Fälle nntersuyhl: Die.
OerailHtngSüeitoti hei Normalen liegen zwischen 7V* und 9 Minuten. Bei
Katatonie *««! es o 1 /*—7*}.,, Dagegen zeigen Hol«e(«)irotite. Manie und Paraly'w?
nur wenig; KeschleUmgntjg; tdfo arideren trofeTsuelfhtfi' K^ankligUgb, auch..
Dementia paranoides, tagen obethÄfb der Nhiriualjinie . ifnr Katatonie (nM
in etwa anch Hcbrephremet jmjtpliigft dnrih das kohsiäatg Torhomni^ft eihbt
beschleunigten Hlutgerifiiiung, Es muß also eine. Äudenbig der iHutntsaniinett
Setzung ei »getreten sein, die? auf Hypoituifciitm der Scbiiddriisic sdilieStn
140t- V- 'WgitrfMi 'UntetVhcilupgeti mh^en nt^ iißigep, ob mit ^d^ung dos
KtHokheit^ldUb-s auch die Binrgeriivrtiiftgsae-it .sielt ändert. Fine Oberem-*
stipiutitög «.wischen Schwere ries s-istjoimn und IB>i!£tvrinnu«gSEeil har
11. nicht geftuidc». ii. vm|thb‘d t Versuch..- mit Jndötityru. hei Katatonk' an
«schon,:. ‘ '• ' • - • C’;, V \ • /. .
.Kvwgrf [12) föhn ms riet .Ufuui'■ v.uji 8 K; •■utkctigt'r'clueiitoii aus. daß
die Farriphrenia systenjatica xüid expansiv« ^appeUm aus, deut Verbände tnit
der Paraphreni:» jdiantastjca aüsziisrbeidHii sind Ob du» Ibuuphreuia coitkhu-
latoria su den erstgenannten Psydtostm engen* Heiiehirngen. lud, ersuhe.mt
ihm sehr jweiteJhaft. Die Falle v.»p Faraphfunta phantastiea gehören sicher
2 ur Demeptia paranoides ; ;V£a?- Kmfytiim- Faraphreni« systenuiticÄ rtpd ex-,
jiänsiya anbetrifft, so gehöreti ilieiie beiden Psychosen su denen« dWintdgy
/Literatur seit Jahren als Paranoia .. beschriebet» werden. Letztere stellt eine
psychische Erkrankung von dori&aite g»inhe)til|6|i<bn ^fgpiäge ddt. stroUg ge*
schiede«, von lidö ui.Didektüosität endenden der Douientia
jiafaueides, orbebjich näher dein Ift&Mto'. wh
dem isie, eine nahe Verwandtschaft der G ?u ndlage verbindet
Die jmranoithihun Erkrankuogon in ibm-kfasAhiw^rl'^^tphFenicaF.su nennen,
.liegt- mn.su isefifgeF Grund;y^rjg^ al# Scitivpfet cilPsÄ«;» Begriffs
unter demselben psychopath*; re- KnwtiUidc hioeinhogriffiin sind, die zweifellos
pickt dazu geh^lrgti. Öb tuyh
{onpgt'r: ,dVc heutzutage tn detider Reinßritis. praecox gewtfrifen
werden, in yfohlcharakfftftstgirtg E^ä.yriyprie>p wird durchführen fassen. soll
liaMflßösteJlt bltubeu, wenngleich , wenig Aussicht dafür zu besieheu scheint.
Kt'imiMf'h dbtjb;>xs{0r iUatdSf»^
■drin Fiilleu. die er «ja Bfiraphteoicrt i*u Siniie AVocpeL/y* t«u»fadt ; . kein 'Mevkftteil
' im. Verhalten des fmylleki* zu {ipdeu zei Vvi«*lo> ;rie yfondsiitaiivh von den
anderen ditwikchen jJril’i&OidbÄ Erkrankungen der Dententia präget»* unter¬
scheidet. Jittdcxn liehe«li^ieh ia. hUwi Fällen *ejKer j%a|thdehhsN' : w^$ ..itaek
letzt, teils io friilicicn Pnasep ^yniolvirn- dftr.. ; |.kßili% : n.fia'
x-i.ie.iooe. Aasdeiionud .not Yfhai* ... h.-m. K, sdieiut die Poraphreiüfe
nur ('iit^ttstaudstdid e»ne> pr''t;akn'U«ü ; -;viuzopluerienl Rrki>nkin)g zu keto.
in der tii Enu'bei.uoögur- \rn<> getPiUliFiny» upd/^Btens^^^jiibtjfi/'Ybii/.^npn'-
'■•. • »Mrten ...
Co gle
60*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Längs (78) Assoziationsversuche müssen im Original nachgelesen werden.
Er kommt zu folgenden Resultaten: Der Dementia praecox-Kranke hat die
geringste mittlere Abweichung von allen Familienmitgliedern. Wenn der
Kranke Verfolgungsideen bekommt, so werden jene Mitglieder der Familie
als Verfolger gewählt, mit denen er die größte Übereinstimmung im Reaktions¬
typus hat.
Neubürger (99) fand, daß bei reichlich 80% aller untersuchten Kata-
toniker und Hebephrenen gar keine oder nur geringe Blutdrucksteigerung bei
Adrenalin eintrat.
Schultz (125) kommt zu folgenden Ergebnissen. Reine Fälle von Neurosen
und „funktionellen" Psychosen, außer Dementia praecox, zeigen keine Adrena-
lin-Mydriasis. Bei Dementia praecox findet sich in etwa 50% sehr deutliche,
etwa 15% fragliche, etwa 15% negative Adrenalin-Mydriasis. Etwa 16%
zeigen auf Adrenalin-Instillation Pupillen Verengerung: „paradoxe Reaktion", be¬
sonders bei vorher mäßig weiten Pupillen. Es besteht keine eindeutige Be¬
ziehung der Adrenalin-Mydriasis zu symptomatischen Bildern und zum Verlaufe
der Dementia praecox; oft hält die Mydriasis auffallend lang (tagelang) an.
Die einseitige Prüfung auf Adrenalin-Mydriasis, unter Kontrolle der anderen
Pupille und in technisch einwandfreier Weise ausgeführt, ist eine einfache,
gefahrlose klinische Methode, die anscheinend praktisch von Interesse ist.
Das Blutserum Dementia-praecox-Kranker zeigt im Laewen-Trendelenburgscheu
Präparate auffallend niedrige Werte (Hypadrenalinämie). Der Liquor cerebro¬
spinalis von organischen Hirnaffektionen und „funktionellen Psychosen" (De¬
mentia praecox, Manie) enthält unabhängig vom Eiweißgehalt erhebliche Mengen
gefäßverengernder Substanzen im Laewen-Trendelenburgschen Versuche (Hypo¬
physe?). Die neueren somatischen Befunde bei Dementia praecox weisen
übereinstimmend dieser Krankheitsgruppe eine Sonderstellung gegenüber rein
funktioneller Psychosen an; zu einer einheitlichen Theorie genügen sie nicht.
Versuche zur Darstellung einer Cuti-Reaktion bei Dementia praecox sind
bisher erfolglos geblieben.
Sokolow (135) hat an 2 Fällen von Dementia praecox und 2 Fällen von
Schizophrenie Versuche mit der Stimmgabel und mit kalorischen und galva¬
nischen Reizen angestellt. Er fand, daß die Auslösung von Gehörshalluzi¬
nationen durch periphere Reize kein seltenes Vorkommnis ist. Hier berichtet
er ausführlich über einen Fall von Schizophrenie. Akustische Reize sind mehr
geeignet zur Auslösung von Gehörshalluzinationen. Zwischen Tonhöhe der
Reize und Tonhöhe der akustischen Halluzinationen besteht eine gesetzmäßige
Abhängigkeit. Die Tonhöhe der Halluzinationen ist um so höher, je höher
die Tonhöhe des dargebrachten Reizes ist, und umgekehrt. Der Rhythmus
der Halluzinationen entspricht dem Rhythmus des Reizes. Die Farbenskala
der halluzinierten Gegenstände ist unabhängig von der Tonskala der auslö¬
senden Stimmgabel. Die Auslösung der Gehörshalluzination durch elektrische
Reize ist von der Art des Stromes unabhängig. Zwischen der Intensität des
elektrischen Stromes und der Tonhöhe der halluzinierten Worte besteht keine
Abhängigkeit.
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
61*
Van der Scheer (121) hat die Versuche von Schultz wiederholt. Nach
Schultz soll Adrenalineinträuflung in den Konjunktivalsack des Auges bei
einer großen Zahl von Schizophrenen eine Veränderung der Pupillenweite
hervorrufen. Nach v. d. Scheer hat die Prüfung auf Adrenalinmydriasis für
die Diagnose der Dementia praecox vorläufig keinen praktischen Wert. Seine
Resultate sind: Die Anisokorie kommt bei normalen Menschen viel öfters vor,
als bisher angenommen wurde, v. d. Scheer fand in 40% Pupillendifferenz.
Er fand bei gesunden Menschen in 34,5% der Fälle Adrenalinmydriasis. In
einzelnen Fällen kommt Adrenalinmyosis vor. Die Adrenalinmydriasis tritt
bei verschiedenen Psychosen etwas häufiger auf als bei Normalen. Sie ist
einzelne Male sehr stark und dauert lange, namentlich bei der Katatonie und
bei der Epilepsie. Der Adrenalinmydriasis kommt daher als differentielles
Diagnostikum funktioneller oder organischer Psychosen bislang keine praktische
Bedeutung zu.
Widmann (155) hat die Schädel von 39 Kranken der Gießener Klinik
und der Landesheilanstalt Goddelau auf Abnormitäten und Degenerationszeichen
untersucht, soweit es in vivo möglich ist. Es handelt sich dabei um 30 Fälle
reiner Dementia praecox (in der hebephrenen, katatonen, paranoiden Form),
und um 9, bei denen die Doppeldiagnose Dementia praecox mit angeborener
Minderwertigkeit durch genaue klinische Untersuchunegen klargestellt war. —
W. schließt, daß wir bei Dementia praecox eine auffallende Summation von
Deformitäten in zumeist ausgeprägtem Grade beim einzelnen Individuum finden.
d. Sonstiges.
Donath (29) bemerkt zunächst, daß es noch nicht erwiesen ist, daß das
Zentrum der Schreibbewegungsvorstellungen sich ausschließlich in der zweiten
linken Stimwindung befindet. Fälle von Agraphie bei Hysterie findet man in
der Literatur; Agraphie infolge von Zwangsvorstellungen (Anankasmus) fand D.
bisher nicht beschrieben. — Im Fall von D., der eine 49 jährige Frau betrifft, be¬
stand keine Spur von Sprachstörung, keine Apraxie, es wurde aber, nach einer
heftigen Gemütsbewegung, literale und verbale Paragraphie beobachtet für
Spontan-, Diktat- und Nachschreiben, weniger bei Zahlenreihen und nicht beim
Zeichnen. Alexie bestand nicht. — Nach dem für organische Läsionen geltenden
Aphasieschema war erhalten das auditive und visuelle Erinnerungsbild des Wortes
und von den motorischen Erinnerungsbildern das artikulatorische, nicht aber das
graphische Erinnerungsbild. Wie D. ausführt, handelt es sich in seinem Fall
um eine anankastische Paragraphie, zu welcher eine Emotion und die damit
einhergehende mangelhafte Konzentration der Aufmerksamkeit auf den Schreib-
akt den Anstoß gibt. Die rein funktionelle Störung ging in nicht langer Zeit
in Heilung über. Hysterie war auszuschließen.
Friedlaender (42) kommt zu folgenden Schlüssen: Morphium-Skopolamin
in einer Dosis von 0,015 bis 0,03 Morphium und 0,0005 bis 0,001 Skopolamin
ist das wirksamste und relativ ungefährlichste Mittel zu rascher Koupierung
schwerer Erregungs- und Angstzustände. Trivalin und Trivalin-Hyoszin sind
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62*
Bericht öber die psychiatrische Literatur 1915.
in der Wirkung in solchen Fällen absolut unzuverlässig und außerdem schon
in mäßigen Dosen nicht ungefährlich. Morphium und Skopolamin werden am
besten, in öOproz. Alkohol gelöst, intramuskulär injiziert, da diese Lösungen
absolut steril, lange haltbar sind und der Alkohol gleichzeitig günstig auf die
Herztätigkeit wirkt. In manchen Fällen ist außerdem eine gleichzeitige
Kampfer-Injektion zu empfehlen.
Jolly (64) bringt nach einem literarischen Oberblick eine Reihe von sehr
interessanten kasuistischen Beiträgen. Er beginnt mit Fällen, in denen die
Psychose vor Eintritt der ersten Menses auftrat, einen an vierwöchentlichen
Termin gebundenen Verlauf zeigte und mit Eintritt der ersten Menses meist
zur Heilung kam. Dann folgen Fälle, in denen die Psychose im Zusammen¬
hang mit. der ersten Menses auftritt, — Fälle, in denen sie im Zusammen¬
hang mit späterer Menses auftritt und bei mehrmaligem Auftreten einen
menstruellen Typus zeigt, — in der Menopause auftretende Fälle; den Schluß
macht die sog. epochale Menstruationspsychose. — Eine eigene Menstruations¬
psychose als klinische Einheit gibt es nicht. Auch die als sog. epochale
Menstruationspsychose beschriebenen Beobachtungen können als besondere
Form nicht anerkannt werden.
Weiterhin beschäftigt sich JoUy mit dem Einfluß der Psychosen auf die
Menstruation. Nach einem literarischen Überblick gibt er eigene Unter¬
suchungen. Die Arbeit eignet sich leider nicht zu einem kurzen Referat.
Kufe (76) berichtet ausführlich über einen Fall von Zystizerken-Menin-
gitis inkl. Sektionsbefund und erwähnt kurz weitere Fälle seiner Beobachtung.
Aus allen seinen Fällen entnimmt er die Tatsache, daß die Krankheitssymptome
bei der Zystizerkenkrankheit des Gehirns viel weniger von den Zystizerken
als solchen, als vielmehr von den sekundären Veränderungen, der chronischen
Meningitis, dem Hydrocephalus internus, der Endarteriitis deformans und den
degenerativen Veränderungen des nervösen Parenchyms abhängen, daß in den
Fällen von ausgeprägten stabilen psychischen Störungen sich wohl stets als
Substrat diffuse Veränderungen der grauen Rinde nachweisen lassen.
Meyer (92) fand, daß die krankhafte einseitige Betonung des Ich-Kom-
plexes, wie wir sie als ein Merkmal tiefgreifender geistiger Störung finden,
eine wesentliche Einwirkung des Krieges, beziehungsweise des Kriegsausbruchs,
auf bestehende Psychosen verhindert. Auch an den von Tapiau übernom¬
menen Kranken zeigte sich, daß trotz direkter schwerer Einwirkung des Krieges
eine Beeinflussung bestehender Psychosen durch den Krieg oder Kriegsausbruch
nicht erfolgt war.
Patschke (104) bringt zunächst eine Schilderung, was wir heute unter
arteriosklerotischen Psychosen verstehen können, ihre Ätiologie, anatomische
Grundlage, der klinische Verlauf und ihre Abgrenzungsmöglichkeiten gegen
ähnliche Bilder, wie man sie bei Paralyse, Dementia senilis u. a. findet. Dann
spricht er über die gerichtliche Bedeutung der genannten Psychosen.
Nach Raecke (110) muß man unterscheiden eine hysterische und eine
katatonische Situationspsychose. Im Verlauf einer Dementia praecox können
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie.
63*
wie bei der Hysterie exquisit psychogen entstandene Symptomenkomplexe aul¬
treten, die allein durch die Situationen geschaffen fand erhalten zu sein
scheinen und demgemäß mit derselben zunächst verschwinden. Da die somit
differentialdiagnostische Abgrenzung allein nach dem Verlauf lange Zeit auf
Schwierigkeiten stoßen kann, sollte man wieder mehr bestrebt sein, durch
Vertiefung unserer Kenntnis von der Symptomatologie des Zustandsbildes
weiterzukommen. Die zu allgemein gehaltene „Degenerationspsychose“ für
psychogene Hafterkrankungen ist unzweckmäßig, weil sie den möglichen Ver¬
schiedenheiten der klinischen Bilder ungenügend Rechnung trägt.
Sittig (133) berichtet über einen sehr interessanten Fall, wo neben dem
typischen Bild der eklamptischen Psychose beobachtet wurde, daß die Kranke
sich längere Zeit nicht an Örtlichkeiten erinnern konnte, auch nach der Ge¬
nesung; sie konnte den Weg von der Klinik nach Hause nicht wiederfinden.
Die örtliche Orientierung mußte durch neue Erfahrung wieder erlernt werden.
Auch litt die Kranke vorübergehend an Amaurose. Zwischen Orientierungs¬
störung und Amaurose muß ein Zusammenhang bestehen, es handelt sich um
in den beiden Hinterhauptslappen lokalisierte Veränderungen, dadurch wurde
auch die optische Halluzination des Falles verursacht.
Wasner (150) veröffentlicht hier 13 Fälle von Propfpsychosen aus den
Kückenmühlenschen Anstalten, und zwar 10 Fälle von Dementia praecox, 2
vom manisch depressivem Irresein, 1 periodische Manie. Das Vorherrschen
der Dementia praecox dürfte für eine Verstärkung der Prädisposition zu Er¬
krankung an Dementia praecox durch den angeborenen Schwachsinn sprechen.
Ein besonders schwerer Verlauf der Dementia praecox bei Schwachsinnigen
ist nicht festzustellen. Die stupuröse Form der Dementia praecox herrschte vor.
Von Ziehen s Krankheiten des Kindesalters hegt jetzt (159) die erste
Hälfte des Werkes vor. Sie handelt von den Defektpsychosen, den ange¬
borenen und den erworbenen. Unter letzteren wird auch die Dementia hebe-
phrenica und praecox der Kinder besprochen.
4. Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung.
Ref.: Sch ob-Dresden.
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66*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
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Hälfte. Leipzig und Wien, F. Deutickc. (S. 67*.)
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nerv, and mental diseases. Bd. 42.
37. Ziehen , Die Geisteskrankheiten des Kindesalters einschließlich
des Schwachsinns und der psychopathischen Konstitution.
I. Hälfte. Berlin, Reuther und Reichard. (S. 66*.)
Die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Gebiete des jugend¬
lichen Schwachsinns ist während des Krieges naturgemäß geringer geworden.
Um so erfreulicher ist es, daß während dieser Zeit in Deutschland zwei
Werke erscheinen konnten, die entschieden von großer Bedeutung sind.
An erster Stelle ist hier Ziehens Buch „Die Geisteskrankheiten des Kindes¬
alters“ (37) zu nennen, von dem der erste Teil zum Referat vorliegt. Wie der
Verfasser selbst hervorhebt, ist das Buch aus Abhandlungen hervorgegangen,
die vor mehr als einem Jahrzehnt, für Ärzte und Erzieher bestimmt, ver¬
öffentlicht wurden. Durch ausgedehnte Berücksichtigung der inzwischen erfolg¬
ten Neuerscheinungen, durch systematische Zusammenfassung des gesamten
Stoffes ist aus den losen Abhandlungen ein geschlossenes Ganzes entstanden,
dessen Studium für Ärzte und Erzieher ganz besonders zur Einführung in das
Verständnis der kindlichen Geistesstörung willkommen und nötig ist.
Bei der Einteilung der kindlichen Psychosen folgt Ziehen demselben
Prinzip, das er bei seinem Lehrbuch der Psychiatrie angewandt hat; er
scheidet sie in Psychosen mit Intelligenzdefekt oder Defektpsychosen und
Psychosen ohne Intelligenzdefekt.
Der erste Teil behandelt die Defektpsychosen, die in angeborene und er¬
worbene Defektpsychosen (erworbenen Schwachsinn) gesondert werden. Zn
den angeborenen Defektpsychosen rechnet der Verf. auch die erworbenen
Defektpsychosen der ersten Kinderjahre im Hinblick auf die große Überein¬
stimmung der Symptome. Alle angeborenen Defektpsychosen können anch
unter dem Namen der Imbezillität zusammengefaßt werden. Die ersten Ka¬
pitel befassen sich mit Häufigkeit und Ursachen des Schwachsinns. Ziehen
unterscheidet neuropathische, toxische und infektiöse erbliche Belastung (here¬
ditäre Faktoren) und erworbene Ursachen (fötale Ernährungsstörungen, Früh¬
geburt, traumatische Schädigungen, postfötale Ernährungsstörungen und Ver¬
giftungen, Störungen der inneren Sekretion usw.). Im Zusammenhang damit
wird ein Überblick über die wesentlichsten Ergebnisse der pathologischen
Befunde gegeben; im allgemeinen wird aber die pathologische Anatomie nur
im notwendigsten Umfange berücksichtigt.
Nunmehr folgt der bedeutsamste Teil des Werkes, die Darstellung der
psychischen Symptome des Schwachsinns, insbesondere die Schilderung des
Intelligenzdefektes. Die einzelnen Kapitel sind in einer geradezu klassisch
klaren Sprache abgefaßt; trotz gedrängter Kürze ist der Stoff erschöpfend
behandelt; dabei bietet die Lektüre nicht nor Belehrung und Genuß, sondern
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 67*
gleichzeitig noch eine Fülle von Anregungen für die Inangriffnahme und das
Studium bisher ungelöster Fragen.
Als nächster Teil schließt sich eine übersichtliche Besprechung der
wesentlichsten körperlichen Begleiterscheinungen des jugendlichen Schwach¬
sinns an, von denen nur die verschiedenen Arten der Krampfanfälle ( Jackson -
sehe Anfälle, epileptische Anfälle, eklamptische Anfälle) etwas ausführlicher
abgehandelt werden.
Die einzelnen Unterformen des Schwachsinns werden dem Zweck des
Buches entsprechend relativ kurz abgehandelt Ziehen lehnt'die Anerkennung
des moralischen Schwachsinns als einer besonderen Unterform ab; er schlägt
dafür — wenigstens für eine Reihe von Fällen — die Bezeichnung Debilität
mit vorzugsweise ethischem Defekt vor. Weitere Kapitel gelten der Erkennung,
den Heilungs- und Besserungsaussichten, der Behandlung der Imbezillität. Am
Schluß gibt Ziehen noch einen Prüfungsbogen zur Untersuchung der Intelligenz
wobei die Binetsche Methode ablehnend besprochen wird.
Im zweiten>Abschnitt des ersten Teiles beschäftigt sich Ziehen mit den
erworbenen Defektpychosen; er versteht darunter diejenigen mit einem In¬
telligenzdefekt verbundenen Psychosen, welche nach dem 4. Lebensjahr, also
qaeh Vollendung des groben Hirnwachstums, sich entwickeln. Er weist darauf
hin, daß es eine große Zahl solcher erworbener Psychosen gibt, bespricht
aber nur folgende 6 spezielle Formen: Dementia paralytica, Dem. bei Herd¬
erkrankungen, Dem. epileptica, Dem. toxica (Dem. alcoholica) und Dem. hebe-
phrenica mit ihren verschiedenen Unterformen.
Das zweite zusammenfassende Werk stammt von Weygandt (35). Seine
Arbeit ist in allererster Linie für Ärzte bestimmt. Im Gegensatz zu Ziehen
behandelt Weygandt , durch dessen Arbeiten ja die Kenntnis der klinischen
Sqnderbilder ganz besonders mit gefördert worden ist, die klinische Einteilung
und die klinischen Einzelgruppen in ausführlicher Weise. 30 klinische Grup¬
pen werden aufgestellt. Weygandt ist sich der großen Schwierigkeiten einer
Klassifikation der einzelnen Schwachsinnsznstände bewußt; er weist selbst
darauf hin, daß ein „einzelnes, vollständig durchgreifendes, streng wissenschaft¬
liches Einteilungsprinzip“ noch nicht vorhanden ist — und der Leser wird
auch im einzelnen an der Gruppierung dies und jenes aussetzen, so erscheint
zum Beispiel nicht recht ersichtlich, warum eine tatsächlich endogene Form,
wie zum Beispiel der Schwachsinn bei Friedreichschcr Ataxie, nicht bei der
endogenen Gruppe abgehandelt wird, man wird fragen können, warum nicht
auch die traumatische Idiotie Anspruch auf Bildung einer besonderen Gruppe
haben soll. Im großen und ganzen aber kann man den Einteilungsversuch
Weygandts wohl anerkennen. Erst nach der Schilderung der klinischen Sonder¬
gruppen gibt Weygandt eine zusammenfassende Darstellung der körperlichen
und psychischen Allgemeinsymptorae und der Diagnose des jugendlichen
Schwachsinns. Eine übersichtliche Besprechung der Behandlung der jugend¬
lichen Defektzustände bildet den Schluß des reichhaltigen Werkes.
Die Ergebnisse der dankenswerten Untersuchungen von Eliaesou: (8)
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
lassen sich folgendermaßen zusanunenfassen: E. hat die erblichen Verhältnisse
solcher Familien untersucht, aus denen 2 oder mehrere Kinder die Königs¬
berger Hilfsschulen besuchten (ca. 50 Familien): derartige Familien wurden
ausgewählt, weil anzunehmen war, daß hier die erblichen Verhältnisse wohl
eine besondere Rolle spielen würden. E. untersucht Vorfahren, Angehörige
der Seitenlinien und Geschwister auf das Vorhandensein von Imbezillität.
Geisteskrankheiten, Alkoholismus, Syphilis. Epilepsie, Tuberkulose, Selbstmord,
kriminellen Handlungen; auch das soziale Milieu wurde einer Prüfung unter¬
zogen. Bei der näheren Untersuchung der Entwicklung der einzelnen schwach¬
sinnigen Individuen wurde geachtet auf die Geburt (ob ehelich oder unehelich >.
durchgemachte Krankheiten, körperliche Eigenschaften, zum Beispiel Größe.
Kopfform. Sprechvermögen, auf Intelligenzstand, Gemütsleben, moralisches Ver¬
halten. Von den gefundenen Zahlen seien einige hervorgehoben: 17% der
(gesamten) Königsberger llilfsschulkinder hatten imbezille Geschwister: neuro-
pathische Belastung fand sich in 12,9%. Alkoholismus der Vorfahren in 59%,.
Epilepsie 5,5",,. Syphilis der Vorfahren nur in 1,4%, Tuberkulose in 31,5%.
Große Kindersterblichkeit wurde in 30.9% der untersuchten Familien festge¬
stellt: die häuslichen Verhältnisse erschienen bei 30,2"„ gut, bei 58% ärmlich,
bei 11,6% sehr ärmlich; bei 17.8",, war die Geburt schwer erfolgt, bei 63%
hatte Brusternährung stattgefunden. Rachitis war in 35% nachweisbar, bei
28% war Zahnung verspätet, ca. 40",, hatten erst in einem Alter von mehr
als 18 Monaten laufen gelernt, 26% zeigten eine verzögerte Sprachentwicklung;
Krämpfe waren nur bei 8,2% angegeben. Der Allgemeinzustand der Kinder
war wenig günstig; an Körperlänge blieben 42,5% hinter dem Durchschnitt
zurück: bei 56,2% war der Kopfumfang zu klein. Degenerationszeichen fanden
sich in mittlerer Zahl, 16,6% zeigten Sprachdofekte. In der Familienge¬
schichte stehen Alkoholismus und Tuberkulose demgemäß im Vordergründe:
in der Vorgeschichte der Einzelindividuen waren keine Momente vorhanden,
denen besonders auffällige Bedeutung zuzuschreiben wäre. Das soziale Milieu
verdient besondere Beachtung; alle angeborenen und erworbenen Schädi¬
gungen kamen um so auffälliger zur Geltung, je ungünstiger die soziale Lage
war. Der erblichen Belastung ist im allgemeinen keine so große Bedeutung
zuzumessen, als für gewöhnlich angenommen wird.
Hovorka (13) trennt die Ursachen des jugendlichen Schwachsinns in.
angeborene und erworbene. Er ist bei 419 schwachsinnigen Kindern (155 in..
246 w.) der Ätiologie nachgegangen. Unter den angeborenen Ursachen spielt
der Alkohol die wesentlichste Rolle: bei mindestens einem Drittel der Kinder
war Alkoholismus der Aszendenten nachweisbar: gering an Zahl ist die Gruppe
der Kinder, deren Angehörige Störungen des psychischen Verhaltens zeigten
tGeisteskrankheiten, Schwachsinn, Neurasthenie): Epilepsie der Vorfahren war
auffallend selten, noch seltener Blutsverwandtschaft, Syphilis, etwas häufiger
Selbstmord; der sogenannte ^Mutterschreck“, der ziemlich häutig angeschuldigt
wurde, war in der Mehrzahl der Fälle nicht als Ursache des Schwachsinns
anzuerkennen. Bei den erworbenen Ursachen ist zu unterscheiden zwischen
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solchen, die während der Geburt einwirken, und solchen, die erst nach der
Geburt ihren Einfluß entfalten. Ursachen der ersteren Art, zum Beispiel
Zangen-, Sturzgeburt, konnte in 6 Fällen eine gewisse Bedeutung beigelegt
werden. Sturz auf den Kopf wurde in 17 Fällen mit einer gewissen Wahr¬
scheinlichkeit angeschuldigt; Meningitis war 14 mal, Rachitis 138 mal voran-
gegangen; doch glaubt H. nicht recht an den ursächlichen Einfluß der Rachitis.
Branntweingenuß, Vergiftung durch Aufguß von Mohnsamenköpfen erschienen
als etwas ungewöhnliche Ursachen.
Bloch (4) hat die Kinder der Hilfsschule in Kattowitz, die er im Jahre
1912/13 nach der Methode Binet-Simon untersucht hatte, unter Anwendung
der gleichen Tests ein Jahr später einer Nachprüfung unterzogen. Nach seinen
Erfahrungen, die mit denen von ('kotzen übereinstimmen, kommt man bei der
Prüfung Schwachsinniger über das Intelligenzjahr 10 normalsinniger Kinder
nicht hinaus. Von den 53 Versuchspersonen wiesen gegenüber dem Ergebnis
des vorhergehenden Jahres 14 einen Intelligenzstillstand auf, 10 zeigten eine
Zunahme von ’| 2 , 23 eine solche von 1 und 6 eine Zunahme von 2 Intelligenz-
jahreu. Die geistige Entwicklung beim schwachsinnigen Kind folgt nach seinen
Untersuchungsergebnissen im ganzen der des normalen Kindes; nur ist sie
einmal stark verzögert, durchschnittlich um 3—4 Jahre, zum andern bleibt
sie früher stehen. Die Schwachsinnigen sind gegenüber den Normalen haupt¬
sächlich in Dingen zurück, welche das tägliche Leben erfordert, so Abzählen
und Zusammenzählen von Geldstücken, Münzkenntnis, Herausgeben kleinerer
Geldstücke auf größere, Ordnen von 3 und mehr Gewichten nach der Schwere.
Diktatschreiben. Aufzählen der Monate. Angabe des Datums usw. Bloch hält
die Methode nach wie vor für geeignet, um leicht und sicher festzustellen
ob ein Kind schwachsinnig sei oder nicht.
Koch (17) gibt zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung
des Begriffes Infantilismus und bespricht dann die einzelnen Formen, zunächst
die verschiedenen Einzelformen, die auf Schildrüsenerkrankung, Hypophysen-
und Keimdrüsenstörungen zurückgeführt worden sind. Dann unterzieht er die
Rolle, die Thymus, Epithelkörperchen, Nebennieren, Pankreas, die multiple
Blutdrüsenerkrankung nach Falta für das Zustandekommen infantilistischer
Symptome haben, einer kritischen Betrachtung. Nicht alle Formen des Infan¬
tilismus sind durch endokrine Störungen bedingt: auch andere organische,
toxische und infektiöse Schädlichkeiten, die kongenital, fötal oder auch später
einwirken (Infantilismus mit angeborenem Herzfehler, Pulmonalinfantilismus,
Lues, Alkohol usw.), haben eine ursächliche Bedeutung. Die Schwäche des
Begriffes Infantilismus beruht im wesentlichen in folgenden Punkten: Die In¬
fantilen sind weder Kinder noch kindlich, man kann an der Entwicklung des
normalen Kindes nur etwa messen, an welchem Punkte des Weges die In¬
fantilen zurückgeblieben sind. Der Begriff setzt eine ziemliche Gleichmäßigkeit
der Entwicklungshemmung voraus, die sich zu den tatsächlichen Befunden
bei Infantilen im Gegensatz befinden. — K. teilt eine Reihe von Fällen mit,
die er im städtischen Siechenhaus zu Frankfurt am Main beobachtet hat.
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70* Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
In einer kurzen, aber sehr anregenden Veröffentlichung schlägt Stier
(30) vor, daß als Einteilungsprinzip für die nervösen und psychischen Stö¬
rungen im Kindesalter andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden, als es
bisher geschehen ist. Der Verfasser geht davon aus, daß, im Gegensatz zur
funktionellen Keife anderer Organe, das Kind auf dem Gebiet der psychisch¬
nervösen Funktionen noch ganz unfertig ist, und daß die Entwicklung und
Ausbildung dieser Funktionen erst unter dem Einfluß der Lebensreize bis zur
Pubertät hin allmählich vonstatten geht. Fertig sind nur der einfache Reflex¬
mechanismus, der die Vereinheitlichung der Funktionen der verschiedenen
Organe ermöglicht, und ferner die ersten etwas höheren komplizierten artkon¬
stanten Funktionen, die als Triebe und Instinkte, als Strebungen und Wollungen
mit den begleitenden einfachen Gefühlen für die Erhaltung des Lebens uner¬
läßlich sind (Schreien bei Hunger, bei Beschmutzung usw.). Auf diese elemen¬
taren Funktionen erst setzt sich das durch individuelle Lebenserfahrungen
entwickelte bewußte Verstandesleben als drittes Stockwerk auf. Entsprechend
dieser Dreiteilung der Entwicklung will St. auch eine Dreiteilung der psychisch¬
nervösen Störungen vornehmen. Er unterscheidet:
1. Neuropathische Störungen, d. s. Störungen, des phylogenetisch ältesten,
bei der Geburt fast ganz oder ganzfertigen elementaren Reflexmechanismus
im weitesten Sinne des Wortes.
2. Psychopathische Störungen, d. s. Störungen des phylogenetisch jün¬
geren in der Kindheitsentwicklung früh auftretenden, artkonstanten Trieb-
und Instinktlebens.
3. Intellektuelle Störungen, d. s. Störungen des phylogenetisch jüngsten,
in der Kindheitsentwicklung erst später auftretenden und länger einer Ent¬
wicklung zugängigen, individuell in weitem Maße differenten Verstandeslebens.
Das Merkmal der neuropathischen Störungen, die allein besprochen
werden, ist die krankhafte Steigerung der elementaren reflektorischen Erreg¬
barkeit des zentralen oder vegetativen Nervensystems. Die so entstehenden
Störungen manifestieren sich entweder
im Gebiet der unbedingten Reflexe als erleichterte, verbreiterte oder
abnorm intensive motorische Reaktionen auf leichte bez. mittelschwere Reize
(Schreckhaftigkeit, Muskelunruhe, Kinderkonvulsionen, Steigerung der Vasomo-
tilität, der sekretorischen Funktionen zum Beispiel Enuresis, verfrühte Erek¬
tionen)
oder als ein verfrühtes Auftreten von Unlustgefühlen bei den gleichen
Reizen (abnorme Unlustgefühle gegenüber gewissen Geschmacks- und Geruchs¬
reizen, Lichtscheu, Geräuschdmpfindlichkeit, l'berempfindlichkeit gegen Haut¬
reize u. a.)
oder im Gebiete der bedingten Reflexe als abnorm langes und intensives
Festhaften sogenannter häßlicher Angewohnheiten (Daumenlutschen, Nägel¬
kauen, jactatio capitis nocturna, Tics usw., respiratorische Reflexkrämpfe).
E. Barth (1) hat sich bei ihren interessanten Untersuchungen über 40
weibliche Fürsorgezöglinge im wesentlichen durch die Arbeit von Gruhle be-
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Schob, Idiotie. Imbezillität. Debilität. Psychopathie. 71*
nflusscu lassen. Das Hauptslioben der Verfasserin ist darauf gerichtet, die
rundlage für die Verwahrlosung allseitig klarzulegen. Der erste Teil befaßt
ch mit den Eltern, deren Verhältnisse nach Ansässigkeit und Beruf, Wohnung
ad Vermögen, Straffälligkeit und Gesundheitszustand erforscht werden. Die
ater gehören großenteils den Handel- und Gewerbetreibenden an; wie schon
'ruhte, so zeigt auch die Verfasserin, daß die kriminelle Jugend nicht „aus
er Hefe des Volkes“ hervorgeht. Die rein materiellen Verhältnisse der Eltern
ind im allgemeinen nicht schlecht. Soziale und moralische Defekte der Er-
euger waren bei 37,5% der Zöglinge nachweisbar. Körperliche Erkrankung
er Eltern, Inanspruchnahme der Mutter durch zahlreiche Geburten, frühe
Sterblichkeit der Mütter. Aufwachsen der Kinder in fremder Umgebung spielen
ine gewisse Rolle. Milieuschädlichkeiten ließen sich bei 85% nachweisen.
Im zweiten Teil werden die Kinder selbst nach folgenden Gesichtspunkten
tntersucht: 1) Geburtszeit, eheliche oder uneheliche Geburt, Aufwachsen
uißerhalb des Elternhauses, Geschwisterzahl: 2) Kindheit und Schule, Gesund-
leitsverhältnisse; 3) Beruf, Austritt aus dem Elternhaus; 4) Kriminalität und
Eintritt der Fürsorgeerziehung; 5) die Persönlichkeit selbst. Die meisten
Kinder waren im Jannar geboren, 7 waren unehelich, 9 waren außerhalb des
Elternhauses erzogen; zum Teil entstammten sie sehr kinderreichen Familien,
gerade die älteren in der Reihe der Geschwister bleiben in der sittlichen Ent¬
wicklung zurück. 13 Mädchen waren ein oder mehrere Male in der Schule
sitzen geblieben. Die Gesundheitsverhältnisse waren meist günstig; die Men¬
struation hatte bei den meisten znr rechten Zeit eingesetzt; ein Zusammen¬
hang zwischen erster Menstruation und erster Kriminalität bez. Einsetzen der
Fürsorgeerziehung war nicht nachweisbar; 9 waren, meist wegen Selbstmord¬
versuchs, in psychiatrischer Behandlung gewesen. Der Eintritt ins Berufsleben
vollzog sich meist unmittelbar nach dem Austritt aus der Schule; von be¬
sonderer Bedeutung war immer der Übertritt in das Gastwirtsgewerbe, immer
war der Eintritt in den Kellnerinnenberuf Ansdruck zunehmender Haltlosigkeit.
Die Kriminalität nahm deutlich ab mit den Jahren, die auf den Austritt aus
dem Elternhaus folgten. Der erste deutliche Anstieg mit Eintritt in Fürsorge-
bez. Anstaltserziehung begann mit dem 15. Lebensjahr, um mit dem 17. den
Höhepunkt zu erreichen. 22 der Zöglinge wurden der Anstalt durch Gerichts¬
beschluß überwiesen, bei 18 wurde die Fürsorgeerziehung auf Antrag der
Eltern oder anf eigenen Wunsch eingeleitet. Bei den kriminellen Handlungen
der Fürsorgezöglinge lag 23 mal Unzucht, 20 mal Diebstahl vor, die übrigen
8 Vergehen verteilten sich auf Streunen, Unterschlagung und Betrug. Zur
Prostitution und Unzucht kamen die Mädchen zumeist durch das Großstadt¬
leben. Als normal in geistiger Beziehung ist nur 1 Mädchen zu bezeichnen,
G waren debil, 4 leicht imbezill, debil und psychopathisch 3, psychopathisch 2G.
Die geistig wenig entwickelten Individuen neigten besonders zu Eigentums-
vergehen. die psychopathischen mit hysterischen Zügen zu sexueller Verwahr¬
losung.
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72* Bericht iilior die psychiatrische Literatur 1915.
Bei der gegenseitigen Abwägung des Einflusses von Milieu und Anlage
kommt die Verb zu folgenden Schlüssen:
1) Die Abnormen überwiegen, wo es sich vornehmlich um Anlageschäden
bandelt.
2) Milieuschäden beeinflussen Abnorme relativ weniger als Normal^.
3) Bei den krankhaft Veranlagten überwiegen die Willensschwächen.
Eine scharfe Grenze zwischen äußeren und inneren Ursachen kann
oft nicht gezogen werden.
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5. Intoxikations-Psychosen.
Ref.: Otto S n e 11 - Lüneburg.
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Bern. G. A. Bäschlin. 243 S. — 3,75 M.
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10. Cursehmann, H. (Mainz), Über Muskelhypertrophien hyperkineti¬
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Zeitschrift für Psychiatrie. LXX1II. Lit- f
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29. Hudovemig, Carl (Budapest), Zur Therapie der Alkoholpsyehos'-
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Snell, Intoxikations-Psychosen.
79 *
a) Allgemeines.
Schullze (75) bezeichnet als toxische Psychosen die ausgesprochen krank¬
haften psychischen Reaktionen des Individuums auf dem Organismus zugeführte
giftige Stoffe. Die giftig wirkenden Stoffe sind Nahrungs-, Genuß-, Arzneimittel
und gewerbliche Gifte. Für den Ausfall der Reaktion ist auch der andere Faktor, das
Individuum, von Belang. Wenn nur einzelne Individuen unter sonst gleichen
äußeren Verhältnissen auf ein Gift reagieren, so kann daran nur die persönliche
Veranlagung, die Disposition, schuld sein. Diese Disposition kann angeboren oder
erworben, vorübergehend oder dauernd sein. Es werden genauer erörtert die akute
Alkoholvergiftung mit der pathologischen Alkoholreaktion, die chronische Alkohol¬
vergiftung mit den Unterabteilungen Delirium tremens, Halluzinose der Trinker,
chronischer Alkoholisnms und Eifersuchtswahn der Trinker, Korsakowsche Psychose
und als Anhang Dipsomanie, die durchaus keine toxische Psychose ist, ferner Morphi¬
nismus, Kokainismus, Bleivergiftung und Kohlenoxydvergiftung.
McLaughlin (41) behauptet, Alkoholismus, Kokainismus und Morphium¬
sucht in kürzester Zeit und ohne Beschwerden nach einer von Lambert angegebenen
Methode unter Anwendung eines Gemisches von Belladonna, Xanthoxyl und Hyos-
zyamus zu heilen.
b) Alkoholismus.
Jörger (32) teilt die Ergebnisse von Assoziationsexperimenten mit, die er
mit Alkoholikern anstellte. Er fand, daß sich die Störungen bei den Assoziationen
der Alkoholiker in 2 Gnippen zerlegen lassen: 1. Eine Verlängerung der Reaktions¬
zeit, eine Neigung zu Wiederholungen von Reizworten und Reaktionsworten, eine
erhöhte Zahl innerer Assoziationen und eine dementsprechend verringerte Zahl
sprachlich-motorischer Assoziationen. Diese Ergebnisse zeigten sowohl in der
einzelnen Assoziationsreihe als in der Serie von Experimenten während der Erholung
unter Abstinenz eine Zunahme oder zum mindesten die Tendenz, ausgesprochener
zu werden. Sie lassen sich mit einer Auffassungsstörung am besten erklären. 2.
Eine Vermehrung sinnloser Reaktionen und Perseverationen, verminderte Repro¬
duktionsfähigkeit, Neigung zu Reaktion in Satzform, Vermehrung von Klang¬
assoziationen. Diese Zeichen nehmen im Gegensatz zu den unter 1 aufgezählten ab.
Otto (52) berichtet über die Fälle von chronischem Alkoholismus, die in den
Jahren 1901—1904 in der Psychiatrischen Klinik zu Kiel behandelt wurden. In
diesen 5 Jahren kamen 479 Männer und 24 Frauen zur Aufnahme; das waren von
den überhaupt aufgenommenen Kranken 26,7% alkoholkranke Männer und 2,3%
alkoholkranke Frauen. In 150 Krankengeschichten fand Otto, daß 125 regelmäßig
gewöhnlichen Branntwein (Kümmel, Korn) genossen, und zwar in Quantitäten bis
zu einem Liter täglich; 12 tranken Kognak, 13 Grog, je 2 Pfefferminz oder Vanille,
6 reinen Rum, einer Kaffeepunsch, bestehend aus % Rum und % Kaffee, 4 hielten
sich an den Magenbittern und 2 tranken Rotwein, der dem einen anfangs von einem
Arzte verordnet worden war. Daneben trank die Mehrzahl regelmäßig Bier, durch¬
schnittlich 5 bis 20 Flaschen am Tage. Ein Patient trank nach Angabe seiner Frau
täglich 40 bis 60 Flaschen, Von den 150 Trinkern standen 7 im dritten Jahrzehnt
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80 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1015.
hres Lebens, 37 im vierten, 52 im fünften, 32 im sechsten; über 60 Jahre alt waren
ilO und über 70 Jahre 2. Die meisten wurden in betrunkenem Zustande aufgenommen,
nicht nur die, welche polizeilich eingeliefert wurden, sondern auch solche, die aus
eigenem Antrieb kamen, nachdem sie sich gehörig Mut getrunken hatten. In 13
Fällen war der Vater ein Potator, in 8 Fällen die Mutter eine Trinkerin, in 3 Fällen
waren beide Eltern dem Trünke ergeben. Minderwertigkeit der Eltern oder Ge¬
schwister konnte 42mal festgestellt werden. Unter den 150 Fällen zeigten 43 die
typische Alkohol-Polyneuritis. Ein Fall von Korsakomchei Psychose wird aus¬
führlich mitgeteilt. Von den 150 Fällen wurden 22 zweimal, 4 dreimal, je einer
4-, 7- und lOmal auf genommen; 3 hatten sich bereits in andern Irrenanstalten auf¬
gehalten. Der einzige sichere Weg zur Trinkerheilung ist nach 1- bis 2jährigem
Aufenthalt in einem Trinkerasyl die vollständige dauernde Abstinenz und der
Beitritt zu einem Abstinenzverein. 1
Hudovernig (29) wendet bei Alkoholpsychosen, um eine rasche Durch¬
waschung der Gewebe und des Nervensystems und damit eine rasche Entfernung
des angehäuften Alkoholgiftes zu erreichen, Pilokarpin an, das bekanntlich die
Speichel- und Schweißdrüsensekretion mächtig anregt. Weil das Pilokarpin ein
Herzgift ist, darf es bei Kranken mit ausgesprochener Herzschwäche und Arterio¬
sklerose nicht angewendet werden. H. gibt bei absoluter Bettruhe ein Digitalis¬
präparat und während 8 bis 10 Tagen täglich eine Injektion von salzsaurem Pilo¬
karpin, dessen Anfangsdosis am ersten Tage 0,006, dann aber 0,01 beträgt. Dabei
bekommen die Kranken in der ersten Woche leichte, zumeist flüssige Diät. Bäder
und Packungen kommen nur ausnahmsweise zur Anwendung. Es trat mächtige
Saüvation und Schweißausbruch auf. Bei einigen, aber nicht bei allen Kranken
hatte der Schweiß Alkoholgeruch. Bei den 15 Kranken, die so behandelt wurden,
erfolgte die psychische Aufhellung überraschend schnell; auch die körperlichen Er¬
scheinungen der Alkoholvergiftung zeigten eine raschere Rückbildung, wenn auch
nicht in dem Maße wie die Delirien und Halluzinationen.
Hoppe-Seyler (28) berichtet über die Erkrankungen der Zirkulationsorgane,
der Leber und der Nieren, nicht die des Nervensystems, die er bei chronischen Al-
koholisten beobachtet hat, und über ihren Einfluß auf die Felddienstfähigkeit.
Der Einfluß, den der Alkoholismus auf die körperliche und geistige Leistungsfähig¬
keit des Menschen ausübt, ist ein sehr schwankender und damit die Beeinträchtigung
der Felddienstfähigkeit bei den einzelnen Individuen außerordentlich verschieden.
Aus den Beobachtungen geht hervor, daß übermäßiger chronischer Alkoholgenuß
die Felddienstfähigkeit in erheblichem Maße schädigen kann; er ist daher möglichst
im Felde zu verbieten. Besonders muß man dafür sorgen, daß, wenn schon durch
mangelhafte Nahrung, durch übermäßige Körperanstrengungen, durch Hitze,
Kälte oder Nässe der Organismus geschädigt ist, die Organveränderungen nicht noch
durch alkoholische Getränke verschlimmert werden. Es ist auch in Betracht zu
ziehen, daß Infektionskrankheiten, wie Typhus, Ruhr, Cholera, septische Er¬
krankungen und Pneumonien bei Alkoholikern schwerer zu verlaufen pflegen
und leichter infolge der bestehenden Darm-, Herz- oder Nierenstörungen mit
dem Tode enden. Es wird allerdings nicht möglich sein, den Alkohol ganz bei
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Sn eil, Intoxikations-Psychosen.
81 *
den Trappen auszuschalten, und das ist auch nicht nötig, aber man muß den Ver¬
brauch einzuschränken, namentlich den regelmäßigen stärkeren Genuß zu bekämp¬
fen suchen.
v. Bunge (8) lenkt die Aufmerksamkeit auf die zunehmende Unfähigkeit
der Mütter, ihre Kinder zu stillen. In den Städten Deutschlands und der Schweiz
ist bereits mehr als die Hälfte aller Frauen unfähig zum Stillen. Die Nachforschun¬
gen in mehr als 1600 Familien führten zu folgendem Ergebnis: War der Vater
ein Trinker, so verliert die Tochter die Fähigkeit, ihr Kind zu stillen. Die Unfähig¬
keit zum Stillen ist keine isolierte Erscheinung. Sie paart sich mit andern Symp¬
tomen der Degeneration, insbesondere mit einer Widerstandslosigkeit gegen Er¬
krankungen aller Art, an Nervenleiden, an Tuberkulose, an Zahnkaries. Die chroni¬
sche Alkoholvergiftung ist nicht die einzige Ursache aller dieser Leiden und Ge¬
brechen, aber sie ist diejenige Ursache, die sich gleich beseitigen läßt.
I von der Porten (60) behandelt Delirium tremens mit Veronal und hält Morphin
und Hyoszin für ungeeignet.
Sluchlik (83) diskutiert die Forekche Ansicht über die blastophthorische
Wirkung des Alkohols und kommt zum Schluß, daß die akute Blastophthorie, wie
sie Forel annimmt, sehr fraglicher Natur ist, weil sowohl theoretische als auch
faktische, aus der Literatur gesammelte Beispiele nur für die chronische Vergiftung
sprechen; eine akute Wirkung ist nur auf dem chronischen Grunde möglich. In
diesem Sinne muß man die Gültigkeit der oben erwähnten Theorie reduzieren.
Jar. StuchWe.
