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Full text of "Allgemeine Zeitschrift Für Psychiatrie 73.1917"

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HERAÜSO EOKUEN VON 

DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 


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UNTER DER MI'IRED AKTION VON 

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DURCH 

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Inhalt 




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Heinrich Schule und Kart /Ktn/mf. 

Krieg und krankhafte Gristeszastände tm HeWe. j’on B&ifer-Owinsk., 1 t 1 ; '.f r 

Unzislänglicne int Kriegsdienst. Von TI' iTirW.em^t^n-Oso.shrücit, ...., 3i- . 

Erfahrungen ans d?m Kriege Tiber die jiföotögin ^Sfßh,e|>ÄijK^iogise}lef 


K | <• i e $ r n M t f. t r«1 tj'n s e n. 

Vereinigung mitteldeutscher Psychiater tuui Neiif otogen m 

Zorn 'Andenken A. Alzheimer*. Von Yr/ShHeidefo&rg, *... 'Mi 

Frotscher f. Von ßecherßerbara * * • • ■ •. .'•■«- .» • * - v • - t. « e o * . « « | 'ifjf V 

. Personaioacbriclitnir,^..^* >• ............. TOM 




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Zweite imtl drittes Heft. 

Origioallefi: 

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Über unklares Denken und PseudöJogje ha VfitbäTöösblödstnb. Von 

/bk. ißen. Jörge * * 4 .* • - V’»r V •> V 4-KrV * ► «-..ivk-t*,» T » # * >1 •» V'* •> »■. * * ;* •> 4 * * * », 4. . m 

l iier ein«?« Fall vun Hydmcephaius niaximtts. Von Rutiolf Gnnter-W ormditi. 1 ?ri 

Verfeaadltihgeh pkyelri a irisch ct Y#rein£„ 

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Krinn*c{unw>«» rvüW nKbn Hiv ParrnKiA^tu v» MiWin'hnn *» *1 


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?u München am 21. 



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•Ö-trii.fiöl .frriffi* 


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IV 


Inhalt. 


Seite 


Afeyer-Königsberg: Uber die Frage der Dienstbeschädigung bei den 

Psychosen. 181 

Oppenheim- Berlin, Nonne-Hamburg und Gotfpp-Tübingen: Neurosen 

nach Kriegsverletzungen. 190 

Kleinere Mitteilungen. 

Wahnideen im Völkerleben. Von Hana-Laehr . 234 

Der Einfluß des Alkohols auf die Treffsicherheit beim Schießen. 300 

Personalnachrichten. 301 


Viertes Heft« 

Originalien. 

Zur Pathologie des Querulantenwahnes. Von Hans Seelert- Berlin.303 

Die Weiterentwicklung weiblicher Pflege auf Männerabteilungen der 
Irrenanstalten, mit besonderer Berücksichtigung der im Königreich 
Sachsen gemachten Erfahrungen. Von .dmemonn-Hubertusburg ... 341 

Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

101. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie in Breslau am 


9. Dezember 1916..... v.369 

, Ct. Netßer, Eröffnungsansprache ..369 

,, 0. 'S. Freund , Tuberöse Gehirnsklerose . 373 

Bumke, Zur Paranoiafrage .373 

(v. Kunowaki , Zur Theorie der Farbenempfindungen. 376) 


Q. Stertz, Zur Pathogenese hysteriformer u. hysterischer Symptome 376 

Kleinere Mitteilungen. 


Deutscher Verein für Psychiatrie: Rechnungsabschluß. 381 

Heinrich LaehrrStiftung ....382 

Heinrich Schiile .f. Von Kreuaer. ........382 


Fünftes Heft. 

Originalien. 

Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 


Von Pieazczek -Kortau.393 

Ein typischer Fall von Querulanten Wahnsinn. Von Th. Engelmann- 

München.428 

Über Tuberkulose in Irrenanstalten. Von H. Löto-Bedburg-Hau.443 


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Inhalt. 


y 

Seite 

Kleinere Mitteilnngen. 


Selbstmordversuch and Krankenkassenleistang. 485 

Nekrolog Grashey. Von SneH-Lüneburg. 489 

Deutscher Verein für Psychiatrie. 491 

Personalnachrichten.491 


Sechstes Heft. 

Originalien. 

Die Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. Von Harald 


Siebert-lAb&n . . 493 

Ein epileptisches Mädchen als Rechenkiinstlerin. Von Rudolf Ganter- 

Wormditt.. 536 

Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Augensymptone. Von F. Hussels .565 

Kleinere Mitteilnngen. 

Provinzialheilanstalt Suttrop. 581 

Zur Erinnerung an Carl Peknan f. Von Umpfenbach-B onn.681 

Leopold Osfer-Konstanz f. Von Max JFwcAcr-Wiesloch.689 

Personalnachrichten. 594 

Druckfehler. 694 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 
















































Rasch hintereinander hat. im Dezember ißl&'.ditf deutsche Psychiatrie, 
zwei hervorragende 'Vertreter mlwen. Am starb im t7, Lfebensjahre 
infolge eines Schlagaji.faJts ' Heimick ÖßvU in Illenan, am ; nn.lh-* 
ftuenzapnernnonie bir laut volieodetea 19, Lebensjahre: K<itl Prlmm tp 
Bonn, Beide haben, fast gleichaltrig, jener von Holler in die Psychiatrie 
eingefiihrt, dieser aita der Schult',. wenn auch' nicht'der unmittelbaren 
Ucterweisiini;, *ifnro&is. her^orgegangen, die 'gewaltige : Entwic.klimg der 
psv chiatne m ds>r 3 weiten Hälfte des vnrigen 'J»hrhtnttk'rts: ntcht nur 
erlebt, scmdmimich kräftig im ihr mugeurbeiteft beide durch ihre ansy 
geprägt«, präehtigi! iVrsöniiehkeit die jüngere» f achgenossen weithin 
d«^«ir^'.9n^^et|t|fu9t' Dabei.Wttr:1hre^.gbM^ ; 4(dr^ans verschiede»» 
Wehn »cf» iiberi’reitnitifd den Gegensatz rltiutKch inabhen darf, so £t v 
scheint mir S'cÄiife sds der begeistert« Seher, der mit scharfem Blick in 
die Tiete späht «nd, Optimist im besten Sinne, hinter der Mannigfaltig¬ 
keit der Krsehemnag. so treu er sie* auffaßt, d&cb'■ zugleich die 

Einheit schant, ^ nöd ihm gegenüber JP dm*** als der rphige • 

der. im Hinblick auf die Wahrheit tnebscbliehen Wissens voll Zweifel 
und nüdtf auf die Widersprüche als auf den Emfcküg gestimmt, die Er¬ 
kenntnis mehr darauf hin wertet, ob sie als dci$ gondeln» taug«, 

und somit hellen Auges wenrget in die Tiefe, als in dje Breite blickt ; 
jener daher fruchtbar im Schaffen vo« grüßen ZttsantTnenhängen., dieser 
ein Meister der Anwendung, hmdd'.j^8tyd9e; t ^rato^i^v’'|^üsf>-tkf- 
schitrfeod und daher in 

kUtisches Dunkel zu vertieren v dieser bald \it behagHrki-fo Ptodettmv. 
bald in leichter Ironie, Seitener tu scharfer Abweisung oder Spott sich 
ergehend, stets aber klar tind vüli sicheren Stilgefühls;.So |ÜMjüütüü■ 
obwohl er die Berufung au» Universität aussehlug. Von litenab aiisdurch 
Sftine$chriften weit über Deutschlands Grenzen hinaus als , wissenschaft¬ 
licher Lehrer Wirkungen avisgeübt, während Pehmn. erst in höherem 
Alter mit seiner Übernahme der Bonner Anstalt zugleich zum Um- 
vc?rsitätslehrer ausersehen, auch in diesem Amt mit großem Geschick 
und in glücklichster Weise psychiatrisches Interesse und 'psychiatrische 
Kenntnisse in weiteten Kreisen verbreitet bat. Beide haben das Glück 
gebäht; mit ihrem Lebenswerk vor allem antjh die eügrrre Heimat m 
fördern:; blieb AVÄtify .seitdem er als junger Arzt in flleHag'etftttät, 
dieser Anstalt bis zu seinem Tode Iren, sohat fiebnan niik .Sueäahßm 
von h .lahmt, in denen et aJsLeitgr von St^hatisfMd das cisässfech»? 
Irrenwesen im deutschen/'Geiste zu reorganisieren bestrebt svaf; 
i iifiniscbeä Heimat erst i« Kic.gburg.' nachher in Grafen borg und Ütuni 
gedient, und wie haben beide et verstanden, Vbn didsgu Ausgangte 
ptmkien ihrer Tätigkeit die .Spuren ihres Wirkern dem ganze» Land«.' 
ifr?r ganzen Provinz einzugraben 1 

Oer Deutsche Verein für Psychiatrie betrauert in SrAülc und Hrlnmi- 
zewe letzten deutschen öirenmit^lteder. Treu haben sier foit pie itt 
jungen Jab red sich dom Verein ansehlosseru an ‘einen Verhandlungen 
sich beteiligt und lange dem Vorstand »ngeborf, Ihr Naip.e wird m 
JEfwen bleiben, ihre oindruckvftik* d'firsöuiiclikeit nHchhaltig im Ge- 


Go, gle 








Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 

Von 

Dr. Baller, Oberarzt der Prov.-Irrenanstalt Owinsk, 
zurzeit Assistenzarzt an der Geisteskranken-Station eines Festungslazaretts, 

Es ist einmal der Satz ausgesprochen worden, daß dasjenige Volk 
im Kriege Sieger sein werde, das über die stärksten Nerven verfüge; 
dieser Satz besteht zweifellos zu Recht, und wenn man nach den bis¬ 
herigen Erfolgen unserer Soldaten in Ost und West und Süd, zur See 
und in der Luft auf Grund dieses Satzes zu einem Rückschluß berech¬ 
tigt ist, so muß man anerkennen, daß es um die Nervenkraft des deut¬ 
schen Volkes noch gut bestellt sein muß, daß wir noch nicht der De¬ 
generation anheimgefallen sind in dem Maße, wie vielleicht dieser oder 
jener unserer Nachbarn. 

Der nun schon fast 2 Jahre tobende Weltbrand ist zweifellos das 
gewaltigste Ringen aller Zeiten, zu dem nicht nur alle Zweige der 
Wissenschaft und der Technik ihr Bestes hergegeben haben, in dem 
auch Lüge und Hinterlist, Grausamkeit und Verletzung aller bisher 
geltenden Menschenrechte von seiten unserer Feinde mobil gemacht 
worden sind, um unserem Heere und Volke den Untergang zu 
bereiten. 

Der Krieg ist ein Prüfstein, auf dem alles ausgeschieden wird, 
was krank und faul ist, es ist daher kein Wunder, daß im Kriege auch 
die Geistesstörungen stärker in Erscheinung treten. Schon in den 
letzten Kriegen wurde diese Beobachtung gemacht, und alle Welt war 
sich schon im Anfang des jetzigen Krieges darüber einig, daß diese 
Tatsache sich in verstärktem Maße auch diesmal wiederholen 
werde. 

Zeitschrift für Psychiatric. LXXI1I. 1. 1 


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2 


Baller, 


ln der Münchner med. Wochenschrift hat WeygancU 1 ) eine interessante 
Zusammenstellung über Geisteskrankheiten im Kriege veröffentlicht. Er 
fand im allgemeinen eine Zunahme des Anteils der Psychosen an den Feld¬ 
zugserkrankungen. Im ersten Halbjahr des Krieges 1870/71 machten die 
Geisteskrankheiten 0,37%* der Kopfstärke des Heeres aus, welche Zahl 
pro Halbjahr zunahm bis 0,93%o im Jahre 1872, um von da wieder abzu¬ 
sinken. Im griechisch-türkischen Kriege betrug diese Zahl im türkischen 
Heere 2%o', im englischen Heere im Burenkriege 2,5%o ; die China-Ex¬ 
pedition zeigte sogar an Nerven- und Geisteskrankheiten 8,44%,, eine 
enorme Ziffer; der südwestafrikanische Feldzug zeitigte 4,95%, unter 
Hinzurechnung der Epileptiker und hysterischen Erkrankungen sogar 
8,28%o. offenbar hat das Klima hierbei eine besondere Rolle gespielt. 
Im russisch-japanischen Kriege kamen auf 1000 verwundete und kranke 
russische Soldaten 3,5 Geisteskranke, auch im japanischen Heere war 
die Zahl unverhältnismäßig hoch. 

Wenn derartige Erscheinungen zahlenmäßig durch frühere Kriege 
festgestellt sind, war eine Zunahme der Geistesstörungen auch in diesem 
Kriege zu erwarten. In welchem Maße aber diese Steigerung erfolgt 
ist, das festzustellen ist eine interessante Aufgabe, die sich aber nur 
dann erst lösen läßt, wenn das ganze Material über Geisteskranke nach 
dem Kriege durch Zählkarten zugänglich gemacht worden sein wird. 

Die Geisteskrankenstation des Festungslazaretts zeigt daher seit 
dem Ausbruch des Krieges keine überraschende Aufnahmeziffer. 
Wegen irgendwelcher Vergehen auf kriegsgerichtliche Anordnung 
waren von der Gesamtzahl der Aufnahmen zur Beobachtung unter¬ 
gebracht und sind von uns begutachtet worden 14% der Fälle. Von 
den 86% Nichtkriminellen waren 92% geisteskrank und sind mit 
entsprechendem Dienstunbrauchbarkeitszeugnis versehen zur Ent¬ 
lassung gekommen bzw. der öffentlichen Irrenpflege zugeführt worden; 
S% waren nicht geisteskrank und konnten dem Ersatztruppenteil als 
felddienstfähig, gamisondienstfähig oder arbeitsverwendungsfähig wie¬ 
der zugeführt werden. 

Von den Kriminellen wurden 74% als unzurechnungsfähig begut¬ 
achtet und zum größten Teile von den Gerichten auf Grund des § 51 
RStGB. exkulpiert, bzw. wurde das Verfahren eingestellt. 13% 
waren vermindert zurechnungsfähig, 13% waren geistesgesund. Bei 
dieser Gelegenheit möchte ich nicht versäumen, zu betonen, daß 

l ) Weygandt , Geisteskrankheiten im Kriege. Münch, med. Wschr. 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


3 


gerade von den Kriegsgerichten mit anerkennenswerter Gewissen¬ 
haftigkeit jedem, auch dem geringsten, Zweifel an der Zurechnungs¬ 
fähigkeit des Angeklagten Wert beigemessen wird, und daß da, wo 
ein entsprechendes Moment auftaucht, auch das Gutachten eines 
psychiatrischen Sachverständigen herbeigeführt wird und Beachtung 
findet. 

Um aber jeden Trugschluß von vornherein auszuschalten, möchte 
ich nicht verfehlen zu betonen, daß bei den gewaltigen Menschen¬ 
massen, die der Krieg erfordert, und bei dem ungeheuren Material, 
das bei der Untersuchung auf die Diensttauglichkeit in kürzester Zeit 
zu bewältigen war, eher die Möglichkeit vorlag, daß auch ein Geistes¬ 
kranker zur Einstellung gelangen konnte, als im Frieden; aber diese 
Fälle werden auch jetzt zu den Seltenheiten gehören, ebenso wie es 
im Frieden nicht möglich ist, trotz sorgsamster Untersuchung, trotz 
reichlicher Zeit speziell schwer erkennbare krankhafte Geisteszustände, 
wie Dementia praecox im Anfangsstadium, angeborenen Schwachsinn 
und epileptische Zustände mit Sicherheit zu erkennen und vor un¬ 
nötiger Einstellung zu bewahren. Wenn auch die Grenzen der Militär¬ 
tauglichkeit im Kriege bei der ärztlichen Beurteilung weiter gezogen 
sind als im Frieden, so kann doch weder dann noch jetzt auf erbliche 
Belastung oder degenerativ verminderte Widerstandsfähigkeit des 
Nervensystems des Einzustellenden allzu weitgehende Rücksicht ge¬ 
nommen werden, und hier liegt der Grund, auf dem sich die Erkran¬ 
kungsziffer im Kriege auf baut, nämlich, um es kurz zu sagen: Das 
degenerierte Nervensystem, das im Frieden und täglichen Leben wie 
eine eingearbeitete Maschine ohne Störung funktioniert, gerät in Ver¬ 
wirrung bei der stärkeren Belastung, die der Krieg auf Energie und 
Widerstandsfähigkeit des Individuums ausübt; es bricht zusammen. 

ln nachstehender Tabelle bringe ich die Gesamtübersicht, wobei 
ich gleich bemerken will, daß ich als Krankheitsbezeichnungen die 
Sammelklassen der Kraepelin&chen Nomenklatur aufgeführt habe. 
Ich mußte es mir versagen, z. B. bei dem Erschöpfungsirresein oder 
der Dementia praecox die einzelnen Unterabteilungen gesondert auf¬ 
zuführen, ebenso bei den Vergiftungen, dem Irresein des Rückbildungs¬ 
alters und dem Entartungsirresein; ich komme aber erläuternd in 
großen Zügen noch darauf zurück. 

Es litten an: 

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4 


Baller. 


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Krankheitsbezeichnung 


Infektiöses Irresein. (Fieberdelirien 

usw.). 

Erschöpfungsirresein (Amentia, 

Neurasthenie). 

Vergiftungen (Alkoholismus). 

Dementia praecox. 

Dementia paralytica. 

Irresein bei Hirnerkrankungen. 

Irresein des Rückbildungsalters 

Manisch-depressives Irresein. 

Paranoia chronica. 

Epilepsie. 

Hysterie. 

Entartungsirresein • (konst. Verst., 

Zwangsirresein usw.). 

Psychische Entwicklungshemmung 
(Schwachsinn, Idiotie). 

Summe: in % 


Ge- 

Gediente Soldaten | 

Unged. Soldaten 

samt- 

zahl 


Davon : 
im Felde 
gewesen 

1 Davon 
im Felde 
gewesen 

1,0 % 

0,8 % 

0,6 % 

0,2 % 

— 

13,5 % 

10,2 % 

3,5 % 

3,3 % 

1,0 % 

14,3 % 

12,7 % 

3,1 % 

1,6 % 

0,8 % 

17,4 % 

8,2 % 

3,8 % 

9,2 % 

3,0 % 

3,9 % 

2,7 % 

1,8 % 

1,2 % 

— 

0,6 % 

0,4 % 

0 2°/ 

/o 

0,2 % 

— 

0,4 % 

0,2 % 

0 2 07 
y A /o 

0,2 % 

— 

6,0 % 

4,7 % 

3,0 % 

1,3 % 

0,4 % 

7,6 % 

K o o/ 
°y' y /O 

3,2 % 

2,3 % 

1,2 % 

10,7 % 

7,7 % 

2 2 °A 

L 1 L /O 

3,0 % 

1,2 % 

7,8 % 

3,6 % 

2 4 0/ 

L y* /oj 

4 2 °C 

0,4 % 

6,8 % 

K o/ 
’l) J /O 

i,6 % 

1 

3,3 % 

0,2 % 

10,0 % 

4 6 0/ 

/o 

1,8 % 

5,4 % 

0,6% 

O 

cP 

O 

o 

T 1 * 

27,4 % 

35,4 % 

8,8 % 


Wenn ich zunächst die Diagnosen einer Erläuterung unterziehen 
darf, so muß ich bemerken, daß es sich bei dem infektiösen Irresein 
um Fälle handelte, die im Anschluß an eine akute Infektion, z. B. 
Pneumonie oder eitrige Wundinfektion, erkrankt und ihrer störenden 
Unruhe wegen der Geisteskrankenstation von andern Lazaretten über¬ 
wiesen worden waren. 

Die Fälle des Erschöpfungsirreseins werden gebildet vorwiegend 
aus der akuten halluzinatorischen Verwirrtheit (Amentia) und schweren 
Fällen von Neurasthenie; die Vergiftungen enthalten fast ausschließlich 
den chronischen Alkoholismus in seinen verschiedenen Formen mit 
Ausschluß der Alkoholepilepsie, bei der ausgesprochene Anfälle 
im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen, die der genuinen 
Epilepsie zugerechnet worden sind. Das Entartungsirresein, die 
Psychopathie, umfaßt vorwiegend Fälle von konstitutioneller Ver¬ 
stimmung, enthält aber auch, wenn auch vereinzelt, das Zwangs- und 
impulsive Irresein sowie die konträre Sexualempfindung. Ein be¬ 
sonderes Wort will ich noch der Hysterie widmen, die mit 7,8% ver¬ 
zeichnet steht. Bei kaum einer der angeführten Geistesstörungen 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


O 


außer vielleicht den Erschöpfungspsychosen erkennt man so deutlich 
die Wirkung des Krieges mit seinen Schädigungen wie hier; denn in 
einer großen Zahl sind es gerade Granat- und Minenexplosionen sowie 
direkte oder indirekte Geschoßwirkungen, auf die man mit absoluter 
Sicherheit den Ausbruch des Leidens zurückführen kann, traumatische 
Hysterie im wahrsten Sinne des Wortes, deren interessanteste Fälle 
ich in Kürze weiter unten zu erwähnen mir Vorbehalte. 

Das Material, das in vorstehender Tabelle vereinigt ist, umfaßt 
alle Stände und Berufsklassen des Volkes, alle Lebensalter vom 18. bis 
45. Jahre, und stellt somit einen erheblichen Ausschnitt aus dem 
Volke im ganzen, selbstverständlich nur in seinem männlichen Teile, 
dar. Will man daher ein Vergleichsobjekt heranziehen, so wird man 
gut tun, die Statistik einer öffentlichen Irrenanstalt heranzuziehen, 
die, soweit der männliche Teil des Krankenbestandes in Betracht 
kommt, annähernd ähnliche Verhältnisse darbieten wird, wie das gegen¬ 
wärtige Material der militärischen Geisteskrankenabteilung. 

Eine vorzügliche Arbeit von Weyert *), die soeben erschienen ist, 
enthält eine Zusammenstellung aller Fälle von Geisteskrankheit 
innerhalb eines Jahres, und zwar vom 1. Oktober 1911 bis 30. September 
1912, also im Frieden. Schon der erste Blick auf beide Tabellen zeigt 
gewaltige Unterschiede, und zwar besonders bei dem Erschöpfungsirre¬ 
sein, den Vergiftungen (Alkoholismus), der Paralyse und der Paranoia. 
Weyert hat im ganzen 106 Fälle, seine Zusammenstellung darf wohl mit 
Eecht als die Normalzahl der Geisteskrankheiten in unserem Friedens¬ 
heere angesprochen werden, sowohl was die Gesamtzahl im Verhältnis zu 
einem bestimmten Aufnahmebezirk und damit zu einem bestimmten 
Kopfstärkeabschnitt des Friedensheeres anbetrifft, als auch in ihrem 
prozentualen Verhältnis untereinander. Seine Statistik fordert gerade¬ 
zu zu einem Vergleiche heraus, ein Versuch dazu scheitert jedoch, weil 
es auch nicht einmal schätzungsweise möglich ist, das Prozentverhältnis 
der Krankheitsfälle zu der Kopfstärke des jetzigen Aufnahmebezirks 
anzugeben. Das wird einer Generalstatistik Vorbehalten bleiben 
müssen, die das ganze Kriegsheer umfaßt. Nur der Vergleich der 
einzelnen Krankheitsfälle der beiden Tabellen gestattet einen gewissen 
Rückschluß, und da zeigt sich in meiner Statistik ein gewaltiges Über¬ 
wiegen des Erschöpfungsirreseins, insonderheit der Neurasthenie, 

1 ) Weyert, Militär-psychiatrische Beobachtungen und Erfahrungen. 


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6 


Baller, 


wobei ich gleich bemerken will, daß bei mir unter dieser Rubrik nur 
Fälle erscheinen mit durchaus psychotischem Charakter; ferner des Al¬ 
koholismus, der Paralyse, des manisch-depressiven Irreseins, der Para¬ 
noia und der Hysterie, und ich glaube nicht fehlzuschließen, wenn ich 
diese Tatsache als Folgeerscheinung des Krieges ansehe, wenigsten» 
was die Erschöpfungspsychosen, das manisch-depressive Irresein und 
die Hysterie, insonderheit die traumatische Form derselben, anbe¬ 
trifft. Die Paranoia zeigt bei mir ebenfalls eine hohe Ziffer, dagegen 
die Dementia praecox verhältnismäßig nicht. Hier muß ich jedoch 
zugeben, daß wahrscheinlich andere Beurteiler ein gut Teil Paranoia¬ 
fälle der Dementia paranoides und damit der Dementia praecox zu¬ 
gerechnet hätten; es ist dieser Fehler jedoch damit entschuldbar, da& 
einmal die scharfe Abgrenzung beider Krankheitsbilder noch nicht von 
allen Psychiatern in gleicher Weise durchgeführt wird, anderseits ist die 
Differentialdiagnose bei jugendlichen Individuen und damit bei frischen 
Erkrankungen leichter als bei alten Fällen, bei denen charakteristische 
Symptome schon vielleicht verblaßt oder gar ganz geschwunden sind. 

Ich lasse nachstehend die auf hundert umgerechneten Ziffern der 
einzelnen Krankheiten folgen und bezeichne Weyerts Statistik mit: 
Friedens-, die meine mit Kriegsstatistik; es ergibt sich danach folgende 
Gegenüberstellung: 



Friedens¬ 

statistik 

Kriegs¬ 

statistik 

Infektiöses Irresein. 

— 

1,0% 

Erschöpfungsirresein. 

4,7+0,9% i) 

13,5% 

Alkoholismus. 

8,5% 

14,3% 

Dementia praecox. 

21,7% 

17,4% 

Dementia paralytica. 

0,9% 

3,9% 

Irresein bei Hirnerkrankungen. 

3,8% 

0,6% 

Paranoia chronica. 

0,9% 

7,6% 

Epilepsie. 

10,4% ! 

10,7% 

Hysterie. 

3,8% 

7,8% 

Entartungsirresein. 

23,6% 

6,8% 

Psychische Entwicklungshemmung. 

18,9% 

i 10,0% 

Irresein des RQckbüdungsalters. 

— 

0,4% 

Manisch-depressives Irresein. 

1,9% 

6,0% 


') Weyen hat die Amentia gesondert aufgeführt. 


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Krieg and krankhafte Geisteszustände im Heere. 7 

Wenn man beide Zahlenreiben vergleicht, so findet man bei Weyeri 
den Schwerpunkt auf der Dementia praecox, dem Entartungsirresein 
und den psychischen Entwicklungshemmungen liegen, und das ist 
kein Wunder. Diese Psychosen treten erfahrungsgemäß in den Ent¬ 
wicklungsjahren in Erscheinung, also zu einer Zeit, der das aktive Sol¬ 
datenmaterial entstammt. Es ist daher durchaus ein logischer Schluß, 
daß sie prozentualiter zurücktreten müssen und gewissermaßen in 
Verdünnung erscheinen bei einem Soldatenmaterial, das sich zum 
großen Teil aus weit höheren Lebensaltern zusammensetzt, die ihrer¬ 
seits neue spezifische Krankheitsformen mit sich bringen, wie das im 
Kriegsheere der Fall ist. Trotz alledem trifft auch auf meine ent¬ 
sprechenden Zahlen ein hoher Prozentsatz, wie er ähnlich nur von dem 
Erschöpfungsirresein, dem Alkoholismus, der Paranoia chronica, der 
Hysterie und dem manisch-depressiven Irresein erreicht wird. Diese 
fikkrankungsformen erscheinen bei Weyert nur mit kleinen Zahlen. 
Nimmt man den Jahresbericht einer öffentlichen Irrenanstalt vor, 
wie mir ein solcher von Owinsk gerade vorliegt, so wird man ebenfalls 
bestätigt finden, daß, abgesehen vielleicht von dem Alkoholismus und 
der Paranoia, welche Zahl in Owinsk allerdings besonders hoch ist, 
Erschöpfungspsychosen, manisch-depressives Irresein und Hysterie 
bei den männlichen Zugängen in Friedenszeiten ein verschwindend 
geringes Kontingent stellen, geringer noch, als sie Weyert zu beob¬ 
achten Gelegenheit hatte. 

Wenn ich die mir zur Verfügung stehende Literatur durchmustere, 
so muß ich anführen, daß Meyer *) - Königsberg in einer Statistik über 
die ersten drei Monate des Krieges zu ähnlichen Resultaten gekommen zu 
sein scheint: er fand für Psychogenie oder Hysterie + traumatische Neu¬ 
rose im ganzen 24%, ich für Erschöpfungspsychosen + Hysterie zusammen 
21,3%; er fand für manisch-depressives Irresein 4%, ich 6%; er fand für 
Alkoholismus 16%, ich 14,3%. Also auch dort, und zwar im Anfang 
des Krieges, eine erhebliche Zunahme der, ich möchte geradezu sagen 
spezifischen Erscheinungsformen der krankhaften Seelenzustände gegen¬ 
über derselben Kategorie im Frieden. Auch Meyers Untersuchungs¬ 
material umfaßt dieselben Altersklassen wie das meinige, es setzt sich 
aus Landsturm, Landwehr, Reserve, Ersatzreserve und aktiven Mann¬ 
schaften zusammen. Erwähnenswert ist noch, daß er für die Landwehr und 
Reserve 60% aller Erkrankungen zu verzeichnen Gelegenheit hatte. 

1 ) Meyer, Psychosen und Neurosen in der Armee während des Krieges. 
Münch, med. Wschr. 


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Moll *) berichtet in einem Vortrage: Psychiatrisches vom Kriegs¬ 
schauplatz, über seine Beobachtungen in den Lazarettea Belgiens. Er 
spricht sich im allgemeinen befriedigend über den seelischen Gesundheits¬ 
zustand unseres Feldheeres aus; er habe auf dem westlichen Kriegsschau¬ 
platz in den Lazaretten Frankreichs und Belgiens nur wenig Geisteskrank¬ 
heiten, etwas häufiger nervöse Störungen gesehen. Er erwähnt, daß in 
Brüssel unter 120 Kranken, der Mehrzahl nach organischen Nervenver¬ 
letzungen, 5 primäre Alkoholpsychosen, 13 Paralysen, 17 Epileptiker und 
16 Hysterische vorhanden waren, ebenso wurden Fälle von Erschöpfungs¬ 
psychosen beobachtet; Zahlen hierfür sind nicht genannt. 

Bonhoeffer *) fand auf 100 psychisch - nervös Erkrankte 33,3 % 
psychopathische Konstitution, 10% Schizophrenie (Dementia praecox). 

Ich kehre nunmehr zu meiner Statistik zurück. 

Von den zur Aufnahme gelangten Kranken waren 64,6% ge¬ 
diente Leute, das heißt solche, die schon in Friedenszeiten ihrer Militär¬ 
pflicht genügt hatten oder bei Ausbruch des Krieges gerade dienten. 
35,4% waren „ungediente“ Leute, also Kriegsfreiwillige, Ersatz¬ 
reserven, unausgebildeter Landsturm und ähnliche. Wie groß in 
unserem Feldheere gegenwärtig das Verhältnis der gedienten zu den 
ungedienten Mannschaften (in oben erwähntem Sinne) ist, wage ich 
nicht zu entscheiden, es will mir jedoch scheinen, als entspräche das 
Verhältnis 65 :35, in welchem nach vorstehender Tabelle ungefähr 
„gediente“ und „ungediente“ Mannschaften als Kranke zur Behand¬ 
lung kamen, keineswegs dem Kopfstärkeverhältnis beider Kategorien 
im Heere, ich glaube vielmehr, daß der Faktor der Ungedienten viel 
kleiner sein muß, woraus zu folgern wäre, daß die „Ungedienten“ in 
erhöhtem Maße in Gefahr seien, einer Erkrankung anheimzufallen, 
als die „Gedienten“; es wäre ja anders auch verwunderlich, da die 
Ungedienten doch zum größten Teil diejenigen Individuen sind, die 
irgendwelcher Fehler oder Gebrechen wegen seinerzeit zum aktiven 
Heeresdienst nicht brauchbar waren, welche zweifellos auch einen 
größeren Prozentsatz degenerierter Nervensysteme aufweisen als die 
gediente Klasse. Das erhellt auch aus gewissen Einzelzahlen, z. B. 
den der Dementia praecox, woran erkrankt waren von gedienten 
Mannschaften 8,2%, von Ungedienten 9,2 %;der Hysterie: gedient 
3,6%, ungedient 4,2%; dem Entartungsirresein: gedient 3,5%, un- 

1 ) Moll, Psychiatrisches vom Kriegsschauplatz. Vortrag. 

2 ) Bonhoeffer, Psychiatrisches zum Kriege. Ztschr. f. ärztl. Fort¬ 
bildung. 

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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. ÖL 

gedient 3,3%, und bei der psychischen Entwicklungshemmung gedient 
4,6%, ungedient 5,4%. Alle übrigen Zahlen zeigen entsprechend dem 
Gesamtverhältnis der Erkrankungen eine gewisse Minderheit bei den 
Ungedienten, die allerdings bei dem Alkoholismus auffallend 
niedrig ist. 

Von der Gesamtsumme meiner Kranken waren im Felde und 
sind vorwiegend dort erkrankt im ganzen rund 36%, das sind etwa 
der dritte Teil. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß sicherlich mehr 
Truppen an den verschiedenen Fronten im Kampfe stehen, als in der 
Heimat bei dem Besatzungsheere, so rechtfertigt diese Tatsache die 
Beobachtung Molls (oben zitiert), nämlich daß ausgesprochene Geistes¬ 
krankheiten in den Lazaretten des Feldheeres im Verhältnis zu den 
enormen Truppenmassen verhältnismäßig nicht häufig sind. Geht man 
dieser Erscheinung auf den Grund und forscht man nach einer Er¬ 
klärung, so folgt daraus, daß die Widerstandskraft des Nerven¬ 
systems unserer Feldsoldaten doch eine recht zähe sein muß, die Ent¬ 
behrungen und Strapazen, mechanische und psychische Insulte, wie 
sie der moderne Krieg in höchster Potenz mit sich bringt, nicht zu 
zermürben imstande sind. Anderseits fällt aber auch vielleicht ein be¬ 
scheidener Teil des Verdienstes auf die Organisation des militarärztlichen 
Dienstes und die Truppenärzte in den Heimatgamisonen zurück, die 
es verstanden haben, trotz Häufung des Materials bei der Beurteilung 
des Ersatzes unsichere Elemente von der Front zurückzuhalten, die 
bei der ersten besten Gelegenheit im Felde erkrankt wären und für 
die allzeit kampfbereite Truppe nur einen lästigen Ballast, ja sogar 
in verantwortungsreichen Momenten eine große Gefahr bedeutet 
hätten. 

Alkoholismus und chronische nervöse Erschöpfung haben die 
meisten Erkrankungen zur Folge gehabt; nächstdem kamen am 
häufigsten Hysterie und Paranoia chronica zur Beobachtung. Auch 
die ErkrankungsVerhältnisse bestätigen die oben angeführte Ver¬ 
mutung, daß einmal der Gesundheitszustand an der Front und damit 
unseres gesamten Feldheeres ein verhältnismäßig besserer sein muß, 
als der des Besatzungsheeres, anderseits bestätigen sie aber auch, daß 
nicht die Strapazen und Schrecken der Feldschlacht bzw. des Schützen¬ 
grabenkrieges allein die Ursache von „Kriegspsychosen“ sind, sondern 
daß auch in der Heimat krankmachende Faktoren vorhanden sind, 


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Baller, 


die ebensowohl deletäre Wirkungen auf ein Nervensystem auszuüben 
imstande sind. 

Kann man nun bestimmte Begleitumstände des Krieges für das 
Zustandekommen von Geistesstörungen verantwortlich machen, und 
welcher Weise ist die Zunahme der Krankheitsfälle zu erklären? Ich , 
möchte die zweite Frage vorausnehmen und das näher erörtern, was 
ich schon eingangs erwähnte, nämlich daß die Nutzbarmachung aller 
wehrfähigen Mannschaften zur Folge hatte, daß auch Elemente zur 
Einstellung gelangten, die in Friedenszeiten nicht als tauglich bezeichnet 
worden wären. 

Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Alkoholismus nor¬ 
malerweise seine pathologischen Züge im mittleren Mannesalter ent¬ 
faltet, so wird man verstehen, daß ein Anwachsen der auf ihn zurück¬ 
zuführenden Krankheitsfälle dann statthaben muß, wenn diese Jahr¬ 
gänge fast den größten Bestandteil des Heeres ausmachen, nämlich 
im Kriege. Die Aushebung kann nicht haltmachen vor jedem, der 
vielleicht schon äußerlich die Zeichen eines chronischen Alkoholismus 
an sich trägt. Ja es wäre auch durchaus undurchführbar, bei dem 
Ersatzgeschäft jeden einzelnen daraufhin zu prüfen, ob er vielleicht 
im Vorleben Momente aufzuweisen hat, die den Ausbruch einer geistigen 
Störung befürchten lassen könnten. Genau dasselbe trifft für die 
Dementia praecox, die Epilepsie, die Psychopathie und den Schwach¬ 
sinn zu. Kommen doch schon im Frieden trotz sorgfältiger Auswahl¬ 
möglichkeit gelegentlich derartige Fälle zur Einstellung, wie vielmehr 
im Kriege, wo nicht Zeit zu weitgehendster Prüfung vorhanden ist, 
wo auch die Grenzen der Tauglichkeit weiter gesteckt werden als im 
Frieden. Ich möchte daher die Anzahl der Krankheitsfälle, die ledig¬ 
lich diesem Umstande zur Last gelegt werden müssen — und es sind 
das nicht wenige, aber leider wird man sie in einer Statistik kaum 
ganz abtrennen können —, als die physiologische Wirkung des Krieges 
bezeichnen, im Gegensatz zu jener andern, der pathologischen Wirkung, 
wo nämlich der Krieg mit seinen Begleitumständen das auslösende 
oder mindestens das verschlimmernde Moment darstellt, also in den 
Fällen, wo gutachtlich „Kriegsdienstbeschädigung“ angenommen wer¬ 
den muß. 

Um diese Frage zu erörtern, will ich jede einzelne Erkrankungs¬ 
gruppe gesondert besprechen, um darzustellen, in welcher Weise dem 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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Kriege Wichtigkeit als auslösendes Moment beizumessen ist. Es 
wäre weit gefehlt, wollte man den Begriff: Krieg nur auf die Gescheh¬ 
nisse und die Tätigkeit des einzelnen an der Front beschränken. Auch 
dem Dienste hinter der Kampflinie und in der Heimat drückt er seinen 
spezifischen Stempel auf; es sind so viel neue Faktoren, die er mit sich 
bringt, daß die Tätigkeit jedes Soldaten gegenwärtig mit derjenigen 
im Frieden gar nicht oder nur schwer verglichen werden kann. 

Als hervorstechendste Momente nenne ich: Unterkunftsverhält¬ 
nisse, Intensität des Dienstes und vor allem psychische Momente, 
und möchte besonders das letztere vorweg an der Hand eines Beispiels 
kurz erörtern, das dem Material der hiesigen Station entnommen 
wurde und höchst charakteristisch ist: 

Es handelt sich um einen jungen, kräftigen Kriegsfreiwilligen, der 
bei einem hiesigen Fußartillerie-Ersatzbataillon eingestellt und ausge¬ 
bildet wurde. Er stammte aus psychisch gesunder Familie, war zwar stets 
gesund gewesen, soll aber stets ein leicht sensibler, ängstlicher Mensch 
gewesen sein. Mit Lust und Liebe war er Soldat geworden und zeigte großen 
Eifer; plötzlich, als er sich gerade auf Wache befand, kam er abends unter 
allen Anzeichen der Angst und des Entsetzens in das Wachlokal gestürzt, 
schrie, die Russen seien hinter ihm, er habe sie in hellen Haufen anschleichen 
sehen, habe Zurufe und Gewehrfeuer gehört, und grill zu seinen Waffen. 
Er zeigte einen durchaus deliriösen Zustand, hatte massenhaft Sinnes¬ 
täuschungen und lebhafte Angst und Unruhe und wurde in diesem Zu¬ 
stande am selben Abend noch der Geisteskrankenstation zugeführt. Auch 
dort zeigte er noch vollständige Verwirrung und Sinnestäuschungen, be¬ 
ruhigte sich aber allmählich und wurde wieder klar, so daß er nach nicht 
zu langer Zeit wieder entlassen werden konnte. 

Das Krankheitsbild, das er darbot, mußte mit Recht der akuten 
halluzinatorischen Verwirrtheit, der Amentia, zugerechnet werden. Und 
der Grund? Kongenitale Entartung und Mobilmachungserregung. 

Derartige Fälle sind schon häufiger beobachtet und beschrieben 
worden, für die von Fuchs *) der Sammelname „Mobilmachungspsychosen“ 
geprägt worden ist, der rein ätiologisch-symptomatologisch aufzufassen 
ist. Als Mobilmachungspsychose bezeichnet er jene Fälle, „bei denen aus 
einer primären, durch die Mobümachung bzw. Einziehung zur Armee 
erzeugten Erregung hilfloser Angst die Psychose hervorwuchs“. Er gibt 
im weiteren einen genauen Abriß dieser Erkrankungsform; ich will nicht 
weiter darauf eingehen und verweise im übrigen auf die zitierte Schrift, 
die alles Nähere darüber enthält. 


1 ) Fuchs, Mobilmachungspsychosen. Ärztl. Sachv.-Ztg. 1915, Nr. 3. 


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Auch unter der Zivilbevölkerung sind derartige Mobilmachungs¬ 
psychosen zur Beobachtung gekommen, wenn auch nicht in bedeuten¬ 
dem Maße; denn eine Umfrage bei allen deutschen Irrenanstalten 
darüber, ob in den ersten Kriegsmonaten sich eine Steigerung der 
Aufnahmeziffer von frisch erkrankten Geisteskranken aus der Zivil¬ 
bevölkerung geltend gemacht habe gegenüber demselben Zeitraum 
in Friedenszeiten, hat nur aus wenigen Anstalten eine bejahende Ant¬ 
wort gezeitigt, darunter jedoch einige, die ausdrücklich die Mobil¬ 
machung und den Krieg als Ursache der Geistesstörung hervorheben 1 ). 

Was nun die Unterkunfts- und Dienstverhältnisse der Truppen 
im Kriege, und zwar zunächst in der Heimat, anbetrifft, so muß man 
anerkennen, daß sie ebenfalls zum Teil andere sind als im Frieden. 
Jetzt häufig Unterbringung in Baracken mit einem beschränkten Luft¬ 
kubus auf den Kopf der Insassen, im Frieden der Aufenthalt in hy¬ 
gienischen Kasernen. Dazu die erhöhten Anstrengungen der Aus¬ 
bildungszeit, die bei möglichster Kürze doch so umfassend sein muß, 
daß der kämpfenden Truppe ein nach allen Seiten hin durchgebildeter 
Ersatz zugeführt werden kann; ich kann mir wohl vorstellen, daß 
diese Tatsachen nicht spurlos vorübergehen an Menschen mit labilem 
Nervensystem, zumal bei bisher unausgebildeten, älteren Leuten, die 
gegen eine gewisse Behaglichkeit ihrer bisherigen Lebensführung nun¬ 
mehr diesen Kontrast einzutauschen gezwungen sind. Heimweh, 
Sorge um das wirtschaftliche Fortkommen der Angehörigen kommt 
hinzu und ist sicherlich geeignet, die Psyche bei labilen, sensitiven 
Naturen ungünstig zu beeinflussen, so daß durch alle diese Umstände 
der Boden wohl vorbereitet erscheint, auf dem psychische Erkrankungen 
erwachsen können. 

Ich wende mich nunmehr den einzelnen Krankheitsformen zu 
und beginne mit dem infektiösen Irresein. 

Man versteht hierunter eine Geistesstörung, die durch Infektions¬ 
gifte erzeugt wird. Schon die kürzesten Infektionskrankheiten können 
deliriöse Fieberzustände im Gefolge haben mit Bewußtseinstrübungen, 
Sinnestäuschungen und Wahnideen, die aber verschwinden, wenn die 
Temperatur sinkt, die daher als echte Geistesstörungen noch nicht 
anzusprechen sind. Dazu werden sie erst, wenn sie auch bei normaler 

M Psych.-neurol. Wschr. 1915/16, Nr. 29—32. 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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Temperatur oder mäßigen Erhöhungen derselben fortbesteh en. Ihre 
Erklärung finden sie in der Überschwemmung des Körpers mit Toxinen 
einerseits und einer Widerstandsschwäche des Körpers und insonder¬ 
heit des Zentralnervensystems andrerseits. Anatomisch hat man Ver¬ 
änderungen der Zellelemente des Gehirns gefunden, von deren Wieder¬ 
aufnahme der Funktion oder deren Zug-rundegehen die Heilung oder 
das Fortbestehen der akuten Psychose abhängig ist. 

In 1° 0 der Fälle kam infektiöses Irresein hier zur Beobachtung. 
Schwere Eiterungen komplizierter Schußverletzungen sowie akute In¬ 
fektionskrankheiten (Pneumonie) waren der Anlaß. Wenn auch in der 
Infektion selbst ein körperschwäehendes Moment gesehen werden muß. 
so darf man sicherlich eine erhöhte Disposition da annehmen, wo durch 
Lebensführung oder körperliche und seelische Strapazen die Wider¬ 
standskraft des Körpers, die bei der Unschädlichmachung irgend¬ 
welcher Toxine eine so enorme Rolle spielt, beeinträchtigt ist. Dieser 
Faktor kommt dem Kriege zweifellos zu. Ich bin weit davon entfernt, 
in der durch äußere Einflüsse erzeugten körperlichen und seelischen 
Erschöpfung allein die Vorbedingung für diese Geistesstörung zu sehen, 
ein begünstigendes Moment ist sie aber unter allen Umständen, und 
kein Vorgang ist so zur Schaffung von Erschöpfungszuständen ge¬ 
eignet wie gerade der Krieg, in erster Linie beim Feldheer, aber auch 
in der Etappe und in der Heimat. Das wird am deutlichsten bewiesen 
durch die erhebliche Zahl der Erschöpfungsneurosen in den Heimat¬ 
lazaretten, und auch auf der Geisteskrankenstation erschienen sie in 
13.5% mit ausgesprochen psychotischem Charakter. 

Unter der Bezeichnung: Erschöpfungsirrespin faßtJV raepelin 1 » 
drei Krankheitsgruppen zusammen, als deren Ursache ein übermäßiger 
Verbrauch oder ein ungenügender Ersatz von Nervenmaterial in der 
Hirnrinde anzusehen ist. Das ist der Fall bei schweren körperlichen 
Umwälzungen, wie Krankheit, Blutungen usw., sowie bei körperlichen, 
geistigen und gemütlichen Überanstrengungen. Diese drei Krank¬ 
heitsgruppen sind das Kollapsdelirium, die akute halluzinatorische 
Verwirrtheit oder Amentia und die chronische, nervöse Erschöpfung 
<>der Neurasthenie. Auf das Kollapsdelirium will ich nicht näher 
eingehen, da ich Belege dafür unter meinem Material nicht habe, ebenso 


11 Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie. 


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Baller, 


kann ich mir die klinische Schilderung der Amentia ersparen, deren 
Symptome ich schon oben in dem erwähnten Fall von Mobilmachungs¬ 
psychose angeführt habe. Unter meinen 13,5% waren eine erhebliche 
Anzahl von akuter halluzinatorischer Verwirrtheit, bei denen die 
Causa morbi lediglich in Erschöpfung zu suchen war. Die Sinnes¬ 
täuschungen drehten sich fast vorwiegend um Erlebnisse aus dem 
Dienste, die Kranken hörten Gewehr- und Artilleriefeuer, glaubten sich 
im Kampfe, sahen Feinde und ähnliches. Der Ausgang war meist eine 
Genesung, sobald der sehr geschwächte, oft blutarme Körper und das 
hochgradig reizbare Nervensystem langsam zur Ruhe und Kräftigung 
gekommen war. 

Die größte Mehrzahl aller Fälle wurde aber durch die schweren 
Erscheinungsformen der Neurasthenie gebildet. 

Den meisten gebildeten Menschen ist der Begriff Neurasthenie 
oder Nervosität aus dem alltäglichen Berufsleben her geläufig. Elin 
jeder verbindet damit die Vorstellung von Unlustgefühlen, Reizbarkeit, 
schneller Ermüdung und subjektiven Beschwerden mannigfacher Art, 
und dieser Symptomenkomplex trifft im allgemeinen das Richtige; 
das sind auch die Anzeichen, die eine ungeheure Anzahl von Kriegs¬ 
teilnehmern mit aus dem Felde bringen, und die eine Lazarettbehand¬ 
lung notwendig machen. Solange die Erscheinungen sich in diesem 
Rahmen halten, hat man keinen Grund, von Psychosen zu sprechen. 
Aber die Grenzen, die geistige Gesundheit und Seelenstörung trennen, 
sind auch hier, oder gerade hier, flüssig, und man muß Symptome 
dann den Geisteskrankheiten zuzählen, wenn sie die freie Willens- 
bestimmung beeinträchtigen oder so in den Vordergrund treten, daß 
sie alles Denken und Handeln überwuchern. 

Geistige und körperliche Anstrengung ohne ausreichende Er¬ 
holung durch Ruhe und Schlaf sind der Boden, auf dem die chronische 
nervöse Erschöpfung erwächst. Kraepelin führt als prädisponierende 
Tätigkeit an unter anderem Krieg und Manöver. Was der Krieg und 
ganz besonders der gegenwärtige für Anforderungen an Körper und 
Nerven stellt, davon kann sich nur der einen wahren Begriff machen, 
der tage-, ja wochenlange Verfolgungsmärsche ohne Ruhe und Rast 
mitgemacht hat, der stundenlang im Granatfeuer hat ausharren 
müssen in dem Bewußtsein, jeden Moment durch einen Volltreffer 
zerrissen zu werden. Es ist zweifellos richtig, wenn ich sage, daß der 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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jedem Menschen innewohnende Selbsterhaltungstrieb einen schweren 
Kampf auszufechten hat mit der Energie und dem Ehrgefühl in Mo¬ 
menten, wo man im Granatfeuer unbekümmert um alles streng seine 
Pflicht zu tun hat. 

So ist es denn kein Wunder, wenn sich die gewöhnliche Reizbar¬ 
keit bis zu raptusartiger Erregung, das Ermüdungsgefühl bis zur 
Apathie, die Verstimmung bis zur Melancholie mit Selbstmordideen 
steigern kann, sogar Sinnestäuschungen und Verfolgungsideen treten 
in schwersten Fällen in Erscheinung. Dazu kommen quälende sub¬ 
jektive Empfindungen, wie Herzbeschwerden, Parästhesie, Kopf¬ 
schmerz und Schlaflosigkeit, Angstzustände und Todesfurcht, kurz 
Krankheitserscheinungen, die die Bezeichnung Erschöpfungspsychose 
durchaus rechtfertigen. 

Ein typisches Beispiel möge das Gesagte erläutern: 

Ad., ein 21jähriger kräftiger Mann, außer durch Potatorium seines 
Vaters erblich nicht belastet, diente bei Ausbruch des Krieges aktiv und 
rückte sofort mit seinem Truppenteil aus, zuerst nach dem Osten, dann 
an die Westfront. Dort hatte er alle Operationen seines Regiments unver¬ 
drossen und mit freudiger Begeisterung mitgemacht, war im Bewegungs¬ 
kriege stets einer der ersten, im Stellungskriege häufig auf den gefährlich¬ 
sten Posten, hatte Trommelfeuer und Angriffe über sich ergehen lassen 
und erfreute sich bei seinen Kameraden allgemeiner Wertschätzung, bei 
seinen Vorgesetzten allgemeiner Zufriedenheit, was aus seinem Dienst¬ 
zeugnis hervorging. Da wurde er selbst durch einen Streifschuß leicht 
verwundet und kam ins Feldlazarett, aber nach kurzer Zeit wieder zur 
Truppe zurück, wo er wieder allen Strapazen in alter Weise ausgesetzt 
war, und da gerade dort und zu jener Zeit wegen drohender Angriffe 
des Feindes erhöhte Wachsamkeit und Anspannung aller verfügbaren 
Kräfte erforderlich war, war es manchmal mit der notdürftigsten Ruhe 
schlecht bestellt. Da traten die ersten Erschöpfungserscheinungen bei ihm 
zutage. Er wurde reizbar und unfreundlich, was seinen Kameraden all¬ 
gemein auffiel, er wurde nachlässig und unzuverlässig im Dienst, was ihm 
von seinem Kompagnieführer die Notiz: „Seit seiner Rückkehr aus dem 
Lazarett Führung schlecht“ eintrug. Er begann, auf dem vordersten 
Grabenposten Unfug zu treiben, schüttete das Pulver aus den Patronen 
und verbrannte es, schoß durch einen Baum, um die Durchschlagskraft 
seines Gewehres zu probieren, saß oft apathisch da, kurz er wurde zur 
Kompagnie zur Bestrafung zurückgeschickt, von da aber mit einem Auftrag 
wieder nach vorn. Hier kam er nicht an, war verschwunden und wurde 
nach Monaten erst wieder in einem russischen Gefangenenlager entdeckt, 
wo er — er hatte sich einen russischen Namen beigelegt — als russischer 


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Zivilgefangener interniert war. Er wurde unter Anklage gestellt, und da 
er dem Gericht nicht zurechnungsfähig erschien, der Geisteskranken¬ 
station zur Beobachtung überwiesen. 

Hier zeigte er bei der körperlichen Untersuchung alle Anzeichen 
einer neurasthenischen Erkrankung, gesteigerte Sehnenreflexe, Tremor der 
Lider, Zunge und Hände, starke Erregbarkeit der Herztätigkeit mit leichter 
Vergrößerung, Hyperhidrosis der Achselhöhlen, sehr starke Gefäßerregbar¬ 
keit und Schmerzhaftigkeit der Nervenaustrittsstellen. Er war derart 
ängstlich erregt, daß er unter das Bett kroch, weil er sich vor der Unter¬ 
suchung fürchtete, und erst nach Tagen hatte er sich soweit beruhigt, 
daß er für eine Exploration zugänglich war. Nun schilderte er seine Er¬ 
lebnisse und seinen Seelenzustand. Er habe Angstzustände bekommen, 
die ihm den Schlaf geraubt hätten, bei jedem Einschlag von Granaten sei 
er fast besinnungslos geworden, nirgends habe er Ruhe gehabt, jedes Ge¬ 
räusch, jede harmlose Spötterei seiner Kameraden habe ihn in tobsüchtige 
Wut versetzt. Als er nach Genesung von seiner Verwundung zur Truppe 
zurückmußte, seien seine Beschwerden in verstärktem Maße in Erscheinung 
getreten. Er habe manchmal nicht mehr gewußt, was er tat, habe maßlose 
Kopf- und Rückenschmerzen gehabt und sei im Schlaf oft aufgeschreckt, 
weil er sich beim Namen rufen hörte. Seine Verzweiflung habe sich zur 
Todesangst gesteigert, ihm sei der Gedanke gekommen, wenn er nur noch 
einmal seine Mutter sehen könnte, dieser Gedanke habe alles bessere Gefühl 
so überwuchert, daß er ihn habe ausführen müssen, und so machte er sich 
auf zu Fuß nach der Grenze und in die ferne Heimat. 

Auf der Station war er anfangs sehr erregt, er weinte bei jeder Ge¬ 
legenheit, beklagte sein Schicksal und wünschte sich den Tod, da er, mit 
der Schande der Fahnenflucht bedeckt, sich in seiner Heimat nicht blicken 
lassen könne. 

Ich habe den Mann als geisteskrank begutachtet, denn zweifellos 
befand er sich bei der Begehung seiner strafbaren Handlung in einem Zu¬ 
stande von krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch welchen die 
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Vom Kriegsgericht wurde 
daraufhin das Verfahren eingestellt. 

Ich habe gerade diesen Fall hier als Beispiel herangezogen, weil die 
von dem Kranken gemachten Schilderungen zum größten Teile durch 
Zeugenvernehmungen erhärtet waren und das Entstehen der Erkrankung 
aus Anlaß der Kriegsstrapazen somit einwandfrei bewiesen ist. 

Selbstverständlich zeigen nicht alle Fälle von chronischer, nervöser 
Erschöpfung diese Intensität, aber der Symptomenkomplex ist meist 
der gleiche, und das auslösende Moment in der Mehrzahl der Fälle die 
erhöhte Anforderung des Militärdienstes, wobei ich noch einmal wieder¬ 
holen will, daß die nervöse Disposition bei dem Zustandekommen eine 
erhebliche Rolle spielt. 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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Auf die psychischen Momente des Schützengrabenkrieges mit allen 
seinen Faktoren hat auch Meyer (oben zitiert) bei der Beschreibung 
dieses Krankheitsbildes hingewiesen, und man geht zweifellos nicht 
fehl, wenn man die chronische nervöse Erschöpfung im Heere als eine 
Kriegskrankheit xat ifrzyv bezeichnet. 

Ganz anders verhält es sich mit dem Alkoholismus. Es ist 
sicher kein Zufall, wenn von meinen Fällen nur der geringere Teil im 
Felde gewesen war; Alkoholismus an der Front gehört eben zu den 
Seltenheiten, und Moll (oben zitiert) hat ganz recht, wenn er sagt, 
er habe im Felde nur wenig Trunksucht oder deren Folgen gesehen. 

Die Formen, unter denen der Alkoholismus auf der Geistes¬ 
krankenstation hier in Erscheinung trat, waren hauptsächlich das 
Trinkerdelirium, der pathologische Rauschzustand, die Dipsomanie 
und die Alkoholparanoia. Eine spezifische Wirkung des Krieges an der 
Front habe ich in keinem Falle konstatieren können, abgesehen von 
vielleicht vereinzelten Einflüssen auf die Wahnbildung oder einzelnen 
akuten Alkoholdelirien, bei denen man als disponierendes Moment eine 
nervöse und körperliche Schwächung durch den Krieg anzunehmen 
berechtigt war, auf welcher Grundlage ein gelegentlicher Alkoholabusus 
seine toxischen Wirkungen krasser entfalten konnte. Wenn trotzdem 
der Alkoholismus mit die größte Anzahl Krankheitsfälle auf sich ver¬ 
einigt und prozentualiter gegenwärtig so viel stärker vertreten ist als 
zu Friedenszeiten, so liegt das lediglich an der gegenwärtigen Zu¬ 
sammensetzung des Heeres, das vielfach die Lebensalter aufweist, in 
denen der Alkoholismus seine Hauptverbreitung auch im bürgerlichen 
Leben hat, anderseits daran, daß die Gelegenheit zum Alkoholmi߬ 
brauch in den Garnisonen eine sehr starke ist, während im Felde auch 
der Gewohnheitstrinker, infolge des doch sicher nicht im Übermaß 
vorhandenen Stoffes notgedrungen in gewissem Grade abstinent 
leben muß. 

Ich komme nunmehr zur Dementia praecox, jener Gruppe 
von Geistesstörungen, die wohl in den meisten Statistiken am zahl¬ 
reichsten vertreten ist, die auch in Weyerts Friedenszusammenstellung 
21,7% aller von ihm beobachteten Fälle darstellt. 

Dementia praecox ist gewissermaßen ein Sammelname für drei 
Symptomenkomplexe, die äußerlich betrachtet verschieden sein können, 
die aber alle zu dem gleichen Ziele führen, nämlich der vorzeitigen, 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXX1II. 1. 2 


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Origiralfrcm * 

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Baller. 


mehr oder weniger hochgradigen Verhlödnng. Während bei der kata- 
tonen Form, der eigentlichen Katatonie Kahlbaums , Spannungszn- 
stände dem Krankheitsbilde das markanteste Gepräge geben, zeigt die 
Hebephrenie mehr manischen Charakter, bei der Dementia paranoides 
herrschen ausgesprochene Wahnideen und Sinnestäuschungen vor, 
so daß eine Scheidung dieser Form von der Paranoia chronica auch 
heute noch von vielen Psychiatern speziell der älteren Generation nicht 
streng durchgeführt wird und auch häufig mit erheblichen Schwierig¬ 
keiten verknüpft ist. So ungleiche Geschwister diese drei obenhin be¬ 
trachtet zu sein scheinen, wird man bei genauer Prüfung doch in jedem 
Falle verwandte Züge feststellen können, und zwar in erster Linie die 
Störung der Auffassung, der Aufmerksamkeit, der Urteilsfähigkeit und 
des Gemütslebens, dazu kommen mannigfache Krankheitserscheinun¬ 
gen auf dem Gebiete des Benehmens und Handelns, als da sind: 
Stereotypien, Negativismus, Manieren und ähnliches mehr. Es würde 
zu weit führen, genauer auf die einzelnen Formen einzugehen, es er¬ 
übrigt sich auch, handelt es sich doch lediglich darum, zu untersuchen, 
ob der Krieg auf das Zustandekommen dieser geistigen Störung 
Einfluß hat oder nicht. Für die Beantwortung dieser Frage ist die 
Erörterung der mutmaßlichen Entstehungsursache der Dementia 
praecox unerläßlich. Aber leider ist man zu einer sicheren Erkenntnis, 
wie bei den meisten geistigen Störungen, auch hier noch nicht durch¬ 
gedrungen. 

Eine große Rolle spielt bei der Entstehung sicherlich die erbliche 
Belastung, die von namhaften Forschern in 60—70% aller Fälle nach¬ 
gewiesen ist. Der Umstand aber, daß pathologisch-anatomisch zweifel¬ 
los organische Schädigungen der Zellelemente des Gehirns nachge¬ 
wiesen sind, hat die Vermutung nahegelegt, daß es sich um eine chemi¬ 
sche Giftwirkung handelt und vielleicht, da die Anfänge des Leidens 
zumeist bis in die Zeit der Pubertät zurückverfolgt werden können, 
..um eine Selbstvergiftung, die möglicherweise in irgendeinem näheren 
oder entfernteren Zusammenhänge mit Vorgängen in den Geschlechts¬ 
organen stehen“ (KracpcUn). Es hat diese Hypothese sehr viel Wahr¬ 
scheinlichkeit für sich, wissen wir doch, daß gerade drüsige Sekretions¬ 
oder Umsatzprodukte auch anderer Drüsen, ich erinnere nur an die 
Thyreoidea, gelegentlich ihre Giftwirkung recht deletär entfalten. 
Soviel ist jedoch wohl als sicher anzunehmen, daß es meist minder 


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widerstandsfähige Nervensysteme sind, die dem schädigenden Agens 
erliegen, zu diesem Schlüsse ist man meines Erachtens berechtigt, 
wenn man die hohe Prozentzahl der erblichen Belastung ins 
• Auge faßt. 

Nun stelle man sich vor: ein Mensch, bei dem die eben geschilder¬ 
ten ätiologischen Vorbedingungen zutreffen, wird starken seelischen 
und körperlichen Strapazen ausgesetzt, die ihrerseits an einem voll¬ 
kräftigen Nervensystem nicht spurlos vorübergehen, muß es nicht da 
zum Zusammenbruch kommen? Die Erfahrung lehrt es; zur Illustra¬ 
tion diene folgender Fall. 

X. Y., von Beruf Landwirt, war erblich mit Nervenkrankheiten 
mehrfach belastet, machte aber eine normale Entwicklung durch und hat 
als Einjährig-Freiwilliger gedient. Bei Ausbruch des Krieges trat er ein 
und wurde im Laufe desselben zum Leutnant befördert. Bei dem Regiment 
hat er von Anfang an alle Kämpfe desselben mitgemacht und erkrankte 
nach etwa 15 Monaten unter Verstimmungs- und Ermüdungserscheinungen, 
die durch das Auftreten von Sinnestäuschungen bald einen psychotischen 
Charakter annahmen. Er wurde direkt von der Front der Geisteskranken¬ 
station zugeführt und kam in schwerkrankem Zustande hier an, bei 
welcher Gelegenheit schon starke Hemmungszustände und Sinnestäuschun¬ 
gen festgestellt wurden; so hörte er den Kaiser rufen, hörte Kanonen¬ 
donner und anderes mehr. Bald verfiel er in einen vollständig negativisti- 
schen Zustand; er lag steif im Bett mit fest zugekniffenen Augen, zusammen¬ 
gebissenen Zähnen und setzte jedem Versuch, ihm Nahrung zu verabreichen 
— von selbst aß er nicht —, heftigsten Widerstand entgegen. Er mußte 
schließlich mit der Sonde gefüttert werden. Er sprach kein Wort, auch als 
seine Mutter und Braut ihn besuchten, verblieb er durchaus mutazistisch 
und negativistisch. Dieser Zustand dauerte Wochen und wurde nur ge¬ 
legentlich durch einen plötzlichen Raptus unterbrochen, in welchem er 
einmal durch ein offenstehendes Fenster in den Garten sprang und den 
Zaun zu überklettern versuchte. Zurückgebracht, lag er wieder starr 
und steif da. Ganz allmählich löste sich diese Spannung, er öffnete die 
Augen, nahm selbständig Nahrung zu sich und fing an zu sprechen. Er 
schilderte alles, was er mitgemacht hatte, und gab an, in den letzten Tagen 
seines Aufenthaltes bei der Truppe viel an Kopfschmerzen gelitten zu 
haben, ferner sei ihm eine langsam sich steigernde Denkhemmung auf¬ 
gefallen, die er nur mit größter Mühe habe überwinden können. 

Dieser Fall läßt klar erkennen, daß einzig und allein die Strapazen 
des Krieges schuld sind an dem Ausbruche des Leidens. Es ist mit 
Sicherheit anzunehmen, daß es zu dieser Erkrankung nicht gekommen 
wäre, wenn er in seinem ruhigen Zivilberufe verblieben wäre; 

2 * 


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Baller, 


den Anforderungen war sein Nervensystem gewachsen, die größeren 
vertrug es auf die Dauer nicht. 

Die progressive Paralyse hat mit dem Kriege Verhältnis* 
mäßig recht wenig zu tun. Wir wissen, daß sie fast ausnahmslos als 
eine Folgeerscheinung der Lues anzusehen ist. Das Alter, in dem sie 
am häufigsten zur Beobachtung kommt, ist die Zeit zwischen dem 
35. und 50. Lebensjahre, früheres Auftreten gehört zu den Seltenheiten, 
ebenso die Erkrankung im späteren Alter. Es wird zwar allgenein an¬ 
genommen, und das ist auch zweifellos richtig, daß schwere, insbeson¬ 
dere seelische Strapazen den Ausbruch einer Paralyse begünstigen, 
und ohne Frage wirkt auch der Krieg in diesem Sinne; das scheint 
schon daraus hervorzugehen, daß alle Fälle bei den gedienten Mann¬ 
schaften bis auf einen im Felde erkrankt waren bzw. im Felde waren. 
Die ersten Anfänge der Paralyse können ja lange verborgen bleiben, 
und es können daher auch diese eben erwähnten Fälle schon vor dem 
Kriege krank gewesen sein. Man wird aber bei der Frage nach Dienst¬ 
beschädigung, selbstverständlich nach genauster Prüfung des Zeit¬ 
punktes der ersten Symptome, nicht umhin können, in einer Anzahl 
von Paralysen Dienstbeschädigung anzunehmen, eben in Rücksicht 
auf den Erfahrungssatz, daß besondere Anforderungen an Körper und 
Geist ein begünstigendes Moment schon im bürgerlichen Leben ab¬ 
geben, wieviel mehr im Kriege. Einen besonderen Charakter im Ver¬ 
laufe der Paralysen als Einwirkung des Krieges war ich festzustellen 
nicht in der Lage, ebensowenig war ein besonders frühes Auftreten 
zu beobachten. 

Das Irresein des Rückbildungsalters sowie bei Hirnerkran¬ 
kungen kann ich übergehen, bei deren Zustandekommen spielte der 
Krieg keine spezifische Rolle. 

Dagegen kann das manisch-depressive Irresein wieder als 
einer derjenigen Symptomenkomplexe bezeichnet werden, in dem die 
spezifische Wirkung des Krieges deutlicher zum Ausdruck kommt. 

Das manisch-depressive Irresein ist letzten Endes als eine Störung 
des psychischen Gleichgewichts aufzufassen mit exzessiven Schwan¬ 
kungen nach der einen: manischen—und der andern: melancholi¬ 
schen Seite hin sowie mit freien Intervallen. Nicht stets in buntem 
Wechsel spielen sich alle diese Schwankungen ab — die eine oder 
andere Phase kann oft fehlen —, wohl aber kann man von Perioden 


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Krieg and krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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sprechen dergestalt, daß einer kranken Phase ein gesunder Abschnitt 
folgt, weshalb man auch früher den Namen „periodisches Irresein“ 
dafür geprägt hatte. Meist sind es degenerierte Naturen, die der 
Krankheit verfallen, hat doch Kraepelin in 80% aller Fälle erbliche 
Belastung nachzuweisen vermocht. Was den Symptomenkomplex 
der Geistesstörung anbetrifft, so ist die manische Phase charakterisiert 
durch Ideenflucht, gehobene Stimmung und Beschäftigungsdrang, 
während die melancholische Phase unter den Zeichen einer psychischen 
Depression und psychomotorischer Hemmung steht. Wahnideen und 
Sinnestäuschungen werden in jedem der Anfälle selten vermißt. 

Ich will auf die Differentialdiagnose nicht näher eingehen, möchte 
aber betonen, daß die Abgrenzung zwischen dem manisch-depressiven 
Irresein und der Dementia praecox sowie den ersten Anfängen der 
Paralyse gelegentlich recht schwierig ist. Gerade psychomotorische 
Hemmungen und katatonische Spannungserscheinungen sind häufig 
schwer zu unterscheiden, um so mehr, wenn nur eine kurze Beob¬ 
achtung möglich ist, wie das in hiesiger Geisteskrankenstation der 
Fall war, die darauf bedacht sein muß, möglichst viele Plätze für 
Neuaufnahmen freizumachen. 

Hat nun der Krieg auf die Entstehung dieser Geistesstörung einen 
begünstigenden Einfluß? Diese Frage muß zweifellos bejaht werden. 
Wenn ich auch all die schon oben näher erwähnten Erwägungen, die 
sich aus der großen Masse und Vielgestaltigkeit unseres gegenwärtigen 
Soldatenmaterials ergeben, durchaus für das manisch-depressive Irre¬ 
sein gelten lassen will, so glaube ich doch schon aus den Zahlen allein 
berechtigt zu sein, dem Kriege eine besondere Wichtigkeit zumessen 
zn dürfen. Weyer fand 1,9% Erkrankungsfälle im Frieden, ich konnte 
6% im Kriege beobachten. Wenn man nun noch in Betracht zieht, 
daß nachgewiesenermaßen % aller Erkrankungen an manisch-depres¬ 
sivem Irresein vor dem 25. Lebensjahre erfolgen, welchem Alter der 
Hauptbestandteil der Friedensarmee angehört, so ergibt sich daraus 
noch ein Beweismittel mehr für die Einwirkung des Krieges, denn da 
der größte Teil der jetzigen Armee höhere Lebensalter umfaßt, müßte 
eigentlich die Prozentzahl jetzt geringer sein als bei jungen Truppen. 

Was die Erscheinungsform dieser Geisteskrankheit anbetraf, so 
herrschten vorwiegend die depressiven Phasen vor. Bange Sorge um 
sich und die Angehörigen, Furcht vor etwas Schrecklichem, das jeden 


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Baller, 


Augenblick eintreffen müsse, beherrschten das ganze Denken der 
Kranken. Heimweh und Todesahnung ließ sich überall deutlich nach- 
weisen. Bei manch einem der im Felde Erkrankten — es waren das 
über die Hälfte — ließen sich deutlich die ersten Anfänge sozusagen 
. bis in den Schützengraben zurückverfolgen, bei. manchem war klar zu 
erkennen, daß die plötzliche Loslösung aus der Buhe des täglichen 
Lebens, aus der gewohnten Umgebung der Familie den ersten Anstoß 
zur geistigen Zerrüttung gegeben hatte, die vollkommen wurde, als zu 
der Sorge um die Zukunft die Anstrengung des Kriegsdienstes hinzu¬ 
kam. Oft schlug diese Depression in typische Manie um, oft ging sie 
ohne weiteres in Heilung über. Wenn Sinnestäuschungen zur Beob¬ 
achtung kamen, so drehten sie sich fast ausnahmslos um Kriegsereig¬ 
nisse und dokumentierten damit die gewaltigen Eindrücke, die der 
Krieg auf das Seelenleben der Erkrankten gemacht haben muß. 

Die Paranoia chronica im Kraepelimchen. Sinne ist eine ver¬ 
hältnismäßig seltene Erkrankung. Wenn sie mit 7,6% in meiner 
Aufstellung erscheint, so gebe ich, wie schon eingangs erwähnt, zu, 
daß alle Fälle einer scharfen Diagnose nicht standhalten würden, es 
sind zweifellos manche Fälle von Dementia paranoides sowie manche 
Alkoholparanoien dazwischen; den Grund für dieses Versehen habe 
ich schon oben auseinandergesetzt. Das Kriterium der Kraepelimohen 
Paranoia ist ein unerschüttertes Wahnsystem bei vollkommener Er¬ 
haltung der Besonnenheit und Ordnung des Gedankenganges, ein 
Wahnsystem, das sich gewissermaßen schleichend entwickelt hat, das 
schon lange bestand, ehe es von der Umgebung entdeckt wurde. In 
einer großen Anzahl von Fällen konnte ich feststellen, daß der Kranke 
schon vor seiner Einstellung als Landwehr- oder Landsturmmann 
Wahnideen hatte, die aber langsam etwas in den Hintergrund getreten 
waren, so daß sie bei der Einstellung nicht entdeckt wurden. Erst der 
Krieg mit seinen gewaltigen Eindrücken sowie das enge Zusammen¬ 
leben und Aufeinanderangewiesensein der Soldaten führte dem Wahn¬ 
system des Kranken neue Nahrung zu und ließ es deutlicher in Er¬ 
scheinung treten. 

So kommt dem Kriege eigentlich keine nennenswerte Bedeutung 
als ursächliches Moment zu, sondern nur als aggravierender Faktor, 
der, ich möchte sagen, schon fast eingeschlafene Wahnvorstellungen 
neu belebte; und in der Tat fand man häufig neue, aus dem Kriege 


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mit seinen Ereignissen entlehnte Ideen, die mit dem alten System 
verwoben wurden. Ich möchte nur kurz einen Fall erwähnen, der 
das deutlich erkennen läßt: 

Der Armierungssoldat H., ca. 40 Jahre alt, hatte schon seit Jahren 
die religiöse Vorstellung, er sei von Gott berufen, sei ein Auserwählter, 
der Stellvertreter Gottes, er las aus der Bibel die göttlichen Befehle. Er 
suchte die Welt zu bekehren und war schon einmal in einer öffentlichen 
Irrenanstalt gewesen und entmündigt worden. Seine Wahnideen hatten, 
da sie mehr und mehr zurückgetreten waren, schließlich niemand mehr 
belästigt, er war ein fleißiger Arbeiter, aber allen als merkwürdiger Kauz 
bekannt. Er wurde ausgehoben und kam bald mit der straffen Disziplin 
in Konflikt, weil er sich weigerte, Sonntags zu arbeiten. Die Zerstörun¬ 
gen des Krieges, die er rings um sich sah, besonders die zerschossenen und 
"verbrannten Kirchen, erzeugten in ihm den Gedankengang, daß es ver¬ 
ruchte Menschen seien, unter denen er sich aufhalte, die selbst vor dem 
Heiligsten keine Scheu hätten; seine Auserwähltheit kam ihm wieder 
inehr zum Bewußtsein, und als er irgendeiner Unregelmäßigkeit wegen 
scharf angelassen wurde, schlug er die Bibel auf, um göttliche Informationen 
zu erhalten. Als sein Auge auf die Worte fiel: „Fliehet aus Babel“, da gab 
es für ihn kein Halten mehr, er entfloh. 

Bei der Begutachtung im kriegsgerichtlichen Verfahren war es leicht, 
seine Unzurechnungsfähigkeit nachzuweisen, das Verfahren wurde ein¬ 
gestellt. 

In 10,7% aller Fälle kamen Epileptiker zur Aufnahme; der 
größte Teil derselben hatte schon früher Anfälle gehabt. Bei dem 
kleineren Teile waren sie zum ersten Male nach der Einstellung in Er¬ 
scheinung getreten. Aber auch bei denjenigen, die schon früher an 
Krampfanfällen gelitten hatten, war in einer großen Anzahl eine 
Verschlimmerung, was Zahl und Intensität der Anfälle anbetraf, nach¬ 
zuweisen, eine Erscheinung, die man zweifellos den Strapazen des 
Heeresdienstes zur Last legen muß. Man ist sicherlich zu dem Schlüsse 
berechtigt, daß, wenn ein Leiden unter der Einwirkung irgendeiner 
besonderen Veranlassung oder einer aus dem gewöhnlichen Rahmen 
heraustretenden Inanspruchnahme der Kräfte entsteht, hierin auch 
die Ursache zu sehen ist. Mag es auch richtig sein, daß eine Epilepsie 
nur auf degenerativem oder sonstwie vorbereitetem Boden erwächst, 
man wird immerhin annehmen müssen, daß der Krieg allein als ursäch¬ 
liches Moment in Frage ko mm t in den Fällen, wo epileptische Anfälle 
oder Äquivalente zum ersten Male im Kriege aufgetreten sind. 

Folgendes Beispiel möge zur Erläuterung dienen: 


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Baller, 


N. N., ein etwa 22jähriger Bauernsohn, aus gesunder Familie, hatte 
nie in seinem Leben Krämpfe oder geistige Anomalien dargeboten, wie 
sowohl die Eltern als auch die Ortsbehörde bestätigten, und war als aktiver 
Soldat bei der Mobilmachung ins Feld gezogen. Bis zum Herbst 1915 
hatte er alles mitgemacht und wurde durch einen Streifschuß am Ober¬ 
schenkel verwundet, der eine mäßige, mit der Unterlage nicht ver¬ 
wachsene Narbe hinterließ, ohne die Funktion des Gliedes sonst irgendwie 
zu beeinträchtigen. Während seines Aufenthaltes im Lazarett bekam er 
eines Tages einen Wutanfall, in welchem er brüllte und tobte, so daß er 
der Geisteskrankenstation überwiesen werden mußte. Als er dort an¬ 
langte, war der Erregungszustand abgelaufen, er war freundlich und 
geordnet und bat, möglichst bald wieder ins Feld zurückgeschickt zu 
werden. Da er selbst angab, er habe im Lazarett kurz vorher etwas ge¬ 
trunken, so glaubten wir, es habe sich um eine alkoholische akute Erregung 
gehandelt, und waren drauf und dran, ihn als dienstfähig zu entlassen, 
als er plötzlich, nachdem schon einige Stunden vorher eine gewisse 
Reizbarkeit des sonst stets freundlichen, dienstbereiten Mannes aufgefallen 
war, unmotiviert auf einen Kameraden einzuschlagen begann. Er wurde 
sofort festgehalten, wogegen er sich mit Händen und Füßen unter Brüllen 
wehrte, sein Geschrei ging in Stöhnen und Zähneknirschen über, seine 
Gliedmaßen krampften sich zusammen, tonisch-klonische Krämpfe traten 
aber nicht in Erscheinung. Auf Anrufen reagierte er nicht, das Gesicht 
war zyanotisch, die Pupillen waren starr, die Bulbi nach oben gedreht, 
die Zunge zeigte einen frischen Biß. 

Nach einiger Zeit kam er scheinbar zu sich, sah aber verstört umher 
und zeigte einen typischen Dämmerzustand, er war schlafbedürftig und 
wachte nach y 2 —1 Stunde völlig klar, aber total amnestisch auf; nur das 
Gefühl von Zerschlagenheit im Körper sowie Kopfschmerzen sagten ihm, 
daß etwas mit ihm vorgegangen sein mußte, worüber er im unklaren war. 
Ganz besonders klagte er über Schmerzen in der Wundnarbe. 

Die gleichen Anfälle wiederholten sich etwa alle 8—10 Tage. Er 
wurde als dienstunbrauchbar zur Entlassung eingegeben. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es sich hier um echte 
epileptische Zustände handelt, zumal auch hysterische Stigmata nicht 
vorhanden waren, wenn auch der Anfall selbst kein typischer genannt 
werden kann. Aber was heißt typischer Anfall bei der Epilepsie! 
Die Erscheinungsformen sind so mannigfach, daß man sagen möchte, 
die typischen Anfälle sind Ausnahmen. Ich brauche nur zu erinnern 
an all die epileptischen Äquivalente, an Dipsomanie und pathologische 
Rauschzustände, die man mehr und mehr geneigt ist, als epileptische 
Formen anzusehen; ich erinnere nur an die epileptischen Dämmer¬ 
zustände, die gerade bei der Militärpsychiatrie solch große Rolle 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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spielen, und die von Stier 1 ) in mustergültiger Weise durchforscht und 
beschrieben sind. Ich möchte nicht verfehlen, auf die Wutzustände 
hinzuweisen, die ebenfalls bei der Epilepsie Vorkommen, von denen 
ich mehrere zu beobachten Gelegenheit hatte, zwischen welchen und 
den „typischen“ Anfällen der geschilderte Fall einen Übergang bildet. 
Der Amok der Malayen ist nichts anderes als ein derartiger Wutanfall, 
in welchem der Befallene blind und bewußtseinsgetrübt alles nieder- 
stößt, was ihm in den Weg kommt. 

Während ich bisher nur von sogenannter genuiner Epilepsie ge¬ 
sprochen habe, die ihre Verschlimmerung oder Auslösung den allge¬ 
meinen nervösen Schädigungen, die der Krieg und Kriegsdienst mit 
sich bringt, zu verdanken hat, möchte ich aber nicht verfehlen, hinzu¬ 
weisen auf die traumatische Epilepsie, die ihre Entstehung organischen 
Schädigungen des Zentralnervensystems selbst verdankt, nämlich den 
Schußverletzungen des Gehirns mit ihren Narbenbildungen und den 
Gehirnerschütterungen durch Schlag oder Sturz und nicht zum wenig¬ 
sten durch Granat- oder Minenexplosionen. Denn daß diese Ex¬ 
plosionen nicht nur psychische Schockwirkungen haben, sondern echte 
Erschütterungen der Gehimmasse durch Luftdruck darstellen, ist 
zweifellos; darauf werde ich noch einmal bei der Hysterie zurück¬ 
kommen. Die traumatische Epilepsie ist ein wohl allgemein anerkannter 
Begriff, und die Chirurgen werden Gelegenheit haben wie nie, ihre ope¬ 
rativen Erfolge zu vermehren und die Spezialforschung zu bereichern. 

Scheinbar nahe verwandt mit der Epilepsie ihrem ganzen Symp- 
tomenkomplexe nach ist die Hysterie, die ja auch von Kraepelm 
mit der Epilepsie unter dem Sammelnamen der allgemeinen Neurosen 
zusammengestellt ist. 

Eine scharfe Definition der Hysterie zu geben ist kaum möglich; 
ganz allgemein ausgedrückt, liegt das Wesen der Krankheit in einem 
Mißverhältnis zwischen Hemmung und Antrieb oder, wie Kraepelm 
sich ausdrückt, in der „außerordentlichen Leichtigkeit und Schnellig¬ 
keit, mit welcher sich psychische Zustände in mannigfachen körper¬ 
lichen Störungen wirksam zeigen, seien es Anästhesien oder Par- 
ästhesien, seien es Ausdrucksbewegungen, Lähmungen, Krämpfe oder 
Sekretionsanomalien“. 


1 ) Stier, Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. 


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Baller. 


Ich will auf die einzelnen Symptome nicht näher eingehen, das 
Krankheitsbild der Hysterie in seiner Vielgestaltigkeit ist zu bekannt, 
als daß es einer näheren Schilderung bedürfte, ich will nur hervor¬ 
heben, daß Dämmerzustände, ängstliche und traurige Verstimmung 
sowie läppische Erregung und gelegentliche, massenhafte Sinnes¬ 
täuschungen die Bezeichnung Psychose durchaus rechtfertigen. Was 
die Ursache anbetrifft, so ist mit Sicherheit näheres darüber nicht 
bekannt; eine große Rolle spielt hier wie überall die erbliche Belastung, 
die mit 70—80% nachgewiesen ist. Schon vor längerer Zeit haben Freud 
und seine Anhänger die Theorie aufgestellt und zu beweisen versucht, 
daß die Hysterie auf ein sexuelles Erlebnis in frühester Jugend zurück¬ 
zuführen sei, das im Unterbewußtsein fortlebe; wenn es gelinge, auf 
psycho-analytischem Wege dieses Ereignis ins Wachbewußtsein zu 
überführen, so verschwinden die hysterischen Symptome. Diese Er¬ 
klärung erscheint mir recht zweifelhaft, sie hat auch von berufenster 
Seite schon recht scharfe Ablehnung erfahren. 

Die männliche Hysterie, die man eigentlich immer als eine ver¬ 
hältnismäßig seltene Krankheit ansah, scheint nun im Kriege recht 
häufig aufzutreten. Die Mehrzahl der Hysterien wird aber in den 
Lazaretten und den Nervenstationen zu finden sein, dort wird man 
die interessantesten Krankheitsbilder zu Gesicht bekommen, weniger 
auf den Geisteskrankenabteilungen. Ich konnte auf der Geistes¬ 
krankenstation 7,8% der Fälle beobachten, von diesen waren etwa 
Vs im Felde erkrankt, und zwar meist infolge Einwirkung von Granat¬ 
oder Minenexplosion, anderseits aber auch als Folge chronischer Er¬ 
schöpfung. Dämmerzustände und Somnambulismus und schwere De¬ 
pressionen mit Sinnestäuschungen waren die Symptome; gesichert 
wurde die Diagnose Hysterie durch gelegentliche typische Anfälle mit 
Sprach-und Extremitätenlähmungen sowie durch herdförmige Sensi¬ 
bilitätsstörungen oder andere Stigmata. 

• 

Eines typischen Falles möchte ich kurz Erwähnung tun; es handelte 
sich um einen jungen Kriegsfreiwilligen, der zum ersten Male von einem 
Anfall betroffen wurde, nachdem er bei Nacht auf einer Felddienstübung 
unvermutet bis an den Hals in ein Wasserloch gefallen war. Schwere 
Anfälle in großer Zahl waren die Folge, Sprachlähmungen und andere 
Symptome einer echten Hysterie vervollständigten das Krankheitsbild. 
In diesem Falle war es der unvermutete Schreck, gewissermaßen ein 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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psychischer Schock, der das Leiden auslöste, wobei man eine gewisse Dis¬ 
position des Nervensystems wohl annehmen darf. 

Bei keiner andern Geisteskrankheit oder Neurose ist das aus¬ 
lösende Moment des Krieges so klar ersichtlich wie gerade bei der 
Hysterie. Mit Sicherheit konnte man in vielen Fällen feststellen, daß 
der erste Anfall, das erste andere Symptom nach einer Granatexplo¬ 
sion, einer Verschüttung oder einem andern Zufall eingetreten war. 
Aber auch hysterieartige Krankheitsbilder kommen vor, mit Lähmun¬ 
gen und ähnlichen Erscheinungen, die tatsächlich Ausfallserscheinungen 
sind, denn die Granatexplosionen wirken nicht lediglich als psychischer 
Schock, sie sind als wirkliche Gehirnerschütterungen aufzufassen, die 
Schädigung der Zellelemente des Nervensystems zur Folge haben 
können. Diese Auffassung vertritt v. Sarbo ^-Budapest, wenn er sagt: 
„Der durch Geschoßexplosionen hervorgerufene mächtige Luftdruck 
kann ohne äußerliche Verletzung zu tödlicher Gehirnblutung führen, 
oder es können Läsionen eintreten, die die zytologische Struktur, den 
Zustand von Ganglienzelle und Faser derart beeinträchtigen, daß es 
zu Ausfallserscheinungen kommt“; er nenpt diese Läsionen mikro¬ 
organische Veränderungen. Auch Oppenheim 2 ) mißt dem Luftdruck 
derartige Fähigkeiten bei und nimmt ebenfalls feinere organische Ver¬ 
änderungen an, durch die manches rein hysterisch erscheinende Sym¬ 
ptom eine bessere Erklärung findet; er weist besonders hin auf die Er¬ 
schütterung des vasomotorischen Nervensystems. 

Die konstitutionelle Verstimmung, das Zwangsirresein, das im¬ 
pulsive Irresein und die konträre Sexualempfindung bilden die Gruppe 
der psychopathischen Zustände. Bei keiner andern Seelen¬ 
störung ist man so von Entartung zu sprechen berechtigt wie hier, 
man hat daher auch die Psychopathie geradezu das Entartungsirresein 
genannt. Krankhaft angelegte Persönlichkeiten sind es mit starker 
erblicher Belastung, Zurückgebliebenheit des Körpers und andern 
Bildungshemmungen, die die Träger dieser Psychosen darstellen; 
dauernd krankhafte Verarbeitung der Lebensreize, Widersprüche in 
der Folgerichtigkeit des Denkens, unvermittelte Stimmungsschwan- 

x ) v. Sorbö, Über den sogenannten Nervenschock nach Granat¬ 
explosionen. Wien. klin. Wschr. Nr. 4. 

*) Oppenhain, Über Kriegsverletzungen des peripherischen und zen¬ 
tralen Nervensystems. Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung. 


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Baller, 


kungen und Absonderlichkeiten des Handelns, die den Eindruck des 
Unausgeglichenen, Verschrobenen machen, sind der Inhalt der Krank¬ 
heitsbilder (Kraepelin 1 )). 

Die konstitutionelle Verstimmung ist gekennzeichnet durch eine 
„andauernd trübe Gefühlsbetonung aller Lebenserfahrungen“; die 
Kranken kommen eigentlich von Jugend auf nie zur rechten, unein¬ 
geschränkten Lebensfreude, sie sind mutlos, wankelmütig, unmotiviert 
gereizt, zu Selbstquälereien geneigt und sich und ihrer Umgebung 
eine Last. 

Bei dem Zwangsirresein stehen, wie der Name sagt, Zwangsvor¬ 
stellungen im Vordergrund; Angstgefühle, Grübelsucht, Befürchtungen 
wie Platzangst, Höhenfurcht oder ähnliches mehr sind die Symptome, 
die die Kranken nicht zur Ruhe kommen lassen. 

Obenhin betrachtet, haben beide Krankheitsbilder viel mit den 
chronischen Erschöpfungszuständen gemein, man hat sie daher auch 
geradezu mit angeborener Neurasthenie bezeichnet. Dieser Name ist 
sehr gut gewählt, er enthält die ganze Differentialdiagnose, er gestattet 
auch den besten Ausblick auf die Prognose, die, da es sich hier um an¬ 
geborene und degenerative Vorgänge handelt, naturgemäß viel un¬ 
günstiger sein muß wie bei der erworbenen Neurasthenie. 

Wenn dem nun so ist, so kann der Krieg oder irgendein anderes 
Ereignis niemals das auslösende Moment einer derartigen Psychose 
sein. Nur aggravierend können diejenigen Momente, die in dem 
Vorhergehenden als auslösend oder schädigend angesprochen sind, in 
Betracht kommen. Ich hatte Gelegenheit, 6,8% der Fälle zu beob¬ 
achten; die größte Mehrzahl litt an konstitutionellen Verstimmungen 
und Zwangsvorstellungen. 

Die Krankheitsbilder hatten mit schwereren neurasthenischen 
Erscheinungen viel Ähnlichkeit, die Differentialdiagnose war aus der 
Vorgeschichte jedoch meist nicht schwer. Eine Verschlimmerung 
durch den Krieg war sehr oft nachweisbar, es ist das ja auch erklärlich; 
denn wer schon an Befürchtungen, Platzangst und ähnlichem leidet 
oder dazu neigt, muß in Situationen, wo tatsächlich Grund dazu vor¬ 
liegt, ganz besonders dadurch alteriert werden. 

Was nun schließlich die psychischen Entwicklungshemmun¬ 
gen, den Schwachsinn (Imbezillität) anbetrifft — die Idiotie kommt 


M Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie. 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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nicht in Frage, da ausgesprochene Idioten wohl nicht zur Einstellung 
gelangen, ich wenigstens habe keinen derartigen Fall zu Gesicht be¬ 
kommen —, so spielt der Krieg nur insofern eine Bolle, als er, mehr 
vielleicht wie der Friedensdienst, auf Grund seiner vermehrten An¬ 
forderungen, die er an die Selbständigkeit des Handelns und an die 
Überlegung des einzelnen stellt, Anlaß zur Straffälligkeit der Schwach¬ 
sinnigen wird. 

Wenn ich nach alledem ein Fazit aus meinen Erörterungen ziehen 
darf, so ergibt sich die Tatsache, daß die Strapazen des Krieges einen 
nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entstehung und den Verlauf 
krankhafter Seelenzustände im Heere ausüben. Den besten Angriffs¬ 
punkt finden sie überall da, wo auf Grund erblicher Belastung, ange¬ 
borener Minderwertigkeit und Widerstandslosigkeit des Nerven¬ 
systems sowie unvernünftiger Lebensführung (Alkoholismus, Lues) 
der Boden für geistige Erkrankung vorbereitet ist. Aber auch ein un¬ 
angekränkeltes Nervensystem sind sie zu schädigen imstande; ich 
brauche nur zu erinnern an die Schädigungen der Luftdruckwirkung 
bei Explosionen, die als Gehirnerschütterungen wirken und Gewebs¬ 
veränderungen zur Folge haben können. In welchem Maße nun gar Gas¬ 
vergiftungen, diese neueste Errungenschaft des Krieges, auf Körper 
und Geist wirken, ist mir nicht bekannt, da derartige Kranke nicht 
unter unserem Material vorhanden waren. Vielleicht hat man darüber 
anderswo mehr Erfahrungen sammeln können. 

In der Mehrzahl aller Krankheitsbilder drehten sich die Wahn¬ 
ideen oder Sinnestäuschungen um Kriegsereignisse oder das, was mit 
dem Kriege zusammenhing. Wenn auch als alter psychiatrischer Er- 
fahrungssatz die Tatsache angesehen werden muß, daß auch im Frieden 
epochemachende Ereignisse, aufsehenerregende Erfindungen und ähn¬ 
liches ihre Schatten, wenn ich so sagen darf, in den Wahnideen der 
Geisteskranken widerspiegeln, so beweist doch die häufige Wiederkehr 
von Kriegsereignissen im Wahne zum mindesten die Gewalt der 
Eindrücke. 

Es ist hier und da die Ansicht geäußert worden, die größte Eigen¬ 
tümlichkeit der „Kriegspsychosen“ sei eine gewisse Verwaschenheit 
der einzelnen Krankheitsbilder. Ich kann nach den hier gemachten 
Erfahrungen dem nicht beipflichten. Ich muß unumwunden zugeben, 
daß sogenannte allgemeine nervöse Symptome, Anzeichen der chroni- 


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sehen nervösen Erschöpfung, allerdings bei den meisten Krankheits¬ 
bildern festzustellen waren, was ja auch kein Wunder ist, wenn man 
die Strapazen des Krieges als auslösendes Moment anerkennt. Wenn 
man aber diese lokalisierten Erscheinungen, wie Kopfschmerzen, 
Schwindel, Ohrensausen, Reizbarkeit, Depression und ähnliches, 
herausschält, erhält man so klare Krankheitsbilder, daß man sehr 
viele als Schulfall in jedem Lehrbuche anführen könnte. Ich hebe 
besonders hervor die Epilepsie, die Hysterie und die Dementia praecox, 
von denen ich Beispiele geschildert habe, wie man sie in Irrenanstalten 
so rein nie zu sehen bekommt. 

Ich möchte in Kürze noch zur Frage der militärischen Begut¬ 
achtung Stellung nehmen. 

Es liegt im Sinne des Volkes, bei der Zubilligung von Entschädi¬ 
gungen an Kriegsteilnehmer für erlittene Gesundheitsschädigungen 
nicht allzu engherzig zu sein. Das Vaterland ist gewillt, denen, die in 
seinem Dienste Leben und Gesundheit eingesetzt haben, eine Dank¬ 
schuld abzutragen. Das muß die Richtschnur sein, die jeden Gutachter 
leiten soll, die ihn jedoch nicht verleiten darf, die Vorschriften außer 
acht zu lassen, die die Dienstanweisung Mdf. hinsichtlich der Dienst¬ 
beschädigungsfrage an die Hand gegeben hat: „Dienstbeschädigung 
liegt vor, wenn ein Leiden durch den Dienst entstanden oder durch 
denselben nachweislich verschlimmert ist.“ 

Nur zwei geistige Störungen gibt es, bei denen eine Dienstbe¬ 
schädigung zumeist nicht in Betracht kommt, das sind der Alkoholis¬ 
mus und die psychischen Entwicklungshemmungen. Mit Sicherheit 
kann man behaupten, daß ein Schwachsinn durch den Kriegsdienst 
nicht entstanden oder verschlimmert sein kann. Mit Bestimmtheit 
darf man behaupten, daß Störungen, die auf Alkoholmißbrauch 
zurückzuführen sind, schon lange bestanden haben oder durch Selbst¬ 
verschulden herbeigeführt sind. Bei allen übrigen Erkrankungen kann 
die Möglichkeit nicht von der Hand gewiesen werden, daß sie dem 
Kriege zur Last gelegt werden müssen, ja ist die Entstehung bzw. 
Verschlimmerung manchmal sogar Tatsache. Man wird zwar stets 
von Fall zu Fall zu prüfen haben, wird die allgemein ätiologischen Mo¬ 
mente der einzelnen Psychosen nicht außer acht lassen dürfen und 
wird Nachforschungen anstellen müssen über die geistige Verfassung 
des Erkrankten bis zu seiner Einstellung; haben die Nachforschungen 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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aber ergeben, oder ist aus andern Anzeichen ersichtlich, daß der Kranke 
bis dahin geistig gesund war, so sind die Voraussetzungen für die 
Dienstbeschädigung erfüllt, selbst wenn eine gewisse Möglichkeit an¬ 
genommen werden muß, daß es auch ohne die Einstellung, ohne die 
Strapazen zum Ausbruch einer Psychose hätte kommen können. Als 
bestes Beispiel hierfür führe ich die Paralyse an. Es ist meines Er¬ 
achtens nicht angängig, eine Dienstbeschädigung abzulehnen in Fällen, 
wo eine Paralyse im Dienste manifest geworden ist, wenn auch in der 
Vorgeschichte alle Voraussetzungen (Lues usw.) gegeben sind, die even¬ 
tuell zur Paralyse führen können. Erfahrungsgemäß wirken Gemüts¬ 
bewegungen und körperliche Erschöpfung fördernd auf den Ausbruch 
des Leidens ein, und da sollte man der erhöhten Inanspruchnahme der 
Kräfte im Kriege nicht denselben Einfluß zuerkennen wie im bürger¬ 
lichen Leben? Das wäre inkonsequent. 

Weyert x ) steht allerdings bezüglich der Dienstbeschädigungsfrage 
bei der Dementia praecox im Frieden auf einem etwas ablehnenden 
Standpunkt. Er ist der Ansicht, daß selbst da, wo es durch weit¬ 
gehende Ermittlungen nicht gelingt, das Bestehen des Jugendirreseins 
bzw. deutliche Vorläufer eines solchen bereits für die Zeit vor dem 
Diensteintritt nachzuweisen, Dienstbeschädigung nur dann in Er¬ 
wägung zu ziehen ist, wenn ganz bestimmte, durch den militärischen 
Dienst bedingte Vorkommnisse oder Schädlichkeiten das Jugend¬ 
irresein unmittelbar ausgelöst haben. Allgemeine Schädlichkeiten als 
Überanstrengungen, Witterungseinflüsse, die ganze Unruhe des Militär¬ 
lebens, die geistige Anspannung usw. werde man nie als Ursache gelten 
lassen dürfen. Das mag für Friedensverhältnisse gelten, wenngleich 
ich auch da nicht diesen schroffen Standpunkt ganz teilen kann, im 
gegenwärtigen Kriege in der Heimat, wie an der Front ganz besonders, 
kommen aber ganz andere Verhältnisse in Betracht, die auch Weyert 
gelten lassen wird, ebenso wie andere namhafte Vertreter der Psychia¬ 
trie, unter welchen ich Weygandt 2 ) zitieren will, der sich gerade über 
kriegspsychiatrische Begutachtungen in einem Vortrag unter anderem 
zur Frage der Dienstbeschädigung wie folgt geäußert hat: „Der Be¬ 
griff Kriegsdienstbeschädigung soll gewiß nicht engherzig angewandtwer- 

x ) Weyert, Militärpsychiatrische Beobachtungen und Erfahrungen. 

*) Weygand, Kriegspsychiatrische Begutachtungen. Autorreferat. 
Psych.-neurol. Wschr. Nr. 37/38. 


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den. Auch bei Verschlimmerung eines vorherigen Leidens durch den 
Dienst kann er zur Geltung kommen. Streng theoretisch ist es vielleicht 
schwierig genug, einen Fall psychischer Erkrankung, von Schock- 
und starker Erschöpfungswirkung abgesehen, ohne weiteres als ur¬ 
sächlich bedingt durch den Feldzug anzusehen. Aber auch wenn man 
sich für gewöhnlich selbst bei Paralyse ablehnend verhält, wie es nach 
den bisherigen experimentellen Prüfungen angebracht erscheint, wird 
man doch dazu neigen, den Kriegsstrapazen einen auslösenden Einfluß 
bei luisch Prädisponierten beizumessen. Ebenso ist dies zu bejahen 
bei Manisch-Depressiven, und selbst bei Dementia praecox möchte 
ich dies nicht in Abrede stellen. Ganz zweifellos trifft nicht selten 
für Epilepsie eine derartige Ursache zu.“ Ich pflichte diesen Aus- 
* führungen Weygands vollständig bei, ich möchte dieselben nur noch 
ausgedehnt wissen auf die chronische nervöse Erschöpfung und ge¬ 
eignete Fälle der Hysterie. Bei der Paranoia chronica und dem Ent- 
artungsirresein wird nur eine eventuelle Verschlimmerung bestehender 
Symptome in Frage kommen, aber man wird hier ganz besonders 
scharf prüfen müssen und wird, wenn man nicht den unbedingten 
Nachweis der Verschlimmerung — nur darum kann es sich handeln — 
führen kann, zu einer Ablehnung irgendwelcher Ansprüche kommen. 

Um die traumatische Neurose ist ein lebhafter Meinungsaustausch 
entstanden, es handelt sich um die Frage, ob man sie in dem Sinne, 
wie sie von Oppenheim in die Nomenklatur eingeführt worden ist, 
nämlich als selbständiges Krankheitsbild, weiter diagnostizieren, oder 
ob man sie nach der jeweils im Vordergründe stehenden Neurose be¬ 
zeichnen soll. Oppenheim steht auf dem Standpunkte, den er auch 
in seinem oben schon zitierten Vortrage wiederholt und nach den 
Ergebnissen der jetzigen Kriegsbeobachtungen bestätigt gefunden hat: 
„Es gibt Folgen der psychischen und physischen Erschütterung, die 
den Charakter der Neurosen und Psychosen tragen“, und leitet daraus 
die Berechtigung zur Diagnose der traumatischen Neurose als Krank¬ 
heitsbild sui generis her. Nonne x ) ist der Ansicht, daß es eine durch 
körperliches und psychisches Trauma bedingte charakteristische 
Neurose nicht gibt, denn dasselbe aus hysterischen, neurasthenischen 


*) Nonne, Traumatische Neurose als Folgeerscheinung von Kriegs- 
bcchädigungen. Autoreferat. Psych.-neurol. Wschr. Nr. 33/34, 1915/16. 


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Krieg und krankhafte Geisteszustände im Heere. 


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und hypochondrischen Symptomen kombinierte Krankheitsbild ko mmt 
ebensogut auch ohne Trauma vor. Zweifellos kommt dem körper¬ 
lichen und psychichen Trauma im Kriege eine ganz erhebliche Be¬ 
deutung zu, aber nicht in dem Sinne, daß man darauf berechtigt wäre, 
ein besonderes Krankheitsbild aufzubauen. Wenn es richtig ist, daß 
neurasthenische oder hypochondrische oder hysterische Züge in fast 
allen Psychosen erscheinen können, die die Klassifizierung der Psy¬ 
chose nicht beeinträchtigen, so sehe ich'nicht ein, weshalb man nicht 
ein Krankheitsbild wie die traumatische Neurose nach dem Symp- 
tomenkomplex benennen soll, der im Vordergründe steht, man erreicht 
denselben Zweck und schaltet das Odium aus, das der „traumatischen 
Neurose“ als einer auf Begehrungsvorstellungen basierenden Er¬ 
krankung anhaftet. 

Wie steht es nun mit der Dienstfähigkeit der genesenen Geistes¬ 
kranken ? Die Dienstanweisung schließt alle derartigen Kranken oder 
solche, die einmal an einer Psychose oder Neurose gelitten haben, vom 
Heeresdienste aus. Das mag unter Friedensverhältnissen durchaus 
richtig sein, in gegenwärtigen Zeiten jedoch sollte man nicht so ohne 
weiteres über die genesenen Geisteskranken hinwegsehen. 

Was hindert einen Epileptiker, wohl gemerkt mit seltenen und 
unkomplizierten Anfällen, arbeitsverwendungsfähig zu sein, zumal in 
der Heimat? Wie mancher derartige Kranke steht im bürgerlichen 
Leben voll und ganz im Erwerb, warum sollte er nicht nach Möglichkeit 
beruflich auch als Soldat beschäftigt werden können? Wer eine Er¬ 
schöpfungspsychose überstanden hat oder von einem Anfall des manisch- 
depressiven Irreseins genesen ist, kann im Gamisondienst immerhin 
noch verwendet werden, ja selbst leichtere Fälle von Dementia praecox, 
die sogenannten geheilten Fälle, wären noch zu leichtem Dienste 
brauchbar. 

Felddienstfähigkeit wird jedoch durch jede überstandene Psychose 
und Neurose ausgeschlossen; denn das Feldheer braucht widerstands¬ 
fähige Naturen, deren Nerven allen Anforderungen standhalten. 
Labile Elemente sind eine Gefahr für die Truppe, deren Stoßkraft sie 
hemmen, deren Beweglichkeit sie erschweren. 


Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXIII. 1. 


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Unzulängliche im Kriegsdienst 1 )* 

Von 

Oberarzt Dr. W. Tintemann. 

Seit Ausbruch des Krieges wird von mehr oder minder berufener 
Seite immer wieder betont, daß eine von vielen befürchtete beginnende 
Degeneration des deutschen Volkes, die aus einer Reihe von Vorgängen 
der letzten Jahre und Jahrzehnte mit einer gewissen Berechtigung 
geschlossen werden konnte, unmöglich bestehen könne oder zu be¬ 
fürchten sei. Diese Schlußfolgerung wurde gezogen aus den außer¬ 
ordentlichen Leistungen, die das Volk als Ganzes und der einzelne An¬ 
gehörige des Volkes in einer Zeit der höchsten Anforderungen hervor¬ 
gebracht haben. 

Es muß wohl als verfrüht bezeichnet werden, diesen Satz bereits 
jetzt als eine unumstößliche Gewißheit hinzustellen. Eine 
solche kann erst werden nach Abschluß des akuten Geschehens dieses 
Krieges, wenn es gilt, in friedlicher Arbeit aufzubauen, was zerstört, 
und auszubauen, was an Erfahrungen gesammelt ist. Was dann an 
minder geräuschvoller Arbeit zu leisten sein wird, wird vielleicht 
noch größere und noch höher zu bewertende Anforderungen an die 
geistige Leistungsfähigkeit und Gesundheit des Volkes stellen, und 
erst dann der Dauerzustand wird erlauben, ein einwandfreies Gesamt¬ 
ergebnis zu ziehen'aus alle dem Geschehen, das jetzt nur in einzelnen 
Teilen zu überblicken ist. 