Fehsenfeid (14) bespricht die alkoholfreien Ersatzgetränke vom Stand¬
punkte der öffentlichen Gesundheitspflege. Er hält den Alkohol für einen Nahrungs¬
stoff, der aber als Nahrungsmittel im weiteren Sinne nicht in Betracht kommen
kann wegen seiner toxischen Eigenschaften. Dagegen ist der Alkohol als hervor¬
ragendes Genußmittel zu bezeichnen. Da aber jeder übertriebene und gewohnheits¬
mäßige Genuß alkoholischer Genußmittel schädliche Folgen hat, ist die öffentliche
Bekämpfung des Mißbrauchs alkoholischer Getränke zu begrüßen. Die Industrie
hat es sich zur Aufgabe gemacht, als Ersatz an Stelle der zu vermeidenden alkoholi¬
schen Getränke solche zu schaffen, die aus denselben Rohstoffen hergestellt werden
aber keinen Alkohol enthalten. An diese Ersatzgetränke muß man folgende An¬
forderungen stellen: Sind sie unschädlich ? Haben sie Nährwert? Sind sie Genu߬
mittel ? Das heißt, lassen sie sich längere Zeit ohne Widerwillen trinken ? Sind sie
ein gleichwertiges Genußmittel gegenüber den alkoholischen Getränken? Sind sie
nicht zu teuer im Preise? Die alkoholfreien Fruchtsäfte sind wegen ihres großen
Gehaltes an Stoffbildnern, an Zucker- und Mineralstoffen ein wirkliches Nahrungs¬
mittel. Die Konservierung alkoholfreier Ersatzgetränke durch Zusetzen chemischer
Konservierungsmittel ist jedoch abzulehnen. Die Eigenschaft als Genußmittel
wird den alkoholfreien Fruchtsäften zugesprochen, jedoch nicht in demselben Grade
wie den alkoholischen Getränken; dabei wird der sehr anfechtbare Grund angeführt,
daß man von den alkoholfreien Getränken wegen ihres hohen Zuckergehaltes nicht
so viel trinken möge wie von den alkoholhaltigen. Ihr Preis ist für ein allgemeines
Volksgenußmittel zu hoch. F. kommt zu dem Schlüsse, daß die alkoholfreien Ersatz-
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82 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
getränke hygienisch wertvoll und im Kampfe gegen den Mißbrauch alkoholischer
Getränke von unzweifelhaftem Nutzen sind.
Rupprecht (70) berichtet über Alkohol und Verbrechen in Bayern. Die
bayerische Justizverwaltung läßt seit dem Jahre 1910 Ermittlungen anstellen über
Art und Umfang des Einflusses des Alkoholgenusses auf die Verübung strafbarer
Handlungen. Diese Ermittlungen erstrecken sich auf Verurteilungen wegen Ver¬
brechen und Vergehen gegen die Reichsgesetze in den Fällen, in denen nach den Fest¬
stellungen des Urteils die strafbare Handlung im Zustande der Trunkenheit be¬
gangen wurde oder offensichtlich auf gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuß des Täters
zurückzuführen ist. Im Jahre 1910 wurden in Bayern insgesamt 67 176 Personen
verurteilt, von denen 8864 oder 13,19% im Zustande der Trunkenheit die Straftat
begangen hatten. Die Zahl der Verurteilten ist bis 1913 ziemlich gleich geblieben,
der Prozentsatz der Trinker ist etwas gesunken, auf 11,58%, An den wegen Trunken¬
heitsdelikte Verurteilten sind die Bauern, selbständigen Gewerbetreibenden und
Kaufleute mit verhältnismäßig geringen Zahlen beteiligt, dagegen zeigen die land¬
wirtschaftlichen Dienstboten, die unselbständigen Gewerbegehilfen und insbesondere
die Arbeiter eine ganz erhebliche Alkoholkriminalität. Mehr als die Hälfte der „Ar¬
beiter“ gehören zu den ungelernten Arbeitern, Tagelöhnern und Gelegenheitsarbei¬
tern. Je unsicherer und unbeständiger die Grundlage des Erwerbs und der Arbeit
ist, je weniger eigene Verantwortung der Beruf mit sich bringt, um so stärker ist
die Neigung, den verdienten Lohn in Alkohol umzusetzen. Die in Industrie und
Gewerbe tätigen Personen liefern etwa doppelt so viele Alkoholdelikte als die gleiche
Zahl von Personen, die in Land- und Forstwirtschaft beschäftigt sind. Dagegen
ereignen sich unter der Bevölkerung der großen Städte ganz erheblich weniger Al¬
koholexzesse als in Kleinstädten und auf dem Lande. Unter den in der Trunkenheit
verübten strafbaren Handlungen stehen die Roheitshandlungen, besonders vor¬
sätzliche Körperverletzung, obenan. Für jedes Jahr ergibt sich eine Gesamtsumme
von mehr als tausend Jahren Gefängnis, die für im Rauschzustand verübte Straf¬
taten verhängt wurden. Diese Zahlen weisen mit Eindringlichkeit auf die Not¬
wendigkeit einer energischen Trinkerfürsorge und Bekämpfung der Trunksucht hin.
c) Korsakowsche Psychose.
Pick (67) beobachtete einen Fall von wahrscheinlich tuberkulöser Menin¬
gitis, der nach dem Abklingen der mcningitischen Erscheinungen das Zustandsbild
der Korsakomchen Psychose bot. In den mit ihm angestellten Gesprächen zeigte
er das Nebeneinanderstehen ganz unvercinbarlicher und dadurch ganz unsinnig
erscheinender Gedankenkomplexe und das Fehlen jedes Bedürfnisses einer Kor¬
rektur derselben. Korrigierende Gedanken tauchen in diesem Zustande nicht nur
nicht auf, sondern sie haben, wenn sie direkt dem Kranken entgegengehalten werden,
nicht die erwartete Wirkung. Zur Erklärung dieser Erscheinung kann es vielleicht
dienen, daß hier der unsinnige Gedanke den Charakter des Selbstcrworbenen, des
Eigenbesitzes hat, dem gegenüber die Belehrung seitens anderer unwirksam bleibt.
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Sn eil, Intoxikations-I’sychosen.
83
*
d) Andere Gifte.
Schdbtlite (72) stellte an sich selbst Experimente über firomismus an. Fast
2 Monate lang hielt er eine Diät ein, die aus täglich 2 1 Milch, 4 Eiern, Zwieback,
Hafermehl und Obst bestand. Nachdem diese sehr kochsalzarme Diät 14 Tage
lang eingehalten war, wurden 22 Tage lang je 5 g Bromnatrium genommen, dann
2 Tage je 10 g. Das Auffallendste unter den beobachteten Ergebnissen war das
Auftreten einer submanischen Stimmung. Nachdem zu Beginn der Bromisierung
Euphorie mit schlechter Laune abgewechselt hatte, blieb vom 7. Bromtage ab die
Stimmung dauernd euphorisch- mit Rededrang und motorischer Unruhe. Dann
wurden alte Erinnerungen aus der Jugendzeit neu belebt, während frische Eindrücke
nur wenig haften blieben. Mit Aussetzen der Bromzufuhr und Zusatz von Kochsalz
wechselte die Stimmung wie mit einem Schlage: der Euphorie folgte eine Depression.
Von den bekannten Erscheinungen des Bromismus — Verlangsamung des Denkens
und der willkürlichen Bewegungen, wachsende Unbesinnlichkeit, Interesselosigkeit,
Ataxie usw. — ließen sich durch das psychologische Laboratoriumsexperiment nur
folgende feststellen: I. Die Gedächtnisstörung für im Bromismus gemerkte Bilder,
Farben und Buchstaben (Ausbleiben eines Übungszuwachses); dabei ergab sich als
Nebenbefund das Erhaltensein des Gedächtnisses für vor der Bromisierung gemerkte
Bilder, Farben und Buchstaben. II. Die Verlangsamung der psychischen Arbeits¬
leistung (Verlängerung der Reaktionszeiten im Assoziationsexperiment, lang¬
sameres Zusammenzählen von Zahlen in den Kraepelinschen Heften). Sehr schön
zeigten diese Experimente, daß Kochsalzgaben diese Erscheinungen restlos zum
Verschwinden bringen. Die Wirkung des Broms auf das Gefäßsystem scheint
darin zu bestehen, den Tonus der Vasomotoren herabzusetzen, im Gegensatz zum
Kochsalz, das die Ansprechbarkeit der Gefäßinmrvation schon auf geringe psychi¬
sche und mechanische Reize erhöht
Vthoff (87) beschreibt Sehstörungen durch Methylalkoholvergiftung. Un¬
gefähr 200 Mann tranken versehentlich Methylalkohol statt Schnaps aus einem
Gefäß von etwa 40 1, das sie auf einem Bahnhof gefunden hatten. Etwa 60 Mann
erkrankten unter Vergiftungserscheinungen und 12 von ihnen starben. Neben
Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen, Magenbeschwerden, Muskelschmerzen, Somno¬
lenz und auch Schlaflosigkeit traten Sehstörungen auf, die in den meisten Fällen
vorübergehend waren und in Flimmern und Verschwommensehen bestanden. In
einigen Fällen dagegen kam es zu schweren Störungen, bis zu elftägiger vollständiger
Amaurose. Unter allen Giften wirkt keines so elektiv auf den Sehnerven und die
Retina schädigend wie der Methylalkohol.
Kläsi und Roth (36) haben einen Fall von Safrolvergiftung beobachtet.
Ein 36jähriger Mann trank aus Versehen mehrere Schluck einer Flüssigkeit, die als
Maccassaröl bezeichnet wurde. Schon nach 10 Minuten traten Gefühle von Unbe¬
hagen, Unruhe, Schwindel, dann Störungen der Orientiertheit und halluzinatorische
Erscheinungen auf. Wenig später verfiel er in eine schwere Benommenheit, in der er
nach langem Angerufenwerden kaum noch seinen-Namen richtig*"angeben'konnte
und motorisch so aufgeregt wurde, daß er gefesselt werden mußte. Bei der Auf-
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84 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
nähme in das Kantonsspital zu Zürich fielen starker anisähnlicher Geruch der Ex¬
spirationsluft, leichter Nystagmus horizontalis und Steigerung der Patellarreflexe
auf. Dann trat Erbrechen und Diarrhöe auf, nach einigen Tagen tonische Krämpfe
und zeitweises Verschwinden der Patellarreflexe. Auf psychischem Gebiete bestanden
Desorientiertheit, Amnesie, Illusionen und Halluzinationen des Gesichtes, Gehörs,
Geruchs und der Körperempfindungen. Mit dem Verschwinden des anisähnlichen
Geruches der Exspirationsluft ging der halluzinatorische Zustand in eine Depression,
einige Tage später in dauernde Heilung über.
e) Pellagra.
Nach Singer (78) treten geistige Störungen bei 40% aller Fälle von Pellagia
auf, und zwar am häufigsten bei Männern im Alter von 21—40 und bei Frauen
im Alter von 41—60 Jahren, nicht bei Kindern. 95% der Geisteskrankheiten sind
unmittelbare Folgen der pellagrösen Vergiftung; in diesen Fällen wird die geistige
Störung geheilt, falls die Kranken am Leben bleiben. Die übrigen 5% beruhen auf
einem zufälligen Zusammentreffen von Pellagra und Geistesstörung. Chronische
Geisteskrankheiten und Nervenkrankheiten sind selten die Folge von Pellagra.
6. Organische Psychosen.
Ref.: E. Schütte -Lüneburg.
Durch die Krankheit und den Tod des bisherigen Referenten Pförringer
ist leider nicht nnr das bereits fertiggestellte Manuskript, sondern auch das
Material, das ihm ins Feld nachgeschickt war, verloren gegangen. Das Referat
konnte nur in beschränkten Umfang nachgeholt werden.
1. Alexander, Alfred, Zur Symptomatologie und Pathologie der Klein¬
hirnzysten. Inaug.-Diss. 1914, Kiel.
2. Älin, E., Fall von Gehirntumor, Eklampsie vortäuschend. Nord.
med. Arkiv (Kirurgie) 1914, I, n. 1915, fase. 3.
3. Alter, W. (Lindenhaus), Zur mikroskopischen Untersuchung der
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1. Progressive Paralyse und syphilitische Erkrankungen
des Zentralnervensystems.
Gennerieh (54) kommt bei seiner Besprechung der Ursachen zu dem Resultat,
daß der funktionelle Zustand der Pia entscheidend ist dafür, ob es zu gummösen
Prozessen oder zu Metalues kommt. Ist sie funktionell erschöpft, so diffundieren
die Reaktionserscheinungen des Nervengewebes in den Liquor, wir erhalten dann
das charakteristische Nebeneinander von entzündlichen Veränderungen und pri
märer Nekrose entsprechend dem Zustande der deckenden Hülle. Im andern Falle
schützt die Pia das Nervengewebe vor der Diffusion mit dem Liquor, es etablieren
sich die lokalen Abwehrvorgänge entsprechend dem Eintritt der Umstimmung
des Gewebes im Sinne einer gummösen Zerebrospinallues.
Wie Obersteiner (136) hervorhebt, sind bei einer großen Anzahl von Erkrankun¬
gen des Nervensystems gewisse angeborene Abweichungen von der Norm vorhanden,
es wird durch eine solche Keimschädigung bzw. Entwicklungsstörung die Anlage für
die Erkrankung geschaffen. Auf solche Anomalien ist z. B. die echte Syringomyelie
zurückzuiühren, ferner die Tabes und die juvenile Paralyse, und es ist nicht daran
zu zweifeln, daß diese spezifische Anlage auch bei der progressiven Paralyse der
Erwachsenen nachgewiesen werden wird. Auch bei Hirntumoren haben sich ver¬
schiedenartige, von diesen anscheinend ganz unabhängige Eigentümlichkeiten auf¬
finden lassen, die als Entwicklungsstörungen anzusehen sind. Solchen Abweichungen
verdanken z. B. die Brückenwinkeltumoren und auch manche Zirbeldrüsenge¬
schwülste ihre Entstehung.
Ranke (150) bringt eine Übersicht über Histologie und Histopathologie der
Blutgefäßwand, speziell des Zentralnervensystems. Erwähnt soll hier nur werden,
daß ein plasmatisches Bindegewebsnetz, das auf weite Strecken hin kernlos sein
kann, die morphologische Grundlage auch der fertigen Blutgef&ßwand büdet. Auch
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102*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
die pathologischen Reaktionen der Blutgefäßwand gehen im wesentlichen innerhalb
dieses plasmatischen Bindegewebsnetzes vonstatten. Nur in der kernhaltigen Ad-
ventitia kommt cs primär neben der Neubildung kernhaltiger Bindegewebsnetzc
zur Lösung freier Zellen. Die pathologischen Reaktionen des medialen und inti-
malen Bindegewebsnetzes äußern sich hauptsächlich in Imprägnationsänderungen.
Bei den meisten endarteriitischen Prozessen finden sich Delamination der Mem¬
brana elastica int. mit Muskularisation der Intima und Bildung fibroplastischer
Netze in der Intima nebeneinander, doch überwiegt die erstere bei Arteriosklerose,
die letztere bei der luetischen Endarteriitis Heubncr s.
i AnUmi (5) hat in einem Falle von Tabes-Paralyse die von Nageoite beschriebe¬
nen regenerativ-tabischen Veränderungen in den Spinalganglien aller Regionen und
im Ganglion Gassen gefunden. Es handelt sich um neugebildete Fasern, die sich im
Innern des Ganglions um die alten, atrophierenden, markhaltigen Stammfasem
herumschlingen. Die neugebildeten Fasern sammeln sich am zentralen Pol des
Ganglions an, um sich in die Wurzelnerven fortzusetzen. Auch um die regressiv
veränderten Ganglienzellen häufen sich regenerative Vorgänge der angrenzenden
Fasern und Zellen. Die nämlichen Veränderungen fand Verf. noch in vier weiteren
Fällen von Paralyse ohne klinische Tabes. In 5 Beobachtungen von Paralyse fanden
sich wieder im Optikus Verzweigungen und Sprossungen sowie starke, kugelige
Auftreibungen der Nervenfasern. Vielleicht steht dieser Befund in Beziehung zur
Lichtstarre. Auf Grund dieser Beobachtungen stellt Verf. den Begriff „Prae-
tabes“ auf.
Schaffer (176) konnte in 5 Fällen von Paralyse, 2 Fällen von Arteriosklerose
und 1 Fall von Tabes feststellen, daß ein homolateraler, zerebraler Pyramidenbahn-
abschnitt vorhanden ist. Es hat also die Pyramidenbahn 3 Abschnitte: 1. einen
spinalen, 2. einen bulbären, bestimmt für die motorischen Himnervenkeme und
3. einen zerebellaren, welcher aus: a) einer bulbo-zerebellaren und b) einer ponto-
zerebellaren Abteilung bestehen dürfte. Erstere leitet über den Streckkörper zur
gleichzeitigen Kleinhirnhälfte, namentlich zum Wurm, sie ist durch die vorliegende
Arbeit Schaffers nachgewiesen; letztere ist experimentell-anatomisch bewiesen.
Es bedeutet die bulbo-zerebellare Pyramidenbahn einen homolateralen, direkten
Zug zum Wurm, die ponto-zerebellare einen überwiegend homolateralen, direkten
Zug zur Kleinhirnhemisphäre. Die motorische Großhirnrinde ist daher sowohl mit
der Hemisphäre wie mit dem Wurm des Kleinhirns in unmittelbarer Verbindung.
Am Zentralorgan der Paralytiker sind diese Bündel oft am stärksten ausgebildet
und verlagert. Es ist dies der Ausdruck einer endogenen Disposition.
Schamke (177) hat einen Fall von juveniler Paralyse genau untersucht. Das
Gehirn erschien im ganzen stark atrophisch, besonders das Großhirn in der Ok¬
zipitalgegend. Die Ganglienzellen erschienen vielfach regellos gelagert, unregel¬
mäßig verteilt und sehr verschieden groß. Alle Pyramidenzellen wiesen überaus
hochgradige Protoplasmaveränderungen auf. Auffallend war das Fehlen von Stäb¬
chenzellen, während Plasmazellen in großer Menge vorhanden waren. Die soge¬
nannten Abbauprodukte fanden sich in großen Massen. Zahlreiche Purkinje sehe,
Zellen hatten doppelte Kerne, außerdem war ihre Lagerung sehr stark gestört,
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Schütte, Organische Psychosen.
103*
während das Kleinhirn makroskopisch kaum Veränderungen aulwies. Im Rücken,
mark fand man überall Ganglienzellen, die aus der grauen Substanz in die Vorder-
. Seiten- und Hinterstränge versprengt waren. Zweifellos handelt es sich um ein
schon im Keime geschädigtes Gehirn, das später paralytisch wurde.
Die Weil-Kafkasche Hämolysinreaktion ist von Brückner (24) nachgeprüft
worden. Er fand unter 61 Fällen von klinisch sicherer Paralyse 49 positiv, 8 fraglich
und 4 negativ. Zwei der negativen Fälle hatten auch im Blute keine Ambozeptoren.
Verf. kommt zu dem Resultat, daß die absolute Zahl der Versager bei der Wasser-
mannschen Reaktion geringer ist als bei der Hämolysinreaktion, jedoch verfügt er
über 2 Fälle, die bei negativer W assemannscher Reaktion vorübergehend eine
positive Hämolysinreaktion zeigten.
^ Weber (216) veröffentlicht ein Gutachten über den Zusammenhang von Para¬
lyse und Unfall bei einem Arbeiter, der sich eine Infektion an einem Finger zuge¬
zogen hatte. Er kommt zu dem Resultat, daß der Einfluß des Unfalls auf eine
etwaige Verschlimmerung der Paralyse höchstens mit 10% zu bewerten ist.
Unter den Prodromal- und Initialsymptomen der progressiven Paralyse zählt
Haymann (70) auf, daß sich gelegentlich eine Verfeinerung des ganzen Wesens der
Kranken findet, eine auffallende Besserung der früher vorhandenen schlechten
Eigenschaften. Auffällig ist ferner das Verlieren kleinerer Gegenstände im Anfangs*
Stadium der Paralyse; weiter kommt oft das Gefühl vor, daß der Kranke die ganze
Gegenwart schon einmal durchlebt habe. Ungewöhnlich zahlreiche und wirre
Träume sind nicht selten; bemerkenswert ist ferner, daß die Schreib- und Sprach¬
störungen dem Paralytiker selbst als krankhaft Vorkommen. Von den rein körper¬
lichen Störungen sind Intoleranz gegen Tabak und Alkohol, Magenstörungen
Hautjucken, übergroße Empfindlichkeit für Kitzel, Brüchigkeit der Zähne und
große Abneigung gegen helles Licht noch wenig bekannt, aber mehrfach beobachtet.
Erueger (99) macht auf die lokalisierten Muskelatrophien bei Tabikern auf¬
merksam und bringt zwei Beobachtungen. In der ersten begann die Atrophie in
den kleinen Handmuskeln, ergriff dann die Extensoren der Finger und der Hand, die
Flexoren der Hand und des Vorderarmes, die Schultermuskeln, die Streckmuskeln
des Vorderarmes, die Flexoren der Finger, die der Schulter benachbarten Hals-,
Nacken-, Rücken- und Brustmuskeln und zuletzt auch die Bauchmuskeln. Becken-
und Beinmuskulatur wurden nicht ergriffen. Im zweiten Falle bildete sich links
eine typische Erbache Lähmung aus, rechts eine auf die Extensoren erweiterte
Klumpke sehe Lähmung. Verf. nimmt als wahrscheinlichste Ursache der Amyo-
trophien in diesen beiden Fällen eine primäre Erkrankung der vorderen Rücken¬
markswurzeln an, also des Abschnittes der Nervenbahn, wo die aus den gleichen
Segmenten stammenden, zu denselben Körpergebieten ziehenden motorischen und
sensiblen Bahnen dicht nebeneinander verlaufen. Vorderhomzellenerkrankung und
Degeneration der peripherischen Nerven folgen dann sekundär. ,
Neuberi (130) beobachtete bei progressiver Paralyse eine Ptosis des rechten
Lides, absolut lichtstarre Pupillen mit ausgesprochener Differenz in der Größe
und mit Unbeweglichkeit des Bulbus. Verf. nimmt eine Zerstörung des rechten
Okulomotoriuskemes an, möglicherweise war auch der rechte Abduzenskem teil-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
weise zerstört. Auffallend war, daß trotz der Ptosis eine regelmäßige Hebung
des rechten Lides beim Blick nach links erfolgte.
Ausgedehnte Untersuchungen über die Oxyproteinsäure-Ausscheidung bei Para¬
lyse und andern Geisteskrankheiten hat Neumann (131) angestellt. Er fand, daß
die Ausscheidung bei körperlich gesunden funktionellen Psychosen höchstens 2,66%
des Gesamtstickstoffes betrug. Bei Dementia praecox ergaben sich normale Werte,
bei Paralyse, Lues cerebri, multipler Sklerose und Epilepsie waren sie vermehrt.
Die Durchschnittszahl betrug bei Paralyse 3,71%, höchstens 4,97%. Die Ver¬
mehrung der Oxyproteinsäuren läßt sich widerspruchslos in den Rahmen der Allers-
schen Hypothese von der Natur des paralytischen Stoffwechsels einfügen. Die
Vermehrung der Oxyproteinsäuren ist weder von der Lues noch von der organischen
Himkrankheit als solcher abhängig; sie fehlt bei Atherosklerose und seniler Demenz.
Kafka (84) verfügt über 139 zum Teil mehrfach mit Noguchis Spirochäten-
luetin geimpfte Fälle. Am häufigsten zeigte die Lues cerebri positive Reaktion,
dann folgte die Tabes, hierauf die Lues congenita, die Lues latens und zuletzt die
Paralyse. Letztere reagiert außerdem schwächer, es gelingt bei ihr auch nicht,
durch die Behandlung die Luetinreaktion hervorzubringen oder stärker zu machen,
während bei Lues cerebri und Tabes die Hautreaktion dem Stadium der Krankheit
und der Reaktion der Meningen sowie den serologischen Reaktionen im großen und
ganzen parallel verläuft. Die Luetinreaktion ist im Primär- und frischen Sekundär¬
stadium last nie vorhanden, wird im späten Sekundärstadium häufiger, im Tertiär¬
stadium fast immer positiv und verschwindet bei Lues cerebri erst, wenn der Prozeß
nach jeder Richtung hin stationär geworden ist. Wir können bei der Lues cerebri
noch durch die Behandlung die Schutz- und Abwehrstoffe des Körpers heben; bei
der Paralyse war dies bisher nicht möglich. Die Paralyse ist eine Form der Spät¬
lues, bei der die Abwehrmaßnahmen des Körpers sehr herabgesetzt oder ganz auf
gehoben sind.
Kafka (86) bespricht die einzelnen Liquorreaktionen. Er macht darauf auf¬
merksam, daß man nicht eine Reaktion für die andere einsetzen und Schlüsse
daraus ziehen darf. Man soll vielmehr möglichst viele Reaktionen vornehmen. Mit
7*4 ccm Liquor wird man auskommen.
Kaplan (90) hat Liquoruntersuchungen bei Paralytikern ausgeführt, indem
er eine Reihe von Liquorproben in immer weniger konzentrierter Lösung mit
Kolloidal-Goldlösung versetzte. Die stärkeren Liquorlösungen bewirken eine voll¬
ständige Ausfällung des kolloidalen Goldes, die schwächeren geringer, bis in den
schwächsten keine Farbenänderung auftritt. Es entsteht so eine treppenartige
Kurve, die für progressive Paralyse charakteristisch ist.
Negative Wassermannsche Reaktion sowohl im Blute wie im Liquor wurde
von Förster (48) bei einer klinisch und anatomisch sicher nachgewiesenen Paralyse
festgestellt. Auch Spirochäten konnten bei der Untersuchung des Hirns im Dunkel¬
felde nicht gefunden werden. Eine Erklärung fehlt vollständig, die Spirochäten
könnten ja trotzdem vorhanden gewesen sein.
Bikeles (14) beschreibt einen Fall von akutem Ausbruch einer Tabes dor-
salis. Die Hautreflexe waren frühzeitig sehr abgeschwächt. Besonders hervor-
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tretend waren plötzlich entstandene und rasch wieder verschwundene hochgradige
Koordinationsstörungen am Rumpfe beim Gehen ausschließlich nach der Seite,
and zwar alternativ nach rechts und links, je nach dem jeweiligen Stützbein.
Über ambulatorische Tuberkulinbehandlung bei Tabes und Paralyse be¬
richtet Schacherl (175). 76 Kuren wurden in Verbindung mit Quecksilber vorge¬
nommen. Verwendet wurde Alt-Tuberkulin-ZocÄ, beginnend mit Dosen von
0,0005. Bei 38 Paralytikern konnten 13 Kuren zu Ende geführt werden, in 7 Fällen
trat eine zum Teil weitgehende Besserung ein. Bei 6 unter 8 durchgeführten Kuren
bei tabischer Ataxie wurde eine erhebliche Besserung erzielt. Auch gastrische
Krisen und lanzinierende Schmerzen wurden günstig beeinflußt. Diese Resultate
fordern jedenfalls dazu auf, die Versuche fortzusetzen.
Die kombinierte Tubcrkulin-Quecksilberbehandlung bei progressiver Paralyse
haben IIeinicke und Künsel (71) in 8 Fällen angewendet. Sie erzielten einmal eine
Remission, die sehr erheblich war; 4 Fälle zeigten eine Besserung, die allerdings
zum Teil bald wieder schwand; 8 Fälle verschlechterten sich während der Be¬
handlung. Die Yerf. empfehlen auf Grund dieser Resultate einen Versuch mit
der genannten Behandlung.
Nonne (134) spricht sich dahin aus, daß man bei den organischen syphilogenen
Nervenkrankheiten kombiniert behandeln soll. Man soll mit Quecksilber beginnen,
dann mit Salvarsan folgen und nun beide Mittel abwechselnd geben. Eine Gesamt¬
dosis von 3,0 bis höchstens 4,0 Salvarsan soll nicht überschritten werden. Nonn«
betont, daß es bei der echten Tabes und der echten Paralyse auch bei intensiver
Behandlung nicht gelingt, die Wassermannreaktion im Blut und die 3 Reaktionen
im Liquor zum Verschwinden zu bringen; wenn auch einmal eine oder zwei dieser
Reaktionen verschwinden, so ist dies doch kein Dauererfolg. Verf. behandelt jede
Tabes, die noch nicht antisyphilitisch behandelt ist, zunächst mit Quecksilber,
dann mit Salvarsan. Ob die Kur wiederholt wird, soll von dem Einfluß auf das
subjektive Befinden und die einzelnen Symptome abhängen, aber nicht von dem
Ausfall der Reaktionen im Blut und Liquor. Bei Paralyse muß man mit der Kur
vorsichtiger beginnen, sonst gilt dasselbe. Von der intralumbalen Methode der
Salvarsanbehandlung hat Nonne keinen besonderen Nutzen gesehen gegenüber den
früheren Erfolgen, aber auch keine Schäden.
Wechselmann (217) hat auf Ehrlich s Veranlassung ein neues Präparat, das
Salvarsannatrium, versucht. Er hat sehr gute Ergebnisse erzielt, in Mengen von
i*,3—0,45 erwies das Salvarsannatrium sich als durchaus harmlos, nur viermal
wurden anaphylaktische Zustände in ganz leichter Form beobachtet, obwohl auch
Patienten mit Nephritis, Aortitis luetica, Paralyse, Tabes, mit schweren Blutungen
und Hirnnervenläsionen behandelt wurden. 40—60 Injektionen bei 2—3maliger
Injektion in der Woche erwiesen sich als ausreichend; Rezidive wurden nicht beob¬
achtet. Hochkonzentrierte Lösungen sind nicht empfehlenswert; 0,1:10 0.4proz.
Kochsalzlösung ist am besten.
v. Bremens Dissertation (22) bringt 8 mit Salvarsan intravenös behandelte
Fälle von Paralyse. Veränderungen des Liquordruckes waren nicht festzustellen,
dagegen war in 5 Fällen eine deutliche Abnahme der Zellzahl festzustellen. Auf
Ztitoihrift für PsyehUfcgft- •■XXIII« Lit
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
den weiteren Verlauf der Paralyse hatte diese Veränderung keinen Einfluß'. Eine
Prognose kann aus der guten oder schlechten Beeinflussung des Liquor nicht
gestellt werden.
2. Psychosen des Rückbildungs- und Greisenalters. Herd¬
erkrankungen.
Über die Alzheimeischc Krankheit spricht sich Frey (50) dahin aus, daß sie
trotz der eigentümlichen Sprach- und praktischen Störungen keine selbständige
Krankheit ist, sondern eine atypische Form der senilen Demenz. Sie wird am
häutigsten im präsenilen Alter beobachtet, kommt aber auch später vor.
Verf. bringt zwei Krankengeschichten, die eine mit anatomischem Befund.
Neben schwerer Demenz bestanden motorische und sensorielle transkortikale
Aphasie, einfach motorische und ideatorische apraktische Handlungen und
ferner verbale und motorische Perseveration. Anatomisch findet man hoch¬
gradigen Hirnschwund, Drusenbildung, Ganglienzellen- und Fibrillendegeneration.
Die Drusen sind anscheinend pathologische Stoffwechselprodukte. Das umgebende
Gliagewebe besitzt große, faserbildende Gliazcllen, deren Fasern den Herd einkapseln.
Die Gliazellcn neigen zur fettig-pigmentösen Degeneration. Die Fibrillendegenera¬
tion besteht in einer Verdickung der Fibrillen, welche durch eine Kittsubstanz
verkleben, klumpig werden und zu Schlingenbildungen neigen. Bei der Alzheimer-
schen Krankheit hat die Architektonik der Rinde gelitten.
Ciarla (31) hat eine Anzahl von Gehirnen untersucht, die von Senilen und
Senildementen stammen. Er fand senile Plaques, die an Stelle des zentralen Teiles
einen Gliakem aufwiesen, eine Tatsache, die für die Entstehung der Plaques aus
veränderten Gliazellen spricht. Auch die Lage der Plaques um die Gefäßwand
entspricht derselben, wie sie die Gliakeme besitzen. Möglich ist, daß die Plaques
eine Altersläsion der Gliazellen darstellen; es handelt sich um eine Nekrobiose des
Gliagewebcs, welchem ganz besondere Stütz- und Nährungsfunktionen zukommen.
Cowe (35) hat die senilen Plaques sowie das Gliagewebe nach der Merz-
bacherschen Methode gut gefärbt und kommt zu dem Resultat, daß Gliaelemente
an dem Aufbau der senilen Plaques nicht beteiligt sind. Die Ringe von Gliafasern
in der Umgebung der Plaques können entweder echte Gliawucherungen darstellen
oder sie kommen zustande durch rein mechanisches Auseinanderdrängen bestehender
Gliafasern.
Liepmann und Pappenheim (106) bringen den Befund bei einem 62jährigen
Manne, der eine Apoplexie erlitten hatte und beim Sprechen schwere Paraphasie
und darüber hinausgehende Beeinträchtigung in der Wortfindung zeigte, ferner
beim Nachsprechen eine gleich schwere Paraphasie, ferner Paragraphie. Beim Laut¬
lesen trat eine gut erhaltene Sprechfähigkeit hervor; das Sprachverständnis war
fast intakt. Anatomisch erwies sich die ganze vordere Sprachregion (Opercul.
front, und Rolandi) und die ganze mittlere Sprachregion (Inselrinde und Linsen¬
kernzone) als intakt; die Läsion betraf ausschließlich das temporoparietale Sprach-
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Schütte, Organische Psychosen.
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gebiet. Es handelt sich also um einen Fall von sogenannter Leitungsaphasie, die
sich als eine Spielart der W'emtc&eschen Aphasie als eine Folge von partieller Läsion
der linken temporoparietalen Sprachregion erweist.
Bonhoeffer (19) beschreibt einen Fall von totaler Worttaubheit bei einem
47jährigen Manne. Die Perzeption der Tonskala war erhalten; die Hörfähigkeit
beiderseits vorhanden, rechts weniger als links. Es bestanden agnostische Störungen
auf'optischem, akustischem und taktilem Gebiet sowie eine ideotorisch-apraktische
Störung. Als Ursache dieses Befundes ergab die Sektion symmetrische Herde im
Parietal- und Schläfenhirn. Rechts war ein kleines, in der Tiefe liegendes Stück
der Heschls chen Windung erhalten. Unter Zugrundelegung der Flechsigschen Lehre
von der Endigung der Ilörbahn in der Heschlschen Windung konnte man also sagen,
daß ein ganz kleiner Rest dieser Windung in der rechten Hemisphäre genügt, die
Tonskala beiderseits, und zwar links besser als rechts, zu erhalten. Schließlich
ergaben sich noch Anhaltspunkte dafür, daß innerhalb der Sehstrahlung vor allem
die etwas unter der Mitte verlaufenden und die anstoßenden ventralen Teile des
Fasciculus long. inf. und des Stratum sagittalc int. der Leitung der Sehfunktion
dienen.
Mingazzini (123) beobachtete bei einer 50jährigen Frau apoplektiforme An*
fälle, denen ein parkinsonähnliches Zittern, besonders in den rechten Gliedern,
folgte, ferner Hypertonie in den Armen mehr als in den Beinen, Dysarthrien, par¬
tielle sensorische Aphasie und Geistesschwäche. Die Sektion ergab einen ziemlich
scharf umschriebenen Substanzverlust, der rechts den Nucleus caudatus und partiell
das vordere Segment der inneren Kapsel und des Lentikularis zerstört hatte, während
links zum Teil die Gvri temporales I und II sow’ie das dorsale Drittel der Strata
sagittalia ext. und int. verletzt waren. Die Dysarthrie muß auf Verletzung des
vorderen Fünftels des rechten Linsenkemes gesetzt werden. Der parkinsonähnliche
Syinptomenkomplex (Hypertonie, Zittern und Parese) ist nicht nur auf die Läsion
des vorderen Fünftels des rechten Putamen, sondern auch auf die Zerstörung und
Degeneration der frontozerebellaren Bahnen, die höchstwahrscheinlich durch die
vordere innere Kapsel verlaufen, zurückzuführen.
Die eingehenden Studien Mingazzini?, (124) über Aphasie führten zu folgenden
Schlußsätzen: Die Aphasie Typus Broca entwickelt sich, wenn die erweiterte Broea -
sehe Zone verletzt ist; sie enthält die mnestischen Engramme der motorischen
Silbenbilder und im Gebiete des Operculum rolandicum wahrscheinlich auch verbo-
artikuläre Elemente. Verletzung des linken Linsenkernes verursacht motorische
Aphasie, wenn das vordere Drittel zerstört ist, schwere Dysarthrie bis zur Anarthrie
bei Verletzung der hinteren zwei Drittel. Zerstörung der linken Regio prae- und
supralenticularis verursacht beständige motorische Aphasie. Bei der sensorischen
Assoziationsaphasie findet man hauptsächlich die dem hinteren Aphasiegebiete an¬
gehörende Marksubstanz verletzt, sie erheischt jedoch die Unterbrechung der As
soziationsfasem des linken Schläfenlappens. Vom klinischen Standpunkt aus kann
man das Bestehen einer Zone (mittlerer Teil des G. temporalis inf.), deren Ver¬
letzung eine Amnesia nominum hervorruft, nicht vollständig leugnen.
h*
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3. Tumoren.
Ein primäres metastasierendes Gehirnkarzinom beschreibt van Bowvdijk
Basliaanse (25) bei einer 57jährigen Patientin. Es lag in der linken Kleinhirn-
hemisphäre und hatte zahlreiche Metastasen in der Pia und der Rinde des Gro߬
hirns gemacht. Seine Zellen waren Drüsenepithelzellen und zeigten viel Ähnlich¬
keit mit den primitiven Epcndymzellen des Fötus. Der Tumor war jedoch nicht
von dem die Ventrikel begrenzenden Ependym ausgegangen. Die Metastasen waren
einmal durch die Zerebrospinalflüssigkeit in der Richtung des Stromes verbreitet,
ferner durch die kleinen Lymphbahnen und drittens durch die perivaskulären Räume.
Casiex und Bolo (28) beschreiben ein Sarkom der linken motorischen Region
bei einem 16jährigen Manne, der zwei Jahre vorher ein heftiges Kopftrauma erlitten
hatte. Durch Operation wurde ein Spindelzellensarkom entfernt, das oberflächlich
lag und eine Größe von 7 : : 4 cm hatte. Es trat völlige Heilung ein, alle Läh¬
mungserscheinungen gingen zurück, ebenso das ödem der Sehnervenpapille.
In dem Falle Thier au ths (206) wurde bei der Sektion eines 49jährigen Mannes
ein weiches Gliosarkom im Schwanzkern, Linsenkem und der rechten inneren
Kapsel gefunden, das eine tödliche Blutung in den Seitenventrikel verursacht hatte.
Intra vitara war die Diagnose: „progressive Paralyse“ gestellt, die durch die Un¬
gleichheit und mangelnde Reaktion der Pupillen sowie den ganzen Krankheits¬
verlauf begründet erschien, zumal da die Wassermann sehe Reaktion positiv war.
Die mikroskopische Untersuchung ergab keinerlei für Paralyse charakteristische
Veränderungen.
Oeconomakis (137) hat bei einem 39 Jahre alten Manne ein diffuses Gliom der
linken motorischen Region beobachtet, das operativ entfernt wurde, worauf eine
weitgehende Besserung eintrat. Auffallend war, daß zeitweise die in der Zerebro¬
spinalflüssigkeit nachgewiesene Vermehrung des Eiweißgehaltes und der NaCl-Menge
das einzige diagnostische Zeichen des Tumors bildete. Trotz der großen
Geschwulst fehlte die Stauungspapille dauernd.
Gensichen (55) beschreibt ein kleinzelliges Sarkom im Wurm des Kleinhirns,
das mit einem Ausläufer die Oberfläche des linken Brückenwinkels erreichte.
Weise s Dissertation (219) behandelt ein Gliom des Scheitellappens, das sich
sehr langsam entwickelt hatte.
An der Hand von 7 eigenen Beobachtungen bespricht Fumarola (52) die Klein-
airnbrückenwinkel-Tumoren. Er glaubt, daß Ohrverletzungen vielleicht einen Ein¬
fluß auf die Genese dieser Tumoren haben können. Sie entstehen am häufigsten im
Alter zwischen 30 und 40 Jahren; ihr Sitz ist vorwiegend links. Die Diagnose stützt
sich wesentlich auf die Symptome der Hirnhypertonsion, das gleichzeitige Beste¬
hen einseitiger Lähmungen der Schädelnerven, vor allem des VIII., VII. und V.,und
einer progressiven Entwicklung. Im allgemeinen sind die Geschwülste gut begrenzt;
ihre Struktur ist sehr verschiedenartig, meist sind sie bindegewebiger Natur. Die
operativen Erfolge sind bis jetzt wenig ermutigend.
Ariom (7) beschreibt zwei Fälle von Hirnechinokokkus. In dem ersten saß
eine Zyste im Seitenventrikel, die Diagnose wurde intra vitam nicht gestellt, erst
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Schütte, Organische Psychosen.
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! Sektion ergab den Echinokokkus, der den linken Hinterhauptlappen fast völlig
•stört hatte. Die zweite Beobachtung betrifft einen 15jährigen Knaben, welcher
; Symptome eines Kleinhirnbrückenwinkel -Tumors linkerseits darbot. Eine Opera-
•n führte zum Tode des Kranken, die Sektion zeigte einen Echinokokkus des rechten
irnlappens mit Quetschung des Balkenknies und Ödem der Hirnnerven, besonders
s VIII. und VII.
3 Himabszesse waren in dem von Schluttig (182) behandelten Falle vorhanden,
ie Ursache war vielleicht ein Gesichtserysipel. Der Pat. starb kurz nach der
oeration.
Borchardl (21) berichtet über Selbstverletzung bei einem psychopathischen
‘generierten Manne, der sich selbst ohne Instrument einen 4 cm langen Nagel
den Schädel getrieben hatte. Der hierdurch entstandene Hirnabszeß wurde erst
nit diagnostiziert, da der Kranke noch zahlreiche hysterische Symptome bot.
•er Abszeß wurde operativ geöffnet, es zeigte sich, daß der Nagel durch die Dura
is in das Gehirn gegangen war.
4. Verletzungen des Gehirm.
Mendel (120) sah an den von ihm beobachteten Hirn- und Rückenmarks-
„•hüssen die bisherigen Ergebnisse betreffs der Lokalisation der Funktionen be¬
tätigt. Er erwähnt besonders, daß 3 Fälle von schwerer Stirnhirnverletzung eine
uffällige Witzelsucht mit Euphorie darboten, eine Erscheinung, die bei andern
lirnverwundungen nicht beobachtet wurde.
2 Tangentialschüsse und ein Steckschuß des Gehirns, die operiert wurden,
;aben Marburg (113) Gelegenheit zu Untersuchungen über kortikale Sensibilitäts¬
türungen. Sprachstörung und Parese bildeten sich mit Ausnahme des einen Falles
usch zurück, es blieb aber eine Sensibilitätsstörung bestehen. In den betroffenen
’artien, der hinteren Zentralwindung und dem benachbarten Gyrus supramargi-
uilis, muß ein Zentrum für kombinierte Empfindungsqualitäten liegen, dessen
Ausfall besonders linksseitig zu einer Tastlähmung des Daumens, Zeigefingers und
littelfingers führt, mit gleichzeit ger Schädigung der protopathischen Sensibilität
ind des Lokalisierungsvermögens.
5 neurologisch bemerkenswerte llirnschüsse sind von J. H. Schtiltz (189)
»eschrieben. Bei dem ersten war höchstwahrscheinlich eine vom Schußkanal ab-
■weigende Basisfraktur in der Gegend des rechten Canalis hypoglossi und leichte
Kompression des Nerven durch Blutung entstanden. Entgegen der Kegel wich die
hinge beim Vorstrecken nach der gesunden r Seite ab. Zwei Fälle boten scharf uni-
chrieben (pseudoperiphere) Sensibilitätsstörungen bei Großhimverletzungen. Ein
vierter Schuß hatte linksseitige totale Ilvporefloxie, links stärkeres Nachröten und
spontanes Außenvorbeizeigen der linken Hand hervorgerufen. Vielleicht sind diese
-Symptome ein Hinweis auf den gleichzeitigen Lobus frontalis. In diesem wie in
lern 5. Falle konnte die sorgfältige neurologische Untersuchung zeigen, daß es sich
licht, wie zuerst angenommen war. um Durchschüsse, sondern um Steckschüsse
uindelte.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Poppelreuter (147) macht darauf aufmerksam, daß bei himverletzten Soldaten
stets, wenn eine Beschädigung des Sprachgebietes vorhanden war, die Bewe¬
gungsfähigkeit vorhanden war, auch dann, wenn eigentliche aphasische Störungen
vermißt wurden. Die Prüfung des Rechnens scheint demnach ein sehr feines Re¬
agens auf Hirnschädigungen darzustellen. Bei 3 Verletzungen der unteren linken
Okzipitalgegend wurde bei Erhaltensein der geläufigen Einmaleinsreihen und guter
Schreibfähigkeit eine Unfähigkeit des Kopfrechnens mit größeren Zahlen und der
schriftlichen Rechenoperationen festgestellt.
Fast bei allen Hirnverletzungen, auch der rechten Hemisphäre, waren Störun¬
gen des Gedächtnisses, besonders der Merkfähigkeit, nachzuweisen. Ferner wurde
allgemein die Erfahrung gemacht, daß lokalisierte Hirnverletzungen nicht nur die
spezifischen Ausfallsymptome machen, sondern überhaupt die ganze Persönlichkeit
wesentlich ändern können.
Auf das Vorkommen des zerebellaren Symptomenkomplexes bei Schädelver¬
letzungen weist Goldstein (62) besonders hin. So konnte er bei einem durch Granat
Splitter verletzten und gleichzeitig verschütteten Manne, an dessen Kopfe eine
Verletzung nicht mehr nachzuweisen war, neben Anzeichen einer funktionellen Er¬
krankung eine Schädigung des rechten Kleinhirns feststellen. Das Röntgenbild wies
denn auch eine deutliche Fissur am Knochen auf, als deren Folge wohl eine Blutung
entstanden war. Für die Diagnose einer Kleinhimschädigung kommen in Betracht
subjektive Störungen wie Kopfschmerzen, Störungen beim Bücken und Lage¬
wechsel des Körpers, Unsicherheit beim Gehen, das Gefühl einer gewissen Verlang¬
samung der Bewegungen, die Neigung, nach einer Seite zu fallen, Schwindel. Ob¬
jektiv ist zu achten auf den typischen zerebellaren breitbeinigen Gang, abnorme
Kopf- und Rumpfhaltung, allgemeines Schwanken beim Stehen, Nystagmus, ein¬
seitige Ataxie, das Vorbeizeigen im Bardnyschen Zeigeversuch, Adiadocholdnesis,
d. h. Verlangsamung der Aufeinanderfolge antagonistischer Bewegungen, Störung
in der Schätzung von Gewichten und Fehlen des Rückschlages bei der Widerstands¬
prüfung.
Karplus (91) beschreibt einen 25jährigen Mann, der nach einer Schrapnell-
cxplosion in unmittelbarer Nähe mehrfach, auch am Schädel, verletzt war. Es
traten in der Folge Anfälle von Bewußtlosigkeit mit allgemeinen Konvulsionen auf.
Dann entwickelte sich eine dysarthrische Sprachstörung und Dysbasie, ferner eine
linksseitige Beinlähmung, Erhöhung der Sehnenreflexe, Kontrakturen und leichte
Parese der Gesichts- und Zungenmuskulatur. Neben einer Läsion der rechten Gro߬
hirnhemisphäre liegen wohl Koordinationsstörungen vor, die von einer Verletzung
des Himstammes herrühren dürften. Möglicherweise ist diese durch die heftige
Erschütterung zustande gekommen, doch hat vielleicht auch eine frühere luetische
Infektion eine Prädisposition geschaffen.
Marburg und Rami (114) machen darauf aufmerksam, daß sich bei einer
ganzen Reihe von Schädelschüssen die Symptome anfangs zurückbilden, daß aber
früher oder später plötzlich zerebrale Erscheinungen auftreten, deren Ursache ein
abgekapselter Abszeß ist. Ist also ein Schädelschuß mit Hirnverletzung noch so
erfolgereich operiert, so muß man doch einen Spätabszeß annehmen, wenn meningeale
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Schütte, Organische Psychosen.
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ymptome eintreten und die Lokalsyniptome eine leichte Verstärkung erfahren,
an frühzeitiger Eingriff kann den Durchbruch nach den Ventrikeln verhindern.
Rittershaus (162) wünscht, daß bei der Kriegsfürsorge die von Schädigungen
es Zentralnervensystems Betroffenen mehr berücksichtigt werden. Unberechtigten
Ansprüchen muß vorgebeugt werden, es muß deshalb möglichst frühzeitig eine ge¬
naue Anamnese erhoben werden. Bei Schädel- und Rückenmarksschüssen werden
Berufswechsel und konsequenter Unterricht nötig sein, die Mitarbeit der gebildeten
■'rau ward hier wie auch sonst viel erreichen können. Verf. macht ferner auf die
;roße Selbstmordgefahr bei Melancholien aufmerksam, die zweifellos durch den
vrieg ausgelöst werden können. Eine Reihe von Epilepsien ist ebenfalls durch den
vrieg hervorgerufen, ferner viele Neurasthenien und Hysterien. Verf. gibt zu,
laß eine latente Paralyse sehr wohl durch die Anforderungen eines Feldzuges zum
Vusbruch kommen kann, er sah oft ausgesprochene Frühformen, bei denen körper-
iche Erscheinungen im Vordergrund standen. Die Ersetzung der Renten durch
inmalige Abfindung in geeigneten Fällen ist erstrebenswert.
5. Psychosen bei diffusen Hirnerkrankungen.
Die Differentialdiagnose zwischen arteriosklerotischen und urämischen Zere-
jralstörungen kann große Schwierigkeiten bereiten. Nach Strauß (198) leistet die
Bestimmung des Reststickstoffgehaltes des Blutserums hier wertvolle Dienste, weil
nur echte Nephritiden und diese auch nur bei stärkerer Ausdehnung des Prozesses
:>ine erhebliche Retention des Stickstoffes in den Säften zur Folge haben. Bei ur¬
ämischen Zuständen trifft man meist 100—150, ja sogar 200—300 mg Rest N in
lOO ccm Blutserum an. Werte unter 80—90 mg sprechen in dubio mehr für den
arteriosklerotischen als für urämischen Ursprung der Störung.