Richtig ist, daß in dieser Zeit im deutschen Volke Höchstleistun¬ 
gen vollbracht sind und vollbracht werden, die kaum denkbar waren. 
Aber Höchstleistungen und Degeneration schließen sich nicht immer 
aus. Auch der Degenerierte kann Höchstleistungen vollbringen, 
namentlich unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse. Aber sie sind 

*) Aus der Provinzial- HeU- und Pflegeanstalt zu Osnabrück, Direktor 
Sanitätsrat Dr. Schneider. 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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vorübergehend. Es fehlt ihm die Stetigkeit in der Verfolgung des 
Zieles. 

Richtig ist ferner der Gedanke, daß der Krieg bei dem gewaltigen 
Umfange, in dem er fast alle Mitglieder des Volkes direkt oder indirekt 
in seinen Kreis zieht, als ein Wägen des ganzen Volkes, als eine allge¬ 
meine Prüfung der Leistungsfähigkeit und Volksgesundheit ange¬ 
sehen werden kann, wie sie bis dahin kaum vorgekommen. Vor allem 
der erwachsene Teil der männlichen Bevölkerung wird in einer Weise 
durchgesiebt, daß man versucht sein könnte, übertreibend zu sagen, 
nach dem Kriege kann jeder erwachsene Mann unter eine Nummer 
eines Schemas untergebracht werden, in dem nicht nur seine körper¬ 
liche Leistungsfähigkeit, sondern auch seine soziale Brauchbarkeit 
festgestellt ist. Es findet hier eine ungeheure Auslese statt. Eine 
Auslese nicht nur in der durch die Eigenart der kriegerischen Handlung 
bedingten, besonders schmerzlich und unheilvoll empfundenen wider¬ 
natürlichen Art, durch die gerade vielfach die tüchtigsten und wert¬ 
vollsten Elemente der männlichen Bevölkerung vernichtet werden, 
sondern auch eine Auslese, die die minderwertigen zum Ziel hat. Sie 
wirkt allerdings in anderer Weise. 

Die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des einzelnen sind 
während der Kriegszeit stark gestiegen, die Reibungflächen erheblich 
vermehrt, die Möglichkeiten, mit der Umgebung in Konflikt zu kommen, 
sind viel größere geworden, und so kommt es, daß ein bei weitem größe¬ 
rer Teil der minderwertigen und unzulänglichen Elemente, d. h. der 
Degenerierten, Psychopathen, endogen Nervösen, Debilen und leicht 
Imbezillen, der moralisch Minderwertigen usw., darunter auch ins¬ 
besondere eine große Zahl von ihnen, die in normalen Zeiten in der 
Menge infolge der größeren Möglichkeit des Ausweichens durch¬ 
schlüpfen, auffallen oder ganz versagen. 

Dieses Versagen findet naturgemäß am häufigsten da statt, wo 
die größten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit gestellt werden, 
d. h. nach Einziehung zum Dienst mit der Waffe, der gerade an diese 
Elemente ganz außerordentliche Anforderungen stellt. Das Unter¬ 
werfen unter die militärische Disziplin schon erfordert einen bestimmten 
Grad von Elastizität, der im höheren Lebensalter, zumal bei Unge¬ 
dienten und nicht Vollwertigen, leicht verloren geht. 

Die Formen, unter denen das Versagen der Unzulänglichen statt- 

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W. Tintemann, 


findet, sind im wesentlichen zwei, die ihrerseits wieder untereinander 
die mannigfachsten Berührungspunkte haben, es sind Verfall in Krank¬ 
heit und das Begehen asozialer bis direkt strafbarer Handlungen (Ver¬ 
fall in Kriminalität). 

Die hier in Betracht kommenden Krankheitszustände können 
im wesentlichen wieder in zwei Gruppen gesondert werden — Über¬ 
gänge sind zwischen beiden auch hier mannigfach vorhanden —, in 
die der Neurosen und Psychosen (bzw. Psychoneurosen). Namentlich 
der Zusammenhang der ersteren mit den Ereignissen des jetzigen 
Krieges, das Anschwellen der Zahl der männlichen Hysteriefälle, das 
Versagen der ängstlichen Neurastheniker und Endogenen usw. ist 
bereits in einer ganzen Anzahl von Veröffentlichungen behandelt 
worden (von Borihoeffer, Gaupp , Hoche , Meyer, Weygandt, Wollen- 
berg). 

Es ist auch bereits darauf hingewiesen, daß bei Erkrankungen an 
Hysterie im Felde durchaus nicht immer eine Disposition nachweisbar 
bzw. vorhanden ist; nach Hoche ist sogar jeder Feldzugteilnehmer bei 
entsprechenden Erlebnissen und Einwirkungen auf seine Psyche 
hysteriefähig. Wenn man berücksichtigt, daß der sichere Nachweis 
von Belastung und Disposition durch anamnestische Angaben schon 
unter normalen Verhältnissen vielfach auf erhebliche Schwierigkeiten 
stößt und zurzeit noch schwieriger ist, wird man jedenfalls die An¬ 
nahme einer dispositionslosen Hysterie streng auf die Fälle beschränken 
müssen, wo die Erkrankung im Felde selbst oder nach Aufenthalt im 
Felde und nach nachweisbaren, besonders ungünstig einwirkenden 
äußeren Momenten, mögen sie akuter oder chronischer Natur sein, 
ausgebrochen ist. Wir sehen aber nicht selten Erkrankungen an 
Hysterie auch bei Leuten nach der Einstellung auftreten, die gar nicht 
bis in die Front gelangt sind, oder bei solchen, die zwar ausgerückt, 
aber noch nicht im Feuer waren, und bei denen anscheinend schon die 
Erwartung der kommenden Ereignisse genügte, um das Krankheitsbild 
hervorzurufen. Je eher nach der Einstellung und je weiter von der 
Front die Hysterie eintritt, eine um so größere Disposition werden wir 
von vornherein und ohne weiteres annehmen dürfen. Gerade bei 
diesen Fällen sehen wir auch jetzt schon gelegentlich „Begehrungs¬ 
vorstellungen“ das Krankheitsbild ungünstig beeinflussen, ganz ab¬ 
gesehen von der vielumstrittenen Frage der Übertreibung und Simu- 


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l'nxnlängiiche im Kriegsdienst. 


04 

lation, die an dem einmal aufgestellten Dogma krankt. daß. wer 
Simulation diagnostiziert, nicht diagnostizieren kann 

Hier handelt es sich zum Teil um Falle, wo nicht nur eine nervöse 
Disposition, sondern schon ausgesprochene Defektzustände voihegen. 
die hysterischen Erscheinungen diesem Defektzustande supraponim 
sind und das Gnmdleiden nun den Erscheinungsformen der sopra - 
ponierten Erkrankung ein eigenartiges Gepräge gibt. "Wir haben bei 
einem Material von rund 400 Fällen, von denen 150 nervöse und psychi¬ 
sche Erkrankungen betrafen, solche supraponierten Hysterien 4 mal 
gesehen, bei zweien von ihnen bildete die Grundlage ein Schwachsinn, 
bei den beiden andern eine anderweitige organische Veränderung im 
Zentralnervensystem. In allen handelte es sich um monosymptomati- 
sche Hysterieformen, bei dreien um mehr oder weniger ausgesprochene 
hysterische Krampfzustände, darunter waren beide Schwachsinnige. 
Der eine von diesen ist bereits von Büscher. dessen Material zum Teil 
der hiesigen Anstalt entnommen ist, im Archiv für Psychiatrie (Bd. 56) 
beschrieben, der zweite bot das folgende Bild: 

V. W., 22 Jahre alt, Maurer von Beruf. Keine nachweisbare Be¬ 
lastung, in der Jugend „gehirnkrank 4 ', Kopfschmerzen und verschiedent¬ 
lich Ohnmachtanfälle, daher unregelmäßiger Schulbesuch. Hat nebenbei 
schlecht lernen können, so daß er im Schulwissen sehr rückständig ist. 
Am 28. Juni 1915 eingezogen, hatte des öfteren Ohnmächten, konnte 
keine größeren Märsche vertragen. Er rückte mit aus, befand sich mehrere 
Monate hinter der Front, auch vierzehn Tage im Schützengraben, ohne 
jedoch ein Gefecht mitzumachen. Bekam dann allerlei nervöse Be¬ 
schwerden, er konnte das „Kanonenschießen“ nicht vertragen und endete 
wegen Schwachsinns und nervöser Beschwerden in einem Feldlazarett. 
Hier zeigte er häufigen Stimmungswechsel und konnte 6x2 nicht aus¬ 
rechnen. Zurücktransportiert, kam er in der Heimat zunächst in die 
Nervenabteilung eines Reservelazarettes, bekam dort Anfälle, in denen er 
Liebesszenen aufführte, bekam einen Anfall, wenn er ein hübsches Mäd¬ 
chen sah. Die Diagnose wurde auf Imbezillität und Hysterie gestellt. Er 
wurde dann im Februar 1916 in ein anderes Lazarett abtransportiert und 
dort gleich wieder im hysterischen Anfall eingeliefert. In der Kranken¬ 
geschichte heißt es darüber: 

Heute bei der ersten Untersuchung ein starkes Zucken mit dem 
Kopfe, die Sprache war langsam, manchmal kaum verständlich, zeitweise 
konnte er kein Wort hervorbringen. Während des Tages lag er leise um 
sich schlagend im Bett, sang plötzlich dazwischen, kommandierte: Ganze 
Kompagnie kehrt!, schimpft dann: Du Franzmann! Bei Erscheinen im 

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W. Time mann. 


Arztzimmer hat er einen leichten Tick mit dem Kopfe, hat Sprach¬ 
störung, starkes hysterisches Rülpsen, ließ sich in einen Stuhl fallen, 
schlug mit dem Arme und Beine um sich; stöhnte dann, atmete schneller, 
dann wieder Phasen, wo er ganz ruhig atmet, in denen er, wenn auch schwer 
verständlich, plötzlich zu singen anfängt: O Straßburg ..., dann typischer 
Are de cercle; das Bewußtsein während des Anfalles war wenig gestört; 
kratzt sich im Ohr; leckt nach Wasser, das man ihm ins Gesicht spritzt; 
auf Aufforderung zeigt er die Zunge, richtet sich auf. Pupillenreaktion 
prompt. Dauer des Anfalls etwa 10 Minuten, klagt nach dem Anfall über 
Kopfschmerzen. Als am 17. März ein schwerer Erregungszustand ein- 
tritt, in dem der Kranke mit Stühlen auf die andern Kranken losgeht, an 
den Betten umherreißt und bei Erscheinen des Arztes tief atmend auf der 
Erde liegt, wird Überführung in die geschlossene Anstalt beantragt. 

Am 13. April 1916 wird W. hier aufgenommen. Er ist ein auffallend 
kleiner Mann mit den Zeichen einer alten Rachitis, der Kopfumfang 
beträgt 56 cm. Es besteht eine Reihe von Degenerationszeichen am 
Schädel. Sensibilitätsstörungen und Lähmungen fehlen, eine Gesichtsfeld¬ 
einschränkung ist bei Fingerversuch nicht vorhanden. Der Gang zeigt 
keine Besonderheiten. Schulkenntnisse und Allgemeinwissen sind außer¬ 
ordentlich gering.* Zählen vorwärts geht, rückwärts nur mit Schwierig¬ 
keiten, Rechenaufgaben werden nur im Bereich bis 10 immer richtig 
gelöst. Die Zahl der Monate des Jahres wird nicht gewußt. Die Monats¬ 
namen sind bekannt. Die Uhr wird richtig gelesen, die Zahl der Stunden 
des Tages mit 9 y t bezeichnet, „sie hätten auf der Werft immer so lange 
gearbeitet“. Schreiben sehr mangelhaft. Über seine frühere Arbeit und 
sein Leben kann er genügend Auskunft geben. Er hat bisher beim Vater 
gewohnt, derselbe hat für ihn gesorgt. 

Am 1. und 2. Tage noch Anfälle, bestehend in krampfartigen Zuckun¬ 
gen der Körpermuskulatur ohne Bewußtseinsverlust. Dieselben ver¬ 
schwinden ohne weitere therapeutische Maßnahme, als daß dem Kranken, 
der dringend bittet, aufstehen zu dürfen, gesagt wird, nach jedem weiteren 
Anfall müsse er 3 Tage Bettruhe halten. Arbeitet seit einer Reihe von 
Wochen regelmäßig auf dem Felde. Sein äußeres Benehmen ist vollständig 
geordnet. Als Ursache seiner Anfälle gibt er Überanstrengung im Dienst 
an, der Dienst bei der Infanterie sei besonders schwer. Er habe auch nicht 
vertragen können, wenn die Vorgesetzten ihn tadelten, er habe Befehle 
und Übungen oft falsch ausgeführt, da er sie nicht verstanden habe. Nur 
wenn er sich aufrege, bekomme er Anfälle. Dem Vorschlag, ihm wieder im 
Zivildienst Arbeit zu verschaffen, steht er vorläufig nicht sehr freudig 
gegenüber. 

Die hysterischen Krampfanfälle, die einzigen Erscheinungen der 
Erkrankung, bauen sich bei diesem Kranken auf auf einem ziemlich 
erheblichen Schwachsinnszustande. Vielleicht darf man weiter an- 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


39 


nehmen, daß eine psychische Infektion dem Bilde die besondere Rich¬ 
tung gegeben hat, jedenfalls sind die ersten Anfalle während des Auf¬ 
enthaltes in einem Nervenlazarett aufgetreten; ob sie Vorläufer in den 
schon früher vorhanden gewesenen Ohnmachtsanfällen gehabt haben, 
ist nicht zu entscheiden. Die Schwierigkeit, den Kranken wieder hinaus 
an die Arbeit zu stellen — er war bis dahin zu einer einfachen selb¬ 
ständigen Arbeit trotz seiner Intelligenzdefekte fähig —, ist nicht 
gering neben dem in der Wirkung auf einen Schwachsinnigen nicht 
zu unterschätzenden Umstande, daß er einmal aus ihr herausgerissen 
ist; kommt er zunächst in eine ungeeignete Umgebung, so ist der Rück¬ 
fall voraussichtlich bald da. 

Der eine der andern Fälle mit aufgepfropften hysterischen Erschei¬ 
nungen hatte die folgende Krankheitsgeschichte: 

X. Y., 42 Jahre alt, im November 1915 als ungedienter Landsturm¬ 
mann eingezogen, Landmann im Zivilberuf. Nicht belastet, in den letzten 
Jahren schwerhörig, auch sollen Gedächtnis, Lesen und Schreiben in dieser 
Zeit schlechter geworden sein. Schon auf dem Transport zu seinem weit 
entfernt liegenden Garnisonort erkrankt „mit Schmerzen überall“. Zu¬ 
nächst 8 Tage Revier-, dann Lazarettbehandlung (16. 12. 15). Diagnose: 
Rheumatismus (zentrales Nervenleiden?). Er gab damals starke Schmer¬ 
zen in der Hüfte an, konnte nicht gehen. In die Heimat zurücktranspor¬ 
tiert, im Heimatlazarett: unsicherer Gang, Erschrecken bei Anrufen, 
Tremor, verstärkte Patellarreflexe. Vereinzelt Angstzustände. Über¬ 
führung in eine Spezialanstalt. Befund dort: Fragliche Pupillenreaktion 
Ataktischer Gang. Diagnose: Organische Gehirnkrankheit. Hysterie. 
Am 28. 3. 16 Überführung in die hiesige Anstalt. Aufnahmebefund: 
Schwerhörigkeit. Sehr enge Pupillen, die nur eine Spur auf Licht reagieren. 
Sehr lebhafte Patellar- und Achillessehnenreflexe. Geschlängelte Schläfen¬ 
arterien, harte Radialis. Benehmen bei der Untersuchung sehr auffallend, 
zuckt zusammen, wenn man ihm mit den Händen zu nahe kommt. Bei 
Prüfung der Patellarreflexe zuckt er bereits vorher mit den Beinen. Klappt 
mit den Augen, reißt sie auf, blinzelt. Das Ganze wirkt sehr theatralisch. 
Beim Aufstehen knickt er in den Knien ein, torkelt hin und her, klammert 
sich überall an, geht schwankend ganz nach vorn übergebeugt. Der Gang 
bessert sich bei energischem Zureden. Bei einfacher Bettruhe schwindet 
die Störung innerhalb einiger Tage fast völlig; der Kranke geht zunächst 
nur noch ein wenig nach vorn übergebeugt, zuckt noch bei Berührungen 
zusammen. Bereits am 19. 4. kann er völlig Symptom- und beschwerde¬ 
frei entlassen werden. Bestehen blieb nur die minimale Lichtreaktion der 
Pupillen. 

Bei dem ganzen Symptomenbilde des vorstehend geschilderten 


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W. Tintemann, 


Falles hatte man zunächst den Eindruck einer gewaltigen Übertreibung. 
Die Überlegung des sicheren Vorhandenseins einer beginnenden organi¬ 
schen Veränderung im Gehirn ließ uns dann doch schließlich eine auf- 
gepfropfte hysterische oder besser psychogene Störung annehmen, 
die ihr eigentümliches Gepräge durch das Grundleiden, dessen Art 
nicht ganz sicher ist (Arteriosklerose ?), erhalten hat. Daß das hysteri¬ 
sche Krankheitsbild durch einen komplizierenden Defektzustand 
manchmal ein gewisses — man möchte sagen schwachsinniges — Aus¬ 
sehen erhält, haben wir des öfteren gesehen. (So schrie ein schwach¬ 
sinniger Hysteriker unserer Beobachtung im Krampfanfall immer: 
Papa, Papa!) Wenn hier im Laufe derZeit ein stärkeres Hervortreten 
der durch die bereits längere Zeit bestehende organische Gehirn¬ 
erkrankung hervorgerufenen Beschwerden stattfindet, wird aller 
Voraussicht nach — wenn nicht schon vorher — die Rentenfrage 
akut werden. 

Zu der bereits erwähnten ungeeigneten Umgebung kann in 
diesen Fällen auch die Familie gehören, nicht nur insofern, als der 
Kranke unter Umständen als der Empfänger einer Rente geschätzt 
wird, sondern auch indem seinem Leiden ein zu großes Gewicht bei¬ 
gelegt und er entsprechend verzärtelt wird. 

In dem zweiten der vorstehend erwähnten Fälle, der mehrfach 
wegen seiner Krämpfe von der Truppe längere Zeit nach Hause beur¬ 
laubt war, hatte man den Kranken keinen Schritt allein gehen lassen, 
„er war so schwach, daß er keinen Korb mit Eiern tragen konnte“. 
Als er ins Lazarett kam, brauchte er geraume Zeit, um sich aus den 
verschiedenen Lagen von Wolle herauszuwinden, in die ihn die elter¬ 
liche Liebe sorgsam eingewickelt hatte. Er selbst war dadurch von 
seiner schweren Erkrankung bereits so überzeugt und durchdrungen, 
daß es geraumer Zeit bedurfte, um ihn zu leichter Arbeit zu erziehen. 
Die Hysterie war mit Liebe gezüchtet worden. Für diese Formen der 
Erkrankung kann auch unter Umständen eine ungeeignete Art der 
Behandlung schädigend wirken; ich erinnere hier an die namentlich 
in den ersten Monaten bei allgemeinen Klagen öfter gestellte Diagnose 
des Rheumatismus mit langdauernder, meist erfolgloser Behandlung 
bis zu Moor- und Fangobädern, während sich darunter nicht selten psy¬ 
chogene bzw. hysterische Zustände verbergen. Ein Landwehrmann kam 
hier ins Lazarett, nachdem er ungefähr 3 Tage nach der Mobilmachung 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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schon vor dem Ausrücken mit allgemeinen Symptomen — „Magen¬ 
leiden“ — erkrankt und fast 8 Monate in kleineren Heimatlazaretten 
behandelt war ohne jeden Erfolg, er litt an einer schweren hysterischen 
Asthenie mit ausgeprägter Willensschwäche und wies mit Vorliebe 
jeden nun erfolglosen Versuch, seinen Zustand zu beeinflussen, damit 
zurück, daß er auf eine Ansichtskarte hinwies, auf der ihm eine 
Schwester bestätigte, daß er Anfälle habe. 

Alle diese Punkte dürften meiner Meinung nach auch dafür 
sprechen, möglichst nie Hysterische von vornherein mit einer Vollrente 
zu entlassen, sondern die Rente möglichst niedrig zu bemessen, denn 
nach der Rente beurteilen unter anderem der Kranke und vor allem 
die Angehörigen die Schwere des Krankheitszustandes, und eine hohe 
Rente wirkt hier geradezu suggestiv bei diesen Kranken. Auf diesen 
Punkt, möglichst niedrige Festsetzung der Rente bei hysterischen Zu¬ 
ständen, Ist schon von anderer Seite aufmerksam gemacht worden 
(Lewandowsky, Weygandt). 

Daß im übrigen gerade bei diesen Kranken gelegentlich „Be- 
gehrungsvorstellungen“ auftreten, ist verständlich und kann auch 
wohl jetzt schon nicht mehr bezweifelt werden, wenn auch im allge¬ 
meinen angenommen wird, daß sie verhältnismäßig selten sind (Wey¬ 
gandt: nur ausnahmweise) und eine Häufung erst nach Friedens¬ 
schluß zu erwarten ist, wenn die Kriegsangst wegfällt und die Rente 
winkt (Oaupp). Sie treten bei derartig disponierten Individuen sogar 
jetzt gelegentlich hervor, die gar nicht einmal die Strapazen des Feld¬ 
zuges kennen gelernt, sondern noch in der Ausbildung begriffen sind. 
So haben wir einen Hysteriker gesehen, der bereits mehrere Jahre vor 
der Einstellung Krampfanfälle gehabt hatte, trotzdem eingestellt war 
und später Rentenansprüche erhob: 

K. L., Arbeiter, 25 Jahre alt. Mit 17 Jahren Fall und Kopfver¬ 
letzung mit Bewußtlosigkeit. Seit 1912 in längeren Pausen Serien von 
Anfällen, jedesmal 2—3 Tage lang hintereinander. Im November 1914 
eingezogen, auch im Dienst bis zum 18. März wiederholt Anfälle. Kam 
zur Beobachtung ins Revier und dann ins Lazarett, hier Häufung der An¬ 
fälle, schließlich Erregungszustand, nach seiner Angabe, weil er sich 
über das Ausbleiben seiner „Braut“ aufregte. Mit der Diagnose Epilepsie 
in die Anstalt. Hier stellten sich die Krampfanfälle als typische, große, 
hysterische Anfälle heraus. Es bestand eine hysterogene Zone auf dem 
Scheitel, wo sich eine Narbe, angeblich von dem früheren Fall herrührend. 


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W. Tintemann. 


befand. Druck auf diese Stelle war empfindlich und löste jedesmal einen 
großen Anfall mit Zuckungen und arc de cercle aus. Die Anfälle traten 
gewöhnlich nur bei Bettlage auf. 

Der Rentenanspruch wurde im Gutachten abgewiesen. 

Ein anderer Kranker des Lazaretts, Landsturmmann, Ende der 
30er Jahre, seit einiger Zeit eingezogen und in der Ausbildung, kam in das 
Vereinslazarett der Anstalt mit der Diagnose eines hysterischen Anfalls. 
Eine besondere auslösende Ursache lag nicht vor. Er zuckte rhythmisch 
mit Armen und Beinen. Man mußte sich fast Gewalt antun, um in dem 
Zustande noch den hysterischen Anfall und nicht die verpönte Über¬ 
treibung zu sehen. Der Anfall wiederholte sich nicht, aber als der Kranke 
aufstehen sollte, hinkte er gewaltig mit dem einen Bein und gab an, jetzt 
darin große Schmerzen zu haben. Irgendein objektiver Befund war nicht 
zu erheben. Der Kranke war ein kleiner, blasser Mann, den Grund seines 
Leidens suchte er darin, daß er bei seinem Alter für die Anstrengungen 
des Dienstes zu schwach sei. Sensibilitätsstörungen und sonstige ausge¬ 
sprochene hysterische Stigmata fanden sich nicht. Bei gebessertem Zu¬ 
stande nach einiger Zeit als arbeitsverwendungsfähig entlassen, kam er 
bereits am zweiten Tage wieder herein in dem gleichen Anfall wie das 
erste Mal. Auch diesmal wiederholte sich der Anfall nicht. Es wurde ver¬ 
sucht, leichte Arbeitstherapie anzuwenden. Schon beim Gartenfegen hörte 
der Kranke nach kurzer Zeit immer wieder auf, erklärte, zu schwach zu 
sein. Er sollte dann entlassen werden, gab darauf an, er würde wohl 
seinen Beruf — er war Zigarrensortierer! — nicht mehr ausüben können. 
Er ist dann in ein anderes Lazarett verlegt, was schließlich aus ihm ge¬ 
worden ist, weiß ich nicht. 

Es mag ohne weiteres zugegeben werden, daß der Kranke durch die 
seinem Alter und seinem Beruf ungewohnten körperlichen Anstrengungen 
in gewisser Weise aus dem psychischen Gleichgewicht geworfen war und 
auf sie mit hysteriformen Beschwerden reagierte. Seine Angaben über 
Arbeitsunfähigkeit waren aber entschieden, zumal bei seinem Beruf, der 
hier nur geringe Anforderungen stellte, unberechtigt und zu weitgehend. 
Es fehlte ihm, wie schon der Versuch mit Arbeitstherapie zeigte, der 
Wille und Antrieb zur Aufnahme der bürgerlichen Arbeit (Gaupp). 

Ich habe vorübergehend noch einige ähnliche Fälle gesehen, 
darunter einen, der mit einem ganzen künstlichen Apparat zur Stützung 
seiner Wirbelsäule ankam und, wenn man die Finger seinem Bücken 
auf 10 cm näherte, über heftige Schmerzen klagte. Es gibt nur wenige 
von diesen Zuständen, die man nicht unter den kautschukartigen 
Begriff der Hysterie, die zurzeit in gewisser Weise an den alten Begriff 
der Dementia praecox in der Psychiatrie, den großen Topf, in den alles 
hineingeworfen wurde, mit dem man nicht fertigwurde, erinnert, und 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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der Psychogenie unterbringen kann, schon ist der Satz aufgestellt, 
daß es fließende Übergänge von der Hysterie zur Simulation gäbe, 
hoffentlich wird dieser Satz nicht noch erweitert. 

Weygandt redet an einer Stelle von den geradezu „infantilen 
Zügen in der Psyche eines großen Teiles unserer Verwundeten“, diese 
infantilen Züge finden sich nicht nur bei den Kriegsverletzten und 
-beschädigten, sondern in der Psyche des Volkes überhaupt in einem 
größeren Maßstabe, als man im allgemeinen zurzeit anzunehmen 
geneigt zu sein scheint. Das Denken namentlich der ländlichen Be¬ 
völkerung weist viele egozentrische, naiv-kindliche Züge auf, aus ihnen 
ergibt sich meiner Meinung nach auch eher ein psychologisches Ver¬ 
ständnis wenigstens für einen Teil der als unsozial empfundenen 
Handlungen, unter denen zurzeit die Allgemeinheit zu leiden hat, 
wie Hamstern, Zurückhaltung von Nahrungsmitteln usw., als wenn 
man in jedem Bauern, der seine Kartoffeln falsch angibt, einen berech¬ 
nenden Verbrecher am Volke sieht. 

Solche Erkenntnis ist aber wichtig, weil nach dem Maßstabe, den 
man hier anlegt an eine Psyche, auch die Mittel gewählt werden müssen, 
mit denen auf sie eingewirkt wird. Zu diesen psychisch wirkenden 
Mitteln gehört aber eben auch die Rente. Sie ist kein indifferentes 
Mittel und wirkt um so einschneidender, je unzulänglicher und labiler 
die Psyche des Empfängers ist. Gewiß soll bei ihrer Festsetzung mög¬ 
lichst human vorgegangen werden. Dabei darf aber nicht von dem 
Gesichtspunkt ausgegangen werden, daß die Vollrente die wirklich 
humanste Maßnahme gegenüber dem Nervösen darstellt, der im Dienste 
des Vaterlandes geschädigt ist. 

Er muß auch im eigensten Interesse dahin gebracht werden, daß 
er das, was ihm an Arbeitskraft geblieben ist, anzuwenden und auszu¬ 
nutzen lernt. Daran verhindert ihn, wie die Verhältnisse nun einmal 
gerade bei Labilen liegen, nicht selten die Vollrente und die Furcht, 
sie auch bei nur bescheidener Betätigung zu verlieren. Dem muß 
dadurch entgegengearbeitet werden, daß man diese Kranken so stellt, 
daß sie von vornherein sich gewöhnen, mitzuarbeiten an ihrem 
Lebensunterhalt. Weygandt betont auch, daß es notwendig ist, gegen¬ 
über diesen hysterischen Beschwerden und Rentenansprüchen recht¬ 
zeitig mit Geschick und Bestimmtheit einzugreifen, d. h., sich auch 
schon jetzt über die Sachlage und ihre Behandlung klar zu werden 


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W. Tintemann, 


gegenüber dem „geradezu lawinenartigen Anschwellen der Renten¬ 
sucht“, die nach dem Ende des Krieges zu erwarten steht. Dahin 
gehört auch der bereits bei Unlallkranken früher viel erörterte Vor¬ 
schlag der Kapitalabfindung für die funktionellen Kriegsneurosen 
(JoUy). 

Daß es zu einer erheblichen Zunahme der nervösen Erkrankungen, 
darunter vor allem der männlichen Hysterie, unter dem Einfluß der 
außerordentlichen Anforderungen des Krieges, gekommen ist, stehr 
schon jetzt fest, der Beweis ist ja namentlich auch für die Hysterie 
leicht zu erbringen. Eine Zunahme ist sicher auch bei den Erkrankun¬ 
gen an Psychosen vorhanden, wenn auch Zahlen noch nicht feststehen 
und sie wohl sicher nicht so erheblich ist, wie man auf Grund der 
wachsenden Zahl von Aufnahmen in die geschlossene Anstalt in der 
letzten Zeit anzunehmen geneigt sein könnte. In den letzten großen 
Kriegen (vgl. 1870/71) ist eine Zunahme der Zahl der Geisteskranken 
für die dem Kriege folgenden Jahre festgestellt worden, vielleicht 
fällt diese Erhebungszacke diesmal bei der langen Dauer des Krieges 
und seinen immensen Anforderungen bereits in die Kriegszeit hinein, 
statt zu folgen. 

Es wird auch notwendig sein, bei einer späteren Statistik überall 
der Vorgeschichte dieser Krankheiten nachzugehen, genauer nach¬ 
zugehen, als es zurzeit vielfach geschieht und möglich ist, wenn man 
feststellen will, wie hoch der Prozentsatz ist, in dem in Wirklichkeit 
der Krieg und seine Begleiterscheinungen die Ursache für den Ausbruch 
der Seelenstörung sind. Das Resultat wird sich dadurch aller Voraus¬ 
sicht nach verschieben, und zwar im günstigen Sinne. 

Naturgemäß konnten bei dem großen Bedarf an Mannschaften 
bei der Musterung nicht die gleichen Anforderungen an die Verwen¬ 
dungsfähigkeit gestellt werden wie in Friedenszeiten, die Ansprüche 
mußten herabgesetzt werden, dazu war es unmöglich, das Musterungs¬ 
geschäft mit derselben zeitraubenden Vorbereitung und peinlichen 
Genauigkeit durchzuführen wie in Friedenszeiten, so kam eine ganze 
Reihe von unzulänglichen Elementen ins Heer, von denen eine Anzahl 
so labil und aufgebraucht war, daß sie, wenn sie nicht zufällig dem 
Heeresdienst einverleibt wurde, mit großer Wahrscheinlichkeit auch 
sonst später bei einer andern Gelegenheitsursache psychisch zusammen- 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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gebrochen wäre, während andere bereits in der Entwicklung einer 
Geisteskrankheit begriffen oder auch schon geisteskrank waren. 

Diese letzteren sind offenbar durchaus nicht immer gleich auf¬ 
gefallen. Ich habe bei einem relativ kleinen Material mehrere gesehen, 
die trotz einer sicher bestehenden Psychose schwere Strapazen und 
Gefechte mitgemacht haben, bis manchmal bei einer Zufallsgelegen¬ 
heit ihre Krankheit an den Tag kam. Das Unruhige, Wechselvolle des 
Krieges, in dem das Tun und Treiben des einzelnen namentlich im 
Anfang oft verschwand, ist für einzelne von ihnen ein gar nicht unge¬ 
eignetes Milieu. Am lebhaftesten steht mir hier immer ein an einer 
vorgeschrittenen Dementia paranoides leidender Kranker vor Augen, 
der, ein mehrfacher Brandstifter und wegen seiner Geisteskrankheit 
entmündigt, was wohl nicht bekannt gewesen sein wird, es trotzdem 
fertiggebracht hatte, ins Feld zu ziehen: 

X. Y., Ende der 20er Jahre stehend, in der Jugend Zwangszögling, 
wurde, nachdem er aus der Schule entlassen, zu einem Meister in die Lehre 
gegeben, dem er das Haus anzündete. Zu einer längeren Freiheitsstrafe 
verurteüt, erkrankte er im Gefängnis mit Wahnideen im Sinne der Ver¬ 
folgung und wurde auf Wunsch seiner Angehörigen ungeheilt zu ihnen ent¬ 
lassen. Er hat die ganzen Jahre unter Verfolgungs\orstellungen gestanden, 
arbeitete aber bald hier bald dort, heiratete, versuchte 1913 seine Woh¬ 
nungseinrichtung in Brand zu stecken und wurde, nachdem das Verfahren 
wegen seiner Geisteskrankheit eingestellt war, entmündigt. Trat nach 
Ausbruch des Krieges in das Heer ein, machte mehrere Monate den Feldzug 
mit, wurde auch einmal verwundet, kam wegen körperlicher Erkrankung 
zurück in ein Heimatlazarett. Hier wurde man auf ihn aufmerksam, 
als ein Schutzmann, der ihn kannte, ihn als einen Simulanten bezeichnete. 
Er schrieb dann mehrere Briefe voll Wahnideen und wurde nach Beob¬ 
achtung hier entlassen. Daß er während seiner Dienstzeit immer alle Ge¬ 
bote der Ethik streng befolgt hat, möchte man bezweifeln. Jedenfalls 
wurde er, als er zur Beförderung in die Heimat aus unserem Lazarett ab¬ 
geholt wurde, von seinem Bettnachbar verfolgt, der heftig ein Paar mit¬ 
genommener Strümpfe mit Erfolg als sein Eigentum reklamierte. Psy¬ 
chisch bestanden bei dem Mann ausgesprochene geistige Schwäche und 
Wahnvorstellungen im Sinne des Verfolgtseins. 

Daß Psychosen mit so weit vorgeschrittenen und ausgesprochenen 
Krankheitsbildern sich lange Zeit halten, wird natürlich ein seltener 
Fall sein. öfter wird das stattfinden bei Psychosen im Beginn, und 
zwar namentlich bei Erkrankungen vom Bilde des Jugendirreseins, 


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46 • % Tnitem^an. 

die ja in ihren ersten Anfängen vielfach nicht?, bieten ais eine gewi>- 
Unstdhdt, die erst zuriiekscdia tumd at* krankhaft erkannt :'WirtL 

fv> haßen vir zurzei t einen so >i--: p.*rot de* 4uger-.; 

Irreseins leidenden i*n Fehle «var 

Über ihn ist ao&rtVhestisoft z\t t+riahrep, ' .1 

ab daß er liit - . [eizteii zw>m .lainv vor.dem Kriege auffaJiej^iä haubg itib* 
Hhnai) dre Stellung \Y«disdir.v r pflegt j*izl sem früheres V&ra&geh lach-'h' -. 
hyit d«ti IdäÄsisschnu Werten, iü,. begründen? Handel und ^"nndei stociü 
Der Bngitm der ßrkrmfcung wird sfed ite 

‘ ,.ük ;' leget* sei»r ■ . : ; ’. .C '; 

Gerade bei Erkrankungen von Kriegsteilnehmern im den W - ,V:j 
sehiedewui Formen d«>- Jugendim-sehus wird man verhäitnismäüiff ob 
in die Luge k<*r«rnen. nVh die Frag«: vnrsmlegen, «b ein sp>:fzieiior Krank 
heitsiaU mssehlmßlich Kxiegdolge ist. Dies wird um io> mehr dr 
Fall M ia, je mehr man gehegt ist-, diese- Erkrankung imbeaehadjll aüer 
Ergebnisse der Fiirath uflgen über innere Sekret,hm 'and Fer;m««te ft» 
eine Anf itraüi'bsf 'rkrankinig des Zeatrahiervensystems in Kerl teil, di* ; 

Um &o früher und upi ««> Jdebtkr zum Ausbruch kommt, je größer da* 

der fieismugsikhigkeit des minder svortyi? 
*m\tm Aiidd«ü ’ate »lasselbe |estedten Aöfordertütgeb ist. ÄuJßeft 
Momente verdienen, «eben der• Disposition Auf jeden .Fall «ne Bc-rikV 
siehtigimg. sie dürfen auch hi^it nibler seh&i&i werdea, f Aufg*fatUftn 
ist rnür. jedeufalls, daß sieh watet demallw^mgs ftiafet .s*hr $|fbp®v 


.Material ujiserer Anstalt: m\ 

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nzaiil junger Ke-krnten and 

eine Heike von ^pöffornieii 

befinde, u 

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stehen verdanken. 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


47 


sein. Gerade einem Teil von ihnen auch mit ihrer Unruhe und Unstet- 
beit liegt in gewisser Weise das Milieu. Persönlicher Mut fehlt ihnen 
meist nicht. Ob der Kriegsdienst ihnen genützt oder geschadet hat, 
ob sie für die Dauer durch ihn gelernt haben, sozial zu denken und zu 
handeln, wird erst der Frieden ergeben. 

Auf jeden Fall sind unter Umständen auch im Heeresdienst, wo 
sie sich freier und selbständiger bewegen können und müssen, für sie 
Gefahren vorhanden, die etwa vorhandenen alten unsozialen Neigun¬ 
gen Vorschub leisten können. Zwei Beispiele seien hier angeführt: 

M. N., 20 Jahre alt, Fürsorgezögling. Vater Trinker, Mutter lieder¬ 
lich. Die Ehe der Eltern ist geschieden, beide Teile sind für schuldig erklärt. 
Beim Vater aufgewachsen. Nach der Konfirmation 1909 in eine Bureau¬ 
stellung gebracht, führte sich anfangs gut, begann 1911 zu bummeln, 
schwindelte seiner Großmutter 100 M. ab. Später stahl er ihr erneut 70 M. 
und fuhr mit einem Kollegen nach einer Großstadt. Als er, polizeüich zu- 
r^ückgebracht, nochmals 50 M. erschwindelte, wurde das Fürsorgeverfahren 
eingeleitet, zunächst auf Veranlassung des Vaters aber nochmals der 
Versuch gemacht, N. in einer Stellung unterzubringen. Die Folge ist, 
daß er der Großmutter nochmals 800 M. entwendet und erneut entweicht. 
# Er wird nun in einer Fürsorgeanstalt untergebracht und am 3. 1. 13 von 
dort aus bei einem Meister in die Lehre gegeben. Nach 4 Monaten ent¬ 
weicht er wieder mit der geliehenen Taschenuhr seines Meisters und 6 M. 
Nachträglich wird noch bekannt, daß er kurz vorher zusammen mit 
andern Lehrlingen einen betrunkenen Mann auf der Straße liegen fand. 
Er schaffte ihn mit Hilfe seiner Begleiter in einen naheliegenden Schuppen, 
schickte dann die anderen fort, „damit der Mann nicht gestört würde“, 
und ging noch einmal zu ihm. Am andern Morgen fehlten dem Manne 
60 Mark. 

Im Juli 1913 wiedergefaßt, wird er in der Anstalt selbst beschäftigt 
und führt sich gut. Im Jahre 1914/15 wird er verschiedentlich wegen einer 
eitrigen Knochenhautentzündung am Arm behandelt. Am 17. 5. 15 
wird er zum Militärdienst eingezogen und schreibt gefühlvolle Briefe an die 
Anstalt aus der Garnison. Im Nationale wird seine müitärische Führung 
als gut bezeichnet. 

Bereits am 12. 6. 15 wird er wegen erneuter Entzündung am rechten 
Unterarm dem zuständigen Garnisonlazarett zugeführt, nach einiger Zeit 
entlassen, wegen derselben Erkrankung nochmals aufgenommen, wieder 
entlassen, ohne daß völlige HeUung eingetreten. Er wohnte in den Zwi¬ 
schenzeiten anfangs in der Kaserne, konnte ausgehen, wann er wollte, 
nur abends um 6 Uhr mußte er sich melden. Ende November mietete er 
sich ein Privatquartier. Im September, nach dem ersten Lazarettaufent¬ 
halt, war N. auf Urlaub zu Hause gewesen und hatte sich mit der früher 


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W. Tintemann, 


von ihm bestohlenen Großmutter versöhnt, indem er Reue vorgab. Diese 
Versöhnung benutzte er in der Folgezeit, um erneut Schwindeleien zu 
begehen. Er brauchte Geld, um sein Privatquartier — er aß auch privat, 
verkehrte mit einem Millionär — zu bezahlen. Er schrieb der Gro߬ 
mutter zunächst, daß ihm sein Waffenrock gestohlen sei und er ihn ersetzen 
müsse. Dann schrieb er, daß sein Arm amputiert werden solle, daß sich 
aber ein Arzt in X. verbürgen wolle, ihn bei privater Behandlung zu er¬ 
halten. Er schickte gefälschte Quittungen ein, darunter eine für Röntgen¬ 
behandlung. Endlich „erbat“ er Geld für Privatunterricht, den ihm seis 
Pastor verschafft habe. Er erhielt in allen Fällen die gewünschte Summe- 
die von ihm geschriebenen Briefe sind außerordentlich gewandt und raffi¬ 
niert verfaßt, und die Großmutter, die wieder sein Ausbeutungsobjekt wurde, 
sehr alt; im ganzen bekam er fast 1000 M. Im Januar kamen die Verwandten 
hinter die Schwindeleien, sie wandten sich mittels der Fürsorgeanstalt an 
das Regiment. Ein Onkel schrieb gleichzeitig einen Brief an N., er möge 
veranlassen, daß er wieder in die Kaserne komme. N. verbrennt den 
Brief sorgfältig, pumpt sich Zivilzeug von einem mit ihm zusammen¬ 
wohnenden Kameraden und reißt aus. Unterwegs schmückt er sich mil 
zwei Ordensbändern und erschwindelt sich, wenn ihm das Geld anfängt 
knapp zu werden, solches, indem er an die Ehefrauen von bekannten 
Männern, die im Felde stehen, um Geld telegraphiert, vorgebend, daß der 
betreffende Ehemann, auf der Urlaubsreise zur Familie begriffen, festsitze.* 
da ihm das Geld ausgegangen. Bei der dritten derartigen Schwindelei 
wird er verhaftet, da die bereits einmal geprellte Ehefrau zufällig gleich¬ 
zeitig einen Brief von ihrem Mann aus Belgien erhält. 

N. gibt nach der Verhaftung die genauen Einzelheiten seiner Reise 
und Taten an, auf den Gedanken zu diesen Schwindeleien sei er gekommen, 
weil er ähnliches früher einmal unter „Gerichtssaal“ gelesen habe. Nach 
kurzer Haft erkrankt er zweimal mit schweren, kurzdauernden Dämmer¬ 
zuständen. Die während seiner Dienstzeit erschwindelten Gelder hat er 
für gutes Essen und Trinken, Logis, Ullsteinbücher, Gitarre usw. aus¬ 
gegeben. 

N. wurde seinerzeit in einem schnell abklingenden Dämmerzustände 
in die Anstalt aufgenommen. Er bot später keine Zeichen einer Geistes¬ 
krankheit, keine Intelligenzdefekte, hatte aber ein außerordentlich labiles 
Gefäßsystem und eine große affektive Anspreehbarkeit. Er ist ein zuvor¬ 
kommender, fast schüchterner, blasser Mensch, hinter dem man nie den 
raffinierten Schwindler vermuten würde. Anhaltpunkte dafür, daß er 
seine Tat in einem krankhaften Zustande, der die Bedingungen des § 51 
StGB, erfüllte, begangen, ließen sich nicht finden. 

Wir haben hier einen ausgesprochen degenerierten Psychopathen 
vor uns. der schon mit 16 Jahren schwere asoziale Eigenschaften offen¬ 
barte, offenbar zurzeit auf dem besten Wege zum Hochstapler ist und 
vermutlich in der Irrenanstalt enden wird. In Friedenszeiten wäre er 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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voraussichtlich gar nicht in das Heer eingestellt worden. Ob bei seiner 
Musterung und Diensteinstellung die Militärbehörde auf seine Vorge¬ 
schichte aufmerksam gemacht ist, geht aus den Akten nicht hervor. 
Jedenfalls haben in der Folgezeit eine Reihe von Momenten, die sich viel¬ 
leicht wenigstens zum Teil hätten ausschalten lassen, seinen Neigungen 
ungewöhnlichen Vorschub geleistet. Es sind das der lange Lazarett¬ 
aufenthalt, der zurzeit manche Gefahren in sich birgt, vor allem aber das 
fast aufsichtlose Nichtstun. N. hat überhaupt fast keinen Dienst getan, 
„er konnte ausgehen, wann er wollte“. So kam er nach der strengen Auf¬ 
sicht in der Fürsorgeanstalt bald ins Bummeln, der Wunsch, es andern 
gleich zu tun können, mag auch mitgespielt haben, die alten Neigungen 
wurden wieder lebendig. 

Manche Schwierigkeiten in der Beurteilung machte der zweite Fall, 
der ähnlich lag, auch bei ihm handelte es sich um kriminelle Handlungen 
und ihre Beurteilung. Ich gebe die Krankengeschichte so, wie die einzelnen 
Tatsachen nacheinander bekannt wurden. 

Am 5. April wurde der am 26. 1. 91 geborene Gefreite X. Y. in die 
Anstalt aufgenommen mit einem ärztlichen Zeugnis, daß er an Dementia 
praecox leide. Sein Zustand habe sich in der letzten Zeit sehr verschlim¬ 
mert. Er — Inhaber des Eisernen Kreuzes erster Klasse — führe Be¬ 
trügereien aus, werde dadurch gemeingefährlich und bedürfe der Unter¬ 
bringung in einer geschlossenen Anstalt. Von seiner Vorgeschichte war 
zunächst bekannt, daß seine Eltern gestorben, er selbst nie ernstlich krank 
gewesen sei. Er war seit Oktober 1912 aktiver Soldat, im August 1914 
ins Feld gerückt. Er war durch einen Granatsplitter am Hinterkopf ver¬ 
wundet worden, der Knochen war verletzt, eine Hirnverletzung war aber 
nicht eingetreten (März 1915). Am 3. Mai war er nach Heilung der Wunde 
wieder als felddienstfähig zu seinem Truppenteil entlassen. 

Y. war ein sehr tüchtiger Soldat und hat sich im Felde so hervor¬ 
getan, daß ihm mehrere Kriegsauszeichnungen, darunter das Eiserne Kreuz 
erster Klasse, verliehen wurden. Er wurde am 29. 1. 15 zum Gefreiten 
befördert, Unteroffizier ist er trotz seiner hohen Auszeichnungen nicht 
geworden. Im Oktober 1915 ließ er sich auf seinen Wunsch, um weiter¬ 
zukommen, zu einer Gebirgs-Maschinengewehrabteilung versetzen. Dort 
versagte er und kam am 11. 12. 15 ins Lazarett, nachdem er einige Zeit 
vorher ein eigentümliches Benehmen gezeigt und sich in den letzten Wochen 
Unregelmäßigkeiten im Dienst hatte zuschulden kommen lassen. Man 
hatte den Eindruck, als ob er krank sei. Im Lazarett klagte Y. über Kopf¬ 
schmerzen, gab an, beim Gehen öfter unsicher zu sein, hatte Aufträge 
vergessen. 

Er kam am 3. 1. 16 in die Beobachtungsabteilung eines Speziallaza¬ 
rettes. Hier gab er an, daß er mit 9 Jahren in Fürsorgeerziehung ge¬ 
nommen, mit 15 Jahren ins Waisenhaus gekommen sei und bis zum 
21. Jahre in Erziehung blieb. Er habe in S., wohin er sich hatte versetzen 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIIL 1. 4 


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50 


W. Tintemann, 


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lassen, Schwierigkeiten gehabt, und er glaube, daß der Feldwebel den 
Hauptmann beeinflußt habe, ihn nicht zu befördern, so habe er die Lust 
verloren, er habe immer mehr beobachtet, daß man einen Grund suchte, 
um ihn zu schikanieren. Die Unteroffiziere beachteten seinen Gruß nicht. 
Man sprach stets über ihn, er fühlte sich immer mehr beeinträchtigt. 
Schließlich sprachen die Unteroffiziere davon, er habe den Größenwahn. 
In der Aufregung habe er sich Unregelmäßigkeiten zuschulden kommen 
lassen. Er bekam Kasernenarrest und wurde schließlich ins Lazarett 
gesteckt. Körperlich wurde außer einer Druck- und Klopfempfindlichkeit 
des Schädels im Bereich der Narbe und einer Hyperästhesie am ganzen 
Körper nichts Krankhaftes gefunden. Psychisch bestand leicht gehobene, 
läppische Stimmung, Y. schwätzte in einem fort, redete oft verworrenes 
Zeug, neigte zum Renommieren, vernachlässigte sein Äußeres, suchte 
Konnex mit Wärterinnen, schrieb auf Heiratsannoncen. Er sah und 
hörte lebhaft Ereignisse aus dem Felde, hörte sich rufen, hörte Granaten 
einschlagen. Er näßte nachts regelmäßig ein, suchte das nasse Bettzeug 
zu verbergen. Zur Arbeit war er unbrauchbar. Am 26. 1. wurde Y. in die 
Irrenabteilung aufgenommen, war dort gehobener Stimmung, bei der 
Arbeit unstet, bereits am 1. Februar wurde er gebessert zum Truppenteil 
entlassen mit der Diagnose einer Dementia praecox. Er sollte als D. U. 
zur Entlassung kommen. 

Am 5. April wurde er dann mit dem obenerwähnten Zeugn's in die 
hiesige Anstalt aufgenommen. Nach einigen Tagen folgte eine Gerichts¬ 
akte mit einer Anklage wegen Betruges gegen ihn und Ersuchen um Ab¬ 
gabe eines Gutachtens. Er war danach nach der Rückkehr aus dem Lazarett 
vom Truppenteil beurlaubt worden und hatte einen Teil dieses Urlaubs 
in Berlin zugebracht. Dort hatte er am 10. März einem Schuhmacher 
einen wertlosen Ring für 120 M. verkauft. Der Käufer hatte sich seiner 
Angabe nach durch das sichere Auftreten des ordengeschmückten Soldaten 
täuschen lassen. Es wurde an die Anstalt die Anfrage gestellt, ob Y. zur 
Zeit der Tat zurechnungsfähig gewesen sei. 

Das Bild, das Y. hier bot, wich in manchen wesentlichen Zügen von 
den früheren Beobachtungsergebnissen ab. Er war äußerlich geordnet, 
in seiner Stimmung leicht gehoben, hatte viele Wünsche, näßte die erste 
Nacht, auch später öfter ein; um dies zu vermeiden, gab er schließlich 
aus sich selbst heraus der Nachtwache Auftrag, ihn zu wecken. Er schrieb 
viele Briefe und Postkarten, erhielt Briefe und Pakete. In den Briefen 
betonte er oft, wie schlecht es ihm gehe, gelobte ewige Dankbarkeit für 
erhaltene Liebesgaben. Von der Geschichte mit dem Ringverkauf wollte 
er die ersten Tage absolut nichts wissen, er habe nie einen Ring außer dem, 
den er trage, verkauft oder besessen. Er führte Korrespondenzen mit 
mehreren weiblichen Persönlichkeiten, von denen eine seit 4 Jahren seine 
Braut war und ein 1 ^jähriges Kind besitzt, das seiner Angabe nach nicht 
von ihm stammt, und anscheinend zurzeit wieder gravida ist. „Er hat 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


Öl 


das Mädchen gerade genommen, weil sie hineingelegt ist.“ Er schätzte seine 
Person hoch ein und machte sich wenig Gedanken um die Zukunft, die er 
durch die Rente für gesichert hielt. Er schreibt sogar einmal an seine 
Braut wegen der Frage der Kapitalabfindung. 

Körperlich bestand links hinten am Schädel eine gut verheilte, 
glatte Narbe mit einer länglichen, schmalen Knochenrinne darunter. Es 
bestanden Klagen über häufigere Kopfschmerzen, zeitweise Unfähigkeit, 
intensiv zu denken. Die inneren Organe des sehr kräftigen Mannes waren 
gesund. Im Urin sogenannte Tripperfäden in ziemlich reichlicher Menge 
vorhanden mit zahlreichen Eiterkörpern und Haufen von Kokken (Gono¬ 
kokken ?) 

Das Nervensystem bietet keine pathologischen Abweichungen, die 
Puipillen reagieren prompt, der Augenhintergrund ist [frei, keine Hemi¬ 
anopsie, kein sonstiger Hirnnervenbefund. Das Wissen des Y. entspricht 
nicht seinem Reden, jedoch ist ein gröberer Intelligenzdefekt nicht vor¬ 
handen (Unterschiedsfragen gehen nicht; Sprichworte, soweit sie be¬ 
kannt sind). Über seine Jugend machte Y. eine Reihe sehr widersprechen¬ 
der Angaben, er wollte in Fürsorge gebracht sein, weil seine Eltern tot 
waren und man mit ihm nirgend hinwußte, er sei im Waisenhause zu E. 
groß geworden. Jemals kriminelle Handlungen begangen zu haben, weist 
er weit von sich. Seine Angaben waren so unsicher, daß wir ihnen durch 
Einfordern der Akten von E. auf den Grund gehen zu müssen glaubten. 
Diese Nachforschungen hatten ein interessantes Ergebnis: 

Danach war Y. im Februar 1902 in Fürsorgeerziehung gebracht 
worden, weil er im Dezember 1901, noch nicht 11 Jahre alt, eine ganze 
Reihe von strafbaren Handlungen begangen hatte, Fundunterschlagung, 
Raub, Betrug, Vagabundage, Schulschwänzen. Sein Abgangszeugnis von 
der Schule, auf der er bis dahin gewesen war, lautete: Sittliche Führung 
tadelnswert, Fleiß nicht befriedigend, Kenntnisse ziemlich genügend. 

Die Unterbringung erfolgte auf Veranlassung seines keineswegs ge¬ 
storbenen Vaters. Der erste Bericht der Fürsorgeerziehung über ihn lautete: 
Bettnässer, lügnerisch, neigt zum Zank und zeigt sich schadenfroh. Leistun¬ 
gen in der Schule mündlich gut, schriftlich genügend bis schwach. Sein 
Betragen besserte sich in der Folge, das Schlußzeugnis seiner Schulzeit 
lautete im März 1907: Betragen gut, Religion recht gut, Singen gut, 
das übrige genügend. Bemerkung: Der schriftliche Unterricht fällt ihm 
schwer, im mündlichen sehr rege. 

Y. kam dann im März 1907 in die Lehre zu einem Schuhmacher. 
Die ersten Berichte über seine Führung lauten gut, er scheint geistig sehr 
befähigt, ist freundlich und heiter im Verkehr. Im Mai 1908 findet sich 
plötzlich die Mitteilung, daß Y. noch immer in Untersuchungshaft sitzt, 
er habe viele Diebstähle begangen. Er sei flink bei der Arbeit, auf der 
Straße voll schwärmerischer Gedanken und Schlechtigkeiten. Es ergab 
sich dann, daß Y. in der Zwischenzeit nicht weniger als 37 Fälle von Diebe- 

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reien begangen hatte, die anscheinend zum großen Teil im Hang zu Näsche¬ 
reien, Zigarren und Likör ihre Ursache hatten. Der Staatsanwalt erhob 
Anklage gegen Y. und Genossen wegen Diebstahls, Hehlerei, Betrugs, 
Urkundenfälschung und Sachbeschädigung. Die Strafvollstreckung gegen 
Y. wurde auf Veranlassung der Fürsorgebehörde ausgesetzt und ihm Straf¬ 
aufschub bewilligt (Juni 1908). Die Folge war, daß er sich einige Zeit hielt, 
aber Anfang 1910 nach erneutem Diebstahl verschwand. Nach längerer 
Zeit aufgegriffen, kam er zunächst ins Fürsorgehaus zurück, beendete dort 
seine Lehrzeit, seine Leistungen und Führung waren zufriedenstellend. 
Ende 1911 arbeitete er dann bei einem Meister in A. Dieser wandte sich 
im Januar 1916 an die Anstalt mit einer Anzeige, daß Y. auf fremden 
Namen Zithern bestellt, Stiefeletten und Leder gestohlen habe. Er sei in 
allen Sachen höchst liederlich, seine Arbeit sei nur teilweise zu brauchen. 
Er schwärme bis früh umher. 

Am 26.1.12 ist dann Y. aus der Fürsorge entlassen. Das Erziehungs¬ 
ergebnis wurde als zweifelhaft bezeichnet, er selbst als frech und unbot¬ 
mäßig. Er hat im gleichen Jahre eine mehrmonatliche Gefängnisstrafe 
verbüßt. 

Während des Feldzuges hat er den Konnex mit der Anstalt wieder 
aufgenommen, er schrieb frömmelnde Briefe und bekam dafür Liebesgaben. 

Der Erfolg, den die Bekanntgabe dieser Nachforschungen an Y. 
hatte, war auffallend. Er wurde bei den Visiten mit einem eigentümlich 
wehleidig-gezierten Gesicht umherstehend oder auch auf einer Bank 
liegend gefunden, antwortete auf Fragen nicht mehr. In Abwesenheit 
des Arztes war er nach Angabe des Personals ganz vergnügt. Es wurde 
Bettruhe verordnet, und nach einigen Tagen kam Y. von selbst, war 
völlig geordnet, fragte kleinlaut, ob er denn für die Ringsache wohl be¬ 
straft werden würde, ob der Arzt nicht bewirken könne, daß ihm die Strafe 
erlassen würde und er wieder ins Feld käme. Er wolle sich auch zusammen¬ 
nehmen. Seine Streiche habe er immer auf Veranlassung anderer gemacht. 
Auf die Frage, warum er nicht die Wahrheit gesagt, meint er, er sei 
immer jetzt so vergeßlich, gibt aber zu, sie gewußt zu haben. Er klagt, 
daß er immer so viel Kopfschmerzen habe und, wenn er allein sei, seine 
Gedanken nicht zusammenkriegen könne. 

Seither ist sein Benehmen völlig geordnet. Er macht ausführliche 
Angaben über den Ringverkauf und sein Verhalten in S. Vor allem seine 
Angaben über den letzteren Punkt sind interessant. Es sind danach 
seine Hoffnungen, die er auf seine Versetzung bezüglich Weiterkommens 
gesetzt hatte, getäuscht worden. Er fand nicht das Entgegenkommen, 
das er erwartet hatte und auf Grund seiner Leistungen im Felde erwarten 
zu können glaubte. Er nimmt an, daß sein Eisernes Kreuz erster Klasse 
seinen Vorgesetzten Unteroffizieren, die keine Auszeichnungen hatten, 
ein Dorn im Auge war, so daß es ihm keinen Vorteil, sondern Nachteil 


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brachte. Es kam zu kleinen Reibereien, und er verlor die Lust, schließlich 
war ihm alles eins. 

Über den Ringverkauf gibt er an, er sei auf seinem Urlaub — den 
man ihm anscheinend gegeben hatte, weil man mit ihm in der Garnison, 
nachdem er für geisteskrank und dienstunbrauchbar erklärt war, bis zu 
seiner definitiven Entlassung nichts anzufangen wußte — auf Grund seiner 
Orden sehr verwöhnt worden, man habe ihn bewirtet und freigehalten. 
Er hatte keine Angehörigen, zu denen er gehen konnte, brachte die Zeit 
daher zum Teil in seiner alten Garnison, teils in Berlin zu. Vor einem 
Kleidergeschäft kam er mit dem Schuhmacher ins Gespräch und ver¬ 
kaufte ihm auf seinen Wunsch den Ring. Er hatte ihn früher von einem 
Kameraden erhalten, wußte nicht, ob er etwas wert sei. Es war ihm schon 
einmal viel Geld für den Ring geboten, von anderer Seite war ihm auch 
schon gesagt, daß der Ring nichts wert sei. Nachdem er erfahren, daß 
der Mann ihn anzeigen wollte, hat er versucht, ihn zur Zurücknahme der 
Klage zu bewegen, was ihm auch durch Versprechen von Ratenzahlungen 
der Kaufsumme — er hatte das Geld inzwischen ausgegeben für seinen 
Unterhalt — gelang. Daß das Tatsache ist, geht aus einem Briefe an Y. 
hervor. Er hat dann die Ratenzahlungen aber nicht eingehalten, es viel¬ 
leicht auch nicht können. 

Zurzeit bietet Y. in seinem Verhalten nichts Auffallendes. Er ar¬ 
beitet fleißig in der Schuhmacherei, klagt zeitweise über Kopfschmerzen 
und zeigt eine gewisse Eitelkeit. 

Die Deutung dieses ganzen Bildes war, nachdem einmal die Diagnose 
auf Dementia praecox gestellt und daraus bereits die Folgerungen gezogen 
waren, nicht einfach, namentlich bei dem Vorliegen der Komplikation 
eines Kopfschusses. Irgendwelche objektive Symptome für Störungen des 
Nervensystems durch den letzteren waren nicht vorhanden. Auch aus dem 
allgemeinen Verhalten waren Anhaltpunkte für ein Vorliegen von stärke¬ 
ren Beschwerden infolge der gut geheilten Verletzung nicht zu gewinnen. 
Eine wesentliche Klärung brachte die Kenntnis der Vorgeschichte. Es 
wurde dadurch zunächst einmal festgestellt, daß die Neigung zu krimi¬ 
nellen Handlungen nicht etwas dem Y. Wesensfremdes und Unverständ¬ 
liches oder Neues war, sondern nur ein Rückfall in alte, unsoziale Triebe, 
bei dem wahrscheinlich das Milieu — er war in Berlin ohne genug Geld — 
viel mitgespielt hat. Weiter auffallend war, daß sein Versagen zeitlich 
zusammenfiel mit seiner Versetzung zu einem andern Truppenteil, von der 
er sich große Vorteile für sein Weiterkommen versprochen hatte, die sich 
nicht erfüllten. Die Entwicklung der Gründe, die zu diesem Versagen 
führten, wird von Y. durchaus logisch gegeben, es ist Tatsache, daß er 
nicht befördert ist, die hohe Einschätzung der eigenen Persönlichkeit 
beruht wenigstens zum Teil auf reellem Boden und kann an sich nicht als 
krankhaft angesehen werden. Zudem kann ohne weiteres angenommen 
werden, daß er sich zum Zeit seiner Aufnahme in die Beobachtungsstation 


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W. Tintemann, 


in dem Zustand einer akuten Geistesstörung befand, nur die Diagnose der 
Dementia praecox läßt sich nach der weiteren Entwicklung des Fallen 
nicht aufrechterhalten. War sie einmal gestellt, so hätten auch die Folge¬ 
rungen gezogen und Y. zum mindesten längere Zeit in der Anstalt be¬ 
handelt werden und nicht zum Truppenteil entlassen werden müssen. 
Es ist aber nach einer eingehenden Würdigung der ganzen Vorgeschichte 
viel wahrscheinlicher, daß es sich bei Y. um eine auf einer degenerativen 
Grundlage entstandene, vorwiegend auf äußere Momente aufgebaute 
vorübergehende Störung gehandelt hat, und zu dieser Annahme haben 
wir uns schließlich auch entschlossen. Auch das Vorliegen einer krank¬ 
haften Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 StGB, zur Zeit der 
speziell in Frage kommenden Straftat ist verneint worden. — Der weitere 
Verlauf hat unsere Auffassung bestätigt. 

Die Diskussion über die Diagnose könnte müßig erscheinen, ist es 
aber keineswegs, denn auf der Auffassung der Erkrankung baut sich, ich 
möchte sagen, die ganze Zukunft des Y. auf, nicht nur die Frage der straf¬ 
rechtlichen Verantwortlichkeit auch für die späteren strafbaren Handlun¬ 
gen, die er aller Wahrscheinlichkeit nach noch begehen wird, sondern auch 
die Frage, was mit ihm zu machen ist. Die Annahme einer Dementia prae¬ 
cox würde bei den antisozialen Eigenschaften des Y. unbedingt die Unter¬ 
bringung in einer geschlossenen Anstalt erfordern. Hier ist die Lösung 
verhältnismäßig einfach. Viel schwieriger wird sie bei der zweiten An¬ 
nahme, daß es sich um eine Situationspsychose eines Degenerierten han¬ 
delte. In den Heeresdienst wird er sich nicht wieder hineinfinden; ihn 
zunächst mit einer größeren Rente — wegen der noch geklagten Kopf¬ 
beschwerden — zu entlassen, wird ihm aller Voraussicht nach verderblich 
werden; ihn unterzubringen in einer Stellung, wird sehr schwer sein. Wir 
haben ihn, solange er bei uns war, zur Arbeit zu erziehen versucht, sind 
aber der Überzeugung, daß er draußen, auf sich selbst gestellt, bald 
scheitern wird. 

Das Wesentliche und Interessante des Falles, wegen' dessen ich 
ihn einer ausführlichen Mitteilung für wert hielt, scheint mir in der kom¬ 
plizierten Sachlage, der Bedeutung der Vorgeschichte für die Beurteilung 
des Falles und der Schwierigkeit der Diagnose zu liegen. Auf die mannig¬ 
fachen Schwierigkeiten der Differentialdiagnose zwischen den psycho¬ 
pathischen Konstitutionen, zu denen dieser Fall ja auch gehört, und der 
Dementia praecox, namentlich im Beginn der Erkrankung, ist bereits 
mehrfach hingewiesen, so von Bonhoeffer und Weygandt und in jüngster 
Zeit von Hübner. 

Hier handelt es sich um einen Degenerierten, der nach einer bewegten 
Jugend unter dem Einfluß besonderer Verhältnisse einen Anlauf zum Guten 
genommen, schließlich aber doch wieder versagte. Auch hier spielen bei 
dem Versagen nochmals äußere Momente eine größere Rolle. Y. selbst 
hat sie verschiedentlich ganz anschaulich geschildert. Auf der einen Seite 
die manchmal etwas sehr überschwängliche Vergötterung des rühm- 


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bedeckten Kriegers, die seiner Eitelkeit schmeichelte und sein Selbst¬ 
gefühl gewaltig hob, auf der andern Seite das Sichfügensollen unter Vor¬ 
gesetzte, denen er sich in seinem gesteigerten Selbstgefühl gewaltig über¬ 
legen fühlte, waren Umstände, die für seine etwas angekränkelte Psyche 
einen schweren Konfliktstoff in sich bargen. 

Auch seine kriminelle Handlung, die zudem für den Käufer, der bei 
seinem Stande einen Ring für 120 M. zu erwerben trachtet, etwas merk¬ 
würdig aussieht, wurde ihm durch seine Auszeichnungen außerordentlich 
leicht gemacht. Hohe Ordensauszeichnungen stellen eben auch an die 
Psyche des Trägers eine Reihe von Anforderungen. Er gilt von vornherein 
als eine besonders zuverlässige Persönlichkeit, eine Tatsache, die von 
Betrügern bekanntlich manchmal ausgenutzt wird. 

Wenn man die Gerichtsverhandlungen in den Tageszeitungen 
seit Ausbruch des Krieges verfolgt, so findet man nicht so selten Be¬ 
strafungen wegen unbefugten Tragens von Ordensauszeichnungen, vor 
allem auch in Verbindung mit verübten Schwindeleien. Dieses unbe¬ 
fugte Tragen von Orden wird mit Vorliebe streng bestraft, öfter mit 
der Begründung „mit Rücksicht auf die Ehrlosigkeit der Handlungs¬ 
weise“, auch dann, wenn es nicht zu kriminellen Handlungen mi߬ 
braucht wird. Ich glaube, daß hier öfter ein Trugschluß unterläuft, 
und möchte als Beispiel dazu eine in einer Tageszeitung vor kurzem 
veröffentlichte Gerichtsverhandlung hier anführen, deren Bericht 
wörtlich folgendermaßen lautet: 

„Gefängnis wegen unbefugten Tragens des Eisernen Kreuzes. Das 
... Schöffengericht hatte am ... den Kochgehüfen ..., der im Küchen¬ 
wagen eines Lazarettzuges nach der ... front gefahren war und nach seiner 
Rückkehr eigenmächtig das Band mit dem Eisernen Kreuz an seiner 
Krankenpflegerlitewka trug, die er auch mit dem Bande der Rettungs¬ 
medaille geschmückt hatte, ohne dazu befugt zu sein, wegen Vergehens 
gegen die Anordnung 1... in Tateinheit mit Übertretung des § 360 des 
Strafgesetzbuchs zu 30 M. Geldstrafe verurteilt und beim Strafmaß die 
hochgradige Beschränktheit des ... berücksichtigt. Gegen dieses Urteil 
hatte der Staatsanwalt Berufung eingelegt. In der gestrigen Verhandlung 
gegen ... beantragte er eine Woche Gefängnis. Die Strafkammer ver¬ 
urteilte ... wegen unbefugten Tragens des Eisernen Kreuzes zu zwei 
Wochen Gefängnis im Hinblick auf die Ehrlosigkeit der Handlungsweise.“ 

In dem Tenor des Schöffengerichtsurteils gibt die bei der 
Festsetzung des Strafmaßes berücksichtigte hochgradige Beschränkt¬ 
heit des Verurteilten zu denken, und man kommt unwillkür¬ 
lich — natürlich als richtig vorausgesetzt, daß sie, was aus 
der Strafkammerverhandlung nicht hervorgeht, wirklich vorhanden 


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W. Tinte mann. 


war — auf die Vermutung, daß der Täter ein Schwachsinniger war, 
bei dem es sich eher um die bei Imbezillen und Degenerierten nicht 
selten vorhandene Sucht, sich zu schmücken und zu renommieren, als 
um einen beabsichtigten Betrug gehandelt hat, der auf die Erlangung 
eines Vorteils angelegt war. Daß aus Eitelkeit von mehr oder minder 
Schwachsinnigen unberechtigt Auszeichnungen angelegt werden, wird 
voraussichtlich gerade in dieser Zeit ab und zu Vorkommen. Dem 
gegenüber beachte man die Steigerung des Strafmaßes im vorliegenden 
Fall. 

Anders liegt natürlich die Sache in einer Reihe von Fällen, in 
denen unberechtigterweise angelegte Auszeichnungen zu betrügerischen 
Zwecken verwandt werden. Hier benutzt der Schwindler sein oft 
hervorragendes Verständnis für die Denkweise und Psychologie des 
Volkes, das, wie schon erwähnt, in dem Tragen einer Auszeichnung 
einen Beweis für die besondere Glaubwürdigkeit des Trägers sieht, 
systematisch, um zu seinem Zwecke zu gelangen. 

Doch liegen auch hier die Sachen oft komplizierter. So endete 
auch ein derartiges Unternehmen, das seinerzeit durch alle Zeitungen 
ging, es passierte im Anfang des Krieges, als noch die Erregung über — 
wirkliche und vermeintliche — Spione groß war, mit einer Beob¬ 
achtung in der Irrenanstalt: 

Im September 1914 wurde in O. ein Mann namens X. verhaftet, 
der eine Feldwebeluniform mit dem Bande des Eisernen Kreuzes trug, in 
Begleitung einer Dame ein Auto der Heeresverwaltung fuhr und einen 
Chauffeur anforderte, sich aber nicht ausweisen konnte über seine Person. 
Die sofort eingeleiteten umfangreichen Nachforschungen ergaben, daß 
es sich um einen Menschen handelte, der als Proviantmeister in der mili¬ 
tärischen Verwaltung einer besetzten Stadt tätig gewesen war und sich 
unter Mitnahme eines Autos eigenmächtig entfernt hatte. Er hatte sich 
diese SteUung seinerzeit in den ersten Kriegswochen mittels falscher An¬ 
gaben zu verschaffen gewußt. Er hatte seinen Posten anfangs mit Um¬ 
sicht und zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten verwaltet, hatte eine ziem¬ 
lich selbständige Stellung eingenommen, zum Zwecke von Einkäufen 
mehrere Autofahrten in eine große deutsche Stadt gemacht, sich dort 
mit einer Bureauangestellten eines großen deutschen Hotels in aller Ge¬ 
schwindigkeit verlobt und kriegstrauen lassen, in eine große, angesehene 
Zeitung einen Artikel zu bringen gewußt mit einer phantasiereichen Er¬ 
zählung über den Erwerb des Eisernen Kreuzes, der nachher widerrufen 
werden mußte. Es kam dann zu Differenzen mit den Vorgesetzten, als 
X. seine kriegsgetraute Frau einfach mit in die besetzte Stadt brachte 


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und unerlaubt einlogierte. Als ihm hierbei seine bevorstehende Entlassung 
aus seiner Stellung mitgeteilt wurde, verschwand er plötzlich unter Mit¬ 
nahme von Frau und Auto, nachdem er sich selbst zum Feldwebel be¬ 
fördert und mit dem Bande des Eisernen Kreuzes geschmückt hatte. Er 
machte dann eine ziemlich abenteuerliche, planlose Fahrt, auf der ihn 
überall seine völlig ahnunglose Frau begleitete, verübte noch mehrere 
Schwindeleien — unter anderem kaufte er in H. einen größeren Posten 
von Reis und Kaffee für die Heeresverwaltung — und wurde endlich 
verhaftet. Der Frau ist während der ganzen Fahrt nichts Besonderes 
an ihrem Mann aufgefallen. 

Die Nachforschungen nach dem Vorleben des X. förderten noch 
manches Interessante zutage. Es fand sich dabei, daß er ein mehrfach 
vorbestrafter Mensch ist, der mehrfach in Irrenanstalten untergebracht 
war und wegen Geistesschwäche entmündigt wurde. Er war von Jugend 
auf schwach begabt gewesen, hatte später vor allem moralische Defekte 
aufgewiesen und eine Reihe von Krampfanfällen, die als epileptische ge¬ 
deutet wurden, gehabt. Sein Lebenslauf ist ziemlich abenteuerlich gewesen, 
anscheinend war er auch in der Fremdenlegion. Die Beurteilung, die er 
in den Irrenanstalten gefunden hatte, war nicht ganz einheitlich, die größte 
Anzahl der Begutachter hatte ihn wohl für minderwertig, aber nicht unter 
den § 51 StGB, fallend erklärt, er ist auch direkt als Simulant an¬ 
gesprochen. 

Auch die hiesige Beobachtung kam zu dem Schlüsse, daß X. wohl 
ein einzelne abnorme Züge tragender minderwertiger Mensch sei, bei dem 
gelegentlich epileptische Krampfanfälle auftreten, daß aber eine An¬ 
wendung des § 51 für die Zeit der fraglichen Straftaten nicht in Frage 
komme. 

X. ist eine zu den Grenzzuständen gehörende Abenteurer- und 
Schwindlernatur, bei der vor allem auch eine erheblich gesteigerte Phanta¬ 
sietätigkeit auffällt. Es ist nicht richtig, anzunehmen, daß er damals im 
Anfang in seine Stellung gleich mit der Absicht, sie zu Betrügereien zu 
benutzen, gegangen ist, das geht aus seinem Verhalten in der ersten Zeit 
und manchen Aussagen hervor. Er mußte nur dabei sein, das unruhige 
Milieu lag seiner Abenteurernatur, er mußte mitmachen, Autofahrten, 
Kriegstrauung, .Renommieren, Phantasielügen — alles lag ihm und ging 
sehr schön, bis die Verhältnisse geordnet wurden, da kam der Zusammen¬ 
bruch und als Reaktion darauf, da er nicht wußte, was er recht beginnen 
sollte, die ziemlich planlose Autofahrerei. 

Es ist, ich glaube von Ritterhaus 1 ), ein sehr treffender Ausdruck 
geprägt worden, der die Lage einer kleinen Reihe dieser Unzuläng¬ 
lichen gegenüber den zurzeit bestehenden Verhältnissen des Dienstes 


1 ) Die Originalarbeit war mir leider nicht zugänglich. 


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W. Tintemann, 


und ihre psychische Leistungsfähigkeit ihm gegenüber ganz außer¬ 
ordentlich gut charakterisiert, er heißt „felddienstfähig, aber nicht 
garnisondienstfähig“. Oft hört man von ihnen den Wunsch, wieder 
hinauszukommen an die Front, „in den Schützengraben“. In der 
Heimat ist „nichts los“. Der Dienst in der Garnison stellt an ihre 
Psyche ganz offenbar größere und von ihnen schwerer zu erfüllende 
Anforderungen als der Dienst draußen. Ihre verminderte Anpassungs¬ 
fähigkeit, ihre hohe Selbsteinschätzung und mangelnde Stetigfaß 
lassen sie hier leichter versagen. Sie stoßen sich an den nicht ra 
umgehenden Kleinigkeiten des Gamisondienstes offenbar wund, wenn 
sie einmal längere Zeit draußen waren, glauben auch wohl manchmal 
in einer gerade ihnen liegenden Verkennung ihrer Stellung, als erprobte 
Soldaten besondere Rücksichtnahme verlangen zu dürfen, und geraten 
dadurch unter Umständen mit Disziplin und Vorgesetzten in Kon¬ 
flikte. Das geschieht natürlich um so leichter, je näher diese Individuen 
der Grenze zur Geisteskrankheit stehen: 

X. Y., 22 Jahre alt, Kriegsfreiwilliger. Aus der Vorgeschichte ist 
bemerkenswert, daß er mehrmals aus der Lehre entlief, verschiedentlich 
Selbstmordversuche machte, im Krankenhaus, wo er wegen einer Hand¬ 
verletzung untergebracht war, melancholische Anwandlungen abwechselnd 
mit zur Tobsucht ausartenden Wutanfällen hatte, zweimal wegen hysteri¬ 
scher Seelenstörung in einer Irrenanstalt untergebracht war. das letztemal, 
nachdem er mit andern einen Einbruch verübt hatte, bei dem er auf einen 
Beamten schoß, und im Gefängnis mit Halluzinationen erkrankte. & 
handelte sich jedesmal um hysterische Dämmerzustände, die vollkommen 
abklangen. Vor dem Kriege hatte er eine Stellung im Auslande inne, die 
er bei Kriegsausbruch verlassen mußte. Im .Felde machte er zunächst 
einen Typhus im Westen, dann später eine Dysenterie im Osten, angeblich 
auch eine Verschüttung, durch. Wegen der letzteren Erkrankung und 
nervöser Erscheinungen kam er damals zurück. Nach einem mehrmonat¬ 
lichen Lazarettaufenthalt in U. wurde Y. einer Sammelstelle zugeführt 
und sollte in die Heimatgarnison überführt werden. Er hatte eines Tages 
Stadturlaub und überschritt ihn, wobei auch stärkerer Allkoholgenuß 
stattfand. Er wurde am andern Tage mit drei Tagen Mittelarrest be¬ 
straft und ihm bei dieser Gelegenheit wegen seines Verhaltens vom aufsicht- 
führenden Leutnant Vorhaltungen gemacht, er erwiderte, mit geballten 
Fäusten vor dem Offizier stehend, er sei Kriegsfreiwilliger, brauche keinen 
Urlaub und könne zurückkehren, wann er wolle. Auf dem Wege zum 
Arresthaus skandalierte und schimpfte er. Als der Adjutant ihn im Wach¬ 
lokal aufsuchte, holte er mit der Hand zum Schlag aus, als er aufgefordert 
wurde, militärische Haltung anzunehmen. In die Arrestanstalt gebracht, 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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verfiel er in einen Weinkrampf. Im weiteren Verlauf des gegen ihn ein¬ 
geleiteten Verfahrens wurde er einem Lazarett zugeführt, zeigte dort 
neben körperlichen Symptomen von seiten des Nervensystems krank¬ 
hafte Schwankungen der Gemüts- und Affektlage, Amnesie für die Zeit 
der strafbaren Handlung, wurde mit der Diagnose Psychopathie und 
Hysterie exkulpiert und entlassen zu seinem Ersatzbataillon, um als D. U. 
endgültig ausgemustert zu werden. Am Standort seines Bataillons wurde 
er einem Lazarett überwiesen, womit er nicht einverstanden war, war 
deshalb schon bei der Aufnahme gereizt und widerstrebend. Später beant¬ 
wortete er die Aufforderung eines Vorgesetzten, stramm zu stehen, mit 
Fluchen und Schimpfen, verließ in hochgradiger Erregung das Kranken¬ 
zimmer, sprang einem zufällig auf dem Gange entgegenkommenden 
Kranken an den Hals und hätte ihn erwürgt, wenn nicht schnelle Hilfe 
gebracht wäre. Er fiel dann besinnunglos zu Boden, kam nach einigen 
Minuten wieder zu sich und konnte allein sein Bett aufsuchen. 

Y. kam daraufhin hier in die Anstalt, er war von vornherein völlig 
geordnet, bot keinerlei körperliche Symptome der Hysterie mehr, schätzte 
sich selbst sehr hoch ein, hatte viel weiblichen Briefwechsel, stellte den 
Vorgang, der zu seiner Aufnahme führte, als sehr harmlos hin und ent¬ 
standen infolge eines rüpelhaften Benehmens des Unteroffiziers, und zeigte 
kein rechtes Verständnis für seine Lage. Er mußte nach einigen Wochen 
entlassen werden, da nie Krankheitssymptome auftraten. 

An dem Fall ist bemerkenswert, daß der schwer hysterische Mensch, 
der schon vor dem Diensteintritt mehrmals ausgesprochene Dämmer¬ 
zustände durchgemacht, schwere Wutausbrüche gehabt hatte, den Kriegs¬ 
dienst draußen ohne erneute derartige Zustände ertragen hatte, während 
er iq der Garnison dagegen bei ungünstigen Einwirkungen auf seine Psyche 
zweimal kurz hintereinander mit schwer pathologischen Zuständen 
reagierte. 

Selbst wenn man den durchgemachten Infektionskrankheiten als 
einem schwächenden Faktor einen gewissen Einfluß auf deren Zustande¬ 
kommen zuschreiben will, so muß doch hervorgehoben werden, daß das 
Krankheitsbild der letzten Zeit durchaus den vor dem Diensteintritt 
mehrfach aufgetretenen Zuständen weitgehend entspricht und nicht 
erklärt wird, warum im Felde, wo doch gewiß eine ganze Reihe viel schwere¬ 
rer schädigender Momente einwirkten, diese Zustände nicht aufgetreten 
sind. Die Annahme einer positiv gefärbten Affektlage draußen, einer 
negativ gefärbten in der Garnison erklärt hier vielleicht manches. 

Wenn die Vorgeschichte dieses Kranken bei seiner Meldung als 
Kriegsfreiwilliger bekannt gewesen wäre, würde er unter allen Um¬ 
ständen wohl zurückgewiesen sein, da der Arzt die Prognose von vorn¬ 
herein ungünstig stellen mußte. Unter Umständen aber erlebt man 
auch bei Stellung von ungünstigen Prognosen aus der Anamnese Über- 


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raschungen, und Leute, die als absolut ungeeignet für den Kriegs¬ 
dienst angesehen werden mußten, werden brauchbare Soldaten. Diese 
Fälle werden nicht so häufig sein. Ein Beispiel, bei dem der Betreffende 
im Dienste bereits versagt hatte, sei hier angeführt: 

U. V., im 20. Jahre. Stammt von einer nervösen Mutter, ist auf 
der Schule bereits aufgefallen, konnte sich in dieselbe, trotzdem er begabt 
war, nicht einfügen, verließ sie in Sekunda, wurde Kaufmann, ohne 
Neigung zu diesem Beruf zu haben, gab seine Stelle nach einiger Zeit wieder 
auf, ging wieder auf die Schule, verließ sie wieder, trieb allerlei Privat¬ 
studien, zerfiel wegen seines Lebens mit seinen Angehörigen, ging schließlich 
mit einem befreundeten Maler, der einen weitgehenden Einfluß auf ihn 
ausübte, ins Ausland. Trieb dort Philosophie, dichtete, arbeitete an einem 
philosophischen Werke, verkehrte mit Ausländern der verschiedensten 
Nationalitäten, mußte bei Ausbruch des Krieges die Stadt verlassen, 
wurde Kriegsfreiwilliger. Machte die Kämpfe in Flandern, den Sturm auf 
Ypern mit, erhielt dort einen Streifschuß, kam zurück. In der Garnison 
wurde sein Benehmen auffällig, er richtete eines Tages ein Gesuch an das 
Bataillon, in dem er bat, ihn aus dem Militärdienst zu entlassen, da 
seine Lebensanschauungen ihm nicht erlaubten, weiter am Kriege teil¬ 
zunehmen. Das Gesuch war so auffällig, daß er zur Beobachtung unserem 
Lazarett überwiesen wurde. 

Hier wurde festgestellt: Körperlich in der Entwicklung zurück¬ 
gebliebener Mensch, der viel jünger aussieht, als seinen Jahren entspricht. 
Ausgesprochene Gefäßbelastung. Von erheblichem Selbstbewußtsein, 
überschätzt die eigene Persönlichkeit ganz bedeutend. Glaubt sich be¬ 
rufen, Welt und Staat zu reformieren. Ganz verworrene Anschauungen 
über den Ursprung des Krieges, wirft mit Schlagworten um sich. Meint, 
daß der heutige Staat auf ganz falschen Prinzipien aufgebaut sei, er muß 
reformiert werden, und er selbst ist nach seinen Fähigkeiten berufen, 
einer der Träger dieser Reformation zu sein, die die Staatenbüdung im 
heutigen Sinne abschafft. Dieser Idealstaat soll auf einer veränderten 
Erziehung aufgebaut werden, die Schule muß abgeschafTt werden, die 
Religion durch die Moral ersetzt werden. Der Lehrer muß fortwährend 
mit den Kindern in der Natur sein, ihnen „spielend“ beibringen, das ist 
recht und das ist unrecht. Es wird dann keine Kriminalität mehr geben, 
jeder wird dem andern geben, was er braucht, es wird kein persönliches 
Eigentum mehr geben. Unrechttun ist ausgeschlossen, das gibt es eben 
nicht mehr, die Erziehung macht das unmöglich. 

Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Reformator, dessen in¬ 
tellektuelle Fähigkeiten nebenbei sehr gute waren, ergab eine sehr leb¬ 
hafte Phantasietätigkeit und sehr wenig positives Wissen, er hatte vom 
Staate, den er bekämpfte, und seinen Einrichtungen, von seiner Entwicklung 
kaum eine Ahnung. Der Beweis hierfür, der ihm in einer Reihe von Unter- 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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redungen spielend geliefert wurde, machte auf ihn sichtlich Eindruck, er 
wurde nachdenklich und weniger radikal. Er trat in mancher Beziehung 
einen verdeckten Rückzug an, bat, wieder zum Bataillon zu kommen, 
wollte auch, wenn es bestimmt würde, wieder ins Feld rücken, aber schießen 
auf andere werde er nicht, er würde sich ruhig totschießen lassen. Das 
Verhalten des V. während der ganzen Zeit zeigte noch viele infantile Züge. 
Seine Gedichte waren nicht schlecht. Manchmal klang leise an, daß bei 
seinen Anschauungen vielleicht etwas eine verletzte Eitelkeit mitspielte, 
er glaubte sich andern gegenüber durch Nichterhalten des Eisernen Kreuzes 
zurückgesetzt. 

Wir haben V. nach Abschluß der Beobachtung als einen Grenz¬ 
zustand, als einen degenerativen Phantasten bezeichnet, der wohl stark 
verschroben, aber nicht geisteskrank sei, und ihn als arbeitsverwendungs¬ 
fähig entlassen mit dem Rat, ihn mit schriftlichen Arbeiten auf dem 
Bureau zu beschäftigen. 

So ist es denn zunächst auch geschehen. Nach einiger Zeit hat er es 
dann aber verstanden, wieder hinauszukommen. Er hat die schweren 
Kämpfe in Galizien mitgemacht, ist erneut verwundet, mit dem Eisernen 
Kreuz ausgezeichnet und befördert worden. Psychisch und körperlich 
hat er in der Zwischenzeit einen großen Schritt zur Männlichkeit gemacht, 
Anklänge an seine alten phantastischen Ideen leben in seinem Innern wohl 
noch, aber in weitgehend gemilderter Form. Er ist im Begriff, seine 
Reifeprüfung zu machen und sich positive Grundlagen für seine Studien 
zu verschaffen. 

Die erfreuliche Entwicklung, die dieser anscheinend ziemlich hoff¬ 
nunglose Fall genommen .hat, ist wohl in gewisser Weise überraschend, 
aber keineswegs unverständlich. Die Pubertätsstürme haben in diesem 
etwas phantastisch veranlagten, nicht unbegabten Menschen offenbar 
heftiger gehaust als gewöhnlich. Die Entwicklungsperiode war bei dem 
auch körperlich unterentwickelten Menschen offenbar noch nicht abge¬ 
schlossen, unzweckmäßige Umgebung, die ihn für einen außergewöhn¬ 
lichen Menschen hielt, kritiklose weibliche Anbetung hatten das Ihrige 
dazu getan, ihn in abwegige Bahnen zu lenken. Die Idee an sich — trotz 
fehlender positiver Grundlagen und ungenügender Lebenserfahrung —, 
berechtigt und berufen zu sein, in vielen Dingen des öffentlichen Lebens 
mitzusprechen, finden wir ja unter einzelnen Gruppen der heutigen Be¬ 
wegungen unter jugendlichen Leuten überhaupt vertreten. Hier liegt 
natürlich eine Steigerung ins Pathologische vor. 

Derartige, einen günstigen Ausgang nehmende Fälle dürften 
immerhin zu den Seltenheiten gehören und in der Besonderheit des 
Zustandes begründet sein, die schließlich doch ein Einsetzen der not¬ 
wendigen Hemmungen ermöglicht. Ein auf den ersten Blick in vieler 
Beziehung ähnlich liegender weiterer Fall, der in unsere Beobachtung 


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W. Tintemann, 


kam, nahm schließlich einen etwas dramatischen Ausgang. Die Akten 
über ihn sind noch nicht geschlossen, doch scheint er mir wert, hier 
angeführt zu werden, auch ohne daß schon eine restlose Auflösung 
erfolgt igt: 

M. N., 26 Jahre alt, hat seit dem 16. Jahre erheblich Bier getrunken, 
war zeitweilig Bettnässer, lernte als Kaufmann, besuchte eine Handels¬ 
hochschule, hatte eine Reihe von Stellungen inne, verlor sie mehriaeli 
durch Unpünktlichkeit und Nachlässigkeit. Die Schuld dafür schieb 
er selbst auf den Alkoholmißbrauch, er trank am Abend stark und bliefc 
am andern Morgen einfach im Bett, ohne zum Dienst zu gehen. Ver¬ 
heiratete sich 1913, gründete zugleich ein Geschäft, verkaufte es nach 
eiDem Jahre wieder. Im Rausch mehrfach lebensüberdrüssig und Selbst¬ 
mordabsichten, hatte aber zur Ausführung keine Energie. Im April 1915 
als Landsturmrekrut eingestellt, ist er im Juli wegen eigenmächtiger 
Urlaubsüberschreitung mit 7 Tagen strengen Arrest, dann noch einmal 
mit 48 Stunden Mittelarrest wegen Dienstversäumnis bestraft worden. 
Hat im September Gefechte in Rußland und die Champagneschlacht mit¬ 
gemacht und ist am 29. September durch Granatschuß am Oberarm ver¬ 
wundet. War deswegen bis zum 30. 11.15 in Lazarettbehandlung, im 
Anschluß daran Urlaub bis zum 10. Dezember. Sollte sich an diesem Tage 
direkt bei seinem Ersatzbataillon melden. Er erschien nicht und wurde 
am 16. des Monats in X. festgenommen, er meldete sich selbst wegen Ur¬ 
laubsüberschreitung. Auf seinem Fahrschein war das Datum des Reise¬ 
tages geändert, er gab an, nicht zu wissen, wer die Fälschung vorgenommen. 
Er wurde zur Truppe zurücktransportiert, am 23.12. auf freien Fuß gesetit 
und verschwand am 25. 12. wieder, indem er als blinder Passagier nach fl 
fuhr. 3 Tage später meldete er sich selbst auf der Wache wieder, wur& 
zurücktransportiert und zu 3 Monaten Gefängnis verurteüt. Bei da 
Verhandlung und auch später erklärte er auf Befragen, er werde sich wieder 
entfernen, wenn er auf freien Fuß gesetzt werde. Es wurde beschlossen, 
ihn direkt aus dem Arrest dem nächsten Transport ins Feld beizuordnen. 
Als er zu diesem Zweck aus der Haft am 16. 2. 16 geholt und eingekleidet 
wurde, verweigerte er, die Stiefel zu verpassen, und wiederholte diese 
Weigerung vor versammelter Mannschaft. Auf Zureden erklärte er, es sei 
ihm alles einerlei, er sei mit sich einig und habe mit dem Leben abge¬ 
schlossen. Bei einer spezialärztlichen Untersuchung wurden sichere An¬ 
zeichen einer Geisteskrankheit nicht gefunden. N. begründete seine 
Weigerung, nicht wieder ins Feld zu gehen, logisch mit einer Art Grauen, 
das er davor habe, er wolle lieber die noch so schwere Strafe auf sieb 
nehmen als wieder hinausgehen, trotzdem habe er im Felde selbst keine 
besondere Angst gehabt. Es wurde nach weiteren Angaben des N. — er 
gab nämlich an, er habe seit der Jugend zu ausgesprochenen, zeitweilig l-- 2 
Tage dauernden Trinkexzessen geneigt, erst in den letzten Jahren huldige 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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er eigentlich dauerndem Alkoholmißbrauch — an die Möglichkeit einer 
psychischen Epilepsie gedacht. 

Die Beobachtung ergab einen kleinen, fetten Mann mit an das Weib* 
liehe erinnerndem Körperbau und nicht gerade hervorragender Intelligenz, 
sein Allgemeinwissen war dürftig. Das Benehmen war dauernd völlig ge¬ 
ordnet. Auffallend war eine gewisse affektive Stumpfheit und die Ruhe 
und ^Wurstigkeit, mit der er über seine Straftat und über sein ganzes 
Leben sprach. Als Grund für seine Gehorsamsverweigerung gab er auch 
hier, wie früher stets, an, er habe nicht wieder ins Feld wollen. Er habe 
nicht wieder in die Front gewollt, weil er genau wisse, daß er totgeschossen 
werde. Manchmal gibt er an, es sei wie ein innerer Zwang gewesen. Das 
Unrichtige seiner Handlungsweise gibt er ohne weiteres zu, bleibt aber 
dabei, er habe nicht wieder zur Front gehen können. Er meint einmal, 
auch im Friedensdienst würde es ihm nicht viel anders gegangen sein, er 
passe eben nicht zum Soldaten. Bei der Unterhaltung über diesen Punkt, 
seine Weigerung, ins Feld zu gehen,’ und deren Begründung, wurde N. 
in seinem Wesen ernst und zurückhaltend, so daß anfangs versteckte Wahn¬ 
vorstellungen vermutet wurden. Er blieb dabei, daß er genau wisse, 
daß er im Felde totgeschossen würde, woher er das so genau wisse, dürfe 
er nicht sagen. Weiteres war aus ihm nicht herauszubekommen trotz 
aller Bemühungen. 

Das blieb auffallend, dagegen fanden die von ihm angewandten 
Mittel, sich seiner Zurückführung an die Front zu entziehen, die gleichfalls 
etwas auffallend waren, eines Tages durch ihn selbst ihre Erklärung. Auf 
die Vorstellung, daß es am Ende doch wohl besser für ihn gewesen sei, 
wieder hinauszugehen, als sich jetzt einer langen Zuchthausstrafe auszu¬ 
setzen, bricht er eines Tages damit heraus: Dazu haben sie mich ja ge¬ 
trieben. Er erzählt dann, daß er auch die früheren Urlaubsüberschreitun¬ 
gen lediglich begangen habe, um sich durch die Strafe dem weiteren Front¬ 
dienst zu entziehen. So habe er absichtlich die Überschreitung über 
3 Tage ausgedehnt, damit er strenger bestraft werden mußte. Erst als er 
auf diesem Wege sein Ziel nicht erreicht habe, sei er zu schwereren Vergehen 
getrieben worden, da er auf alle Weise seine Absicht durchsetzen wollte. 
Daß er seinen Plan weitgehend durchdacht hat, geht auch aus seiner Äuße¬ 
rung hervor, die Strafe würde ja keinesfalls länger als der Krieg dauern, 
da beim Friedensschluß jedenfalls eine allgemeine Amnestie erlassen 
werden würde. 

Auch hier liegt ein Mensch vor, der im bürgerlichen Leben bereits 
bis zu einem gewissen Grade gescheitert ist, es jedenfalls nicht vermocht 
hat, sich eine dauernde Stellung im Leben zu erringen, sondern sich ziemlich 
haltlos und ohne eigene Initiative treiben ließ. Manches ist auffallend in 
seinem Lebensgang und bereitet der Erklärung Schwierigkeiten. Für die 
aufgeworfene Frage der Dipsomanie fanden sich keine Anhaltpunkte. Er 
gab hier an, regelmäßig eigentlich seit dem 16. Jahre getrunken zu haben. 


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W. Tintemann, 


von Perioden gibt er hier nichts an, auch keine Verstimmungszustände. 
Es führten bei ihm nicht solche zum Alkoholgenuß, sondern der Rausch 
führte, wie wir es bei Degenerierten nicht so ganz selten sehen, zu Ver¬ 
stimmungszuständen, die aber wie der ganze Mensch schwächlich waren. 
Wahnvorstellungen oder Sinnestäuschungen, die anfangs vermutet wurden 
infolge seines Benehmens bei Unterhandlungen über die Frage nach dem 
Grunde seiner Weigerung, waren trotz alles Bemühens nicht festzustellen, 
das planvolle, genau überlegte Verhalten, um zu seinem Ziele zu kommen, 
und seine Begründung sprachen in gewisser Weise dagegen und ließen 
schließlich die Vermutung, daß er doch lediglich aus Furcht gehandelt 
habe, berechtigt erscheinen; auch sein ganzes, stets geordnetes Verhalten 
sprach gegen eine frische Psychose, schizophrene Symptome waren 
gleichfalls nicht nachweisbar. So war zunächst keine Tatsache zu ge¬ 
winnen, die die Anwendung des § 51 rechtfertigen konnte. Die Verhand¬ 
lung vor dem Kriegsgericht wurde angesetzt, ln derselben wieder dasselbe 
Verhalten des Angeklagten bei dem Versuch, über den Grund seiner Weige¬ 
rung an die Front zu gehen, etwas zu erfahren. Dann plötzlich, nachdem 
nochmals vom Verteidiger und Sachverständigen auf ihn eingeredet ist, 
gibt er weinend an, daß er seit seinem Aufenthalt im Lazarett Stimmen 
höre. Der neugeschaffenen Situation gegenüber wird die Verhandlung 
abgebrochen und eine weitere Begutachtung angeordnet. 

Die unerlaubte Entfernung bzw. Fahnenflucht, wie sie der An¬ 
klage des vorhergehenden Falles zugrunde lag, ist ein Vergehen, das 
wir auch in Friedenszeiten von unsteten Degenerierten, Debilen und 
mehr oder minder Schwachsinnigen nicht so selten begangen sehen; 
daß es ein Vergehen ist, das in der jetzigen Kriegszeit häufiger zur 
Begutachtung kommt, ist leicht verständlich. Die größeren Anforde¬ 
rungen, die Aussichten auf die Strapazen und Gefahren des Front¬ 
dienstes werden gerade bei der größeren Zahl von Minderwertigen hier 
öfter zum Versagen führen, die zu Friedenszeiten vom Militärdienst 
verschont bleiben. Die allgemeine Wehrpflicht ergreift auch den 
Landstreicher auf der Walze und führt ihn dem Dienste zu. Daß er 
namentlich, wenn er schon längere Jahre sein unstetes Leben der 
Wanderschaft geführt hat, ein schwieriges und unter Umständen un¬ 
geeignetes Objekt für die militärische Erziehung sein kann, liegt auf 
der Hand. Zudem ist es eine natürliche Erscheinung, daß diese Leute 
als oft unsichere Heerespflichtige mit einem gewissen Mißtrauen 
manchmal von vornherein angesehen werden und infolgedessen der 
nicht psychologisch vorgebildete Vorgesetzte in seinen Erziehungs¬ 
maßnahmen einmal fehlgreift. 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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A. B., im 40. Lebensjahre stehend, auf der Schule nicht recht vor¬ 
wärts gekommen, hat nach der Konfirmation das Schlosserhandwerk 
erlernt und ist seit dem 22. Lebensjahre in die Fremde gegangen, hat eine 
Anzahl von Jahren im Hafen zu H. als Gelegenheitsarbeiter, meist als 
Kesselreiniger, gearbeitet; seit 6 Jahren ist er die meiste Zeit auf der 
Walze gewesen und hat seinen Lebensunterhalt kärglich durch Arbeiten 
bei Bauern verdient. Vorbestraft ist er, soweit aus seinen Akten ersichtlich 
ist, nicht. Seiner Angabe nach hat er damals die Arbeit als Kesselreiniger 
aufgegeben und aufgeben müssen, weil er einen Unfall erlitt, bei dem er 
mit dem Kopf auf eine Steinplatte aufschlug, und seitdem häufig an Kopf¬ 
schmerzen und Schwindel litt. Dazu sollen selten (bisher im ganzen 
etwa 4—5mal) Krampfanfälle aufgetreten sein. Er wurde am 3. 2. 1915 
angehalten und in O. eingestellt. Am 18. desselben Monats verschwand 
er aus der Garnison und blieb fast genau ein Jahr, bis zum 9. 2. 16, ver¬ 
schollen. Damals wurde er festgenommen, weil er keine Papiere hatte 
und seine Personalien anzugeben sich weigerte. Bei einer Vernehmung 
vor dem Amtsgericht hatte er einen „Veitstanzanfall, der nach Ansicht 
des Gerichts nicht simuliert war“. Er gab an, daß er Epileptiker sei und 
„häufig längere Dämmerzustände habe“. Vor dem Kriegsgericht erklärte 
er, daß er aus Angst fortgegangen sei, weil der Unteroffizier erklärt habe, 
er wolle ihn hochnehmen. Er gab die genauen Einzelheiten seiner Entfer¬ 
nung an, wußte, wo er inzwischen gewesen war, wo er gearbeitet hatte. 
Im Verlaufe des Verfahrens wurde Beobachtung beantragt. 

ln den Untersuchungsakten findet sich die folgende Charakterisierung 
des Angeklagten: 

Da B. von Anfang an einen schlechten, ehrlosen Charakter zeigte 
und auch sonst einen verkommenen und frechen Eindruck machte, der 
Fahnenflucht verdächtig. Auch liegt der Verdacht um so mehr vor, als er 
bei Feststellung des Nationales angab, nicht zu wissen, ob seine Eltern noch 
lebten und wo sie wohnten. 

B. ist ein dürftiger, kleiner Mann, dessen Nervensystem außer einer 
Hypästhesie für Schmerz am ganzen Körper, leichtem Tremor der Finger, 
Dermatographie und einer nicht sehr ausgiebigen Lichtreaktion der Pu¬ 
pillen keine Besonderheiten aufweist. Epileptische Krämpfe und isolierte 
Krämpfe im rechten Unterarm, wie er sie angab, wurden nicht beobachtet. 
Die Einzelheiten seiner Entfernung — er hat unter seine Uniform Zivilzeug 
angezogen — wußte er genau, es konnten keinerlei amnestische Defekte 
festgestellt werden. Ein Dämmerzustand für die Zeit der Entfernung kam 
nicht in Frage. Für das Vorliegen einer krankhaften Störung der Geistes¬ 
tätigkeit im Sinne des § 51 fanden sich keinerlei Anhaltpunkte. Dagegen 
neigte er etwas zu Übertreibungen und war ein leicht unzufriedener Herr, 
der verschiedentlich andere Kranke zu veranlassen suchte, bei dem ein¬ 
fachen Essen der Kriegszeit nicht zu arbeiten. 

Zeitschrift für Psyohimtric LXXII. 1. 5 


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W. .7isuiin. 


Daß man B. beim Militär gewisses Mißtrauen von vornherein 
entgegengebracht hat, ist verständlich und geht aus den Äußerungen der 
Akten hervor. Wenn sich dieses Mißtrauen aber zu einem Teil daraus 
herleitete, daß es bei ihm auch als ein Zeichen seines wenig guten Charak¬ 
ters angesehen wurde und den Verdacht der Fahnenflucht verstärkte, 
daß er angab, nicht zu wissen, ob seine Elltern noch lebten und wo sie 
wohnten, so war das zu weit gegriffen. Der auf der Walze lebende B. hatte 
nach seinen glaubwürdigen Angaben keine Verbindung mit seiner Heimat, 
was auch dadurch bestätigt wurde, daß in seinem Heimatsort ein Spar¬ 
kassenbuch von mehreren hundert Mark für ihn verwaltet wurde, von des?« 
Vorhandensein er keine Ahnung hatte. Der in seinem Nervensystem in- 
merhin nicht ganz intakte Mensch hatte bei seinem Alter und dem unstete 
Leben der letzten Jahre nicht mehr die notwendige Elastizität für dir 
Disziplin des Dienstes und entzog sich ihm, vielleicht besonders noch dazu 
getrieben durch die Furcht, daß man ihm besonders genau auf die Finger 
passen werde. In einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit 
handelte er aber nicht. 

Daß derartige Angaben über Dämmerzustände überhaupt nur 
vorsichtig bewertet werden dürfen, wo es sich um militärische Rechts¬ 
brecher handelt, ist erst kürzlich von Hübner betont worden. Der 
Autor gibt an, daß bei einer Reihe von ihm beobachteter Fälle sich 
eine angebliche Amnesie bei eingehender, wiederholter Prüfung als 
nicht vorhanden erwies. „Diese ‘Wahrnehmungen mahnen zur Vor¬ 
sicht gegenüber den Angaben der Angeklagten.“ Diese Erfahrung 
konnten auch wir machen: 

E. F., 1883 geboren, dem ungedienten Landsturm angehörend. Am 
5. 2.15 in 0. eingestellt, am 1.10.15 ins.Feld gerückt. Bereits am 28.10.15 
wegen Magenerkrankung im Lazarett, gesund entlassen, meldet er sich 
bereits auf dem Marsch zur Truppe wieder bei einer Leichtkrankenabteüung 
■der Etappe. An demselben Tage wieder als gesund entlassen, kommt 
plötzlich aus einer deutschen Stadt, die weit rückwärts liegt, die Meldung, 
daß F. in einen falschen Zug gestiegen und dort angekommen sei. Er wird 
in die Garnisonstadt zurückgebracht, entfernt sich dort noch einmal heim¬ 
lich und wird am 23.12.15 erneut mit einem Transport in Marsch zur 
Truppe gesetzt. Bereits auf einer der nächsten Stationen entschwindet er 
dem Transportführer und meldet sich nach einiger Zeit freiwillig auf der 
Wache in H. mit der Angabe, daß er sich entfernt habe. Bei dieser Ent¬ 
fernung befand er sich seiner Angabe nach in einem krankhaften Zustande. 
Er sei in R., wo er entwichen, in das Pissoir gegangen, dort seien zwei fein- 
gekleideto Herren auf ihn zugekommen und hätten ihm etwas ins Gesicht 
gespritzt, worauf er das Bewußtsein verloren habe. Bei dieser Angabe 
blieb er auch die erste Zeit während der hiesigen Beobachtung, ließ sie 
dann, als er merkte, daß durch diese Darstellung Zweifel an seiner Glaub- 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 67 

wurdigkeil. eritstanfieili fallen, Utelt aber Harljväö^g M\ der Angabe, festy’G 

• laß er an die i£mU die'.zwischen 'seiner- .Entfernung'. und seiner freiwilligen 
Meldung lag,. ItdUmrJ«i Eri m uuumghob»;. /'l^t'^^'-^.^lgrholten bird «in» 
gVftenjlen Uhteere4img&!> gab- er eines , Tqjjjes zu, da8.SiHne Erimienifig an 

♦ ti« Einzelheiten' .dieser %(M sehr \volü erhaiion sei. Als Grund für seine. 
-Handlung gab er glaubwürdig F-uVrbi Süd' dem FfnjGdmast an. 