Bromcer und Blauukuip (23) haben einen Fall von perniziöser Anämie mit
schwerer Beteiligung des Zentralnervensystems genau beschrieben. Es fand sich im
Rückenmark und im verlängerten Mark eine herdförmige parenchymatöse Degenera¬
tion der Markfasern. Besonders im Corpus restifonne beiderseits waren große Herde
vorhanden mit wenig Gliawucherung und massenhaft geschwollenen Fasern. Die
Veränderungen begannen im 3. Sakralsegment und erstreckten sich durch das
ganze Rückenmark. Es handelte sich um eine Quellung der Achsenzylinder und
Markscheiden mit folgender Auflösung derselben und sekundärer Gliawucherung,
so daß die Bezeichnung „primäre parenchymatöse Degeneration“ angebracht
erschien. In der grauen Substanz waren die Veränderungen nur geringfügig, im
wesentlichen war die weiße Substanz betroffen. Die Ursache der Veränderungen
liegt wohl in ungenügender Ernährung, die am ersten die Abschnitte des Rücken¬
markes trifft, die von vornherein am schlechtesten genährt sind, also die Stränge.
Von diesen werden wieder diejenigen getroffen, welche am meisten gebraucht werden,
wie die Pyramidenbahn, die langen Fasern der Hinterstränge und der Flechsigschen
Bahn. Von einer Entzündung war nirgends etwas zu sehen.
Eine Geistesstörung von der Form der Amentia bei einer Frau mit perniziöser
Anämie schildert Thode (207). Es traten akute Verwirrungszustände auf, abwcch-
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U2* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
selnd mit völliger Klarheit. Die Schädigung des Gehirns ist wohl auf toxische Stoffe
zurückzuführen.
Gölkel (59) bringt in seiner Dissertation einen Fall von Meningitis bei einem
8jährigen Kinde, das im Anschluß an einen heftigen Schreck erkrankte und anfangs
das Bild einer Hysterie bot. Später entwickelten sich völlige Verwirrtheit, Unruhe
und Schmerzen, gegen Ende eine Stauungspapille. In der Lumbalflüssigkeit massen¬
haft Lymphozyten und große einkernige Zellen.
Einen Fall von Katatonie nach Sonnenstich hat Repond (156) beobachtet.
Der Pat. erkrankte nach besonders starker Insolation mit Kopfschmerzen, Schwin¬
del, Müdigkeit, Muskelschmerzen, Fieber und Erbrechen. Im Anschluß an diese
Symptome wurde er unruhig, mißtrauisch und hatte Sinnestäuschungen. Ein Jahr
später bot er das typische Bild einer Katatonie.
Römer (164) bringt 3 Fälle von Sonnenstich, davon einen mit Sektionsbericht.
Hier war die Pia leicht weißlich verfärbt, im Subarachnoidealraum vermehrte seröse
Flüssigkeit und mäßiger Hvdrocephalus int. In Fall II ergab die Lumbalpunktion
stark vermehrten Druck bei reichlicher Spinalflüssigkeit. Unmittelbar nachher ver¬
schwanden die Beschwerden. In Fall 3 ergab die erste Untersuchung klar die Symp¬
tome einer meningealen Erkrankung. Die Spinalpunktion ergab erhöhten Druck,
vermehrte Zeilenzahl, positive Globulinreaktion. Bei der zweiten Punktion ließ
sich bereits eine Besserung feststellen, bei der dritten waren die pathologischen
Veränderungen des Liquor verschwunden. Es ruft also der „Sonnenstich“ eine
Meningitis bzw. Meningoenzephalitis hervor. Es kommen zur Wirkung sowohl
direkte als sekundäre Wärmestrahlen, ferner direkte Lichtstrahlen und sekundäre,
durch Umwandlung aus kurzwelligen Lichtstrahlen in der Haut entstandene lang¬
wellige Strahlen.
Doinikow (37) konnte bei multipler Sklerose sichere Kegenerationsvorgänge
an Achsenzylindern nachweisei.. Sprossungsvorgänge waren am häufigsten an den
Axonen der grauen Substanz des Rückenmarkes zu sehen, seltener in den weißen
Strängen. Im Kleinhirn beschränkten sich die progressiven Vorgänge nach dem
Untergänge des distalen Teils des Purkinjeschen Axonstammes auf Verdickung der
Kollateralen, vielleicht auch auf Bildung von neuen Ästen derselben. In der weißen
Substanz des Großhirns konnten keine sicheren Sprossungsvorgänge an den er¬
krankten Achsenzylindern nachgewiesen werden. Verf. nimmt an, daß die größte
Anzahl der Axone in alten sklerotischen Herden auf persistierende Achsenzylinder
zurückzuführen ist. Ob die neugebildeten Bahnen auch bis zu ihrem physiologischen
Endpunkt hinwachsen, ist noch nicht zu entscheiden.
Ein Fall von multipler Sklerose in Verbindung mit Syringomyelie ist von
Sittig (191) veröffentlicht worden. Die Sklerose war für 1% Jahre nach einem
Typhus aufgetreten und vielleicht von ihm hervorgerufen. In den Gehirnherden
waren besonders bemerkenswert die entzündlichen Gefäßinfiltrate sowie die starke
Wucherung der Gliazellen- und- fasern, ferner stellenweise die Kömehenzellenbildung.
Im Rückenmark fand sich vom Halsmark bis zum untersten Dorsalmark eine quere,
spaltförmige Höhle, die sich stellenweise in zwei Spalte teilte. Um die Höhlung herum
lag stark gewucherte Faserglia, größere bläschenförmige chromatinarme Gliakerae,
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iie stellenweise angehäuit waren. Außerdem waren sichere Herde anxutreffen,
die der multiplen Sklerose angehörten.
In der von Jakob (83) veröffentlichten Beobachtung handelt es sich um einen
Mann zwischen 30 und 40 Jahren mit allgemeiner körperlicher Schwäche, Apathie
und Desorientierung und erheblicher Störung der motorischen Ausdrucksbewegun¬
gen besonders der Sprache. Einige Monate vor dem Tode trat ein epileptifoimer
Anfall auf mit leichten hemiplegischen Symptomen. Die TFassermannsche Reak¬
tion war negativ.
Die Sektion ergab bei Erhaltenbleiben der äußeren Gehirnkonfiguration eine
schwere Veränderung des Markes im Stirnbein, im Marklager der Zentralwindungen,
des Parietal- und Qkzipitalhirns sowie in der weißen Substanz der Medulla obL
und spinalis. Die Fibrae arcuatae und die Rinde selbst waren im wesentlichen ver¬
schont geblieben. Im Vordergründe des Prozesses stand der Untergang der Mark¬
scheiden und ihrer Achsenzylinder, dazu kam hochgradige Wucherung der Glia und
exsudativ-infiltrative Gefäßveränderungen mit den Zellformen der chronischen Ent¬
zündung. Das Endstadium der Erkrankung war eine reaktionslose Narbe mit
Fehlen der Markfasem und reicher Entwicklung von Gliafasern und bindegewebigen
Strukturen.
Das ganze Bild zeigt große Verwandtschaft mit der sogenannten diffusen
Sklerose, unterscheidet sich von ihr aber dadurch, daß die Hauptmasse der Achsen
Zylinder zugrunde gegangen ist. Indessen hatten sich doch einzelne Herde nach dem
Typus der Herde bei multipler Sklerose entwickelt, während der Hauptprozeß
im Marklager sich als Myelitis erwies. Da entzündliche Myelitis und multiple oder
diffuse Sklerose schwere exsudativ-infiltrative Gefäßveränderungen aufweisen, so
besteht zweifellos hier eine Verwandtschaft. Verf. ist der Ansicht, daß die Krankheit
eine exogene Pathogenese hat, doch blieben alle Nachforschungen nach einem Er¬
reger resultatlos.
Ourschmann (36) bespricht die atypische multiple Sklerose und luetische
Spinalleiden bei Heeresangehörigen. Er führt einen Fall an, in welchem echte
multiple Sklerose bei einem früher syphilitisch Infizierten festgestellt wurden. Alle
vier Syphilisreaktionen waren negativ. Das Leiden war manifest geworden nach
großen Marschstrapazen, so daß eine innere Kriegsdienstbeschädigung angenommen
werden mußte. Bei einem andern Soldaten, der schon vor seiner Einstellung an
multipler Sklerose gelitten hatte, trat bald eine erhebliche Verschlimmerung auf,
die jedoch rasch einer weitgehenden Remission wich. Bei einem dritten Patienten
konnte durch die 4 Syphilisreaktionen die Diagnose auf beginnende Tabes sehr
frühzeitig gesteht werden. Verf. empfiehlt als Therapie bei multipler Sklerose das
Fibrolysin Mendel, das bei einem 19jährigen Mädchen erhebliche Besserung brachte.
Kafka (87) gibt einen Überblick über den Stand unseres Wissens auf dem Ge¬
biete des Alderhaldenschcn Dialysierverfahrens. Nach einigen technischen Be¬
merkungen bespricht er die be den einzelnen Krankheiten bisher gewonnenen Er¬
gebnisse. Er betont, daß die Anstellung des Dialysierverfahrens immer noch
einen wissenschaftlichen Versuch darstellt, der die Diagnosenstellung nur unter¬
stützen dar! Zweifellos wird es für die Psychiatrie bedeutungsvoll werden.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Enge (44) schildert die Beziehungen zwischen körperlichen Erkrankungen
und Geistesstörungen. Er betont, daß die spezielle Art der Infektion bei den akuten
Infektionskrankheiten für die Form der in ihrem Gefolge auftretenden Psychosen
nicht maßgebend ist. Weiter bemerkt Verf., daß unter Umständen bei Karzinom
Geistesstörungen beobachtet werden, deren Entstehung durch toxische Einwirkun¬
gen auf die Hirnrinde nicht von der Hand zu weisen ist. Im übrigen bringt er voll¬
ständige Aufzählung aller hier in Betracht kommenden Krankheiten und ihrer Be¬
rührungspunkte mit Psychosen.
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172. Stoffel, A., Über die Technik der Neurolyse. D. med. Wschr.
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177. Stuchlik, Jar. (Rot Kostelec), Zum Begriff „Psychose“. Revue
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178. Stuchlik, Jar. (Rot Kostelec), Über pathologische Heredität.
Ziva vol. 24, p. 282 (böhmisch).
179 Thode, Günther, Über die im Gefolge der perniziösen Anämie
auftretenden psychischen Störungen. Inaug.-Diss. Kiel.
180. Thomas, H. G. (Oakland, Cal.), Optic neuritis and the colour
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thyreoidism, dementia praecox, manie-depressive insanity,
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181. Tischbein, Peter, Über die Bedeutung der Degenerationszeichen,
besonders der Ohrmißbildungen bei Geisteskranken. Inaug.-
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182. Travaglino, P. H. M., Beitrag zur Kenntnis der Amnesie. Ned.
Tijdschr. v. Geneesk. vol. 59 (I), p. 1669.
183. Tremmel, Emil, Untersuchungen über die faradische Auslösung
des normalen und des Babinskischen Fußsohlenreflexes.
Inaug.-Diss. Heidelberg.
184 Treiber, Georg (Görden b. Brandenburg) Erfahrungen über die
Entlassung Geisteskranker gegen ärztlichen Rat. Allg. Ztschr.
f. Psych. Bd. 72, H. 1, S. 100.
185. Turner, W. A., Cases of nervous and mental shok observed in
the base hospitals in France. British med. journ. no. of
May 15th.
186. Versluys, J. (Gießen), über die Verbreitung von Seuchen durch
Insekten im Kriege. Leipzig, J. A. Barth. 14 S. 25 Pf.
187. Voß, G., Die Ätiologie der Psychosen (115 S.). Abt. III des Allg.
Teils des Handbuches der Psychiatrie von Aschaffenburg.
Leipzig u. Wien, Fr. Deuticke. (S. 133*.)
188. Voß, P., Psyche und Gefäßsystem. Ztlbl. f. Herz- u. Gefäß-
krankh. Nr. 21 u. 22.
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189. de Waele (Gent ), La rGaction d’ Abderhalden est une globulino-
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190. Wallenberg, Adolf (Danzig), Ludwig Edinger zum 60. Geburts¬
tage. Arch. f. Psych. Bd. 55, H. 3, S. 997.
191. Weber, Ernst (Berlin), Die Behandlung der Folgezustände von
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192. Weber, L. W. (Chemnitz), Die Bedeutung der Suggestion und
anderer psychischer Momente im Sexualleben. Arch. f.
Sexualforsch. Bd. 1, H. 1, S. 10.
193. Weintraube W\ (Wiesbaden), Über Fonabisit, nebst Bemerkungen
Uber die Wirkung von Suggestionsmitteln. Eigenbericht:
D. med. Wschr. Nr. 2, S. 37.
194. Wells, F. L. (Waverley, Mass.), A note on the retention of acquired
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195. Weston, Paul G., and Ira Darling (Warren, Pa.), The value of
routine laboratory work in psychiatry. Americ. journ. of
insan. vol. 72, no. 2, p. 325.
196. Weyert (Posen), Militär-psychiatrische Beobachtungen und Er¬
fahrungen. Karl Marhold, Halle a. S. 1915. 145 S. 3,60 M.
(S. 130*.)
197. Weygandt, 11’. (Hamburg), Kriegseinflüsse und Psychiatrie.
Jahreskurse f. ärztl. Fortbild., Mai 1915. S. 15. (S. 129*.)
198. Weygandt, W. (Hamburg), Psychose auf Grund von Hirntrauma.
(Ärztl. V. Hamburg, Sitz. v. 6. VII. 15.) Ref.: D. med. Wschr.
Nr. 45, S. 1353.
199. Wittermann, Ernst (Winnenthal), Kriegspsychiatrische Erfahrun¬
gen. (Vortr. Wandervers. Südwestd. Neurol. u. Irrenärzte,
Baden-Baden, 22./23. V. 16.) Münch, med. Wschr. Nr. 34,
S. 1164.
200. Wolff, Gustav (Basel), Der Fall Hamlet. München, E. Reinhardt.
180 S. 3,50 M. (S. 138*.)
I. Allgemeines.
Hocke (72): Der vorliegende Abdruck des vor Weihnachten 1914 gehaltenen
Vortrages enthält außer dem, was die Ärzte besonders angeht, zahlreiche Hinweise,
welche für alle diejenigen von Belang sind, denen das psychologische Moment im
Kriege von besonderer Bedeutung erscheint. Schon seit längerem ist man bemüht
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Schroeder. Allgemeine Psychiatrie.
129 *
gewesen, die militärischen Vorgesetzten eingehend über die Einflüsse aulzuklären,
welche das militärische Leben an sich auf das Seelenleben des Soldaten ausübt.
Daß diese Einflüsse unter dem Druck der Anstrengungen und Gefahren im Kriege
n erhöhtem Maße hervortreten, ist ohne weiteres klar. Der Vortrag bringt in ge-
lrängter Kürze und ohne sich in Einzelheiten zu verlieren alle mit dem Gegenstand
üch berührenden Vorkommnisse. Das deutsche Heer und das deutsche Volk, so
wird festgestellt, ist in seiner Gesamtheit mit seinen Nerven allen Kriegslasten
gewachsen.
Hoche s (73) Betrachtungen, welche dem gegenwärtigen Kriege gewidmet sind,
knüpfen an den erstgenannten Vortrag an und ergänzen ihn. Vom hohen Stand
punkt aus überblickt der Autor das Leben der Einzelnen, ihre Beziehungen zu den
Mitlebenden oder der Zeit. Das Werk gehört seinem ganzen Inhalt nach zu den
besten geschichtsphilosophischen Schriften.
Weygands (197) Studie hat ebenso wie Hoche s Arbeiten bleibenden Wert und
enthält reichliches, mit größtem Fleiß und vollendeter Sachkunde zusammen¬
getragenes Material. Die Arbeit wird besonders dann herangezogen werden müssen,
wenn es sich einmal darum handeln sollte, in der Krankengeschichte des Welt¬
krieges die Pathologie des Seelenlebens zusammenfassend zu besprechen.
Müller (117): Schriften über das Altem sind wohl in vieler Leute Händen.
Der heikle und dabei jeden berührende Gegenstand ist an anderer Stelle aber kaum
in so allgemein fesselnder und doch streng wissenschaftlicher Weise besprochen
worden. „Verlassen wir das unbefriedigende Gebiet theoretischer Erörterungen
und wenden wir uns dem sicheren Boden der Beobachtungen zu, welche die Vor
gange des Altems nicht erklären, sondern nur beschreiben will“ — so schließt Müller
den erklärenden Teil seines Vortrages ähnlich dem Faustischen: „Ich sehe, daß wir
nichts wissen können.“ Er verfehlt aber auch nicht, auf den Ausblick hinzuweisen,
der auch den Alternden befriedigen kann. Das Alter setzt die gewonnenen Er
fahrungen zusammen und besitzt das reifere Urteil. Das Band mit der Jugend darf
es nie zerschneiden und muß sich hüten, das Verständnis für deren Denkart zu ver¬
lieren. Man besteigt einen Berg, um hinunter und um sich zu blicken.
Aschaffenburg (5) entwickelt zunächst in den Kapiteln „Aufgaben und Grenzen
der Psychiatrie“, „Krankheitsbilder und Krankheitstypen“ und „Richtlinien der
Einteilung der Psychosen“, alle für eine Einteilung der Psychosen maßgebenden
Gesichtspunkte und unterscheidet dann endogene, exogene und organische Psycho¬
sen. Zu der endogenen Gruppe gehören die psvchasthenischen Zustände: Neurasthe¬
nie und Hysterie, pathologische Affektreaktionen, psychopathische Zustände nach
Schreck, Affekten, Haft und die Unfallneurose, die konstitutionellen psychopathi¬
schen Zustände: abnorme Charaktere, Defektmenschen, pathologische Schwindler,
sexuelle Perversionen, Pseudoquerulanten, Zwangsdenken uud konstitutionelle Ver
Stimmungen, und die konstitutionellen Psyhosen: manisch-depressives Irresein,
Paranoia. Die Gruppe der exogenen Psychosen umfaßt die Intoxikations- und Er¬
schöpfungspsychosen, Infektionspsychosen, Psychosen bei Allgemeinerkrankungen,
akute nervöse Erschöpfung, •Amentia, Kretinismus und Myxödem, Alkoholpsycho
sen, Morphinismus, Kokainismus und sonstige Vergiftungen. Die dritte große Grup-
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130 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
pe bilden die organischen Erkrankungen, Paralyse und Hirnlues, Psychosen bei Gehim-
erkrankungen, Involutionsdepression, arteriosklerotische und senile Demenz, De¬
mentia praecox, Epilepsie, Idiotie und Imbezillität.
Derselbe Band von Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie enthält eine
vorzügliche Monographie über Epilepsie von Professor Pojt-Wiesbaden.
Aschaffenburgs (4) geistvolle Darstellung der allgemeinen Symptomatologie
der Psychosen eignet sich kaum zu einem kurzen Referat, sie muß gründlich studiert
werden; je öfter man sie zur Hand nimmt, um so anregender wirkt sie, nicht zuletzt
durch die besondere Art der Darstellung und durch die reiche klinische Erfahiung r
die überall hervortritt.
Weyert (196) berichtet in kritischer Form über seine Beobachtungen und Er¬
fahrungen auf der psychiatrischen Abteilung des Garnisonlazaretts Posen an der
Hand von zahlreichen Krankengeschichten. Wie immer beim Militär, bandelt es
sich in erster Linie um Fälle von Psychopathie, Dementia praecox, Schwachsinn
und Epilepsie. Die Frage der Dienstbrauchbarkeit wird eingehend besprochen.
Das Streben der Militärverwaltung ist ein zweifaches: Verhinderung der Einstellung
von psychisch kranken oder defekten jungen Leuten und möglichst frühzeitige Er¬
kennung aller geistig für den Heeresdienst nicht geeigneten Elemente zwecks Aus¬
scheidung.
Placzek (132) gibt eine historische Übersicht über die verschiedenartige Be¬
urteilung des Selbstmordes und behandelt dann eingehend und anregend das Selbst¬
mordproblem und seine praktische Bekämpfung. Plaezek vertritt den Standpunkt,
daß es einen physiologischen, d. h. aus zwingenden Gründen möglichen, Selbstmord
gibt, ohne daß der Täter irgendwelche Abweichung zu zeigen braucht.
Flatau (43): Eingehende psychologische Abhandlung über den Begriff der Sug¬
gestion unter kritischer Betrachtung bisheriger Bestimmungen. Flatau führt den
Begriff der Bereitschaftsstellung der Psyche ein. In ihr sieht er die Vorbedingung
für die Wirkung der Suggestion. » Grimme.
Kronthal (96): Eine kleine, in ihrer Beweisführung doch recht knappe Streit¬
schrift wider den „öden Materialismus“, der die Seele als Produkt bestimmter
Zellen auffaßt. „Die Seele ist ein Geschehen, sitzt weder im Gehirn noch sonst in
einem Organ. Die Seele ist die Summe der Reflexe. Deshalb ist Seele, wo Leben ist.“
Es dürfte zweifelhaft bleiben, ob Kronthals Schrift überzeugend wirken wird.
Grimme.
Höher (74) stellte Untersuchungen an über den Einfluß von Narkotikum-
konzentrationen auf die Zellpermeabilität. Zu dem Zwecke wurden Rinderblut¬
körperchen mit isotonischer Rohrzuckerlösung teils ohne, teils mit Zusatz von Nar¬
kotikum in verschiedenen Konzentrationen gewaschen und ihre elektrische Leit¬
fähigkeit nach dem Zusatz des Narkotikums gemessen. Es ergab sich, daß kleine
Narkotikum-Konzentrationen die Effusion von Elektrolyten aus der Zelle hemmen,
große sie steigern. Kleine Narkotikum-Konzentrationen bewirken also das Gegenteil
von dem, was große Konzentrationen bewirken. Die Hemmung der Elektrolyse-
Effusion und auch ihre Steigerung konnte durchWegwaschen des Narkotikums rück¬
gängig gemacht werden. Das Wesen der Narkose ist, physiologisch ausgedrückt.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
131 *
eine Hemmung der die normale Erregung charakterisierenden Permeabilitäts¬
steigerung. Zur Erklärung dafür, durch welchen Prozeß die Narkotika die Per¬
meabilität der Zellen verändern, wird eine besondere Theorie aufgestellt.
Grimme.
Schröder und Hinsierg (163) haben die von anderer Seite früher angestellten
Untersuchungen über die Wirkung von Chinin- und Salizylsäure auf das Ganglion
spirale fortgesetzt. Es war die Annahme einer spezifischen Wirkung dieser Medika¬
mente auf die Zellen des Ganglion spirale in Zweifel gezogen. Die Untersuchungen
von Schröder und Hinsberg konnten eine elektive Wirkung des Chinins und des
Natr. salicyl. auf das Ganglion spirale nicht feststellen. Das gleiche gilt für Strych¬
nin, Zyankali, Kokain, Plumbum aceticum. Zum Teil waren die Zellen des Gan¬
glion spirale nicht immer verändert im Gegensatz zu Veränderungen an andern
Teilen des Nervensystems; zum Teil waren die Veränderungen überall die gleichen.
Grimme.
Grdbley-W oltersdorf (61): Erörterung über den Mineralstoffwechsel und Hin¬
weis auf die Notwendigkeit der Zufuhr von Mineralsalzen bei gewissen nervösen,
neurasthenischen und Erschöpfungszuständen. Er selbst verwendet ein Gemisch
von Kalk, Phosphor, Eisen und Magnesium-Superoxyd. Grimm.
Dees (31): Dees sieht in dem Helden des Shakespeareschen Dramas: Timon
von Athen einen Fall von manisch-depressivem Irresein, ln dem manischen Stadium
ist Timon verschwenderisch freigebig mit Geschenken, gibt Gastmähler, strotzt von
Lebensfreude. Die Einwände seines treuen Dieners beachtet er nicht. Allmählich
tritt eine gewisse Beruhigung ein. Nun melden sich die Gläubiger, die Freunde ver¬
sagen ihre Hilfe. Timon wird gereizt. Wiederum gibt er ein Gastmahl. Diesmal
gießt er seinen Gästen Wasser ins Gesicht, wirft ihnen die Schüsseln nach, flucht
und verwünscht sie. Zuletzt flieht er in die Einsamkeit. Damit beginnt die depressive
Phase. Timon nährt sich von Wurzeln und Wasser und hüllt sich in Lumpen. Die
Bürger, die ihn zurückholen wollen, weist er ab. Zuletzt stirbt er an Gram und
Schwermut. Sein ganzes Handeln ist nach Dees psychologisch begründet, so daß
nur der Kundige merkt, daß es sich um eine Geisteskrankheit handelt. Der Dichter
hat offenbar viele Züge dem Leben entnommen und sie in ihrer Gegensätzlichkeit —
himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt — in seinem Helden vereint, wie Shake¬
speare überhaupt, worauf Laehr aufmerksam gemacht hat, die Darstellung derartiger
Gegensätzlichkeiten liebt. Ganter.
Ebstein (36): Emst Platner (1744—1818), Prof, der Medizin in Leipzig und
Polyhistor, verfiel im Alter von 73 Jahren in Geisteskrankheit. Ein naher Ver¬
wandter von ihm, der Arzt Dr. Hebenstreit , war ständig um ihn und schilderte in
einem Tagebuch ausführlich die Krankheitserscheinungen. Dieses Tagebuch teilt
uns Ebstein mit. Es ist nicht Hur interessant wegen des Kranken, eines bedeutenden
Gelehrten, sondern auch wegen der Art und Weise, wie ein Arzt der damaligen Zeit
einem solchen Krankheitsbilde gegenüber sich verhielt und wie er es betrachtete.
Den Schluß der Abhandlung bildet eine Epikrise von Ebstein, der die Krankheit
(Verwirrtheit, Verfolgungs- und Größenideen, Angst, Unruhe) als auf arterio¬
sklerotischer Basis entstanden sich vorstellt. Ganter.
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132 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Jentsch (85): Claude Lorrain war einer der bedeutendsten Landschaftsmaler
des 17. Jahrhunderts. Er stammte aus der Umgebung von Toul. Einmal arbeitete
er in der Klosterkirche der Karmeliter in Nancy, als ein Vergolder auf einem Gelöst
einen Fehltritt tat und dadurch dem tödlichen Sturze entging, daß er sich noch
an einer Latte festhalten konnte. Lorrain befreite ihn aus seiner gefährlichen Lage.
Von jetzt ab faßte der Künstler eine unüberwindliche Abneigung davor, fernerhin
wieder ein Gerüst zu besteigen. Ver. sucht diese .,Schreckneurose“ in Zusammen¬
hang zu bringen mit der sonstigen psychischen Labilität des Künstlers. Ob alles das,
was Verf. hierüber zu sagen weiß, über das Normalpsychische hinausgeht, mag
•dahingestellt sein. Manches beruht nur auf Vermutungen oder erscheint gesucht.
Ganter.
Jentsch (86): Warum Faraday (1792-1867) misogyn gewesen sein soll, ist mir
nicht recht klar geworden. Jentsch weiß dafür nur ein Gedicht anzuführen, das
Faraday gelegentlich einmal (1816) verbrochen hat und in dem er verächtlich von
4er Liebe spricht. 1821 heiratete er sogar, und auch das scheint mir kein Zeichen
von Misogynie zu sein. Ganter.
Jentsch (87): Faraday litt von Kindheit an an nervösen Beschwerden, so daß
ihn Jentsch zu den geborenen Neuropathen rechnet. Etwa in der Mitte des 5. Jahr¬
zehnts machte sich bei ihm eine zunehmende, sein wissenschaftliches Arbeiten beein¬
trächtigende Gedächtnisschwäche geltend, so daß er später selbst seine eigenen Ar¬
beiten vergaß. Diese Gedächtnisschwäche führt Verf. auf eine verhältnismäßig früh
auftretende Arteriosklerose der Hirngefäße zurück. Gegen Ende des Lebens — er
starb 75 Jahre alt — trat ein lähmungsartiger Zustand ein. Ganter.
Rosanoff (142): Nach den üblichen Statistiken liefert die nach Amerika ein¬
gewanderte Bevölkerung einen verhältnismäßig viel größeren Prozentsatz der An¬
staltsinsassen als die einheimische Bevölkerung. Verf. macht auf die verschiedenen
Fehlerquellen dieser Berechnung aufmerksam. Er bemerkt, daß ähnliche Zahlen
bei der Wanderung der einheimischen Bevölkerung erhalten wurden. So sollte die
aus dem Staate New York nach Kalifornien eingewanderte Bevölkerung 2,60mal
•soviel Geisteskranke in den Anstalten stellen als die Bevölkerung Kaliforniens selbst.
Um Fehlerquellen möglichst auszuschließen, empfiehlt Verf. die indirekte
Methode der Vergleichung. Da die Geisteskrankheit sich meist vererbt, nimmt Verf.
als Vergleichsobjekt die Nachkommen der zugewanderten und der ansässigen Be¬
völkerung, und da zeigte es sich, daß 1911 die Nachkommen der eingeborenen
Bevölkerung 34,6 erste Anstaltsaufnahmen auf 100 000 der allgemeinen Bevölkerung
lieferten, die Nachkommen der Eingewanderten 34,9, also fast gar kein Unterschied.
Die Einwanderer stellen demnach nicht mehr Geisteskranke als die Eingeborenen.
Ganter.
II. Ätiologie.
Rosanoff (143): ln den Vereinigten Staaten Amerikas kamen im Jahre 1880
86,5 in Anstalten verpflegte Geisteskranke auf 100 000 der Bevölkerung, 1910
stieg die Zahl auf 232,0. Innerhalb der einzelnen Staaten wiederum wechselt diese
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
133*
Zahl bedeutend. So betrug sie 1910 im Staate Oklahoma 67,0, im Staate Massachu-
setts aber 413,4. Diese Steigerung und Schwankung hängt nach Verf. nicht etwa
von einer Zunahme der Geisteskranken ab, sondern von verschiedenen äußeren Ur¬
sachen. Die reicheren Staaten bauen mehr Anstalten als die ärmeren. Die Städte
gewähren wieder mehr Gelegenheiten zur Aufnahme der Geisteskranken, als es auf
dem Lande der Fall ist. Wo die Aufnahmebedingungen erleichtert werden, steigt
auch die Zahl der Aufnahmen. Mit zunehmender Bildung schwindet die herge¬
brachte Furcht vor der Anstalt, so daß die Angehörigen ihre Kranken leichter der
Anstalt übergeben. Alle diese Tatsachen begründet Verf. für jeden Staat mit
statistischen Nachweisen. Ganter.
Burchhard (25): Recht günstige Erwartungen hegt Burchhard namentlich auf
Grund persönlicher Erfahrungen von den Kriegstrauungen. Großes soziales Un¬
glück sollen dagegen die außerehelichen Bündnisse erwarten lassen. Auch die Pro¬
stitution und die Geschlechtskrankheiten erfordern große Beachtung. Groß ist
auch der Einfluß des Krieges auf die seelischen, mit dem Sexualleben in Beziehung
stehenden Erkrankungen, während sexuelle Neurosen und Potenzstörungen von
dem Kriege günstig beeinflußt zu sein scheinen. Die Frage der Tauglichkeit zum
Militär spielt eine große Rolle bei den körperlichen und psychischen geschlecht¬
lichen Abnormitäten. B. verneint sie bei dem körperlichen und seelischen Zwitter-
tum. Die Homosexuellen dagegen haben meistens eine den Durchschnitt wohl
übersteigende Kriegsbegeisterung gezeigt. Über die sexuelle Kriminellität kann
ein abschließendes Urteil natürlich noch nicht gegeben werden. Ganter.
Voß (187) behandelt in ausführlicher, eingehender, überaus anregender Weise
die endogenen tmd exogenen Ursachen der Geisteskrankheiten, die Bedeutung
erblichen Belastung und der Vererbungsregeln und würdigt dabei auch die sozialen
Ursachen, den Einfluß der kulturellen Entwicklung auf die psychische und nervöse
Gesundheit. Freuds Lehren steht er ablehnend gegenüber.
P. ScAroeder-Greifswald (160—161) hat im Gegensatz zu der Auffassung
Bergers aus Jena die Überzeugung, daß es unmöglich ist, in der Vielgestaltigkeit
psychischer Störungen nach einem Trauma eine symptomatologisch und klinisch
einheitliche Gruppe ohne weiteres zu erkennen, die sich zeitlich und symptomato¬
logisch aus den Erscheinungen der Hirnerschütterung heraus entwickelt. Er faßt
sie auf als ein protrahiertes Durchgangsstadium von der Bewußtlosigkeit zur end¬
gültigen Aufhellung. Hierbei wird auf die Vielgestaltigkeit der einzelnen Formen
hingewiesen, bedingt durch die Dauer, die Intensität und durch das besondere Her¬
vortreten bestimmter Symptomgruppen, die im allgemeinen aber immer die gleichen
sind und in Benommenheit, Delirien, epileptoiden Erregungen, Verworrenheits¬
zuständen, Amnesie- und Affektstörungen bestehen. In den länger dauernden
Fällen lassen sich mehrere Krankheitsabschnitte unterscheiden: die abklingende
Bewußtlosigkeit mit der Erschwerung der Auffassung und der Verlangsamung der
psychischen Tätigkeit; ein sogenanntes ÜbmMgaatadium, gekennzeichnet durch
akute Symptome, Erregungen, deliranMtfHV k “**t!0li oder Hemmung und Stupor
und drittens ein Korsakomchex Zustlrfp^' “ders lange hinziehen kann.
Als besonders charakteristisch “tranken angesehen: Ver-
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134 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
drossenheit, Unlust, Verärgertheit, grobe Gereiztheit, Mißtrauen, Boshaftigkeit.
Die Prognose ist bei Fällen ohne Komplikationen im allgemeinen günstig, wird
anderseits aber in allen schweren Fällen durch die Ausbildung einer gewissen geistigen
Schwäche getrübt, die als unmittelbare Folge der durch das Trauma gesetzten Ge¬
hirnschädigung anzusehen ist und in Vergeßlichkeit Ermüdbarkeit, Explosivität,
Reizbarkeit, Insuffizienzgefühl, Neigung zu hypochondrischen Klagen, Intoleranz
gegen Alkohol und Rauchen, neben gelegentlich deutlichen Herderscheinungen
besteht. Grimme.
III. Pathologie,
Gaupp (57) beschäftigt sich in seinem Referat zunächst mit den allgemeinen
(Grundsätzen, nach denen die Einteilung der Psychosen erfolgen kann. Es sind dies
die anatomische Forschung, die Lehre von den Ursachen der geistigen Erkrankungen
und die Versuche Kräpelins, unter Berücksichtigung der Ursachen von psychischen
und somatischen Symptomen, Verlauf und Ausgang zu einer Abgrenzung von
Krankheitseinheiten zu kommen. Bei der Besprechung der Ursachenlehre wird der
ablehnende Standpunkt Ziehen s einer Kritik unterzogen. Die Erörterung über die
Lehre Kräpelins bringt einen Überblick über die gesamten, durch sie entstandenen
Anschauungen, die Kräpelins Lehre aufteilen und weiterbauen, zeigt, wohin die
Anschauungen neigen und auf welchem Wege man weiterbauen kann, ln dem mehr
speziellen Teil des Referats wird zunächst auf die Bestrebungen hingewiesen, die
•exogenen von den endogenen Psychosen immer mehr zu trennen und das Gebiet
der syphilitischen Erkrankungen, anderer progressiver Verblödungszustände und
der zerebralen Arteriosklerosen besonders besprochen. Bei den klimakterischen
und präsenilen psychischen Erkrankungen ohne Arteriosklerose wird die Stellung
der Kräpelinschm Paraphrenien und der echt Paranoia erwähnt. Bei den zahl¬
reichen infektiösen und toxischen Psychosen muß die Zukunft lehren, ob die Ver¬
wandtschaft dieser symptomatischen Psychosen eine tatsächliche Identität darstellt.
Bei den Alkoholpsychosen müssen endogene Faktoren und ätiologische
Zwischenglieder körperlicher Art beachtet werden. Weiterhin wird auf die Erkran¬
kungen hingewiesen, bei denen Vorgänge der inneren Sekretion als Grundlage ange¬
nommen werden. Ein großer Raum nimmt die Stellung und Genese der Epilepsie
mit ihren verwandtschaftlichen Erscheinungen ein. Noch ausführlicher ist, dem
gewaltigen Gebiete entsprechend, die Erörterung über die funktionellen Psychosen,
bei der die modernen psychologischen Anschauungen, die Lehre von Freud und
Bretter und die Lehre von der Entartung besprochen werden.
Jolly (88) stellt auf Grund der Literatur und seiner eigenen Erfahrung fest,
daß es eine eigene Menstruationspsychose nicht gibt; es gibt aber Fälle, die eigen¬
artige Beziehungen zur Menstruation darbieten, indem sie in ursächlichem Zu¬
sammenhang mit der Menstruation, und zwar meist prämenstruell, auftreten; in
ihren Formen unterscheiden sie sich nicht wesentlich von den sonst in der Puber¬
tätszeit vorkommenden Geistesstörungen. Amenorrhoe fand sich häufig bei Paralyse
und besonders bei Taboparalyse, auch bei Amentia, in der Hälfte der Fälle bei De-
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
135 *
tnentia praecox, Melancholie; bei Manie in etwa 1 j t -der Fälle. Das Symptom der
Amenorrhoe wird auf Veränderungen des inneren Chemismus zuriickgeführt. ln
prognostischer Beziehung wird die alte Erfahrung bestätigt, daß im allgemeinen
Wiedereintritt der Menses mit gleichzeitiger psychischer Besserung günstig ist,
dagegen ohne Besserung einen ungünstigen Ausgang befürchten läßt.
Donath (34) berichtet über seine Erfahrungen auf dem wichtigen Gebiete der
Kriegsverletzungen und -erkrankungen des Nervensystems und teilt Fälle von
Psychoneurosen, Schädel* und Hirn Verletzungen, Verletzungen der Wirbelsäule
und des Rückenmarks und Verletzungen der peripheren Nerven mit. Auch Donath
hat Neurosen rein traumatischen Ursprungs be^ bisher gesunden, kräftigen, neuro-
nder psychopathisch nicht belasteten Individuen gesehen.
. Jocofty-Tübingen (79). ln sehr anschaulicher Form gibt Jacoby einen Über¬
blick über die chemischen Vorgänge im Körper, die der Ermüdung zugrunde liegen.
Man muß unter Erschöpfung und Ermüdung unterscheiden. Erschöpfung ist die
auf weitgehenden Verbrauch des Körperbestandes an oxydablem Material und an
Muskelsubstanz beruhende Leistungsunfähigkeit', sie kann nur unter ganz außer¬
gewöhnlichen Bedingungen, und zwar nur bei gleichzeitiger hochgradiger Unter¬
ernährung des Organismus, in Frage kommen. Bei hochgradiger Ermüdung handelt
es sich dagegen nur um eine Hemmung der Kraftentwicklung, die zwar auch zu
völliger Leistungsunfähigkeit führen kann, aber darauf beruht, daß sich mit der
Htarken, anhaltenden Energieentwicklung im Muskel eine Veränderung in den
ihn versorgenden Gefäßen und damit im Blutstrom des Muskels einstellt, durch den
die Stoffwechselvorgänge des Muskels und auch entfernterer Organe und selbst der
nervösen Apparate derartig beeinflußt werden, daß es dem Organismus in immer
steigendem Maße erschwert wird, das vorhandene energieliefernde Material auszu¬
nutzen, wobei aber sowohl das Muskelprotoplasma als solches wie auch das oxydable
Material, welche dem Körper noch zur Verfügung stehen, sehr umfangreich, ja
sogar nahezu in normaler Menges vorhanden sein kann.“ Da die Veränderung in den
Gefäßen in einer Erweiterung de Gefäßsystems und damit in einer Herabsetzung
des Blutdruckes besteht, können Mittel, die den Blutdruck steigern, wie Kaffee,
'Tee, Kakao und Schokolade, vielleicht auch Suprarenin und Hypyophsin regulierend
auf den Ermüdungszustand einwirken. Grimme.
Pighini (131): Das Buch Pigkinis ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die
Verf. an der Klinik in Mailand gehalten hat. Es gibt eine gute Zusammenstellung
unserer Kenntnisse über die Biochemie des Gehirns. In 6 Kapiteln werden abge¬
handelt: die physikalisch-chemische Beschaffenheit der Nervenelemente, die chemi¬
schen Bestandteile des normalen Gehirns, die des pathologisch veränderten Gehirns,
die Nervenenergie und die physikalische Chemie des Protoplasmas, der Gasaustausch
des Zentralnervensystems, nebst Narkose und Schlaf. — Wie Ciamieüm in seiner
Vorrede betont, wird das Werkchen nicht nur Ärzten und Biologen, sondern auch
Chemikern als nützliches Orientierungsmittel dienen. Ganter.
Parhon et Savini (125): Die Entscheidung, ob die Drüsen mit innerer Sekretion
nur durch die Nerven oder auch unmittelbar auf die Gewebe wirken, ist deshalb
schwierig, weil sich der Nerveneinfluß nicht ausschalten läßt. Die Verf. schlugen
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136 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
darum einen andern Weg ein. Sie untersuchten, welche Veränderungen die Bak¬
terien erleiden, wenn sie auf dem üblichen Nährboden, auf dem aus Drüsen herge¬
stellten oder mit dem Drüsenauszug versetzten Nährboden kultiviert werden. Ein
positives Ergebnis würde beweisen, daß die Drüsen unmittelbar, ohne Vermittlung
des Nervensystems, gewisse Gewebe beeinflussen.
Zunächst fanden die Verf., daß das Schilddrüsengewebe auf die Entwicklung
der Milzbrand- und Tuberkelbazillen hemmend wirkt, mithin bei den Immnni-
sierungsvorgängen eine wichtige Rolle spielen muß. Was die Nebenniere betrifft,
so ist diese ebenfalls kein günstiger Nährboden für den Tuberkelbazillus. Milz¬
brandbazillen gedeihen gut auf Hoden-,Eierstock- und Corpus luteum-Gewebe,
schlecht auf Leber- und Speicheldrüseifgewebe. Der Tuberkelbazillus gedeiht gut
auf diesen Geweben, mit Ausnahme des Speicheldrüsengewebes. Oanter.
Ross and Singer (145): Die Untersuchungen der Verf. über die Auflösung der
Gewebe durch die verschiedenen pathologischen Seris zeigen, daß man aus dem Be¬
fund keine Schlüsse auf den Sitz des Leidens ziehen kann. Hinsichtlich der Ferment¬
wirkung auf Gehimgewebe besteht zwischen dem Serum von Paralytikern und dem
normaler Individuen ein mehr quantitativer als qualitativer Unterschied. Ganter.
Mayer (108) hat nach der Forderung, daß dem Untersucher die klinische
Diagnose nicht bekannt gewesen sein soll, 25 Fälle psychischer Erkrankungen nach
der Abderhaldenachen Reaktion untersucht. Wiedergabe der Ergebnisse, unter ab¬
sichtlicher Vermeidung einer Kritik und ohne Eingehen auf frühere Veröffent¬
lichungen. Die Ergebnisse stimmen mit den Ergebnissen anderer Untersucher
ziemlich überein. Grimme.
Kafka (89) betont in seiner Abhandlung die Notwendigkeit der Untersuchung
geistig und körperlich normaler Personen auf Abwehrfermente, ln den von ihm
aufgeführten 33 Fällen fehlten Abwehrfermente gegen alle Organe. An der Hand
von 10 Fällen aus dem Gebiete des manischen Irreseins, der Dementia praecox, der
Epilepsie und der Paralyse wird hingewiesen, wie nötig eine ausführliche klinische
Darstellung ist und wie selbst bei ziemlich klaren Fällen die Deutung eine ver¬
schiedene sein kann. Ferner geht Kafka ein auf die Frage des stationären serologi
sehen Befundes der Geschlechtsspezifität, die wieder von ihm als feststehend be¬
zeichnet wird, und der Natur der Abwehrfermente. Grimme.
Schröder (162) unterzieht auf Grund klinischer Beobachtungen,
die zum Teil in recht anschaulichen Nachschriften wiedergegeben sind, die bisher
fast allgemein gültige Bestimmung einer Halluzination, als eines den normalen
Wahrnehmungen in jeder Beziehung gleichen Phänomens, einer Kritik. Diese soge¬
nannten „echten“ Halluzinationen sind sehr seltene Erscheinungen, während das
alltäglich an den Kranken zu Beobachtende gerade das Unbestimmte, Unerklärliche,
Ungewöhnliche, Fremdartige an den Sinnestäuschungen zum Ausdruck bringt, für
das die Kranken eine passende Bezeichnung nicht zu finden wissen. Die auffälligen,
absonderlichen Bezeichnungen sind keineswegs immer ein Zeichen für Abänderung
der Sprachweise, sondern tatsächlich ein Ausdruck für das Fremdartige in der
Sinnesempfindung. In sehr viel Fällen kann nicht einmal angegeben werden, aus
welchem Sinnesgebiete die krankhafte Empfindung stammt. Bei den Angaben der
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
137 *
•Kranken spielen ferner Erinnerungstäuschungen enie große Rolle. Auch die mangel¬
hafte Beobachtungsfähigkeit, die Schwierigkeit zwischen Wahrnehmung und hinzu¬
gedachter Erklärung zu unterscheiden, ist zu berücksichtigen. Das Halluzinieren
iät kein einheitlicher, stets gleich zu bewertender Vorgang. Es wird deshalb auch
nicht eine Theorie für alle Halluzinationen passen. Die Ausscheidung sogenannter
„echter“ Halluzinationen ist künstlich und praktisch nicht durchführbar.
Grimme.
Sokolow (153) hat seine Untersuchungen über die experimentelle Auslösung
der Gehörshalluzinationen durch periphere Reize fortgesetzt und hat die Ergebnisse
der letzten Untersuchung, die im vorjährigen Literaturbericht erwähnt wurden,
wieder bestätigt gefunden. Als neuer Befund (154) kommt diesmal hinzu, daß die aus¬
gelösten Halluzinationen durch die Suggestion beeinflußbar sind, so daß der Inhalt
der Suggestionen eine innige Beziehung zu der ausgelösten Gehörstäuschung hat.
Grimme.
Äepond-Zürich (}36) bringt Belege dafür, daß die in deliriösen Zuständen
empfundenen Sinnestäuschungen von seiten des Hautgefühls vielfach auf organisch
bedingte Parästhesien zurückzuführen sind. Diese Parästhesien nehmen bei toxi¬
schen Delirien so die Aufmerksamkeit in Anspruch, daß die Patienten sich ganz
mit ihnen beschäftigen und ein wahnhafter Ausbau dieser Empfindungen nicht
veranlaßt wird. Grimme.
Redlich (133) berichtet ausführlich über einen Fall von reiner Narkolepsie.
Bei einem 19jährigen, durch die Trunksucht seines Vaters belasteten Manne treten
seit einigen Monaten mehrere Male am Tage reine Schlafanfälle auf, die sich mit
leichten Kopfschmerzen einleiten und 6—10 Minuten oder mehrere Stunden dauern
Der Kranke macht auch in den Zwischenzeiten immer einen etwas schläfrigen Ein¬
druck. Beim Lachen hatte er das Gefühl der Schwäche in den Beinen und knickte
zusammen. Zeichen der Epilepsie oder Hysterie fehlten. Die Behandlung hatte
keinen Erfolg. Über das Wesen dieser reinen Fälle kann Redlich nichts aussagen.
Grimme.
A. Pick (127) bespricht die Erscheinung, daß Amputierte gelegentlich den
amputierten Körperteil noch lange nach der Amputation in verschiedenartigster
Form fühlen, und bringt hiermit die bei psychopathischen Persönlichkeiten, bei
Nervösen und bei Geisteskranken auftretenden mannigfachen Störungen des
Körperbewußtseins in Zusammenhang. Grimme.
Pick (128) hat bei einem an Angstzui4tänden erkrankten Manne bei der Prüfung
seines motorischen Verhaltens während der Ausführung von aufgetragenen Handlun¬
gen einerseits Hemmungserscheinüngen und anderseits eine Neigung beobachtet,
durch Sinneseindrücke sich sofort zu den entsprechenden, ihm geläufigen Handlun¬
gen, wie Waschen, Abtrocknen, Anzünden von Kerzen, verleiten zu lassen. Eine
Bewußtseinstrübung lag nicht vor. Beide Erscheinungen werden zurückgeführt
auf Störungen in dem Widerspiel zwischen den Impulsen und Hemmungen, die das
geordnete Verhalten des Menschen zur Umwelt regeln. Die Hemmung ist nur eine
scheinbare. „Die Grundlage ist das Ausbleiben oder die Unwirksamkeit jener An¬
reize, die normalerweise zu einem geordneten Wechsel von Reaktionen führen, sei
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXTII. Lit. k
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Bericht über die psychiatrische Literatur 191».
138*
derselbe durch Reize aus der Umwelt oder durch Denkvorgänge bedingt.“ Um¬
gekehrt kann ein Sinneseindruck der Hemmung ein Ende machen, indem er sofort
die entsprechenden Handlungen veranlaßt. Grimme.
E. A/eyer-Königsberg (110) schließt sich den Ausführungen Raecke s über die
hysterischen und katatonischen Situationspsychosen an. Der Nachweis eines stark
affektbetonten Erlebnisses kann nicht zur Unterscheidung einer psychogenen Re¬
aktion der Psychopathen von ähnlichen Bildern der Dementia praecox dienen. Die
Differentialdiagnose muß sich vielmehr aus dem klinischen Bilde selbst ergeben.
Grimme.
Marburg (104) berichtet über 3 Fälle von oberflächlichen Schußverletzungen
des Gehinis an der linken Seite im Bereiche des Scheitelbeins. Es bestanden jedesmal
eine sensorische Sprachstörung, eine Parese der rechten oberen Extremität und eine
sensible Störung an der Radialseite der rechten Hand, die alle Qualitäten und das
stereognostische Empfindungsvermögen betraf. Von diesen Erscheinungen blieb
nach den Operationen die Störung der Sensibilität bestehen., ln einem andern Falle
fand sich bei einer Verletzung am rechten Scheitelbein eine linksseitige Hemiparese
mit Hemianästhesie und Astereognose im Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Mar¬
burg bezieht diesen Ausfall auf eine Schädigung der hinteren Zentralwindung und
des Gyrus supramarginalis, wo er ein Zentrum für kombinierte Empfindungsquali¬
täten annimmt, dessen Ausfall besonders linksseitig zu einer Tastlähmung des
Daumens, Zeige- und Mittelfingers führen soll.’ Grimme.
Tischbein (181) berichtet über einen in der Kieler Klinik beobachteten Fall
von Imbezillität mit einer ausgeprägten Ohrmißbildung und einer Gaumenspalte,
erläutert, inwieweit die kongenitale Ohrabnormität im Sinne der Degeneration zur
bestehenden Imbezillität in Beziehung zu setzen ist und zeigt, daß der Fall ein
hervorragendes Beispiel erblicher Entartung mit ausgeprägten Degenerationszeichen
darstellt. Die Mißbildung des Ohres bestand in einer Entwicklungsstörung; an Stelle
der linken Ohrmuschel fand sich nur ein kleiner Hautwulst angedeutet, der äußere
Gehörgang fehlte vollständig.