F. bot körperlich vhv- U'.’mm 1 von Deg»»era.{it>nszeic4ipn und die 
/ •-i-:hfcii einer leichten' XervoMliU. - ,.Die Bedingungen- des g 54 StGB, 
\rwren nicht •»Hüllt. die Furch'*.: des- Psychisch-Labilen vor-den -Schrecken 
Jgjiegüs ailejn konnte \0?*Anlassung geben. 

Daß in andern PjRfteii düs Gefühl, den itiigewohnten An/ortkiungen, 
die .der.AüU.tä^iiieast stellt-, mchi gewnchKoit sü sein, apf die Psyche 
eines labilen und geistig nidif gaiiähttaktni Mensehim unter üruständen 
auch eine« wirklich schwer frrankhaft dttensrefideii Einfluß ausäben 
kann, dafür sei'cierfolgende Fall eb Beleg. 

ü,. : p.. im Jahre •48*7 geboren, avaj* ayUer ciina; Gütioi'iiit>e e‘or iaogen 
••»al«»vo immer gesund, lebt in glücklicher 12h« und ist Vater eines Kinde.'.. 

| |i .fahrtm f i«.:* erlitt er eineti Unfall in O-^laif. eines 'Falles' auf den 
lliuterkepf. Beil dem ist er eivvas vergeßlich gew»»r;lcn. Dafür ist eine 
objektiv* -^Tatsache, daß seine Frau .ihm - >:t betreibt selbständig ein 

öpit fei kein. -Öw'ii^«föfifbÄig^f ^‘haiffet die GäschättS' 
iTief*-, nie vr geschrieben. mmhie.s-’iM! mußte, ob sie in ChMuimg om-u. .Sonst 
war er besJchrverdefnü. Er vt'iircte bn Anfahg des dähfhs 191 f> zum Heeres- . ^ 

dienst eingezogea Hier fiel er auf weil er-srbr häutig di«.-Übungen wieder 
’edi falsch machte., er vergoß sie immer wieder Er -vergaß -nu lt die ?*äme»« 

; ijSlin’ei* Vbrgpsbl^ten, trotzdeor keine Frau sah ihm -jwj.-'ÄStisb abhörtey 

v arf sie immer wieder durcheinander;’* Er mdm> sieh iiniAer vor, die 
Suche diesmal rh-hlig zu iu.a£hM> dsdlitwh würde es nor iioeli .seliliiürniir. 

Ahm .bekam, Pr Angst, -diese steigerte siel) mehr und pi-ebr, und vines Tage? 
brachte er steh einen Messerstich in die Brost bei infolge großen Angst¬ 
gefühls. Er kam ins Lazarett timt dann in miscrv B'dKindlung. Es fand, 
sich körperlich außer einer leieiit verwaschenen Sprache- n k-h'f~< - Besondere*. 
Psychisch war eine leicht« Euieugnhg der Merkfähigkeit deutlich vor- 
liarideii. Einmal trat >:-ta e»h5tüi)tligcr Attfall vdo Herzklopfen auf, der 
mit Piilpb^hldupigütig- imd deni Gefühl Sjn.wbhfaeinH ßniherging:: 

Der Kranke, der ein sehr ansprechbares, - weiches Gemüt hal te, erholte 
sich bald, dt« Angst war bereits tub’h Hbtgen Tagen wrÄcbwuudeo. nach-, y 
dem i?r die Sorge .des Dienste« |f*s w»f.; und konnte bereits nach einem > 
Awfenthait von 4 Wochen reidlty gsHeift ^fitla^tnüw^ Pfh 

y „•?.' i-'.. inpi.r»«.!. ,}.•»• ^r'h-gfivcfi Melancholie durch 

-••:•• i :• •').■' a ttk Hu »•<*; tuNtr intakt es Gehirn 2i.i 

''itf/niteb- i 0 f[ hyl feyt ':>)iyh» < tmn.k.l gefmirienin 

ythy.' .- ;.i; ftf U!fi{.H‘n'ii VG '' SiC IvlaifgCO Sehr 






68 


W. Tintemann, 


schnell ab, nachdem die Einwirkungen des ungünstigen Milieus behoben 
waren. Das Insuffizienzgefühl schwand und damit auch die Angst vor 
den täglichen Mißerfolgen. Einen ganz ähnlichen Fall einer reaktiven De¬ 
pression sahen wir bei einem Apotheker, der als Sanitätsunteroffizier ein¬ 
gezogen war, auch hier handelte es sich um oinen Disponierten, der nervöse 
Symptome bot und seinen Beruf immer schwer genommen hatte. Er war 
im Sanitätsdienst nicht ausgebildet, wurde einem Feldlazarett zugeteilt, 
sollte Verbände machen, was er nicht konnte, Krankengeschichten schreiben 
usw. Er besaß nicht die Fähigkeit, sich in diesen ihm ungewohnten Dienst 
hineinzufühlen, obwohl er ihm ja eigentlich bis zu einer gewissen Weise 
liegen mußte, geriet daher in Konflikte mit seinem Vorgesetzten, brach 
dann plötzlich mit einem Ohnmachts- oder Krampfanfall, dessen Natur 
nicht feststeht, zusammen und erkrankte an einer mit einem schweren. 
Insuffizienzgefühl einhergehenden Depression, die eine längere Lazarett¬ 
behandlung notwendig machte. Hier war die Heilung schwieriger, da der 
Kranke immer fürchtete, wieder in seine Stellung, der er sich nicht ge¬ 
wachsen fühlte, und vor der er Furcht hatte, zurück zu müssen. Hinzu 
kamen leichte Eigenbeziehungen, er glaubt sich um seiner Religion willen, 
er war Jude, zurückgesetzt, da andere als Unterapotheker eingestellt 
waren. Er machte dann mit unserer Unterstützung eine Eingabe um Ein¬ 
stellung als Unterapotheker. Sie hatte Erfolg, der Zustand besserte sich, 
und der Kranke konnte nach Ablauf aller Symptome als Unterapotheker 
in einem Reservelazarett eingestellt werden. Auch hier wirkte die Auf¬ 
hebung ungünstig auf die Psyche wirkender äußerer Momente außer¬ 
ordentlich günstig, 

Ähnliche reaktive Melancholien oder Depressionszustände scheinen 
namentlich auch bei älteren Männern im Dienste nicht so selten vor¬ 
zukommen; die Veränderung der ganzen Lebensbedingungen, die lange 
Abwesenheit von der Familie im Verein mit den ungewohnten körper¬ 
lichen Anstrengungen dürften hier mitwirken zum Zustandekommen 
eines Krankheitsbildes, in dem neben heftiger Angst und infolge der¬ 
selben die Wahnvorstellung des Erschossenwerdensollens oder Ge- 
tötetwerdensollens im Vordergründe steht. Versündigungs- oder 
ähnliche Vorstellungen habe ich dabei bei den Fällen, die ich gesehen 
habe, nicht gefunden. Hysterische Symptome waren nur in einem Fall 
angedeutet. Disposition ist nicht immer nachweisbar, in einem Falle 
hatte der Kranke eine ähnliche Attacke im 23. Lebensjahr, als er vor 
kurzer Zeit zum Militärdienst eingezogen war, durchgemacht. 

Der Einfluß, den eine Versetzung in fremde und schwierige Ver¬ 
hältnisse auf die Psyche im Einzelfall ausübt, wird naturgemäß ein 
ganz verschiedener sein, je nach dem Alter des Betroffenen, je nachdem 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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es sich um einen leichtbeweglichen Städter oder um einen Land¬ 
bewohner handelt, der nie seine Scholle verlassen, je nachdem ein 
widerstandfähiges Zentralnervensystem vorliegt oder ein labiles. Wir 
kennen das „Heimweh“ schon lange als eine Ursache — wirkliche oder 
angegebene — für kriminelle Handlungen vorwiegend jugendlicher, 
psychisch minderwertiger Individuen. Es ist nicht zu verwundern, 
daß es auch jetzt gelegentlich einmal als Grund für eine unerlaubte 
Entfernung vom Heer angegeben wird und bei geeigneter Lage dea 
Falles wohl auch berücksichtigt werden muß: 

M. N., 26 Jahre alt, aus einem Dorfe der Provinz Hannover stammend. 
Mutter an Phthise gestorben. Hat als Landarbeiter in der Heimat sein 
Geld verdient, ist über die engere Umgebung nicht hinausgekommen, 
wohnte beim Vater, hatte nie Konflikte mit seinen Arbeitgebern. Vor¬ 
bestraft ist er einmal wegen Forstdiebstahls und mehrmals wegen Betteins 
und Betrugs. Hat nicht gedient, weü er zu schwach auf der Brust war, 
er kommt bei schnellem Laufen und bei schwerer Arbeit leicht außer 
Atem. Ist im November 1915 als unsicherer Heerespflichtiger eingestellt, 
hatte vom 21.—23. Dezember Weihnachtsurlaub, kehrte nach Ablauf 
desselben nicht zur Truppe zurück. Er hatte angeblich den letzten Zug 
versäumt und war dann aus Angst vor Strafe weggeblieben. Am 3. 2.16 
wegen dieses Vergehens zu 43 Tagen Gefängnis verurteilt, entfernt er sich 
bereits 3 Tage später wieder von der Truppe, geht zu Fuß in die Heimat, 
erzählt die Sache sofort seinem Vater, ist aber nicht zu bewegen, zurück¬ 
zukehren, er hat Angst vor der Strafe. Er wird am 8. 2. festgenommen 
und erneut zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt. Als Grund seiner Ent¬ 
fernung gibt er Heimweh an: Es sei so über ihn gekommen, er habe nicht 
widerstehen können, es müsse wohl Heimweh gewesen sein. Er wird am 
11. 3. aus der Haft entlassen, bereits am folgenden Tage ist er wieder ver¬ 
schwunden und wird am folgenden erneut festgenommen, wieder auf dem 
Wege nach Hause begriflen. Er gibt vor Gericht einen unwiderstehlichen 
Drang nach Hause als Grund der erneuten Entfernung an und bittet 
aus sich selbst heraus, ihn baldmöglichst ins Feld zu schicken, damit er 
hinter der Front weiter ausgebüdet werde. Er wird ärztlich untersucht, 
zeigt ein leicht erregbares Wesen und gibt an, nachts durch unerklärliche 
Stimmen geängstigt zu werden. Darauf wird Beobachtung beantragt 
und verfügt. 

Die körperliche Untersuchung des gut genährten Mannes ergab eine 
leichte Veränderung des Herzens mit einer Neigung zu Pulsbeschleunigungen 
nach körperlicher Anstrengung. Subjektiv bestanden Klagen über Druck 
in der Herzgegend. Das Nervensystem zeigte außer geringem Fingertremor 
und Dermatographie keine Besonderheiten. Der Gesamteindruck, den 
der jugendlich aussehende N. von vornherein machte, war der eines be- 


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W. Tintemann, 


schränkten Menschen. Die Intelligenzprüfung ergab: Einfache Rechen¬ 
aufgaben werden schnell und richtig gelöst, auch das Schreiben ist leidlich, 
Auskunft über sein Vorleben, seinen Arbeitsverdienst und die Heimatsver¬ 
hältnisse sind durchaus zureichend. Damit ist sein Wissen und Können 
aber auch bereits ziemlich am Ende. Vom Kriege weiß er sehr wenig, 
von den Heerführern kennt er nur Hindenburg dem Namen nach; daß er 
die Russen aus Ostpreußen vertrieben, weiß er nicht, ebensowenig wie, daß 
sie jemals darin waren. Von den deutschen Staaten kennt er außer Preußen 
nur Oldenburg, wo er in Garnison steht. Unterschiedsfragen, Sprichwört¬ 
er klären gelingen nicht. Die Orientierung über die neue Umgebung ist 
sehr langsam und ungenügend. Der Zweck seines Aufenthaltes hier wird 
ihm auch nie recht klar. Die Merkfähigkeit ist ausgesprochen herabgesetzt. 

Seine Bitte, möglichst an die Front geschickt zu werden, begründet 
er damit, er hoffte, daß ihm dadurch das Weggehen unmöglich gemacht 
werde (sein Garnisonort liegt nahe seiner Heimat). 

Beim näheren Nachfragen erst kommt er auch hier damit heraus, 
daß er früher, nur immer in der Nacht, verschiedentlich sowohl im Massen¬ 
quartier wie im Arresthaus, im ganzen wohl neunmal Stimmen gehört habe. 
„Als wenn jemand bei ihm spreche, es sei aber keiner dagewesen.“ Meist 
habe er die Worte nicht verstanden, mehrere Male habe er aus den Stimmen 
gehört, daß er nach Hause gehen solle. Die Stimmen seiner Kameraden 
seien es nicht gewesen, was es eigentlich war, könne er nicht angeben. Hier 
hat er nie mehr dergleichen gehört, Angst hat er nicht. Daß sein Fort¬ 
laufen unrecht sei, gibt er ohne weiteres zu, man dürfe so etwas nicht, das 
sei verboten und werde bestraft, aber er habe nicht anders gekonnt. Er 
macht bei diesen Angaben stets einen leicht deprimierten und erregten 
Eindruck. Auch bringt er die Stimmen gar nicht in unmittelbaren Zu¬ 
sammenhang mit seinem Fortlaufen, er gibt stets ausdrücklich an, sie nur 
nachts gehört zu haben, nicht unmittelbar vor dem Fortgehen. 

Das Vorliegen einer Geistesstörung im Sinne des § 51 zur Zeit der 
Tat wurde im Gutachten als vorliegend angesehen. 

Daß in diesem Falle die große Veränderung der Lebenslage und ihre 
Einwirkungen auf eine unzulängliche Psyche mit der darauf folgenden 
Reihe von gleichartigen strafbaren Handlungen in einem kausalen Zu¬ 
sammenhang stehen, unterliegt wohl keinem Zweifel. N. war schon körper¬ 
lich nicht voll leistungsfähig. Er war mit seinen Intelligenzdefekten in 
den sehr einfachen Verhältnissen der Heimat nicht besonders aufgefallen, 
hatte sich im ganzen in ihnen zu behaupten vermocht, wenn auch einzelne 
Konflikte mit dem Strafgesetz in einer Form, wie sie bei Imbezillen leicht 
gefunden wird, vorgekommen waren. Den fremdartigen Verhältnissen, die 
an seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit außerordentlich ver¬ 
mehrte Anforderungen stellten, war er nicht gewachsen. Die Angaben 
über die nächtlichen Halluzinationen können als unbedingt sicher ange¬ 
sehen werden. Mit der Psychiatrie warN. vorher noch nicht in Berührung 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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gekommen. Sie aus sich heraus zu erfinden, dazu war seine Intelligenz 
nicht hervorragend genug. Er flüchtete in einem Krankheitszustand 
in die Heimat. 

Die Lage für einen derartigen Schwachsinnigen oder ähnlichen 
Unzulänglichen, der sich schon durch die Einstellung zum Dienst in 
schwierigere Verhältnisse versetzt sieht als ein Normaler, kann sich 
weiter komplizieren, wenn noch eine spezifische Schädigung durch den 
Kriegsdienst, etwa in Gestalt einer namentlich den Kopf treffenden 
Verwundung, eines Erschöpfungszustandes und dergleichen hinzu¬ 
kommt, wie es in einem andern zur Beobachtung kommenden Falle 
vorlag: 

A. B., 1893 geboren, konnte in der Schule nicht gut lernen und hat 
von einer sechsklassigen Bürgerschule nur drei Klassen durchgemacht. 
Er hat nach seiner Konfirmation die ganze Zeit in verschiedenen Fabriken 
seiner Heimatstadt gearbeitet, es aber nicht weiter als bis zum einfachen 
Arbeiter bringen können, weil er an Maschinen nicht arbeiten konnte, er 
begriff die Vorschriften ihrer Handhabung nicht. Immerhin hat er selb¬ 
ständig seinen Lebensunterhalt verdient und zuletzt die Woche 20 M. 
bekommen. Mit dem Strafgesetz ist er noch niemals in Konflikt geraten. 
Im Herbst 1913 wurde er Soldat, aber nach 3 Wochen wegen eines Ohr¬ 
leidens wieder entlassen. Im März 1915 wurde er erneut zum Dienst ein¬ 
gezogen. Während der Ausbildungszeit ist nichts Besonderes vorge¬ 
kommen, nur hat der Unteroffizier immer zu ihm gesagt, er sei so dumm 
und verunziere die ganze Kompagnie. „Dabei habe er immer alles so 
gemacht wie die andern, es sei aber doch nie richtig gewesen.“ Anfang 
Juli ins Feld gerückt, ist er am 26. desselben Monats durch einen Kopf¬ 
schuß verwundet worden. Nach Heilung der Wunde habe er zeitweise 
heftige Kopfschmerzen gehabt, konnte den Dienst nicht mehr gut ver¬ 
tragen. Er wurde zum Wachdienst in einem Gefangenenlager komman¬ 
diert, dort ging es ziemlich gut. Nach den Gerichtsakten war er in der 
Kompagnie als anständiger Mensch bekannt und genoß großes Vertrauen. 
Ende November bekam B. Konflikte mit dem ihm Vorgesetzten Feld¬ 
webel, der ihn mehrfach rügte. So rügte er ihn am 18.11. wegen Unrasiert¬ 
seins, am folgenden Tage stellte er ihm 3 Tage Mittelarrest in Aussicht. 
Dies verbat sich B.: Er wisse sonst nicht, was er tue. Dabei nahm er eine 
Haltung an, als ob er dem Vorgesetzten das Gewehr vor die Füße werfen 
wolle. Er wurde daraufhin im Wachtlokal untergebracht und zog sich 
3 Tage später einen erneuten Tadel zu wegen ungeputzter Knöpfe, er er¬ 
widerte darauf in unangemessenem Tone. Es ist wegen seines Verhaltens 
gegen ihn eine Anklage wegen Achtungsverletzung eingeleitet. 

In der Hauptverhandlung, aus der noch hervorgehoben sei, daß B. 
nach Zeugenaussage die letzte Zeit nachts öfter „schreit und tobt und 


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W. Tinte mann. 


nur durch lautes Anschreien zur Ruhe gebracht werden kann“, beantragen 
Vertreter der Anklage und Verteidiger Beobachtung. 

Dieselbe ergibt: Alte Mittelohrerkrankung, über dem rechten Ohr 
eine Narbe, in deren Bereich der Knochen eine Impression zeigt. Klagen 
über zeitweise Kopfschmerzen und Sausen im Kopf, Ohrensausen beson¬ 
ders rechts. Schwerhörigkeit links. Zunahme der Beschwerden bei Bücken 
und Anstrengungen. Leicht stotternde Sprache (bereits seit der Jugend). 
Erheblicher Intelligenzdefekt. Schul- und Allgemeinwissen gleichmäßig 
beteiligt. Der Allgemeineindruck ist der eines sehr beschränkten, aber 
auffallend gutmütigen und offenen Menschen. Von dem nächtlichen 
Aufschreien weiß er nichts. Sein Vergehen gibt er ohne weiteres offen zu, 
er sei erregt gewesen, nachher habe es ihm leid getan. Der Feldwebel habe 
ihn immer als dumm gescholten und ihn dadurch in Ärger und Wut 
gebracht. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre alles gut gegangen. 

Das Vorliegen einer Störung im Sinne des § 51 StGB, wurde für die 
Zeit der Tat bejaht. 

Hier haben wir einen Imbezillen, der selbständig im bürgerlichen 
Leben stand und zunächst alle Anstrengungen und ungünstigen Einflüsse 
des Kriegsdienstes bis zur Verwundung hinauf gut vertragen hat, offenbar 
fcum großen Teil eine Folge einer besonders günstigen Charakteranlage, 
einem gutmütigen Schwachsinn. Dann wurde die von vornherein mangel¬ 
hafte Leistungsfähigkeit seines Gehirns weiter beeinträchtigt durch die 
Kopfschußverletzung, die offenbar nicht symptomlos geheilt ist. Ob es 
sich bei seinem Verhalten dem Vorgesetzten gegenüber rein um durch 
eine erhöhte Reizbarkeit ausgelöste krankhafte Eigenbeziehungen gehan¬ 
delt hat, bleibt dahingestellt. B. hat sich jedenfalls für kleine Unregel¬ 
mäßigkeiten mehrfach dessen Tadel zugezogen und auf diesen Tadel 
pathologisch reagiert. Es liegt eine Affekthandlung eines Schwachsinnigen 
vor, die bei der ganzen Sachlage außerhalb der Breite der Gesundheit fällt. 
Bei der Beurteilung fällt vor allem das sonstige Verhalten und Benehmen 
des B. ins Gewicht, dem übereinstimmend das beste Zeugnis ausgestellt wird. 

Eine weitere Gefährdung für das Verhalten der Unzulänglichen 
kann auch im Kriegsdienst der Alkohol bilden. Es ist nicht zu ver¬ 
wundern, daß daher auch Begutachtungen wegen krimineller Handlun¬ 
gen unter mehr oder weniger Alkoholwirkung zurzeit relativ häufig 
sind. Reizbare Psychopathen und sonst Minderwertige, die im Rausch, 
auch im pathologischen Rauschzustände Achtungsverletzungen usw. 
begangen, haben wir mehrfach zur Beobachtung in der Anstalt gehabt. 
Ich will hier nur einen Fall etwas ausführlicher anführen: 

Y. Z., 1889 geboren. Vater Trinker, reizbar und aufbrausend. In 
der Verwandtschaft Lungenschwindsucht in mehreren Fällen. Als Kind 
schwächlich, mehrfach gekränkelt, in der Schule gut gelernt. Später 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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kaufmännische Lehre. Mehrfach Stellung gewechselt, leicht erregbar, 
ziemlich regelmäßig nicht geringer Alkoholgenuß. Im Oktober 1911 als 
Rekrut in ein Reiterregiment eingetreten. Kurz vor dem Kriegsaus¬ 
bruch ein harter Schanker, der zunächst mit Quecksilber behandelt worden 
ist. Kam im September 1914 ins Feld hinaus, mußte im November wegen 
sekundärer Lues zurückgeschickt werden. Nach einer Salvarsankur zum 
Ersatztruppenteil. Ende 1915 nochmalige Salvarsankur, dann zunächst 
Heimatsurlaub. Auf der Rückreise zum Truppenteil in O. erkrankt mit 
dem Gefühl allgemeinen Unwohlseins; 14 Tage in Lazarettbehandlung 
Wegen Bronchitis. Am 13. Januar sollte Z. in die Garnison entlassen 
werden, am 12. Urlaub in die Stadt, und zwar zum ersten Male. Ging 
in Begleitung eines Bekannten am Nachmittag in ein Restaurant, wo er 
nach Zeugenaussage etwa 10 Münchner trank. Hieran schloß sich eine 
weitere Bierreise, die, nachdem in einer Wirtschaft Abendbrot gegessen 
war, schließlich in einem Cafö endete. Dort trank Z. noch etwa zwei 
Glas Bier, benahm sich anfangs ganz ruhig und geordnet, unterhielt sich 
auch in sachlicher Weise mit den Zeugen. Dann geriet er mit einem Ma¬ 
trosen, der in weiblicher Begleitung am Nebentisch saß, in Streit. Der 
Matrose verließ bald darauf das Lokal, Z. folgte ihm bis auf die Straße, 
belästigte ihn auch dort, wurde aber von zwei Zeugen wieder in das Lokal 
geholt und ging mit ihnen ans Büfett, wo Portwein getrunken wurde. 
Er begann dann, einen Zivilisten zunächst durch Gebärden zu belästigen, 
rief ihm endlich zu: Ich schlage Dir gleich eins in die Fresse, sprang dann 
plötzlich auf den Zivilisten zu und faßte ihn an die Kehle. Er wurde aber 
von seinem Gegner zu Boden geworfen. Der Zivilist verließ das Lokal, 
und dem Z. wurde nach diesem Vorfall das Lokal verboten. Er nahm 
darauf gegen die Wirtin eine drohende Haltung an und zeigte auch ein 
Dolchmesser, das man ihm abnahm. Als er nicht ging, wurde er gewalt¬ 
sam aus dem Lokal entfernt und hinter ihm die Tür verschlossen. Plötzlich 
stürzte er, mit einem blanken Seitengewehr bewaffnet, das er einem Sol¬ 
daten draußen entrissen hatte, wieder hinein und versetzte dem ersten 
Gast, in dessen Nähe er kam, einen Stich in den Oberarm, dann einem 
zweiten, der dem ersten zu Hilfe eilte, einen Stich in Arm und Hüfte. Er 
wurde überwältigt und fortgeführt. Nach Bekundung sämtlicher Zeugen 
war der Täter wohl angetrunken, aber nicht sinnlos betrunken. 

Er selbst gibt einen Erinnerungsdefekt für die ganze Zeit des frag¬ 
lichen Abends an, er erinnert sich nur, daß in einem Restaurant eine 
Schüssel herumgereicht wurde. Seine Erinnerung kehrt erst zurück, als 
er sich am andern Morgen auf der Wache fand und ihm seine Tat vorge¬ 
halten wurde. „Er wolle sie nicht bestreiten, er müsse glauben, was ihm 
vorgehalten werde.“ 

Nachdem ein Zeuge in der Verhandlung ausgesagt hatte, daß das 
Benehmen des Z. sehr auffällig gewesen sei, daß er an der Tür gestanden 
und bleich und zähneknirschend auf den Matrosen gewartet habe, daß er 


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W. Tintemann, 


dann nach der Rückkehr in solcher Aufregung gewesen sei, daß er nicht 
ruhig am Tische sitzen konnte, sondern im Lokal hin und herging, als ob 
er sich wieder sammeln wollte; daß man ihn draußen toben hörte, nachdem 
er aus dem Lokal gewiesen war, und der ärztliche Sachverständige das 
Vorliegen einer krankhaften Störung des Bewußtseins im Sinne des § 51 
bejaht hatte, indem er ausführte, daß zu einem schweren Rausch ein 
starker Zornaffekt getreten sei und den Zustand zu einem sinnlosen ge¬ 
macht hatte, wurde Beobachtung beschlossen 

Dieselbe fand im Mai statt und ergab eine Anzahl Symptome einer 
gesteigerten nervösen Erregbarkeit namentlich im Affekt. 

Beim Sprechen bestanden häufige feine Zuckungen in der Gesichts¬ 
muskulatur, es bestand Zittern der Finger, das im Affekt auch auf die 
Beine Übergriff, lebhaftes Gestikulieren mit den Händen und häufiges 
Reiben der Finger aneinander. Subjektiv wurden Kopfschmerzen geklagt 
seit den Salvarsankuren und eine Erinnerungslücke schon für die Vor¬ 
gänge vor dem Betreten des Gafös angegeben. In den Angaben waren 
hier niemals Widersprüche nachweisbar. Ein weiterer Beweis für die 
Richtigkeit seiner Bekundungen hierüber konnte darin gesehen werden, 
daß Z. infolge* einer Reihe von Umständen anfangs annahm, daß er in der 
Hauptverhandlung seinerzeit freigesprochen wäre und sich hier nur zur 
Behandlung seines nervösen Zustandes befinde. 

Es wurde das Vorhandensein eines pathologischen Rauschzustandes 
im Gutachten für vorliegend erachtet. Z. ist in der erneuten Verhandlung 
freigesprochen. 

Die Überlegungen, die zur Annahme eines komplizierten Rausches 
drängten, waren das Vorhandensein einer nervösen Disposition, einer 
besonderen schwächenden Ursache in den durchgemachten Salvarsan¬ 
kuren und dem unmittelbar vorausgegangenen Krankenlager mit einer 
völligen Alkoholabstinenz, der plötzliche ganz gewaltige Alkoholgenuß 
neben dem auffallenden Verhalten, der vorausgehende Zornaffekt, der 
Erinnerungsdefekt. 

Die Beobachtung und Begutachtung derartiger Angeklagter, die 
im Bausch strafbare Handlungen begangen haben, gehört auch hier 
zu den wenig erfreulichen Aufgaben des psychiatrischen Sachver¬ 
ständigen. Der Täter kommt oft wochenlang oder monatelang nach 
der fraglichen Tat in seine Hände, der Zustand bietet dann oft wenig 
oder nichts Pathologisches. Er gibt meist einen Erinnerungsdefekt 
für die Zeit der strafbaren Handlung an, und das große Kätselraten 
beginnt. Die Zeugen, die den Grad der Trunkenheit meist rein nach 
den motorischen Erscheinungen, d. h. danach, ob der Täter mehr oder 
weniger gewackelt hat, beurteilen, geben oft mit rührender Überein¬ 
stimmung an, daß der Angeklagte wohl angetrunken, aber nicht sinnlos 


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Unzulängliche im Kriegsdienst. 


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betrunken war, trotzdem er oft die sinnlosesten Handlungen begangen 
hat. So heißt es auch in der Anklageschrift zum vorhegenden Falle: 
Nach Bekundung sämtlicher Zeugen war der Angeklagte wohl ange¬ 
trunken, aber nicht sinnlos betrunken. 

Der Erinnerungsdefekt ist eine subjektive Angabe, die oft nur 
nach dem Gesamteindruck, den der Täter macht, bewertet werden 
kann. Er ist zudem, auch wenn er objektiv nachweisbar wäre, kein 
eindeutiges Symptom, denn abgesehen davon, daß er auch im un¬ 
komplizierten Bausch vorkommt, kann man sich die Deutung noch 
erschweren durch die Überlegung, daß er ja auch retrograd, d. h. 
natürlich nur insofern, als er sich nicht mit dem pathologischen Teil 
des Bausches deckt, sein kann, retrograde Amnesien kommen bei 
andern Vergiftungen vor. So beginnt auch im dargelegten Falle die 
Erinnerungslücke bereits lange vor dem Stattfinden der strafbaren 
Handlung und dem Zornaffekt, der wohl auslösend wirkte, zu einer 
Zeit, wo Z. sich noch vollkommen geordnet unterhalten hat. Alles 
drängt dazu, die Bauschvergehen von einem andern Gesichtspunkte 
zu beurteilen, den Bausch selbst zu bestrafen, der zu Vergehen führt. 

Solange die heutigen Verhältnisse bestehen, könnte man daran 
denken, ob es nicht möglich ist, wenigstens in einer Beihe von Fällen 
ein sichereres Urteil über derartige Vergehen und die Bewertung des 
vorhandenen Bauschzustandes für die spezielle Tat zu gewinnen da¬ 
durch, daß der Täter früher der ärztlichen Untersuchung zugeführt 
wird. Eine solche Maßnahme käme natürlich bei den Schwierigkeiten, 
die sich ihrer Durchführung entgegenstellen, in erster Linie oder viel¬ 
leicht nur für die schwereren Bauschvergehen in Frage. Ob bereits 
einmal ein dahingehender Vorschlag gemacht ist, weiß ich nicht 1 ). 
Für die militärischen Verhältnisse wäre er verhältnismäßig leicht aus¬ 
zuführen, da in den Truppenstandorten in den meisten Fällen auch 
ein Militärlazarett mit geregeltem ärztlichen Dienst ist. Der Täter 
müßte nicht, wie es bisher wohl in den allermeisten Fällen statthat — 
natürlich wenn er sofort gefaßt ist —, in einer Zelle der Wache bzw. 
des Polizeigewahrsams untergebracht werden, sondern im KrankSn- 

x ) Anmerkung bei der Drucklegung: Friedenssanitätsordnung S. 83, 
Anm. **, schreibt vor, daß hochgradig berauschte Mannschaften, um 
Unglücksfälle zu verhüten, ins Lazarett gebracht und dort überwacht 
werden, bis Ernüchterung eingetreten ist. 


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W. Tintemann, Unzulängliche im Kriegsdienst. 


hause, wohin er im Grunde genommen ja auch gehört. Zum mindesten— 
ich habe immer vorwiegend die schweren Vergehen im Auge — sollte 
eine möglichst umgehende und eingehende ärztliche Unter¬ 
suchung stattfinden. Daß eine solche eine keineswegs erfreuliche Auf¬ 
gabe für den Untersucher weder in bezug auf den Zustand des zu Unter¬ 
suchenden selbst noch auf die Tageszeit sein wird, ist klar, ebenso 
daß eine Reihe von Einwänden gegen die ganze Maßnahme erhoben 
werden können. 

Daß diesen Schwierigkeiten gegenüber die sichere Diagnose des 
pathologischen Rausches, namentlich wenn er zur Anwendung des 
§ öl geführt hat, gerade auch für die militärischen Verhältnisse einige 
Bedeutung hat, geht wohl daraus hervor, daß nach militärärztlicher 
Annahme der pathologische Rausch ebenso wie jeder andere aus dem 
Rahmen einer gewöhnlichen Trunkenheit fallende Rauschzustand mit 
vereinzelten pathologischen Symptomen eine transitorische Geistes¬ 
störung darstellen und daher unter den Begriff der überstandenen 
Geisteskrankheit fallen, d. h. zum mindesten in Friedenszeiten den 
weiteren Dienst ausschließen soll (Jüttner). 

Die Beurteilung und Bewertung aller dieser Menschen mit einem 
in der mannigfachsten Beziehung nicht vollwertigen Zentralnerven¬ 
system, wie ich sie im Vorstehenden zusammenfassend als Unzuläng¬ 
liche bezeichnet habe, hat schon in normalen Zeiten manche Schwierig¬ 
keiten, ich erinnere nur an die Fürsorgezöglinge, unter denen wir fast 
alle Gruppen vertreten finden. Der Krieg hat Neues an Krankheits¬ 
und Zustandsbildem, so ist schon hervorgehoben, fast nicht geschaffen. 
Aber er hat ein neues Milieu geschaffen, eine große Summe von gerade 
für diese Menschen manchmal besonders ungünstigen Lebensbedingun¬ 
gen und äußeren Umständen, die außerordentliche Anforderungen an 
sie, vor allem an ihre Psyche stellen und in der Beurteilung vorwiegend 
auch von kriminellen Handlungen berücksichtigt werden müssen. 
Aus diesem Milieu und seinem Einwirken auf diese Unzulänglichen 
habe ich im Vorstehenden einige Beispiele rein kasuistisch mitzu- 
teifen versucht, wie sie die Beobachtung in Anstalt und Lazarett bot. 
Eingehende Literaturangaben entsprachen nicht dem Rahmen der 
Ausführungen, sie finden sich im Referat von Birnbaum in der Zeit¬ 
schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie eingehend zu¬ 
sammengestellt. 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie 
psychopathologischer Zustände mit besonderer 
Berücksichtigung der Erschöpfung und Emotion 1 ). 

Von 

K. Bonhoeffer-Berlin. 

Wenn ich, wohl unwidersprochen, an die Spitze meines Referates 
stelle, daß der Krieg uns keine Erkrankungsform gebracht hat, die wir 
nicht auch unter Friedensverhältnissen gesehen haben, und damit 
zugleich auch die Diskussion über die Kriegspsychose als erledigt 
betrachten darf, so besagt das gewiß nicht, daß der Krieg uns nicht 
in vieler Beziehung Neues gebracht hat und uns zahlreiche Fragen der 
Psychopathologie noch klären helfen soll. Der Krieg bedeutet für die 
Psychiatrie ein ins Biesenhafte gehendes Experiment in der Frage der 
Bedeutung der exogenen Schädigungen für die Entwicklung psychi¬ 
scher Störungen. Die Vorbedingungen, unter denen unsere Wissen¬ 
schaft an dieses Experiment herantritt, sind heute günstiger, als sie es 
zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges gewesen sind. Es ist wohl 
keine Selbsttäuschung, wenn wir sagen, daß wir heute eine schärfere 
Symptomatologie der Geisteskrankheiten haben und ihrer natürlichen 
Einteilung nähergekommen sind. Es besteht doch über die praktisch 
wichtigsten Krankheitsformen eine wenigstens so weit gehende Über¬ 
einstimmung, daß bei einer späteren Bearbeitung des Gesamtmaterials 
brauchbare Ergebnisse auch für die Kenntnis der Einzelerkrankun¬ 
gen erwartet werden dürfen. Einen Erkenntniszuwachs dürfen wir 
durch den Krieg überall dort erwarten, wo er uns im großen entgegen¬ 
bringt, was wir im Frieden nur aus Einzelbeobachtungen kennen. 
Durch die ins Große ziehende Wirkung wird er es ermöglichen, das 

1 ) Referat erstattet auf der Kriegstagung des Deutschen Vereins für 
Psych. zu München am 21. Sept. 1916. 


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K. Bonhoeffer, 


allgemein Gesetzmäßige aus den individuellen Reaktionen deutlicher 
herauszuheben. 

Von solchen im großen in Erscheinung tretenden Schädigungen 
interessiert uns psychiatrisch vor allem die Erschöpfung und 
die Emotion, und es ist die Aufgabe meines Referats, zu zeigen, 
was der Krieg zur psychopathogenetischen Bedeutung dieser bei¬ 
den ätiologischen Faktoren uns gelehrt hat. 

Wenn ich sie getrennt bespreche, so bin ich mir dabei im klaren, 
daß sie in der Wirklichkeit des Krieges vielfach zusammen wirksam 
sind, und daß es sich überhaupt nicht um voneinander stets scharf 
scheidbare Vorgänge handelt. Die Emotion zwar kann isoliert in 
Wirkung treten, aber der Erschöpfungsbegriff enthält stets einen 
emotionellen Faktor, denn von den Einflüssen der Überanstrengung, 
Unterernährung und Schlafentziehung lassen sich die mit ihnen ver¬ 
bundenen emotionellen Vorgänge, die oft recht erheblich sein können, 
nicht trennen, und die Häufung emotioneller Schädigungen führt zu 
einem Zustande, der wahrscheinlich der körperlichen Erschöpfung 
gleichkommt, jedenfalls das Moment der Erschöpfung mit enthält. 
Die Tatsache, daß Erschöpfung vorwiegend durch körperliche Leistun¬ 
gen hervorgerufen wird, während die emotionellen Schädigungen auf 
psychischem Wege vermittelt werden, macht aber die Trennung für 
die klinische Untersuchung wohl möglich. 

Zunächst die Erschöpfung. 

Unser Interesse geht hier, wie übrigens auch bei der Emotion, 
nach zwei Richtungen. Die erste Frage ist, wie drückt sich die Er¬ 
schöpfung psychisch und nervös aus, gibt es ein unmittelbar als Er¬ 
schöpfungssyndrom aufzufassendes psychisches oder nervöses Krank¬ 
heitsbild, macht die Erschöpfung Psychosen oder Neurosen sui generis ? 

Die zweite Frage ist, welche Bedeutung dem Erschöpfungs¬ 
komplex nach den Kriegserfahrungen für Auslösung und Verlauf von 
psychischen Erkrankungen anderer Ätiologie zukommt. Daß der 
Krieg gerade für die Frage der Erschöpfungsätiologie entscheidendes 
Material bringen mußte, liegt eigentlich auf der Hand. Was in der 
Friedenszeit aus den komplizierten ätiologischen Verhältnissen kon¬ 
sumierender Erkrankungen erschlossen werden muß, kann der Krieg 
an jugendlichen und im wesentlichen gesunden Individuen lehren. 

Eingehendere Spezialuntersuchungen über die körperlichen 
Grundlagen schwerer Erschöpfung hat der Krieg an größerem Ma- 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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terial bis jetzt nicht gebracht. Es liegt dies wohl daran, daß es bei 
unseren Truppen dank der Kriegslage zu schweren, ganze Truppen¬ 
verbände umfassenden Erschöpfungszuständen nicht gekommen ist. 
Ich bin aber durch das Entgegenkommen der Medizinalverwaltung 
des preußischen Kriegsministeriums in der Lage, über ein große Zahlen 
umfassendes Material schwerster Erschöpfungszustände berichten zu 
können. Es sind das die serbischen Kriegsgefangenen. Diese be¬ 
fanden sich, wie sich aus den Mitteilungen der Ärzte der vier größten 
Serbenlager einheitlich ergibt, bei der Gefangennahme infolge körper¬ 
licher Überanstrengung und Unterernährung in schwerster Erschöpfung. 
Die Schilderung des körperlichen Verhaltens ist recht einheitlich: 
schwerste Abmagerung, und zwar nicht nur Fettschwund, sondern 
auch diffuse Atrophie der Muskulatur, Herzschwäche und -dilatation 
mit Ödemen der unteren Extremitäten, in der ersten Zeit auch be¬ 
drohlich aussehende Fälle von Herzschwäche mit Lungenödem und 
Bewußtlosigkeit, die eine auffallend schnelle Besserung zeigten. Der 
Puls war selten beschleunigt, häufiger verlangsamt und die Herztätigkeit 
matt. Ein allgemeines Schwächegefühl war vielfach so groß, daß eine 
große Zahl der Leute 2—3 Monate ununterbrochen bettlägerig waren. 
Die Morbidität und Mortalität war zu Anfang sehr erheblich. Es ge¬ 
nügte ein leichter Infekt, um den Exitus herbeizuführen. Die Todes¬ 
ursache war meist Herzinsuffizienz, Pneumonie und Tuberkulose. Betont 
werden einheitlich die großen Unterschiede in der Schnelligkeit der 
Erholung bei den älteren Gefangenen gegenüber den jüngeren. 
Langsam ging die Erholung bemerkenswerterweise aber auch vielfach 
bei den jüngeren Individuen. Die Gewichtszunahme betrug trotz der 
schweren Abhungerung, in der sie eingeliefert wurden, und trotz der 
Ernährung mit doppelter Ration nach 1 Monat im Durchschnitt nur 
2 Pfund. Ein Teil hat sich gut erholt. Von den älteren und auch 
vielfach bei den jüngeren wird betont, daß sie noch 7—8 Monate 
nach der Einlieferung starke Abmagerung zeigen. Von einem Lager 
wird berichtet, daß die Zahl der noch jetzt „chronisch ödemkranken“ 
über 100 betrage, und daß einige schon monatelang im Bett liegen, 
ohne eine wesentliche Besserung zu zeigen. Betont wird weiterhin von 
körperlichen Auffälligkeiten die Neigung zu phlegmonösen Entzün¬ 
dungen und die abnorm lange Heilungsdauer dieser Affektionen und 
die starke Neigung zu Tuberkuloseentwicklung. 


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K. Bonhoeffer, 


Eingehendere Untersuchungen über Organveränderungen im 
einzelnen liegen bis jetzt aus diesen Lagern nicht vor, ebensowenig ist 
mir Genaueres über Obduktionsbefunde, wo besonders auch das Ver¬ 
halten der endokrinen Organe interessiert hätte, bekannt geworden. 
Auf die Befunde in psychisch-nervöser Hinsicht komme ich später zu 
sprechen. 

Über die körperlichen Grundlagen leichterer Erschöpfungszu¬ 
stände hat Brugsch eine klinische Studie gebracht. Sie ist bemerkens¬ 
wert, weil der Versuch gemacht wird, den Erschöpfungsbegriff seines 
unklaren allgemeinen Charakters zu entkleiden und ihn auf bestimmte 
Organschädigungen zurückzuführen. Beeinträchtigt wird der Wat 
der Untersuchung durch eine zum mindesten nicht unanfechtbare Aus¬ 
dehnung des Erschöpfungsbegriffs. Brugsch stellt als akute Er¬ 
schöpfungszustände die unter dem Einflüsse starker akustischer Reize, 
z. B. platzender Granaten, entwickelten Schreckemotionsstörungen 
als gleichartig neben die auf dem Boden der Überanstrengung und 
Unterernährung entwickelten, wogegen sich klinisch manches ein- 
wenden läßt. Als wesentlich entnehme ich Brugsch die Feststellung, 
daß zum Wesen der Erschöpfung auf körperlichem Gebiete Herab¬ 
setzung des Blutdruckes und Dilatation des Herzens gehören, ein 
Befund, der durch die Beobachtungen an den Serben bestätigt wird. 
Nicht ganz damit im Einklang zu stehen scheint eine Bemerkung 
Krehis , der wirkliche Erweiterung des Herzens lediglich als Folge von 
Überanstrengung nicht gesehen hat. 

Wichtig sind die Hinweise Brugschs auf die Störungen der endo¬ 
krinen Drüsentätigkeit bei der Erschöpfung. Entsprechend dem Er¬ 
gebnis bei den Tieren in der Tretbahn, bei denen sich der Adrenalin- 
gehalt des Blutes erschöpft und die Nebennieren sich schwer verändert 
zeigen, nimmt er auch bei der Erschöpfung des Menschen ähnliche 
Veränderungen an. Doch fehlt vorläufig, wenigstens bezüglich der 
Nebennieren, der Nachweis. Seine Angabe über die relative Häufig¬ 
keit leichter, mitunter auch ausgesprochener thyreotoxischer Er¬ 
scheinungen bei Erschöpften entspricht auch meiner und, soweit ich 
die Literatm übersehe, auch der Erfahrung mancher anderer. Ins¬ 
besondere weist auch KreU auf Störungen der endokrinen Drüsen hin. 
die sich unter anderem in eigenartigen Abmagerungen äußern sollen. 
Vielleicht liegt dem eigentümlichen Verhalten der Erholung bei dm 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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Serben, die sich in vielen Fällen so ganz anders verhält, als die Re¬ 
konvaleszenz nach akuter Infektion, ähnliches zugrunde. 

Die Kriegsliteratur über die Symptomatologie der nervösen Er¬ 
schöpfungserscheinungen zeigt, daß eine scharfe Trennung von Über¬ 
müdung und Erschöpfung kaum durchzuführen ist. Wohl lediglich 
die Schnelligkeit des Ausgleiches gibt nach der einen oder andern 
Richtung die Entscheidung. 

Von objektiven nervösen beziehungsweise muskulären Er¬ 
schöpfungssymptomen ist die Beobachtung Mayerhofers zu erwähnen, 
der die uns bisher schon bei konsumierenden Erkrankungen bekannte 
Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit, die sich in der 
Bildung eines lokalen Wulstes beim Perkussionsschlag auf den Muskel 
ausspricht, bei 80 bis 90% der aus dem Felde kommenden Soldaten 
antraf und nach 2 bis 3 Wochen schwinden sah. Von dem Vorhanden¬ 
sein der Erscheinung habe ich mich bei frisch eingelieferten kriegs- 
gefangenen Franzosen überzeugen können. 

Vasomotorische Störungen werden berichtet, meist allerdings mit 
starken emotionellen Schädigungen zusammen. Bei den Serben scheinen 
sie, abgesehen von Schweißen, die beobachtet, aber der Tuberkulose 
wegen nicht eindeutig waren, keine wesentliche Rolle gespielt zu 
haben. Inwieweit das Auftreten leichter neuritischer Erscheinungen 
in Gestalt von Parästhesien, Überempfindlichkeit, Einschlafen der 
Glieder, gelegentlich auch, nach den Beobachtungen Manns , Gefühls¬ 
abstumpfungen im Bereiche bestimmter Nervengebiete als Erschöp¬ 
fungssymptome oder als Komplikation mit infektiösen bzw. rheu¬ 
matischen Störungen zu betrachten hat, ist nicht sicher. Daß sie 
schwere Erschöpfungszustände häufig begleiten, ist wohl kein Zweifel. 

Auf das Ausbleiben der matutinen Erektion und der Libido bei 
Erschöpften hat Loewy hingewiesen. Wir kommen damit auf die 
psychisch-nervösen Symptome. 

Über psychische Erschöpfungssymptome im einzelnen enthalten 
die Kriegsmitteilungen wenig Neues. Wollenberg berichtet von einem 
Kollegen, der ebenso wie verschiedene Offiziere desselben Bataillons 
nach sehr ermüdenden Märschen die Vision weißer Häuserreihen am 
Straßenrande hatte, und von einem andern Offizier, der Kavallerie 
und ein Luftschiff in eigentümlich fließender Bewegung sah. 

Zeitschrift für PsyohUtri«. LXXIII. 1. 6 

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K. Bonhoeffer, 


Es handelt sich hier um ausgesprochene Ermüdungshalluzina¬ 
tionen, die in eine Linie zu stellen sind mit den Sinnestäuschungen, 
die man nach stundenlanger konzentrierter optischer Aufmerksam¬ 
keitseinstellung auf bestimmte Dinge, z. B. beim Mikroskopieren, beim 
Pilzesuchen im Walde oder Bernsteinsammeln am Strande abends 
hypnagog an sich beobachten kann. Es treten dann die Gegenstände 
der optischen Aufmerksamkeit halluzinatorisch häufig in einer eigen¬ 
tümlich vorquellenden Bewegung befindlich auf. Auf akustischem 
Gebiet hat Weygandt den optischen hypnagogen Sinnestäuschungen 
entsprechendes bei Ermüdeten beobachtet, und Rütershaus berichtet 
von einem Offizier, der nach starken Anstrengungen und 62stündiger 
Telephonbedienung im feindlichen Feuer nachträglich bei Tag und 
Nacht das summende Weckzeichen und den Anruf „Herr Rittmeister“ 
hörte. Bei all diesen Sinnestäuschungen ging der Charakter der sub¬ 
jektiven Täuschung den Betroffenen nicht verloren. 

Wir kommen nun zu dem psychischen Habitus der Erschöpften 
nach der Einlieferung. Auch hier fehlen eingehendere psychische 
Untersuchungen etwa im Sinne der früheren Versuche von Aschaffen¬ 
burg und Weygandt. Wer das Bild des tagelang dauernden exzessiven 
Schlafbedürfnisses, die auch am Tage in tiefen Schlaf versunkenen 
Krankensäle, in denen die eben aus erschöpfenden Feldzugserlebnissen 
in die Lazarette verbrachten Soldaten liegen, gesehen hat, versteht, 
daß das Interesse wissenschaftlicher Einzelforschung hinter der selbst¬ 
verständlichen Forderung des Ruhebedürfnisses zurückgestellt 
worden ist. 

Über das grobe psychische Bild, das diese akut Erschöpften und 
Übermüdeten darbieten, besteht eine bemerkenswerte Einheitlichkeit 
Zunächst die Beobachtung eines außerordentlich tiefen und lange 
dauernden Schlafes. Liegen gleichzeitig stärkere Blutverluste vor, so 
kann für einige Tage ein Bild tiefer Somnolenz sich eigeben, das zu 
Anfang des Feldzuges öfters zur Annahme einer Komplikation mit 
organischer Hirnstörung führte und die Prognose fälschlicherweise 
ungünstig stellen ließ. In den wachen Zeiten ausgesprochen mürrisch¬ 
depressive Stimmung, Denkunlust und geringe Mitteilsamkeit. Die 
Nahrungsaufnahme ist meist von Anfang an gut. Ich habe in keinem 
Falle die erregte, leicht gehobene Stimmung gesehen, die man bei 
toxisch infektiösen Prozessen in der sogenannten Erschöpfungsphase 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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und auch nach großen Marschleistungen gelegentlich beobachtet, da¬ 
gegen beschreibt Wittermann eine der Situation nicht angepaßte 
Euphorie mit Ideenflucht bei Soldaten nach großen Strapazen. Er 
meint allerdings, daß das Auslösende dabei die Granatwirkung sei 

Die große Mehrzahl der Leute ist nach wenigen Tagen wieder 
völlig in Ordnung und hat keine Klagen mehr. Es bleibt aber ein Teil, 
der länger zur Erholung braucht. Es wird über schlechten, unruhigen, 
traumerfüllten Schlaf, starke Schweißbildung, eingenommenen Kopf, 
Konzentrationsunfähigkeit geklagt. Es besteht Überempfindlichkeit 
gegen Geräusche, mitunter auch gegen Licht, Reizbarkeit, Parästhe- 
sien, nicht selten auch emotionelle Schwäche, die vor allem beim Auf¬ 
treten von Reminiszenzen an die letzten Erlebnisse oder bei der Not¬ 
wendigkeit chirurgischer Maßnahmen in Erscheinung tritt. 

Unter dieser Gruppe findet man einzelne, die vorher nie an ner¬ 
vösen Störungen gelitten haben, häufiger vorher schon psychopathisch 
veranlagte. Bei den Individuen, bei denen sich die hypochondrische 
Depression und willensschwache psychische Einstellung nicht unter 
Gewichtszunahme verlor, sondern trotz dieser unverändert blieb, hat es 
sich nach meiner Erfahrung ausnahmlos um Psychopathen gehandelt. 