Wolff (200) versucht, zu dem vieldeutigen Charakterbild Hamlets eine neue
Erklärung zu geben. Hamlet ist von jeher ein Sonderling gewesen, ein Welt- und
Menschenverächter, der sich seine eigene Welt zurechtgelegt hat. Jetzt, da er die
ihm äußerst unangenehme Aufgabe hat, den Mord seines Vaters zu rächen, zu der
er sich bald hingetrieben, bald abgestoßen fühlt, flüchtet er erst recht in die Welt
des Scheines, er spielt Theater, wird Poseur. Bei dieser Betrachtungsweise läßt sich
nach Verf. die Handlungsweise Hamlets psychologisch erklären. — Den größten
Teil des Werkes nimmt die vom Verf. veranstaltete Neuübersetzung ein, die nach
des Verf.s Worten den Hamlet in wirklich deutscher Sprache wiedergeben soll.
Ganter.
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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik.
139 *
S. Anstaltswesen und Statistik.
Ref.: 0. Snell-Lftneburg.
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Deuticke. 118 S. 1,50 M.
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anstalt Friedrichsberg. Psych.-neurolog. Wochenschr. Nr.
43/44, S. 375 (30. Januar 1915). (S. 142*.)
Moeli (14) bringt eine Zusammenstellung und Besprechung der gesetzlichen
Vorschriften, Ministerial-Erlasse, behördlichen Verordnungen und der Recht¬
sprechung in bezug auf die Fürsorge für Geisteskranke und geistig Abnorme, ins¬
besondere in Preußen. Das sehr übersichtlich angeordnete Handbuch ist für Ärzte
und Verwaltungsbeamte bestimmt.
Im Berichtsjahre ist vom II. Band die erste Abteilung des Bresler&chen (3)
Werkes erschienen. Behandelt sind die Anstalten in Colditz, Haar, Hildesheim,
Neuruppin, Neustadt (Westpr.), Sch wetz, Sorau und Weilmünster. Die Abhand¬
lungen sind verfaßt von den Direktoren bzw. Oberärzten der Anstalten. Über das
Institut in Nocera inferiore schreibt Prof. Bianchini. Das Werk ist auch in dieser
Abteilung reich mit Abbildungen ausgestattet, es schließt sich dem Vorhergehenden
durchaus würdig an.
Morgenthaler (15) berichtet über das bernische Irrenwesen von den Anfängen
bis zur Eröffnung des Tollhauses 1749. Während über die spätere Geschichte des
Irrenwesens in Bern bereits Arbeiten vorliegen, waren die früheren Perioden noch
nicht bearbeitet. Gerade aus diesen früheren Zeiten fand sich im bemischen Staats¬
archive reiches, sowohl historisch wie kulturgeschichtlich und psychologisch inter¬
essantes Material vor. Die ersten dunkelen Spuren einer Behandlung von Geistes¬
kranken sind vielleicht in den prähistorischen trepanierten Schädeln zu suchen,
die sich im bemischen historischen Museum finden. Ein solcher bei Münsingen
gefundener Schädel aus der Latöneperiode, der deutlich die Knochennarbe am
Rande der Trepanationsöffnung zeigt, ist abgebildet. Aus historischer Zeit finden
sich die frühesten Nachrichten über Geisteskranke in der Stratlinger Chronik,
einer Sammlung von Sagen und Legenden aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.
Morgenthaler teüt dann fortlaufend alles mit, was über Geisteskranke, Hysterische,
Besessene an Nachrichten erhalten ist. Im 14. Jahrhundert beschränkte man sich
auch in Bern gewöhnlich darauf, Geisteskranke, die lästig waren, auszuweisen
oder durch Verwahrung im Gefängnis unschädlich zu machen. Daneben wurden
zuweilen Privatleute mit der Versorgung unruhiger oder gefährlicher Geistes-
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142 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
kranken betraut. Im 16. Jahrhundert wurden die Geisteskranken in die damals
zahlreich vorhandenen Spitäler eingewiesen. Die Verwahrung geschah allerdings
entweder durch Einsperren in dem „Taubhäuschen“ oder durch Anketten, Im
Jahre 1730 wurde beschlossen, im neuen großen Spital ein Tollhaus für 14 Geistes¬
kranke zu bauen. Am 1. Januar 1749 wurde der neue Bau bezogen. Er bestand
aus 12 sehr festen aber geräumigen, heizbaren, mit Aborten versehenen Zellen
und zwei großen Höfen, bildete also für die damalige Zeit ein auffallend gutes Unter¬
kommen für Geisteskranke.
Weygandt (24) veröffentlicht die Ansprache, die er am 17. November 1914
vor Ärzten und Beamten der Irrenanstalt Friedrichsberg am Tage ihres 60jährigen
Bestehens gehalten hat, und teilt außerdem in der Psychiatrisch-Neurologischen
Wochenschrift (25) die Geschichte der Anstalt noch ausführlicher mit. Schon im
Jahre 1818, bei Gründung des Hamburger Krankenhauses St. Georg, wurde der
Plan erörtert, eine besondere Anstalt für die Geisteskranken zu errichten, die da¬
mals im Pesthofe untergebracht waren, während sie bis zum 16. Jahrhundert in
der Doorhen-Kiste, einem Turm beim Katharinenfriedhofe, und dann in einem
Befestigungsturm bei dem Heiligen Geist-Spital eingesperrt waren. Nachdem vielo
Pläne gemacht und verworfen waren, wurde Ludwig Meyer 1858 Arzt der Irren¬
abteilung in St. Georg und 1860 wurde eine Kommission von sieben Mitgliedern
für den Bau einer Anstalt eingesetzt. Es wurde beschlossen, eine Anstalt mit 200
Betten für heilbare und besserungsfähige Kranke und ein Pensionat mit 40 Betten
einzurichten. Am 5. Dezember 1861 wurde der Grundstein feierlich gelegt, und
am 20. Oktober 1864 konnte die Anstalt dem Krankenhauskollegium übergeben
werden. Von den Kranken, die am 17. November 1864 als die ersten in die An¬
stalt einzogen, lebt nach 50 Jahren noch ein Selbstzahler, der an Dementia prae¬
cox leidet und nunmehr 70 Jahre alt ist. Ludwig Meyer konnte mit Stolz in dem
ersten Jahresberichte sagen: „Unsere Irrenanstalt war die erste deutsche Anstalt,
in deren Ausrüstung die Zwangsmittel keinen Platz erhalten haben.“ Schon 1866
wurde Ludwig Meyer als Professor der Psychiatrie nach Göttingen berufen. Sein
Nachfolger wurde Wilhelm Reye. Mehr als vier Jahrzehnte leitete er die Anstalt,
die sich entsprechend der Bevölkerungszunahme Hamburgs vergrößerte. Die Grün¬
dung von Langenhorn, zunächst für der landwirtschaftlichen Arbeit fähige Irre,
brachte 1888 nur geringe Entlastung. 1911 wurde der Umbau von Friedrichsberg
beschlossen, nachdem die Krankenzahl auf 1600 gestiegen war. Inzwischen hatte
1908 Weygandt die Leitung der Anstalt übernommen. Bei der Neueinrichtung der
Anstalt wurde die Pflicht wissenschaftlicher Forschung betont. Friedrichsberg
wird dementsprechend mit Laboratorien ausgestattet, die denen der größten Uni¬
versitätskliniken nichts nachgeben. Mit der Kriegszeit ergaben sich neue Aufgaben.
Ein Pavillon ist für psychisch gestörte Soldaten eingerichtet, und außerdem wurde
eine Menge Verwundeter in Friedrichsberg untergebracht, dessen neue Pavillons
nicht würdiger eingeweiht werden können.
Die Schwetzer Anstalt (17) liegt im Garten eines fiüheren Klosters, war ur¬
sprünglich Landkrankenhaus für körperlich Sieche aus der Provinz. 1867 wurde
die Anstalt, die einen Besitz von 7% ha hatte, der sich im Laufe von 40 Jahren
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Snell, Anstaltswesen und Statistik. 148*
nur um 4% ha vermehrte, mit Geisteskranken, zunächst 300, belegt. In den letzten
Jahren ist das Anstaltsgebiet mit seiner umfangreichen landwirtschaftlichen Eigen*
Wirtschaft auf 100 ha angewachsen. Zahlreiche neue Gebäude sind errichtet, so
daß z. Z. etwa 900 Kranke Unterkunft und Pflege finden; bis 60 davon sollen in
Familienpflege gegeben werden. Bettbehandlung wird, bei möglichst geringer
Verwendung von Medikamenten, ira weitesten Maße angewandt, ebenso Arbeits¬
therapie. Für Kranke der Provinz sind zu zahlen in I. Klasse 1500 M., II. Klasse
1000 M., III. Klasse 500 M. Für Auswärtige erhöhen sich die Sätze.
Vernon Briggs und Stearns (4) berichten über umfangreiche Wohlfahrts¬
maßnahmen für Geisteskranke und Minderwertige im Staate Massachusetts. Es
ist vom State Board for Insanity dieses Staates eine Richtlinie aufgestellt worden,
nach der nicht nur die poliklinische Untersuchung von Krankheitsverdächtigen
erfolgen soll, um Kranke rechtzeitig Anstalten zuzuführen, sondern cs soll auch
jegliche Fürsorge auf diejenigen ausgedehnt werden, die in der bürgerlichen Ge¬
sellschaft verbleiben können oder in diese zurückkehren. Beaufsichtigung Debiler,
Beratung Angehöriger sollen intensiv gepflegt, daneben soziale Probleme wie Geistrs-
hygiene, Alkohol- und Syphilisprophylaxe, eugenische Reformen ihrer Vollendung
entgegengebracht werden. Träger der Institutionen sind der Hauptsache nach
die Staatsanstalten für Geisteskranke. Diese eröffnen oder erweitern ihre Poli¬
kliniken, errichten an entfernteren Orten Stationen unter psychiatrisch ausgebil¬
deten Ärzten. Geeignete Persönlichkeiten, Verwaltungs-, Gemeinde- und Schul¬
behörden, Wohltätigkeitsvereine sind die Organe zur Beantragung von Unter¬
suchungen, Beobachtungen und Behandlung. Schon nach ganz kurzer Zeit war
die Organisation in Betrieb. Das Ergebnis der poliklinischen Untersuchungen
entsprach nach dreimonatlicher Inangriffnahme und auf das Jahr berechnet schon
72% der jährlichen Zulassungen zur Anstaltsaufnahme. Die Personenzahl der in
Familienpflege Aufgenommenen betrug bis 1. April 1915 = 243. Anfänge, die der
bedeutenden Aufgabe eine segensreiche Zukunft versprechen.
Von dem Bewahrungshause in Hördt (Eis.) und über die Bedeutung der
Bewahrhäuser gibt Haberkant (10) eine bemerkenswerte Abhandlung in engerem
Rahmen. Verf. geht von der heute herrschenden Anschauung aus, daß für jede
Anstalt im allgemeinen eine gesicherte Abteilung genügt, aber voihanden sein
muß, da der an sich freien Behandlung gewisse Grenzen gezogen sind. Die Be¬
wahrungshäuser können einen größeren Wirkungsradius haben, um so mehr, wenn
man sich Aschaffenburgs Anschauungen anschließt, daß erst auf 50 000 Einwohner
ein gefährlicher Kranker kommt; und so wird yrst für jede Provinz bzw. jedes
Land, je nach Größe, mit einem oder wenigen Bewahrhäusern, und zwar bei einer
Belegungsziffer von 50—60 Krankenplätzen für das Haus, gerechnet werden müssen.
Im Elsaß ist nach diesem Gesichtspunkt verfahren. Das Haus in Hördt ist 1912
errichtet und sowohl in bezug auf Anlage und äußere Form, als auch auf innere
Gliederung dürfte die Bauaufgabe glücklich gelöst sein. Hervorzuheben ist die
Abschrägung der Ecken in den Krankenräumen (nach Muster von Neustadt i. Hol¬
stein) und die praktische Anlage der Türen und Fenster, die ein eigenmächtiges
öffnen nach Möglichkeit verhindert, wie die Sicherheitsvorkehiungen übeihaupt
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144*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
vorzüglich zu sein scheinen. Besonders geeignet dürften die auf Hdberkanis An¬
regung von der Firma Maquet in Heidelberg gelieferten Bettstellen sein, bei denen
jede gefahrbringende Benutzung von Teilen ausgeschlossen ist. Betrieb und War¬
tungsdienst (1 Wärter auf 3 Kranke) sind den Anforderungen angepaßt, Alarm-
und Kontrollvorkehrungen reichlich vorhanden; für Beschäftigung der Kranken,
für Anregung und Erholung ist auf das beste vorgesorgt. Nicht nur kriminelle,
sondern auch unbescholtene Gefährliche werden in Hördt aufgenommen. Ver¬
pflegungssätze 3 M. pro Kr. Baukosten 176 000 M. Innere Einrichtung 4000 M.
Herbert Schnitzer (21) behandelt erschöpfend das Thema der Schwererzieh¬
baren mit krankhafter Beschaffenheit. Seine Forderungen werden in Fachkreisen
durchaus Beifall finden. Er faßt sie kurz dahin zusammen, daß er sagt: Sonder¬
anstalten für Schwererziehbare mit krankhafter Beschaffenheit sind notwendig,
und zwar nur solche für Schulentlassene. Bei der Anlage und inneren Organisation
müssen auch psychiatrische Grundsätze beachtet werden. Ebenso soll der Psych¬
iater teilhaben an der Leitung. Auch für Schwererziehbare ist der Wiedereintritt
in die volle Freiheit anzustreben, und zwar letzten Endes auf dem Wege der Fa¬
milienerziehung. Die Sonderanstalt darf den Charakter einer Krankenanstalt,
trotz disziplinärer erzieherischer Grundsätze, nicht verlieren. Für den besonderen
Zweck geeignetes Erziehungspersonal muß vorhanden sein bzw. herangebildet
werden. Auf die äußere Sicherstellung solcher Kräfte ist ohne Ansehung der
Kosten Bedacht zu nehmen.
Nach Berg (1) bedarf das weibliche Krankenpflegewesen, das in der Zeit des
Krieges seine Unentbehrlichkeit bewiesen hat, einer gründlichen Reorganisierung.
Dazu gibt B. bemerkenswerte Anregungen und appelliert an die Ärzteschaft, die
am ehesten dazu berufen sei, sich der brennenden Schwesternfrage anzunehmen
und an der richtigen Stelle auf die vorhandenen Mängel in ihrem eigenen Inter¬
esse hinzuweisen. Dafür stellt er folgende Forderungen in den Vordergrund: Ein¬
stellung nur ganz gesunder kräftiger Personen mit hinreichender Vorbildung. Strenge
Sichtung bei der Annahme. — Mindestens zweijährige, möglichst dreijährige Aus¬
bildungszeit. — Ausschließlich Anstellung von staatlich geprüftem Pflegepersonal
an öffentlichen Anstalten. — Einheitliche Regelung der Arbeitseinteilung mit
der Möglichkeit, die Mahlzeiten und Ruhepausen regelmäßig einzuhalten. Eine
Arbeitszeit von 10 bis höchstens 11 Stunden einschließlich Schülerinnen-Unter-
richt und Nachtwache. Getrenntes Pflegepersonal für Tag- und Nachtdienst. Mög¬
lichst Einführung des Dreischichtensystems mit neunstündiger Arbeitszeit. — Ab¬
schaffung der Verpflichtung zu groben niederen Arbeiten, die nicht unbedingt mit
der Krankenpflege verbunden sind und ebensogut oder besser von niederem Dienst¬
personal geleistet werden können. — Möglichst weitgehende Sonntagsruhe. Jähr¬
licher Urlaubsanspruch von mindestens vier Wochen mit angemessener Kostent¬
schädigung. — Ausreichende staatliche Unfallfürsorge. — Eine möglichst auf ge¬
setzlichem Wege geregelte ausreichende Altersversorgung und Sicherstellung für
den Fall der Invalidität, auf welche sofort nach Dienstantritt Anspruch erhoben
werden kann. — Eine der gefahrvollen, an Nerven und Kräfte die höchsten An¬
forderungenstellenden Tätigkeit entsprechende Barentschädigung. — Entsprechende
Fürsorge für die im privaten Dienst stehenden selbständigen Krankenpflegerinnen.
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Sn eil, Anstaltswesen and Statistik.
145*
Berg (2) gibt eine öbersichtliche und erschöpfende Darstellung der „Lebens¬
und Arbeitsverhältnisse der deutschen Krankenschwestern' 1 und weist darin ein¬
dringlich auf die Lücken hin, die noch bezüglich der Ansprüche an die Vorbildung
und an die berufliche Ausbildung der Schwestern und hinsichtlich einer verständi¬
gen einheitlichen Arbeitseinteilung auszufüllen sind. Insonderheit aber gibt er
Anregungen zur Verbesserung ihrer Existenzbedingungen und fordert ausreichende
staatliche Unfallfürsorge und eine möglichst auf gesetzlichem Wege geregelte hin¬
reichende Altersversorgung und Sicherstellung für den Fall der Invalidität. Im
Interesse des Standesansehens tritt er für den Gedanken ein, den Titel „Schwester“,
abgesehen von der Zugehörigkeit zu einem staatlich anerkannten Schwestem-
verband, abhängig zu machen von der Erlangung einer an die Ableistung einer
staatlichen Prüfung gebundenen Konzession, welche allein die Berchtigung gibt,
bestimmte gesetzlich zu schützende Schwesterntrachten und Berufsabzeichen an¬
zulegen, die von vornherein jeden Zweifel ausschließen. Einer eingehenden Wür-
<tigung unterzieht B. auch die Aufgaben und Leistungen der in sozialer Arbeit
auf dem Gebiete der sogenannten „freiwilligen“ Krankenpflege tätigen Frau und
rollt von neuem die Frage eines „Frauendienstjahres“ oder einer „Kriegsdienst¬
pflicht der Frau“ in der Kranken- und Gemeindepflege unter Mitwirkung des Staates
auf, deren gesetzmäßige Durchführung etwa unter entsprechendem Ausbau der
bereits vorhandenen Organisationen der freiwilligen Krankenpflege nicht nur von
weittragender Bedeutung sei für die Vorbereitung der Kriegshilfstätigkeit, sondern
in ihrer Wirkung auch eine wertvolle Bereicherung für den Frieden im Erwerbs¬
leben sowohl wie innerhalb der Familie bedeute.
Über Sicherheits- und Desinfektionsmaßnahmen in stark besetzten Seuchen¬
abteilungen gibt Schmidt (19) hygienische Winke. Verf. geht davon aus, daß be¬
stimmte Kranke ihre Umgebung in viel höherem Maße gefährden als andere; es
sind solche, bei denen eine Massenausscheidung von Bazillen stattflndet; da ist
das Verspritzen diarrhoischer Stühle eine stete Quelle hochgradiger Ansteckungs¬
gefahr. Tröpfcheninfektion bei typhöser Angina, Übertragung durch Erbrochenes,
besonders galliges, zieht Schmidt in das Bereich seiner Betrachtungen, die Fliegen¬
gefahr am Krankenbett erwähnt er, und er empfiehlt, nicht nur dem Wart- und
Pflegepersonal peinlichste Sorgfalt und Reinlichkeit einzuprägen, sondern auch
Patienten mit gravierender Ansteckungsgefahr besonders kenntlich zu machen,
etwa durch Anbringung eines Vermerks oder farbigen Striches auf der Bettafel,
ferner bakteriologische Untersuchung auf die Desinfektionswirkung des öfteren
vorzunehmen.
Dees (7) veröffentlicht Schriftsätze, die in Hinsicht auf Typhusprophylaxe
gewechselt waren. Es handelt sich um rasch zu schaffende Vorkehrungen zum Aus¬
kochen der Eß- und Trinkgeschirre in infizierten Abteilungen in Gabersee. Prof.
Gruber vom Hygienischen Institut in München äußert sich gutachtlich über die
Zweckmäßigkeit der Einschaltung doppelwandiger Kochkessel in die vorhandene
Zentralwarmwasserleitung bzw. Heizleitung, wodurch eine für die Desinfektion
ausreichende Temperatur, 75—80 # , wohl erreicht werde. Die Einrichtung wurde
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146*
Bericht über die psychiatrische Literatur HUT».
ausgeführt. Sie ist zwar nur Notbehelf, entspricht aber ihrem Zweck. Dees empfiehlt,,
bei Neubauten und Neuanlagen auf die Erfüllung strengster Anforderungen der
Hygiene auch in dieser Beziehung Bedacht zu nehmen.
II. Anstaltsberichte.
1. Alsterdorfer Anstalten in Hamburg-Alsterdorf. Bericht für
1914/15. Dir.: Oberarzt Dr. Palmer. (S. 176*. )
2. Badische Irrenanstalten. Berichte der Psychiatr. Klinik der Uni¬
versität Heidelberg, der Psychiatrischen Klinik Freiburg i.Br.,
der Heil- und Pflegeanstalten Illenau, Pforzheim, Emmen¬
dingen, Wiesloch und Konstanz. Mitgeteilt vom Großherzogi.
Badischen Ministerium des Innern. 1913 u. 1914. (S. 165*. i
3. Bayreuth. Oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1914. Dir.: Dr. Hock. (S. 172*.)
4. Bergmannsvvohl. Unfall-Nervenheilanstalt der Knappsehafts-
B.-G. Schkeuditz (Bez. Halle a. S.). Bericht für 1914. Chef¬
arzt: Prof. Dr. Quensel. (S. 155*. )
5. Berlin. Bericht der Deputation für die Städtische Irrenpflege.
Berichte über die Anstalten Dalldorf, Herzberge, Buch und
Wuhlgarten. Etatsjahr 1914. (S. 151*.)
6. Breslau. Städtische Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke.
Bericht für 1914. Primärarzt : San.-Hat Dr. Hahn. (S. 153*. ►
7. Burghölzli. Züricher Kantonale Irrenheilanstalt. Bericht für
1914. Dir.: Prof. Dr. Bleuler. (S. 176*.)
S. Cery (Lausanne). Asile. Rapport pour 1914. Dir: Dr. Mahaim.
(S. 180*.)
9. (’onradstein. Westpreußische Provinzial-Heil- und Pflege¬
anstalt. Bericht für 1914. Dir. : Dr. Braune. (S. 151*.)
10. Dannemora (N. Y.). State Hospital. Report of the Med. Super¬
intendent. 1914. (S. 181*.)
11. Eglfing. Oberbayer. Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1914.
K. Dir.: Med.-Rat Dr. Vocke. (S. 169*.)
12. Eichberg i. Rheingau. Landesheil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1914. Dir.: Dr. Wachsmuth. (S. 162*.)
13. Ellen (Bremen), St. Jürgenasyl für Geistes- und Nervenkranke.
Bericht für 1914. Dir.: Dr. Delbrück. (S. 174*.)
14. Ellikon a. d. Thur. Trinkerheilstätte. Bericht für 1914. (S. 179*.)
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Sn eil, Anstal tswesen und Statistik.
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lö. Gabersee. Oberbayer. Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1914.
Dir.: Kgl. Med.-Rat Dr. Dees. (S. 171*.)
16. Gehlsheim. Großherzogi. Mecklenburgische Irren-Heil- und
Pflegeanstalt. Bericht für 1914. Dir.: Dr. Bumke. (S. 163*.)
17. Göttingen. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1914/15. Dir.: Prof. Dr. SchuUze. (S. 158*.)
18. Haar. b. München. Oberbayer. Heil-und Pflegeanstalt. Bericht
für 1914. Dir.: Dr. Blachian. (S. 170*.)
19. Hamburg. Jahresbericht des Krankenhauskollegiums für das
Jahr 1914 (S. 176*.) Berichte der Irrenanstalten Friedrichs¬
berg, Dir. : Prof. Dr. Weygandt (S. 176*. ); Langenhorn, Dir. :
Prof. Dr. Neuberger (S. 176*).
20. Herborn. Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1914.
Dir.: San.-Rat Dr. R. Snell. (S. 162*.) ,
21. Hessen (Großherzogt.). Hilfsverein für die Geisteskranken in
Hessen. Bericht für 1914. (S. 165*.)
22. Hildesheim. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1914/15. Dir.: San.-Rat Dr. Schröder. (S. 157*.)
23. Hördt. Bericht der Gemeinsamen Irrenanstalt. 1914/15. Dir.:
Dr. Haberkant. (S. 174*.)
24. Homburg (Pfalz). Pfälzische Heil- und Pflcgeanstalt. Bericht
für 1914. Dir.: Dr. Holterbach. (S. 171*.)
25. Königsfelden (Aargau). Kantonale Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1914. Dir. : Dr. Frölich. (S. 177*.)
26. Kreuzburg (Schlesien). Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1914. Dir.: Dr. Linke. (S. 154*.)
27. Kutzenberg. Oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1914. Dir.: Dr. Oetter. (S. 173*.)
28. Langenhagen. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1914. Dir.: San.-Rat Dr. Mönkemöller. (S. 159*.)
29. Lewenberg, Kinderheim zu Schwerin. Großherzog!. Heil- i nd
Pflegeanstat für geistesschwache Kinder. Bericht für 1914/15.
Dir.: Dr. Rust. (S. 164*.)
30. Leubus. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1914.
Dir.: San.-Rat Dr. Hinter. (S. 154*.)
31. Lindenhaus bei Lemgo. Fürstl. Lippische Heil- und Pflege¬
anstalt. Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr.,4 Her. (S. 173*.)
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Original from
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148*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
32. Lüben i. Schles. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1914. Dir.: Dr. Schubert. (S. 155*.)
33. Lüneburg. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1914/15. Dir.: San.-Rat Dr. 0. SneU. (S. 158*.)
34. Mariaberg, O.-A. Reutlingen, Württemberg. Heil- und Pflege¬
anstalt für Schwachsinnige. Bericht für 1914/15. Anstalt>-
arzt: Med.-Rat Dr. Burkarth. (S. 165*.) I
35. Münsterlingen. Thurgauische Irrenanstalt. Bericht für 1914
Dir.: Dr. Wille. (S. 178*.)
36. Neustadt. Westpreußische Provinzial-Heil- und Pflegeanstah.
Bericht für 1914. Dir.: San.-Rat Dr. Rdbbas. (S. 150*.)
37. Neustadt i. Holstein. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Be¬
richt für 1914/15. Dir.: San.-Rat Dr. Dabeistein. (S. 159*.
38. Niedernhart in Linz. Oberösterreichische Landesirrenanstak
Bericht für 1914. Dir.: Dr. Schnopfhagen. (S. 180*.)
39. Osnabrück. Provinzial-Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1911
Dir.: San.-Rat Dr. Schneider. (S. 158*.)
40. Ostpreußen, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Allenberg.
Kortau und Tapiau. Bericht für 1914. (S. 150*.)
41. Rheinprovinz. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege¬
anstalten Andernach, Bedburg-Hau, Bonn, Düren, Galk-
hausen, Grafenberg, Johannistal, Merzig und Brauweiler.
1914/15. (S. 160*.)
42. Rockwinkel bei Bremen. Sanatorium für Nerven- und Gemüts¬
kranke. Bericht für 1914. Dr. med. W. Benning. (S. 175*.»
43. Roda, Genesungshaus. Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr.
Schäfer. (S. 164*.)
44. Roda, Herzogi. Sachs. Martinshaus, Erziehungsanstalt für
geistesschwache Knaben und Mädchen von 6—16 Jahren.
Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr. Schäfer. (S. 165*.)
45. Rosegg, Heil- und Pflegeanstalt im Kanton Solothurn. Bericht
für 1914. Dir.: Dr. Greppin. (S. 178*.)
46. Sachsenberg bei Schwerin i. M. Großherzogi. Mecklenburgische
Irrenanstalt. Bericht für 1914. Dir.: Obermedizinalrat Dr.
Matusch. (S. 164*.)
47. Schleswig (Stadtfeld). Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Be¬
richt für 1914/15. Dir.: Dr. Kirchhoff. (S. 160*.)
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149*
48. Schwetz a. d. Weichsel. Westpreußische Provinzial-Heil- und
Pflegeanstalt. Bericht für 1914. Dir.: San.-Rat Dr. Schauen .
(S. 150*.)
49. Sonnenhalde bei Riehen (Basel). Evangelische Heilanstalt für
weibliche Gemütskranke. Bericht für 1914/15. (S. 180*.)
50. Stephansfeld. Bezirksheilanstalt. Bericht für 1914/15. Dir.:
Dr. Ransohoff. (S. 174*.)
51. St. Pirminsberg (St. Gallen). Heil- und Pflegeanstalt. Be¬
richt für 1914. Dir.: Dr. Haeberlin. (S. 179*.)
52. Strecknitz (Lübeck). Krankenanstalt des Lübeckischen Staates
für Nervöse und Geisteskranke. Bericht für 1914/15. Dir.:
Dr. Wattenberg. (S. 175*.)
53. Ungarn. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1914. Berichte über
die Anstalten Lipotmezö, Angyalföld, Nagyszeben und
Nagykällö. Veröffentlicht vom Königl. Ungarischen Ministe¬
rium des Innern. (S. 181*.)
54. Waldau, Münsingen, Bellelay. Bernische kantonale Irren¬
anstalten. Berichte für 1914. (S. 177*. 178*.)
55. Waldhau8 (Chur). Kantonale Irren- und Krankenanstalt. Be¬
richt für 1914. Dir.: Dr. Järger. (S. 180*.)
56. Wehnen. Großherzogi. Oldenburgische Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr. Brümmer (S, 163*.)
57. Werneck. Unterfränkische Heil-und Pflegeanstaft. Bericht für
1914. Dir.: Med.-Rat Dr. Kauffmann. (S. 171*.)
58. Wernigerode-Hasserode. „Zum Guten Hirten,“ Erziehungs¬
haus für schwach- und blödsinnige Mädchen. Bericht für
1914/15. (S. 173*.)
59. Weilmünster. Landes-Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1914.
Dir.: San.-Rat Dr. Lantzius-Benninga. (S. 163*.)
60. Westfalen. Berichte über die Westfälischen Anstalten für
Geisteskranke und Idioten zu Marsberg, Lengench, Münster,
Aplerbeck, Warstein, Gütersloh, Eickelborn und St. Jo¬
hannisstift zu Nieder-Marsberg. 1914. (S. 156*.)
61. Wil (St. Gallen). Kantonales Asyl. Bericht für 1914. Dir.:
Dr. Schüler. (S. 179*.)
62. „Woltersdorfer Schleuse“, Kurhaus. Neunter Jahresbericht.
1914. Leit. Arzt: Dr. Grabley. (S. 153*.)
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150*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
Der Bericht der Anstalten Allenberg, Kortau, Tap iau (40) beschränkt
sich infolge der Kriegswirren auf allgemeineAngaben. Der Gesundheitszustand
war im allgemeinen gut. In Kortau waren bis zum Jahresschluß 26 geisteskranke
Soldaten aufgenommen. Tapiau hat, wie bekannt, schwer gelitten. Die größere
Anzahl der Kranken konnte rechtzeitig abgeführt werden, von den Zurückgebliebe¬
nen wurden durch einschlagende Granaten 10 w. Patienten getötet, 25 zum Teil
schwer verwundet.
Schwetz a.W.(48): Anfangsbestand 858(464 M. 394 Fr.). Zugang 198 (130
M. 68 Fr.). Abgang 175 (104 M. 71 Fr.). Bleibt Bestand 881 (490 M. 391 Fr.),
davon in Familienpflege 60. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 142
(81 M. 61 Fr.), paralytischer Seelenstörung 18 (17 M. 1 Fr.), Seelenstörung mit
Epilepsie 13 (9 M. 4 Fr.), mit Hysterie 1 Fr., Alkoholismus 7 M., Imbezillität 7
(6 M; 1 Fr.), Idiotie 2 Fr. Zur Beobachtung gerichtsseitig zugewiesen 5 (4 M. 1 Fr.),
auf Antrag der Landesversicherungsanstalt 3 M.; aus der Beobachtung abgegeben
8(5M. 3 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 25 M. lFr. Krankheits¬
dauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 79 (62 M. 17 Fr.), über 1—6 Monate 27
(12 M. 15 Fr.), 6—12 Monate 10 (8 M. 2 Fr.), 1—2 Jahre 10 (4 M. 6 Fr.), 2—5 Jahre
26 (13 M. 13 Fr.), 5—10 Jahre 7 (1 M. 6 Fr.), Dauer unbestimmt bei 32 (25 M.
7 Fr.), von Jugend auf bei 3 M. Familienanlage nach dem Schema des Kgl. Preuß.
Stat. Landesamtes bei 19 M. 5 Fr. Sonstige Krankheitsursachen u. a. Kopfver¬
letzung bei 12, Alkoholismus 21, Lues 15, Mobilmachung28, Gemütserschütterung
11, Gram 3. überhaupt ursächliche Einwirkungen festgestellt bei 138 (96 M. 42 Fr.).
Entlassen geheilt 14 (13 M. 1 Fr.), gebessert 56 (38 M. 18 Fr.), ungeheilt 19 (9 M.
10 Fr.), in andere Anstalten verlegt 5 (4 M. 1 Fr.). Gestorben 71, davon an Hirn-
'fehmung 10, Lungentuberkulose 7, Lungenentündung 7, Herzleiden 8, Paralyse 2 ,
ErsWJfWMBfL 16, Altersschwäche 8, geh. kl. Anfälle 2. — Gesamtausgabe:
496 136,59 M. *
Neustadt i. Westpr. (36): Anfangsbestand 645 (318 M. 327 Fr.). Zugang
264 (136 M. 128 Fr.). Abgang 176 (89 M. 87 Fr.). Bleibt Bestand 733 (365 M.
368 Fr.), davon in Familienpflege 25. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung
197 (92 M. 105 Fr.), paralytischer Seelcnstörung 25 (20 M. 6 Fr.), Epilepsie, Hv-
steroepilepsie 9 (4 M. 5 Fr.), Imbezillität, Idiotie 16 (6 M. 10 Fr.), Alkoholismus 13
(UM. 2 Fr.). Nicht geisteskrank 5 (4 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor der Auf¬
nahme bis 1 Monat bei 92, 2 Monate 24, 6 Monate 28,1 Jahr 34, 2 Jahre 81. Krank¬
heitsursachen: psychische Ursachen (auch infolge derKriegsereignis.se) bei 26 M.,
16 Fr., körperliche Erkrankung 1 M. 4 Fr., Wochenbett, Schwangerschaft 6 Fr.,
Syphilis 7 M. 1 Fr., Trunksucht 12 M. 1 Fr., Unfall 2 M., Kopfverletzung 6 M.
Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 39; davon vor der Erkrankung 14 M.
8 Fr., nachher 15 M. 2 Fr. Erbliche Belastung der Aufgenommenen bei 64 (28 M.
36 Fr.), davon Alkoholkranke 5 (4 M. 1 Fr.). Familienanlage bei 73, zu Trunksucht
18. Entlassen 109 P., davon geheilt 52 M. 57 Fr. = 34,9 %, gebessert 20 M. 22 Fr. =
38,5 % ungeheilt 13 M. 9 Fr. = 20,2 %. Nicht geisteskrank 6 M. 1 Fr. Gestorben
67 (37 M. 30 Fr.) (= 7,4 % aller Veipflegten, 81 % M. 6,6 % Fr.), davon an Him-
lähmung 11, gehäuften Krampfanfällen 6, Herzkrankheiten 16, Lungcnentzün-
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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik.
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<lung 7, Tuberkulose 8, Erschöpfung und Altersschwäche 6, Typhus 1. — Gesamt¬
ausgabe: 469 707,63 M.
Conradstein (9): Anfangsbestand 1376 (739 M. 637 Fr.). Zugang 223
<119 M. 104 Fr.). Abgang 229 (126 M. 103 Fr.). Bleibt Bestand 1370 (732 M.
(»38 Fr.), hiervon in Familienpflege 121 P. Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬
störung 169 (75 M. 94 Fr.), paralytischer Seelenstörung 13 (11 M. 2 Fr.), Seelen-
•störung mit Epilepsie 11 (8 M. 3 Fr.), angeborene Geistesschwäche 7 (2 M. 5 Fr.),
Alkoholismus 16 M. Zur Beobachtung aufgenommen 7 M., abgegeben 6 M. Krank¬
heitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 79 = 35,43 %, bis 2 Monate 21 =
9,48 %, 3 Monate 12 = 5,38 %, 6 Monate 17 = 7,62 %, bis zu 1 Jahr bei 24 =
10,76 %, 2 und mehr Jahre 70 = 31,39 %. Als Krankheitsursachen angegeben
Altersvorgänge bei 1 M: 19 Fr., psychische Ursachen 12 M. 20 Fr., Epilepsie 8 M.
4 Fr., Unfall, Kopfverletzung 3 M. 1 Fr., Haft 1 M., Typhus, Hirnhautentzündung
1 M. 3 Fr., Arteriosklerose, Schlaganfall 1 M. 3 Fr., Basedowkrankheit, Kleinhim-
tumor je 1 Fr., Nervenkrankheiten 2 Fr., Vitium cordis 1 Fr., Wochenbett, Geburt,
Menstruationskrankheiten usw. 7 Fr., Sonnenstich 2 Fr., Dienst in der Fremden¬
legion 1 M., Syphilis 10 M. 3 Fr.. Trunksucht 20 M. 2 Fr. Mit dem Strafgesetz
in Konflikt 37 (30 M. 7 Fr.). Erblich belastet 55 (25 M. 30 Fr.), davon Alkohol¬
kranke 6, Veranlagung Familienangehöriger zu Trunksucht bei 17 P. Entlassen
geheilt 24 (17 M. 7 Fr.), gebessert 73 (45 M. 28 Fr.), ungeheilt 11 (5 M. 6 Fr.). Ge¬
storben 114 (62 M. 62 Fr.), davon an Infektionskrankheiten 4, Ernährungsstörun¬
gen 8. Krankheiten des Nervensystems 16, der Atmungsorgane 43, des Gefä߬
systems 21, an Darm- und Leberkrankheiten 17, Krebs 5. — Die epidemischen
Typhuserkrankungen (i. Vorj. 64 Fälle) erreichten ihr Ende mit 1 Fall im April
des Berichtsjahres. 3 neue Fälle. Zu den 14 Bazillenträgern des Vorjahres kamen
hinzu von den Neuaufnahmen 2 (1 M. 1 Fr.), alsdann 1 Pflegerin und 3 weibl. P.
aus Tapiau. Die Untersuchung nach Bazillenträgern ist ununterbrochen vorgenom-
men. 12 Ruhrerkrankungen mußten dem Kreisarzt gemeldet werden. Vorüber¬
gehend waren gelegentlich des Russeneinfalles im August 770 Kranke, 165 Ärzte
und Beamte und 220 Familienangehörige der Anstalt in Tapiau, insgesamt 1155
Personen, in Conradstein untergebracht. — Gesamtausgabe: 843 333,22 M.
Nach dem Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin (5) hatte die
städtische Irrenpflege im Etatsjahr einen Gesamtanfangsbestand von 8328
(4373 m. 3955 w.) Pat., einen Gesamtschlußbestand von 8051 (4159 m. 3892 w.)
Pat., bei einer um 210 P. geringeren täglichen Durchschnittszahl als im Vorjahre.
Im einzelnen ist zu entnehmen für:
Dalldorf: Anfangsbestand 2884 (1440 m. 1444 w.). Zugang 856 (497 iu.
359 w.). Abgang 1013 (605 m. 408 w.). Bleibt Bestand 2727 (1332 m. 1395 w.).
Davon in der Hauptanstalt 1202 (678 m. 524 w.), in der Idiotenanstalt 179 (114 m.
65 w.), in Privatanstalten 984 (345 m. 639 w.), in Familienpflege 362 (195 m. 167 w.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 362 (132 m. 230 w.), paralytischer
Seelenstörung 122 (91 m. 31 w.), Seelenstörung mit Epileps-ie 30 (16 m. 14 w.),
mit Epilepsie und Hysterie 14(5 m. 9w.), Idiotie, Imbezi.lität 161 (87 m. 64 w.),
chronischem Alkoholismus 151 (144 m. 7 w.), Morphiumsucht 3 (2 m. 1 w.). Zur
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1916.
Beobachtung überwiesen 23 (20 m. 3 w.), wieder abgegeben 23 (19 m. 4 w.). Mit
dem Strafgesetz in Konflikt 98 (84 m. 14 w.); gewohnheitsmäßiger Alkoholmiß'
brauch bei 151 (144 m. 7 w.). Entlassen geheilt, gebessert 488 (294m. 194 w.),unge¬
teilt 144 (96 m. 48 w.). Gestorben 358 (196 m. 162 w.), davon an Altersschwäche
4 (2 m. 2 w.), Herzkrankheiten 156 (86 m. 70 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem
Anfall 61 (31 m. 30 w.), infolge Epilepsie 3 (2 m. 1 w.), Tuberkulose 11 m.; Selbst¬
mord 1 w.
H e rzberge: Anfangsbestand 1672 (899 m. 773 w.). Zugang 1423 (1098 m.
325 w.). Abgang 1451 (1104 m. 347 w.). Bleibt Bestand 1666 (893 m. 773 w.),
davon in der Hauptanstalt 1241 (731 m. 510 w.), in Privatanstalten 289 (77 m.
212 w.), in Familienpflege 136 (85 m. 51 w.). Vom Zugang litten an einfacher Seelen-
Störung 1088 (848 m. 240 w.), paralytischer Seelenstörung 165 (118 m. 37 w.),
Seelenstörung mit Epilepsie 84 (58 m. 26 w.), mit Epilepsie und Hysterie 3 (2 m.
1 w.), Idiotie, Imbezillität 63 (45 m. 18 w.). Zur Beobachtung aufgenommen 30
(27 m. 3 w.), abgegeben 38 (36 m. 2 w.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt 679
(648 m. 31 w.); gewohnheitsmäßiger Alkoholmißbrauch bei 636 (619 m. 16 w.)-
Entlassen geheilt, gebessert 872 (770 m. 102 w.), ungeheilt 218 (101 m. 117 w.).
Gestorben 281 (174 m. 107 w.), davon an Altersschwäche 32 (3 m. 29 w.), Herz¬
krankheiten 136 (122 m. 14 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem Anfall 26 (17 m.
9 w.), Tuberkulose 13 (8 m. 6 w.).
Buch: Anfangsbestand 2337 (1176 m. 1161 w.). Zugang 867 (590 m. 277 w.).
Abgang 920 (643 m. 286 w.). Bleibt Bestand 2275 (1123 m. 1162 w.), davon in
der Hauptanstalt 1782 (936 m. 846 w.), in Privatanstalten 343 (126 m. 217 w.),
in Familienpflege 150 (61 m. 89 w.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung
336 (143 m. 193 w.), paralytischer Seelenstörung 141 (108 m. 33 w.), Seelenstörung
mit Epilepsie 37 (2 m. 15 w.), Idiotie Imbezillität 106(76 m. SO w.), 106 an chro¬
nischem Alkoholismus 227 (224 m. 3 w.). Zur Beobachtung aufgenommen 20 (17 m.
3 w.), abgegeben 20 (17 m. 3 w.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt 366 (351 m.
15 w.); gewohnheitsmäßiger Alkoholmißbrauch bei 240 (233 m. 7 w.). Entlassen
geheilt, gebessert 453 (361 m. 92 w.), ungeheilt 78 (50 m. 28 w.). Gestorben 378
(216 m. 163 w.), davon an Altersschwäche 24 (11 in. 13 w.), Herzkrankheiten 167
80 m. 87 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem Anfall 79 (61 m. 18 w.), infolge
Epilepsie 6 (4 m. 2 w.), Tuberkulose 23 (4 m. 19 w.), Selbstmord 2 Fr.
Wuhlgarten: Anfangsbestand 1435 (858 m. 577 w.). Zugang 467 (370 m.
97 w.). Abgang 519 (417 m. 102 w.). Bleibt Bestand 1383 (811 m. 572 w.), davon
in der Hauptanstalt 1280 (736 m. 544 w.), in Privatanstalten 95 (67 ra. 28 w.) T
Familienpflege 8 M. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 3 m., Seelen-
.störung mit Epilepsie 402 (317 m. 85 w.), mit Epilepsie und Hysterie 37 (33 m.
4 w.), Idiotie, Imbezillität 5 (2 m. 3 w.), chron. Alkoholismus 10 (8 m. 2 w.). Be¬
straft sind von den Aufgenommenen 227 M. = 67% v. H., davon mit Arbeitshaus
13 = 6% v. H., mit Haft 32 = 14*/ g v. H., mit Gefängnis 166 = 73’/g v. H., mit
Zuchthaus 16 = 7 v. H., ferner 1 Fr. mit Haft = */$ v. H., der öffentlichen Pro¬
stitution ergeben 2 Fr. Gewohnheitsmäßiger Alkoholmißbrauch bei 238 M. Erb¬
liche Belastung der an Epilepsie, Hysterie und Hystero-Epilepsie Leidenden durch
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Snell, Anstaltswesen und Statistik.
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Trunksucht der Eltern nachweisbar bei 106 M. = 31*/* v. H., 13 Fr. = 16% v. H.
2 Kn. = 13 1 /* v. H., 2 Md. = 22% v. H.; Familienanlage (gleichzeitig erkrankte
Geschwister) bei 36 M. = 10% v. H., 13 Fr. = 16% v. H., 2 Kn. = 13 1 /* v. H.,
1 Md. = ll 1 /» v. H. Erbliche Belastung überhaupt bei 195 M. = 58% v. H., 27 Fr.
— 33*/, v. H., 4 Kn. = 26*/» v. H., 3 Md. = 33 1 /* v. H. — Entlassen geheilt, ge¬
bessert 399 (333 m. 66 w.), ungeheilt 57 (45 m. 12 w.). Gestorben 63 (39 m. 24 w.),
davon an Epilepsie 10 (9 m. 1 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem Anfall 7 (5 m.
2 w.), Herzkrankheiten 4 Fr., Tuberkulose 6 (4 m. 2 w.). — Gesamtausgabe:
7 629 370,71 M. ausschließlich Idiotenanstalt, davon Kriegsausgaben 91140,31 M.
„Woltersdorfer Schleuse“ b. Berlin (62): Anfangsbestand 19 (10 m,
9 w.). Zugang 467 (241 m. 226 w.) = 486 P. mit 17 635 Verpflegungstagen = 36
Verpflegungstage pro Kopf. Von den Patienten litten an funktionellen Neurosen
153, organischen Nervenleiden 20, Intoxikationen (Alk., Morph.) 13, Neuralgien,
Neuritiden 9; im übrigen Stoffwechsel- und Konstitutionskrankheiten (101),
Herz- und Gefäßkrankheiten (103), Krankheiten der Atmungsorgane, der Bauch¬
organe, gynäkolog. Erkrankungen, chirurgisch, maligne Tumoren, Hautkrank¬
heiten; Rekonvaleszenten 14. Geheilt entlassen 230 (113 m. 117 w.), gebessert
213 (116 m. 97 w.), ungeheilt 31 (16 m. 15 w.). Gestorben 12 (11 m. 1 w.), davon
an Herzlähmung (bei Myokarditis) 7, Apoplexie 3, Karzinom und tertiäre Lues
je 1 P. — Die Krankenbewegung seit 1906 ergibt für 1906 = 300 P., davon un¬
geheilt 35, gestorben 7; 1907 = 280 (ungeheilt 33, gestorben 7), 1908 = 291
(ungeheilt 24, gestorben 7); 1909 = 343 (ungeheilt 23, gestorben 7); 1910 = 363
(ungeheilt 22, gestorben 7); 1911 = 459 (ungeheilt 25, gestorben 12); 1912 = 530
(ungeheilt 53, gestorben 7); 1913 = 650 (ungeheilt 69, gestorben 7); 1914 = 486
(ungeheilt 31, gestorben 12). — In dem dem Sanatorium angegliederten Vereins¬
lazarett, und zwar innerhalb der Anstalt, wurden bis zum Jahresschluß behandelt
und verpflegt 187 verwundete und kranke Heeresangehörige. Zunächst waren für
ständige Aufnahmen 50 Betten vorgesehen, die Zahl ist auf weitere 50 erhöht und
sind z. Z. 30 Offiziere und 70 Mannschaften durchschnittliche Belegung. Reiche
Erfahrung an Kriegsneurosen und Herzerkrankungen und sonstigen Kriegsver¬
letzungen.
In der städt. Heil- und Pflegeanstalt zu Breslau (6) war der Bestand
am Jahresanfang 202 (94 m. 108 w.). Zugang einschließlich der behandelten Mili¬
tärpersonen 1100 (670 m. 430 w.). Abgang 1167 (704 m. 463 w.). Bleibt Bestand
116 (40 m. 75 w.). Die nicht unerhebliche Steigerung der Aufnahmezahl der Frauen
(431 gegen 371 des Vorjahres) ist verursacht durch die Sperrung der Psych. Klinik
der Universität für Frauenaufnahmen. Vom Krankenzugang litten an einfach er¬
worbenen Psychosen 281 (124 m. 157 w.), konstitutionellen Psychosen 98 (54 m.
44 w.), epileptisch-hysterischen Formen 119 (48 m. 71 w.), alkoholischen und an¬
deren intox. Psychosen 343 (301 m. 42 w.), paralytischen, senilen und sonstigen
organischen Geisteskrankheiten 259 (143 m. 116 w.). Von 1146 aus der Pflege
Ausgeschiedenen wurden entlassen geheilt 182 = 16,9 %, gebessert 463 = 39,5 %,
ungeheilt 385 = 33,6 %, von diesen sind an andere Anstalten überwiesen 296.
Gestorben sind 126 = 11 %, darunter 18 der an symptomat. Geisteskrankheit
Zeitichrift für Psychiatrie 1 1.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Leidenden, 15 Alkoholkranke, 17 Paralytiker, an Arteriosklerose und postapoplekt-.
Geisteskrankheiten Leidende 11, Senile 34. — Gesamtausgabe: 299 375,54 M.
Leubus (30): In der öffentlichen Anstalt war ein Anfangsbestand von
913 P. (479 M. 434 Fr.). Zugang 201 (97 M. 104 Fr.). Abgang 193
(110 M. 83 Fr.). Bleibt Bestand 921 (466 M. 465 Fr.), davon in Fa-
milienpflege 9 M. Außerdem waren 60 Kranke von Taupiau, gelegentlich des Russen¬
einfalles, aufgenommen und 30 Kranke aus den Breslauer Anstalten. Von den
regulär Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 152 (64 M. 88 Fr.),
paralytischer Seelenstörung 21 (16 M. 6 Fr.), Imbezillität, Idiotie 11 (8 M. 3 Fr),
Epilepsie mit Seelenstörung 10 (7 M. 3 Fr.), Migräne mit psych. Alteration, Hy¬
sterie je 1 Fr., Neurasthenie 3 Fr., Morphinismus und Lyssa je 1 M. Als Krank¬
heitsursachen u. a. angesehen Alkohol mißbrauch bei 6 M. 1 Fr., Morphium, Kokain
je 1 Fr., Syphilis 18 (10 M. 8 Fr.). Erbliche Belastung bei 33 M. 32 Fr., Familien¬
anlage zu Trunksucht 8 M. 10 Fr. Zur Beobachtung aufgenommen 1 Pat. Mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten 23 M. 6 Fr.; von diesen auf Grund § 81 Str.-P.-O.
zur Beobachtung überwiesen 4 M. 2 Fr. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis
1 Monat 17 (7 M. 10 Fr.), 1—13 Monate 33 (15 M. 18 Fr.), 3—6 Monate 18 (4 M.
14 Fr.), 6—12 Monate 22 (7 M. 15 Fr.), 1—5 Jahre 51 (29 M. 22 Fr.), über 6 Jahre43
(23 M. 20 Fr.), von Kindheit an 12 (9 M. 3 Fr.), unbekannt 5 (3 M. 2 Fr.). Ent¬
lassen geheilt 5 (2 M. 3 Fr.), gebessert 62 (34 M. 28 Fr.), ungeheilt 28 (18 M. 10 Fr.),
von diesen nach anderen Anstalten verbracht 15 M. 7 Fr., wieder aufgenommen
4 M. 3 Fr.; nicht geisteskrank 1 Fr. Gestorben 97 (56 M. 7 Fr.) — 8,7 % der Ver¬
pflegten. Todesfälle infolge Paralyse bei 24 (18 M. 6 Fr.), Basedowscher Krankheit
1 Fr., Tuberkulose 14 (6 M. 8 Fr.), Krankheiten der Atmungsorgane 11 (8 M. 3 Fr.),
des Herzens und der Gefäße 14 (8 M. 6 Fr.), der Nieren und Geschlechtsorgane 4
(2 M. 2 Fr.), Altersschwäche 3, Ruhr 7, Karzinom 6, Lyssa, Septikämie je 1 P.;
Unglücksfall 1. An Ruhr erkrankten außer den Verstorbenen noch 7 M. 14 Fr.
Der Fall von Lyssa zeichnete sich durch sehr lange Inkubationsdauer und lang¬
samen Verlauf aus. Die Diagnose wurde sichergestellt durch Untersuchung des
Gehirns in der Wutschutzabteilung des Hygien. Instituts in Breslau.
Kreuzburg (26): Anfangsbestand 651 (373 M. 278 Fr.). Zugang 93 (64 M.
39 Fr.). Abgang 151 (89 M. 62 Fr.). Bleibt Bestand 693 (338 M. 256 Fr.). In Fa¬
milienpflege zu Beginn 25 (10 M. 15 Fr.), diese infolge des Krieges in die Anstalt
zurückverlegt. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 70 (34 M. 36 Fr.),
paralytischer Seelenstörang 10 (9 M. 1 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 3 M.,
Idiotie, Imbezillität 1 M., Fieberdelir bei Pneumonie 1 M. Zur Beobachtung auf¬
genommen 8 (6 M. 2 Fr.). Als Krankheitsursache in Betracht zu ziehen Syphilis
bei 7 M., Trunksucht 7 M. 1 Fr., Kopfverletzung 3 M., Arterienverkalkung, Alters¬
veränderungen 5M. 5 Fr., Hitzeeinwirkung, Strafhaft je IM., Gemütserschütterung,
Aufregung durch Krieg 6 Fr., Entbindung, Fehlgeburt 3 Fr. Erbliche Belastung
nachweisbar bei 12 M. 18 Fr. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 19 M. 4 Fr.
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 18 M. 10 Fr., 3 Monate 10 M.
13 Fr., 6 Monate 5 M. 1 Fr., 1 Jahr 2 M. 5 Fr., 2 Jahre 2 M. 1 Fr., 6 Jahre 2 M.
2 Fr., mehr als 5 Jahre 1 M., 10 Jahre 3 M. 5 Fr., von Kindheit an 2 M. — Ent-
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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik.
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lassen geheilt 27 (21 M. 6 Fr.), gebessert 37 (23 M. 14 Fr.), imgeheilt 1 Fr., in an¬
dere Anstalten verbracht 9 (7 M. 2 Fr.). Gestorben sind 71 (33 M. 38 Fr.), im Vor¬
jahre 75 (43 M. 32 Fr.). Todesursachen waren Gehirnerweichung bei 10 M. 1 Fr.,
Gehirnschlag, Gehimlähmung 3 Fr., Epilepsie 3 M., Lungen- und Brustfellent¬
zündung 2 M. 6 Fr., Tuberkulose 7 M. 7 Fr., Herzlähmung 2 M. 6 Fr., Entkräftung,
Altersschwäche 7 M. 10 Fr., Darm- und Bauchfellentzündung 6 Fr., Gesichtsrose,
Pemphigus, Eiterfieber je 1 P. Tägliche Beschäftigung der Männer 35,2%, der
Frauen 49,7 % des Durchschnittsbestandes (im Vorj. 32,8 und 51,6 %). — In¬
folge der Lage, 18 km von der Grenze, und drohenden Russeneinfalles wurde an¬
fangs November die Anstalt geräumt und 680 P. und das nötige Personal nach Bunz-
lau verbracht, dort verblieben 174 M. 12 Fr., die übrigen wurden auf andere An¬
stalten verteilt. Im Laufe des Frühjahres 1915 konnte der Rücktransport
ohne Störung, stattfinden. Ara 4. März war die Anstalt wieder in Vollbetrieb.
Lüben i. Schl. (32): Anfangsbestand 1097 (499 M. 598 Fr.). Zugang 242
(147 M. 95 Fr.). Abgang 253 (155 M. 98 Fr.). Bleibt Bestand 1086 (491M. 695 Fr.)
davon in Familienpflege 57 (12 M. 46 Fr.). Vorübergehend aufgenommen waren
infolge des Kriegszustandes 20 P. der städt. Heilanstalt und 26 aus der Psychiatr.
Universitätsklinik zu Breslau, ferner von der Heilanstalt Tapiau 30 M., Lublinitz
569 Kr. Höchste Belegung mit Geisteskranken am 15. November 1914 mit 819 M.
780 Fr., niedrigste am 22. März 1915 mit 451M. 521 Fr. Abgesehen von den Über¬
führungen litten vom Zugang an einfacher Seelenstörung 174 (90 M. 84 Fr.), para¬
lytischer Seelenstörung 26 M., Seelenstörung mit Epilepsie 14 (12 M. 2 Fr.), Hy¬
sterie 3 Fr., Alkoholismus 6 M., Imbezillität, Idiotie 9 (6 M. 3 Fr.), Dem. post-
apoplectica 3 (1 M. 2 Fr.), multipler Sklerose, spinaler Muskelatrophie je 1 M.,
progressiver Muskelatrophie 1 Fr.; nicht geisteskrank 5. Gerichtlich bestraft
waren 27 M. 3 Fr. Erblich belastet 49 M. 34 Fr. Abstammung von trunksüchtigen
Eltern 15 M. 9 Fr. Als Krankheitsursache angegeben Gefangenschaft bei 1 M.,
Trunksucht 14 M. 1 Fr., Kopfverletzung 4 M., Chirurg. Operation 2 M., Entbin¬
dung 1 Fr., Syphilis 12 M. 3 Fr., Hypnose 1 M., Typhus 1 M., Krieg bei 8 M. 7 Fr.
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 16 M. 18 Fr., 3 Monate 26 M.
20 Fr., 6 Monate 16 M. 14 Fr., 1 Jahr 19 M. 7 Fr., 2 Jahre 11 M. 10 Fr., bis zu
5 Jahren 18 M. 13 Fr., 10 Jahren 13 M. 6 Fr., über 10 Jahre 17 M. 5 Fr., Krank¬
heit von Kindheit an 7 M. 3 Fr. Entlassen geheilt 17 (8 M. 9 Fr.), gebessert 60
(40 M. 20 Fr.), ungeheilt 64 (34 M. 30 Fr.), davon in andere Anstalten versetzt
19 M. 19 Fr. Nicht geisteskrank entlassen 2 M., aus der Beobachtung 5 M. Ge¬
storben 105 (66 M. 39 Fr, im Vorjahre 77 M. 46 Fr.; Todesursachen: epilepti¬
scher Krampfzustand bei 4 M. 2 Fr., Epilepsie 4 M., Darmkatarrh 5 M. 7 Fr., Krebs
5 Pers., Muskelatrophie 2, Altersschwäche 11, Nierenentzündung, Eiterfieber 3. —
Einrichtung eines Reservelazarettes in zwei Häusern im Oktober des Berichts¬
jahres, z. T. umgewandelt in eine Beobachtungsabteilung für geistes- und nerven¬
kranke Heeresangehörige. — Gesamtausgabe: 527 722,93 M.
Bergmannswohl (4): Anfangsbestand 47 (11 Beobachtungs-, 36 Be-
Jhandlung8fälle). Aufgenommen 1198 (959 Beobacht., 239 Beh.). Abgang 1225
{965 Beobacht., 260 Beh.). Bleibt Bestand 20 (5 Beobacht., 15 Behandl.). Zahl
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156* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
der Verpflegungstage 16 080 (i. Vorj. 18 914), auf einen Kr. durchschn. 13,4 (i. V.
12,7) Verpflegungstage. Auf die abgeschlossenen Beobachtungsfälle durchschn.
6,27 (i. V. 6,6), auf abgeschlossene Behandlungsfälle 42 (wie i. V.). Verpflegungs¬
tage. Unter den Diagnosen figurieren Nervenschwäche mit 410, Hysterie 199 r
Epilepsie 40, angeborener Schwachsinn 18, Gehirnerschütterung, Kommotions-
neurose 666, Hemiplegie 13, Arteriosklerose 103, sonstige Befunde aller Arten
mit p. p. 1—12 Fällen. Mit Kriegsausbruch ist die Anstalt einem Reservelazarett
angegliedert, zunächst zur Verfügung gestellt 130 Betten. Zur Behandlung kommen
hauptsächlich Nervenverletzungen und nervöse Erkrankungen.
Inden Heilanstalten der Provinz Westfalen (60) war ein Gesamtanfangs¬
bestand von 5286 Kr. Zugang 1457. Abgang 1310. Bleibt Gesamtbestand 5432.
Jährliche Durchschnittszunahme in den letzten 5 Jahren 223, im Berichtsjahre
147. Neuaufnahmen gegen das Vorjahr geringer um 153. In den einzelnen An¬
stalten war folgende Krankenbewegung:
Marsberg: (Vorhandene Plätze für 595 Kr. — 329 M. 266 Fr. —, außer¬
dem für Familienpflege für 30 P.) Anfangsbestand 590 (316 M. 274 Fr.). Zugang
107 (57 M. 50 Fr.). Abgang 92 (62M. 30 Fr.). Bleibt Bestand 606 (311 M. 294 Fr.),
davon in Familienpflege 13 M. 6 Fr. Unter den Aufgenommenen 1 deutscher Soldat,
5 Kriegsgefangene. Entlassen geheilt 10 (5 M. 5 Fr.) = 11,9% der reinen Auf¬
nahmen, gebessert 35 (21 M. 14 Fr.), ungeheilt 6 (4 M. 1 Fr.), davon anderen An¬
stalten überwiesen 2 M. 1 Fr.; ferner entlassen 2 Pensionäre und nach Beobachtung
3 M. Gestorben 37 (29 M. 8 Fr.) = 5,31 % der Verpflegten.
Lengerich: (Vorhandene Plätze für 846 Kr. — 439 M. 406 Fr. —, davon
für Familienpflege 180). Anfangsbestand 813 (435 M. 378 Fr.). Zugang 158 (83 M.
75 Fr.). Abgang 156 (100 M. 50 Fr.). Bleibt Bestand 815 (412 M. 403 Fr.), davon
in Familienpfiego 184 (89 M. 95 Fr.), von diesen bei Beamten und Angestellten
der Anstalt 4 M. 16 Fr. Vom Bestand entlassen als geheilt 22 (15 M. 17 Fr.), ge¬
bessert 53 (43 M. 10 Fr.), ungeheilt 23 (16 M. 8 Fr.), nach anderen Anstalten ver¬
legt 2 M. 2 Fr.; entlassen als ungeeignet 1 Fr. Gestorben 43 (24 M. 19 Fr.).
Münster: (Planmäßige Verpflegung für 650 Kr. — 300 M. 360 Fr.—, außer¬
dem 15 Plätze für Familienpflege). Anfangsbestand 634 (268 M. 366 Fr.). Zu¬
gang 317 (210 M. 107 Fr.). Abgang 293 (181 M. 112 Fr.). Bleibt Bestand 668
(297 M. 361 Fr.), davon in Familienpflege 19 P., auf dem Oktober 1913 über¬
nommenen Anstaltsgute Kinderhaus 25 M. Entlassen geheilt 33 (22 M. 10 Fr.),
gebessert 92 (41 M. 61 Fr.), ungeheilt 91 (70 M. 21 Fr.), davon anderen Anstalten
zugeführt 41 M. 4 Fr.; nach Beobachtung entlassen 31 (27 M. 4 Fr.). Gestorben
47 (21 M. 26 Fr.) = 4,94% der Verpflegten.—Der Krieg verursachte die Aufnahme
von 112 Militärpersonen, überwiesen aus Lazaretten und von Truppenteilen des
VII. Armeekorps. Zur Beobachtung zugeführt 10 M. Am Schluß des Berichts¬
jahres noch in Pflege 38 Heeresangehörige und 13 Kriegsgefangene.
Aplerbeck: (Vorhandene Plätze 660 —346 M. 316 Fr. —, davon in Fa¬
milienpflege 23). Anfangsbestand 666 P. Aufgenommen 211 (105 M. 106 Fr.).
Abgang 186 (96 M. 91 Fr.). Bleibt Bestand 691 P., davon in Familienpflege 9 M.
11 Fr. Entlassen geheilt 16 (3 M. 13 Fr.), gebessert 60 (21 M. 29 Fr.), ungeheilt
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Sn eil. Anstaltswesen und Statistik.
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48 (30 M. 18 Fr.), davon nach anderen Anstalten verbracht 24 (13 M. 11 Fr.), nach
Lengerich in Familienpflege 9 M. 9 Fr. Aus der Beobachtung entlassen 18 (15 M.
3 Fr.). Gestorben 51 = 6,16 % der Verpflegten.
Warstein: (Vorhandene Plätze in der Anstalt 1413, in der Pflegerkolonie
46). Anfangsbestand 1431 = (702 M. 729 Fr.). Zugang 368 (185 M. 183 Fr.). Ab¬
gang 339 (183 M. 156 Fr.). Bleibt Bestand 1460 (704 M. 756 Fr.), davon in Fa¬
milienpflege 101 (29 M. 72 Fr.). Entlassen geheilt 84 (40 M. 44 Fr.), gebessert 89
(49 M. 40 Fr.), ungeheüt und nach anderen Anstalten verbracht =33 (21 M. 12 Fr.);
^entlassen als nicht geisteskrank bzw. nach Beobachtung 16= (10 M. 6 Fr.).—Krieg
als Ursache von Geisteskrankheit war angegeben bei den Männeraufnahmen in
3 Fällen, 2 wurden nach mehrmonatlicher Behandlung geheilt entlassen, bei den
Frauen 16 Fälle, nur in 2 Fällen jedoch wurde Einwirkung des Krieges festgestellt,
und zwar bei ostpreußischen Flüchtlingen; sie wurden geheilt bzw. gebessert ent¬
lassen.
Gütersloh: Die geplante Eröffnung und Inbetriebnahme der Anstalt konnte
nicht erfolgen. Die Militärverwaltung hat die Räumlichkeiten zur Unterbringung
von kriegsgefangenen Offizieren mietweise in Anspruch genommmen. •
Eickelborn: (Platz vorhanden für 1190 Kr. — 617 M. 573 Fr. — und für
110 Familienpfleglinge). Anfangsbestand 1154 (543 M. 608 Fr.). Zugang 296 (180 M.
116 Fr.). Abgang 244 (136 M. 118 Fr.). Bleibt Bestand 1203 (587 M. 616 Fr.),
davon in Familienpflege 85 (47 M. 38 Fr.), hiervon bei Beamten und Angestellten
34 (6 M. 28 Fr.). Entlassen geheilt 21 (5 M. 16 Fr.), gebessert 105 (60 M. 45 Fr.),
ungehcilt 10 (7 M. 3 Fr.), in andere Anstalten versetzt 19 (17 M. 2 Fr.); nach Be¬
obachtung entlassen 9 (8 M. 1 Fr.). Gestorben 80 (39 M. 41 Fr.) = 5,53 % der
Verpflegten. — Im Bewahrhause waren untergebracht 58 Kr., davon 1 zur Be¬
obachtung. Aufgenommen 27 und 1 aus der Zentralanstalt. Insgesamt verpflegt
also 86 Kr. Von den Aufgenommenen kamen aus Strafanstalten und Gefängnissen
16. Nach der Zentralanstalt zurückverlegt wurden 4, nach anderen Anstalten ver¬
bracht 7, zur Strafanstalt bzw. Gefängnis wieder zurückgeführt 8. Entlassen 8
Bleibt Bestand 27.
Marsberg, St. Johannisstift: (Nach Belegung der Neubauten Platz für
680 — 400 m. 280 w.). Anfangsbestand 570. Zugang 65 (33 m. 32 w.), davon
unter 5 Jahre alt 3, 5—10 Jahre 36, 10—15 Jahre 24, 15—20 Jahre 2. Abgang
55 (25 m. 30 w.). Bleibt Bestand 580. Entlassen gebessert 20 (10 m. 10 w.), un-
geheilt 6 (4 m. 1 w.), davon nach anderen Anstalten verbracht 3. Gestorben sind
30 (11 m. 19 w.) = 4,72 % der Verpflegten. Der weitere Ausbau der Familien¬
pflege unterblieb infolge der Kriegsverhältnisse. — Ein Lazarett des Roten Kreuzes
für 80 Verwundete wurde im Werkstättengebäude eingerichtet. Verpflegt wurden
vom Oktober bis zum 1. April 1915 = 128 Verwundete. Der von der Provinz und
den einzelnen Heilanstalten gebildete Unterstützungsfonds für entlassene hilfs¬
bedürftige Geisteskranke verfügte einschließlich der laufenden Einnahmen über
ein Gesamtvermögen von 39 409,13 M. Ausgegeben wurden für Unterstützungen
6419,63 M.
Hildesheim (22): Anfangsbestand 703 (409 M. 294 Fr.). Zugang 329
(199 M. 130 Fr.). Abgang 345 (193 M. 152 Fr.). Bleibt Bestand 687 (415 M. 272 Fr.).
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 237 (121 M. 116 Fr.), Paralyse 46
(43 M. 3 Fr.), Imbezillität, Idiotie 17 (16 M. 2 Fr.), Hysterie und Epilepsie 19 (12 M.
7 Fr.), Alkoholismus (und Morphium) 7 M. Zur Beobachtung 3 (1 M. 2 Fr.). Als
Krankheitsursachen beschuldigt Vererbung bei 46 (23 M. 22 Fr.), Trunksucht
19 M., Syphilis 28 (26 M. 2 Fr.), Mobilisation, Kriegszustand, Verwundung im
Kriege 19 M. 1 Fr., Unfall 4 (3 M. 1 Fr.). Aktive Soldaten aufgenommen 44, Kriegs¬
gefangene 12, Flüchtlinge 1M. 2 Fr. Entlassen geheilt 36 (16 M. 21 Fr.), gebessert
63 (33 M. 30 Fr.), ungeheilt 29 (22 M. 7 Fr.), nach anderen Anstalten verbracht
102 (38 M. 64 Fr.); nicht geisteskrank 5 M. 1 Fr. Gestorben 109 (80 M. 29 Fr.),
davon infolge Paralyse 48, Lungenentzündung 17, Tuberkulose und Lungenschwind¬
sucht 6, im Status epil. 6, Gehirnblutung 4, Herzleiden 11, Altersschwäche 7.
Göttingen (17): Anfangsbestand 646 (371 M. 176 Fr). Zugang 283
(167 M. 116 Fr.). Abgang319 (190M. 129 Fr.). Bleibt Bestand510 (348M. 162Fr.),
davon in Familienpflege 68 (48 M. 20 Fr.). Unter den Aufnahmen häufen sich
die kriminellen Fälle immer mehr. Zur Beobachtung aufgenommen nur 7 M. 3 Fr.
Entlassen geheilt 4M. 2 Fr., gebessert 115 (67 M. 48 Fr.), ungeheilt 126 (69 M,
67 Fr.), davon nach anderen Anstalten überführt 54 (28 M. 26 Fr.); nicht geistes¬
krank 2 M. 4 Fr. — Mit Kriegsbeginn 100 Betten für Leichtverwundete und Er¬
krankte, darunter höchstens 50 geisteskranke Soldaten, der Militärbehörde zur
Verfügung gestellt. Erste Belegung mit Verwundeten schon im August; höchs.er
Stand im Oktober mit 100, davon viele Franzosen. Am Schluß des Berichts¬
jahres noch in der Anstalt 23 geisteskranke Soldaten (13 Deutsche, 7 Franzosen,
2 Russen, 1 Engländer).
Osnabrück (39): Anfangsbestand 396 (193 M. 203 Fr.). Zugang 201
(114 M. 87 Fr.). Abgang 221 (107 M. 114 Fr.). Bleibt Bestand 376 (200 M. 176 Fr.).
Zur Beobachtung aufgenommen nach § 81 Str.-P.-O. 4 M., davon geisteskrank 1.
Mit dem Strafgesetz in Konflikt gewesen 16 M. 1 Fr. Entlassen geheilt 36 (17 M.
19 Fr.), gebessert 66 (32 M. 23 Fr.), ungeheilt 96 (32 M. 64 Fr.), davon nach an¬
deren Anstalten 25 M. 62 Fr.; nicht geisteskrank 2 M. Gestorben 32 (24 M. 8 Fr.)
= 6,36 % der Verpflegten, Tuberkulose als Todesursache bei 2 M. 1 Fr. — Mit
Kriegsbeginn wurde das ehemalige Gertrudenkloster (bislang mit Frauen belegt)
als Vereinslazarett zur Verfügung gestellt, und zwar mit 70 Betten. Erste Belegung
im Januar 1915 mit 40 Verw., höchste Belegung 77.
Lüneburg (33): Anfangsbestand 976 (632 M. 444 Fr.). Zugang 248
(126 M. 122 Fr.). Abgang 236 (123 M. 113 Fr.). Bleibt Bestand 988 (535 M. 453 Fr.).
Zur Beobachtung aufgenommen 15 M. 2 Fr., davon 13 M. 1 Fr. nach § 81 Str.-P.-O.;
von den Beobachteten geisteskrank 7 M., zurechnungsfähig 6 M. 1 Fr. Entlassen
geheilt 20 (8 M. 12 Fr.), gebessert 66 (43 M. 23 Fr.), ungeheilt 68 (31 M. 37 Fr.),
davon nach anderen Anstalten verbracht 33 (12 M. 21 Fr.); nicht geisteskrank 11
(9 M. 1 Fr.). Gestorben sind 71 (32 M. 39 Fr.). In der landwirtschaftlichen Ko¬
lonie Brockwinkel wurden Trinker versuchsweise untergebracht; aufgenommen 13,
entlassen 2. Blieb Bestand 11 Trinker. — Zur Fahne einberufen 68 Beamte und
Angestellte. Zur Einrichtung eines Reservelazarettes wurden vier Häuser geräumt.
Vom September ab war das Lazarett in der Folge dauernd, bald vollständig, bald
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Snell. Anstaltswesen und Statistik.
159*
teilweise belegt. — Reingewinn aus dem landwirtschaftlichen Betrieb: 91 764,98 M.
bei einer Gesamteinnahme von 280 911,13 M.
Langenhagen (28): Gesamtanfangsbestand 991 (578 m. 418 w.). Zu¬
gang 563 (352 m. 211 w.). Abgang 562 (360 m. 202 w.). Schlußbestand 992 (570 m.
422 w.; davon entfallen auf die
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt für Geistesschwache: An¬
fangsbestand 836 (442 m. 394 w.). Zugang 101 (59 m. 42 w.). Abgang 111 (87 m.
24 w.). Bleibt Bestand 826 (414 m. 412 w.). Entlassen sind 72 (63 m. 9 w.). Ge¬
storben 39 (24 m. 15 w.) = 4,64% der Verpflegten (i. Vorj. 4,18%), Todes¬
ursache: Tuberkulose bei 15.
Filiale Himmelsthür: Anfangsbestand 122 w. Aufgenommen 48. Ab¬
gang 20. Bleibt Bestand 149. Bestand der Epileptischen anfangs 12, zum Schluß 2.
Gestorben 20.
Beobachtungsstation für Geisteskranke: Aufgenommen im Be¬
richtsjahre 414 (245 M. 169 Fr.), davon aus Hannover-Linden (Stadt) 386 (228 M.
168 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 247 (112 M.
135Fr.), Paralyse 56 (48M. 8 Fr.), Epilepsie 23 (17 M. 6 Fr.), Idiotie, Imbezillität 16
(8 M. 7 Fr.), Alkoholdelirium 53 (49 M. 4 Fr.), Hysterie 9 (2 M. 7 Fr.); nicht geistes¬
krank 3; zur Beobachtung 3. Als Krankheitsursachen anzunehmen Alkohol bei
70 (60 M. 10 Fr.), Lues 38 (34 M. 4 Fr.), Trauma 9 (8 M. 1 Fr.), Haft
6 M., Heredität 98 (53 M. 45 Fr.). Polizeilich eingeliefert 23 M. 12 Fr. In eine An¬
stalt überführt 192 (112 M. 80 Fr.). Gestorben 18 M. 7 Fr. Kurz nach Kriegsbeginn
wurde ein Vercinslazarett mit 100 Betten errichtet. Verkehr verwundeter und
erkrankter Heeresangehöriger im Berichtsjahre zirka 500 M. Weiterhin Korps¬
lazarett für alle nervös und psychisch Erkrankten aus dem Korpsbezirk.
Neustadt i. Holstein (37): Anfangsbestand 1118 (664 M. 454 Fr.). Zu¬
gang 234 (121 M. 113 Fr.). Abgang 221 (127 M. 94 Fr.). Bleibt Bestand 1131
(668 M. 473 Fr.), davon m Familienpflege 100 (36 M. 64 Fr.). Vom Zugang litten
an einfacher Seelenstörung 131 (50 M. 81 Fr.), paralytischer 32 (25 M. 7 Fr.), Im¬
bezillität, Idiotie, Kretinismus 29 (13 M. 16 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelen-
störung 12 (8 M. 4 Fr.), Hysterie, Chorea je 1 Fr., Alkoholismus 21 (19 M. 2 Fr.),
Morphinismus 1 Fr. Zur Beobachtung aufgenommen 6 M., nicht geisteskrank 1 M.
Vom Zugang vorbestraft 22 M. = 18,3 %, 1 Fr. = 0,9 %, unruhige 24 M. 31 Fr. =
20 und 27,4 %, unreine 7 M. 8 Fr. = 5,9 und 7 %, Erblichkeit bei 16 M. = 13,2 %,
14 Fr. = 12,4 %, Trunksucht 25 M. = 20 %, 2 Fr. = 1,6 %. Prozentsatz der
kriminellen männl. Kr. ganz erheblich gesunken (i. Vorj. 29,4 % m. 7 % w.). Im
festen Haus untergebracht 55, davon Neuaufnahmen 14. Zur Beobachtung auf
Grund § 81 Str.-P.-O. aufgenommen 3 M., sämtlich zurechnungsfähig. Beobachtung
der Strafvollzugsfähigkeit 2 M., davon 1 wieder zurückgeschickt. Im Strafvollzug
zur Nachbeobachtung 14 M. den Irrenabteilungen übeiwiesen. Entlassen geheilt
13 (3 M. 10 Fr.), gebessert 59 (36 M. 23 Fr.), ungeheilt 132 (78 M. 64 Fr.), davon
nach anderen Anstalten überwiesen 20 (15 M. 5 Fr.); nicht geisteskrank 6
(6 M. 1 Fr.). Gestorben 89 (49 M. 40 Fr.), davon an Lungentuberkulose 10 (4 M.
6 Fr.), Paralyse 12 (11M. 1 Fr.), Epilepsie 6 ( A M. 2 Fr.). An Fällen tuberkulöser
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160*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Art erkrankt 15 (8 M. 7 Fr.). Zur Mobilmachung für pyschisch erkrankte Militär¬
personen bereitgestellt 30 PI. — Gesamtausgabe: 705 370,77 M.
Schleswig (Stadtfeld) (47): Anfangsbestand 1204 (576 M. 628 Fr.). Zu¬
gang 323 (172 M. 151 Fr.). Abgang 355 (161 M. 194 Fr.). Bleibt gestand 1172
(587 M. 585 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 266
(123 M. 133 Fr.), paralytischer Seelenstörung 22 (19 M. 3 Fr.), Seelenstörung mit
Epilepsie 11 (6 M. 5 Fr.), Imbezillität, Iiotie 25 (15 M. 10 Fr.), Delirium pot.
5 M.; nicht geisteskrank 4 M. Wahrscheinliche Krankeitsursachen: Familien¬
anlage bei 113 (55 M. 58 Fr.), deprimierende Gemütsaffekte 32 (17 M. 15 Fr.),
Trauma 3 M., Senium 4 M. 2 Fr., Lues 13 (12 M. 1 Fr.), Alkoholismus 15 (14 M.
1 Fr.) (i.Vorj. 22), fieberhafte Erkrankung 1 M. 1 Fr., Wochenbett, Schwanger¬
schaft 7 Fr., Klimakterium 2 Fr., unbekannte Ursachen bei 126 (62 M. 4 Fr.).
Wahrscheinlich heilbar 78 (40 M. 38 Fr.), unheilbar 77 (42 M. 35 Fr.), entschieden
unheilbar 164 (86 M. 78 Fr.). Zur Beobachtung überwiesen von Zivilbehörden
7 M. 1 Fr., Militärbehörden 3 M. 1 Dame privatim. Entlassen geheilt 44 (18 M.
26 Fr.), gebessert 91 (40 M. 51 Fr.), ungeheilt 84 (41 M. 43 Fr.), davon nach Pri¬
vatanstalten 45 (16 M. 29 Fr.). Gestorben 132 (58 M. 74 Fr.), davon an Lungen¬
tuberkulose 12 (6 M. 6 Fr.), daran behandelt außerdem 7 (2 M. 5 Fr.). Hohe Todes¬
zahl auf der Frauenseite (78, i. Vorj. 48), bedingt durch viele ältere Schwäche¬
zustände. — In dem großen, für 150 Frauen bestimmten Neubau wurde ein Kriegs¬
lazarett errichtet. — Gesamtausgabe: 948 937,22 M.
Die Provinzialanstalten der Rheinprovinz (41) hatten einen Anfangs¬
bestand von 7662. Zugang 4273. Abgang 4324, davon an andere Provinzial¬
anstalten überwiesen 182, an andere Privatanstalten 421. Gesamtschlußbestand
7611 P. Auf die einzelnen Provinzialanstalten verteilt sich die Krankenbewegung
folgendermaßen:
Andernach: Anfangsbestand 541 (283 M. 258 Fr.). Zugang 469 (318 M.
151 Fr.). Abgang 427 (289 M. 138 Fr.). Bleibt Bestand 583 (312 M. 271 Fr.).
Bedburg-Hau: Anfangsbestand 1841 (1000 M. 841 Fr.). Zugang 480
(283 M. 197 Fr.). Abgang 442 (249 M. 193 Fr.). Bleibt Bestand 1879 (1034 M.
845 Fr.).
Bonn: Anfangsbestand 910 (451 M. 459 Fr.). Zugang 925 (547 M. 378 Fr.).
Abgang 870 (508 M. 362 Fr.). Bleibt Bestand 956 (490 M. 475 Fr.).
Düren: Anfangsbestand 706 (382 M. 324 Fr.). Zugang 354 (262M. 92 Fr.).
Abgang 314 (219 M. 95 Fr.). Bleibt Bestand 746 (425 M. 321 Fr.).
Galkhausen: Anfangsbestand 876 (426 M. 450 Fr.). Zugang 482 (261 M.
221 Fr.). Abgang 519 (264 M. 255 Fr.). Bleibt Bestand 839 (423 M. 416 Fr.).
Grafenberg: Anfangsbestand 882 (508 M. 374 Fr.). Zugang 726 (419 M.
307 Fr.). Abgang 792 (463 M. 329 Fr.). Bleibt Bestand 816 (464 M. 352 Fr.).
Johannistal: Anfangsbestand 1062 (614 M. 488 Fr.). Zugang 453 (299 M.
154 Fr.). Abgang 597 (400 M. 197 Fr.). Bleibt Bestand 918 (513 M. 405 Fr.).
Merzig: Anfangsbestand 783 (399 M. 384 Fr.). Zugang 372 (238 M. 134 Fr.).
Abgang 344 (216 M. 228 Fr.). Bleibt Bestand 811 (421 M. 390 Fr.).
Brauweiler: Anfangsbestand 61 M. Zugang 12. Abgang 19. Bleibt Be¬
stand 54.
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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik.
161*
Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 2779 (1506 M. 1273 Fr.),
paralytischer Seelenstörung 409 (313 M. 96 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 394
(295M.99 t Fr.), Epilepsie o.S. 108 (81M. 27Fr.), Idiotie, Imbezillität, Kretinismus
223 (123 M. 100 Fr.), Alkoholismus 180 (162 M. 18 Fr.): nicht geisteskrank 180
(159 M. 21 Fr.). Unter den Ursachen zur Erkrankung bestand vererbte Anlage
bei 1016 (500 M. 516 Fr.) = 23,8 % der Aufgenommenen (i. Vorj. 1166 = 26,8 %),
Mißbrauch geistiger Getränke von Krankheitsausbruch in 597 Fällen (482 M.
115 Fr.) = 13,9 % (i. Vorj. 9,3 %). Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 352
(317 M. 35 Fr.) = 8,2% (i. Vorj. 9,3%). Unmittelbar aus Strafhaft eingeliefert
im Laufe des Berichtsjahres 161 (in den Jahren 1907 = 298 P., 1908 = 300, 1909 =
247, 1910 = 191, 1911 = 166. 1912 = 223, 1913 = 211). In den drei Bewahr-
häusem waren infolge Personalmangel (Krieg) nicht alle Plätze besetzt. Von den
Verpflegten geheilt und gebessert entlassen in Andernach 19.3 % bei 46,4 % der
Aufnahmen; Bedburg-Hau 7,3 % : 20,6%; Bonn 21% : 50%; Düren 7,66% :
33%; Galkhausen 23,2%: 36%; Grafenberg 20,5%: 44,3%, Johannistal
16,3 % : 29,9 %: Merzig 13,3 % : 32,2 %; Brauweiler 8,2 % : 16,4 %. Auch in
diesem Jahre zeigt sich, daß der größte Prozentsatz an Heilungen und Besserungen
auf die Anstalten mit den höchsten Aufnahmeprozenten kommt. Selbstmord¬
fälle mit tödlichem Ausgang 9 (8 M. 1 Fr.). Entweichungen 91. Von den in den
Anstalten Verpflegten litten an Tuberkulose 152 (62 M. 90 Fr.) = 1,3 % gegen
1,6 % im Vorjahre. Höchster Prozentsatz in Merzig mit 2,4 %, geringster in Galk¬
hausen mit 0,2% (i. Vorj. 0,3%). Von den Tuberkulösen und der Tuberkulose
Verdächtigen, i. S. 218 (92 M. 126 Fr.) starben 108 (50 M. 58 Fr.) = 0,9% der
Verpflegten. Insgesamt sind gestorben von den 11910 in den 9 Anstalten Ver¬
pflegten (6763 M. 5147 Fr.) 1003 P. = 8,4 % (i. Vorj. 7 %); mehr an Todesfällen
demnach 1,4 %. Im Verhältnis zu den Verpflegten kommen auf Andernach 7,1 %.
Bedburg-Hau 7,8%, Bonn 8,8%, Düren 6,6 %. Galkhausen 10,8%, Grafenberg
11 %, Johannistal 5,9 %, Merzig 7,7 %. Höchster Prozentsatz hiernach Grafen¬
berg und Galkhausen, woselbst die Todesfälle Paralytischer 34,2 bzw. 25,8 %
betrugen. Insgesamt hatten an fortschreitender Paralyse gelitten 231 (167 M.
64 Fr.) = 23 % (mehr als im Vorj. 0,9 %). Typhus wurde wahrscheinlich durch
aufgenommene verwundete und kranke Soldaten eingeschleppt. In Andernach,
Düren, Galkhausen, Johannistal gelang es, durch Isolierung der Erkrankten und
Verdächtigen die Insassen der Anstalten vor Ansteckung zu bewahren. In Bed¬
burg-Hau aber kam es zu größerer epidemischer Ausbreitung. Dort erkrankten
33 P. (auf der Frauenseite zuerst), darunter 8 Pfleger und 1 Pflegerin. 8 Geistes¬
kranke starben. — Der Krieg stellte große Anforderungen an die Anstalten. Zur
Aufnahme verwundeter und körperlich kranker Soldaten wurden zunächst zur
Verfügung gehalten in Andernach 70 Betten, Bedburg-Hau 800, Düren 150, Galk¬
hausen 250, Grafenberg 200, Johannistal 250, Merzig 140. Die Anstalt Bonn blieb
zur Aufnahme geisteskranker Heeresangehöriger aus dem Festungsbereich zur
Verfügung. Die Verpflegungssätze wurden auf 2 M. bis 2,50 M. pro Tag bemessen.
Im Berichtsjahre waren insgesamt aufgenommen: verwundete und körperlich kranke
Soldaten 6871 Mann, geisteskranke 617 Mann und 21 geisteskranke Kriegsgefan-
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gene. Gestorben sind 15 Mann; am Schlüsse des Jahres waren in den Anstalten
noch 278 Mann. Gesamtausgabe: 6 774 538,69 M., davon an den Baufonds
63 236,62 M.
Eichberg (12): Anfangsbestand 708 (376 M. 333 Fr.). Zugang 205 (115 M.
90 Fr.). Abgang 198 (103 M. 96 Fr.). Bleibt Bestand 715 (387 M. 328 Fr.), davon
in Familienpflege 81 (29 M. 62 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung
147 (73 M. 74 Fr.), paralytischer Seelenstörung 21 (18 M. 3 Fr.), Seelenstörung
mit Epilepsie 9 (8 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie 13 (6 M. 7 Fr.), Alkoholismus
8 M.; von psychopathischer Konstitution waren 4(1 M. 3 Fr.), nicht geisteskrank
1M. 1 Fr. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten bei 59 (32M. 27 Fr.),
3—6 Monate 38 (26 M. 13 Fr.), mehr als 6 Monate 96 (51 M. 44 Fr.), Dauer un¬
bekannt bei 11 (6 M. 6 Fr.). Erbliche Belastung nachweisbar: dürch Nerven-
und Geisteskranke bei M. in 30, Fr. in 26 Fällen, durch Alkoholismus der Eltern
bei M. in 12, Fr. in 6 Fällen. Früherer Alkoholmißbrauch zugegeben in 20 Fällen.
Als Krankheitsursachen angegeben erbliche Belastung bei 56 (30 M. 26 Fr.), Al¬
koholmißbrauch 20 M., Syphilis 17 (12 M. 6 Fr.), Arteriosklerose 6 (4 M. 1 Fr.) r
Senium 9 (4 M. 6 Fr.), Epilepsie 7 (6 M. 1 Fr.), Kummer und Sorgen 9 (3 M. 6 Fr.),
Puerperium 1 Fr. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 46 (40 M. 6 Fr.); auf
Grund Gerichtsbeschlusses zur Beobachtung eingewiesen 3 P. Entlassen genesen
10 (6M. 4 Fr.), gebessert 74 (36 M. 38 Fr.), ungebessert 57 (29 M. 28 Fr.), nicht
geisteskrank 6 (4 M. 2 Fr.). Gestorben 61 (28 M. 23 Fr.), davon infolge Alters¬
schwäche 13 (6 M. 7 Fr.), Paralyse 7 (3 M. 4 Fr.); im status epilepticuslM., an
Herz- und Arterienverkalkung 2 M., Gehimlähmung 2, Lungenentzündung 14
(9 M. 6 Fr.), Lungentuberkulose 6 (2 M. 4 Fr.), Krebs 3, Magengeschwür, Darm¬
verschlingung je 1 P.
Herborn (20): Anfangsbestand 448 (234 M. 214 Fr.), Zugang 203 (111M.
92 Fr.), davon aus anderen Anstalten 151 (80M. 71 Fr.). Abgang 142 (91M. 61 Fr.).
Bleibt Bestand 609 (264 M. 256 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstö¬
rung 120 (60 M. 60 Fr.), paralytischer Seelenstörung 22 (12 M. 10 Fr.), Imbezillität,
Idiotie 20 (13 M. 7 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 6 (4 M. 2 Fr.), Hysterie 10 Fr. T
Alkoholismus 22 (19 M. 3 Fr.); nicht geisteskrank, zur Beobachtung 3 M. Vor
Aufnahme krank waren bis zu 3 Monaten 12 (8 M. 4Fr.), 3—6Monate 15 (3 M. 12 Fr.),
mehr als 6 Monate 148 (87 M. 61 Fr.), Krankheitsdauer unbekannt bei 26 (10 M.
15 Fr.). Als Krankheitsursache angegeben erbliche Belastung bei 118 (66 M. 63 Fr.),
Alkoholmißbrauch 22 (19 M. 3 Fr.), Syphilis 19 (10 M. 9 Fr.), Pubertät 6 (6 M.
1 Fr.), Senium 14 (6 M. 8 Fr.), Puerperium, Laktation 3 Fr., Arterienverkalkung
4 M., Haft 7 (3 M. 4 Fr.), Unfall 16 (6 M. 10 Fr.), psychische Ursachen 30 (18 M.
12 Fr.). Erbliche Belastung nachweisbar bei 41 M. 31 Fr., Belastung durch Al-
koholismuB der Eltern 20 (16 M. 4 Fr.). Von den Aufgenommenen haben Alkohol¬
mißbrauch zugegeben 22 P. An erster Stelle steht wiederum erbliche Belastung,
an zweiter Alkohol, an dritter psychische Ursachen, an vierter Syphilis, alsdann
Geistesstörung infolge Unfall und endlich solche durch Rückbildungen des Greisen-
alters. Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 56 M. = etwa die Hälfte der
Aufgenommenen, und 14 Fr. Entlassen genesen 3 (2 M. 1 Fr.), gebessert 42 (30 M.
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12 Fr.), ungebessert 30 (25 M. 5 Fr.); nicht geisteskrank 4 P. Gestorben 63 (30 M.
33 Fr.), ein Viertel davon über 70 Jahre alt. Todesursachen: Altersschwäche
bei 10 (2 M. 8 Fr.), Paralyse 36 (20 M. 16 Fr.), Lungenentzündung 3 (2 M. 1 Fr.),
Rippenfellentzündung 1 Fr., Nierenerkrankung. 1 M., Arterienverkalkung und
Herzklappenerkrankung 7 (3 M. 4 Fr.), Tuberkulose 6 (2 M. 3 Fr.). Die hohe Zahl
der an fortschreitender Irrenlähmung Verstorbenen ist erklärlich durch die hohe
Zahl der aus Frankfurt zugeführten Paralytiker. — Mit Kriegsbeginn wurden Kurse
zur Ausbildung von Helferinnen für das Rote Kreuz abgehalten.
Weilmünster (59). Anfangsbestand 912 (464 M. 458 Fr.). Zugang 170
(104 M. 66 Fr.). Abgang 142 (88 M. 54 Fr.) Bleibt Bestand 941 (470 M. 471 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 102 (66 M. 46 Fr.), paralytischer
Seelenstörung 11 (7 M. 4 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 9 (4 M. 5 Fr.), Hy¬
sterie 6 (1M. 4 Fr.), Imbezillität, Idiotie 22 (15 M. 7 Fr.), Alkoholismus 21 (20 M.
1 Fr.); nicht geisteskrank 1 M. Aus der städt. Irrenanstalt kamen 65 (32 M.
33 Fr.), aus Gefängnissen 4 M., aus Militärlazaretten und Kriegsgefangenenlagern
11 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme unter 3 Monaten 41 (28 M. 13 Fr.),
3—6 Monate 10 (4 M. 6 Fr.), über 6 Monate 119 (71M. 48 Fr.). Erbliche Belastung
der Aufgenommenen bei 57 M. 40 Fr. = 54 und 66 % der Aufnahmen, davon durch
Trunksucht 41. Alkoholmißbrauch bei 33 M. 3 Fr.; unter den sonstigen Krank¬
heitsursachen Syphilis bei 9 M. 3 Fr., Verletzungen, besonders des Kopfes 7 M.
3 Fr., Haft 9 M., Aufregungen infolge des Krieges 18 M. 6 Fr. Mit dem Strafgesetz
in Konflikt gekommen 47 M. = 46 % u. 4 W. Zur Beobachtung gerichtsseitig über¬
wiesen 2 M., einer geisteskrank, der andere straffällig. Entlassen geheilt 12 (10 M.
2 Fr.), gebessert 41 (30 M. 11 Fr.), ungeheilt 10 (6 M. 4 Fr.). Gestorben 78 (41M.
37 Fr.), davon infolge Lungentuberkulose 17 (9 M. 8 Fr.), sonstigen tuberkulösen
Erkrankungen 6 (3 M. 2 Fr.), im parayltischen und epileptischen Anfall 4 (2 M.
2 Fr.), sonstigen Himkrankheiten 3 Fr., Herzerkrankungen 7 (2 M. 5 Fr.), Alters¬
schwäche 12 (4 M. 8 Fr.), aJlgem. Kräfteverfall 9 (8 M. 1 Fr.). Gesamtziffer der
Sterblichkeit 7 % der Krankenzahl.
Wehnen (56): Anfangsbestand 325 (177 m. 148 w.). Zugang 131 (61m.
70 w.). Abgang 127 (63 m. 64 w.). Bleibt Bestand 329 (176 m. 164 w.). Krank¬
heitsformen der Aufgenommenen: Imbezillität 4 (3 m. 1 w.), Dementia paralytica
10 (9 m. 1 w.), Dementia arteriosclerotica 1 w., alkoholistische Formen 5 (3 m.
2 w.), Epilepsie 6 (4 m. 2 w.), Hysterie 1 w., infektiöses und toxisches Irresein 3
(2 m. 1 w.), Dementia praecox 42 (21 m. 21 w.), manisch-depressives Irresein 41
(9 m. 32 w.), seniles Irresein 7 (2 m. 5 w.), psychopathische Persönlichkeiten 11
(9 m. 2 w.). Zur Beobachtung nach § 81 Str.-P.-O. aufgenommen 5 P., davon
minderwertig 1, minderwertig und chronisch alkoholistisch 3, epileptisch 1. Ent¬
lassen geheilt 36 (13 m. 23 w.) = 4 % des Bestandes, 7,89 % des Zugangs. Un¬
geheilt entlassen 26 (9 m. 17 w.), gebessert 18 (11 m. 7 w.). Gestorben 39 (22 m.
17 w.), davon infolge Schwindsucht 4 (7 Erkrankungen), Paratyphus 1. Para¬
typhuserkrankungen 16 der Insassen, 2 des Personals. Täglich beschäftigt 42,9 m.
61,8 w. — Gesamtausgabe: 383 415,34 M.
Gehlsheim (16): Anfangsbestand 347 (185 M. 162 Fr.). Zugang 246
(146 M. 99 Fr.). Abgang 269 (170 M. 99 Fr.). Bleibt Bestand 323 (161M. 162 Fr.).
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Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 171 (87 M. 84 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 9 M., Seelenstörung mit Epilepsie 16 (11 M. 5 Fr.), Idiotismus, Kre¬
tinismus 13 (10 M. 3 Fr.), Delir, potat. 11 M.; nicht geisteskrank 25 (7 M. 25 Fr.).
Zur Beobachtung aufgenommen .17 (16 M. 1 Fr.), davon „nicht geisteskrank" 4
6 M. 1 Fr. Entlassen als genesen 26 (21 M. 5 Fr.), gebessert 64 (29 M. 36 Fr.), un-
gebeilt 119 (81 M. 38 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat 48
(29 M. 19 Fr.), 2-3 Monate 25 (15 M. 10 Fr.), 4—6 Monate 10 (6 M. 4 Fr.), 7—12
Monate 6 (3 M. 2 Fr.), im zweiten Jahre 12 (7 M. 5 Fr.), über 2 Jahre 96 (64 M.
32 Fr.), unbestimmte Zeit 13 (7 M. 3 Fr.). Gestorben 38 (23 M. 16 Fr.) = 14,1 %
des Gesamtabgangs, 11,6 % des Durchschnittsbestandes; Tuberkulose-Sterbe¬
fälle 5,3 % der Sterbezahl, Todesfälle an Gehirn- und Nervenkrankheiten 10 (5 M.
5 Fr.), Selbstmord 1. — Gesamtausgabe: 312 203,48 M.
Sachsenberg (46): Anfangsbestand 601 (292 M. 309 Fr.). Zugang 228
(134 M. 94 Fr.;. Abgang 161 (77 M. 84 Fr.). Bleibt Bestand 668 (349 M. 319 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 173 (94 M. 79 Fr.), paralytischer
Seelenstörung 11 (9 M. 2 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 23 (20 M. 3 Fr.),
an Delirium potat. —, Idiotismus, Kretinismus 20 (10 M. 10 Fr.); nicht geistes¬
krank 1 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bi« 1 Monat 35 (16 M. 19 Fr.),
2—3 Monate 16 (5 M. 11 Fr.), 4—6 Monate 1 Fr., 7—12 Monate 10 (2 M. 8 Fr.),
im zweiten Jahre 11 (8 M. 3 Fr.), über 2 Jahre 106 (69 M. 37 Fr.), Krankheits¬
dauer unbestimmt bei 48 (33 M. 15 Fr.). Erblich belastet 60 (30 M. 30 Fr.). Ge¬
nesen 22 (13 M. 9 Fr.), gebessert 32 (17 M. 15 Fr.), ungeheilt entlassen 41 (15 M.
26 Fr.). Gestorben 65 (31 M. 34 Fr.) = 40,63% des Gesamtabgangs, 10,16%
des Gesamtdurchschnittsbestandes; Sterbefälle an Tuberkulose 9,23 % aller
Sterbefälle, 0,9% des Durchschnittsbestandes. 2 Selbstmorde. — Gesamtaus¬
gabe: 499 675,15 M., Baukosten besonders: 19 692,18 M.