Von großer Wichtigkeit ist die Frage: Macht die Erschöpfung, 
abgesehen von diesem akuten Bilde der Schlafsucht, einer nervösen 
Verstimmung und dem Gefolge eines leichten emotionellen hyper¬ 
ästhetischen Schwächezustandes, eigentliche Psychosen, gibt 
es Erschöpfungspsychosen ? In meiner Bearbeitung der toxisch 
infektiösen und symptomatischen Psychosen habe ich vor einigen 
Jahren noch betont, daß bisherige Erfahrungen keinen Beweis dafür 
geben, daß die akuten erschöpfenden Einflüsse der Überanstrengung, 
Unterernährung und Schlafentziehung bei Gesunden Psychosen, ins¬ 
besondere die Psychose, die man bisher als Erschöpfungspsychose 
xax’ 4$oyr'v bezeichnete, die Amentia hervorrufen. Der Krieg hat 
uns dies Material nun gebracht. Ich wies aber auch darauf 
hin, daß wir über größere Erfahrungen an einem Material von 
erschöpften Gesunden nicht verfügen. Ich darf davon absehen, 
die Veröffentlichungen im einzelnen zu erörtern, für welche eine Er¬ 
schöpfungspsychose jede Psychose ist, wenn erschöpfende Einflüsse in 
der Anamnese vorhanden waren, auch wenn aus der Schilderung des 
Bildes bekannte Typen der Schizophrenie oder, wie es häufig der Fall 


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K. Bonhoeffer, 


ist, episodische Reaktionen von Psychopathen klar liegen, denen im 
besten Falle nervöse Erschöpfungssymptome beigemengt waren, wie 
in den Fällen, die der neurasthenischen Depression Aidokratom nahe¬ 
standen. Wollenberg und ich selbst haben solche Fälle erwähnt. 
Weygandt spricht von Fällen psychischer Erschöpfung, die mit Unruhe, 
Erregung, deliriöser und halluzinatorischer Verwirrtheit und traum¬ 
artigen Zügen einhergingen, und solchen, die mit Hemmung, Stupor, 
Apathie und auch lebhafter Angst einhergingen. Er betont die Selten¬ 
heit der Fälle und erwägt die Frage der psychopathischen Anlage. 

Steiner beobachtete ohne inneres Leiden im Anschluß an schwere 
körperliche Hinfälligkeit erschwerte Orientierung, äußerste Mühselig¬ 
keit aller Bewegung und verlangsamte Auffassung, leise Sprache und 
schnelle Erholung bei Bettruhe, ein bemerkenswertes und sonst nicht 
beobachtetes Bild vielleicht endokriner Genese, das mich an psychische 
Störungen bei Addison erinnert. 

Bei der Sichtung der Literatur ist bemerkenswert das Fehlen der 
Amentia, die Verschiedenartigkeit der Bilder und das Vorherrschen 
der Reaktionen auf dem Boden psychopathischer Konstitution. Von 
erheblicher Bedeutung scheinen mir die Beobachtungen an den er¬ 
schöpften Serben. Es war mir leider nicht möglich, dort eigene Unter¬ 
suchungen anzustellen, da zu der Zeit, als ich von dem schwer er¬ 
schöpften Zustande der Serben hörte, schon einige Monate seit ihrer 
Einlieferung vergangen und die wichtigste Beobachtungszeit vorüber 
war und die Gefangenen zum großen Teil verteilt waren. Was sich 
aus den Berichten der Lagerärzte nachträglich erheben ließ, war be¬ 
merkenswert negativ. In dem einen Lager, in dem 4500 serbische 
Kriegsgefangene waren, bei denen schwerste körperliche Erschöpfungs¬ 
erscheinungen vermerkt sind, wird das Vorliegen psychischer Störungen 
überhaupt verneint. In einem andern von 3000 Gefangenen sind 
ein Fall von Demenz und drei vorübergehende Erregungszustände 
notiert. In einem weiteren von 1800 kein Fall von Psychose, in einem 
vierten endlich, wo mir die absolute Zahl der vorhandenen Gefangenen 
nicht bekannt geworden ist, jedenfalls aber auch über 1000 beträgt, 
sind zwei Fälle psychischer Störung beobachtet worden. Also bei 
mehr als 10 000 Gefangenen mit schwersten Erschöpfungserscheinungen 
sind nur 5 Psychosen erwähnt. Da spezialistische Untersuchungen 
gefehlt haben, wird man die sich ergebenden absoluten Zahlen nicht 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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als exakt ansehen, insbesondere dürften leichtere nervöse Störungen 
bei der im Vordergründe stehenden schweren körperlichen Prostration 
vielleicht übersehen worden sein, aber man darf wohl sicher sagen, daß 
ein irgendwie stärkeres Hervortreten psychischer Störungen sich der Be¬ 
obachtung nicht entzogen hätte, um so mehr, als von einem Lagerarzt 
ausdrücklich berichtet wird, daß das Fehlen „spezifisch nervöser Er¬ 
scheinungen“ den Ärzten bald aufgefallen sei. Das Ergebnis kann dar¬ 
nach, wie ich glaube, nicht anders als im Sinne einer Bestätigung der 
Auffassung lauten, daß die Erschöpfung als solche keine 
Psychosen hervorruft. 

Wir kommen nun zur zweiten Frage: Welche pathogenetische 
Bedeutung hat nach den Kriegserfahrungen der Erschöp¬ 
fungskomplex für die Entwicklung psychischer und ner¬ 
vöser Erkrankungen anderer Ätiologie? 

Die Empfänglichkeit gegen Infektionen wird bei Tieren durch 
Aushungerung oder durch motorische Erschöpfung gesteigert. Daß 
ähnliches beim Menschen zutrifft, gilt fast als ärztliches Axiom. Die 
Erfahrungen in den Serbenlagem betonen die außerordentliche An¬ 
fälligkeit gegen Infektionen, die geringe Widerstandskraft des Organis¬ 
mus. Besonders die Tuberkulose scheint nach den Berichten, ent¬ 
sprechend bekannten Erfahrungen, besonders günstigen Boden zu 
finden. Es handelt sich vielfach nicht um Neuinfektionen, sondern 
um Aufleben alter, zur Buhe gekommener Prozesse. 

Für uns ist die Beziehung zwischen Erschöpfung und Infektions¬ 
krankheit vor allem in der Luesfrage von Wichtigkeit. Von zahl¬ 
reichen Seiten wird darauf hingewiesen, daß negativer Wassermann 
unter Erschöpfungseinflüssen positiv wird. Es ist aber auch noch be¬ 
sonders betont worden, daß im überanstrengten Organismus sich die 
Lues mit besonderer Vorliebe im Nervensystem festsetze und hier vor 
allem zu Frühschädigungen des Nervensystems führe. Ich entnehme 
diese Beobachtung den Berichten der fachärztlichen Berater einzelner 
Korpsbezirke. Sterz und Weygandt haben sich in diesem Sinne aus¬ 
gesprochen. Auch Steiner, bei dem die Nervensyphilitiker 4,4% seines 
ganzen Nervenmaterials ausmachen, weist darauf hin, daß Erschöp¬ 
fungseinflüssen eine wesentliche Bedeutung für die Lokalisation der Lues 
am Nervensystem zukomme. Es handelt sich bei den in dieser Frage 


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K. Bonhoeffer. 


bisher bekannt gewordenen Mitteilungen nirgends um eine systemati¬ 
sche Zusammenstellung größerer Reihen, sondern im wesentlichen um 
Eindrücke. Es wäre bei der Wichtigkeit der Frage wünschenswert, 
daß in dieser Richtung noch weiteres Material gesammelt würde, vor 
allem von Fällen, die vor dem Kriege nachweislich nach Wassermann 
negativ waren. Mein eigenes, etwa 50 Fälle umlassendes Nervenlues- 
mateiial (ausschließlich der progressiven Paralyse) ergibt einen ver¬ 
hältnismäßig hohen Satz von etwa 30% der Fälle, in denen der Einfluß 
chronischer Kriegsstrapazen auf die Lues wahrscheinlich ist. Dagegen 
gibt es keinen Anhaltpunkt dafür, daß gerade die frische Lues bei Er¬ 
schöpfung eine besondere Neigung zur zerebrospinalen Lokalisation 
zeigt. Im Gegenteil ist der Prozentsatz der kurz vorangegangenen In¬ 
fektionen geringer, als der Friedensstatistik entspricht. Es eigab 
sich nach meinem Material vielmehr, daß sogar besonders lange In¬ 
kubationszeiten von 18bi8 25 Jahren Vorlagen, daß also gerade alte, an¬ 
scheinend längst abgeschlossene Prozesse wieder angeregt wurden, 
ein Verhalten, das dem der Tuberkulose entspricht. Bemerkenswert 
an meinem Material ist vielleicht noch, daß unter den Fällen, in denen 
Epilepsie zum ersten Male im Feldzug auftrat, mehrfach Lues eine 
Rolle spielte. 

Ein besonderes Kapitel ist dann noch die progressive Para¬ 
lyse. Auch hier wird erschöpfenden Kriegseinflüssen eine besondere 
Bedeutung beigelegt. Während des russisch-japanischen Krieges hat 
schon Stieda behauptet, daß die progressive Paralyse eine Verkürzung 
der Inkubationszeit erfahren habe. Neuerdings hat Rütershaus über 
ausgesprochene Frühformen im Felde berichtet. Ähnlich — ersehe ich 
aus einem Korpsarztbericht — ist die Ansicht Knoblauchs, der auch 
früheren Ausbruch der Erkrankung in einer Reihe von Fällen beob¬ 
achtet hat. 

Bei der Wichtigkeit der Frage wird es sich sehr empfehlen, ge¬ 
nauere Nachuntersuchungen bezüglich der Inkubationszeit zu machen. 
Da die Nachforschungen bezüglich ihrer bei der Paralyse häufig ver¬ 
sagen, ist die Feststellung des Lebensalters von Wichtigkeit. Ich habe 
vor einiger Zeit mein Kriegsparalysematerial von diesem Gesichts-* 
punkte zusammengestellt: 34 Fälle. Es hat sich weder nach Lebens¬ 
alter noch nach den Inkubationszeiten, soweit diese zu ermitteln waren, 
eine Abweichung vom Friedenstypus eigeben. Bemerkenswerterweise 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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überwiegt auch hier die demente Form. Singer teilt mir über seine 
Erfahrungen aus einem Nervenlazarett mit, daß er unter den ihm 
zur Untersuchung zugegangenen Fällen nur 0,72% sichere Paralytiker 
gehabt hat, die hinsichtlich der Inkubation und der Altersverhältnisse 
nichts Besonderes boten. Ganz übereinstimmend ist der Bericht, den 
ich von Hämisch aus einem andern Nervenlazarett mit 36 Paralytikern 
habe. Das Durchschnittsalter der Paralytiker beträgt bei meinem 
und Harnischs Material zusammen etwa 38 Jahre, entspricht also den 
Durchschnitterfahrungen. Es scheint mir darnach, daß der Krieg 
bis jetzt keine ausreichenden Anhaltpunkte dafür ergeben hat, daß 
Erschöpfungseinflüsse das Hirn des Luikers frühzeitiger für Para¬ 
lyse empfänglich machen. 

Die Bedeutung der Erschöpfung für die Entwicklung endogener 
und anderer psychischer Erkrankungen ist offenbar nicht erheblich, wenn 
inan den Psychosezahlen in den Serbenlagern folgen darf. Es wird 
hierauf wie auf das Verhältnis der Erschöpfung zu psychopathischen 
Reaktionen aus praktischen Gründen zweckmäßiger zusammen mit 
der Emotionspathogenese einzugehen sein, zu der wir jetzt 
kommen. 

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Hunger, Strapazen und 
Kampf mit Übermüdungsgefühlen an sich stark gefühlsbetont sind, und 
daß insofern die Erschöpfung ein emotionelles Moment stets mitent¬ 
hält. Demgegenüber sehen wir emotionelle Schädigungen isoliert wirk¬ 
sam. In Betracht kommt zunächst die plötzliche seelische Erschütte¬ 
rung, wie sie bei unvermittelt auftretender Todesgefahr und plötz¬ 
lichen heftigsten Sinneseindrücken auftritt, der Symptomkomplex 
der Schreckemotion. — Darüber, daß die Schreckemotion eine 
plötzliche, mehr oder weniger starke Alteration des Vasomoto- 
riums setzt, bestehen wohl keine Meinungsverschiedenheiten. Die 
Schädigung kann bis zur Ohnmacht führen. Dafür, daß sie beim 
Gesunden bis zum Tode führt, liegen meines Wissens sichere Be¬ 
obachtungen aus dem Kriege nicht vor. Über unmittelbare psychische 
Folgeerscheinungen des Schrecks hat der Krieg nicht so viel ein¬ 
deutiges Material gebracht, als man wohl denken sollte. Zum Teil ist 
daran schuld die Häufigkeit der Komplikation mit Kommotionserschei- 
nungen, psychogenen Faktoren und andern ätiologischen Dingen, 
andrerseits fehlt im Felde gerade bei den in Betracht kommenden 


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K. Bonhoeffer, 


Situationen die Ruhe zur Beobachtung und Selbstbeobachtung. Viel¬ 
leicht hören wir heute in der Diskussion von den Kollegen aus dem 
Felde noch Neues. Immerhin hat sich das Bild der Emotionslähmung, 
wie sie zuerst Balz an sich selbst als Erdbebenwirkung geschildert 
und später Stierlin erwähnt hat, als psychischer Typus der plötzlichen 
Schreckwirkung bestätigt. Die Erscheinung einer unter dem Einfluß 
des erschütternden Erlebnisses plötzlich einsetzenden völligen affek¬ 
tiven Indifferenz bei lebhaft weiter funktionierendem intellektuellen 
Mechanismus ist mir spontan von Offizieren geschildert worden. 
Stransky bezeichnet nach eigenem Erleben den Zustand als den einer 
philosophischen Gleichmütigkeit. Ein Offizier erzählte mir, daß er 
etwa 3 Stunden lang nach einem plötzlichen Schreck durch uner¬ 
wartete Granatexplosion in dieser eigentümlich gefühlsleeren Ver¬ 
fassung gewesen sei. Birnbaum berichtet ähnliches nach einer Zeitungs¬ 
notiz über einen Flieger. Gaupp spricht von apathischem Stupor und 
dem Erloschensein jeder bewußten Gefühlsreaktion und bezieht sich 
dabei auf die entsprechenden Beobachtungen von Balz und Stierlin. 

Soweit sich die Kriegsliteratur mit dieser Erscheinung beschäf¬ 
tigt, neigt sie dazu, im Anschluß an Stierlin und neuerdings Hocke, 
darin etwa s Teleologisches, eine Art psychischer Selbstsicherung gegen 
zu starke psychische Eindrücke zu erblicken. Die Vorstellung eines 
derartigen Affektventils mag gerechtfertigt sein. Es liegt aber viel¬ 
leicht auch — und das interessiert mich in unserem Zusammenhang 
mehr — ein pathogenetisch bedeutsames Moment in dieser Loslösbar¬ 
keit des Affektes vom Vorstellungsinhalt. Abgesehen von dem be¬ 
merkenswerten Hinweis auf die Selbständigkeit des Affektiven, gibt 
die Tatsache, daß unter dem Einflüsse schwerster Emotion eine solche 
Abspaltung des Affektes erfolgt, der Vorstellung eine tatsächliche 
Unterlage, daß das Auftreten der psychoneurotischen Störungen viel¬ 
leicht mit pathologischen Affektverankerungen zusammenhängt, die 
dieser sejunktiven Störung entstammen. Balz erzählt von sich und 
seinem Kollegen, der einen ähnlichen Zustand erlebte, daß sie eine 
Stunde nach dem Emotionsstupor schon wieder ärztlich tätig waren 
und Verbände anlegten, und daß er nichts von Nachwirkungen spürte. 
Der Offizier, der mir von dem dreistündigen derartigen Zustande be¬ 
richtete, verfiel nachher in einen Zustand abnormer Weichmütigkeit 
mit Weinneigung, Depression und starker Sehnsucht nach Hause. 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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Nach 3 Tagen war er wieder in Ordnung. Auch Stransky berichtet 
von einer dem Zustande folgenden nervösen Reaktion auf das Erlebte, • 
ohne sie genauer zu schildern. Auch sonst ist mir ein solches zeitliches 
Verhältnis bekannt geworden. In diesem zeitlichen Intervall 
zwischen Schreckstupor und der darauf folgenden nervösen 
Abreaktion, die in den normal verlaufenden Fällen das affektive 
Gleichgewicht wieder herstellt, liegt offenbar eine Gesetzmäßigkeit, 
der in unserer Kriegsliteratur, soweit ich sehe, nicht genauer nachge¬ 
gangen ist. Aus einer Bemerkung SoUiers entnehme ich, daß in 
der französischen Kriegsliteratur die intermediäre Phase zwischen 
Emotion mit „tremblement und tachycardie“ und den folgenden 
nervösen Störungen diskutiert wird. Sie wird dort als „p&iode 
de möditation“ bezeichnet. Ich glaube, daß diese intermediäre Zeit 
genetisch für die Pathologie der Granatemotionsneurosen von Be¬ 
deutung ist. Es scheint mir plausibel, daß während dieser Zeit der 
bestehenden Affektabspaltung bei ungünstiger psychischer Konstella¬ 
tion — hierzu rechne ich Erschöpfung, Fortdauer emotioneller Schädi¬ 
gungen und vor allem psychopathische Konstitution — pathologische 
Affektverankerungen stattfinden können, die sich zunächst vor allem 
an die physiologischen Schreckerscheinungen anknüpfen und sich in 
einer zeitlichen Verlängerung dieser Erscheinungen äußern können. 
In dieser Phase handelt es sich noch um ganz labile Störungen, wie sich 
daraus ergibt, daß sie unter dem Einflüsse schnell einsetzender starker, 
vom Körperlichen ablenkender Vorstellungen — ich denke bei Balz 
und seinem Kollegen an die Dringlichkeit ärztlichen Eingreifens nach 
dem schweren Erdbeben und im Kriege an die Gefangennahme in 
dieser Phase — anscheinend ganz schnell zum Schwinden zu bringen 
sind. Ob man in dieser Phase schon von Hysterie sprechen will, ist 
Definitionsfrage. Es ist aber kein Zweifel, daß diese Bewußtseins¬ 
phase eine eminent hysterophile ist, wenn man das so nennen will, 
es mag schon der Wunsch nach Ruhe, das Bedürfnis, sich dem be¬ 
stehenden Schwächegefühl hinzugeben, sich der augenblicklichen 
Situation zu entziehen, genügen, die Symptome zu einer vorläufigen 
Fixierung zu bringen. 

Das Bewußtsein während dieser Zustände von Emotionslähmung 
im Sinne von Balz ist übrigens wahrscheinlich doch nicht so ganz 
intakt, wie Balz meint. Aus seiner eigenen Schilderung ergibt sich 


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K. Bonhoeffer, 


eine Störung des Wahrnehmungsaktes. Während er ganz affektlos 
sich innerlich die Erdbebenwirkung in den Einzelheiten vergegen¬ 
wärtigt, wird er sich zunächst nicht bewußt, daß er von seinem Kutscher 
am Arm gezerrt wird. Auch die Angabe, die man von Soldaten, die in 
dieser Gemütsverfassung im Kampfe stehen und sich offenbar äußer¬ 
lich sachgemäß verhalten, bekommt, daß sie wenig von allem im Ge¬ 
dächtnis behalten hätten, spricht für ein Verhalten des Bewußtseins, 
das sich der Bewußtseinsverfassung des Dämmerzustandes nähert. 
Vielleicht hängt es mit dieser Bewußtseinslage zusammen, daß im 
Gefolge von Emotionsschock epileptoide Erregungen, raptusartige 
Handlungen und poriomanische Anfälle nicht so ganz selten berichtet 
werden. Was sonst von psychopathologischen Folgeerscheinungen 
einmaliger und fortgesetzter Schreckemotionen berichtet wird, sind 
vor allem Delirien mit Darstellung von Gefechtsbildern von psycho¬ 
genem Typus, depressive Zustände mit zwangmäßig sich auf drängen¬ 
den schreckhaften Beminiszenzen. Gaupp schildert einen akuten 
apathischen Stupor mit viel psychogenen Einschlägen, der mit völliger 
Amnesie abklingt. Häufig handelt es sich bei den geschilderten Krank¬ 
heitsbildern neben der emotionellen Pathogenese um Verbindung mit 
Erschöpfung und oft auch mit echter Hirnkontusion, vor allem aber 
auch um Kombination mit endogen konstitutionellen Momenten und 
psychogenen Faktoren. 

Die Kriegserfahrung lehrt uns, daß es eine eigentliche Schreck¬ 
psychose, abgesehen von dem Böfeschen Emotionsstupor, offenbar 
nicht gibt. 

Wir haben im Kriege noch eine zweite Kategorie emotioneller 
Wirkungen erlebt, die wohl am stärksten in der Mobilmachungszeit in 
Erscheinung trat. Es hat sich da um ein eigenartiges Gemisch erheben¬ 
der und bedrückender Affekte gehandelt, wie sie durch die Vorstellung 
der kriegsbedrohten Heimat, durch das nach Aktivität drängende 
Gefühl des gekränkten Nationalbewußtseins und durch die Erwartung 
der schweren Störungen des persönlichen und wirtschaftlichen Lebens 
hervorgerufen wurden. Daß die massenpsychologische Wirkung dieser 
Affekte nicht ohne pathologische Einschläge war, ist uns allen erinner¬ 
lich. Wemicke würde, wenn er es erlebt hätte, seine Freude an dem 
Riesenexperiment zur Kenntnis des Einflusses der überwertigen Idee 
auf den Ablauf des Wahrnehmungsvorganges und Vorstellungsablaufes 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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gehabt haben. Es liegt die Frage nahe, ob jene durch das Volk gehende 
starke Affektwelle im einzelnen pathogenetische Wirkungen gehabt hat. 

Tatsächlich enthält auch die Literatur eine Anzahl von Mitteilun¬ 
gen über Mobilmachungspsychosen, und eine Reihe von Beobachtern 
haben in den ersten Tagen des Krieges eine Steigerung der Aufnahme¬ 
zahlen gesehen. Bresler hat durch eine Umfrage gezeigt, daß es keines¬ 
wegs erlaubt ist, diese Erfahrungen zu generalisieren. Unser Berliner 
Material zeigt sogar umgekehrt, daß vom 1. bis 15. August 1914 die 
Männeraufnahmen auf die Hälfte, die der Frauen auf den 5. Teil im 
Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangen waren. Es sind wohl vor 
allem die Gegenden, in denen der Landsturm sofort aufgerufen wurde, 
und Orte, wo größere Mengen dieser Landsturmleute Zusammenflossen, 
in denen eine Steigerung sich fand. Was beschrieben ist, sind vor allem 
pathologische Reaktionen von Psychopathen. Auffällig war bei uns 
in jener Zeit eine Zunahme der Alkoholdelirien, die bei dem offenbaren 
Seltenerwerden der Delirien in den letzten Jahren besonders augen¬ 
fällig war und über die in dieser Jahreszeit übliche Prädilektion hinaus¬ 
zugehen schien. Ich bin zweifelhaft, ob es berechtigt ist, hierbei dem 
emotionellen Faktor der Mobilmachung eine ausschlaggebende Be¬ 
deutung beizulegen. Das Zusammenströmen zahlreicher Landwehr¬ 
leute, die vor dem Abschied stark gefeiert hatten, die auf der oft langen 
Bahnfahrt erzwungene Abstinenz, dazu die Prädilektionszeit des 
August könnten eine ausreichende Erklärung abgeben. Auch nach 
WoUenberg hoben sich in der Mobilmachungsperiode die Alkoholde¬ 
lirien besonders hervor und, wie er beobachtete, auch in der 
schweren Verlaufsform. Ein nicht geringer Teil starb schnell infolge 
Herzschwäche. 

Die Frage der Auslösung endogener, schizophrener und organischer 
Psychosen im Gefolge von Emotionen kann zahlenmäßig noch nicht 
beantwortet werden. Die Statistik hat über Zunahme, Abnahme, 
Gleichbleiben dieser Erkrankungen während des Krieges noch nicht 
gesprochen. Wir sind auf die Beobachtungen des einzelnen ange¬ 
wiesen. Abgesehen von den Beobachtungen an Kriegsteilnehmern, 
könnten die emotionellen Einflüsse des Krieges auch in der Zivil¬ 
bevölkerung in den Sammelorten der Flüchtlinge, die schweren Erleb¬ 
nissen ausgesetzt waren, in Änderungen der Aufnahmeverhältnisse 
der Anstalten, vor allem auch der Frauenstationen, sich ausdrücken. 

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K. Bonhoeffer, 


Spezialuntersuchungen in dieser Richtung sind, soweit ich sehe, bis 
jetzt nicht gemacht worden. 

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die manisch-depressiven 
Psychosen, bei deren Entwicklung die verursachende Bedeutung der 
Gemütsbewegungen nach manchen Anschauungen noch immer hoch 
eingeschätzt wird. Einheitlich sind die Kriegserfahrungen darüber 
in einem Punkte: in der Feststellung der relativen Häufigkeit reaktiver 
Depressionen bei konstitutionell Depressiven, was eigentlich nach den 
Friedenserfahrungen fast selbstverständlich ist. Im übrigen gehen 
die Angaben auseinander. Hübner hat unter den Mobilmachungs¬ 
einflüssen verhältnismäßig viel Manische und Melancholische gesehen. 
Er führt als Zeugen für seine Auffassung von der leichten Auslösbar¬ 
keit dieser Zustände durch Emotion auch E. Meyers und Weygandts 
Kriegserfahrungen an, den ersten, wie mir nach der in Betracht kom¬ 
menden Arbeit scheint, nicht ganz mit Recht. Aus gelegentlichen 
privaten Mitteilungen von Kollegen entnehme ich, daß auch in den 
Anstalten der Zivilbevölkerung die Manien häufiger geworden seien. 
In meinem eigenen Material waren die manisch-depressiven Erkrankun¬ 
gen zu Anfang auffällig gering, und auch später schienen sie mir über 
das Häufigkeitsverhältnis, in dem wir sie auch sonst innerhalb der 
Psychosen vertreten sehen, nicht hinauszugehen. Unter den in meiner 
Klinik eingelieferten psychisch kranken Soldaten verhielten sich die 
Manisch-Depressiven zu den Schizophrenen wie 1 :4, ein Verhältnis, 
das für unsere Aufnahmeverhältnisse keine Häufung der Manisch- 
Depressiven bedeutet. Eine leichte Vermehrung würde übrigens kaum 
beweisend für den Emotionseinfluß sein, da anzunehmen ist, daß 
leichtere depressive oder hypomanische Erregungen in dem Rahmen 
der militärischen Disziplin eher auffällig werden und ins Lazarett 
gelangen als im Frieden. 

Ganz ähnliche Gedankengänge gelten für die Epilepsie. Auch 
hier hat die emotionelle Verursachung und Auslösung nicht nur des 
Anfalles, sondern der Krankheit, noch immer Anhänger. Ich verweise 
auf Weygandt. Eine sorgfältige Analyse von 48 Epilepsiefällen bei 
Soldaten hat mir bei keinem einzigen ergeben, daß die Feldzugs¬ 
emotionen, und ich kann auch gleich die Erschöpfung mit herein¬ 
nehmen, eine Epilepsie verursacht hätten. Stets hatte, wenn kon¬ 
stitutionelle Epilepsie im Felde zum ersten Male auftrat, eine deutliche 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 


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Anlage in dieser Richtung schon bestanden. Zu demselben Resultat 
ist Hauptmann gelangt, und wenn er noch weiterhin betont, daß für 
die Epilepsie die Unabhängigkeit des Auftretens der epileptischen 
Anfälle von emotionellen Momenten geradezu charakteristisch und 
differentialdiagnostisch verwertbar sei, so kann ich dem im allgemeinen 
nur zustimmen. Die häufige Fehldiagnose Epilepsie anstatt Hysterie 
würde bei Beachtung dieser Tatsache seltener werden. Das Vor¬ 
kommen reaktiver epileptischer Anfälle bei vorhandener Konstitution 
auf emotionelle Anlässe hin vollständig in Abrede zu stellen, scheint 
mir aber nicht zulässig. 

Bezüglich der schizophrenen, paranoischen mufparanoiden 
Erkrankungen hat der Krieg über auslösende Einflüsse der Emotion 
nichts ergeben, was die Auffassung, die wohl schon im Frieden allgemein 
war, daß für die Entwicklung dieser Erkrankung Gemütsbewegungen 
unwesentlich sind, umzustoßen Veranlassung geben könnte. Auch für 
das Zusammentreffen von Erschöpfungs- und Emotionseinflüssen gilt 
dasselbe. Die Erwägung, daß die Schizophrenie vielleicht auf Funk¬ 
tionsstörungen endokriner Art beruht, und daß durch Erschöpfung 
und fortgesetzte Emotion wahrscheinlich endokrine Störungen hervor¬ 
gerufen werden und infolgedessen vielleicht auf diesem Wege eine Ver¬ 
mehrung der schizophrenen Prozesse denkbar wäre, eine, wie ich glaube, 
von Wümanns diskutierte Möglichkeit, hat vorläufig durch die Beob¬ 
achtung noch keine Unterlage bekommen. Einzelne Fälle, die an¬ 
scheinend anschließend an solche Schädigungen ausgebrochen sind, 
hat natürlich jeder gelegentlich beobachtet. Sie beweisen aber nichts, 
solange der Prozentsatz nicht über das hinausgeht, was bei den in 
Betracht kommenden Altersklassen ohnehin an Erkrankungen zu 
erwarten steht. 

Die Bemerkung AU s, daß der schnellere und günstigere Verlauf 
gewisser im Felde entwickelter schizophrener Störungen Schlußfolge¬ 
rungen auf die exogene Auslösung erlaube, bedeutet vorläufig wohl 
lediglich eine Anregung, in dieser Richtung an größeren Reihen 
weiter zu untersuchen. 

Wie verhält sich endlich Emotion und Erschöpfung zur psycho¬ 
pathischen Konstitution? Fast allerseits wird eine enge Beziehung 
angenommen, und die Kriegserfahrungen, welche die relative Häufig¬ 
keit der episodischen Zufälle der Psychopathen zeigen, scheinen das 


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K. Bonhoeffer, 


zu bestätigen. Und doch lehrt uns gerade hier der Krieg etwas Wichti¬ 
ges. Das Ausbleiben solcher psychopathischen Reaktionen bei den 
Serben trotz Fortbestand ihrer schweren Erschöpfungszustände im 
Gefangenenlager, die entsprechenden Beobachtungen über das Fehlen 
psychisch-nervöser Erscheinungen bei den aus schwerstem Granatfeuer- 
Erlebnissen kommenden kriegsgefangenen Franzosen im Gegensatz 
zu der Häufigkeit dieser Störungen hinter der französischen Front, 
auf die ich in anderem Zusammenhang hingewiesen habe, und die 
neuerdings von Märchen an großem Material bestätigt worden sind, 
weisen darauf hin, daß der Erschöpfung und Emotion auch hier nicht 
die angenommene direkte pathogenetische Bedeutung zukommt. Erst 
die Fortdauer der Anforderungen an die Willensleistung, wie sie der 
Krieg und der Zwang der Disziplin mit sich bringen, der Konflikt der 
Pflicht mit den andersgerichteten Wünschen und Bestrebungen des 
psychopathischen Individuums löst die Mehrzahl der krankhaften Re¬ 
aktionen aus. Es liegt in diesen Beobachtungen ein wichtiger Hinweis 
auf die praktische Bewertung der psychopathischen Reaktion. Die 
Bedeutung der Erschöpfung und Emotion ist nur eine vorbereitende, 
indem sie die der psychopathischen Anlage entstammenden Antriebe 
leichter auslösbar macht, aber doch auch in dem Sinne, als sie die 
Toleranz auch der psychisch Robusten vorübergehend herabsetzen 
kann, als sie leichter Disharmonien zwischen affektiver, Willens- und 
intellektueller Sphäre, wie sie wohl in jedem Gesunden vorhanden 
sind, verstärken kann und so einen psychischen Zustand herbeiführen, 
der, wie ich glaube, allerdings nur vorübergehend der psychopathischen 
Konstitution in seiner Reaktionsweise gleichkommen kann. So sind 
während des Krieges pathologische Räusche, plötzliches Fortlaufen, 
Affektkrisen, Dämmerzustände auf diesem Boden auch bei bis dahin 
Gesunden beobachtet worden. 

Zum Schluß ist noch ein Punkt zu berühren. Wir wissen aus der 
somatischen Pathologie, daß Erkrankungen, die erschöpfte Individuen 
treffen, im Verlauf Besonderheiten zeigen. Der Typhus verläuft 
beim Erschöpften schwerer, aus dem Serbenlager hören wir von abnorm 
langer Heilungsdauer der Phlegmonen. Es fragt sich, haben sich 
ähnliche Einflüsse auch im Verlauf psychischer Erkrankungen gezeigt ? 
Aus der Friedenspathologie ist mir nichts hierher Gehöriges bekannt. 

Es ist mir vielmehr das Gegenteil aufgefallen, wie völlig unbeeinflußt - 


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Erfahrungen aus dem Kriege über die Ätiologie usw. 95 

ein schizophrener oder manisch-depressiver Prozeß beispielweise neben 
einer konsumierenden Tuberkulose einhergeht. 

Die Kriegsliteratur bringt zu dieser Frage einiges. WoUenberg hat, 
wie ich schon erwähnt habe, ungünstigen und schweren Verlauf der 
in der Mobilmachungszeit zur Behandlung gekommenen Alkoholdeli¬ 
rien gesehen. An den mir zur Beobachtung gekommenen ist nichts Auf¬ 
fälliges gewesen, es ist aber wohl denkbar, daß die stärkere Inanspruch¬ 
nahme de3 Alkoholistenher zens unter den Emotionen der Mobilmachungs¬ 
zeit ein schnelleres Versagen zur Folge hat. In den letzten Tagen ist 
mir noch eine Arbeit von Weygandt zugegangen, der die Auslösung 
der progressiven Paralyse durch Kriegsschädigungen auch ablehnt, 
aber von einer Kriegsparalyse in dem Sinne spricht, als er einen 
schnelleren Verlauf unter dem Einflüsse erschöpfender Kriegserlebnisse 
glaubt feststellen zu können. Ich bin leider nicht mehr in der Lage 
gewesen, zur Nachprüfung der Frage unsem zur Entlassung gekomme¬ 
nen Paralytikern weiter nachzuforschen. In den Paralytiker-Kranken¬ 
geschichten und meinem augenblicklichen Paralytiker Material aus 
dem Heere habe ich ein Überwiegen schnell verlaufender Formen 
nicht feststellen können. Bei der theoretischen wie praktischen Wich¬ 
tigkeit der Frage scheint es geboten, vor Anerkennung dieser Kriegs¬ 
paralysen im Sinne Weygandts noch weitere Beobachtungen an großem 
Material abzuwarten. 

Ich möchte damit meinen Überblick beschließen. Wie Sie 
sehen, ist noch manche Frage offen, die vielleicht durch die Diskussion 
geklärt werden kann. Was sich schon jetzt, noch ehe die Statistik 
gesprochen hat, mit ziemlicher Sicherheit ergibt, ist etwas Erfreu¬ 
liches. Der Krieg hat uns gezeigt, daß die Widerstandsfähigkeit des 
gesunden Gehirns sehr hoch eingeschätzt werden darf, und daß die das 
kämpfende Heer am meisten in seiner Allgemeinheit treffenden und 
am wenigsten vermeidbaren Schädigungen der körperlichen Er¬ 
schöpfung und der gemütlichen Erschütterung einen irgendwie wesent¬ 
lichen Einfluß auf die Entwicklung eigentlicher Geisteskrankheiten 
nicht haben. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Die auf den 22. Oktober 1916 angesetzte Kriegstagung der Ver¬ 
einigung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen (s. 
Bd. 72, S. 372) ist auf vielseitigen Wunsch verschoben worden und findet 
am 6. Januar 1917 in Dresden statt. 


Zum Andenken A. Alzheimers. — Es hat keinen Zweck, mit 
dem Schicksal zu hadern, welches uns allzu früh einen Forscher entriß, der 
unserer Wissenschaft so viel gegeben hat, und von dem wir noch viel zu er¬ 
warten berechtigt waren. Wir sind uns dessen vollkommen bewußt, was wir 
an Alzheimer verloren haben. Sein Bild als Mensch ist in unseren Herzen 
eingegraben, sein Wirken als Forscher hat er selbst in seinen Arbeiten ver¬ 
ewigt. Gewiß: die Woge des unaufhaltsamen Fortschritts wird auch über 
seine Leistungen hinwegziehen, und unter neuen Erkenntnissen^werden 
dieselben verblassen. Trotzdem besteht kein Zweifel, daß Alzheimers 
Anteil am Fortschritt unserer Wissenschaft nicht verweht werden wird. 
Mögen neue und bessere Erkenntnisse alte und anfechtbare Anschauungen 
verdrängen, Alzheimers Arbeiten werden für immer Marksteine in der 
Geschichte unserer Wissenschaft bleiben. Hierin ist seine Bedeutung als 
Forscher eingeschlossen. 

Diese Arbeiten gehören der Histopathologie des Gehirns und seiner 
Rinde an. Nichts wäre jedoch irriger als zu glauben, daß er nur Histo- 
pathologe, bloß Anatom war. Wenn auch der Schwerpunkt seiner Lebens¬ 
arbeit in seinen histopathologischen Forschungen liegt, so war er doch in 
seiner wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweise in erster Linie Kliniker, 
ein Psychiater, welcher „der Psychiatrie mit dem Mikroskope weiter¬ 
helfen wollte“. 

Mündlich und schriftlich hat Alzheimer immer wieder darauf hin¬ 
gewiesen, daß nicht der Grund einzusehen ist, warum es der pathologischen 
Anatomie unmöglich sein sollte, der klinischen Psychiatrie ebenso zu Hilfe 
zu kommen wie allen übrigen Gebieten der Heilkunde, indem einmal 
Krankheitserscheinungen aus Schädigungen der Organstruktur erklärbar 
werden, und indem zweitens die pathologische Anatomie als Ursache von 


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Kleinere Mitteilangen. 


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klinisch nicht immer leicht trennbaren Krankheitsgruppen histologisch 
verschiedene Krankheitsvorgänge kennen gelehrt hat. Namentlich diesen 
zweiten Punkt hat Alzheimer mit besonderem Nachdruck betont. Hier 
setzte seine eigene Arbeit ein. Wie sich mit der Möglichkeit der Nach¬ 
prüfung der klinischen Diagnose durch die histologische Untersuchung in 
der übrigen Medizin „eine genauere Bewertung der einzelnen Symptome 
für DiiTerentialdiagnose und damit schließlich auch eine zuverlässigere 
klinische Abgrenzung der einzelnen Krankheitsformen erreichen ließ“, 
so wollte er auch der Psychiatrie mit dem Mikroskop weiterhelfen. 

Treffend hat Spielmeyer als den Grundzug seiner Forschungsweise 
gekennzeichnet „das Zusammenarbeiten der Anatomie mit der Klinik, 
die histologische Forschung unter klinischen Gesichtspunkten und unter 
der Leitung klinischer Erfahrungen, wie auch umgekehrt die Klärung 
klinischer Probleme unter Führung anatomischer Tatsachen“. 

Immer und immer wieder hat Alzheimer die Aufstellung scharf 
umgrenzter Krankheitsbilder in der Psychiatrie verteidigt. Nur durch 
eine scharfe Umgrenzung von Krankheitsbildern sei es möglich, das Wesen 
einer Krankheit zu verstehen, ihre Prognose vorauszusagen, ihre Ursachen 
zu ergründen und schließlich prophylaktisch oder therapeutisch auf sie 
einzuwirken. Als Wege, die ihm heute möglich erschienen, diesem Ziele 
näherzukommen, bezeichnete er denjenigen der histologischen Unter¬ 
suchung und den einer Gruppierung nach klinischen Gesichtspunkten. 
Obschon ihrer Natur nach prinzipiell voneinander verschieden, waren für 
ihn diese beiden Wege nicht unabhängig voneinander; wie ein neben dem 
Flußbett einherziehender Landweg sollten sie Berührungen haben, sich 
ergänzen, vor allem aber zum gleichen Ziele führen. Charakteristisch für 
sein Forschen ist, daß er bei seinen anatomischen Untersuchungen stets 
von klinischen Beobachtungen ausgegangen ist, daß er, um bei unserem 
Bilde zu bleiben, vom Flußbett aus den Landweg festzustellen und zu 
finden suchte. Immer wieder hat er mit Nachdruck betont, daß der Histo- 
pathologe der Führung der Klinik bedarf; an klinisch sichergestellten 
Fällen seien die kennzeichnenden histopathologischen Veränderungen zu 
ermitteln und diese denjenigen gegenüberzustellen, die bei klinisch wesent¬ 
lich anders verlaufenden Fällen erhoben werden: auf diese Weise unter 
Führung der Klinik zu einer histologischen Differentialdiagnose gelan¬ 
gend, sollte die letztere für die klinische Forschung verwertbar gemacht 
werden. Was Alzheimer für die Psychiatrie anstrebte, war das gleiche 
Programm wie überall in der Medizin: die Auffindung natürlicher 
Krankheitsformen auf Grund engster Zusammenarbeit zwischen Kliniker 
und Anatomen. 

Wohl ohne Widerspruch wird zugegeben, daß man von einer patho¬ 
logischen Anatomie der Geistesstörungen da zu sprechen berechtigt ist, 
wo geistige Störungen sich bei greifbaren anatomischen Veränderungen 
einstellen oder wo, wie man zu sagen pflegt, eine organische Erkrankung 

Zeitschrift fOr Psychiatrie. LXXIII. 1 . 7 


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des Gehirns vorliegt. So übereinstimmend man den Begriff einer patho¬ 
logischen Anatomie der Geistesstörungen in diesem beschränkten Sinne 
zulassen wird, so groß dürfte wohl der Widerspruch gegen diesen Begriff 
in ganz allgemeinem Sinne sein. Man wird vielleicht schon den von Alz¬ 
heimer gebrauchten Begriff der pathologischen Histologie der Geistes¬ 
störungen beanstanden, wenn auch jedermann weiß, was damit gemeint 
ist: die pathologische Histologie derjenigen Organteile, ohne deren Funk¬ 
tionen geistiges Leben unmöglich ist. 

Alzheimer war trotz seines unverwüstlichen Optimismus sein ganzes 
Leben lang in seinem wissenschaftlichen Denken gewissermaßen Real¬ 
politiker. Er, der so wesentliches beigetragen hat, auf dem Gebiete der 
„organisch“ bedingten Psychosen scharfe Begrenzungslinien zwischen ver¬ 
schiedenen Krankheiten zu ziehen, war fest davon überzeugt, daß einer 
der Wege, die uns auch auf dem Gebiete der sogenannten funktionellen 
Psychosen weiterzuführen geeignet sind, die pathologische Anatomie ist. 
Trotz dieser festen Überzeugung war, wie Gaupp in seinem Nachruf 
schreibt, „das Spekulative seinem anschaulichen Denken fremd, und wenn 
er, wie z. B. in seiner Vorlesung über „Gehirn und Seele“ in München, 
erkenntnistheoretische Probleme zu behandeln hatte, so geschah es mit 
der gleichen innerlichen Bescheidenheit gegenüber dem Unerforschbaren, 
die sein ganzes Wesen erfüllte und ihn im wahren Sinne des Wortes zu 
einem toleranten Manne gegenüber allen Dingen des Ahnens und Glaubens 
machte“. Ich selbst habe mit Alzheimer niemals über dergleichen Dinge 
diskutiert und auch nicht diese Vorlesung gehört; ich weiß nur, daß er 
Erörterungen über den Zusammenhang von Seele und Leib lieber andern 
überließ und sich lediglich auf den Boden der Tatsache stellte, daß ohne 
lebendes Gehirn seelische Äußerungen ein Nonsens sind. Kein Verständi¬ 
ger wird zweifeln, daß jeder eigentümliche seelische Vorgang auch seine 
eigentümliche körperliche Bedingung hat. Erkennt man aber diesen Satz 
als zu recht bestehend an, so wird man, um mit den Worten Alzheimers 
zu sprechen, nicht über die Forderung hinwegkommen können, daß jede 
pathologische Äußerung unseres Seelenlebens mit materiellen Veränderun¬ 
gen im Rindengewebe einhergehen muß. Obwohl Alzheimer praktisch 
an der Einteilung von funktionellen und organischen Psychosen festge¬ 
halten hat, war er sich doch vollkommen bewußt, daß die Bezeichnungen 
organische und funktionelle Seelenstörungen mißverständlich und unvoll¬ 
kommen sind. Wollen wir dieselben trotzdem noch weiter gebrauchen, 
„dann müssen wir jedenfalls unter die organischen Psychosen alle solche 
rechnen, bei welchen Nervenmaterial zugrunde geht oder Veränderungen 
nachgewiesen sind, die über Veränderungen, welche die normale Funktion 

begleiten, hinausgehen.Damit erweitert sich aber der Begriff der 

organischen Psychosen gegenüber der älteren Zusammenfassung sehr 
erheblich“. 

Also aus Alzheimers Umgrenzung dessen, was er unter die „organi- 


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sehen“ Psychosen rechnet, geht hervor, daß er weit über das hinausgeht, 
was man für gewöhnlich als organisch bezeichnet. Es war daher ganz 
folgerichtig, wenn er die pathologische Anatomie als einen der Wege be- 
zeichnete, die uns auch auf dem Gebiete der sogenannten funktionellen 
Psychosen noch weiterführen können. Auch hier, „wo man heute noch 
überall Übergänge zu sehen glaubt, ist zu hoffen, daß wir mit dem Fort¬ 
schritt unserer Erkenntnis zur besseren Abtrennung einzelner Krank¬ 
heiten und zur Gliederung der schon vorhandenen besonders großen 
Krankheitseinheiten in verschiedene durch Besonderheiten der Symptome 
und des Verlaufs charakterisierte Typen gelangen werden“. 

Das war für Alzheimer das ideale Ziel, welches ihm vorschwebte. 
Aber er war sich auch der Grenzen seines Könnens bewußt. Wenn er auch 
davon ausging, „daß schon mit den physiologischen Leistungen Verände¬ 
rungen im Nervengewebe vor sich gehen“, so war er doch weit davon 
entfernt, uferlosen Problemen nachzujagen. „Wir wissen davon noch 
ungemein wenig vom Allergröbsten, und wer sich die Schwierigkeiten, 
solche funktionelle Veränderungen zu erkennen und abzugrenzen, klar¬ 
gemacht hat, wird einsehen, daß wir in aller absehbaren Zeit damit nicht 
fertig werden.“ An einer andern Stelle sagt er: „Die Kenntnis der außer¬ 
ordentlichen Schwierigkeiten des Arbeitsgebietes haben mich aber auch 
abgehalten, je zu hoffen, daß das Mikroskop in naher Zeit der Psychiatrie 
alle Rätsel lösen wird.“ 

Als lösbare Aufgabe bezeichnete Alzheimer vor allem die Feststellung 
der anatomischen Grundlage der Dementia praecox. „Bei den Infektions¬ 
und Intoxikationspsychosen häufen sich immer mehr charakteristische 
Befunde. Hin und wieder begegnen uns heute noch nicht bekannte histo¬ 
logische Krankheitsprozesse, so daß wir hoffen können, mit Hilfe der Histo¬ 
logie klinisch nicht oder noch nicht herausgehobene Krankheiten ab¬ 
grenzen zu lernen. Die Epilepsie werden wir immer mehr auflösen können, 
die Idiotie ist heute schon in zahlreiche verschiedene Krankheiten ab¬ 
trennbar. Auch auf dem Gebiete der organischen Erkrankungen lassen 
sich neue Krankheitsprozesse erkennen und bekannte noch weiter auf¬ 
klären, namentlich verspricht das Studium der verschiedenen Lokalisa¬ 
tionsformen der letzteren im Vergleich zu den klinischen Bildern weitere 
interessante Ergebnisse. Wenn alle diese lösbaren Aufgaben gelöst sein 
werden, wird auch der klinischen Psychiatrie mancher Vorteil für die Ab¬ 
grenzung ihrer Krankheiten zugeflossen sein. Überall aber kann die Ana¬ 
tomie nicht helfen.“ 

Das Programm der modernen Histopathologie der Rinde, daß das 
zunächst zu erreichende Ziel nicht in der möglichst scharfen lokalen Ab¬ 
grenzung der erkrankten nervösen Elemente und nicht in dem Bestreben 
besteht, die einzelnen klinischen Krankheitszeichen mit dem anatomischen 
Befunde in Einklang zu bringen, sondern unter klinischer Leitung in der 
zielbewußten Ermittlung der einzelnen histopathologischen Gesamt- 


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prozesse sowie in der möglichst scharfen Auseinanderhaltung der ver¬ 
schiedenen histopathologischen Vorgänge voneinander und in der Ver¬ 
wertung der hieraus sich ergebenden Differentialdiagnose für die klinische 
Differentialdiagnose, — dieses Programm hat Alzheimer nicht nur mit 
schönstem Erfolge durchgeführt, sondern er hat auch in vorbildlicher 
Weise gelehrt, wie man diese Aufgabe anpacken und durchführen muß. 

Er selbst, der nie uferlosen Problemen nachjagte und als echter 
Forscher sich stets wirklich erreichbare Aufgaben stellte, ist in den letzten 
Jahren seines Lebens gelegentlich über das ursprüngliche Programm 
hinausgegangen, indem er die Möglichkeit andeutete, daß die Histopatho¬ 
logie auch „für die Beziehungen der Symptomenkomplexe zu den Krank¬ 
heiten mancherlei lehren“ könne. Aber auch selbst bei diesem kühnen 
Schritte blieb er gewissermaßen mit beiden Füßen auf dem Boden. Es 
ist außerordentlich charakteristisch für ihn, daß er hierbei sich an Symp¬ 
tomenkomplexe hält, deren körperliches Korrelat histologisch untersuchbar 
ist. Eine der anziehendsten Schilderungen Alzheimers betrifft seine Aus¬ 
führung über einen stuporösen Katatoniker, der ohne irgendwelche An¬ 
zeichen einer Erkrankung körperlicher Organe plötzlich tot zu Boden 
gefallen war, und bei dem er zunächst vergeblich nach entsprechenden 
Befunden suchte, schließlich aber doch sehr tiefgreifende Störungen in 
der Hirnrinde nachweisen konnte, die dem Falle „etwas von dem Rätsel¬ 
haften genommen haben“. Von den anfallartigen Störungen der De¬ 
mentia praecox geht er über auf diejenigen der Paralyse und der Epilepsie 
und sucht darzulegen, daß die epileptischen und epileptiformen Anfälle wahr¬ 
scheinlich „durch einen im Gehirn vorbereiteten Mechanismus zur Aus¬ 
lösung gebracht werden, und daß den Anstoß zu diesen Auslösungen sehr 
verschiedenerlei Schädigungen geben können“. Ein Teil dieser Schädi¬ 
gungen sei aber heute schon histologisch faßbar. Den Hinweis auf die Ver¬ 
wendbarkeit der Histopathologie für die Beziehungen von Symptomen- 
komplexen zu den Krankheiten begründete er weiter dahin, daß „experi¬ 
mentelle Untersuchungen, wie das Studium der Infektionspsychosen, 
darauf hindeuten, daß bestimmte Reaktionsformen nicht von der Art des 
Giftes, sondern von dessen Dosierung abhängen. Bei den amentiellen 
Zuständen und leichten Delirien finden sich andere Veränderungen als bei 
den schweren und wieder andere bei den schwersten, den delirium acutum- 
artigen Verlaufsformen. Weiterhin zeigt sich, daß bei bestimmter Do¬ 
sierung nicht jedes Gift gleich verbreitete Schädigungen im Zentral¬ 
nervensystem setzt, sondern elektiv die einen Teile schwerer, die andern 
geringer schädigt. Diese elektive Giftwirkung läßt erwarten, daß durch 
die verschiedene Lokalisation der Hirn- und Rindenschädigung auch ver¬ 
schiedene Krankheitsbilder erzeugt werden“. Andrerseits ließe sich der 
Gedanke nicht abweisen, daß Krankheitsprozesse, die, wie z. B. die Korssa- 
Arowsche Psychose und die Presbyophrenie, ihrem Wesen nach verschieden, 
aber in ihren, Symptomenbildern einander sehr ähnlich sind, den gleichen 


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Angriffspunkt in der Rinde besitzen. Mit vollem Rechte schließt Spiel¬ 
meyer als ebenfalls hierher gehörig den Hinweis darauf an, daß Alzheimer 
schon vor Jahren die Notwendigkeit der Erforschung atypischer Formen 
der verschiedenen Krankheitsprozesse betont habe, da gerade eine Ver¬ 
gleichung solcher Fälle mit den gewöhnlichen Bildern der betreffenden 
Krankheit zu einer anatomischen Erklärung der Symptome verhelfen könne. 

Überblickt man das Lebenswerk Alzheimers, so kommt man zu dem 
Ergebnis, daß er durch das innige Zusammenwirken anatomischer und 
klinischer Arbeit die Psychiatrie wie wenige gefördert hat. Der Schwer¬ 
punkt seines histopathologischen Schaffens lag, wenn ich so sagen darf, 
in der speziellen Histopathologie des Zentralnervensystems. Was 
er auf diesem Gebiete, namentlich in der scharfen Umgrenzung der soge¬ 
nannten organischen Psychosen, geleistet hat, ist bereits Allgemeingut 
geworden. Sein Verdienst besteht darin, daß er gewissermaßen die Ergeb¬ 
nisse der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems unter 
Führung der Klinik für die spezielle Histopathologie der Geisteskrank¬ 
heiten verwertet und in dieser Richtung begonnen hat, zahlreiche Bau¬ 
steine zusammenzutragen. In den letzten Jahren seines Lebens war er 
damit beschäftigt, die Ergebnisse jahrelanger Arbeit in lehrbuchmäßiger 
Darstellung den Lesern des von Aschaffenburg herausgegebenen Handbuchs 
der Psychiatrie zugänglich zu machen. Leider hat er diese Arbeit nicht 
vollenden können. 