Lewenberg (29): Anfangsbestand 260 (147 M. 113 w.) Zugang 23 (14 ro.
9 w.). Abgang 23 (13 m. 10 w.). Bleibt Bestand 260 (148 m. 112 w.). Vom Bestände
litten an Krampfanfällen bzw. waren Epileptische 80 (45 m. 35 w.) = 33,76 %.
Von den Aufgenommenen waren erblich belastet von seiten des Vaters 5, von der
Mutter 5, von beiden Eltern 1, sonstige familiäre Anlage 1. Ferner sind als Krank¬
heitsursachen anzusehen Erkrankung des Gehirns und seiner Häute, des Rücken¬
marks bei 2. Entlassen gebessert 6 = 25 % des Abgangs (Vorj. 31,82 %) = 2,53 %
der Verpflegten (2,48%), nicht gebessert 6= 25% (40,91%) des Abgangs =
2.53% (3,19%) der Verpflegten. Gestorben sind 12= 50% (27,27%) des Ab¬
gangs = 6,06% (2,13%) der Verpflegten. An Tuberkulose starben 4. Unter¬
richtet wurden 89 = 34,23 % der Verpflegten. Ständig beschäftigt 21 m. 25 w.
Roda, Genesungshaus (43 ): Anfangsbestand 459 (243 ra. 216 w.). Zu¬
gang 160 (79 m. 81 w.). Abgang 159 (84 m. 75 w.). Bleibt Bestand 460 (238 m.
222 w.), davon in Familienpflege 38 (16 m. 22 w.). Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 120 (53 m. 67 w.), paralytischer Seelenstörung 18 (13 m. 5 w.), Im¬
bezillität, Idiotie, Kretinismus 7 (4 m. 3 w.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung
6 (2 m. 4 w.), Hysterie 3 (2 m. 1 w.), anderen Krankheiten des Nervensystems
1 Fr., Alkoholismus 5 M. Als Krankheitsursachen angesehen angeborene somati-
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sehe Affektionen bei 7 (4 m. 3 w.), erbliche und familiäre 11 (8 m. 3 w.), psychische
Aifektionen bei 28 (12 m. 16 w.). Rückfall 33 (13 m. 20 w.). Entlassen geheilt 30
(19 m. 17 w.), gebessert 58 (30 m. 28 w.), ungeheilt 24 (13 m. 11 w.). Gestorben 41
(22 m. 19 w.), davon infolge Marasmus 9 (2 m. 7 w.), Hirnkrankheiten 4 (2 m.
2 w.), epileptischer Anfall 1 w., Lungenentzündung 12 (11 m. 1 w.), Lungentuber¬
kulose 3 (1 m. 2 w.), Lungenembolie, Suffokation 4 (2 M. 2 Fr.), Herzleiden 2 (1M.
1 Fr.), Sepsis, Magenkrebs, Darmkatarrh, Schrumpfniere 4 M. In der Heilanstalt
für heilbare Körperkranke wurden behandelt 222 Kr., davon geheilt entlassen 122 =
64,96 %, es verstarben 10 = 4,5 %.
Roda, Martinshaus (44): Anfangsbestand 95 (54 m. 41 w.). Zugang 11
(9 m. 2 w.). Abgang 18 (14 m. 4 w.). Bleibt Bestand 88 (49 m. 39 w.). Verpflegt
durchschnittlich 1 Jahr = 90,97 Pfleglinge. Von den Verpflegten (106 Kinder^
waren belastet mit Epilepsie (allein) 16 (12 Kn. 4 Md.), Chorea 3 Kn., Lähmungen
der Himnerven 14 (8 m. 6 w.), der Gliedmaßen 8 (3 m. 5 w.), an Epilepsie mit Läh¬
mungen 2. Erbliche Disposition der Eltern und nächsten Verwandten zu Geistes¬
und Nervenkrankheiten bei 48 (30 m. 18 w.), Alkoholismus 24 (11 m. 13 w.), Sy¬
philis 4 (2 m. 2 w.), Tuberkulose 10 (5 m. 5 w.). Gestorben 1 Kind an Entkräftung.
Schulbesuch von 83 (52 Kn. 31 Md.), davon mit Erfolg 55 (32 Kn. 23 Md.).
Hessen, Hilfsvorein (21): Die Gesamteinnahme betrug 52186,96 M.,
Gesamtausgabe 47039,06 M.; davon wurden verwandt für in Anstalten befind¬
liche Pfleglinge 512,12 M., bei der Entlassung an 30 Pers. 243,90 M., nach der Ent¬
lassung an 106 Pers. 6585,78 M., gezahlt an Angehörige von 76 Pflegl. 6906 M.,
für 9 psychisch Nervöse 1241 M., für Familienpfleglinge 10426,18 M. Die
Verwaltungskosten betrugen 3467,98 M.
Mariaberg (34): Am 1. Juli 1914 waren untergebracht 178 (128 m. 50 w.).
Eingetreten sind 12 (10 m. 2 w.), somit verpflegt 190. Ausgetreten sind 7 (5
m. 2w.). Gestorben 1 m. 2 w. Mithin Stand am 1. Juli 1915 = 180. Am Schulunter¬
richt nahmen teil 60. Arbeitsfähige Erwachsene waren vorhanden 63. Bildungs¬
und arbeitsunfähige Zöglinge 57. Gesundheitszustand außergewöhnlich günstig.
Einer der Todesfälle betraf 78jährigen Insassen, nach 40 jährigem Aufenthalt
der Anstalt: Altersschwäche. — Gesamtausgabe: 102862,17 M.
Nach dem vom Großherzoglichen Ministerium des Innern mitgeteilten Be¬
richt über die Badischen Irrenanstalten (2) für 1913 und 1914 war:
In der Psychiatrischen Klinik d. U. Heidelberg ein Anfangsbestand \on
144 (83 M. 61 Fr.). Zugang 798 (468 M. 330 Fr.). Abgang 812 (489 M. 323 Fr.).
Bleibt Bestand für 1914: 130 (62 M. 68 Fr.). Zugang 704 (428 M. 276 Fr.). Abgang
698 (425 M. 273 Fr.). Bleibt Schlußbestand 136 (65 M. 71 Fr.). Die poliklinischen
Sprechstunden besuchten 1913 = 443 (213 m. 24 w.) 1914 bis Ende Juli — mit
Kriegsbeginn fielen die Sprechstunden aus — 256 (142 M. 114 Fr.); Aufnahme
in der Klinik fanden 24 und 20 Pers. Vom Zugang in der Klinik in den beiden Be¬
richtsjahren (erste Aufnahmen 698 und 551) litten an Erkrankungen mit manisch-
depressiven Formen 92 und 75. Bei psychopathischen Konstitutionen (86 und 42)
fand sich Dipsomanie bei 3 und 6, hysterischer Charakter 35 und 33, Neurasthenie
bei 3 (1913). Unter pathologischen Reaktionen war vertreten traumatische Neu-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
rose bei 63 und 34, hysterische (Schreck, Konflikt) Psychose bei 1 und 3. An er¬
worbenen Zuständen von Jugend auf (Imbezillität, Idiotie, Kretinismus) litten
16 und 9 (Imbezillität 12 und 3), solchen späteren Alters, zunächst an Alkoholis¬
mus 53 und 53 (chron. Alk. 34 und 40), Morphinismus und dgl. 3 und 1, Lues ce-
rebri 6 und 3, progressiver Paralyse 62 und 47, Psychosen bei akuten toxisch wir¬
kenden Krankheiten 1 und 1, Psychosen bei Krankheiten der Zentralorgane 13
und 8, nach traumatischer Gehirnschädigung 5 und 3, bei Erschöpfungen, Ge¬
nerationsvorgängen 1 und 4, Dementia praecox 321 und 265, Epilepsie mit und
ohne Seelenstörung 23 und 25; senile Prozesse des Rückbildungsalters 12 und 23,
arteriosklerotische 13 und 23; unklare Fälle akuter Form bei 32 und 23, chronischer
2 (1913); nicht geisteskrank, nicht psychopathisch waren 13 und 20. Zur Be¬
obachtung auf Grund § 81 Str.-P.-O. eingewiesen 17 M. und 28 M. 3 Fr., hiervon
nicht zurechnungsfähig 5 und 3. Aus den Strafanstalten in Bruchsal zugeführt
10 und 11, aus dem Arbeitshaus in Kislau 4 und 4. Zur Begutachtung in Unfall-
und Invalidensachen eingewiesen 61 und 40. Entlassen geheilt 78 und 72, ge¬
bessert 210 und 188, ungebessert 95 und 57, nicht geisteskrank 3 und 9, nach Be¬
obachtung in Unfall- usw. Sachen 90 und 76, nach anderen Anstalten 309 und
249, zur Familienpflege 476 und 402. Todesfälle 27 (16 M. 11 Fr.) und 47 (23 M.
24 Fr.). Als Todesursache zu bezeichnen u. a. Erkrankungen des Gehirns bei 11
<8 M. 3 Fr.) und 12 (6 M. 6 Fr.), des Herzens 6 (4 M. 1 Fr.) und 13 (7 M. 6 Fr.),
allgemeine Arteriosklerose 4 (2 M. 2 Fr.) und 6 (3 M. 3 Fr.), Lungentuberkulose
je 2 Fr.
In der Psychiatrischen Klinik Freiburg i. B., Psychiatr. Abt., war der
Anfangsbestand 1913 = 135 (70 M. 65 Fr.). Zugang 677 (333 M. 244 Fr.). Ab¬
gang 588 (339 M. 249 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 124 (64 M. 60 Fr.). Zu¬
gang 816 (571 M. 245 Fr.). Abgang 802 (568 M. 244 Fr.). Von den Jahresschlu߬
beständen (erste Aufnahmen 458 und 671) litten, abgesehen von 22 Soldaten,
an einfacher Seelenstörung 72 (32 M. 40 Fr.) und 75 (36 M. 39 Fr.), paralytischer
Seelenstörung 8 M. und 8 (7 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 12 (5 M.
7 Fr.) und 8 (3 M. 6 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 10 (6 M. 4 Fr.)
und 11 (5 M. 6 Fr.), Hysterie 6 (1 M. 4 Fr.) und 7 (1 M. 6 Fr.), anderen Krank¬
heiten des Nervensystems 6 (1M. 4 Fr.) und 4 (1M. 3 Fr.), Alkoholismus 12 (11M.
1 Fr.) und 3 (2 M. 1 Fr.). Im Strafverfahren zur Beobachtung eingewiesen 16
und 18. Entlassen nach dem Garnisonlazarett 207 Soldaten, vom sonstigen Be¬
stand geheilt 96 und 94, gebessert 178 und 186, ungebessert 41 und 49, versetzt
nach anderen Anstalten 205, davon nach Strafanstalten 11 und 21. Aus der Be¬
obachtung entlassen 9 und 3. Gestorben 59 (23 M. 26 Fr.) und 63 (30 M. 23 Fr.).
An progressiver Paralyse gelitten hatten 8 und 6, arteriosklerotischer Demenz
3 und 8, seniler 6 und 7. — In der Abt. für Nervenkranke war der Anfangsbestand
30 (16 M. 14 Fr.), Zugang 335 (190 M. 145 Fr.). Abgang 338 (194 M. 144 Fr.).
Bleibt Bestand für 1914 = 27 (12 M. 15 Fr.). Zugang 268 (149 M. 119 Fr.). Ab¬
gang 287 (166 M. 131 Fr.). Bleibt Schlußbestand 8 (6 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung
in Unfall- und Invaliditätssachen jährlich aufgenommen zirka 100. In der Poli¬
klinik war 1913 ein Zugang von 543 Pers., 1914 von 624. Behandelt im ganzen
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wurden 606 (382 M. 224 Fr.) und 647 (347 M. 200 Fr.). Mit Kriegsbeginn wurde
eine größere Anzahl von Patienten nach Emmendingen überfährt, um für Sanitärs-
zwecke des Heeres Platz zu schaffen. Sowohl Mobilmachungs- als Kriegspsychosen
kamen zunächst zur Behandlung, späterhin Aufnahmen von der Front.
Illenau: Anfangsbestand 1913 = 680 (315 M. 365 Fr.). Zugang 616 (299 M.
317 Fr.). Abgang 648 (320 M. 328 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 648 (294 M.
354 Fr.). Der Rückgang des Gesamtkrankenstandes 1913: 1233, 1914: 1226 ist
namentlich auf die Eröffnung der Anstalt Konstanz zurückzuführen. Beim Zu¬
gang waren unter den Formen der Psychosen in den beiden Berichtsjahren ver¬
treten: originär-paranoische Konstitution bei 1 M. und 1 M., Querulantenwahn
3 und 2, Paranoia 1M. und 9 (7 M. 2 Fr.), manisch-depressive Konstitution 34 und
9, manisch-depressives Irresein 126 (30 M. 96 Fr.) und 116 (40 M. 76 Fr.), psycho¬
pathische Konstitution 65 (37 M. 28 Fr.) und 65 (31 M. 34 Fr.), pathologische
Reaktionen 6 (6 M. 1 Fr.) und 9 (6 M. 3 Fr.), Imbezillität, organ. Form 9 und 7,
Alkoholismus 46 (43 M. 3 Fr.) und 48 (38 M. 10 Fr.), Morphinismus 1913 = 3,
Lues cerebri 4 (3 M. 1 Fr.) und 2 Fr., progressive Paralyse 21 (17 M. 4 Fr.) und
29 (27 M. 2 Fr.), Psychosen bei akuten toxisch wirkenden Krankheiten 3 (1 M.
2 Fr.) und 3 Fr., bei Krankheiten der Zentralorgane 5 (2 M. 3 Fr.) und 3 (1M. 2 Fr.),
nach traumatischer Gehimschädigung 3 M. und 3 M., bei Erschöpfungen 14 (2 M.
12 Fr.) und 29 (1 M. 28 Fr.), Dementia praecox 214 (110 M. 104 Fr.) und 186
(109 M. 76 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 2 und 7, senile Prozesse 18
(6 M. 12 Fr.) und 25 (11M. 14 Fr.), arteriosklerotische 14 (10M. 4 Fr.) und 6 (3 M.
3 Fr.), senil-arteriosklerotische 23 (11 M. 12 Fr.) und 11 (1 M. 10 Fr.), unklare
akute Fälle 1 und 1, chronische 1 und 3, nicht geisteskrank, nicht psychopathisch
1914 = 1 Fr. Erblich belastet waren 291 und 243. Auf Grund § 81 Str.-P.-O. ein¬
gewiesen 16 (13 M. 2 Fr.) und 11 (9 M. 2 Fr.), davon als unzurechnungsfähig be¬
gutachtet 9 und 2. Entlassen genesen 68 (34 M. 34 Fr.) und 59 (17 M. 24 Fr.),
gebessert 336 (165 M. 181 Fr.), ungebessert 26 (14 M. 12 Fr.) und 13 (2 M. 11 Fr.),
nach anderen Anstalten verbracht 133 und 63, zurück zur Strafanstalt 3 und 7,
aus der Beobachtung entlassen, nicht geisteskrank 3 und 1. Gestorben sind 79
(43 M. 36 Fr.) und 82 (44 M. 38 Fr.), davon infolge Paralyse 18 (16 M. 2 Fr.) und
18 M., Tuberkulose 13 (5 M. 8 Fr.) und 10 (2 M. 8 Fr.), an Erschöpfung, Maras¬
mus 6 und 10.
Pforzheim: Anfangsbestand 1913 = 511 (248 M. 263 Fr.). Zugang 107
<72 M. 36 Fr.). Abgang 99 (43 M. 56 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 619 (277 M.
242 Fr.). Zugang 113 (62 M. 61 Fr.). Abgang 74 (43 M. 31 Fr.). Bleibt Bestand
558 (286 M. 272 Fr.). In den Wachabteilungen befanden sich am Jahresschluß
1913 = 7,58 % der M., 8,26 % der Fr., 1914 = 7,36 und 7,36 %. Von den Ver¬
pflegten b'tten an einfacher Seelenstörung 1913 = 472 (230 M. 242 Fr.), 1914 =
495 (241M. 254 Fr.), paralytischer Seelenstörung 61 (33 M. 18 Fr.) und 44 (31M.
13 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 73 (42 M. 31 Fr.) und 71 (41M. 30 Fr.),
Epilepsie mit Seelenstörung 12 (7 M. 6 Fr.) und 12 (8 M. 4 Fr.), Hysterie je 1 M.,
Chorea je 1 Fr., anderen Krankheiten des Nervensystems 6 (4 M. 1 Fr.) und 5 (4 M.
1 Fr.), Alkoholismus je 3 M. Von den Aufgenommenen waren erblich belastet
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
48 und 34. Entlassen geheilt sind 1914 = 3, gebessert 1913 und 14 = o und 12-
imgebessert 27 und 11, in andere Anstalten 30 und 20, zur Familienpflege 2 und 6.
Von den ungebessert Entlassenen wurden nach Konstanz überführt 20 (8 M. 12 Fr. i
und 5 (3 M. 2 Fr.). Vorübergehend auigenommen 27 Pfleglinge der Epileptiker*
anstatt Kork b. Straßburg. Gestorben 1913 = 67 (25 M. 42 Fr.), 1914 = 48 (26 M.
22 Fr.), davon hatten gelitten an Paralyse 7 (3 M. 4 Fr.) und 5 (2 M. 3 Fr.), Tu¬
berkulose 15 (4 M. 12 Fr.) und 14 (9 M. 5 Fr.), an Tuberkulose erkrankt waren IT
(8 M. 9 Fr.) und 15 (7 M. 8 Fr.). Typhus herrschte noch von den Vorjahren hei
epidemisch; 1912 waren erkrankt 8 M. 3 Fr. und vom Personal 21 (17 Wärteri nn en
im Januar 1913 erkrankten noch 2 männl. Pflegl. und 1 Wärterin. 1914 nur eir
ganz vereinzelter Fall (1 männl. Pflegl.). Insgesamt sind an Typhus verstorber
1 Werkmeisetr und 2 männl. Pfleglinge (darunter der von 1914). Die Bazillen¬
ausscheider waren isoliert (1 Wärterin noch mehrere Monate, 1 w. Kr. nahen
1% Jahr), bis völlige Bazillenfreiheit sich ergab. — Infolge der Einwirkung dt>
Krieges waren aufgenommen 4 M. 7 Fr., davon genesen 3 M., gebessert 1 Fr.; 2 Fr.
wurden als ungebessert in Anstaltspflege behalten.
Emmendingen: Anfangsbestand 1913= 1394 (758 M. 636 Fr.). Zuganr
291 (139 M. 152 Fr.). Abgang 422 (216 M. 206 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 =
1263 (681M. 582 Fr.). Zugang 313 (1% M. 117 Fr.). Abgang 286 (170 M. 116 Fr.*-
Bleibt Schlußbestand 1914 = 1290 (707 M. 583 Fr.). Erste Aufnahmen 1913 =
213, 1914 = 240. Von den Verpflegten litten an einfacher Seelenstörung 1913 =
1323, 1914 = 1234, paralytischer Seelenstörung 10 und 13, Imbezillität, Idiotie
167 und 156, Epilepsie mit Seelenstörung 133 und 104, Hysterie 12 und 8, ABuf
holismus 42 und 55, anderen Krankheiten des Nervensystems 7 und 6, Neurastheni>
1. Unter den Erkrankten des Jahres 1914 waren 55 Soldaten, davon wurden ent
lassen 27; 1 Todesfall. In Familienpflege befanden sich 1913 = 6,1914= 4 Frauen.
Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 1913 = 261 M. 62 Fr., 1914 = 269 >1.
53 Fr. Entlassen sind in beiden Jahren gebessert 140 und 159, ungebessert 13-
und 165, zur Familienpflege 132 und 166, in andere Anstalten 192 und 30, davoi
nach Konstanz verbracht 1913 = 164 (83 M. 81 Fr., 1914 = 11 (6 M. 6 Fr.). Ge¬
storben sind 1913 = 78 (35 M. 43 Fr.), 1914 = 73 (42 M. 31 Fr.), und zwar in¬
folge Paralyse insgesamt 6, Tuberkulose 48, Typhus 2. Zur Feststellung von Ba¬
zillenträgern wurden untersucht 1913 = 245 Kr. und 62 Angestellte, 1914 =
172 Kr. 142 Angestellte. Paratyphusbazillen gefunden bei insgesamt 6 (3 M. 2 Fr. '
und 1 Aushilfswärter, Typhusbazillen 19 (17 M. 2 Fr.). Die Untersuchungen waren
ausgeführt im Hygienischen Institut d. U. Freiburg.
Wiesloch: Anfangsbestand 1913= 1239 (623 M. 616 Fr.). Zugang 47, r «
(276 M. 199 Fr.). Abgang 418 (240 M. 178 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 1294
(657 M. 637 Fr.). Weiterer Zugang 437 (246 M. 191 Fr.). Abgang 468 (258 M
210 Fr.). Schlußbestand 1263 (646 M. 618 Fr.). Erste Aufnahmen 1913 = 3# 1
(200 M. 160 Fr.); 1914 = 325 (183 M. 142 Fr.). Aus der psychiatrischen Klinik
zu Heidelberg waren übernommen 1913 = 227 (115 M. 112 Fr.), 1914 = IST
(102 M. 85 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 1913 = 337 (161II
176 Fr.), 1914 = 305 (139 M. 166 Fr.), paralytischer Seelenstörung 31 (25 >1.
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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik.
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! Fr.) und 32 (24 M. 8 Fr.), Imbezillität und Idiotie, Kretinismus 35 (31M.4 Fr.)
ind 9 (6 M. 3 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 26 (21 M. ö Fr.) und 36
31 M. 5 Fr.), Hysterie 6 (1M. 5 Fr.) und 4 Fr., Alkoholismus 24 (22 M. 2 Fr.) und
12 (29 M. 3 Fr.), anderen Erkrankungen je 3 M. Zur Beobachtung aufgenommen
ind Nichtkranke 12 (11M. 1 Fr.) und 11 (10 M. 1 Fr.). Erblichkeit nachgewiesen
lei 190 (133 M. 57 Fr.) und 134 (82M. 52 Fr.), Alkoholmißbrauch 113 (108 M. 5 Fr.)
ind 77 (70 M. 7 Fr.). Beobachtungen gemäß § 81 Str.-P.-O. bei 7 und 12 M., davon
;eisteskrank nach § 51 Str.-G.-B. 5. Entlassen geheilt 1 M., gebessert 240 (137 M.
17 Fr.) und 232 (119 M. 113 Fr.), ungebessert 17 (12M. 5 Fr.) und 27 (22 M. 6 Fr.),
lach anderen Anstalten verbracht 79 imd 99, zur Strafanstalt zurück je 5 M. Ge¬
itorben sind 69 und 95, davon an Lungenschwindsucht 19 (5 M.. 14 Fr.) und 17
5 M. 12 Fr.), infolge Erkrankungen des Nervensystems 22 (11 M. 11 Fr.), dar-
mter Paralyse bei 16 (10 M. 6 Fr.) und 24 (17 M. 7 Fr.), Krankheiten der Atmungs-
irgane 7 (3 M. 4 Fr.) und 5 (4 M. 1 Fr.), der Kreislauforgane 9 (6 M. 3 Fr.) und
15 (5 M. 10 Fr.), an Altersschwäche 5 (2 M. 3 Fr.) und 5 (3 M. 2 Fr.). Erkrankt
in Typhus 3 Pers., außerdem einige Bazillenträger vorhanden. Zahlreiche Fälle
von Angina follicularis und abscedens.
Konstanz: Die Anstalt ist nahe der Station Reichenau in herrlicher land-
chaftlicher Umgebung nach einem zweifellos sehr glücklichen Anlageplan neu
;rbaut und im Besitz eines Geländes von zirka 85,5 ha. Es sind 24 Kran¬
kenhäuser (12 für M., 12 für Fr.) mit 910 Betten und je 1 Infektionshaus
'.u 12 Betten vorgesehen, zahlreiche Venvaltungs-, Wohn-und Wirtschafts¬
gebäude, Gutshof. Der Gesamtaufwand einschließlich Gelände und Ein-
•ichtung stellt sich auf 5 800 000 M., demnach Kosten pro Bett 910 M.
Die erste Belegung erfolgte Oktober 1913 mit unmittelbar neuen Auf¬
nahmen und Überführungen aus anderen Landesanstalten. Die Zahl der
vorhandenen Plätze betrug Ende 1913 = 400, Ende 1914 = 434. Der
Krankenbestand belief sich zu Beginn des Jahres 1914 auf 304 (151 M. 153
Fr.), zum Schlüsse des Jahres auf 366 (180 M. 186 Fr.). Vom
Zugang litten an originär-paranoischen Formen 1913 = 5 M., 1914 = 1 M.,
nanisch-depressiven Formen 22 (6M. 16 Fr.) und 24 (10 M. 14 Fr.),
inderen psychopathischen Formen 7 (6 M. 1 Fr.) und 25 (17 M. 8
■>.), Imbezilliät, Idiotie 9' (8 M. 1 Fr.), Alkoholismus 10 (9 M. 1 Fr.)
ind 13 M., progressiver Paralyse6 (5 M. 1 Fr.) und 9 (6 M. 3 Fr.), Psychosen bei
nderen Erkrankungen der Zentral organe 2 M. und 5 (3 M. 2 Fr.), nach Trauma
isw. 1M., bei akuten toxisch wirkenden Krankheiten 2 Fr., Dementia praecox,
fugendform 158 (65 M. 93 Fr.) und 63 (23 M. 40 Fr.), Spätformen 65 (30 M. 36 Fr.)
ind 22 (10 M. 12 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 15 (13 M. 2 Fr.) und
2 (7 M. 5 Fr.), senile und arteriosklerotische Prozesse 11 (4 M. 7 Fr.) und 20 (9 M.
1 Fr.). Zur Beobachtung aufgenommen nach § 81 Str.-P.-O. 4 M., davon zu-
echnungsfähig 1 M. Entlassen genesen 1914 = 9 (3 M. 6 Fr.), gebessert 1913 =
!, 1914 = 78 (49 M. 29 Fr.), ungebessert 1 und 17 (10 M. 7 Fr.). Gestorben 17
10 M. 7 Fr.) und 21 (5 M. 16 Fr.). An Tuberkuloe erkrankt 16.
Eglfing (11): Anfangsbestand 1178 (598 M. 580 Fr.). Zugang 434 (244 M.
90 Fr.), 91 % aller Aufnahmen aus München; infolge des Krieges starker Rück-
Zeitschrift för Psychiatrie, LXXIII. Lit. m
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
gang der Aufnahme männl. Ausländer (um 52 % gegen das Vorjahr). Abgang
398 (227 M. 171 Fr.). Bleibt Bestand 1214 (615 M. 599 Fr.). Vom Zugang litten
an Psychosen bei gröberer Himerkrankung 2 Fr., Morphinismus, Kokainismus
2 Fr., Alkoholismus 36 (34 M. 2 Fr.), Lues cerebri und Tabespsychosen 9 (5 M.
4 Fr.), progressive Paralyse 62 (44 M. 18 Fr.), senilen und präsenilen Erkran¬
kungen 7 (2 M. 5 Fr.), Arteriosklerose 4 (1M. 3 Fr.), Dementia praecox 118 (69 M.
49 Fr.), paranoiden Formen 15 (5 M. 10 Fr.), Epilepsie 16 (10 M. 6 Fr.), manisch-
depressiven Psychosen 88 (32 M. 56 Fr.), Hysterie 27 (5 M. 22 Fr.), Haftpsychosen
5 (4 M. 1 Fr.), paranoide und querulatorische Persönlichkeiten —, Paranoia 6
(2 M. 4 Fr.), Psychopathen 14 (13 M. 1 Fr.), Imbezillität, Debilität 15 (1M. 4 Fr.),
Idiotie 2 M., unklar 1 Fr.; nicht geisteskrank 4 M. Von Militärpersonen, nicht
von der Front, aufgenommen 6 (Dementia praecox-Fälle, Paralyse, Lues cerebri),
Zivilpersonen infolge Kriegserregung 4 Aufnahmen. Abgang infolge Genesung 5
(3 M. 2 Fr.), gebessert 161 (90 M. 71 Fr.), an andere Anstalten abgegeben 97 (68 M.
29 Fr.), sonstige 27 (15M. 12 Fr.). Gestorben 107 (50 M. 57 Fr.), davon infolge
Paralyse 53 (34 M. 19Fr.), Tuberkulose 21 (6 M. 15 Fr.). In dem nach Kriegs¬
ausbruch eröffnoten Reservelazarett der Anstalt (100 Betten) fanden bis Jahres¬
schluß 117 M. Aufnahme. — Gesamtausgabe: 1427 637,09 M.
Haar (18): Anfangsbestand 521 (271 M. 250 Fr.). Zugang 334 ( 206M.
128Fr.), davon polizeiliche Aufnahmen 147 (106 M. 41 Fr.); 81 % aller Aufnahmen
aus der Psychiatr. Klinik München. Abgang 315 (199 M. 116 Fr.). Bleibt Be¬
stand 540 (278 M. 262 Fr.). Krankheitsformen des Zugangs: Psychosen bei grö¬
berer Hirnerkrankung 2 (1 M. 1 Fr.); Alkoholismus 31 (29 M. 2 Fr.), darunter
chron. Alkoholismus 19 M. = 5,7 % des Zugangs; Lues cerebri und Tabespsy¬
chosen 7 (4 M. 1 Fr.); progressive Paralyse 61(45 M. 16 Fr.) - 182% des Zugangs
(2,8 männl. Paralytiker zu 1 weibl.); senile und präsenile Erkrankunngen
6 Fr.; arteriosklerotische Erkrankungen 10 (8 M. 2 Fr.); endogene Verblödungen
106 (60 M. 46 Fr.), davon Dementia praecox 95 (53 M. 42 Fr.) = 31,7 % des Zu¬
gangs; Epilepsie 13 (12 M. 1 Fr.); manisch-depressive Veranlagungen und Psy¬
chosen 54 (20 M. 34 Fr.) = 16,1% des Zugangs; Hysterie 7 (3 M. 4 Fr.); Pa¬
ranoia, Querul. usw. 1 M.; psychopath. Pers. 21 (15 M. 6 Fr.); Imbezillität und
Debilität 10 (8 M. 2 Fr.); Idiotie 2 Fr.; unklar 3 Fr. Laut § 81 Str.-P.-O. ein¬
gewiesen 2 Pers., davon geisteskrank 1. Entlassen genesen (lediglich manisch-
depressive Formen) 3 (2 M. 1 Fr.), gebessert 158 (106 M. 62 Fr.), ungehcilt 69 (37 M.
32 Fr.), hiervon anderen Anstalten zugeführt 48 (28 M. 20 Fr.). Gestorben 85
(54 M. 31 Fr.) = 10 % des Gesamtbestandes, 27 % des Abgangs. 55 % aller Todes¬
fälle infolge Paralyse; Tuberkulosesterblichkeit 8,2% gegen 13% des Vorjahres.
Für geisteskranke Heeresangehörige 100 Plätze bereitgestellt. Zugang im Berichts¬
jahre 4 P., 2 Alkoholmißbrauch bew. kataton. Erregungszustand, 2 paralytische
Demenz.
Im Kinder hause Anfangsbestand 25 (15 Kn. 10 Md.). Zugang 55 (30 Kn.
25 Md.). Abgang 41 (20 Kn. 21 Md.). Bleibt Bestand 39 (25 Kn. 14 Md.). Erb¬
liche Belastung bei 67 % des Zugangs, Trunksucht der Eltern beteiligt bei 20 %.
2 Fälle kongenitale Lues. Bildungsfähig 11 Kn. 5 Md.
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Sn eil. Anstalts wesen und Statistik.
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Im Reservelazarett Haar verpflegt im November und Dezember 70 P. mit
2751 Verpflegungstagen. Vorheriger Transport 17 M. 2 Todesfälle. — Gesamt¬
ausgabe: 610 647,66 M.
Gabersee (15): Anfangsbestand 853 (454 M. 399 Fr.). Zugang 254 (142 M.
112 Fr.). Abgang 237 (138 M. 99 Fr.). Bleibt Bestand 870 (458 M. 412 Fr.). Nor-
inalplatzzalü 797 Betten; Höchstbestand im November mit 884 Pfl. = 11 %
Überfällung. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 182 (87 M. 95 Fr.),
paralytischer Seelenstörung 31 (20 M. 11 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus
14 (13 M. 1 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 6 M., Hysterie 1 Fr., Chorea
1 Fr., Alkoholismus 25 (24 M. 1 Fr.), Morphinismus 2 Fr. Herrschende Krank¬
heitsformen u. a. progressive Paralyse bei 20 M. 11 Fr., Dementia praecox 49 M.
36 Fr., manisch-depressives Irresein 26 M. 54 Fr. Erbliche Belastung nachgewiesen
bei 79 (41 M. 38 Fr.), Alkoholmißbrauch 21 (20 M. 1 Fr.). Wegen Sicherheits¬
gefährdung eingewiesen 43% (i. Vorj. 39%) der Aufgenommenen (53% der M.,
30 % der Fr.). Keine gerichtlichen Einweisungen. Abgegangen nicht geisteskrank
I = 0,4%, genesen 37 = 15,6% (6,7 % M., 8,9 % Fr.), gebessert 88 = 37,1 %
<21,9% M. 37,1% Fr.), ungebessert 58 = 24,5% (15,6% M., 8,9% Fr.). Ge¬
storben sind 53 - 22,4 % (13,5 % M., 8,9 % Fr.). Mortalität = 6,2 % (i. Vorj.
6,7 %) des durchschnittlichen Bestandes. Mortalität des Gesamtbestandes
4,8% (i. Vorj. 5,3%). Von den Verstorbenen hatten gelitten an Paralyse 17i
(22,6% M. 9,4% Fr.), an Dementia praecox 15. An chronischen Krankheiten
starben 10 M. 4 Fr., Nervenkrankheiten 6 M. 7 Fr., lokalen Erkrankungen 15 M.
10 Fr., Erstickung 1 M. Tuberkulöse Erkrankungen als Todesursache bei 13.
6 weibl. Typhusbazillenträger sind ständig isoliert. Typhuserkrankungen nur aus
dem Vorjahre noch vorhanden. Umfangreiche Typhus-Schutzimpfungen sind vor¬
genommen mit günstiger Morbidität. Geisteskranke des mobilen Heeres wurden
4 aufgenommen, 2 davon konnten nach kurzem Aufenthalt entlassen werden. —
Gesamtausgabe: 732 502,02 M.
Werneck (57): Anfangsbestand 595 (290 M. 305 Fr.). Zugang 178 (98 M.
30 Fr.). Abgang 149 (76 M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 624 (312 M. 312 Fr.). Unter
den Aufnahmen können mit dem Krieg in Verbindung gebracht werden 3 Fälle
bei Frauen mit Melancholie und baldiger Heilung, bei den M. einige psychopathi¬
sche Veranlagungen, und bei 4 jungen Leuten akute Störungen mit baldiger Wieder¬
herstellung. Zur Beobachtung aufgenommen und nicht krank befunden 4 M. 1 Fr.
Entlassen genesen 20 (17 M. 3 Fr.), gebessert 62 (26 M. 36 Fr.), ungeheilt 18 (7 M.
II Fr.), davon nach anderen Anstalten 3 M. 3 Fr. Gestorben sind 46 = 5,8%
gegen 5,3% im Vorjahre, davon starben infolge Paralyse 4 M. 2 Fr., Epilepsie
3 M., Tuberkulose 1 Fr. Auffallender Rückgang an Tuberkulose, zuzuschreiben
durchgeführten sanitären Verbesserungen; i. J. 1912 noch 24 Todesfälle = 37,5 %,
1913 = 10 = 23,2 %, im Berichtsjahre 1 Fall = 2,2 %! Eine Typhusbazillenträgerin
rechtzeitig isoliert. — Mit Kriegsbeginn waren 40 Plätze der Militärverwaltung
zur Verfügung gestellt, späterhin wurde eine Krankenabteilung als Reservelazarett
zunächst mit 18 Kr. belegt.
Homburg i. d. Pfalz (24): Anfangsbestand 657 (341 M. 316 Fr.). Zu¬
gang 172 (107 M. 65 Fr.), davon aus der Anstalt Klingenmünster 26 (16 M. 9 Fr.).
in*
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172* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Abgang 167 (95 M. 62 Fr.). Bleibt Bestand 672 (363 M. 319 Fr.). Unter den An¬
genommenen befanden sich an Krankheitsformen Alkoholwahnsinn bei 3 M. =
2,8% chron. Alkoholismus 1 M. = 0,9 %, Kollapszustand 1 Fr. = 1,6 %, pro¬
gressive Paralyse 9 M. = 8,4 %, 3 Fr. = 4,6 %, seniler Schwachsinn 3 M. = 2,8 %,
2 Fr. = 3,1 %, arteriosklerotische Erkrankungen 1 M. = 0,9 %, 2 Fr. = 3,1 % r
Dementia praecox 41 M. = 38,3 %, 27 Fr. = 41,6 %, paranoide Schwachsinn¬
formen 9 M. = 8,4 %, genuine Epilepsie 4 M. = 3,7 %, 3 Fr. = 4,6 %, Imbezillität,
Idiotie je 2 M. = 1,8 % und je 1 Fr. = 1,6 %, manisch-depressive Psychosen
14 M. = 13 %, 23 Fr. = 36,6 %, psychogene Haftpsychosen 3 M. = 2,8 %, Zwangs¬
vorstellungen 1 Fr. = 1,,6 %; ferner Haltlose 5 M., Schwindler und Lügnef 1 M.,
sonstige Psychopathen 2 M.; nicht geisteskrank 5 M. Zur Beobachtung nach § 81
Str.-Pr.-O. eingewiesen 7 M., davon geisteskrank 2, laut Art. 80II P. Str.-G.-B.
eingewiesen 18 M. 2 Fr. Von Soldaten und Heeresangehörigen fanden mit Kriegs¬
beginn Aufnahme 31, der Mehrzahl nach konnten sie nach kurzer Zeit entlassen
werden. Entlassen vom Hauptbestande geheilt 3 M. 3 Fr., gebessert 43 M. 23 Fr.,
ungeheilt 6 M. 12 Fr.*, als nicht geisteskrank 6 M. Gestorben sind 62 (38 M. 24 Fr.)
= 7,4 %(4,6%M. 2,8% Fr.) des Gesamtbestandes. 11 Fälle mehr alsim Vorjahre. An
akuten übertragbaren Krankheiten starben 1 M., Tuberkulose 7 M. 6 Fr., Zellen¬
gewebsentzündung, Karzinom je 1 P., groben organischen Veränderungen des
Nervensystems 1 M. 1 Fr., nervöser Erschöpfung in akutem Verlauf 6 M., in chro¬
nischem Verlauf 9 M. 3 Pi’., Krankheiten der Atmungsorgane 8 M. 1 Fr., Herz-
und Gefäßkrankheiten 3 M. 6 Fr., Krankheiten der Verdauungsorgane 2 M., der
Nieren 5 Fr. Die Tuberkulosestation der Männerseite war ständig mit 10—20
Kranken belegt, die der Frauenseite hatte einen durchschnittlichen Bestand von
30 P. Typhus- und Paratyphusbazillenträger wurden im Epidemienhaus isoliert
gehalten (6 M. 2 Fr.). — Die Chronik der Anstalt gibt interessante Einzelheiten über
den regen Verkehr von Sanitätsstäben, -truppen und-kolonnen in der Anstalt zur
Zeit der ersten Kriegsmonate, sowie über die Belegung mit Etappen- und sonstigen
Lazaretten und Stationierungen.
Bayreuth (3): Anfangsbestand 664 (367 M. 297 Fr.). Zugang 212 (128 M.,
darunter 16 Heeresangehörige bzw. Kriegsteilnehmer, 84 Fr.). Abgang 211 (126 M.
86 Fr.). Überführt nach Kutzenberg 47 (36 M. 12 Fr.), von dort übernommen 8
(7 M. 1 Fr.). Bleibt Bestand 666 (369 M. 296 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 136 (84 M. 51 Fr.), paralytischer Seelenstörung 9 M., Seelenstörung
mit Epilepsie und Hysteroepilepsie 19 (8M. 11 Fr.), anderen Krankheiten des Nerven¬
systems 26 (10 M. 15 Fr.), Imbezillität 9 (2 M. 7 Fr.), Alkoholismus 14 M. Erbliche
Belastung nachgewiesen bei 96 (63 M. 43 Fr.) = 45,6 % (41,7 % M., 61,2 % Fr.)
der Aufgenommenen. Alkoholmißbrauch festgestellt bei 36 M. (28,3 %) und 1 Fr.
Zur Beobachtung gerichtsseitig eingewiesen 3 M. 1 Fr., von der Landesversicherungs¬
anstalt 4 P. Auf Grund Art. 80 P. Str.-G.-B. eingewiesen 70 (46 M. 26 Fr.). Ge¬
samtzahl am Schlüsse des Jahres der derart Eingewiesenen 238 (148 M. SO Fr.).
Entlassen genesen 8 (3 M. 5 Fr.) = 3,8 %, gebessert 80 (48 M. 31 Fr.) = 37,6 %,
ungeheilt 73 (49 M. 24 Fr.) = 34,7 %, davon in eine andere Anstalt 60 (43 M.
17 Fr.); nicht geisteskrank 1 P. Gestorben 50 (26 M. 25 Fr.) = 23,8%, davon
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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik.
173 *
•waren paralytisch 10. An Tuberkulose starben 3 M. 8 Fr. = 22 % gegen 21,8 %
ira Vorjahr. — Gesamtausgabe: 618 667,20 M.
Kutzenberg (27): 190 Aufnahmen bei einem Anfangsbestand von 273 Kr.,
mit den Krankheitsformen: einfache Seelenstörung bei 79 M. 64 Fr. = 41,6 %
und 33,6 %; paralytische Seelenstörung 11 M. 3 Fr. = 5,7 % und 1,7 %; Seelen¬
störung mit Epilepsie und Hysteroepilepsie 6 M. 9 Fr. = 3,1% und 4,8%; Im¬
bezillität und Idiotie 10 M. 3 Fr. = 5,3 % und 1,6 %; Delirium potatorum 6 M.
= 2,7 %. Zur Beobachtung wegen Invalidität 6 Kr. Als gemeingefährlich ein¬
gewiesen 30 (25 M. 6 Fr.) = 15,8 % der Aufnahmen. Abgang 156 Kr., davon ge¬
nesen 55, gebessert 32, ungeheilt 26 (an Anstalten abgegeben 10), nicht geistes¬
krank 2. Gestorben 41 (Mortalität 8,8 % des Gesamtbestandes), davon 4 infolge
Tuberkulose = 9,75 % der Todesfälle, infolge Paralyse 8, Altersschwäche 8 (aus
Bayreuth Qberführte alte Insassen); Paralytiker-Zugänge überhaupt 14 zu 11
vorhandenen = 6,4 % des Gesamtbestandes. — Bei Kriegsbeginn 50 PI. für nerven-
und geisteskranke Krieger und für Verwundete 37 PI. bereitgestellt. Aufgenommen
bis zum Jahresschluß 32 Verwundete und 12 Geisteskranke, unter letzteren haupt¬
sächlich Hitzschlagfälle. — Gesamtausgabe: 269 225,37 M.
„Zum guten Hirten“ We.rnigerode-Hasserode (58): Die Zahl der
Pfleglinge ist auf 42 gestiegen; der Jahresdurchschnitt beträgt 33. Alle Dienst¬
verrichtungen werden von den Pfleglingen ausgeführt. Beschäftigt wurden 12,
den Schulunterricht besuchten 8; nicht beschäftigungsfähig wegen geringen Alters
oder mangelhaften geistiger Zustandes 12. — Gesamtausgabe: 35 733,60 M.
Lindenhaus (31): Anfangsbestand 381 (193 M. 188 Fr.). Zugang 149
(83 M. 66 Fr.). Abgang 165 (92 M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 365 (184 M. 181 Fr.).
Von den Verpflegten litten an einfacher Seelenstörung 373 (189 M. 184 Fr.), Seelen¬
störung durch Syphilis 12 (10 M. 2 Fr.), Imbezillität, Idiotie 44 (22 M. 22 Fr.),
Epilepsie 70 (33 M. 37 Fr.), Alkoholismus 14 M., Hysterie 5 Fr. Krankheitsdauer
vor der Aufnahme bis 1 Jahr bei 44 = 8,3 %, 1—2 Jahre 55 = 10,4 %, 2—4 Jahre
38 = 7,1 %, 4—6 Jahre 52 = 9,8 %, 6—8 Jahre 56 = 10,5 %, 8—10 Jahre 38 =
7,1%, mehr als 10 Jahre = 9,8%, unbekannte Zeit 196 = 37,0%. Veranlagt
durch Eltern zu Geisteskrankheit und Nervenleiden 176 = 33,3 %, Trunksucht
95 = 18 %, Syphilis 40 = 7,4 %, Tuberkulose 35 = 6,4 %. Erkrankt waren im
Anschluß an Entwicklungsjahre 11 = 2,1%, Wechseljahre 21 = 4 %, Schwanger¬
schaft, Entbindung 10 = 1,9 %, äußere Ursachen 12, Haft und Verurteilung 18,
Gemütserschütterung 42 = 8 %, Unfall und Verletzung 18 = 3,4 %, Tuberkulose
10= 1,9%, Syphilis 28= 5,3%. Tuberkulös waren 9,6%; Fürsorgezöglinge
oder in Fürsorgeerziehung gewesen 21 = 4 %, als Trinker bekannt 72 (58 M. 14 Fr.)
= 13,7 %. Mit dem Strafgesetz in Konflikt gewesen 79 (58 M. 21 Fr.) = 16 %.
Zur Beobachtung überwiesen 5 M., davon 3 von Gerichtsbehörden. Entlassen als
erwerbsfähig 22 (14 M. 8 Fr.) = 16,6%, gebessert, arbeitsfähig 36 (22 M. 14 Fr.)
= 27 %, ungeheilt 75 (39 M. 36 Fr.) = 56,4 %. Gestorben 28 = 5,3 %, und zwar
im Durchschnittsalter von 53 Jahren. Es starben infolge Tuberkulose 4, Lungen¬
entzündung 4, Nierenentzündung 2, fortschreitender Gehirnerweichung 1, Gehirn-
schlag 1, Herzschlag, Schlagaderverkalkung je 1, Marasmus bei Epilepsie, Alters«
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174 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
schwäche 3, Sepsis 3, Typhus 1, Krebs 2. •— Von den Verpflegten gehörten nach
der vom D. V. f. Psych. aufgestellten Einteilung zu der Gruppe 1 - 0,2 %, 2 : 2b,
2e = 0,7 %, 4 : 4, 4a, 4b, 4c 11 = 2 %, 5 : 6 = 0,7%,6 : 6 = 0,7 %, 7 : 7 = 2,9 %,
8 : 8a, 8b, 8c = 1,7 %, 9 : 9 = 0,9 %, 10 :10c = 0,4 %, 11 :11,11a 11b = 74,5 %,
12 :12, 12a, 12d = 10,8 %, 13 : 13 = 18,1 %, 14 :14 = 1,1 %, 16 :15 = 0,9 %,
16 :16 = 1,5 %, 17 : 17a, 17b, 17c, 17d, 17e = 3 %, 18 :18 = 12,1 %, 19 :19c =
0,5 %, 20 : 20 = 0,9 %, 21: 21 = 3 %. — Nutzbringend beschäftigt waren von
M. durchschnittlich = 69,9 % (i. Vorj. 65,3 %), von Fr. = 68,5 % (64,9 %). —
Gesamtausgabe: 283 392,89 M.
Stephansfeld (60): Anfangsbestand 959 (427 M. 529 Fr.). Zugang 345
(179M. 166 Fr.). Abgang301 (170M. 131 Fr.). Bleibt Bestand 1000 (436M. 564Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 218 (97 M. 121 Fr.), paralytischer
Seelenstörung 28 (24 M. 4 Fr.), sonstigen organischen Psychosen 17 (9 M. 8 Fr.) r
Epilepsie und Hysterie 40 (17 M. 23 Fr.), Idiotie, Imbezillität 23 (13 M. 10 Fr.),
Alkoholismus 11M.; nicht geisteskrank 8 M. Erstmalige Aufnahmen 144 M. 134 Fr.;
10 Kr. waren Heeresangehörige. Zur Beobachtung eingewiesen 11 M. 1 Fr., davon
im Strafverfahren 9 M. In Abgang kamen genesen 55 (31 M. 24 Fr.), gebessert 99
(56 M. 43 Fr.), ungeheilt 14 (3 M. 11 Fr.), nach anderen Anstalten verbracht 36
(25 M. 11 Fr.); nach Ablauf der Beobachtung, nicht geisteskrank 13 (12 M. 1 Fr.).
Gestorben 84 (43 M. 41 Fr.) = 6,4 % der Verpflegten (i. Vorj. 6,8 %). Unter den
Todesursachen zählen progressive Paralyse bei 21 (13 M. 8 Fr.), sonstige Nerven¬
krankheiten 5 (3 M. 2 Fr.), Erkrankungen der Atmungsorgane 13 (10 M. 3 Fr.),
der Kreislauforgane 12 (4 M. 8 Fr.), Tuberkulose 12 (5 M. 7 Fr.); Selbstmord 1 Fr.
— Gesamtausgabe: 748 363,95 M.
Hördt (23): Anfangsbestand 482 (286 M. 196 Fr.). Zugang 77 (52 M.
25 Fr.), davon Aufnahme im Bewahrungshaus 11 M. Abgang 51 (31 M. 20 Fr.).
Bleibt Bestand 608 (307 M. 201 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬
störung 58 (38 M. 20 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 6 (5 M. 1 Fr.), Imbezillität,
Idiotie 10 (7 M. 3 Fr.), Paralyse 1M., alkohol. Geistesstörung 1M. Zur Beobachtung
aufgenommen 1 Ausländer (im Bewahrhause) nach § 81 Str.-P.-O., litt an hysteri¬
schem Zustandsbild, Strafverfahren vorläufig eingestellt. Klinisch gruppiert be¬
fanden sich unter den Aufnahmen Dementia praecox bzw. paranoides bei 28 M.
9 Fr., manisch-depressives Irresein bei 2 M. 7 Fr., epileptische 5 M.' 1 Fr., hysteri¬
sche Seelenstörung 1 M., Dementia senilis 1 M. 2 Fr., seniler Beeinträchtigungs¬
wahn 1 M. 1 Fr., Idiotie 1M., Imbezillität 6 M. 3 Fr., Haftpsychose 2 M., Paralysis
progressiva, Paranoia, Psychopathie je 1 M., Pseudoparalysis alcoholica 2 M. Ent¬
lassen gebessert 2 M., ungeheilt 4 Fr., nicht geisteskrank 1 Fr. Gestorben sind 44
(29 M. 15 Fr.) = 7,86% der Verpflegten; infolge Lungentuberkulose waren ge¬
storben 13 (8 M. 5 Fr.). — Gesamtausgabe: 284 241,76 M.