Niemand als Alzheimer hat es besser gewußt, „daß wir noch ganz 
im Anfang der Entwicklung einer pathologischen Anatomie der Psychosen 
stehen“. Ohne Schwierigkeit sind wir imstande, eine Paralyse, eine senile 
Demenz, eine Arteriosklerose und einige Formen der Hirnlues voneinander 
zu unterscheiden, aber bei dem Gros der in Irrenanstalten zur Sektion 
kommenden Fälle hat bis jetzt die Histopathologie versagt. Zwar finden 
wir auch hier regelmäßig, oft sogar recht greifbare Veränderungen an 
den einzelnen Gewebsbestandteilen, allein man kann damit nicht viel an¬ 
fangen; man ist außerstande, dieselben entsprechend den verschieden¬ 
artigen klinischen Verlaufsformen in verschiedenartige wohl gekennzeichnete 
histopathologische Gesamtbilder auseinanderzuhalten. Von dem Ziel der 
Histopathologie der Rinde, ohne Kenntnis des klinischen Falles aus¬ 
schließlich aus dem Ergebnis der histopathologischen Untersuchung des 
Gehirns zu erkennen, daß der Besitzer des untersuchten Gehirns an einer 
geistigen Störung gelitten hat, welche im allgemeinen einer bekannten 
klinischen Verlaufsweise entspricht, sind wir noch sehr weit entfernt. 
Trotzdem kann man Alzheimer durchaus verstehen, wenn er sagte: „Ein 
Gefühl der Resignation hat mich nie beschlichen.Wenn ich zusam¬ 

menstelle, was die pathologische Anatomie des Zentralnervensystems seit 
dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts geleistet hat, kann ich 
wohl sagen: ein gut Stück Arbeit.“ 

Vergleicht man den Stand der pathologischen Anatomie bei den übri- 


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gen Organen mit demjenigen der Histopathologie der Hirnrinde, so haben 
wir wahrhaftig nicht die geringste Ursache, kleinlaut zu werden. Man 
betrachte doch einmal nur beispielweise die pathologische Anatomie der 
Niere und stelle an sie die gleichen Fragen, die man an die Histopathologie 
der Rinde hinsichtlich ihrer Leistungen für die klinische Psychiatrie zu 
richten pflegt. Obschon wir es bei der Niere mit einem gegenüber der 
Hirnrinde unvergleichbar einfachen Organ zu tun haben, brauchen wir, 
wenn wir nur einmal dieses Beispiel wirklich durchdenken, diesen Ver¬ 
gleich wahrhaftig nicht zu fürchten. 

Wir dürfen bei der Histopathologie der Geisteskrankheiten nicht 
vergessen, daß wir erst angefangen haben mit dem Anfang, und nichts 
wäre verkehrter, als verzagt und mutlos zu werden, nachdem nach den 
anfänglich glänzenden Erfolgen der Histopathologie der Geistesstörungen 
diese Forschung ins Stocken geraten ist. 

Als Alzheimer erkannt hatte, daß die bisherigen Feststellungen und 
Methoden der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems zur 
Fortführung der Histopathologie der Geistesstörungen nicht mehr aus¬ 
reichen, hat auch er sich den Problemen der allgemeinen Histopatho¬ 
logie des Zentralnervensystems zugewandt. Ich weise auf die 4 letzten 
Bände der „Histologischen und histopathologischen Arbeiten“ hin, deren 
Inhalt fast ausschließlich aus seinem Laboratorium hervorgegangen ist. 
Ein beträchtlicher Teil dieser Arbeiten ist der allgemeinen Histopathologie 
des Zentralnervensystems gewidmet. Die hervorragendste Abhandlung 
unter den letzteren, die „Beiträge zur Kenntnis der pathologischen Neuro- 
glia und ihre Beziehungen zu den Abbauvorgängen im Nervengewebe“ 
stammt aus seiner Feder. So oft ich zurückdenke an die Stunden, in 
denen er mir im Münchener Laboratorium seine Anschauungen über die 
Glia, über ihre Beziehungen zum Saftstrom und den Gefäßen an Hand 
von Präparaten auseinandersetzte, tritt vor mein geistiges Auge in greller 
Klarheit seine große Bedeutung auch als allgemeiner Histopathologe des 
Ze ntralnervensystems. 

Ein Eingehen auf Alzheimers Arbeiten über die Histopathologie der 
Geistesstörungen und auf seine Studien über allgemein histopathologische 
Fragen des Zentralnervensystems ist hier nicht beabsichtigt; wie ich schon 
an anderer Stelle erklärte, habe ich mir Vorbehalten, im nächsten Hefte der 
„Histologischen und histopathologischen Arbeiten“ die Ergebnisse seiner 
histopathologischen Forschungen und deren Bedeutung kritisch darzu¬ 
legen 1 ). 

Hier kommt es mir darauf an, festzulegen, daß zwar die Forschungs¬ 
ergebnisse, durch welche er im In- und Ausland weiten Kreisen bekannt 


l ) Ein Verzeichnis der wichtigsten Veröffentlichungen Alzheimers 
bringt Spielmeyer am Schluß seines Nachrufes: tr Alzheimers Lebenswerk" 
(Zeitschr. f. d. gesamte Neurologie und Psychiatrie Bd. 33, Heft 1/2). 


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geworden ist, der Histopathologie der Geisteskrankheiten angehören, daß 
er aber auch auf dem Gebiete der allgemeinen Histopathologie des Zentral¬ 
nervensystems Großes geleistet hat. Gerade deshalb ist sein früher Tod 
ein so unersetzlicher Verlust, weil er, wie kein anderer, befähigt war, der 
ins Stocken geratenen Histopathologie der Geistesstörungen Neuland 
zuzuführen durch Aufstellung und Lösung neuer Probleme auf dem Ge¬ 
biete der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems. 

Es ist durchaus begreiflich, daß der Psychiater den Fragestellungen 
der allgemeinen Histopathologie des Zentralnervensystems nicht allzuviel 
Interesse entgegenbringt. Erörterungen und histologische Detailarbeiten 
über die pathologische Neuroglia, über die Frage der sogenannten peri¬ 
vaskulären Räume, über die Beziehungen zwischen den ekto- und meso¬ 
dermalen Gewebsanteilen, die Forderung, daß man den letzteren genau 
ebensoviel Sorgfalt widme wie dem Aufbau und Veränderungen von 
Nervenzellen und Fasern, die Probleme des in der Entwicklung begriffenen 
Nervengewebes und seiner pathologischen Abwandlungen und noch un¬ 
endlich viele andere Fragen wie auch die Heranziehung des Tierexperi¬ 
mentes zur Lösung allgemeiner histopathologischer Fragen des Zentral¬ 
nervensystems haben in der Tat keine Berührungspunkte mit der klinischen 
Psychiatrie. Für den Einsichtigen aber sind es notwendige Umwege, 
die er vernünftigerweise machen muß, um das Ziel zu erreichen, zu dem 
ein direkter Weg noch nicht hinführt. 

Diese Umwege, diese notwendigen Umwege geben eine Erklärung 
dafür, warum vielfach Alzheimer als „bloß Anatom“, als „nur Histo- 
pathologe“ bezeichnet wurde. 

Als er für den Lehrstuhl in Breslau in Frage kam, zweifelte niemand 
an seiner überragenden Bedeutung als Histopathologe des Gehirns, aber 
es wurden doch auch Stimmen laut, die meinten, der Professor eines klini¬ 
schen Lehrstuhles müsse in erster Linie Kliniker sein. Es war Alzheimer 
nur eine kürze Spanne Zeit vergönnt, in Breslau seines Amtes zu walten. 
Aber diese kurze Zeit genügte vollauf, um auch die Zweifler zu überzeugen, 
daß der angebliche „bloße Anatom“ auf den richtigen Platz gestellt war. 

Wenn man schon gegenüber dem glänzendsten Vertreter der histo- 
pathologischen Forschungsrichtung in der Psychiatrie Zweifel hegte, ob 
er für einen Lehrstuhl der Psychiatrie der geeignete Mann sei, so ist die 
Besorgnis nicht ganz unbegründet, daß solche Zweifel zukünftig noch in 
viel höherem Grade bei denjenigen Kollegen Platz greifen könnten, welche 
die Bearbeitung dieser Forschungsrichtung sich zur Lebensaufgabe machen. 
Diese Besorgnis ist um so mehr berechtigt, als mit der unaufhaltsam fort¬ 
schreitenden Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel die Forschungs¬ 
aufgaben immer größer, als mit jeder besseren Einsicht in die Struktur 
des Nervengewebes dieses immer verwickelter wird, als bei jedem Schritt 
vorwärts sich stets neue Hindernisse auftürmen, mit einem Worte, als der 
Umweg, von dem ich gesprochen, immer gewaltiger wird. Dazu kommt 


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noch, wie Alzheimer sagte, „die sehr verschiedene und zum Teil recht 
niedrige Einschätzung des Wertes der pathologischen Anatomie als Hilfs¬ 
wissenschaft der Psychiatrie“. 

Allerdings ist dieser Umstand kein objektiver Maßstab für deren 
Bewertung. Trotzdem muß diejenigen unter uns, die den Wert dieser Hilfs¬ 
wissenschaft hoch einschätzen, die es für bedauerlich halten würden, wenn 
nicht auch die histopathologische Forschungsrichtung in der Psychiatrie 
unter den Inhabern der Lehrstühle Vertretung fände, namentlich aber die 
wenigen Kollegen, welche diese Forschungsrichtung eingeschlagen haben, 
in der Erinnerung an den allzu frühen Tod Alzheimers ein wahrer Jammer 
ergreifen. Denn er war unbestritten der geeignetste Mann, dieser For¬ 
schungsrichtung immer mehr Anhänger zuzuführen. Rein sachlich in seinen 
Darlegungen, abhold jeder Übertreibung und phantastisch-spekulativen 
Hirngespinsten, frei von persönlicher Schärfe im Bekämpfen fremder 
Anschauungen, dabei von einem glühenden Eifer erfüllt für das, wofür er 
kämpfte, war er nicht nur Verteidiger, sondern auch Werber für diese 
Forschungsrichtung. 

Mit ihm haben wir nicht nur einen ihrer autoritativen Vertreter 
verloren, auch einen Mann, der, wie selten einer, die Fähigkeit besaß, 
Schule zu machen und Schüler heranzuziehen. Sein Laboratorium in 
München genoß einen Weltruf. Von allen Kulturstaaten strömten zu ihm 
junge Ärzte. Man kann, um einen Ausdruck Gaupps zu gebrauchen, in 
der Tat von seiner internationalen Arbeiterschar sprechen. In der Er¬ 
innerung an diese Lehrtätigkeit meines Freundes beschleicht mich freilich 
auch ein wehmütiges Gefühl. Ich kann mich nicht von dem Gedanken an 
den Propheten,, im eigenen Lande“ freimachen. Ob die vielen Ausländer, 
insbesondere die Italiener, unsere Bundesgenossen seligen Angedenkens, 
sich wohl des deutschen Barbaren und dessen, was er ihnen gegeben hat, 
noch erinnern? 

Es wäre unrecht, wollte man über den hervorragenden Eigenschaften 
des akademischen Lehrers und Forschers den Anstaltsarzt vergessen. Ich 
habe bereits an anderer Stelle betont, daß Alzheimer zu dem immer seltener 
werdenden Genus der alten Irrenanstaltsärzte gehörte, die nicht nur zu 
den Kranken in ein persönliches Verhältnis treten, sondern für welche auch 
die technische Seite des Abteilungsbetriebes eine persönliche Angelegen¬ 
heit ist. 

Bald nach seiner Approbation wurde er 1888 Assistenzarzt an der 
städtischen Irrenanstalt zu Frankfurt a. M. Nach meinem Weggange von 
Frankfurt im Jahre 1895 rückte er in die Stelle des II. Arztes ein und 
versah dieselbe bis 1903. 14 Jahre lang hat er also Anstaltsdienst getan. 
Durch Sioli wurde er in die Psychiatrie eingeführt. Er kam nicht in einen 
geordneten Anstaltsbetrieb. Denn als er seine Stelle antrat, war er zunächst 
mit seinem Direktor allein. Sioli hatte die Aufgabe übernommen, die 
damals vom no-restraint, von Wachsälen, Bettbehandlung und Arbeits- 


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therapie noch unberührte Anstalt zu reorganisieren. Jahrelang wurde der 
Anstaltsbetrieb durch bauliche Veränderungen erheblich erschwert. Trotz 
dieser äußerlichen Schwierigkeiten hat er neben seiner Berufsarbeit sich 
bemüht, „auch die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie zu 
fördern“. Bis zum Jahre 1895 war ich Zeuge, mit welchem unübertrefl- 
baren Eifer, Ernst und Gewissenhaftigkeit er seine Berufspflichten als 


Assistenzarzt erfüllt hat. Ein anderer Zeuge — Raecke — schreibt über 
seine Tätigkeit nach meinem Weggange: „Als Oberarzt . hat Alz¬ 


heimer eine erstaunliche Arbeitskraft entfaltet. Unermüdlich war er auf 
den Krankenabteilungen tätig, indem er noch außerhalb der Visitenzeit 
den ihn interessierenden Fällen immer wieder nachging, sie stundenlang 
untersuchte und in ihrem Gebaren beobachtete. Neben seinen sorgfältigen 
Krankengeschichten erledigte er Stöße von Akten, unterzog sich den zeit¬ 
raubenden Aufgaben eines vielbeschäftigten Gerichtsgutachters und be¬ 
handelte persönlich zahlreiche Privatpatienten, ohne doch darum je seine 
geliebten histologischen Studien zu vernachlässigen. Fast noch bewun¬ 
dernswerter war die ewig liebenswürdige Ruhe, mit der er mitten unter 
diesem Hasten und Treiben den mannigfachen Ansprüchen, Fragen und 

Wünschen jüngerer Kollegen entgegenkam.“ Und trotz dieses 

Hastens und Treibens, trotz seiner unermüdlichen Berufsarbeit als An¬ 
staltsarzt ist er in den 14 Jahren seiner Frankfurter Tätigkeit der führende 
Histopathologe der Hirnrinde geworden. Seine grundlegende klassische 
Arbeit: „Histologische Studien zur Differentialdiagnose der progressiven 
Paralyse“ ist die reife Frucht der Frankfurter Anstaltstätigkeit. 

Ein Mann wie Alzheimer durfte sich mit vollem Recht erlauben, am 
Schlüsse seines Aufsatzes „25 Jahre Psychiatrie“ zu schreiben: „Man 
kann nur wünschen, daß Siolis Anstalt auch in der Förderung wissen¬ 
schaftlicher Arbeit ein nachgeeifertes Beispiel werde. Neben manchen 
Anstalten, die heute schon den Bedürfnissen wissenschaftlicher Forschung 
gleiche Fürsorge angedeihen lassen, findet sich eine viel größere Zahl, in 
der sie ganz hinter den täglichen Dienst und die Verwaltungstätigkeit 
zurücktreten muß. In Wirklichkeit ist aber nicht einzusehen, warum nicht 
der bessere Anstaltsarzt der sein sollte, der neben seiner Berufsarbeit auch 
die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychiatrie zu fördern bemüht ist. 
Jedenfalls wird er dadurch vielerlei Anregungen und Freude für seinen 
Beruf erhalten. Eis gibt viele Fragen, die nicht oder nur viel schwerer in 
den Kliniken gefördert werden können als unter Benutzung des reicheren 
und stabileren Materials großer Anstalten. Dann würde sich allmählich 
wieder eine innigere Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis in der 
Psychiatrie anbahnen, die wir heute vielfach vermissen, und die sicherlich 
beiden Teilen von Nutzen sein und eine raschere Lösung der Aufgaben 
ermöglichen würde, die uns für die nächsten 25 Jahre bevorstehen.“ 

Möchten doch diese an die Kollegen gerichteten goldenen Worte 
Alzheimers den lebhaftesten Widerhall finden 1 Er durfte diese Worte 

Zeitschrift für Psyohistrie. LXXIII. 1. 8 


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Kleinere Mitteilungen. 


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schreiben, verkörpern sie doch sein eigenes Beispiel während einer 14jähri- 
gen emsigen Anstaltstätigkeit. Was er in diesen schlichten Sätzen sagt, 
ist der Wunsch und die Hoffnung, daß die ruhmvolle Tradition der alten 
Anstaltspsychiatrie fortgeführt werde. 

Freilich haben sich die Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten 
wesentlich geändert. Durch die Errichtung der psychiatrischen Kliniken 
ist die Führung in den wissenschaftlichen Fragen auf diese übergegangen. 
Andrerseits haben die Irrenanstalten einen immer größeren Umfang ange¬ 
nommen, ja solche Umfänge, daß es ihren Leitern bei der außerordent¬ 
lichen Häufung der Verwaltungsarbeit und der ärztlichen Inanspruch¬ 
nahme in so großen und vielseitigen Betrieben fast unmöglich ist, für 
wissenschaftliche Arbeit Zeit zu erübrigen. Alzheimers Worte richten sich 
daher in erster Linie an die jüngeren Kollegen. Wenn ich an sein leuchten¬ 
des Vorbild erinnere, so weiß ich sehr wohl, daß nicht in jedem Anstalts¬ 
arzt ein Alzheimer steckt, und daß nicht jeder Irrenanstaltsdirektor auf 
die klinische Durcharbeitung des Krankenmaterials und auf die wissen¬ 
schaftliche Förderung seiner Ärzte so bedacht ist, wie das in der Frank¬ 
furter Anstalt der Fall war. Auch soll nicht verkannt werden, daß leider 
die meisten großen Anstalten weitab von wissenschaftlichen Zentren 
liegen, so daß auch von außen her auf den Zufluß wissenschaftlicher An¬ 
regungen nicht zu rechnen ist. 

Und doch müßte sich gerade in den ganz großen Anstalten ein Weg 
finden lassen, den Wunsch Alzheimers zu verwirklichen. Warum sollte in 
solchen Anstalten nicht eine wissenschaftliche Kraft angestellt werden 
können, welche die jüngeren Kollegen zu wissenschaftlicher Tätigkeit 
anzuregen und darin zu unterweisen hätte? Die Schwierigkeiten eines 
solchen Weges liegen ganz gewiß nicht in der Vermehrung der Kosten, 
denn die Verwaltungsbehörden haben wahrhaftig das größte Interesse, 
das Niveau ihrer Anstaltsärzte zu heben und zu wünschen, daß diese in 
ihrer praktischen Tätigkeit die richtige Befriedigung finden. Die Schwierig¬ 
keiten liegen vielmehr in der Auswahl geeigneter Persönlichkeiten, in der 
Abgrenzung ihrer Kompetenzen gegenüber dem Leiter der Anstalt und 
in der Gewohnheit, nur Ärzte anzustellen, die aus Anstalten des gleichen 
Verwaltungsbezirks hervorgegangen sind. Sollten diese Schwierigkeiten 
bei gutem Willen unüberwindlich sein? Aus den Ärzten der Kliniken 
würden sich wohl Persönlichkeiten finden lassen, die das Zentrum für die 
wissenschaftliche Tätigkeit in den großen Anstalten zu bilden imstande 
sein würden. Ganz bescheidene Anfänge sind ja in dieser Richtung schon 
gemacht. Alzheimer hat es nicht mehr erlebt, daß einer unserer gemein¬ 
schaftlichen Freunde eine solche Stelle erhalten hat. 

Als Alzheimer sich 1902 um das Direktorat einer Landesanstalt 
bewarb, entführte ihn Kmepelin der Anstaltspsychiatrie. Nachdem ich 
in Frankfurt mit ihm 7 Jahre lang zusammengearbeitet hatte, führte uns 
das Schicksal noch einmal in Heidelberg zusammen. Durch die Berufung 


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Kleinere Mitteilangen. 


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Kraepelins nach München wurden wir bereits nach einem halben Jahre 
wieder getrennt. Alzheimer siedelte mit Kraepelin im Herbst 1903 nach 
München über, wo er sich §904 habilitierte. Er leitete hier das große ana¬ 
tomische Laboratorium der neuen Klinik bis zu seiner 1912 erfolgten Be¬ 
rufung nach Breslau. Schon bei der Übersiedlung nach Breslau befiel ihn 
eine schwere septische Erkrankung, von der er sich nie mehr ganz erholte. 
Obwohl er selbst fühlte, daß seine Körperkraft gebrochen war, arbeitete er 
unermüdlich weiter. 1913 besuchte ich ihn in Wiesbaden, wo er sich 
wegen seiner Herzbeschwerden ärztlich behandeln ließ. Als er auf der 
Heimreise durch Heidelberg kam, konnte ich mich innig über seine Er¬ 
holung erfreuen. Es war die letzte Begegnung. Der Weltkrieg brachte 
ihm ein vermehrtes Maß von Arbeit. Er wollte aber von Schonung nichts 
wissen und aushalten, solange es ging. Im Oktober 1915 wurde er bett¬ 
lägerig. Ende November entwickelte sich ein urämischer Zustand mit 
wachsender Atemnot, von dem ihn, den erst 52jährigen, am 19. Dezember 
1915 der Tod erlöste. 

So still und einfach sein Leben dahingeflossen ist, so prunklos war 
sein Leichenbegängnis. Er hatte es sich verbeten, daß an seinem Grabe 
gesprochen würde. Am 23. Dezember begleiteten wir den unvergeßlichen 
Freund zur letzten Ruhestätte. Er wurde nach seinem Wunsche auf dem 
Frankfurter Friedhof an der Seite seiner ihm viele Jahre vorangegangenen 
Gattin bestattet, mit der es ihm nur wenige Jahre beschieden war, in 
glücklichster Ehe vereint zu sein. 

Der Art seines Wirkens als Anstaltsarzt, als akademischer Lehrer 
und Forscher entsprach seine Persönlichkeit. Er war eine ausgeglichene 
Persönlichkeit. Eine Reihe schönster menschlicher Eigenschaften ver¬ 
einigten sich bei ihm zu einer seltenen Harmonie: absolute Zuverlässigkeit, 
Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Menschenliebe, Gemütstiefe, natürliche 
Einfachheit, gepaart mit vornehmem Denken, dabei eine herzerquickende 
Fröhlichkeit, und anderseits eine ihn nie verlassende köstliche Ruhe kenn¬ 
zeichnen sein Wesen als Mensch. Nicht allzu selten pflegt man Ver¬ 
storbenen Eigenschaften nachzurühmen, die während des Lebens nicht 
beobachtet werden konnten. Bei Alzheimer weiß ich, daß alle, die ihn 
kannten, mir rückhaltlos zustimmen. Seine Angehörigen und jene, deren 
persönlicher Freund er war, bestätigen die Worte Gaupps : „Unser Leben 
ist ärmer, um uns ist es kälter geworden, als wir ihn in Frankfurt zu Grabe 
trugen. ‘V Franz Nißl. 


I Frotscher j\ — Am 15. September dieses Jahres starb im Sanatorium 
Wehrawald bei Todtmoos der Oberstabsarzt d. R. Dr. Rud. A. Frotscher , 
bis zum 1. Juli dieses Jahres tätig gewesen am Kgl. Reservelazarett in 
Speyer und in seinem Zivilberuf Oberarzt an der Landesirrenanstalt 
Weilmünster in Nassau. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Die psychiatrische Literatur der Jahre 1908—1913 verdankt dem 
Verstorbenen eine Reihe wertvoller Aufsätze; die beamteten Ärzte des 
Bezirksverbandes Wiesbaden verlieren in ihm einen geraden und auf¬ 
richtigen Kollegen, voll von sittlichem Ernst und kollegialen Gefühlen, 
gleich anregend als Gesellschafter wie als Psychiater, die Kranken einen 
wohlwollenden Abteilungsarzt, der Stand der praktischen Ärzte in ihm, 
der selber 15 Jahre lang frei praktiziert hatte, einen ständigen, noch 
als er bereits zweiter Oberarzt war, warmen Vorfechter, der sowohl die 
Ideale wie die Miseren des Medicus practicus durch und durch kannte. 

Elin treues Andenken bei allen, die ihn dienstlich oder außerdienst¬ 
lich als Mensch und als Arzt kennen gelernt haben, wird ihm sicher sein! 

Wern. H. Becker- Herborn. 


PersoruUnachrichten. 

Dr. Ferdinand Hügel, Oberarzt der Kreisanstalt Klingenmünster, ist zu 
deren Direktor, 

Dr. Amandus Menche, Abt.-Arzt der Landesanstalt Hildburghausen, zum 
zweiten Arzte daselbst, 

Dr. Emil Kräpelin, Prof, in München, zum Geh. Hofrat, 

Dr. Ewald Stier, Priv.-Doz. in Berlin, 

Dr. Otto Klieneberger, Priv.-Doz. in Königsberg, und 

Dr. Werner Runge, Priv.-Doz. in Kiel, zum Professor ernannt worden. 

Dr. Amandus Bott, Direktor der städtischen Anstalt St. Getreu in Bam¬ 
berg, und 

Dr. Georg Laehr, San.-Rat in Schweizerhof, haben die Rote Kreuz- 
Medaille 3. Klasse, 

Dr. Karl Oßwald, Med.-Rat, Direktor der Landesanstalt Gießen, das 
Hessische Militärsanitätskreuz am Bande der Tapferkeits¬ 
medaille, 

Dr. Albert Wagner, Med.-Rat, Obercrzt derselben Anstalt, 

Dr. Ludwig Alefeld und 

Dr. Edgar Michaelis, Ass.-Ärzte der Klinik in Gießen, das Hessische 
Militärsanitätskreuz am Friedensbande erhalten. 

Dr. Fritz Seile, San.-Rat, Direktor der Landesanstalt Neuruppin, ist am 
21. September, 

Dr. Hans Kurelia, Nervenarzt in Kudowa, nach der Rückkehr aus dem 
Felde in Dresden am 25. Oktober, 58 Jahre alt, gestorben. 

Dr. Paul Przedownik, Oberarzt in Lüben, ist auf dem Felde der Ehre 
als Bataillonsarzt gefallen, und ebenso ist 

Dr. William Kölle, seit 1913 Besitzer und Leiter des früher Dr. ReAmschen 
Sanatoriums in Blankenburg a. H., Inhaber des Eisernen Kreuzes, 
am 30. September im 37. Lebensjahre als Bataillonsarzt eines Res.- 
Inf.-Reg.s durch einen Granatschuß getötet worden. 

Dr. V. Magnan, früher am Asile Sainte Anne in Paris, ist, 80 Jahre alt, 
gestorben. 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei 
Yerhältnisbl'ddsinn % 

Von 

Dr. Joh. Ben. Jürger, I. Assistenzarzt der Klinik. 

1914 hat Bleuler in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie 
den Begriff des „Verhältnisblödsinns“ aufgestellt und ihm an Hand 
einiger Fälle die kasuistische Grundlage gegeben. Im gleichen Hefte 
der Zeitschrift gab Lothar Büchner einen klinischen Beitrag zur Lehre 
Bleulers, nach welcher ein Mensch verhältnisblödsinnig ist durch ein 
ungünstiges Verhältnis verschiedener psychischer Eigenschaften unter 
sich, oder „wenn Triebe dem Verstand Aufgaben stellen, denen dieser 
nicht gewachsen ist, während er unter gewöhnlichen Verhältnissen 
genügen würde“. 

Die vorliegende Arbeit soll nun einen Beitrag zur Vermehrung des 
klinischen Materials bilden und einige weitere Fragen zur Diskussion 
stellen. 

1. Der Doktor Zett, Moritz 2 ), geh. 1892, stammle aus einer 
einfachen Familie, der Vater war Feinmechaniker, die Mutter verdiente 
mit Waschen und Putzen etwas Taschengeld, eine Schwester war Bureau¬ 
listin und ein Bruder Eisenbahnangestellter. Über hereditäre Belastung 
war nichts zu eruieren. 

Pat. wuchs seinen Verhältnissen entsprechend auf, war angeblich 
in der Schule ordentlich, wurde wohl als Jüngster von Hause aus etwas 
verwöhnt. Nach der Schulzeit trat er bei einem Zahntechniker in die 
Lehre, der seine Leistungen „als ausnahmweise gute"! bezeichnele. der 
sagen mußte, „daß Zett sehr viel Talent sowie außerordentliche Fähig¬ 
keiten besitze und auch mit einer großen Intelligenz begabt ist“. Ander- 


J ) Aus der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich: Prof. Dr. 
E. Bleuler. 

*) Es handelt sich natürlich hier wie später um Decknamen. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 9 


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Jörger, 


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seits aber, schrieb der betreffende Zahnarzt, leide der junge Mann an 
„Größenwahn“ und besitze eine Kunst, „ganz hervorragend lügen zu 
können“. 

Nachdem Zett 2 y 2 Jahre Praxis getrieben, verwirklichte er seinen 
alten Plan, „Doktor zu werden“, und ging im Herbst 1911 nach München, um 
dort zu studieren. Objektiv nachzuweisen war, daß er in einem Hotel 
I. Ranges wohnte und 11 000 M. einbezahlt erhielt. Er lebte als „Doktor 
Zett“ auf ziemlich großem Fuße und war öfter verreist. Ende Februar 
1912 verließ er München, und die Testierende Rechnung von 1420 M. 
bezahlte später der Vater. 

Im Oktober 1912 war Zett in seiner Vaterstadt und erhielt 5 Tage 
Gefängnis und 30 M. Geldbuße wegen Führung falschen Titels. Er war als 
„Dr. Zett“ aufgetreten. 

Ende des Monats reiste er nach Paris, um dort seine Studien weiter¬ 
zubetreiben, wohnte im Hotel, pumpte Geld, schrieb falsche Schecks, so 
daß Klage erhoben wurde. 

Er lebte offenbar auch dort auf hohem Fuße, machte z. B. über die 
Winterfeiertage einen Sporlausflug nach Davos, wo er großartig auftrat, 
aber nicht entsprechend bezahlte. 

Mit Semesterschluß zog er von Paris fort, fand es offenbar für ange¬ 
zeigt, inkognito zu Hause zu bleiben, bis er im Juni 1913 nach Zürich kam. 
Hier war er bei einem Zahnarzt als Techniker beschäftigt, gerierte sich als 
Dr. Zett, übte als solcher unerlaubterweise ärztliche Praxis aus und wurde 
im Dezember 1913 verhaftet, weil er sich wiederholten Betruges, Unter¬ 
schlagung und Diebstahls von ca. 4900 Franken schuldig gemacht hatte. 

Zum Schlüsse kam Zett ins Burghölzli zur Begutachtung, und es 
sei nun das obige objektiv dargestellte Tatsachengerippe nochmals im 
Sinne des Exploranden mit den nötigen Randbemerkungen dargestellt. 

In den Akten sowie in der Klinik schilderte Zett mündlich und 
schriftlich mehrfach seinen Lebensgang. Nach seinen Angaben war sein 
Vater Direktor von Maschinenfabriken in Moskau und Nancy — wo er in 
Wirklichkeit als Arbeiter gewesen war — und hatte nach Verlust seines 
Vermögens sich in seine Vaterstadt zurückgezogen, bald als leitender Di¬ 
rektor der Maschinenbaugesellschaft, bald als Abteilungschef oder auch 
nur als Vorarbeiter oder Feinmechaniker. Entsprechend diesen Angaben 
passierte es Zett aucli sehr leicht, von der Sommervilla seiner Eltern in 
Luzern zu berichten, und sah er sich einmal veranlaßt, wie in den Akten 
beschrieben wurde, einem Gaste anläßlich eines Besuches eine fremde 
Villa mit der Dienerschaft als die seines Vaters vorzuzeigen. 

Entsprechend dem Vater gab Zett seine Mutter als aus einer alt ein¬ 
gesessenen, ehemals reich begüterten Familie der Vaterstadt stammend 
an, die, „sowohl die Stellung ihrer Familie als auch ihre angenehme musi¬ 
kalische Bildung zur gefeiertsten Dame der Stadt stempelten“. 

Es genossen darum er und seine Geschwister die vorzüglichste Er- 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. Hl 


Ziehung, die Kinder der ersten Kreise waren gewohnt gewesen, ihm, dem 
Moritz Zett, zu gehorchen. Eis wurde auch sein Bruder nicht nur Eisenbahn¬ 
angestellter, wie die trockene Wirklichkeit ergab, sondern Ingenieur, 
Reserveleutnant eines Unterseebootes, später Vize-Korvettenkapitän, 
und die Schwester Dr. phil., Inhaberin eines Anwaltbureaus (sic!). 

In München als Student habe Zett hauptsächlich Chemie bei Ex¬ 
zellenz v. Baier studiert, nebenbei zahntechnische Ateliers besucht und gesell¬ 
schaftlich in den ersten Kreisen Münchens verkehrt. Die Kosten sollte 
ein von ihm erfundener „Apparat für chirurgische und zahnärztliche 
Zwecke“ decken, der tatsächlich von ihm konstruiert und von einer Firma 
hergestellt worden war, aber nicht die erhofften jährlichen 25 000 M. ein¬ 
brachte, da er seiner Unvollkommenheit wegen nur ein kurzes Leben hatte. 
Nach allem handelte es sich wohl um ein beweglicheres Modell schon 
bestehender Apparate. 

Zett ließ sich aber trotz der etwas getäuschten Erwartungen nicht 
nehmen, ein recht teures Semester zu genießen. Er wohnte, wie schon be¬ 
richtet, in einem Hotel I. Ranges, hatte ein Zimmer, das täglich 8 M. 
kostete. Seine Monatsrechnung habe sich auf ca. 1400 M. belaufen, und 
da er als Sohn eines steinreichen Fabrikanten gegolten habe, fühlte er sich 
mit Recht verpflichtet, nebst den Hotelausgaben sonst noch viel Geld 
zu verbrauchen. 

Bei ihm habe man auf Ehrenwort pumpen können. Nicht nur Offi¬ 
ziere und Studenten hätten das benutzt, sondern daneben habe er auch 
arme Talente, z. B. einen Heldentenor, reichlich unterstützt. 300—400 M. 
au einem einzigen Abend in Freundes- oder Künstlerkreisen auszugeben, 
sei für Zett ein leichtes gewesen. 4000 M. hätten mindestens die meist 
ä fonds perdu ausgeliehenen Gelder betragen, und da die Fama wohl reichlich 
für den wachsenden Ruhm seines Besitzes sorgte, hätte er, wie er berichtete, 
bald Grafen, Barone, Rittergutsbesitzer und sogar arg verschuldete Spröß- 
linge aus fürstlichen Geschlechtern zu den Freunden und Klienten seines 
allzeit offenen Geldbeutels gezählt. 

Zett hat natürlich auch Sport getrieben; bei einem Pferderennen 
gewann er den ersten Preis, bezahlte ihn aber mit dem tot hinfallenden 
kostbaren Pferde. Den Wintersport in Berchtesgaden dokumentierte er 
uns mit einer Postquittung von der Post in Garmisch. 

Die Strapazen des Semesters in München will Zett durch eine Orient- 
reise nach Konstantinopel unterbrochen haben. Er habe damals einen 
wunderschönen Pudel besessen, den er sich verpflichtet fühlte, nach Wien 
zu einer Hundeausstellung zu bringen. Von da ergab sich dann der Ab¬ 
stecher nach dem Orient leicht, zumal er in Gesellschaft eines Legationsrates 
«ler französischen Gesandtschaft dort habe hinreisen können. 

Von der Reise zurück, studierte Zett noch bis April in München, 
Wirte dann nach Hause zurück, wohin auch allmählich recht viele Rech¬ 
nungen nachgefolgt seien, me der Vater alle aus seinen Ersparnissen 

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Jörger. 


bezahlt habe, ohne freilich zu wissen, daß der Sohn schon 15 000 M. aus¬ 
gegeben hatte, die Früchte seiner Erfindung. Er hat auch, wie oben be¬ 
richtet worden, nachweislich per Post 11 800 M. bezogen. 

Zu Hause trieb Zett bei einem Zahnarzt Praxis, pumpte, lebte im 
Münchner Stile weiter, empfing Freunde und Bekannte, aufs gastfreund¬ 
lichste sie bewirtend, reiste mit „Schwesterlein“ herum und habe sich nebst 
eifrigen Vorbereitungsstudien für die Ecole dentaire in Paris auch mit 
Spiritismus und Okkultismus abgegeben. 

Im Oktober 1912 mußte Zett wieder nach München reisen. ,.pour 
disputer sa these“. Hocherfreut begrüßten kurze Zeit darauf die guten 
Eltern ihren Sohn als „Doktor“, der hohe Lohn für seinen eisernen Fleiß! 
Hatte man ihn doch oft nachts 3, 4 Uhr von seinen Büchern weg zu Bett 
schicken müssen! 

Die Dissertation trug den Titel: „Beiträge zur Emanationstherapie 
oder zu der vom Radium ausgehenden Emanation und der induzierten 
Aktivität. Ihre Wirkung und Anwendung in der Heilkunde.“ 

Sie war seinem lieben „Schwesterlein“ gewidmet und prangte mit 
dem Motto: 

„Wer da fährt nach hohem Ziel, 

Lern’ am Steuer ruhig sitzen, 

Unbekümmert, ob am Kiel 
Lob und Tadel hoch aufspritzen.“ 

Am Schlüsse der Arbeit steht ein Curriculum vitae in lateinischer 
Sprache abgefaßt, in dem er berichtet, daß er sich „potissimum ciiirurgiae 
singulari et cynaecologiae“ gewidmet habe. — „Postea vere veniture 
medicinae me dederem et Universitatem Friburgum pertinerem; ibi 
propter studiis medicis etiam philosophiam audirem maxime allieerem 
me pro spychiartria. Novembero MCMXI Universitate Monacensis se- 
mestrum nonam contegerem, et ibi nosocomio feminae cum medicus volun- 
tarius recipebar. Hic usque fini semestris decimae permanerem. Junio 
MCMXII examen rigorosum consiterem.“ (Sic!) 

Es fehlte auch nicht die Genehmigung der medizinischen Fakultät 
in München, nachdem Prof. Dr. Max Ritter von Gruber über das Opus re¬ 
feriert hätte. Dieses habe auf eifrigem Studium der einschlägigen Literatur 
und auch auf Vorlesungen der Mme. Curie gefußt, die er im Juli 1912 an¬ 
läßlich eines Besuches in Paris gehört habe. 

Die Früchte seines Aufenthaltes in München waren nun aber nicht 
nur die Doktorpromotion, sondern auch die Bekanntschaft mit einem 
Baron v. Zerberg. Diesen hatte Zett eines Nachts um 1 Uhr von einer 
Bubenbande jämmerlich verprügelt zu sich ins Hotel in Pflege genommen. 
Zerberg zeigte sich sehr erkenntlich für diesen Liebesdienst christlicher 
Barmherzigkeit; zahlreiche Besuche, gegenseitige Geldgeschäfte und Dar¬ 
lehen in München dokumentierten dies, und kurze Zeit darauf auch der 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. H3 

Besuch des Barons in der Vaterstadt Zetts, gerade als dieser im Begriffe 
war, nach Paris ins Semester abzureisen. Zett verschob dies nun, empfing 
seinen Gast standesgemäß im ersten Hotel seiner Stadt. Unglücklicher¬ 
weise mußte aber die Polizei gerade auf die Idee kommen, sich nach den 
Adelspapieren des Herrn Baron v. Zerberg erkundigen zu wollen, und sie 
schrieb nach eingehender Prüfung diese Titel auf einen höchst einfachen 
bürgerlichen Namen zurück und fand es angezeigt, auch Zett wegen 
Führung falschen Doktortitels die oben erwähnte Strafe zuzudiktieren. 

Nach diesem unerfreulichen Intermezzo reiste Zett im Oktober nach 
Paris. Er zitiert eine bunte Menge von Vorlesungen, die er alle besucht 
habe, ohne aber nebenbei den Sport, Studien über Okkultismus und spiri- 
tistischc Phänomene und Reisen zu vergessen. 

Auf der Rückfahrt nach einem angeblichen Aufenthalt in London 
will er sich mit einer ebenfalls nicht nachgewiesenen reichen Amerikanerin 
verlobt haben, die er später in Wiesbaden, Zürich und Rotterdam noch 
getroffen haben wollte. 3 Millionen sollte die Morgengabe sein, aber dazu 
eine fabelhafte Verschwendungssucht, so daß Zett es für besser befunden 
habe, sich von der reichen Braut loszusagen. 

Im Januar 1913 reiste er zum erwähnten Kuraufenthalt in Davos. 
Er war wirklich dort in Begleitung einer Dame, die als „Schwiegermutter“ 
figurierte, und mit der er auf Kosten des Concierge kostspieligen Sport 
betrieb, täglich ausritt und vierspännig ausfuhr. Zum Schluß aber ließ er 
einen Teil speziell der Rechnungen des Concierge unbeglichen und zog sich 
wieder mit unbekannter Adresse nach Paris zurück. 

In Paris will Zett auch die Gründung der „Nobles lettres de France“ 
in Szene gesetzt haben. Objektiv sprach nur ein Brief mit Titelkopf für 
deren Existenz. Die berühmtesten Mitglieder der Academie fran$aise und 
« ine Menge hochtönender Namen aus den ersten Kreisen der Gesellschaft 
waren auf diesem als Mitglieder verzeichnet, und Zett wollte den Kardinal- 
Erzbisehof Amette dafür interessiert haben. Es sollte eine literarische 
Zeitschrift sein, deren administrative Leitung „docteur Zett“ zu über¬ 
nehmen hatte. Das ganze Unternehmen aber zerschellte angeblich am 
Mangel von 10 000 Fr., die der administrative Directeur nicht habe ein- 
zahlcn können. 

Nicht nur diese Enttäuschungen, sondern die schon erwähnten ge¬ 
richtlichen Scherereien wegen unbezahlter Rechnungen ließen es Dr. Zelt 
angezeigt finden, auf Ostern nach Hause zu kehren und sich dort inkognito 
bis Juni 1913 aufzuhalten, in welchem Monat er sich nach dem gastfreund¬ 
lichen Zürich wandte. 

Er nahm hier Stellung bei einem Zahnarzt. Er hatte sich als „Zahn¬ 
arzt Zett“ präsentiert, der noch etwas Praxis zu machen wünschte, dann 
das Staatsexamen bestehen, sich verheiraten und dem Prinzipal das Ge¬ 
schäft abkaufen wollte. Auf das Gehalt verzichtete er generös, weil er, 
wie er dein Prinzipal angab, es nicht nötig habe, wie er uns berichtete, 


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Jörger, 


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weil er mit nur 200 Fr. nichts hätte anfangen können. Nach den Angaben 
<les Prinzipals verstand er gewisse Sachen wirklich sehr gut zu machen, 
andere aber gar nicht. Er sei sehr unregelmäßig ins Geschäft gekommen, 
sei oft Tage weggeblieben, weil er im Kantonspital, wo er nebenbei As¬ 
sistent zu sein angab, sehr viel mit Operationen beschäftigt gewesen sei. 
Ein eifriges Telephonieren in die chirurgische Klinik dokumentierte diese 
Beschäftigung bestens, die in Wirklichkeit nur in der Phantasie Dr. Zetts 
existierte. 

Zett hatte bei seinem in Zürich wohnenden Paten Wohnung genom¬ 
men. Er hatte sich bei diesem als Dentist mit Doktorgrad des Pariser 
Instituts Pasteur ausgegeben, berichtete, wie er auf der „Kronprinzessin 
Cecilie“ nach Amerika fahren werde, und demonstrierte auch die dies¬ 
bezüglichen Billette; er erzählte vom demnächst zu bestehenden Staats¬ 
examen in Zürich, von seinem Patent, seinem großen Honorar von 500 Fr. 
monatlich, zahlte selbst aber Zimmer und Pension sehr unregelmäßig. 

Zett, der im Anfänge seines Aufenthaltes in Zürich nach eigenen An¬ 
gaben und auch nach den Bestätigungen seines Paten sehr solid lebte, 
ein „Modell der Tugend“ war, machte sehr bald Bekanntschaften. Darunter 
die eines Pastors, dem „Dr. med. Zett“ in kurzer Zeit sympathisch durch 
die religiösen Gespräche wurde, die er führte, und durch den Standpunkt, 
den er dabei einnahm. Obwohl vieles, was er behauptete, sehr unwahr¬ 
scheinlich gewesen sei, so interessierten doch die Gespräche über Okkultis¬ 
mus, Magie und Spiritismus den guten Pastor; es schien ihn zu bestechen, 
daß das Geld, das Zett durch gewisse Manipulationen hervorzaubem 
wollte, wohltätigen Zwecken zugewendet werden sollte, und auch die 
Absicht, Edler von Zollstein zu werden, um im titelsüchtigen Frankreich 
mehr Erfolg zu haben, schien ihm berechtigt. Natürlich gingen neben¬ 
her die Berichte von den väterlichen Reichtümern, dem 30 OOOfränkigen 
Semester in München, von der Schwiegermutter in Davos usw. 

Jeder auftauchende Zweifel von der Echtheit des Dr. Zett zerfiel 
jeweilen dem frommen Herrn bei den Operationen, zu denen ihn Zett ein¬ 
lud, und die er jeweilen „absolut kunstgerecht und mit sicherer Hand“ 
vornahm. Wir werden in anderem Zusammenhang sogleich darauf zurück¬ 
kommen. 

Dr. Zett kam nun leider bald nach der Bekanntschaft mit dem Herrn 
Pastor durch einen fälligen Wechsel aus der Münchner Studienzeit in 
etwelche Geldverlegenheit, und da der Herr Pastor beim Reichtum seines- 
Bekannten wohl nichts zu fürchten brauchte, half er gern aus den momen¬ 
tanen Nöten und gab 750 Fr. Es entstanden dann aber Schwierigkeiten 
mit der Rückerstattung, entweder war Zett nicht zu sprechen, oder es 
war der Herr Pastor gerade verreist, wenn Zett das Geld bringen wollte, 
oder es nahm eine Ehrenschuld vom Spieltisch den Betrag in Beschlag, 
oder auf der betreffenden Bank, auf welche der Wechsel lautete, war eben 
das Konto ausgegangen, so daß die geistliche Langmut und Geduld des- 
Pfarrers sehr hart auf die Probe gestellt wurde. 


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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. H5 

Auch bei seinem Paten und Logisherrn waren allmählich allerlei 
Schwierigkeiten wegen des Zählens entstanden. Zett vertröstete immer, 
berichtete von seinen großen Ausgaben. Das „Modell von Tugend“ war 
flatterhaft geworden, es blieb häufiger bis Mittag zu Bett, arbeitete wenig, 
mußte sich von seinen Gelagen und Champagnerschmausereien erholen 
und auch auf Reisen gehen. 

Dabei wollte Zett seine amerikanische Millionenbraut getroffen haben, 
und die Sorgen seines Paten nach den unbezahlten Pensionsgeldern wurden 
mit Einladungen nach Amerika, mit Versprechungen von Fabrikgründun¬ 
gen usw. beschämend zurückgedrängt. Den positiven Beweis für alles 
lieferte ein Telegramm aus Montreal, wohin sich angeblich die Braut aus 
Philadelphia begeben, des Inhaltes: „Lettre re$uc, vous serez acceptö. 
Dubeau.“ Überzeugender konnte der Beweis nicht sein. 

Ende August verreiste das liebe Patenkind schnell nach Paris, es 
waren Briefe einer Sängerin angekommen, er mußte noch schnell ein 
Examen bestehen und einen Prozeß wegen einer sehr teuren Linse ver¬ 
fechten. Als er zurückkam, brachte er die Kunde, er habe das Examen 
glänzend bestanden und erwarte nun das „blaue Band der Legion d’hon- 
neur“. Da kamen natürlich seine Logisgeber aus dem Staunen nicht 
heraus. 

Auf diese Reise nach Paris nahm Zett aus dem Atelier seines Prinzipals 
einen jungen Zahntechniker mit, dem er schon lange seine Gunst geschenkt 
hatte, da er ganz arm und mittellos und von zu Hause verstoßen war, von 
«lern Zett sagte: „er sah aus wie eine Leiche“. Dem jungen Menschen 
wollte Zett in Paris eine Stelle nach Holland vermitteln und ihn selbst 
hinbringen. Sie stiegen in einem Hotel in Paris ab. Zett hatte auch 
einen odontologischen Kongreß zu besuchen, der 5 Tage dauerte, dann 
einen Ball der Internes des höpitaux und zudem Geschäfte für die „Nobles 
lettres de France“ zu erledigen. Der Mann der Patientin Zetts, von der 
wir sogleich berichten werden, hatte für die Reise in Zürich schon 600 M. 
und 300 Fr. bezahlt, telegraphisch schickte er dann noch 250 Fr. nach 
Paris, und als trotzdem das Geld bald ausging, ließ Dr. Zett seinen Schütz¬ 
ling quasi als Bürgen im Hötel zurück, versprach baldigst Geld zu senden 
und verschwand. Den armen Jungen spedierte man dann aber als un¬ 
brauchbar nach einiger Zeit per Schub nach Zürich zurück. 

Hier hatte unterdessen Dr. Zett das Atelier seines Prinzipals ver¬ 
lassen und sich hauptsächlich auf seine Privatpraxis verlegt. Es war dies 
eine operative Tätigkeit, die er an einer Klientin seines zahnärztlichen 
Meisters, an deren Mutter und Tochter, vornahm. 

Da er das Recht zu praktizieren nicht hatte, verzichtete er von vorn¬ 
herein auf Honorar oder Geschenk, hingegen nahm er 640 M. Vorschuß 
auf einen zu bestellenden Apparat, der sich aber in der Folge nach dem 
vorzüglichen Resultat der Operation nicht mehr als nötig erwies. Es hatte 
sich um eine teilweise Entfernung des Nasenknorpels mit Naht und Ver- 


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Jörger, 


Schluß eines Yorbindungsgangcs der Nasenscheidewand gehandelt, .\lles 
war kunstgerecht gemacht, die Narkose war von der Patientin verlangt 
worden, ein Stud. med. im ersten Semester und der Herr Pastor assistierten, 
und der Ehemann hatte seine schriftliche Einwilligung gegeben. 

I)r. Zett ließ sich im Oktober, nachdem er das Geld für die Pariser 
Reise erhallen, für den Ankauf von Instrumenten 200 Fr. leihen und bald 
darauf 200 M. und 150 Fr. Im November weitere 200 M., die zur Ein¬ 
lösung eines Wechsels dienen sollten. Er hatte ihn angeblich bei seinem 
Besuch in Paris unterschrieben anläßlich eines Krankentransports Paris— 
Zürich, hervorgerufen durch ein Duell. Gern gab ihm seine dankbare 
Patientin in der Zwischenzeit noch eine Reihe kleinerer Beträge, und an¬ 
fangs Dezember sollte sie für die Kosten einer Expedition nach Venezuela 
zur Er forschung von medizinischen Pflanzen 10 000 Fr. bezahlen. 

Nun, Dr. Zett hatte sich auch wirklich Mühe gegeben; abgesehen 
von der Nasenoperation in 2 Sitzungen, wurde die Schwiegermama am 
linken Augenwinkel operiert, und auf dem rechten Backen von einer Drüse 
befreit. Die kleine Tochter wurde \on einem schmerzhaften Karbunkel 
am Schlüsselbein erlöst, und zum Schlüsse kam die Mama wieder an die 
Reihe, der Dr. Zett aus der Mittellinie der Bauchwand ein „Atherom 1 ' 
entfernte, das er hocherfreut dem Eheherrn als „Eierstock“ präsentierte, 
an dem speziell der eigentümliche Geruch mächtigen Respekt einflößte. 
Nachkuren mit Spülungen verschiedenster Art waren natürlich notwendig, 
auch eine kleine Schlußoperation, die aber dann durch das Einschreiten 
der Polizei leider unangenehm unterbrochen und gestört wurde. 

Durch seine Finanzoperationen mußten nebst seinem Prinzipal noch 
verschiedene Leute mit kleineren Beträgen bluten. Auch blieben eine 
Reihe von Rechnungen unquittiert, vor allem die bestellten chirurgischen 
Instrumente im Betrage von 654 Fr. 

Moritz Zelt trat ain 6. B. 1914 ins Burghölzli ein, er hatte etwas von 
einem Hochstapler an sich, sah elegant aus, benahm sich wie ein Mann 
von Manieren und berichtete gleich in leisem, schnellem Ton, daß man 
anfänglich Verdacht auf Abtreiberei gehabt habe, daß es sich aber nur 
um Betrug handle, den er auch zugebe. 

Körperlich hatte Zett nichts Auffälliges, an seinem Tun und seinem 
Benehmen war nichts auszusetzen. Mit seinen langen, schlanken Händen 
begleitete er die meist prompten Antworten und recht schlagfertigen und 
gewandten Reden, die er ohne Mühe deutsch und französisch führen konnte. 

Aus allen Zeugnissen und Aussagen, die für die Untersuchung zu 
sammeln waren, ging einstimmig hervor, daß Zett als sehr intelligenter 
Mensch imponierte. Dies zu erscheinen gelang ihm offenbar leicht, denn 
mit seinem tadellosen Benehmen und seiner großen Wortgewandtheit 
verstand er ausgezeichnet eine Unterhaltung zu leiten und in Fluß zu er¬ 
halten. Kam man auf einen Gegenstand zu sprechen, der ihm nicht ge¬ 
läufig war, so pflegte er geniert einen Augenblick den Mund zusammen- 


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Über unklares Denken nnd Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. H7 

7.uziehen, im nächsten Augenblick war aber die Antwort gefunden, und 
sie wurde mit einer geschickten Handbewegung überzeugend gemacht 
und vorgebracht. 

Es zeigte sich aber recht bald, daß hinter der Fülle der sprudelnden 
Worte sich nur ein sehr kleines Häufchen wirklichen Wissens eingehüllt in 
einen großen Ballast von unklaren Begriffen versteckt hielt. 

Er verfaßte in der Klinik eine Lebensgeschichte von 36 Folioseiten, 
wovon 32 Seiten die Erlebnisse bis zu seiner Münchener Zeit beschreiben. 
Der Stil ist schwülstig, bandwurmartig, gespickt mit unverstandenen 
Fremdwörtern und banalen Zitätchen und Phrasen. 