Ellen (Bremen), St. Jürgenasyl (13): Anfangsbestand 633 (336 M. 297 Fr.).
Zugang 488 (293 M. 195 Fr.). Abgang 514 (320 M. 194 Fr.). Bleibt Bestand 607
(309 M. 298 Fr.). Maximalbestand gegen das Vorjahr gefallen um 7 P. (645 : 638),
bedingt durch Überführung chron. Kranker nach Lemgo, sonst Durchschnitts¬
bestand gestiegen um 19,23. In Familienpflege am Jahresschluß 162 (91 M. 71 Fr.)
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Snell, Anstaltswesen und Statistik.
175 *
gegen 152 (76 M. 76 Fr.) Anfangsbestand. Vom Zugang (488) litten an Schizo-
phrcnie 135 (84 M. 51 Fr.), Paranoia 2 (1 M. 1 Fr.), manisch-depressivem Irresein
78 (26 M. 52 Fr.), Imbezillität 21 (12 M. 9 Fr.), Idiotie 3 (1 M. 2 Fr.), apoplekt.
Irresein 6 (4 M. 2 Fr.), Dementia senilis 44 (15 M. 29 Fr.), multipler Sklerose 3
(2 M. 1 Fr.), Gehimarterioslderose 2 Fr., Gehirntuberkeln 1 M., Lues cerebri 9 (7 M.
2 Fr., Paralyse 38 (30 M. 8 Fr.), Commotio cerebri 2 M.. konstitutioneller Psycho¬
pathie 26 (21 M. 5 Fr.), Hysterie 36 (22 M. 14 Fr.), darunter ausgesprochene Si¬
mulation 3, Haftpsychose 4; an Epilepsie 19 (13 M. 6 Fr.), alkoholischen Geistes¬
krankheiten 52 (43 M. 9 Fr.), davon Delirium tremens, akute Rauschzustände
je 3 M., Dementia alc. und Korsakowpsychose 4 (3 M. 1 Fr.), Alkoholwahnsinn 3
(2 M. 1 Fr.), Alkohol-Epilepsie 13 (12 M. 1 Fr.), chron. Alkoholismus 26 (20 M.
* 6 Fr.); Chorea degenerativa 1 M. 1 Fr. Zur Beobachtung kamen 17. Geheilt ent¬
lassen 39 = 7.58 % des Gesamtbestandes, gebessert 203 = 39,49%, ungeheilt
181 = 25,21 %. Gestorben 74 (33 M. 41 Fr.), davon an Lungentuberkulose 8.
Beschäftigung 53 % der M., 43,92 % der Fr. des Durchschnittsbestandes.
. Rockwinkel (42): Anfangsbestand 35 (14 H. 21 D.). Zugang 71 (37 H.
34 D.). Abgang 70 (35 H. 35 D.). Bleibt Bestand 63 (16 H. 20 D.). Vom verbliebe¬
nen Bestand leiden an Dementia praecox 11 (5 H. 6 D.), manisch-depressivem Irre¬
sein 6 (1 H. 5 D.), Melancholie 5 (1 H. 4 D.), Paranoia 4 (1II. 3 D.), Paralyse und
Taboparalyse je 2 H., Ejementia senilis und arteriosclerotica 1II. u. 1 D.,Korsakow
und Epilepsie 1 H. 1 D., Neurasthenie 2 H. Entlassen waren geheilt 18, gebessert
21, ungeheilt 22. Gestorben sind 9. Die Anstalt besteht 1914 seit 150 Jahren.
Der Zugang bewegte sich in den Jahren 1895—1900 zwischen 28 und 20 P., 1901—
1905 = 23 und 14 P., 1906—1910 = 12 und 15 P., 1911-1914 = 16 und 36 P.
Strecknitz-Lübeck (52): Anfangsbestand 1913: 314 (170 M. 144 Fr.).
Zugang 123 (58 M. 65 Fr.). Abgang 117 (62 M. 55 Fr.). Bleibt Bestand und An¬
fangsbestand für 1914: 320 (166 M. 154 Fr.). Zugang 104 (59 M. 45 Fr.). Abgang
1.10 (66 M. 44 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1914: 314 (159 M. 155 Fr.). Von den
\ufgenommenen des Jahres 1914 litten an Psychose bei gröberer Hirnerkrankung
1 Fr., Alkoholismus 8 M., progressiver Paralyse 6 M. 4 Fr., senilen und präsenilen
Psychosen 1M. 6 Fr., Hebeplirenie 50 (27 M. 23 Fr.), epileptischen Psychosen 2 M.
1 Fr., Melancholie des Rückbildungsalters 1 M. 1 Fr., manisch-depressivem Irre¬
sein 7 (2 M. 5 Fr.), Hysterie 3 M., Neurasthenie 1 M. 6 Fr., Emotionspsyehosen
2 M., Debilität, Imbezillität 2 M. 1 Fr.; psychopathische Persönlichkeiten waren
1 M. 1 Fr.; nicht geisteskrank 4 (3 M. 1 Fr.). Erblich belastet von den Neuauf-
genommenen waren 29,81%, vom Bestand 29,38%. Krankheitsursachen der
Neuaufgenommenen waren erbliche Belastung überhaupt bei 13 M. 18 Fr. = 22
und 40 %, Trunksucht 10 M. 3 Fr. = 17 und 6,7 %, Syphilis 4 M. 1 Fr. = 6,8 und
2,2%, Verletzung 1 M. = 1,7 %. Entlassen geheilt sind 1914: 24 (16 M. 8 Fr.),
gebessert 26 (16 M. 10 Fr.), ungeheilt 3 (17 M. 16 Fr.), als nicht geisteskrank 6
(4 M. 2 Fr.). Gestorben sind 1914: 21 (13 M. 8 Fr.), davon hatten gelitten an Al¬
koholismus 1 M., progressiver Paralyse 4 M., senilen und präsenilen Psychosen 7
(4 M. 3 Fr.), Hebephrenie 4 M., epileptischer Psychose 1 M., manisch-depressivem
Irresein 2 Fr., Debilität, Imbezillität 1 M. 1 Fr. — Gesamtausgabe für 1913:
348 200,36 M., 1914 : 324 789,03 M.
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176 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Friedrichsberg (19): Anfangsbestand 1242 (659 m. 583 w.). Zugang 1171
(639 m. 642 w.). Abgang 1154 (623 m. 531 w.). Bleibt Bestand 1254 (665 m. 689 w.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 609 (260 m. 349 w.), paralytischer See¬
lenstörung 210(150 m. 60 w.). Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 68 (41m. 27 w.), Epi¬
lepsie mit und ohne Geistesstörung 73 (46 m. 27 w.), Hysterie 23 (8 m. 15 w.), Neuras-
thenie4(2m. 2w.), Tabes7(46m. 1 w.) Chorea 1 in., an anderen Krankheiten desNer-
vensystems 88 (53 ra. 35 w.), Alkoholismus65(51m. 14w.), Morphinismus u. ähni.
3 (1 m. 2 w.); nicht geisteskrank 1£ (10 m. 6 w.). Zur Beobachtung aufgenommen
auf Grund § 81 Str.-P.-O. 26 (21 m. 5 w.). Erblichkeit nachgewiesen 145 (35 m.
110 w.), trunksüchtig 36 (32 m. 4 w.), mit Alkoholismus obige 65. Entlassen sind
geheilt 39 (19 m. 20 w.), gebessert 391 (176 m. 215 w.), ungebessert 631 (296 m.
235 w.), davon nach Langenhorn überführt 389 (214 m. 175 w.); nicht geisteskrank*
15. Gestorben 178 (122 m. 56 w.), davon infolge Paralyse 43 (30 m. 13 w.), sonsti¬
gen Hirnkrankheiten 48 (34 m. 14 w ), an Krankheiten des Herzens 27 (17 m. 10 w.),
der Lunge 62 (38 m. 14 w.). Für Rechnung des Reservelazaretts. Wandsbeck
wurden verpflegt und behandelt 364 M. — Gesamtausgabe für den Tag und Kopf
des Kranken: 1910 = 2,93 M., 1911 = 3,08 M., 1912 = 3,28 M., 1913 = 3,41 M.,
1914 = 3,27 M. — Gesamtausgabe 1914: 1500 044,81 M.
Langenhorn (19): Anfangsbestand 1833 Kr. Schlußbestand 1952. Auf¬
nahmen 428 Geisteskr. Aus Friedrichsberg überführt 388. Aus den Gefängnissen
in Fuhlsbüttel eingeliefert 19 M. 1 Fr. Gerichtsseitig zur Beobachtung überwiesen
20. Entlassen 195 Pflegl. Gestorben 114. — Gesamtausgabe für den Tag und Kopf
des Kranken: 1910 = 2,63 M., 1911 = 2,73 M., 1912 = 2,83 M., 1913 = 2,88 M.,
1914 = 2,71 M. — Gesamtausgabe 1914: 1 851856,93 M.
Alsterdorfer Anstalten (1): Anfangsbestand 960 (549 in. 411 w.).
Zugang 96 (55 in. 41 w.). Abgang 83 (59 m. 24 w.). Bleibt Bestand 973 (545 m.
428 w.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie und Kretinismus 76 (46 m.
31 w.), davon unter 16 Jahre alt 38 m. 27 w., Epilepsie 20 (10 m. 10 w.), unter
16 Jahre 8 m. 6 w. Entlassen 59, davon in die Irrenanstalt überführt 11, entwichen,
entführt usw. 7. Gestorben 44, davon infolge Tuberkulose 10.
Burghölzli (7): Anfangsbestand 1913: 402 (203 M. 199 Fr.). Zugang
578 (352 M. 226 Fr.). Abgang 584 (352 M. 232 Fr.). Bleibt Bestand für 1914: 396
(203 M. 193 Fr.). Zugang 594 (349 M. 245 Fr.). Abgang 588 (344 M. 244 Fr.).
Schlußbestand 1914: 402 (208 M. 194 Fr.). Diagnosen der frischen Aufnahmen
1914 = 458 (276 M. 182 Fr.): angeborene Psychosen 24 (11 M. 13 Fr.), konstitu¬
tionelle Psychosen 30 (20 M. 10 Fr.)*, manisch-depressive Formen 14 (8 M. 6 Fr.),
Verblödungsformen 165 (78 M. 87 Fr.), andere erworbene idiopathische Psychosen
15 (6 M. 10 Fr.), organische Störungen 97 (59 M. 38 Fr.), darunter progressive
Paralyse 37 (28 M. 9 Fr.), epileptische Störungen 27 (20 M. 7 Fr.), Intoxikations¬
psychosen 75 (66 M. 9 Fr.), mit Alkoholismus chron. 26 (22 M. 4 Fr.), Delirium
tremens 24 (22 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank 11 (9 M. 2 Fr.). Infolge der Mobili¬
sation 22 Militärpatienten, davon 9 mit Dementia praecox, 6 Alkoholismus, 2 Delir,
tremens, Imbezillität, Psychopathie, psychogene Epilepsie je 1. Entlassen ge¬
heilt 45 (34 M. 11 Fr .) gegen 42 (34 M. 8 Fr.) im Jahre 1913; gebessert 295 (154 M.
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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik.
177 *
141 Fr.) gegen 250 (148 M. 102 Fr.); ungebessert 190 (114 M. 76 Fr.) gegen 217
(128 M.89 Fr.). Verhältnis der Geheilten und Gebesserten zum Abgang 340 : 588
= 57,9 % gegen 50 % im Jahre 1913. Gestorben sind 49 (35 M. 14 Fr.) gegen 62
(30 M. 32 Fr.) im Jahre 1913. Von den 1914 Verstorbenen starben an Himkrank-
heiten 28 (18 M. 10 Fr.), infolge Tuberkulose 3 (2 M. 1 Fr.), infolge Karzinom 5 M.
Einschließlich Poliklinik wurden 106 (1913: 108) Gutachten abgegeben, wovon 36
(1913: 36) strafrechtliche. Bettgurte bei 6 M. 6 Fr. angewandt, ganze Wickel bei
1 M. neun Stunden, bei 16 Fr. 198 Stunden. Segelstoffkleider, Zellenhandschuhe
(10 M. 18 Fr.) mehrfach angewandt. Regelmäßig oder teilweise beschäftigt waren
vom Schlußbestand 75% M., 85 % Fr. (1913: 71 % M., 88% Fr.). Die Psychi¬
atrische Poliklinik wurde besucht von 498 Pat. (223 M. 276 Fr.). — Gesamtaus¬
gabe: 746 669,81 Fr.
Königsfelden (25): Anfangsbestand 804 (370 M. 434 Fr.). Zugang 260
(143 M. 117 Fr.), davon aus anderen Asylen 57 (32 M. 25 Fr.). Abgang 233 (131M.
102 Fr.). Bleibt Bestand 831 (382M. 449 Fr.). Krankheitsformen der Aufgenomme¬
nen: angeborene Psychosen 30 (21 M. 9 Fr.), darunter Idiotie, Kretinismus 19
(12 M. 7 Fr.); erworben einfache Störungen 152 (68 M. 84 Fr.); paralytische,
senile 33 (16 M. 1 Fr.), epileptische 10 (7 M. 3 Fr.); Intoxikationspsychosen 3
(29 M. 4 Fr.); nicht geisteskrank 2 M. Mit den Strafgesetzen in Konflikt gewesen
und begutachtet 10, davon Militärpersonen 9; nicht verantwortlich 9. Erbliche
Belastung der Aufgenommenen bei 58 % nachweisbar, 23 % von Vaterseite, 15 %
Mutterseite, 11 % beide Eltern, bei 9 % Geisteskrankheit in der Verwandtschaft.
Alkohol u. a. ursächliches Moment bei 30 % der M., 3,4 % der Fr. Militärdienst,
Kriegswirren 10 % der M., 3,4 % der Fr. Geheilt entlassen 31. Genesung bei 58 %
im ersten Vierteljahr, 26 % Heilungsdauer 4—6 Monate, 3,2 % — %—1 Jahr,
6,4% = 1—2 Jahre, 6,4% mehr als 2 Jahre. Gebessert entlassen 120 (66 M.
54 Fr.), ungeheilt 24 (12 M. 12 Fr.), davon nach anderen Anstalten 9. Gestorben
56 (30 M. 26 Fr.), davon infolge Tuberkulose 12. — Gesamtausgabe: 521 525,57 Fr.
Aus dem Jahresberichte der Bernischen Kantonalen Irrenanstalten
(64) ist zu entnehmen für
Waldau (54): Anfangsbestand 802 ( 384 M. 418 Fr.). Zugang 218
(136 M. 82 Fr.). Abgang 195 (117 M. 78 Fr.). Bleibt Bestand 826
(403 M. 422 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen
5 M., konstitutionellen 8 (5 M. 3 Fr.), erworbenen einfachen Stö¬
rungen 146 (86 M. 60 Fr.), paralytischen, senilen, organ. Störungen
33 (19 M. 14 Fr.), epileptischen 6 (5 M. 1 Fr.), Intoxikationspsychosen
18 (15 M. 3 Fr.); nicht geisteskrank 1M. 1 Fr. Zur Beobachtung, strafgerichtlich,
aufgenommen 15 M. 1 Fr., davon 9 M. kriegsgerichtlich. Entlassen genesen 17 (9 M.
8 Fr.) = 8,72% der Entlassungen, 1,66% des Gesamtbestandes; erblich belastet
13 (6 M. 7 Fr.); gebessert entlassen 85 (48 M. 37 Fr.), ungebessert 39 (31M. 8 Fr.).
Getorben 52 (28 M. 24 Fr.) = 26,66 % des Abgangs, 5,10 % des Gesamtbestandes ;
infolge Tuberkulose verstorben 6 (2 M. 4 Fr.), katarrh. Pneumonie und Bronchitis
25 (12 M. 13 Fr.), Herzleiden 6 (5 M. 1 Fr.). — Gesamtausgabe: 196 571,35 Fr.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
Münsingen (54f: Anfangsbestand 841 (406 5t. 435 Fr.). Zugang 133
(51 M. 82 Fr.). Abgang 134 (54 M. 80 Fr. ). Bleibt Bestand 840 (403 M. 437 Fr.),
davon in Familienpflege 45 (15 M. 30 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an.
angeborenen Störungen 10 (6M.4Fr.), konstitutionellen 25 (10 M. 15 Fr.), erwor¬
benen einfachen Störungen 74 (22 M. 52 Fr.), darunter Dementia praecox-Gruppe
mit 52 (20 M. 32 Fr.), organischen Störungen 13 (7 M. 6 Fr.), davon progressive
Paralyse 2 M., Intoxikationspsychosen 4 M. 2 Fr.; nicht geisteskrank 5 (2 M. 3 Fr.).
Gerichtliche Fälle 12. (In den 10 Jahren 1904—1913 kamen in den staatlichen
Irrenanstalten 284, mit den wenigen privat-begutachteten höchstens 350 zur psy¬
chiatrischen Begutachtung, davon als zurechnungsfähig bezeichnet 65 % der Fälle.
Entlassen genesen oder wesentlich gebessert 52 (20 M. 32 Fr.) = 38,5 % des Ab¬
gangs, 5,3% der Verpflegten, ungeheilt entlassen 26 (14 M. 12 Fr.). Gestorben 55
(18 M. 33 Fr.) = 5,3 % der Verpflegten; an Tuberkulose verstarben 15 = 29,4 %
der Todesfälle, an Pneumonie 10 (7 M. 3 Fr.), Vitium cordis 11 (4M. 7 Fr.). — Ge¬
samtausgabe: 667 962,35 Fr.
Bellelay (54): Anfangsbestand 331 (133 M. 198 Fr.). Zugang 25 (14 M.
11 Fr.). Abgang 32 (18 M. 14 Fr.). Bleibt Bestand 324 (129 M. 195 Fr.). Vom Zu¬
gang litten an angeborenen Störungen 6 (2 M. 4 Fr.), konstitutionellen 11 (5 M.
6 Fr.), organischen Störungen 1 M. 1 Fr., Alkoholismus 2 M. Zur gerichtlichen Be¬
gutachtung 1 Fr., auf Grund Art. 47 des Str.-G.-B. überhaupt in der Anstalt 8
(5 M. 3 Fr.). Entlassen geheilt 1 M., gebessert 2 M., ungebessert 1 M. 1 Fr. Ge¬
storben 27 (14 M. 13 Fr.) = 7,55% der Verpflegten (in den Vorjahren nie über
5 %). Hohe Mortalität begründet durch epidem. Influenza mit Bronchopneumonie
bei älteren Insassen, infolge davon starben 10 (3 M. 7 Fr.), an Tuberkulose ver¬
starben 2 (1 M. 1 Fr.). — Gesamtausgabe: 260 101,75 Fr.
Münsterlingen (35): Anfangsbestand 411 (162 M. 249 Fr.). Zugang
175. Abgang 179. Schlußbestand 407 (163 M. 244 Fr.). Krankheitsformen der
Aufgenommenen: angeborene Psychosen 14 (6 M. 8 Fr.); konstitutionelle Psy¬
chosen 12 (5 M. 7 Fr.); erworben einfache Psychosen 103'(39 M. 64 Fr.), darunter
Dementia praecox mit 83 (32 M. 51 Fr.), manisch-depressives Irresein 16 (4 M.
12 Fr.); organische Psychosen 21 (13 M. 8 Fr.), mit Dementia paralytica bei 7
(6 M. 1 Fr.); Epilepsie 4 (3 M. 1 Fr.), alkoholische Intoxikationspsychosen 16
(13 M. 1 Fr.); nicht geisteskrank 5 (4 M. 1 Fr.). Entlassen 127, davon geheilt 11
(5 M. 6 Fr.), gebessert 85 (41M. 44 Fr.). Gestorben sind 51 (21M. 30 Fr.) = 8,7 %
der Verpflegten, davon infolge direkter Geisteskrankheit 8 (5 M. 3 Fr.), an Tu¬
berkulose, die auf der Männerseite überhaupt selten, 1 M. 6 Fr. — Gesamtaus¬
gabe: 339957,19 Fr.
Rosegg (45): Anfangsbestand 347 (191 M. 156 Fr.). Zugang 96 (58 M.
37 Fr.). Abgang 67 (42 M. 25 Fr.). Bleibt Bestand 375 (207 M. 168 Fr.). Vom Zu¬
gang litten an angeborener Geistesstörung 6, erworbener einfacher 44, epileptischer
9, organischer 1, paralytischer 5, seniler 18, alkoholischer 11; nicht geisteskrank 1.
Erblich belastet 43 (30 M. 13 Fr.), und zwar von Vaterseite 18 M. 8 Fr., Mutter¬
seite 4 M. 4 Fr., von beiden Eltern 3 M., sonstige Familienanlage bei 5 M. 1 Fr.
Vor Eintritt erkrankt bis 1 Monat 18 (14 M. 4 Fr.), 2—3 Monate 7 (4 M. 3 Fr.),
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Sn eil, Anstalts wesen und Statistik.
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4—6 Monate 4 (2 M. 2 Fr.), 7—12 Monate 6 (4 M. 2 Fr.), 1—2 Jahre 12 (8 M. 4 Fr. k
3 —5 Jahre 10 (3 M. 7 Fr.), über 6 Jahre 18 (13 M. 5 Fr.). Entlassen geheilt 10
13 M. 6 Fr.), gebessert 20 (14 M. 6 Fr.), ungeheilt 6 (5 M. 1 Fr.). Gestorben sind
22 (10 M. 12 Fr.); unmittelbare Todesursachen waren u. a. Meningo-encephalitis
chronica bei3Fr., Apoplexia cerebri 1 M., Status’epilepticus 2 M., Vitium cordis 6
<,3 M. 3 Fr.), Phthisis pulmon. 1 M. — Gesamtausgabe: 341 470,85 Fr.
Wil (61): Anfangsbestand 863 (438 M. 425 Fr.). Zugang 322 (178 M.
144 Fr.). Abgang 304 (170 M. 134 Fr.). Bleibt Bestand 881 (446 M. 435 Fr.). Vom
Zugang litten an angeborenen Störungen (Idiot.) 28 (18 M. 10 Fr.), konstitutio¬
nellen 19 (UM. 8 Fr.), einfachen erworbenen Störungen 126 (60 M. 66 Fr.), er¬
worbenen der paralytischen, senilen und organischen Gruppe 49 (20 M. 29 Fr.) r
auf Grundlage der Epilepsie 11 (5 M. 6 Fr.), Intoxikationspsychosen 36 (32 M.
4 Fr.), nicht geisteskrank 1 M., körperlich Kranke und Altersschwache 52 (31 M.
21 Fr.). Erblichkeit nachgewiesen bei 91 M. 61 Fr. = 63 und 50 %, übermäßiger
Alkoholgenuß bei 35 M. 4 Fr., Lues 4 M. 3 Fr. Mit dem Strafgesetz in Konflikt
34 M. 6 Fr. = 23 und 5 % der Aufgenommenen. Krankheitsdauer vor der Auf¬
nahme bis 1 Monat bei 33 (20 M. 13 Fr.), 1—6 Monate 31 (12 M. 19 Fr.), 6—12
Monate 22 (11M. 11 Fr.), 1—3 Jahre 31 (15 M. 16 Fr.), 3—6 Jahre 41 (17 M. 24 Fr.),
6—12 Jahre 30 (17 M. 13 Fr.), 12—15 Jahre 8 (5 M. 3 Fr.), 15—20 Jahre 19 (10 M.
9 Fr.), über 20 Jahre 44 (39 M. 15 Fr.). Entlassen geheilt 32 (18 M. 14 Fr.), ge¬
bessert 109 (58 M. 51 Fr.), ungeheilt 66 (39 M. 27 Fr.), davon nach anderen An¬
stalten verbracht 21 (10 M. 11 Fr.). Gestorben sind 96 (54 M. 42 Fr.) = 8% der
Verpflegten. 32 Todesfälle (20 M. 12 Fr.) kommen auf die körperl. Kranken und
Altersschwachen = 14 % ihres Gesamtbestandes. Von den Geisteskranken starben
64 (34 M. 30 Fr.) = 6,6% ihres Bestandes. Auf die Gruppe der paralytischen.,
senilen und organischen Psychosen kommen 23 % ihres Gesamtbestandes an Todes¬
fällen (10 M. 14 Fr.). Infolge Tuberkulose starben 6 M. — Gesamtausgabe:
566 482,16 Fr.
St. Pirminsberg (51): Anfangsbestand 308 (152 M. 156 Fr.). Zugang
127 (72 M. 55 Fr.). Abgang 119 (63M. 66 Fr.). Bleibt Bestand 316 (161M. 165Fr.).
Durchschnittlicher Bestand immer noch steigend: 1911 = 267; 1912 = 238;
1913= 302; 1914= 314. Kriminelle Kranke aufgenommen 8(7 M. 1 Fr.); zur Be¬
obachtung aufgenommen 4 M. 1 Fr. Vom Zugang litten an angeborenen Psy¬
chosen 9 (6 M. 3 Fr.), konstitutionellen 4 (3 M. 1 Fr.), erworbenen einfachen Psy¬
chosen 85 (43 M. 42Fr.), epileptischen 7 (6M. 2Fr.), organischen Psychosen 12(6M.
6 Fr.), Intoxikationspsychosen 10 (9 M. 1 Fr.). Erblich belastet von 86 erstmals
aufgenommen 74 = 86 %. Entlassen genesen 31 (17 M. 14 Fr.), gebessert
51 (24 M. 27 Fr.), ungebcssert nach Hause 8 (4 M. 4 Fr.), nach anderen Anstalten
18 (14 M. 4 Fr.). Durchschnittliche Behandlungsdauer der Genesenen = 150 Tage.
Gestorben sind 11 (4 M. 7 Fr.), Mortalität nur 2,5% aller Verpflegten; durch¬
schnittliche Verpflegungsdauer der Verstorbenen 6% Jahre. An Tuberkulose ein-
'gegangen 3 M. 3 Fr. — Gesamtausgabe: 278 700,04 Fr.
Ellikon (14): Bestand 31 Pfl. Aufnahmen 37. Entlassungen 42. Bleibt
Bestand 26. Durchschnitt!. Tagesfrequenz 28 Pfl. Von den Aufgenommenen litten
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915.
.an chronischem Alkoholismus 16, mit Delir, tremens 6, Psychopathien 9, psych.
und moralischem Defekt 3, moral. Defekt 1, Imbezillität und moral. Defekt 2,
Leichtsinn 1, Trunksucht bei angeborener Leichtfertigkeit, Trunksucht bei Psy¬
chopathie, einfache Trunksucht je 1, Alkoholneuritis b. Erblichkeit unter den Auf¬
genommenen bei 17, darunter Trftnksucht des Vaters 11, der Mutter 3, Großeltern 3.
Von 26 der Entlassenen mit vorschriftsmäßig durchgeführter Kurzeit blieben
abstinent 60 %, rückfällig 32 % gestorben 4%, ohne Bericht 4%. — Gesamt¬
ausgabe: 31370,99 Fr.
Riehen, Sonnenhalde (49): Anfangsbestand 31 kr. Fr. Aufnahmen 99.
Abgang 87. Bleibt Bestand 43. Von den Ausgetretenen waren nicht gemütskrank 5
(Neurasthenie 4), waren behaftet mit angeborenem Schwachsinn 1, allg. Psycho¬
pathie 6, mit endogen erworbenen Formen des reiferen Alters 70, organischen For¬
men 3, Epilepsie 1, marantischem Delir 1. Erbliche Belastung bei 77. Vollständig
geheilt 1, hochgradig gebessert 14, gebessert 43, ungebessert 26, davon in eine
Anstalt verbracht 1. Zur Beobachtung ohne Resultat 2. Gestorben 1. — Gesamt¬
ausgabe: 87 926,90 Fr.
Cery (8): Anfangsbestand 529 (269 M. 260 Fr.). Zugang 392 (226 M.
166 Fr.). Abgang 377 (224 M. 153 Fr.). Bleibt Bestand 544 (271M. 243 Fr.). Vom
Zugang litten an Idiotie, Imbezillität, Kretinismus 20 (10 M. 10 Fr.), konstitu¬
tionellen Psychosen 36 (22 M. 14 Fr.), einfachen erworbenen 204 (95 M. 109 Fr.),
organischen 69 (45 M. 24 Fr.), epileptischen Psychosen 11 (8 M. 3 Fr.), Alkoholis¬
mus und anderen Intoxikationen 48 (42 M. 6 Fr.); nicht geisteskrank 4 M. Von
den aufgenommenen Alkoholkranken litten an akutem Alkoholismus 1 M., chroni¬
schem 18 (16 M. 2 Fr.), Korsakowpsychose 1 Fr., Delirium tremens 22
M., epileptischer Psychose 1 M. Entlassen geheilt 71 (41 M. 30 Fr.), gebessert
132 (87 M. 46 Fr.), ungeheilt 103 (58 M. 45 Fr.). Gestorben 71 (38 M. 33 Fr.).
— Gesamtausgabe: 638 922,77 Fr.
Waldhaus (55): Anfangsbestand 309 (162 M. 147 Fr.). Zugang 89 (58 M.
31 Fr.). Abgang 81 (56 M. 25 Fr.). Bleibt Bestand 317 (164 M. 153 Fr.). Vom
Zugang litten an Idiotie 2 Fr., an einfachen Psychosen 60 (37 M. 23 Fr.), an para¬
lytischen, senilen Störungen 6 (3 M. 3 Fr.), an Epilepsie 5 (3 M. 2 Fr.), an In¬
toxikationspsychosen 12 (11 M. 1 Fr.); nicht geisteskrank 4 M. Erblich veranlagt
39 der frischen Aufnahmen (74). Geheilt sind entlassen 11 (8 M. 3 Fr.), gebessert
31 (21 M. 10 Fr.), ungebessert 13 (10 M. 3 Fr.). Von den Geheilten litten an Mel¬
ancholie 4, Manie 3, Katatonie 2, Delirium tremens 2. Verhältnis der Genesenen
zum Abgang 14,4 %, zur Zahl der Verpflegten 2,7 %. Gestorben sind 21 (12 M.
9 Fr.) = 5,2% des Gesamtbcstandes. Tuberkulose Todesursache in 5 Fällen. —
Gesamtausgabe: 247 967,27 Fr.
Linz, Niedernhart(38): Anfangsbestand 915 (409M.506Fr.). Zugang434(232
202 Fr.). Abgang 396 (197 M. 199 Fr.). Bleibt Bestand 953 (444 M. 509 Fr.). Vom
Zugang litten an angeborenen Störungen 23 (16 M. 7 Fr.), einfacher Geistesstörung
352 (174 M. 178 Fr.), davon an progressiver Paralyse 67 (51 M. 16 Fr.), an kom-
lizierten Störungen litten 36 (22 M. 14 Fr.), davon Epileptiker 23 (17 M. 6 Fr.),
pn Alkoholismus 17 (15 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank 6 (5 M. 1 Fr.); aus Straf-
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Isserlin, Psychologie und Psychophysik.
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oder Untersuchungshaft zugeföhrt 30. Erblich belastet 133 (73 M. 60 Fr.), davon
durch Trunksucht der Eltern 20 (16 M. 4 Fr.). Erkrankt durch Alkoholmißbrauch
24 (22 M. 2 Fr.). Entlassen geheilt 34 (15 M. 19 Fr.). Gestorben 147 (71M. 76 Fr.),
davon infolge Paralyse 33 (21 M. 12 Fr.), Lungentuberkulose 23 (7 M. 16 Fr.).
Sine Typhusepidemie mit 20 Erkrankungen erforderte 5 Opfer.
Die 4 Staatsanstalten Ungarns (53) hatten einen Gesamtanfangsbestand
von 2620 und einen Schlußbestand von 2561 Kranken. Hieran waren beteiligt
Lipötmezö mit einem Anfangsbestand von 1251 (681 M. 570 Fr.). Zugang
972 (626 M. 346 Fr.). Abgang 1031 (638 M. 393 Fr.). Bleibt Bestand 1192 (669 M.
523 Fr.).
Angyalföld: Anfangsbestand 442 (215 M. 227 Fr.). Zugang 386 (245 M.
141 Fr.). Abgang 382 (243 M. 139 Fr.). Bleibt Bestand 446 (217 M. 229 Fr.).
Nagyszeben: Anfangsbestand 611 (341 M. 270 Fr.). Zugang 338 (218 M.
120 Fr.). Abgang 330 (212 M. 118 Fr.). Bleibt Bestand 619 (347 M. 272 Fr.).
Nagyk&llö: Anfangsbestand 316 M. Zugang 85. Abgang 97. Bleibt Be¬
stand 304. Vom Gesamtzugang litten an Idiotie 53 (36 M. 17 Fr.), Imbezillität 33
(25 M. 10 Fr.), Dementia praecox 246 (157 M. 89 Fr.), progressiver Paralyse 463
(361 M. 102 Fr.). Alkoholismus 175 (164 M. 11 Fr.), Pellagrapsychose 1 M.. Fo¬
rensische Fälle insgesamt 171 (153 M. 18 Fr.). Entlassen geheilt (prozentual zur
Zahl der Verpflegten) in Lipötmezö 7,46%; gestorben 11,87%; in Angyalföld
entlassen geheilt 8,81%, gestorben 10,87%; Nagyszeben 8,6% und 11,38%;
Nagyk&llö 2,24 und 10,47 %. Die Präsenzzahl der in Familienpflege Befindlichen
stieg von 1522 auf 1625 = zirka 6 % (i. Vorj. 23 %, diesjährig infolge der Kriegs¬
zeiten Erhöhung gering).
Daiyiemora (10): Anfangsbestand Oktober 1913 = 540 M. Zugang 82.
Abgang 108. Bleibt Bestand 514. Von den Aufgenommenen litten an Dementia
praecox 36, Alkoholpsychosen 3, konstitutioneller Minderwertigkeit 23, Imbezilli¬
tät 2, sonstige Psychosen Einzelfälle. Wieder abgegeben wurden geheilt 40, ge¬
bessert 8, ungeheilt 38, nicht geisteskrank 11. Gestorben 11, davon infolge Tu¬
berkulose 6 M. = 54,5 % der Todesfälle.
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duzieren von Zahlen und Wörtern. Zeitschr. f. pädagog.
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S. 347—368, H. 9: S. 412—420, H. 10 : S. 456—459.
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f. d. ges. Pvchologie Bd. 33, H. 3/4, Februar 1915, S. 274
bis 291.
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über Intellekt und Willen und deren Bedeutung in normalen
und pathologischen Bewußtseinszuständen. Zeitschr. f. d.
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125. Winkler, C., Das Verhalten der Psychologie zur Physiologie des
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126. Witasek, St., Bemerkungen zur Abhandlung: Benussi, V., Mono-
kularlokalisationsdifferenzund haploskopisch erweckte Schein¬
bewegungen. Archiv f. d. ges. Psychologie Bd. 33, H. 3/4,
S. 266—273.
127. Wobbermin, G., Die Frage nach den Anfängen der Religion in
religionspsychologischer Bedeutung. Zeitschr. f. angewandte
Psychologie Bd. 9, S. 333—390.
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Isserlin, Psychologie und Psychophysik.
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3. Teil. 2. Aufl. 564 S. Leipzig, Kröner. (S. 191*.)
130. Ziehen , Th., Beitrag zur Lehre vom absoluten Eindruck. Zeitschr.
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131. Ziehen, Th., Die Grundlagen der Psychologie. Bd. 1259 und Bd. II
304 S. Teubner, Leipzig und Berlin. (S. 191*.)
132. Zipkin, N., Über die Wirkung von Lichtlücken auf größere Netz¬
hautbezirke. Zeitschr. f. Sinnesphysiologie Bd. 49, H. 2,
S. 89—98.
133. Ein einfaches „Plastoskop ". Zeitschr. f. Sinnesphysiologie Bd. 49,
H. 2, S. 85—88.
Von größeren zusammenfassenden Werken seien genannt: Das
Lehrbuch der experimentellen Psychologie von Frohes (36). Das Werk,
das in zwei Bänden erscheinen soll und von welchen der erste Band jetzt fertig vor¬
liegt, beabsichtigt auf dem Gebiete der Psychologie etwas Ähnliches zu bieten,
wie „wir es beispielsweise in dem mit Recht geschätzten Lehrbuch von Tigerstedt
oder ähnlichen Werken“ besitzen, — ein etwas ausführlicheres Lehrbuch in allen
Teilen der Psychologie. Es will die höheren seelischen Funktionen ebenso ein¬
gehend behandeln wie die Sinnesfunktionen; hingegen die philosophischen Vor-
und Grundfragen mehr zurücktreten lassen. Es darf gesagt werden, daß in dem
vorliegenden Band dem Verfasser sein Versuch wohl gelungen ist.
In einem kurzen populären Abriß („Einführung“) behandelt Brauns¬
hausen (19) die experimentelle Psychologie. Er wendet sich an den ge¬
bildeten Laien und allgemein Interessierten, bietet aber auch im ganzen die wich¬
tigsten Einzelheiten, wenn auch nicht immer mit der nötigen Kritik.
Ziehen (131) hat ein umfassendes Werk über die Grundfragen der Psy¬
chologie herausgegeben, in welchem die einschlägigen Probleme eingehend ab¬
gehandelt werden. Die assoziationspsychologische Auffassung Ziehens versucht
hier einen allgemein theoretischen Aufbau der Psychologie. Von Wundis großer
Völkerpsychologie ist in dem Jahre 1915 der sechste Band über Mythus
und Religion in zweiter Auflage erschienen (129).
Über die Hörschärfe zu verschiedenen Tageszeiten hat Bacharach
(7) Untersuchungen angestellt. Nach diesen bleibt während des Tages die Hör¬
schärfe ungefähr konstant. Ein Optimum findet sich am Spätnachmittag,
ln der Nacht keine Schwellenerniedrigung.
Über Schmerzqualitäten berichtet Erich Becher (13). Lange und Specht
(70) veröffentlichen neue Untersuchungen über die Beeinflussung der
Sinnesfunktionen durch geringe Alkoholmengen. Die Arbeit schließt
sich an eine frühere von Specht über Beeinflussung des Gehörsinnes an. Die jetzt
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192 *
Belicht über die psychiatrische Literatur 1915.
vorliegenden Untersuchungen beziehen sich auf den Gesichtssinn. Es wurde
mit Dosen von 40, 20 und 10 Kubikzentimetern Alkohol gearbeitet. Geprüft
wnrden Unterschieds- und Reizschwelle. Auch auf dem Gebiete des Ge¬
sichtssinnes wurden beide Schwellen durch den Alkohol in entgegengesetztem
Sinne beeinflußt. Die Unterschiedsschwelle wird erhöht, die Reizschwelle
sinkt. Die Größe der Dosis bewirkte nur quantitative Verschieden¬
heit en in der Änderung. Die Herabsetzung der Unterschiedschwelle wird am besten
durch eine Störung der geistigen Akte des Beziehens erklärt. Die Erhöhung der
Reizempfindlichkeit wird darauf zurückgeführt, daß unter Alkohol die Reize einen
höheren Grad von Lebhaftigkeit gewinnen — Belebung der vitalen Sphäre.
Von Bereitschaft und Wiedererkennen handeln Versuche von Mayer
(82). Nach ihm ist das einfache Wiedererkennen einer Silbe begünstigt, wenn diese
vorher durch eine andere Silbe in Bereitschaft gesetzt worden ist; wenn beide
Silben bekannt sind, wird die zweite Silbe öfter und schneller wieder¬
erkannt, als wenn die erste eines Silbenpaares vorgeführt wird.
Über die Bedeutung der Orientierung des Lesestoffes für das
Lesen und der Orientierung von sinnlosen Formen für das Wieder¬
erkennen berichtet Oetjen (94). Die Versuche behandeln die Bedeutung der Lage
des Körpers und der Richtung der Standpunktskoordinationsachse für die Auf¬
fassung des Lesestoffes und des Wiedererkennen der sinnlosen Formen.
über die Ergebnisse neuer Versuche über das Wiedererkennen berichtet
Auguste Fischer (30). Sie hat Versuche über das Einprägen von Silben und Punkt¬
gestalten ausgeführt unter Messung der Urteilszcitcn für Bekanntheit — Unbekannt¬
heit bei paarweiser und einzelner Wiederdarbietung. Sie glaubt, daß für das un¬
mittelbare Wiedererkennen ein ganz geringer Grad von unterschwelliger
Reproduktion wahrscheinlich notwendig und förderlich sei.
Bloch und Lippa (17) zeigen, daß die Wiederholung der Binet-Smonschen
Intelligenzprüfungen an Schwachsinnigen nach einem Jahre ein gutes Mittel ist,
um den Intclligenzmangel schnell und sicher auch nach Jahren zu bestimmen.
Gregor (44) berichtet über Untersuchungen über die Entwicklung einfacher
logischer Leistungen (Begriffserklärung). Männlichen und weiblichen Schülern
von Volksschulklassen, Oberrcalschülem und Erwachsenen wurde die Definition
verschiedener Begriffe aufgegeben. Bei den Lösungen glaubt Verfasser Entwick¬
lungsstufen unterscheiden zu können. Der Fortschritt der Qualität der Lösungen
erfolgt spmngweise; Verfasser glaubt spezifische Differenzen der Geschlechter
feststellen zu können.
Nvstagmographische Untersuchungen über das Lesen von An¬
tiqua und Fraktur hat Lohsien (74) angestellt (mit dem Nystagmographen von
Schaclcwüz). Versuchspersonen waren 20 Schüler von9%—16 Jahren. Nach Lohsien
erfordert die Antiquazeile mehr Augenbewegungen als die Fraktur, wird aber rascher
gelesen. Der langsamere Leser macht schwächere, der schnellere energischere
Augenbewegungen. Die Form der Augenbewegung ist nicht von der Schriftform
abhängig.
Eine Fortsetzung seiner akustischen Untersuchungen veröffentlicht
Wolfgang Köhler (63). Nach ihm liegt das Wesentliche des Tones nicht nur in der
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Isserlin. Psychologie und Psychophysik.
193 *
musikalischen Tonhöhe, sondern auch in dem Tonkörper, der die qualitative
Oesamtheit eines Schallphänomens zusammenfaßt (Helligkeit, Dunkelheit und
Vokalcharakter).
Über Klangfarbenbewegung berichtet Tenner (118). T. glaubt naeh-
weisen zu können, daß die Sprachmelodie nur ein unwesentliches Moment der Sprach-
musik ist; daß die Hauptsache in der Klangfarbe der menschlichen Stimme liege.
Die Klangfarbenbewegung sei ein hauptsächliches Ausdrucksmittel.
Über Vererbung psychischer Fähigkeiten bringt Peters (97) aus¬
führliche statistische und experimentelle Untersuchungen. Auf Grund der Schul¬
zeugnisse wurden die Leistungen von Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln
und von Geschwistern verglichen. Für das Bestehen der Vererbung spricht die
Tatsache, daß die Durchschnittsnote der Kinder um so schlechter ist, je schlechter
diejenige der Eltern ist, und um so besser, je besser diese ist. Wahrscheinlich er¬
folgt die Vererbung nicht einfach durch Mischung der elterlichen Qualitäten, son¬
dern alternierend. Es bestehen Unterschiede der Beeinflussung durch Vererbung
in den verschiedenen Lehrfächern.. Der Erbeinfluß der Mutter ist geringer als der
der Väter. Bei den Töchtern tritt ein größerer Erbeinfluß zutage als bei den Söhnen.
Auch zwischen den Leistungen von Großeltern und Enkeln ist eine Abhängigkeit
deutlich. Die Mendekchen Gesetze gelten unter gewissen Voraussetzungen auch
für die von P. untersuchten Vererbungserscheinungen. Experimentelle Unter¬
suchungen vermochten festzustellen, daß Geschwisterähnlichkeit in drei verschiede¬
nen psychischen Leistungen (unmittelbares Behalten, Geschwindigkeit, willkürliche
Bewegungen, Kombinationsfähigkeit) nachweisbar ist. Eine deutliche Geschwister¬
ähnlichkeit ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter trat bei den Gedächtnis¬
versuchen zutage.
Über optische Untersuchungen an Schirapansenund am Haushuhn
berichtet Köhler (64). Mittels einer Modifikation des Heringsehen Fallversuchs wird
gezeigt, daß der Schimpanse beim Sehen mit einem Auge ungefähr die gleichen
Fehler begeht wie der Mensch. Durch Greifversuche an Gegenständen wird gezeigt,
daß das Tier ähnlich wie der Mensch bekannte Gegenstände in größerer Entfer¬
nung vom Auge größer sieht, als es der Verkleinerung der Netzhautbilderbilder ent¬
sprechen würde. Ebenso sehen die Schimpansen im allgemeinen analog dem Men¬
schen die Oberflächenfarben im wesentlichen unabhängig von der Belichtungs¬
stärke; auch vom Haushuhn gilt das gleiche.
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Alphabetisches Inhaltsverzeichnis ‘des Literatur¬
berichtes.
(Die Zahlen mit einem Sternchen (*) bedeuten die Seiten des Literatur¬
berichtes, die Zahlen ohne Stern die Nummern der angeführten Veröffent¬
lichungen.)
1. Sachregister.
Abderhaldensche Reaktion 115* 22.
120* 88, 90. 121* 102,108. 123* 123.
124* 141, 145. 126* 168. 128* 189.
Abderhaldensches Diaylsierverfahren
47* 28. 49* 65. 90* 87.
Aberglaube 34* 37.
Absoluter Eindruck 191* 130.
Abstraktionsfähigkeit 185* 49.
Abwehrfermente 120* 83.
Adalin 46* 21. 74* 25. 76* 50. 118* 52.
Adipositas 5* 56. 7* 79, 85.
Adrenalinmydriasis 53* 121. 125* 159.
Ästhetik 186* 58. 187* 86.
Agraphie 47* 29.
Akromegalie 3* 37, 43. 5* 50. 8* 90.
9* 103. 64* 12. 87* 40, 46.
Akustikustumor 100* 222.
Akustische Untersuchungen 186* 63.
Alkoholgenuß und Bakterizidien 77* 64.
Alkoholhalluzin ose 74* 16. 77* 62.
Alkoholikerassoziationen 75* 32.
Alkoholikerstatistik 77* 65.
Alkoholismus 74* 5, 8, 19, 21, 28. 75*
41, 42. 76* 49, 52. 77 * 66, 71. 85*
13. 97* 174.
Alkoholkriminalität 37* 81, 82. 77* 70.
Alkoholmißbrauch 78* 81.
Alkoholpsychosen 74* 1, 29. 75* 39.
Alkohol und Epilepsie 78* 76, 82.
Alkoholwirkung 75* 37. 186* 70.
Alsterdorf er Anstalten 146* 1.
Altem, über das 122* 117.
Alzheimersche Krankheit 88* 50.
Amentia nach Sepsis 48* 45.
Amnesie 97* 180. 127* 182.
Anämie 86* 23, perniziöse 56* 146.
94* 142. 96* 165. 99* 207. 116* 23.
123* 126. 124* 140. 127* 179.
Anenzephalen 66* 32. 100* 212.
Anlagen und Übung, entgegengesetzte
! 189* 114.
Anrechnung des Irrenhausaufenthaltes.
37* 79.
Anstaltsbücherei 140* 11.
Antisoziale Erscheinungen 187* 79.
Aphasie 92* 105. 93* 124.
Apoplektiker 36* 64.
Apperzeption 187* 84.
Arbeitstherapie 117* 40. 119* 65.
Arbeitswechsel 183* 22.
Armen, Psychologie des 183* 21.
Arsenikophagismus 74* 20.
Arteria cerebelli poster. inf. 94* 140.
Arteriosklerose 34* 43. 36* 71. 52* 97 r
104. 90* 79. 98* 198.
Assoziationspsychologie 183* 28.
Assoziationsversuche 183* 27. 185* 67.
188* 101.
Astasie-Ataxie 9* 110.
Asthenie 12* 149.
Ataxie 65* 26. 85* 15. 119* 76.
Atherosklerose 93* 125.
Athetose 3* 24.
Augenbewegung 187* 75.
Augenmaß 186* 72.
Ausfallserscheinungen 4* 42. 95* 147.
117* 38.
Aussagepsychologie 33* 30. 34* 38. 46.
Autistisches Denken 56* 143.
Autoserosalvarsan 100* 214.
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Inhaltsverzeichnis.
195 *
Babinski 115* 11, 14. 127* 183.
Badische Irrenanstalten 146* 2.
Balkenerweichung 97* 184.
Basedowkrankheit 6* 59, 60. 7* 77,
80. 8* 98. 10* 123, 127, 128. 11*
135. 12* 151. 13* 163,166. 14* 177.
51* 85. 64* 9.
Basedowstruma 11* 140.
Bayreuth 146* 3.
Bazillenträger 140* 22. 141* 23.
Beaufsichtigung 139* 8.
Behaarung, abnorme 119* 67.
Bergmannswohl 146* 4.
Beri-Beri 78* 84.
Berlin, Anstaltsberichte 146* 5.
Bemische Anstalten 149* 54, Irren¬
wesen 140* 16.
Bewegung, Perzeption der 186* 69, 61.
Bewußtseinsproblem 189* 112.
Bewußtsein und Reflexe 126* 176, vom
eigenen Körper 123* 127.
Bildlose Vorstellung 191* 128.
Binokulares Sehen 184* 46.
Bleivergiftung 74* 26.
Bluterguß in die basalen Hemisphären¬
abschnitte 100* 221.
Blutgefäßwand 95* 150.
Blutzirkulation 126* 171.
Bösartige Geschwülste 93* 126. 122*
116.
Boston 183* 33.
Botulismus 76* 54. 94* 139.
Breslau 146* 6.
Bromismus 12* 147. 77* 72.
Burghölzli 146* 7.
Calziumtherapie 3* 24.
Cery 146* 8.
Chagas 64* 18.
Charakterbildung 183* 26.
Charite-Mitteilungen 34* 48.
Cholera asiatica 49* 64. 74* 24. 319*
70.
Chorea 1* 1, 4. 2* 22. 4* 36, 46. 6*
63, 64. 7* 82* 86. 8* 89. 9* 104.
11* 131. 13* 167. 14* 184. 48* 50.
50* 86.
Claude Lorrain 6* 74. 120* 85.
Conradstein 146* 9.
Conus terminalis 88* 57.
Corpus callosum 87* 41.
Corpus striatum 97* 178.
Cutis laxa 64* 12.
Dannemora 146* 10.
Degenerationszeichen 127* 181.
Degeneration und Alkohol 75* 38.
Delirium tremens 76* 60. 77*74. 78*85.
Dementia praecox 32* 12. 46* 16,17,24.
47* 27, 32, 34, 36. 48* 49. 49* 62.
50* 80. 51* 86, 88. 52* 99, 101, 102.
63* 119,120. 54* 125. 56* 155, 166.
98* 194.
Denktätigkeit 189* 105.
Depressionszustände 36* 68.
Dermatose 11* 134.
Diabetes 6* 66.
Diätotherapie 117* 41. 119* 78.
Dienstfähigkeit 34* 44. 37* 77.
Diogenal 54* 130. 125* 150. 127* 176.
Diphtherie 75* 46.
Dokumentenfälscher 34* 45.
Dritte Geschlecht, das 33* 32.
Dystrophia adiposo-eenitalis 12* 154.
Edinger 128* 190.
Eglfrng 146* 11.
Ehe 117* 39.
Eichberg 146* 12.
Eifersuchtswahn 37* 74. 49* 61. 53*
108, 116. 74* 9.
Eigenbeziehung 37* 72. 188* 98, 99.
Einbildung 187* 89.
Einwanderung 124* 142.
Einzelne, der und seine Zeit 119* 73.
Eklampsie 84* 2.
Elberfelder Pferde 189* 116.
Elektrische Unfälle 9* 109.
Ellen (Bremen) 146* 13.
Ellikon 146* 14.
Eltemkonflikt 35* 55.
Englisches Drama 46* 4. 114* 9.
Entartung 116* 29.
Entlassung 36* 63. 127* 184.
Entwicklungspsychologie 186* 69.
Enzephalitis 88* 60.
Enzephalomalazie 89* 69.
Enzephalomyelitis 90* 83.
Epilepsie 1* 2, 6, 8, 9. 2* 13, 14, 17.
3* 24, 27, 30. 5* 57. 6* 62, 73. 8*
96, 99. 9* 106. 12* 162. 13* 167,
165, 168. 14* 171, 173, 174, 178, 182.
15* 186. 85* 17.
I Epilepsie-Hvsterie 5* 54 , 55. 12* 165.
1 14*170.'
j Epilepsie, traumatische 4* 44. 13* 160.
| 88* 50 a.
Erblichkeit. 125* 152. 127* 178.
Erblichkeit bei Trinkern 74* 2, 4.
Ergograph 185* 60.
Ergotismus 74* 17.
Erkenntnisvermögen 183* 32.
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196*
Inhaltsverzeichnis.
Erregungs- und Angstzustände 48* 42.
Ersatzgetränke 74* 14.
Erschöpfung, Ermüdung 119* 79.
Erworbene Eigenschaften 117 * 49. 128*
194.
Erziehung 183* 23.
Erziehungsbuch, Deutsches llf>* 35.
Erysipel 114* 8.
EuVenik 38* 87.
Exakte und inexakte Methode 120* 82.
Exhibitionismus 33* 28.
Exophthalmus 13* 169.
Extrazerebrale Tumoren 99* 199.
Fahnenflucht 55* 137.
Familienpflege 140* 13.
Faraday 120* 86. 87.
Farbenagnosie 188* 100.
Farbenempfindungen 186* 62.
Farbensehen 182* 8.
Feindschaftsgefühle 126* 164.
Fetischismus 38* 99.
Fingerbewegungen 186* 71.
Flagellanten 5* 51.
Foligan 118* 54. 124* 144.
Fonabisit 128* 193.
Forelschc Theorie 78* 83.
Frauenkrankheiten 117* 46.
Friedrichsberg 141* 24, 25. 147* 19.
Frühreife 63* 2.
Fürsorgeerziehun? 31* 2. 36* 66. 63* 1.
65* 20, 29. 140* 21.
Gabersee 147* 15.
Ganglienzellenschwellung 99* 201.
Ganglion spirale 126* 163.
Gasvergiftung 75* 36. 77* 61. 95* 148.
Gedächtnis 181* 2. 182* 4. 184* 43.
188* 91.
Geh. kleine Anfälle 4* 45.
Gehirnabszeß, tubork. 48* 51.
Gehirnbiochemie 123* 131.
Gehirnerschütterung 84* 4 . 86* 29.
100* 215. 116* 27. 128* 191.
Gehimkarzinom 86* 25.
Gehirnschüsse 94* 141. 98* 189.
Gehirnverletzung 48* 40.
•Gehlsheim 147* 16.
Gehörshalluzinationen 54* 135.
Geisteskrankheiten des Kindesalters 65*
35. 66* 36, 37.
Geistesstörungen, infekt. u. tox. 75* 43.
Gelenkrheumatismus 55* 151. 78* 88.
Gemeineeführlichkeit 34* 35, 40.
Generationspsychosen 55* 149.
Geschlcchtsumwandlung 35* 61.
| Gescbwisterpsychosen 49* 57.* 119* 71.
Gesetzgebung 183* 18.
Gesiehtsfeldstörungen 100* 211. 127*
180.
Gestaltgedächtnis 184* 41.
Gesundbeten 119* 68.
Gewalttätigkeit 116* 30.
Gewichtsschätzung 184* 35.
Glandula pinealis 7* 88. 91* 101.
Gliomatose 86* 12.
Glücksgefühle, abnorme 187* 83.
Goethe 118* 80.
Göttingen 38* 90. 147* 17.
Goldreaktion 91* 90. 96* 170.
Granatexplosion 2* 12. 49* 67. 51* 84.
53* 122.
Grande hysti'rie 9* 11.
Graphologische Kennzeichen 64* 19.
Gravidität, eingebildete 61* 83.
Greifversuch 124* 148.
Grenzfragen 53* 60.
Größenschätzung 190* 122.
Gynäkologische Operationen 50* 70.
120* 93.
Haar 147* 18.
Hämolysinreaktion 86* 24.
Haftpsvchose 52* 96.
Halluzination 52* 106. 53* 113. 123*
129. 124* 136. 125* 153. 154. 126*
162, 166.
Hamburg, Anstaltsberichte 147* 19.
Hamlet 128* 200.
Harnstoffbildung 3* 32.
; Harrison law 75* 30, 34. 76* 55.
; Heilen und Bilden 181* 3.
Heil- und Pflegeanstalten 139* 3.
i Heimwehdeliktc 38* 89.
Hellseher 185* 54.
Hcmikranie 12* 145.
Hemiplegie 64* 16. 91* 93.
| Hemmungserscheinungen 123* 128.
| Herborn 147* 20.
i Herderkrankungen 85* 9. 100* 213.
Herzaffektionen 117* 47.
! Hessen, Hilfsverein 147* 21.
Hildesheim 147* 22.
Hilfsschulkinder 64* 8.
Hirnabszesse 89* 68. 97* 182.
Hirnangiom 94* 132.
Himarterien, Aneurysma der 92* 110.
Hirnechinokokkus 85* 7.
Himforschungsinstitut 125* 185.
1 Himgeschv ülste, multiple 90* 78.
Himphvsiologie 12* 149. 96* 168.
Himpunktion 94* 145. 100* 218.
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Inhaltsverzeichnis.
197 *
Hirnrinde 86* 31. 87* 34.
fdimschwellung 96* 152. 123* 135.
Hirnsyphilis 91* 97. 92* 111. 98* 187.
101* 228.
Himtrauma 128* 198.
Hirntumor 52* 96. 84* 6. 85* 8. 86*
27. 89* 64. 94* 137. 99* 206. 100*
219 220
Hirnventrikel 98* 195.
Hirnverletzung 95* 157. 96* 158.
Hördt 139* 10. 147* 23.
Hörschärfe 182* 7.
Hörstörungen 15* 185.
Homburg (Pfalz) 147* 24.
Hormontherapie 3* 31. *
Hydrozephalus 64* 5.
Hyperthyreoidismus 7* 76.
Hypnotischer Strafrechtsfall 33* 20.
Hypochondrie 49* 58.
Hvpophvsiserkrankung 7* 79. 11* 136,
138. 14* 183.
Hypophysistumor 7* 19. 91* 89. 97*
179.
Hypopinealismus 11* 130.
Hypothyreose 7* 83.
Hysterie 2* 16,18,19. 6* 52, 53. 6* 65.
11* 132, 142. 13* 159. 14* 181. 38*
95. 98* 188, und Hebephrenie 2* 18.
46* 14.
llysteroepilepsie 6* 72.
Idiotie 64* 11, 14. 65* 22, 23, 33.
Imbezillität 45* 5. 63* 3.
Infantilismus 64* 17. 65* 21, 24, 31.
Infektionskrankheiten 74* 18. 139* 7.
Innere Medizin 118* 59.
Innere Sekretion 12* 148.
Innervation 10* 121.
Intellekt und Willen 190* 123.
Intelligenzpriifung 63*4. 182* 17. 184*
39. 185* 55, 60. 187 * 80. 188* 92.
189* 111. 190* 119.
Irrenfürsorge 139* 6. 140* 12, 14.
Irrengesetzgebung 37* 84.
Irrenstatistik 140* 16.
.Taspersche Phänomenologie 182* 5.
.Tugendirresein 47* 30.
Jugendliche 35* 57. 187* 76.
Jugendpsychologie 188* 95.
Jngendurteil, sittliches 189* 104.
Justizmord Justchinsky 31* 3.
Kant 189* 110.
Karzinom der Dura 91* 103.
Kastration 12* 143.
Katatonie 48* 52. 53* 114. 55* 144.
Katatonusversuch 116* 28. 124* 147.
Kindesalter, Psychosen und Krank¬
heiten des 50* 75. 56* 159. 65* 25,
28, 30. 121* 97.
Kindsmord 35* 53.
Klangfarbenbewegung 190* 118.
Kleinhirn 97* 183.
Kleinhirnabszeö 86* 26.
Kleinhirnbrückenwinkel-Tumoren 86*
19. 88* 52. 89* 72. 92* 107. 100*
222. 101* 226, 227.
Kleinhirntumor 88* 55.
Kleinhirnzyste 84* 1.
Klinischer Verlauf — anatomischer Be¬
fund 94* 133. 122* 122.
Königsfelden 147* 25.
Körperliche Erkrankung 47* 35. 87* 44.
117* 37.
Kommotionsneurose 3* 29. 86* 30.
Konzeptionsbeförderung 122* 112.
Kopfhautfalten 118* 56.
Kopfverletzung 54* 124. 97* 185. 114*
2. 125* 160“
Korsakowpsychose 52* 105. 76* 57, 59.
Kranidmeter, ohne 93* 118. 121* 106.
Krankenschwestern 139* 2.
Kremasterreflex 115* 10.
Kreuzburg (Schlesien) 147* 26.
Krieg, der deutsche 116* 15.
Kriegsbeschädigung 37* 78.
Kriegshypnose 9* 112. 49* 56.
Kriegshysterie 1* 10. 9* 112.
! Kriegsinvaliden 139* 9.
Kriegskriminalität 37* 88.
Kriegsneurologie 3* 23. 10* 120. 12*
I 144.
! Kriegsneurosen und -psychosen 1* 10.
3* 26, 35. 4* 40. 7 * 75. 8* 91, 102.
j 9*107,113,114. 10*117.118. 31*1.
l 32* 14,15. 45* 1, 6,8, 9. 46* 22. 48*
i 44.48. 50*79. 51*90,91,92,93,94.
53* 112. 54* 132, 136. 56* 152. 74*
6, 7. 76* 48. 96* 162. 115* 13. 121*
99. 122* 118. 123* 134. 125* 151.
i Kriegspsvchiatrie 32* 16, 17. 34* 47.
; 56. 46* 13. 53* 115.
; Kriegspsvchiatrisches 55* 140. 56* 153.
154, 158. 76* 58. 115* 20. 116* 24,
j 34. 120* 81. 121* 101, 109. 122*
| 110,111,113,114,115. 124*137,146.
126* 167, 173, 174. 128* 196, 197,
199.
Kriegsseuchen 140* 20.
Kriegstyphus 48* 38. 71* 15.
Krieg und Aberglauben 121* 95.
Krieg und Gesundheitsfürsorge 118* 60.
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198 *
Inhaltsverzeichnis.
Krieg und Seelenleben 119* 72. 125*
165. 185* 56. 190* 117.
Kriminalanthropologie 35* 59.
Kriminalität 36* 62, 69. 37* 88.
Kutzenberg 147* 27.
Laboranten 128* 195.
Lähmungseischeinungen 99* 21 ML 104*6.
Langenhagen 147* 28.
Langenhorn 147* 19.
Leitungsaphasie 92* 106.
Lernen 188* 92.
Lernzeiten 188* 92. 189* 113.
Lesen, Orientierung beim 188* 94.
Leubus 147* 30.
Lewenberg 147* 29.
Lichtlücken 191* 132.
Lindenhaus 147* 31.
Liquor cerebrospinalis siehe Zerebro¬
spinalflüssigkeit.
Logische Leistungen 184* 44.
Lokalerinnerungen 185* 48.
Lüben 148* 32.
Lüneburg 148* 33.
Luetinreaktion 90* 84, 85.
Luminalbehandlung 12* 154.
Lustmörder 37* 75.
Lust- und Unlustelemente 182* 12.
Manie, verworrene 11* 129. 52* 103.
Manisch-depressives Irresein 46* 19.
47* 25. 48* 46, 47. 50* 81. öl* 82.
53* 117, 118. 54* 128. 131, 134.
Mariaberg 148* 34.
Marineangehörige 38* 96.
Massachusetts State Hospitals 139* 4.
Massensuggestion 126* 170. 184* 37*.
Mathematische Geschicklichkeit 187*
88 .
Melancholie 33* 29. 48* 41.
Mendelsches Gesetz 33* 26.
Meningitis 88* 59. 89* 66. 90* 82. 91*
100. 96* 163, 166, 171..
Menstruationspsychosen 49* 63, 64.
120 * 88 .
Metaphern 183* 25.
Metasyphilis 98* 193.
Methylalkoholvergiftung 78* 87.
Migräne 3* 33.
Migräno-Epilepsie 9* 108.
Mikrobenknlturen 123* 125.
Mikrogyrie 85* 11..
Mineraistoffwechsel 118* 61.
Mobilmachungspsychosen 48* 43. 118*
55.
Momentanes Interesse 186* 68.
Moralischer Schwachsinn 35* 52.
Mord, Mörder 38* 94. 183* 24.
Morphinismus 74* 11, 12, 13.
Morphium-Skopalamin, Trivalin 48* 42.
118* 53.
Morphologische Kennzeichen 92* 117.
121* 105.
Münsterlingen 148* 35.
Multiple Sklerose 47* 31. 52* 98. 87*
36, 37. 90* 88. 93* 129. 95* 149.
98* 188.
Musikwissenschaft 189* 106.
Myelitis 91* 95.
Myotomia congenita 13* 164.
Myotonoklonib 10* 122.
Mythus und Religionl91* 129.
Narkolepsie 11* 137. 123* las.
Narkose 119* 7£.
Neosalvarsan 92* 104.
Nervenkrankheiten, endogener Faktor
der 10* 116. 94* 136.
Nervenschußverletzungen 13* 161.
Nervensystem, Psychol. 190* 126.
Netzhautgruppe und blinder Fleck 189*
107.
Neurasthenie 1* 3. 5* 59. 11* 141.
14* 176.
Neuritis arthritica 11* 139.
Neuro-Chirurgie 122* 119.
Neurolyse 126* 172.
Neuropathische 87* 80.
Neurose (psychopathol.) 13* 158.
Neustadt (Holstein) 148* 37.
Neustadt (Westpreußen) 148* 36.
Niedernhart (Linz) 148* 38.
Noktambulismus 8* 93.
Nystagmus 4* 41. 186* 74.
i
öffentliche Meinung 117* 50.
Okulomotoriuslähmung 89* 76. 98* 196.
Ophthalmoplegie 93* 130.
Opium-Brombehandlung 7* 78.
Optische Untersuchungen 186* 29, 64.
Osnabrück 148* 39.
Osteomalazie 3* 25. 65* 21.
Ostpreußische Anstalten 148* 40.
Oszillierende Gefühle 184* 40.
I Oxyproteinsäure 93* 131.
I Panumsches Phänomen 185* 53.
I Papillom ira IV. Ventrikel 88* 68.
Paralyse 4* 38. 38* 98. 86* 22. 87*
! 43, 48. 88* 49. 89* 63, 67, 70, 71.
! 92* 115. 94* 144. 95* 154 . 96* 160,
161, 167, 169. 100* 216.
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Inhaltsverzeichnis.
199*
Paralyse, juvenile 97* 177, 181.
Paralyse, pseudohypertrophische 97*
173.
Paralysis agitans 7 * 84. 8* 95.
Paramnesie 187* 90.
Paranoia 46* 11. 47* 33. 49* 55. 52*
100. 53* 109.
Paranoide Erkrankungen 49* 60. 50*
68, 69. 64* 129.
Paraphrenien 50* 72.
Parasyphilitische Erscheinungen 92*,
116.
Parkinsonsche Symptome 9* 105. 93*
123.
Pathologie, allg. u. pathol. Anatomie
96* 159. 116* 33. 124* 138.
Pathologie der Zelle 91* 98. 120* 94.
Pellagra 76* 53, 56. 77* 63. 78* 78,86.
Persuasion 4* 39.
Pflegepersonal 139* 1, 2. 140* 18.
Philosophie des „Als Ob“ 184* 42.
Pliipps Clinic 139* 5.
Plastoskop 191* 133.
Platner 117* 36.
Polioenzephalitis 94* 139.
Poliomyelitis 91* 102. 92* 109. 99* 203.
Polyneuritis 10* 115. 74* 10. 75* 40.
Poriomanie 54* 123.
Praesenium 45* 2.
Praetabes 84* 5.
Prostituierte 37* 83.
Pseudohermapbroditismus 64* 15.
Pseudologia phantastica 37* 176. 53*
m.
Pseudotumor cerebri 94* 135.
Psyche und Gefäßsystem 127* 188.
Psychiatrie, allg. 33* 18. 86* 20. 116*
32.119* 19, Lehrbuch 115* 12,16. 18.
Geschichte der 120* 84.
Psychische Fähigkeiten 188* 97.
Psychische Faktoren 119* 66.
Psychische Invarianten 185* 52.
Psychische Kausalität 117* 48.
Psychoanalyse 187* 78.
Psychogene Reaktionen 8* 100,101,102.
Psychologie 182* 6. 183* 19. 184* 36,
38. 191* 131.
Fsychoneuroscn — multiple Sklerose
49* 66.
Psychopathengesetz 33* 19.
Psychopathologie 118* 57. 122* 114.
Psychosen 114* 3, 4. 121* 100. 127*
177.
Psychosen, Einteilung der 114* 5. 115*
18, Ätiologie der 127* 187.
Psychosen, eklamptische 54* 133.78* 79.
Psychosen, funktionelle 85* 10.
Psychosen, hysterische 55* 147.
Psychosen, infektiös-toxische 51* 89.
77* 75.
Psychosen, präsenile 55* 145. senile
46* 11.
Psychosen, symptomatische 46* 15, 18.
86 * 21 .
Psychosen, traumatische 31* 5. 45* 3.
49* 59. 50* 71, 73. 98* 186. 118* 58.
119* 77. 121* 98. 125* 161.
Psychotherapie 126* 165.
Puerperalpsychosen 51* 87.
Pupillenstarrc 75* 44. 76* 51.
Pupillenunruhe 48* 39. 117* 44.
Pupillenuntersuchung 99* 208.
j (Querulantenwahn 46* 20. 55* 142.
I
) Rassenhygiene 79* 23. 76* 47. 114*
126* 169.
Ravnaudsche Krankheit 10* 124.
j Rechtsverhältnisse 36* 65.
Reflexftuslösung 125* 156. 157.
Religionspsvchologie 190* 120. 127.
191* 129'
Rentenbegehren 33* 25.
Rheinprovinz, Anstaltsberichte 148* 41.
Richter, geisteskranke 34* 39.
Rindenepilepsie 1* 9.
Robespierre 117* 51.
Rockwinkel (Bremen i 148* 42.
Roda 148* 43, 44.
Rosegg 148* 45
Sachsenberg (Schwerin) 148* 46.
Sachverständigentätigkeit 39* 101. 1(12.
103, 104.
Safrolvergiftung 75* 35.
Salvarsan 86* 33. 87* 47. 93* 128.
Salvarsannatrium 87* 39, 45. 89* 65.
100* 217.
Schädelmißbildungcn 85* 16.
Schätzungsirrtömer 188* 51.
Dre. Schedel 90* 77. 119* 75.
Scheinbewegungen 182* 14. 190* 126.
Schizophrenie 50* 78. 65* 148.
Schlaftrunkenheit 38* 93.
Schlaganfall 99* 205.
Schleswig (Stadtfeld) 148* 47.
Schmerzempfindung 182* 13. 186* 66.
Schock 127* 185.
Schrapnellverletzung 91* 91.
Schreckneurosen 6* 67, 68, 74. 11* 180.
Schrifttum der Kinder 188* 102.
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200*
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Schußverletzungen 88* Gl. 92* 114.
97* 172.
Schwachsinn 66* 150. 56* 157. 64*
7, 13.
Schwetz, Westpr. 140* 17. 149* 48.
Sedobrol 121* 107.
Seelenblindheit 89* 74.
Seelensitz 121* 96.
Selbstmord 32* 8. 35* 50, 54. 37 * 73.
39* 105. 50* 77. 123* 132.
Selbstschilderung 184* 47.
Selbstverletzung 12* 150. 115* 21.
Sella turcica 100* 224.
Senile Demenz 99* 210.
Senile Plaques 87* 35.
Sensibilitätsstörungen 92* 113. 95* 151.
98* 192. 121* 104.
Serologie 120* 91.
Seuchen 127* 186. 140* 19.
Sexualität 32* 6, 7. 34* 33. 116* 25.
122* 120. 184* 34.
Shakespeare 116* 31. 118* 62.
Simulation 8* 97. 33* 24. 36* 67.
Sinnesenergien 183* 20.
Sinnesverwirrungen 190* 124.
Sittlichkeitsverbrechen 39* 100. '
Situationspsychosen 11* 133. 53* 110.
Sonnenhalde (Riehen) 149* 49.
Sonnenstich 90* 80. 95* 156. 96* 164.
124* 139.
Soziale Fürsorge 37* 78, Medizin 118*
63.
. Spaßmacher 186* 67.
Spinalparalyse 95* 153.
Spindelzellensarkom 86* 28.
Spirochaeta pallida 91* 94. 93* 119.
Sprache 121* 103. 122* 121.
Sprachheilkunde 4* 47.
Sprachstörung 5* 49. 12* 153. 101* 225.
Sprachzentren 94* 143.
Stäsis 42
Stauungspapille 89* 75. 95* 155.
Stephansfeld 149* 50.
Sterilisation 33* 27.
Stickstoffwechsel 47* 25. 26.
Stimmeinstellungsfiguren 187* 77.
Stimmzeichen 99* 202.
Stirnhirntumoren 86* 32. 89* 73.
Stoffwechsel 10* 125. 123* 124.
Stottern 2* 20. 5* 48. 8* 94.
St. Pirminsberg 149* öl.
Strafrecht und Minderwertige 32* 9.
Strecknitz-Lübeck 149* 52.
Struma congenita 13* 162.
Suggestion 116* 26. 117* 43. 128* 192.
183* 31.
| Syphilis 87* 38. 88* 53. 90* 81. 94*
134. 100* 223.
Syringomyelie 91* 92. 98* 191, 197.
Tabak und Alkohol 78* 89.
Tabes 85* 14. 91* 96, 99. 95* 146.
99* 209, und Paralyse 88* 54* 56.
Tätowierung 34* 36.
Taubstummheit, hysterische 14* 179.
Thrombose 93* 122.
Thymus 5* 61.
Thyreoiditis 1* 5. 2* 21.
Thyreosen 3* 28. 10* 126, 128.
Tiefenwahmehmung 188* 96.
Timon von Athen 116* 31.
Tonwirkung, dichotische 182* 9, 10.
Tordav-Wienersche Reaktion 47* 37.
Transitivismus 55* 141.
Traum. Träume 181* 1. 184* 45. 187*
87.
Trigeminusneuralgie 3* 35 a.
Trinkerfürsorge 74* 3, 27. 78* 80.
Trunksucht 32* 10, 11. 77* 68, 69.
Tuberkulinbehandlung 89* 71. 97* 175.
Tumor siehe Hirntumor.
Typhoides Fieber 74* 22.
Typhuspsychosen 54* 129. 78*77. 117*
45. 119* 69.
Überwertigkeit 115* 17.
Unfallbegutachtung 1* 7.
Unfallfolgen 34* 34, 41, 42.
Unfallmedizin, Handbuch 36* 49.
Unfallneurosen 4* 40. 6* 69, 70, 71.
7* 87. 12* 146. 14* 175. 33* 22, 23.
Ungarn, Anstaltsberichte 149* 53.
Unmusikalische 182* 15.
Unsoziale 36* 70.
Untätigkeit, Faulheit 182* 16.
Unterbewußtsein 187* 81.
Vaccineurinbehandlung 8* 92.
Verantwortlichkeit 35* 61.
Veronalvergiftung 76* 31. 77* 73.
Versicherungsrechtliche Medizin 32* 13.
Volkswohlfahrt 118* 64.
Vorbeugung 114* 7.
Verbrechen 31* 4. 33* 31.
Wahnbildung 46* 10.
Wahnideen 55* 138, 139.
Wahrnehmungslehre 186* 73.
Waldau, Münsingen, Bellelav 149* 54.
Waldhaus (Chur) 149* 55.
Wassermannsehc Reaktion 93* 121.
94* 138.
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201*
Wehnen 149* 56.
Weilmünster 149* 59.
Wemeck 149* 57.
Wemickes antochthone Ideen 123*
130.
Wernigerode-Hasserode 149* 58.
Wertpsychologie 187* 85.
Werttheorie 189* 108.
Westfalen, Anstaltsbelichte 149* 00.
Westphalsches Symptom 2* 10.
Wiedererbennen 183* 30. 187* 82.
Wü (St. Gallen) 149* 61.
Willensbeeinflussung 186* 05.
Wilsonsche Krankheit 99* 200.
Wirtschaftsleben, Psychologie des 188*
103.
Woltersdorfer Schleuse 149* 02.
Woitblindheit 85* 18.
i Zahlenverständnis 189* 109, 115. 190*
121 .
| Zerebellare Pyramide 97* 176.
i Zerebellarer Svmptomenkomplex 88*
51, 62. 92* 108. .
Zerebrospinalflüssigkeit 84* 3. 87 * 42.
; 90* 86.
Zeugenaussagen 38* 97.
Zittern bei Hirntumor 98* 130.
Zivilisation 120* 92.
Zunahme der Geisteskrankheiten 124*
143.
Zurechnungsfähigkeit 35* 68. 38* 91,92.
Zwangsbewegungen 65* 27. -haltung
46* 23.
Zwergwuchs 64* 10. 65* 26, 34.
Zystenbildung 92* 112.
j Zystizerkenmeningitis 50* 76.
Aal 181*.
Adams 181*.
Adler u. Furtmüllcr 181*.
Albos 73*.
Albrecht 1*.
Alexander 84*.
Alin 84*.
Alt 31* 45*.
Alter 1* 84* 147* 31.
Anton (Halle) 73* 84*
114*.
Antoni 84*.
Arnold 182*.
Aron 84*.
Ar ton 85*.
Aschaffenburg 1* 114*.
Auerbach 114*.
Ayer 85*.
Baade 182*.
Bachrach 182*.
Baer 1*.
Balev 182*.
Ball,' Ch. P. 85*.
Ball, Jan D. 85*.
Balp 1*.
Barakov 1*.
Barber 182*.
Barr 114*.
Barth, Elfr. 31* 63*.
Becher 182*.
Zeitschrift für Psychiatrie.
2. Autorenregister.
Bechterew 31*.
Becker (Herbom) 31*.
Beckmann 114*.
Beekmann 63*.
Benders 45*.
Benning 148* 42.
de Benoit 73*.
Benussi 182*.
Berg 139*.
Berger 1* 31* 45*.
Berghäuser, Wilh. 45*
114*.
Berkley 45* 63*.
Bemfeld 182*.
Bernhardt 115*.
Bertholet 73*.
Beßmer 182*.
Biach 115*.
Bianchi 115*.
Bickel 45* 115*.
Bielchowskv 1* 85*.
Bignami et Xazaii 73*
85*.
Bikeles 85*.
Bjkeles u. Zbyszewski 1*
Biller, Otto, 45*.
Bing 115*.
Binswanger (Jena) 1*
115*.
Binswanger u. Siemerl ng
116*.
LXXIII. Lit/
Birnbaum 1* 32* 45* 46*
73* 115*.
B ttorf 2*.
Blachian 147* 18.
Blauner 85*.
Bleuler2* 46*115*146*7.
Bloch 63*.
Bloch u. Lippa 182*.
Boas, Kurt 32*.
Boden 183*. ‘
v. Bokav 64*.
Bolk 64'* 85*.
Bolten 2* 85*.
Bonhooffer 2* 46* 73*
85* 86* 115*.
Bonhoeffer u. Moeli 32*.
Borchardt 46* 86* 115*.
Bouman 32*.
Bouman u. Hasselt 115*.
van Bouwdijk-Bastiaanse
86 *.
Boven 46*.
Braune 146* 9.
Braunshausen 183*.
Breiger 46*.
I v. Bremen, Rud. 86*.
! Bresler 32* 116* 139*.
; Briggs and Stearns 139*.
, Brinkhaus, Karl 2*.
Brodsky 40*.
| Brown, Sänger 46*.
o
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202*
Inhaltsverzeichnis.
Browning 2*.
Brouwer u. Blauwkuip
86* 116*.
Brlickner 86*.
Brüggemann 46*.
Brühl 183*.
Brümmer 149* 66.
Brünger 2*.
Bruhn 2*.
Bruhns 3*.
Bryant 3*.
Büller, Georg 86*.
Bürger 32*.
Büttner 64*.
Bull u. Harbitz 3*.
Bunge 73*.
Bunnemann 3*.
Bumke 147* 16.
Burchard 46* 116*.
Burkarth 148* 34.
Burr 86* 183*.
Buschan“46*.
Campbell 139*.
Cardauns, Franz 3*.
Caro 3*.
Castex u. Bolo 86*.
Cazzamalli 116*.
Ceni 86* 116*.
Charon et Courbon 46*.
Chotzen 73*.
Christoffel 3* 86*.
Ciarla 86*.
Cimbal 32*.
Clarke 3*.
Collins and Marks 3*.
Colmant 86*.
Conrad 183*.
Consiglio 32*.
Cotton 46* 86* 87*.
Coultes 183*.
Cowe 87*.
Cox 33*.
del Croce 116*.
Cuneo 3* 47*.
Curschmann 3* 73* 87*.
Curwen 139*.
Cziky 116*.
Dabeistein 148* 37.
Davenport 116*.
Davidian 3*.
Davis 47*.
Dees-116* 139* 147* 15.
Delbrück 146* 13.
Dercum 116*.
van Deventer 139*.
van Deventer, Sissing u.
Postma 33*.
Diller 33* 183*.
Dimitz u. Fries 47*.
Dinter 147* 30.
Doinikow 87*.
Dominik 73*.
Donath 3* 47* 116*.
van Dongem 73*.
Dornblüth 116*.
Dost 4*.
Downoy 183*.
Draper 87*.
Drcyfus 87*.
Drysdale 47*.
Dürberk, Paul 4* 8i*.
Dugo 47*.
Durand, Artur 33*.
Ebbel 47*.
Ebstein 117*.
Edsall und Means 4*.
Eisath 47*.
Eliassow 64*.
Eisberg 87*.
Elsenhaus 183*.
Emanuel 8/*.
Emerson 47*.
Enge 47* 87* 117*.
Engelen 4* 33*.
Engelen u. Rangette 33*
183*.
Engelhard 4*.
Engelhom 4* 117*.
Ernst 47*.
Eulenburg 117*.
Evans and Mikels 117*.
Ewald 117*.
Eyman 117*.
Fabinyi u. Hajös 47*.
Fabry u. Fischer 87*.
Falta 4* 87*.
Farr 73*.
Feblinger 33*.
Fehsenfeid 74*.
Ferree 183*.
Fischer, Auguste 183*.
Fischer, Bernhard 87*.
Fischer, Max (Wiesloch)
L39*.
Flatau* 33* 117* 183*.
Flesch 64*.
Flusser 48* 74* 117*.
Forel 183*.
Förster 87* 88*.
Förster u. Schlesinger 48*
117*.
Fraenkel, L. 117*.
France 117*.
Frank, V. Th. 183*.
Frankhauser 117*.
Franz, Sh. 48*.
Franz, V. 117*.
Freeman 117*.
Freimark, Hans 117*.
Frerich, Heinr. 33* 48*.
Freud, H. 118*.
Freud, Sigm. 184*.
Frey, E. 88*.
v. Frev, M. 184*.
Frey, Rudolf 4* 88*.
Fricke, Winfried 33*.
Friedländer, Erich 48*
118*.
Friedländer, Julius 88*.
Friedländer, Rosa 118*.
Friedmann, M. 4*.
Friedrich, Jul. 33*.
Fritsch 4*.
Fritze, Gustav 4*.
Fröbes 184*
Frölich 147* 2h
Fröschcls 4* 5*.
Frost 184*.
Frowein 74*.
Fuchs (Cöln) 184*.
Fuchs u. Waitzki 74*.
Fuchs, Walter 48* 118*.
Fürth, C. 5*.
Fumarola 88*.
Gabel 6*.
Gaedecken 34*.
Ganter 118*.
Gaupp (Tübingen) 5*
118*.
Geipel 34*.
Gennerich 88*.
Gensichen, Th. 88*.
Gerson, Adolf 184*.
Gerstmann u. Perutz 88*.
Gerver 48*.
Gezelle Meerburg 118*.
Gierlich 88*.
Giese 184*.
Gilbert 184*.
Godefroy 6* 184*.
Gölkel, Karl 88*.
Göring 34*.
Götz, Bemdt 6*.
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203*
Götz, 0. 88*
Goldstein 88*.
Gordon 6*.
Görski 48* 74*.
Gotthold 34*.
Gottstein 118*.
Grabley 118* 149* 62.
Graul, G. 5*.
dcl Greco 118*.
Gregg 89*.
Gregor 184*.
Gregory 48*.
Greppin 148* 45.
Grey 89*.
Grotjahn 118*.
Grünbaum 184*.
v.Gruber (München) 118*.
Grüble 184.
Gudden, H. 74*.
Günther, A. 185*.
Gutmann 89*.
v. Hab er er 6*.
Haberkant 139* 147* 23.
Habrich 185*.
Haeberlin 149* 51.
Hagen 89*.
Harnes, Emilie 119*.
Hahn 146* 6.
Hahn, Rudolf 48*.
HalberBtadt et Legrand
48*.
Handrik 185*.
Harpe 48*.
Harrington 119*.
Harns 185*.
Hart, C. 5*.
Hartwig 64*.
Haskell 89*.
Hassin 48* 89*.
Haupt 89*.
Hanptmann 48*.
Havmann 89*.
Hebold 6*.
Hegar 119*.
Heflter 74*.
Heiberg 74*.
Heinicke 89*.
Heinrichs, K. L. 6* 49*.
Heller 185*.
Hellwig 34* 119*.
Henders-.n 74* 119*.
Henning, H. 185*.
Henschen, Folke 89*.
Hercord 74*.
Herrmann 64*.
Herschmann49*74* 119*.
Herter 89*.
Herzog, B. 89*.
Heveroch 49* 89*.
Hibben, Dietr. 49* 119*.
Hickmann 185*.
Higier 49* 64*.
v. Hippel 6*.
Hirsch, Samson 74*.
Hirsch-Gereuth 74*.
Hirschfeld, Magnus 49*.
Hoche (Freiburg) 6* 119*
185*.
Hock 146* 3.
Hoeber, R. 119*.
Honig 89*.
Hopfner 90* 119*.
Hoffarth 34*.
Hoffmann, F. 74*.
Hofmann 90*.
Hollingworth 185*.
Holterbach 147* 24.
Hoover 119*.
Hoppe-Sevler 6* 74*.
Horn, P. 6* 34* 90*.
Homev, Karen 49* 119*.
Hovorka 64*.
Hudowemig 74*.
Hübner, A. (Bonn) 49**
Hughes 75* 119*.
Huitgrcen 64*.
Husemann 75*.
Huther 185*.
Ireland and Wilson 90*.
Jackson 6*.
Jacobi, C. 119*.
Jacobi, Walter 119*.
Jacobsohn 120*.
Jacoby 120*.
Jafföo u. Pribrara 120*.
Jnhnel 90*.
Jakob, Alfons 90*.
Jebens, Otto 49*.
Jelliffe 120*.
Jellineck 6*.
Jentsch 6* 120*.
Jörger, Joh. H. 75*.
Jörger, P. 49* 149* 55.
Jnlly, Ph. 34* 49* 120*.
Jones 140*.
Juliusburger 7*.
Kafka 49* 90* 120*.
Kahane 7*.
Kahlmcter 91*.
Digitized by
Gck igle
Kalmus 34*.
Kaplan 91* 120*.
Karehnke, Bruno 7*.
Karmann, E. von 34*.
Karpas 120*.
Karplus 49* 91*.
Karstens 64*.
Kasten 34*.
Kauffinann 149* 57.
Kaufmann, C. 35*.
Kehr 185*.
Kellner 7* 35*.
Kemp 7*.
Keyser, T. S. 64* 91*.
Kienboeck 7*.
King 75*.
Kirchhof! 148* 47.
Kirschmann 185*.
Kißmeyer, A. 91*.
Kläsi u. Roth 76*.
Klose 7*.
KlüiJel 91*.
Knapp 35* 75*.
Kobelt 186*.
Koch 64* 91*.
Koehler 186*.
Kohnstamm 186*.
Kollarits 186*.
Koplik 7*.
v. Korczynski 7*.
Krambach 50*.
Kramer, F. 7*.
Krantz, Hetty 50* 120*.
Kraus, W. M. 7*.
Kraus, Bosenbusch u.
Maggio 64*.
Krause, Karl 91*.
Krauß 50*.
Krebl et Marchand 91*
120 *.
Kronfeld, A. 36*.
Kronfeld, E. M. 121*.
Kronthal 121*.
Krueger 60* 91* 186*.
Kruse 50* 121*.
Kühl 7* 60*.
Künzel, Ilse 50* 121*.
Kürbitz 35*.
Kufs 50*.
Kuhlgatz, Wilh. 35* 50*.
KurÄk 91*.
Laehr 7*.
Lang 50*.
Lange u. Specht 186*.
Langelaan 7* 91*.
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
204*
Inhaltsverzeichnis.
Langfeld 186*.
Lantzius-Benninga 149*
59.
Laudenheimer, J. B. 50*.
Laudcnhcimer, Rudolf
50* 121*.
Lazar 36*.
Leegard 91*.
Lceser 186*.
Lenriacher 91*.
Lemel 60*.
Lepage 8*.
Leppmann 35*.
Leva 8*.
Lewandowsky 8*.
Lewinsohn 92*.
Lewy-Suhl 35*.
Lieb 75*.
Liepmann 92*.
Liepmann u. Pappenheim
92*.
Lieske, Hans 36*.
Lind 60* 61* 121*.
Link 92*.
Linke 147* 26.
Linke, P. 186*.
Lipschütz 75*.
Lloyd 75*.
Lobsien 186*.
Loechel 51*.
Löffler 75*.
Löwenstein, Kurt 8* 92*.
Löwenstein, Paul 92*.
Löwy, Julius 8* 92*.
Löwy, Max 121*.
Lomer 64*.
Loring 187*.
Ludlum and Corson-
White 121*.
Liidke, Georg 187*.
Luick 187*.
Lvdston 92*.
MacCurdy 187*.
MacDonald, A. 35* 187*.
MacDonald, W. 121*.
Mahaim 146* 8.
Makuen 8*.
Mann, Alfred 187*.
Mann, Ludw. 51*.
Marburg 8* 92* 121*.
Marburg u. Ranzi 92*.
Marchiafava 75*.
Marcus, Henry 8* 92*.
Marcuse 35*.
Marie (Villejuif) 92*.
Marie et Auliffe 92* 121*.
Marini 36*.
Martin 187*.
Marx, B. 8*.
Marx, Emil 75*.
Massarotti 61*.
Masseion 51 .
Matti 93* 121*.
Matusch 148* 46.
May, James 140*.
Mayer, Felix 121*.
Mayer, H. W. 187*.
Mayer, Wilh. 75* 121*.
Mayer, Willy 187*.
McCarthy 61*.
Mclnstoh and Fildes
93*.
McLaughlin 75*.
Meggendorier 51*.
Melchior 140*.
Melzer 61* 76*.
Mendel 93* 121*.
Merhaut 8*.
Messer 187*.
Mettgenberg 36*.
Moumann 187*.
Meyer, Carl 8*.
Meyer, E. (Königsberg)
8* 9* 51* 122*.
Meyer, Hugo 9*.
Meyer, Salomon 187*.
Meyer von Schauensee
36*.
Meyers 93*.
Michels 9*.
Mingazzini 9* 93*.
Minnick 187*.
Mjöcn 75*.
Möckel 9*.
Moeli 36* 140*.
Mönkeberg 93*.
Mönkemöller 36* 65*
147* 28.
Möring 36*.
Mohr, Fr. 9* 51*.
Moll 75* 122*.
Moore 187.*
Moravcsik 51* 52* 122*.
Morgenthaler 140*.
Moses 36*.
de Mouchy 65*.
Moyle 36*.
Möller, E. (Waldbröl) 52*
93* 122*.
Müller, F. 187*.
i Müller, Friedr. 122*.
Müller-Freienfels 188*.
Münzer, A. 122*.
Muskens 93* 122*.
Muschalik 65*.
Myers 188*.
Nack 52*.
Naegeli 93*.
Nagel 52* 93*.
Neff 76*.
Neißer, A. 122*.
Neißer, E. 9*.
Neuber 9*.
Neuberger 147* 19
Neubert 93*.
Neubürger 52*.
Neumann 93*.
Neumark 94*.
Neurath 65*.
Neutra 9*.
Newton Scott 188*.
Nießl v. Mayendorff 122*.
Nieuwenhuijse 76*.
Nißl 94* 122*.
Nonne 9* 10* 76* 94*.
Nußbaum, Robert 52*.
Obersteiner 10* 94.
Obr6gia et Pitulescu 52*.
Obrdgia, Urecchia et Po-
peia 52*.
Oeconomacis 94*.
Oetjen, Friedr* 188*.
Oetter 147* 27.
Oppenheim 10**
Ortner 10*.
Orton 123*.
Osbornc 10*.
Oswald, Ad. 10* 123*.
Otto, Ferdinand 76*.
Page 76*.
Pal 10*.
Palmer 146* 1.
Parhon 11* 62*.
Parhon et Savini 123*.
Pastoors 94*.
Patschke 36* 52*.
Paulus 76* 94*.
Pearson 76*.
Pel 94*.
Peper 188*.
Peritz 94*.
Peter, Rud 188*.
Peters, J. Th. 11*.
Peters, W. 188*.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
205*
Pettit and Durbam 76*.
Pfahl, F. 52*.
Pfeiffer 11* 94* 123*.
Pick 37 * 52* 76* 94*
123* 188*.
Pighini 123*
Pilcz 63* 76* 94*.
Pincus 94*.
Pinner, Emilie 95*.
Placzek 37* 123*.
Pötzl 188*.
Poppelreuter 95* 188*.
von der Porten 76*.
Potts 77* 95*.
Prager, Lotte 11 *.
Prasse, Erich 37* 53*.
Priee 53*.
Puley 95*.
Quadri 65*.
Quensel 146* 4.
Rabbas 148* 36.
v. Rad 77*.
Raecke 11* 53*.
Ranke, O. 95*.
Ransohoff 149* 50.
Rasch 11*.
Raubitschek 77*.
Rautmann 11*.
Reber, W. 11*.
Reckauf 37*.
Redlich 11* 95* 123*.
R 6 gis 123*.
Reich, H. M. 77*.
Reichardt (Würzburg)
qa * 103*
Reichel 37* 53*.
Reitter 95*.
Remertz 96*.
Renaux 63*.
Rentz 95*.
Repond 53* 95* 124*.
Resch, Heinr. 63* 124*.
Reuß, H. 95*.
Reuter, F. 53*.
Rezni£ek 96*.
Rhein 11* 65*.
Ribbert 11* 96* 124*.
Rice 96*.
Richter 37*.
Ricksher 96*.
Riebeth 11*.
Riese, Walter 11 *.
Rittersh&os 37* 96*.
Rixen 37*.
Rochat 96*.
Rogers 96* 124*.
Römer, C. (Rienau) 77*
96* 124* 140*.
Rößle 12*.
Rohde, Max 12 *.
Rohrer 12*.
Rohrhnrst, Karl 124*.
Roloff, Otto 188*.
Rosanoff 37* 124*.
Rose, Erich 124*.
Rosenbaum 96*.
Rosenfeld 188*.
Ross and Sineer 124*.
Roth, E. 124*.
Roth, H. 189*.
Roth, Job. Fr. Wilh. 96*.
j Rothmann 65* 96* 124*
125*.
! Rubensohn 96*.
| Rubenstine and Sehwartz
i 90 *
j Ruckhaber 189*.
i Rueck 96*.
1 Rumpf 12* 97*.
: Ruoff, Tony 53*.
! Rupprecht 37* 77*.
Rust 147* 29.
l
| C| ^ ♦
i Sceleth and Beifield 77*
j 97*.
Schabelitz 12* 77*.
i Schacherl 97*.
; Schäfer 148* 43. 44.
| Schäfer, E. 12*.
Schäfer, Karl L. 189*.
; Schaffer 97* 125*.
! Schamke 97*.
. Schauen 14t)* 149* 48.
• van der Scheer 53* 125*.
| van der Scheer a. Stuur-
j man 97*.
! Scheitema 12 *.
! Schepelmann 97*.
| Schiller 149* 61.
Schilling 12* 65*.
! Schinzinger 12*.
I Schlesinger, H. 12* 97*.
Schlicht, Josef 97*.
! Schlöß 140*.
| Schluttig, Werner 97*.
i Schmidkunz 189*.
' Schmidt (Gießen) 140*.
1 Schmidt, Hugo 189*.
1 Schmidt, W. 53*.
Schminke 97*.
Schneider 148* 39.
Schneider, Kurt 37* 77*.
’ Schneider, Richard 97*.
' Schnitzer 65* 140*.
Schnitzler 77*.
. Schnopfhagen 148* 38.
■ Scholz, Walter 12*.
Sehoondermark 12*.
Schröder (Greifswald) 54*
97* 98* 125* 126*.
Schröder, Hans 147* 22.
Schubert 148* 32.
Schärhoff, Erich 98*.
Schüller, Josef 12 *.
Schulhof 189*.
Schultz, J. H. 54* 98*
126* 140*.
I Schnitze (Güttingen) 12 *
! 77* 147* 17.
Schulz, Bernh. 189*.
Schulze, F. E. 189*.
Schuurmans Stekhoven
37*.
Schwarz, Erhard 54*.
Sebard, Karl 78*.
Seelert 54*.
Seige 54* 78*.
Serejski, M. 54* 125*.
Shanahan 13*.
Sidis 13*.
Siebenhaar, Ewald 189*.
Sielaff, Artur 98*.
Singer, Douglas 54*.
Singer, H. D. 78*.
Singer, Kurt 54* 125*.
Sittig 54* 78* 98* 189*.
Slingenberg 37*.
Smith, J. 54*.
Smith, Sam. B. 37*.
Smith-Williams 38* 125*.
de Smitt 98*.
Snell, O. 148* .33.
Snell, R. 147 * 20 .
Sokolow 54* 125*.
Sokolowski 13*.
Sommer (Gießen ) 125*
189* 190*.
Soukhanoff 54*.
Southard 98*.
Specht 78*.
Specht, Gustav 55*.
Speicr-Holstein 55*.
Spielmeyer 13*.
Spiller 98*.
Stähle 98*.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Staemmier 13*
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Stromer. Kar! *'*.
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Sr»K-biik 13* 7. s r‘ 1/7V
.^»lurman dh*.
Snflprk 13*.
Swift 13* V.f IS>\
Sytv«isfpr
T.iif and Mor>** 7,7/
T-tsawa 7 vJr .
Taylor Oft*.
Tenner, JuMiih Üj<•*.
Terman, Lvman. OrdahL
OrdahL f/albrearh anrl
Talhert lKi*.
Teslaar ISO*.
Theunisnen 56* i v> .
Thiem, K. ft&*
Thieraorh, ff. fr.t*.
Thode 55* Oft* 127\
Thomas 00* 1/7*.
Thorn 13*.
Thumm 38*.
Tietze, Kar) Oft*.
Tintemarin 38*.
Tischbein, Peter 127*.
„ ii.n< ä 14>ä > ei t«x l a.i ^*
zznm - le Aneetii“ 77*".
^"hnpfi *r*.
^ravagüiio *9* 1/7~
T’rpiber. Georz 2:7*
7rpmmei. Zmii 1/7*
r rne»l 13*.
^iminaKLs 74*.
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7 imer 2:7*.
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dp V ;'le*> K.';* 1* a >*.
V>i<. G. 127*.
Voll. P. 1-7*.
W. ichsmurh 14h* 12-
dp Waele 128*.
W uWberg I 0 < 41 L 2 4 *
Witr»*r n. Krambarh 7/,*.
Warbiirz ßerrv 77 *.
Wardner !•<*.
Wasner 76*.
Wasserfall 14*.
Wassenneyer 38*.
Wattenberg 149* 52.
Weber iilhemnirz» 14*
38* 100* 128*.
Weher FL 100* 128*.
Werhselmann l r,! *.
Webner. Georg 14*.
Weicht, Leo 7*5* 78*.
W'eiland 14*.
W r einreich, Th. V*'*.
Weintraub, W. 128*.
! Weise, Willy 100*.
Gck igle
WeisaÜMKg um T :rs
lf H 1 *,
W^TS. 2 *r*
W^üra 18*
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Weoriiauer 30*.
W^ton 1-18*.
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WestpÄai a. HdDner 38*
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W^yert 31f* ;h*.
W^vsamit 3l 4 * 5h* c7‘
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W: tunann^r rana Jis. 7r *
v. W:e 2 -W:ckenciiik 1A*
Wiersma 17S'*.
W’lftmun 5h* hh*.
Wlle and !•!*.
Wille 148* 35.
Williams 14* .j£«* 1* • *.
Wilson 78*.
Winkler L‘8 ■*.
Wirasek *.
Wirre. Aag- 14*.
Wirre rmann 5h* 128*
WirzeL 14*.
Wobbennin li^.*.
Wol5 128*.
Wohlwill It’l*.
Woitala. Georg 1* 5 1*.
Woodworth 1Ö1*.
Würdemann 14*.
Wimdt 11-1*
Young 14*.
Zange 15* 101*.
Ziehen 56* 66* 101*.
1 Zimmermann 15*.
f Zipkin 191*.
Zondeck 101*.
Original frn-m
UNIVERSITY OFMICHIGANi
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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