Er schreibt z. B.: „Es hätte für mich nicht des Engels mit dem feuri¬ 
gen Schwert bedurft, ich wäre aus freien Stücken wieder fortgegangen 
(aus Frankreich), fort in das liebe Elsaß, in seine Berge, in die Vogesen 
zurück. — Das charakteristische, monotonische Provinziallehen Frank¬ 
reichs trat im Vergleich zu andern Städten in dieser Stadt < Xancy i nicht 
so eigentümlich zutage: da Xancy eine Reihe von Vorzügen aufweist, die 
da wären, daß Xancy zuerst einmal Universitätsstadt ist. zweitens aber 
auch eine Menge Museen besitzt, die für Frankreich sowohl von-künst¬ 
lerischem als von historischem Wert sind, und drittens einen Reichtum von 
gebildeten Bewohnern, deren Vermögen, Rang, Titel, Würden, Orden und 
dergleichen in ganz Frankreich bekannt sind, die aber bezüglich der Rück¬ 
sichten der allgemeinen Gesellschaft untergeordnet sind, daher erklärt das 
kleinstädtische und kleinbürgerliche Gepräge der Stadt.“ 

Einfache Rechnungen löste Zett sehr schnell und prompt. Er hatte 
aber schon große Schwierigkeiten, einen gemeinen in einen Dezimalbruch 
zu verwandeln, bei Bruchrechnungen versagte er, und er war z. B. auch 
nicht imstande, zu sagen, was bei der Rechnung 868 : 163 = 5.32 die Zahl 
nach dein Komma, 32, bedeuten sollte. 

In Geschichte wurstelte er eine Menge Tatsachen unklar unterein¬ 
ander: Wann der 30jährige Krieg war. konnte er nicht sagen: es zeichnete 
sich in demselben vor allem der Kurfürst der Mark Brandenburg aus, der 
dadurch den Beinamen „der Große“ erhielt und der die Kartoffeln nach 
Deutschland brachte. — „Friedrich der Große um die Zeit des 7- und 30- 
jährigen Krieges war ein Preußenkönig, mal erstens, und hat sehr viele 
Schlachten gegen Österreich und Frankreich geschlagen, z. B. gegen die 
Russen bei Zorndorf.“ ,,16iO—46 war der 7jährige Krieg, er riß Schlesien 
an Deutschland unter Maria Theresia.“ 

„Das Mysterium von Christus kann man nicht fassen. Ein Mysterium 
ist ein verschleiertes Geheimnis, eine Sache, in die das Licht der Wissen¬ 
schaft noch nicht gedrungen ist, um eine Erklärung abzugeben: Das 
Radium ist z. B. kein Mysterium, weil man es ganz genau kennt, da es ein 
Körper ist, der die Eigenschaft hat, binnen kurzem so beleuchtet zu werden, 
daß die Wissenschaft bestimmte Annahmen darüber abgeben kann. Ein 
Mysterium ist z. B. die Geburt Christi, weil man sich eine Befruchtung 
ohne Coitus nicht erklären kann.“ 


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Jörger. 


Zum Staunen war sein Wissen in Geographie naiv und einfach: „Kon¬ 
stantinopel liegt an der Bai von Konstantinopel gegenüber einer Insel im 
Adriatischen Meer; Pera ist ein Stadtteil. In Sofia wohnt der Regent von 
Serbien.“ — Dabei wollte Dr. Zett eine Orientreise gemacht haben. — Er 
konnte nicht angeben, wohin man nach Italien kommt, wenn man den 
Weg über Graubünden nimmt. Nach einer graphisch dargestellten Skizze 
der Situation mußte man ihn auf Venedig stoßen, und er meinte dann 
Triest, die Stadt gegenüber sei Wien — Budapest — Konstantinopel, und 
nahm schließlich den Einwand, es sei doch Bagdad, allen Ernstes an. — 
„Nördlich grenzt Preußen an Schweden, Schleswig-Holstein, Dänemark, 
die Ost- und Nordsee. Hessen ist in Nassau, dort liegt Wiesbaden, Darm¬ 
stadt liegt in den thüringischen Staaten, hat eine berühmte Hochschule, 
von dort aus werden Radiotelegramme geschickt. Das ist die Ausnutzung 
von Funkentelegraphie, es gibt verschiedene Systeme des Radiosystems, 
das der Schuckertwerke, das Marconi-System, das Herzsche System, 
durch verschiedene Apparate ausgezeichnet, im Grunde alles nur auf der 
Fortpflanzung der elektrischen Wellen beruhend.“ 

Zett war nicht imstande, auch nur annähernd einen Situationsplan, 
z. B. der Umgebung des Bahnhofs in Zürich oder z. B. der Ile de Paris, zu 
geben, er hatte keine Ahnung von der Notre Dame, die er sicher gesehen 
haben mußte. 

Nicht weniger unklar war das Wissen Zetts auf andern Gebieten: 
„0 Grad ist der Mittelpunkt des Thermometers, bedeutet gleichviel Wärme 
wie Kälte, ist der Ausgangspunkt der Grade nach oben und unten. Es 
friert bei etwa 20 Grad Kälte, es kommt dabei auf die Verhältnisse des 
Wassers an, z. B. würde ein Waschbecken voll Wasser bei etwa — 5°, ein 
kleines Gläschen bei — 2° gefrieren. Es ist allgemein bekannt, daß der 
Gefrierpunkt unter 0° besteht.“ — Tag und Nacht entstehen durch die 
Drehung der Erde. Dabei wird aber das Verhältnis der Sonne zur Erd¬ 
achse falsch skizziert, horizontal und vertikal verwechselt und Meridiane 
wie Sektoren gezeichnet. 

Eine Textprobe aus seinen lateinischen Kenntnissen gaben wir bei 
Erwähnung der Dissertation. Die mündliche Prüfung ging noch viel 
schlechter. Er leistete sich z. B. einen Abscessus zygomaticum! 

Was die Bedeutung von H t O ist, wußte er nicht; über Gase und 
Elemente überhaupt hatte er nur ganz verschwommene Kenntnisse. Er 
wußte von einigen Experimenten zu berichten, hatte aber deren Be¬ 
deutung gar nicht kapiert. „Emanation ist die Vorstellung des Gases, das 
ist der Begriff des Wortes Emanation. Man kann dies Wort umändern 
zur Bezeichnung der Gase, die aus verschiedenen Quellen, Flüssigkeiten 
und dergleichen entsteigen. Man kann es auch auf Gespräche, Diskussio¬ 
nen u. a. weiter beziehen, wenn der betreffende Geist aus einer andern 
Partei die Vermutung emanieren läßt. Von Röntgen hat man die ganze 
Geschichte abgeleitet. Die Durchleuchtungskraft der X-Strahlen ist weiter 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Yerhältnisblödsinn. 119 

nichts als 'die künstlich hervorgerufene Eigenschaft des Radiums, nämlich 
undurchsichtbare Körper zu durchleuchten und zu durchdringen. Bei 
dieser Strahlung unterscheidet man verschiedene Gattungen, nämlich 
X-Strahlen, Kathodenstrahlen und Kanalstrahlen. Beim Radium a-, ß-, ~- 
Strahlen, vermöge deren Kraft sie mehr oder weniger dicke Körper zu 
durchdringen vermögen. Röntgenstrahlen erzeugt man dadurch, daß man 
hochgespannte Ströme, die sich im RhumkorfT-Apparat sammeln, durch 
den Unterbrecher leitet und auf der Kathode und der Antikathode zum 
Ausbruch kommen läßt. Es ist lediglich ein elektrisches Phänomen.“ Mit 
solchem Wissen ausgestattet, hatte er sich eine Dissertation aus dem Ge¬ 
biete der modernsten Chemie und Physik geleistet! Irgend etwas Brauch¬ 
bares über die Lichtbrechung in einem Linsensystem wußte Dr. Zett 
nicht vorzubringen, obschon er auch einen Beleuchtungsapparat er¬ 
funden hatte. 

Weder graphisch noch mündlich konnte er die Lage einer Gebär¬ 
mutter darstellen, trotzdem er eine Ovariektomie vorgespiegelt hatte, und 
selbst über die Anatomie der Zähne war er so sehr im unklaren, daß er 
jedem Zahn, wenigstens jedem Unterkieferzahn, eine Drüse beigeben 
wollte, mit der löblichen Pflicht, bei einer Infektion anzuschwellen. Er 
dachte dabei offenbar an die Drüsen des Mundbodens und des Halses, die 
er in seiner Unklarheit sehr generös umherschob und verteilte. Aus seinen 
Studien am Institut Pasteur rettete er nicht einmal den Begriff der Erythro¬ 
zyten, und seine Dissertation war ein unverstandener Haufen zusammen- 
getragener Zitate aus einschlägigen Büchern, den er mit einer Brühe 
tönender Phrasen reichlich übergossen hatte. 

Den Abschluß mögen noch einige Stichproben aus den Gesprächen 
mit Dr. Zett bilden: „Der Stil Louis XV. besteht in einem Flügel, von dem 
mehrere kleinere ausgehen; das Burghölzli ist kein Louis XV. (obwohl er 
obiger Definition entspräche!), weil es nicht zur selben Zeit erbaut worden 
ist, weil kein Irrenhaus in einem solchen Stil gebaut wird, und weil es das 
sogenannte Gangsystem ist.“ — „Fresken sind Girlanden und Ornamente 
und verschiedene Physiognomien.“ — „Am Tage sieht man keine Sterne, 
weil unsere Erde davon gedreht ist, und den Mond nicht, weil er zur andern 
Erdhälfte hinüberscheint, die nicht beleuchtet ist.“ 

Die weitere Untersuchung förderte nichts Auffälliges zutage. Seine 
Affektivität war gut, durchaus der Lage entsprechend und sehr moduliert. 
Die Gedächtnisfunktionen wiesen nichts Krankhaftes vor. 

Auch konnte er nicht moralisch defekt genannt werden, denn soweit 
er die Situation verstand und beherrschte, zeigte er richtige Gefühle der 
Reue, versprach Änderung seines Lebens, systematische Arbeit und Ein¬ 
kehr in sich selbst. 

Das Gutachten wurde auf Geisteskrankheit und Unzurechnungs¬ 
fähigkeit abgegeben. 


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12U 


J ö rger. 

Das erste, was an Dr. Zett auffiel, war seine krankhafte Sucht zu 
Schwindeleien. Überall, wo er hinkam. suchte er den Leuten etwas 
vorzumachen, er war sich oft selbst nicht bewußt, was er dabei alles 
sagte und tat. er ging häufig so weit, sich ganz und gar zu vergessen, 
allein seinen erdichteten Titeln und Reiehtümern zu leben, selbst dort, 
wo nach den gewöhnlichen Regeln der Klugheit und Vorsicht eine 
weise Mäßigung angezeigt gewesen wäre. So unterließ er es auch in 
der Anstalt nicht, von seiner Familie usw. Unwahres zu schreiben und 
anzugeben, obwohl er wußte, daß inan genau nachprüfen werde. Er 
schwindelte, wo es keinen Sinn hatte, Falsches anzugeben, er schwin¬ 
delte. wo man ihm die Unwahrheit direkt beweisen konnte, er schwin¬ 
delte selbst noch dann, wo es ihm direkt schadete. Wir erklärten darum 
den Zustand unter dem Namen der Pseudologia phantastica als krank¬ 
haft im forensischen Sinne. 

Hand in Hand damit ging ein gewisser Tätigkeitsdrang, eine ge¬ 
wisse Aktivität der Persönlichkeit, vielleicht nicht allzufem von einer 
chronischen manischen Verstimmung. Freilich war letztere in der 
Anstalt nicht zu sehen. Aber das aktiv Treibende ging aus der ganzen 
Schilderung seines Lebenslaufes hervor. Er war nicht nur der träu¬ 
mende. sondern der tätige Phantast, der das Leben genoß, arbeitete, 
operierte, studierte, schrieb. Gesellschaften gründete, Reisen unter¬ 
nahm, Bekanntschaften anbändelte und seinen erdichteten Stellungen 
und Berufen nach allen Seiten hin tätigen Glanz verschaffte. 

Diese krankhafte Phantasietätigkeit, verbunden mit der Aktivität 
der Persönlichkeit, setzte sich nun auf die Denkschwäche besonderer 
Art gleichsam als Grundstörung hinauf. So entstand ein krasses Mi߬ 
verhältnis der Ansprüche der Phantasietätigkeit und des aktiven 
Diebes einerseits und der intellektuellen Fähigkeiten anderseits. 

Fs seien hier nur ein paar Beweise nochmals hervorgehoben für 
die Art der Auffassung und Verarbeitung von Begriffen. 

Kr will das ..blaue Band der Ehrenlegion" erhalten haben, hat 
vielleicht auch einmal etwas vom blauen Hosenbandorden gehört, 
wutt dann wohl beide Begriffe durcheinander, verarbeitet sie unklar 
zu einem neuen Ehrenzeichen, mit dem er mit großer Selbstverständ¬ 
lichkeit Leichtgläubigen imponiert. 

Er macht Operationen, ist kein ungeschickter Zahntechniker, hat 


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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 121 


aber von anatomischen Grundlagen, Zahnanatomie, Munddrüsen u. a. 
die unklarsten Vorstellungen. 

Sein Elaborat von Dissertation ist ein Sammelsurium von unver¬ 
standenen wissenschaftlichen Begriffen. In der Geschichte wurstelt er 
den Großen Kurfürsten, den 30jährigen, den 7jährigen Krieg und 
Friedrich den Großen zusammen. Er weiß wohl im einzelnen, daß 
diese Dinge nicht zusammengehören, aber doch hat er hinwieder die 
einzelnen Begriffe nicht so fertig verarbeitet, daß er sie genügend 
auseinanderhalten könnte. 

Was ihm mit Begriffen, passiert ihm auch mit Worten: er spricht 
von einem „monotonischen“ Provinzialleben. Er will wohl das Wort 
„monoton“ gebrauchen, hat es aber unklar aufgeschnappt und ge¬ 
braucht es, falsch geformt, nur nach seinem ungefähren Klang. 

In noch deutlicherem Grade tritt diese Unklarheit des Denkens 
bei einem andern Falle zutage, dessen Historie nicht weniger inter¬ 
essant ist, und die betitelt sei: „Der Schriftsteller“. 

2. Der Schriftsteller WolfgangNamlos stammte aus einer einfachen 
Familie, die in geordneten Verhältnissen lebte. Der Vater war Besitzer 
einer kleinen Buchdruckerei. Eine Tante väterlicherseits war nervenkrank. 
In der Familie der Mutter herrschte Tuberkulose. Die Mutter selbst starb 
mit 21 Jahren an dieser Krankheit. 

Als Kind machte Namlos eine normale Entwicklung durch, in der 
Schule soll er gut gewesen sein. Er besuchte Volks- und Realschule, war 
2 Jahre im Welschland und kehrte mit 15 Jahren ins Elternhaus zurück. 

Über diesen Lebensabschnitt schreibt Namlos: „Von diesem Zeit¬ 
punkt an beginnt mein eigentliches geistiges Leben. Meine Frühreife 
brachte mich in einen markanten Widerspruch mit meinen Eltern, die, 
durchaus materiell veranlagt, keine Spuren eines höheren Idealismus für 
mich erkennen ließen, und die von diesem Zeitpunkt an die direkten Feinde 
meines geistigen Lebens waren.“ 

Schon mit dem 12. Jahre habe er die ersten Gedichte gemacht, und 
anknüpfend an die Erzählung des Vaters, der einmal von Goethe im 
Gartenhaus gesprochen, habe ihn die Idee, ein Dichter zu werden, 2 Jahre 
lang verfolgt. Er habe die wunderbare Größe Goethes instinktiv gefühlt, 
ohne etw'as von ihm zu wissen. Mit 15 Jahren wäre er in eine Vorstellung 
von „Kabale und Liebe“ gegangen. Da habe er geglaubt, Schauspieler¬ 
talente zu haben, und dann habe er sich in der Folge dieser Kunst zuge¬ 
wandt. 


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J ö r g e r. 


Der Vater, den der Sohn als „kleinliche, aber gescheite, natürlich 
intelligente“ Persönlichkeit schildert, hatte offenbar etwas realere An¬ 
schauungen. Er verlangte, daß Wolfgang erst ein solides Handwerk erlerne, 
und ließ ihn in seinem Geschäft eine 3 ^jährige Lehrzeit als Buchdrucker 
durchmachen, was der Sohn zur Befriedigung des Vaters auch tat. 

Daneben nahm er Stunden in der Schauspiel- und Rezitationskunst 
bei einem bekannten Schauspieler und einem geschätzten Rezitator, und 
nach vollendeter Lehrzeit reiste er mit ersterem und im Einverständnis 
des Vaters, der auch die nötigen Mittel gab, nach Berlin, um sich dort 
ganz fürs Theater ausbilden zu lassen. 

Was Namlos in Berlin tat und leistete, war objektiv nicht festzu¬ 
stellen, für den Vater waren als positive Ergebnisse nur die Kosten von 
3000 Fr. sichtbar. Der Aufenthalt schloß nach einem Jahr mit einem Auf¬ 
enthalt in Rheinsberg ab, worauf Namlos nach Zürich zurückkehrte. Sein 
Lehrer schrieb in jener Zeit, sein Schüler werde es nie über die Mittel¬ 
mäßigkeit hinausbringen. Namlos selbst fand auch, er habe genug von 
der lorbeerreichen Kunst der Mimen, und erklärte nun dem Vater, er wolle 
Journalist werden. 

Er war jetzt 20 Jahre alt geworden. 

Mit wenig Lust und Eifer arbeitete er vorläufig für einige Zeit im 
Geschäft des Vaters, schrieb daneben kleine Artikel für Zeitungen, manö¬ 
vrierte in der ernsten Kunst des Dramas herum, zog sich immer mehr von 
den Eltern zurück, da sie nicht imstande waren, seinen hohen Plänen 
zu folgen. 

Nach seinen eigenen Schilderungen litt er auch in dieser Zeit seelisch 
fortwährend Ungeheuerliches. Er schilderte, wie sein Vater gar nicht das 
geringste Verständnis für seine künstlerischen Aspirationen gehabt habe, 
daß er ihm kaum einen freien Nachmittag für seine Neigungen gegeben 
hätte. Er erzählt immer wieder, wie er frierend und schlotternd, in Decken 
gehüllt, auf der einsamen Dachkammer Literatur studierte, wie er sich 
mit dem Gedanken abgegeben, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, wie 
er einen Revolver gekauft habe und sich schon in Gedanken im Sarge liegen 
sah, „den Dichterkranz auf dem Haupte“, schwarz verhüllt das Zimmer, 
den trauernden Genius mit der erloschenen Fackel ihm zur Seite. Aber 
treue Freunde hätten ihn rechtzeitig vom Äußersten zurückgehalten. 

In seiner Lebensgeschichte schreibt Namlos: 

„Völlig gebrochen kam ich heim (von Berlin). Vom Theater, dem 
Herrlichsten in meiner Idealwelt, nun angeckelt und doch übervoll mit 
künstlerischen Ambitionen, Sehnsüchten und dem Bewußtsein meiner Be¬ 
sonderheit, erwachte nach einer grausigen seelischen Depression meine 
neue künstlerische Energie und die Reife zu einer produzierenden Kunst, 
der Dichtkunst. Ich schrieb die ersten Gedichte noch im Zustande der 
Metamorphose, sie hatten Erfolg, und in rapider Entwicklung erkannte 
ich jetzt — nach einem qualvollen Laborieren — meine eigentliche Mission. 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verbältnisblödsinn. 123 


Ich mußte Dichter werden und war dazu geboren. Aber ich konnte mich 
und wollte mich nicht zu Konzessionen hergeben, die kleine Arbeit des 
Tages: Feuilletons, Essays «sw., war mir in der Seele zuwider, ich durfte 
die Kraft nicht für den Tag verbrauchen, und das ist der Hauptgrund 
meiner Tragik.“ 

Es war nun auch die Zeit gekommen, da Namlos dem Vaterlande 
dienen sollte. Er habe Freude am Militär gehabt und hätte Offizier werden 
wollen. Er rückte zum Rekrutendienst ein. Aber es war auch hier schon 
wieder nicht so, wie er es sich vorgemalt hatte, die harte Wirklichkeit 
griff mit roher Hand ein. Einige Wochen hätte er heroisch gekämpft, 
dann sei er zusammengebrochen, sei lange krank im Spital gewesen. Man 
sah ein, daß er nicht fürs rohe Kriegswerk geschaffen, und schickte ihn 
nach Hause. In der Rekrutenprüfung hatte er sich lauter 1 erworben. 
Die Diagnose der Spitalärzte war auf Neurasthenie gewesen. 

Es war mittlerweile das Jahr 1912 geworden, und Wolfgang Namlos 
erklärte nun seinem Vater, er wolle sich selbständig machen. 

Er verließ das Elternhaus und zog in eine Pension. Er hatte zu Hause 
,,diesen entsetzlichen moralischen Druck“ nicht mehr ausgehalten. 

Das Eröffnungsspiel zu einer Selbständigkeit gedachte er durch den 
Ankauf eines Magenpräparates zu geben, mit dem ein alter Fremden¬ 
legionär hausierte, und das dieser selbst durch Kochen von Kräutern nach 
indischer Manier herstellte. Da der Mann ihm aus den Büchern einen jähr¬ 
lichen Ertrag von 2000 Fr. nachwies, da selbst Vater Namlos und die ganze 
Bekanntschaft aus eigener Erfahrung die Güte des Präparates priesen, 
wollte Namlos Sohn das Geheimnis für 500 Fr. erstehen und es dann nebst 
Profitanteilen einem Amerikaner für den Vertrieb jenseits des großen 
Wassers um den doppelten Ankaufpreis weiter verhandeln. Da der 
Amerikaner, eine Bekanntschaft aus dem Kaffeehaus, zu seinen Plänen 
„very well“ gesagt hatte, mußte das Geschäft gut sein. Aber die Unter¬ 
handlungen mit dem Vater um Ausbezahlung von ca. 1000—1500 Fr. 
kamen zu keinem Abschluß. Unglücklicherweise sollte nun ein Hauptteil 
dieses Geldes zur Deckung der aufgelaufenen Pensionsschulden dienen. 
Da es nicht zu erhalten war, Namlos aber wegen eines großen Kraches 
aus der Pension verschwand, erfolgte eine Klage auf Kostgeldbetrug, die 
der Vater aber doch noch rechtzeitig durch Bezahlung der Rechnungen 
rückgängig machte. 

Diese Unannehmlichkeiten des kleinlichen Lebens lähmten aber den 
begeisterten Jüngling nicht in seinen hohen Zielen, und er trat in jener Zeit 
in eine Gesellschaft „pro India“ ein, ließ sicli im „Indischen“ Unterricht 
erteilen, gedachte daneben Sanskrit zu studieren und ließ sich auch ver¬ 
schiedenen exulierten indischen Fürstlichkeiten vorstellen, die in einem der 
ersten Hotels in Zürich abgestiegen waren. Dies alles, weder im Sinne hatte, 
später einmal in jenes Märchenland zu gehen, „um dort als Künstler Stim¬ 
mungen aus Indiens alter und neuer Zeit zu sammeln“. 


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Jörger, 


Seitdem Xarnlos aus Berlin zurückgekehrt war, sprach er nur noch 
ein gewähltes Hochdeutsch, da er den vulgären Schweizerdialekt haßte. 
Diesem Ehrgefühl für das echte, hohe Deutsche gab er auch Ausdruck, 
indem er einem Deutsch-Nationalen Weltbund beitrat, „der vor allen 
Dingen die Pflege des germanischen Gedankens“ bei den Auslanddeutschen 
bezweckte. Als Gründer und Präsident fungierte ein Herr v. Gunbar, und 
Xarnlos war ganz hingerissen, denn Gunbar hatte Zuschriften und Sym¬ 
pathiekundgebungen der höchsten, allerhöchsten Herrschaften vorzu¬ 
weisen. Gelder flössen ein, Marken wurden gedruckt, Xarnlos sollte deren 
Vertrieb übernehmen, kurz es war „fabelhaft inszeniert“, und es war etwas 
zu erwarten. Er selbst sollte als Schriftführer engagiert werden und 
später in Amerika der Leiter der dortigen Hauptsektion werden. Von der 
amerikanischen Filiale versprach man sich selbstverständlich goldene Berge. 

Doch der Deutsch-Nationale Bund hatte ein kurzes Leben, er fand 
einen stillen, lyrischen Tod in einer tiefen Depression, die Namlos’ Seele 
erfaßte und ihn so sehr lähmte, „daß er tatsächlich nichts arbeitete“. 

Trotzdem verlor er den Kontakt mit der realen Welt nicht. Er raffte 
sich wieder auf und trat in Unterhandlung, für geringes Geld eine Buch¬ 
handlung zu erwerben. Aber es sei ihm Herr v. Gunbar just zuvorge¬ 
kommen. Das hinderte Xarnlos nicht, sehr viel in jener Buchhandlung zu 
verkehren und mit dem Besitzer eine Zeitschrift „Kritische Umschau“ 
herauszugeben. Doch auch hier folgte das Schicksal bitterlich schnellen 
Fußes. In der Buchhandlung entstand ein angeblich freiwilliges Schaden¬ 
feuer. Die „Kritische Umschau“ erstarb nach den ersten Nummern an 
angeborener Lebensschwäche. Es gingen Klagen ein wegen Betrug von 
Inseratengeidern, die Namlos eingezogen. Herr v. Gunbar klagte zugleich 
mit der Zimmerfrau wegen Betrug und Diebstahl eines wertvollen Ge¬ 
mäldes, und schließlich habe auch v. Gunbar ein unrühmliches Ende ge¬ 
nommen. 

Es ist klar, daß, wenn Hoffnungspläne so durchkreuzt und verdorben 
wurden, Namlos nicht verhindern konnte, daß ein Wirt wegen Kostgeld¬ 
betrug Klage einreichte. Das war im Januar 1913, und der Vater hatte 
noch ein Einsehen und bezahlte die Rechnung. Aus den Akten ging hervor, 
daß Namlos damals tat, als sei er Medizinstudent. Er bestritt dies aber des 
entschiedensten. Der Wirt habe gewußt, wer er sei, und habe auch seinen 
Vater gekannt. Er habe nur gesagt, daß er studiere, was auch insofern der 
Wahrheit entsprochen hätte, als er Kollegien an der Universität gehört 
habe. Dabei aber wußte Namlos auch anderswo den Glauben zu erwecken, 
er sei Medizinalstudent. 

Auch einem großen Tragiker kann mitunter die Muse in lächelnder 
Laune ein kleines Komödienspiel zuflüstern, als welches unser Dichter im 
Februar 1913 einen großen Handel mit einem Studenten erlebte. Dieser 
trug einen Hut, der Namlos gefiel, und den er vorläufig auf Kredit hin 
kaufte. Da der Student aber verreisen mußte, drängte er auf Bezahlung, 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 125 


die ihm Namlos in Form einer Reihe Bücher anerbot, unter der Bedingung, 
noch 5 Fr. zu erhalten. Des war der Student einverstanden, nahm die 
Bücher mit, die aber zufällig einem andern Studenten gehörten, in dessen 
Zimmer Namlos sich vorübergehend einlogiert hatte. 

Im August 1913 klagte die Firma gegen Namlos, der bei ihr als 
Provisionsreisender in Kondition war, auf Betrug von 39 Fr., die sie für 
gefälschte Bestellungen an ihn in Form von Provision ausbezahlt hatte. 
Namlos wollte selbst das Opfer eines Betruges geworden sein, indem er 
einen andern habe sammeln lassen, an jenen Orten, wo er selbst nicht habe 
hingehen wollen in der Eigenschaft eines Inseratenakquisiteurs, da er 
dort sonst als Schriftsteller verkehrt habe. Begreiflicher Stolz eines 
Künstlers! Die Polizei konnte jedoch den eigentlichen Betrüger nirgends 
auftreiben, und darüber, ob wirklich eine andere Person als Namlos die 
Inserate aufgenommen, oder ob es nur Namlos unter anderem Namen 
gewesen war, sprachen sich die Akten nicht aus. 

Nun befand sich Namlos eine Zeitlang in einer Periode seines Lebens, 
von der er sagte: „Es war in meiner vegetarischen Epoche.“ Darum ent¬ 
zückte er sich an einer süßen Frucht, die auf dem dunklen Boden Afrikas 
reift, und er schrieb eine Broschüre „Die Banane“, ließ auf dem Titelblatt 
„Eden Verlag“ drucken und sang darin das Lob der edlen Frucht als 
Volksspeise. 

Eine Zeitlang betrieb er weiter ein Heiratsvermittlungsbureau, nach 
seinen Angaben nur vertretungsweise für 14 Tage. 

Mittlerweile war das Jahr 1914 angegangen. Dieses begann mit der 
Klage eines Buchhändlers, bei dem Namlos 1912 in der Bestellung von 
Meyers Konversationslexikon seinem Wissensdurst Befriedigung gewährt, 
aber bis dahin an die 320 Fr. nur dreimal 7 Fr. bezahlt hatte. Man konnte 
es nicht verargen, wenn nun der Buchhändler Klage einreichte, nachdem 
er so und so viele Mahnungsschreiben, Rechnungen und Zahlungsbefehle 
an Namlos abgeschickt hatte. Er konnte aber nicht wissen, wie fortwährend 
sein Schuldner mit des Schicksals Mächten kämpfte. Vom Lexikon war 
schon lange jede Spur ausgetilgt, es war und blieb mit der mystischen 
Person des Indischlehrers verschwunden, von dem ebenfalls kein Mensch 
etwas zu berichten wußte. 

Namlos war nun nach all dem Erlebten die Großstadt Zürich zuwider 
geworden, er war dringend der Ruhe bedürftig und begab sich darum in 
den Kanton Thurgau. 

Er reiste inkognito mit dem Namen eines Freundes als Cand. med., 
verliebte sich in das Verhältnis seines Freundes und sammelte Stoff und 
Eindrücke für einen dreibändigen Roman. An den bestrickenden Reizen 
des Mädchens fing er Feuer, zumal sie die Schwester eines wegen Wechsel¬ 
fälschungen berühmten Bankiers gewesen sei, der 2 Jahre Gefängnis 
erhalten hatte. Sie gab ihm das Vorbild zu einer Heldin „Bianca“ im 
Roman, der in Mailand spielen sollte. 

Zmtaohrift (Br Psychiatrie. LXXIIT. 2/3. 10 


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126 


J ö rger. 


Namlos, wie er angab, erwartete immer Geld von der „Kritischen 
Umschau“, und weil es nicht kommen wollte, konnte er nicht länger 
warten. Er mußte nach München verreisen und tat es, ohne dem Wirt 
Lebewohl zu sagen. Das war circa Ende Juni 1914. Seine Rechnungen 
im Thurgau erbat er sich poste restante Zürich und fühlte sich damit 
weiteren Verpflichtungen enthoben. 

Was nun geschah, konnte allein aus seinen Berichten er¬ 
fahren werden. In München habe er dem „Delphin“-Verlag einige Kapitel 
aus seinem Roman vorgelesen, und in Erkenntnis der werdenden Größe 
des Werkes habe ihm der Verlag 50 Fr. zum voraus daran bezahlt. Mit 
dem Gelde sei er nach Wien gereist, wo er bei einer Tante gewohnt und 
nebenbei noch Unterstützungen vom Schriftstellerverein bezogen habe. 
Als dann der Krieg ausgebrochen sei, wäre er unter dem Schutz eines 
hochstehenden Offiziers über Budapest nach Przemysl gereist, habe dort 
alles Grandiose und Furchtbare des Krieges gesehen, sei zurückgefahren 
und habe in verschiedenen Städten Deutschlands Vorträge über die öster¬ 
reichische Mobilmachung gehalten. 

Als Beleg aus dieser Zeit zeigte Namlos eine Einladungskarte zu 
einem solchen Vortrag vor mit der Tagesordnung: Herr W. Namlos. 
Wien, über „Mobilmachung in Österreich“. 

Dann wollte er von Neujahr bis März 1915 in Zürich gewiesen sein, 
habe sich darauf schriftenlos auf nicht zu verratende Weise im April in 
Paris aufgehalten, um Stimmung und Leben in der französischen Kapitale 
für eine deutsche Zeitung zu studieren. — Bei den Akten lag eine Nummer 
der „Kölnischen Zeitung“ mit einem Artikel „Pariser Kriegsfrühling“. 
Autor nicht gezeichnet, der aus seiner Feder stammen sollte. Von diesen 
abenteuerlichen Reisen erschöpft, wieder angeekelt von der Großstadt 
Zürich, „kränklich und deprimiert und matt“, immer in Gefahr, von der 
Polizei belästigt zu werden, verspürte er nun von neuem das dringende 
Bedürfnis nach Ruhe. Er ging darum, es war Ende Mai 1915, zu einem 
Schneidermeister und bestellte sich ein neues Kleid. Der Schneider lobte 
ihm aber auch seine Regenmäntel, er hätte wohl auch in diesem Artikel 
gern ein Geschäft gemacht; Namlos habe ihm den Gefallen getan, 
wie er erzählte, und hätte sich einen solchen „aufschwatzen“ lassen, so daß 
der Schneider für Kleid und Mantel die Rechnung auf 195 Fr. schreiben 
konnte. Die Rechnung blieb aber unbeglichen. 

Also neu ausstaffiert, begab sich unser Schriftsteller anfangs Juni 
an einen Kurort am romantischen Wallensee, anfänglich nur in der Ab¬ 
sicht, 8 Tage zu bleiben, da er nachher nach Italien fahren wollte, um dort 
Stimmungsbilder zu studieren. 

Aber es hielten ihn Künstler fest und eine Serbin, die ihn zu einer 
„serbischen Novelle“ entflammte, und er konnte ungestört an einem 
großen Roman Tag und Nacht arbeiten, doch das Honorar von deutschen 
Zeitungen wollte immer nicht kommen, so daß aus 8 Tagen 5 Wochen 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 127 

wurden. Es war peinlich, aber in der Verlegenheit setzte schließlich „Stud. 
phil. Richard Schuhein“ seine Hoffnungen auf einen reichen Onkel, der 
hingegen auch kein Geld schicken wollte. Da ging dem freundlichen Wirt 
doch die Geduld etwas zu früh aus, ehe Namlos seine Italienreise beginnen 
konnte: es mischte sich schnell die hohe Justiz des Kantons St. Gallen 
ein, und sie war Ende Juli 1915 der Meinung, Namlos habe wegen falscher 
Namensangabe und Betrug von 278 Fr. nebst Kosten 2 Monate zu sitzen. 
Namlos war des einverstanden und sprach sich anerkennend aus über Be¬ 
handlung und Verpflegung als Gast bei der St. Gallischen Justiz. 

Weniger gut habe es ihm in Thurgau gefallen, speziell die Kost sei 
sehr monoton gewesen und habe von wenig feiner Küche gezeugt. Es 
hatte ihn nämlich nach dem Aufenthalt in St. Gallen auch der Kanton 
Thurgau zu einem Ferienaufenthalt gebeten, und zwar für 7 Wochen. 
Dies für seine Erholungskur im Thurgau im vergangenen Jahre. 

Nach dieser Gastfreundschaft wollte Zürich nicht nachstehen; die 
Bezirksanwaltschaft nötigte den Dichter zu sich, und so reiste denn Namlos 
Ende Oktober 1915, dem Rufe folgend, mit einem biederen Landjäger 
nach Zürich, um im Untersuchungsgefängnis Selnau Logis zu nehmen. 

Hier in Zürich hatte sich während seiner Studien und Ferienreisen 
sachte, langsam ein Aktenstück ums andere beim Bezirksanwalt einge¬ 
funden, jedes wollte neue Schuld zu alten fügen. 

Eine Frau, bei der Namlos im Jahre 1913 l 1 /* Monate gewohnt hatt'% 
klagte um ihr Logisgeld. Gleiches taten auch andere Zimmervermiete¬ 
rinnen und Pensionen. Überall war Namlos als Schriftsteller und Journa¬ 
list aufgetreten und wollte Geld für Artikel und Feuilletons erhalten, die 
,,kleine Arbeit des Tages“, die er einst so verpönt hatte. Aber selbst die 
hatte ihn im Stich gelassen. 

Das meiste Papier aber hatte sich als Folge einer wunderbaren Idee 
angesammelt, deren Inhalt und Geschichte wir alsogleich im Zusammen¬ 
hang darstellen wollen. 

Im Januar 1912 war unser Dichter in einer milden Frühlingsnacht 
um die 12. Stunde am Zürichberg gelustwandelt. Es sei düster und ge¬ 
heimnisvoll gewesen, und da wären zwei Buben ihm über den Weg gelaufen 
und hätten den Straßenmist zusammengelesen. Das wäre für ihn wie die 
Konzeption einer Novelle gewesen, eine Idee, die plötzlich aufsteigt, dann 
verschwindet, um später wieder aufzutauchen und ausgearbeitet zu werden. 

Die Idee ging vorläufig in Liebeskämpfen unter, die Namlos damals 
führen mußte. Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, das für ihn „wie 
eine Heldin kämpfte“. — Deren Eltern wollten aber nichts von der Ver¬ 
bindung wissen, weil Namlos noch nichts im Leben geleistet hätte. Uni 
dies zu widerlegen, kam ihm nun zur rechten Zeit die Idee wieder, die er 
in jener frühlingslauen Mitternachtsstunde konzipiert. 

Er hatte einmal in einer nationalökonomischen Zeitschrift gelesen, 
daß man in München vermittelst einer chemischen Verbrennung von Holz, 

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J ö r g e r, 


Papier und Lumpen eine Art „Luzerne“ herstelle. Warum sollte es nicht 
auch mit Mist gehen, dachte Namlos, und es schwebten ihm die mist- 
sammelnedn Knaben jener Frühlingsnacht vor Augen. Er entwickelte 
einigen kaufmännischen Kaffeehausfreunden seine Ideen, die schienen 
davon begeistert; ein Chemieprofessor war ihm für geleistete Dienste 
verpflichtet, den gedachte er für den chemischen Teil des Unternehmens 
zu gewinnen. So begann er, obwohl er eine Zeit „schrecklicher Seelen¬ 
qualen“ durchgemacht, unter den „denkbar schlechtesten Verhältnissen 
materieller und anderer Natur“ sein „Schweiz. Institut für Naturdünger¬ 
vertrieb“ zu gründen und in Betrieb zu setzen. 

Das erste, was er tat, war die Monopolisierung seiner Idee für den 
Platz Zürich, von dem aus Filialen in allen bedeutenden Schweizerstädten 
gegründet worden sollten. Er suchte die größeren Fuhrhaltereien und 
Pferdebesitzer in Zürich auf und schloß mit ihnen Verträge ab. 16 Fuhr¬ 
haltereien gingen darauf ein, denn die Verträge waren günstig. Nach 
einem Exposö war die geschäftliche Basis folgende: „Das Schweiz. In¬ 
stitut für Naturdüngervertrieb bezieht auf Grund ein- und mehrjähriger 
Abmachungen usw. von sämtlichen Fuhrhaltern, Pferdebesitzern und 
Stallinhabern Zürichs den Dünger zum durchschnittlichen Preise von 
2 Fr. pro Pferd und Monat, bei kostenloser Abfuhr desselben. Der Pferde¬ 
dung wird hierauf in eine noch zu mietende oder später zu bauende 
Räumlichkeit außerhalb des Stadtgebietes geführt, wo er dann gelagert, 
nach Qualität sortiert und hierauf noch mit einer chemischen Substanz 
vermengt wird, so daß seine Triebkraft eine noch größere wird und er daher 
bedeutend mehr Gehalt und Kraft aufweist als der bisherige Kunst- und 
Naturdünger. Mit dieser Bearbeitung des Naturdüngers ist eine neue Art 
von rationellem Dünger erzielt, und zwar ohne die teuren komplizierten 
Maschinen, die zur Herstellung von Kunstdünger erforderlich sind. Eine 
geeignete geringe Reklame in landwirtschaftlichen Blättern wird genügen, 
um einen großen Teil der verschworenen Kunstdüngerkäufer als Abnehmer 
zu gewinnen. Die Nachfrage nach Naturdünger ist gegenwärtig eine so 
eminent große, daß in den Monaten März, April und Mai genug geliefert 
werden kann. 

Eine Konkurrenz ist ausgeschlossen, da die jetzt abgeschlossenen 
Verträge so viel wie das Monopol für Zürich und Basel bedeuten. Wir 
sind daher in der Lage, die Preise selber anzusetzen. 

Ein Parallelgeschäft ergibt sich für das Institut für Naturdünger¬ 
vertrieb aus dem Wiederverkauf des getrockneten Strohs. Es wird neben 
der Räumlichkeit zur Umarbeitung des Düngers noch eine Strohtrocknerei 
eingerichtet. Das im Strohmist befindliche Großstroh wird durch eine 
Schotter- und Siebeeinrichtung herausgeholt, chemisch gespritzt, d. h. 
desinfiziert und dann getrocknet. Dieses getrocknete Stroh wird ausschlie߬ 
lich an die Landwirtschaft verkauft, die es dem neuen, doppelt so teuern 
vorziehen wird, weil es geschmeidiger und daher für das Vieh geeigneter ist* 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Yerhältnisblödsinn. 129 

Dasselbe wird zum Preise von 4,50 Fr. der Doppelzentner abgegeben. 
Nach den bisher abgeschlossenen Verträgen kann das Institut für Natur¬ 
düngervertrieb monatlich ca. 2500 Zentner Pferdemist ankaufen, und 
zwar zum Preise von 450 Fr. bzw. 500 Fr. monatlich und vierteljährlich 
zahlbar. Aus dieser Masse können ca. 280 Doppelzentner Stroh hergestellt 
werden; das ergibt noch einen Düngerbestand von ca. 1900 Zentner. Die 
Bruttoeinnahme beträgt also 2850 Fr. abzüglich Fourage, Zins und Ar¬ 
beitslöhne. Diese Unkosten können aber 1500 Fr. inkl. Ankaufkosten 
niemals übersteigen, so daß jetzt schon ein monatlicher Reingewinn von 
1350 Fr. zu verzeichnen ist. Dieser Gewinn kann natürlich durch hinzu¬ 
kommende Abschlüsse und durch Erhöhung des Düngerpreises noch um 
mehr als die Hälfte vergrößert werden.“ 

In den Akten befand sich auch ein erweitertes ,Expos6 für for¬ 
cierten Geschäftsbetrieb“. Darnach waren zu erwarten: 

Einnahmen : Zürich 200 Gruben = 15 000, 

Basel 150 „ = 12 000, 

Bern 130 „ = 10 000, 

Genf 120 „ = 9 800, 


600 Gruben = 46 800 Zentner Mist p. Monat. 
46 800 Zentner Mist ergeben 15 600 «= 7800 Doppel¬ 
zentner Stroh 4 4,50 Fr. = 35 100 Fr. 


Es bleiben Dünger, reiner Rest, 31 200 Zentner zu 45 Fr. 




per 50 Zentner 

28 

080 

»> 

Totalrest per Monat: 

63 

180 

Fr. 

Ausgaben: Totalbeschäfti^ung für 4 Städte 20 Ar¬ 
beiter per Monat = 

2 

400 

Fr. 

Fuhre für 46 800 Zentner 4 10 Fr. per Zentner 

9 

630 

>1 

Zins für 4 Lagerhäuser 

1 

500 

»r 

Auslagen für Geräte und sonstiges 

1 

000 

»> 


14 

530 

Fr. 

600 Gruben kosten monatlich 

4 

000 

f» 


18 

530 

Fr! 


Bilanz: 63 180 Fr. Einnahmen, 
18 530 „ Ausgaben, 
44 650 Fr. Reingewinn. 


Ein anderes Exposö rechnete mit 63 000 Zentner, ergab 130 580 Fr. 
Wert und hatte 22 000 Fr. Unkosten verzeichnet. 

Durch glänzendere Ergebnisse hätte Namlos seine Geschäftstüchtig¬ 
keit nicht beweisen können! Er schloß seine Verträge auf den Monat März 


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Jörgcr, 


1913 ab. In einem Vorort Zürichs mietete er einen leerstehenden Lager¬ 
schuppen, wo der Fabrikbetrieb auch tatsächlich begann. 

Er verpflichtete sich noch einen Arbeiter, dem er 80 Rp. die Stundo¬ 
versprach. Der mußte an verschiedenen Orten die in den Verträgen fest¬ 
gesetzte Stallreinigung morgens zwischen 5 und 6 Uhr vornehmen und 
den Mist aufladen helfen. Während 4 Tagen war er auch in der Fabrik 
beschäftigt, hatte dort aus dem Mist das Stroh auszusondern und dasselbe 
an der Sonne zu dörren und dann auf einen Haufen zu legen. Da die 
maschinellen Einrichtungen noch nicht vorhanden waren, kaufte er sich 
im Aufträge seines Arbeitsherrn aus eigenem Gelde eine Mistgabel und 
bezahlte einem andern Mistarbeiter auch 2 Fr. So wurden 6—8 Fuhren 
in den ersten Tages des Betriebes verarbeitet und .vom sortierten Mist 
bereits einem benachbarten Landwirt verkauft. 

Auch Namlos habe sich 14 Tage in seiner Fabrik aufgehalten und 
mitgearbeitet. Tragischeres Los konnte wohl einem Poeten nicht pas¬ 
sieren, daß er, statt auf herrlichem Pegasus in die himmlischen Weiten 
der Kunst zu reiten, den Mist klappriger Erdengäule im perlenden Schweiße 
seines Angesichtes sortierte. 

Dies gräßliche Geschick nahm auch recht bald ein Ende. Die Gärtner 
in Zürich waren mit dem nötigen Dünger in kürzester Zeit versorgt; auch 
die Bauern, die ihn kaufen wollten, waren nicht so leicht aufzutreiben, 
andere Leute hatten keine Verwendung für dies köstliche Produkt, und 
der Dichter selbst wollte in seiner Fabrik keine Berge davon türmen, uni 
auf ihnen mit den Musen zu kosen, und er ließ darum einfach den Mist 
dort liegen, wo er ursprünglich hinfiel. 

Des waren aber die Lieferanten nicht zufrieden, weil sich infolgedessen 
der Dünger bei ihnen aufhäufte, da der Poet ihn nicht abholen ließ. 
Die Fuhrhalter reklamierten, weil sta morgens ihre bestellten Wagen 
schickten, die aber niemand belud. Die Arbeiter reklamierten, weil keine 
Geräte vorhanden waren und ihnen die Fuhrhalter wüst sagten, wenn sie 
den Mist nicht wegschaffen konnten. Ein Vertrag nach dem andern wurde 
gekündigt, eine Klage nach der andern' lief bei der Bezirksanwaltschaft ein, 
und ehe noch der Frühling ins Land geflossen, w^ar aus dem Mistgeschäft 
dem Dichter eine Untersuchungshaft erblüht, aus der er aber bald wieder 
entlassen wurde. 

Alles bisher Dargestellte war das Wichtigste aus den Leiden und 
Freuden unseres Dichters, Schriftstellers und Düngerfabrikanten, ehe er 
in die Klinik zur Beobachtung kam. 

Namlos trat am 18. 11. 1915 in diese ein. Er war bei der Aufnahme 
höflich, zeigte sich völlig orientiert über die Situation. Er glaube krank 
zu sein, da das ihm zur Last gelegte Delikt in einem so enormen Kontrast 
zu seiner bisherigen Lebensführung stehe, daß er denken müsse, er sei 
krank. Er sei Schriftsteller, arbeite zugleich an 5 dramatischen W'erken, 
sei früher Schauspieler gewesen, habe die schwersten Rollen mit Erfolg 


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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 131 


gespielt, er verfüge eben nicht nur über stimmliche, sondern auch über 
geistige Qualitäten, was bei Schauspielern selten sei, da darunter die größten 
Idioten die besten Stellen hätten. Sein Lieblingsphilosoph sei Nietzsche. 

Körperlich fiel nichts an ihm auf. Namlos war ein mittelgroßer, 
schlank gebauter Jüngling, hatte fein gekämmtes, blondes Haar, hellblaue 
Augen, ein blasses, glattrasiertes, scharfzügiges Gesicht. Er hatte das 
Tun und Benehmen eines weit- und formgewandten Menschen, er sprach 
ein reines und gewähltes Hochdeutsch, denn seitdem er in Berlin gewesen, 
war ihm sein heimatlicher Schweizerdialekt ein Greuel. Sein Handeln war 
ruhig, gemessen, so wie einer, der in vornehmer Erhabenheit weiß, was er 
ist und bedeutet. 

Jede Untersuchung entsprach ihm einer Causerie, wie man sie im 
Kaffeehaus führt, vielleicht in einem schöngeistigen Cercle von Künstlern 
und Literaten. Er saß in lässiger, vornehmer Eleganz hin, schlug die 
Beine übereinander und wußte alsbald mit großer Gewandtheit über jeg¬ 
liches Ding, vor allem über Kunst, Künstler und psychologische Themata 
in fremdwortreichen, gewählten Reden eine lange Unterhaltung zu führen 
und zu leiten. 

Mit auffallender Offenheit berichtete er alles über seine Persönlich¬ 
keit, ohne weiteres erzählte er von seinen äußeren und seelischen Erleb¬ 
nissen, von seinem Werdegang als Künstler, von seinen Kämpfen und 
Seelenqualen. Seine Dichtergröße war ihm unumstößliche Tatsache, 
mochte alles schief gehen, mochte die Welt noch so schlecht an ihm han¬ 
deln, die sichere Zuversicht auf seine Bestimmung, Berufung und seinen 
einstigen Sieg halfen ihm über alles hinweg. Sich als Dichter zu fühlen, gab 
ihm folgendes das Recht, das er uns in die Feder diktierte: „Das Bewußtsein, 
die Kraft zu haben, was ich mit meinem geistigen Auge und mit meiner 
Psyche künstlerisch erlebe, auszudrücken, vor allem aber, das intuitive 
Ahnen von künstlerischen Formen, die mich zwingen, auf irgendwelche 
Weise sie von mir abzuschütteln, und zwar durch die Niederschrift.“ „Ich 
habe das Bewußtsein einer Sonderstellung als Mensch, weil ich weiß, daß 
meine Empfindung im Verhältnis zu den Empfindungen anderer schöpfe¬ 
rischer Menschen in einer persönlichen Eigenart besteht, und weil ich weiß, 
daß diese Eigenart meiner Gesichte und meines Seelendaseins die Welt 
sind, aus der die dichterische Produktion entspringt, und weil ich darin 
ein beglückendes Machtbewußtsein empfinde, das mich in schmerzhafter 
Weise von der Wirklichkeit und der Umgebung unterscheidet, mir aber 
das Leben um diese eigenartige Welt und des Bewußtseins willen erträglich 
und zuweilen auch liebenswert macht.“ Er hat noch nicht entsprechendes 
produziert, „weil ich noch kämpfe mit der Form, und weil ich in einer 
grausamen Selbstdisziplin, diese Form betreffend, bisher immer zerstörend 
auf meine Arbeiten gewirkt habe, aber dennoch erkenne, daß ich künst¬ 
lerisch vorwärts komme, und daß sich alle Mühsale für mich gelohnt 
haben. Ich habe das unumstößliche starke Bewußtsein des Berufenseins 


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Jörger, 


ohne irgendwelche Abstellungen der Welt gegenüber“ usw. Dieses dichte¬ 
rische Selbstbekenntnis füllte einige Seiten. 

Ein Urteil über seine dichterische Befähigung wagten wir nicht zu 
fällen; wie oft ist es, daß die Zeitgenossen nur Hohn und mitleidigen Spott 
hatten für einen Künstler, den erst die Nachwelt bewundernd feiert. Wir 
setzen darum aus dem ersten Kapitel eines Romans, den Namlos als sein 
Hauptwerk bezeichnete, einige Proben zur Beurteilung durch den ge¬ 
neigten Leser selbst hin. Es enthält dies Kapitel aus „Balthasar Heftis 
Werdegang“ die einfache Tatsache, daß der Held des Stückes „an einem 
der ersten erwachenden Vorfrühlingstage“, „an einem so zweifelhaften 
und doch ein wenig hoffnungsreichen Morgen“, „am Ende eines harten 
Winters, dessen letztes Röcheln kaum verendet war“, in die Ferien geht 
und von Zürich per Dampfschwalbe nach Erlenbach fährt. Von Kilchberg 
schien es, als müßten Konrad Ferdinand Meyers „wasserblaue, halykonische 
Augen sich mit dem Seespiegel verschmelzen oder Zwiesprache führen“: 
Heftis „vitaler Geist hatte trotz der wiederholten Lektüre des tiefsinnig 
und weltlich-bürgerlichen „Grünen Heinrich“ zu der nüchternen Formen¬ 
kunst und vielleicht reineren Klassizität des einsam stolzen Kilch- 
bergers seinen Weg gefunden. Und diese erfreuliche Erkenntnis sollte an 
diesem Morgen nur ihre zeitliche Bestätigung finden, und nur in einem 
Dichterherzen konnte dieses Geschehnis eine so jähe Gefühlserregung 
hervorrufen, daß er für eine Weile, aller Erdenschwere enthoben, mit 
seinem eigenen Phantasiegeblüt in höheren Hemisphären schwebte“. 
„Über dem Säntis stieg die Sonne in gelber Glut zum Himmel, die Schäfer¬ 
wolken am südlichen Horizont verschwammen im Azur des Morgens, und 
die Glarneralpen erhoben sich mit segantinischer Plastik aus dem Dunst 
der Dämmerung“. „Balthasar Hefti wurde ans Zeitliche erinnert.“ „Das 
unscheinbare Männlein am Bug des Schiffes“ „gewahrte nun zu seinem 
nicht geringen Erstaunen, daß noch einige fremde Allerweltsmenschen es 
gewagt hatten, ins Frühlingswetter hinauszufahren, während es in der 
noch winterlich toten Stadt und im Hotelfoyer zu langweilig war“. „An 
diesem Morgen vergaß er die Skrupeln seiner eidgenössischen Gesinnung 
und liebäugelte in weltmännischer Gelassenheit mit den schlank gewachse¬ 
nen Söhnen Amerikas.“ „In dem strengen, plastischen Ausdruck ihrer 
Gesichtsformen glaubte er die gemeisterte Geistigkeit einer reineren Rasse 
und in diesen lichtumsonnten Augen den anakreontischen Frohsinn der 
Zukunftsmenschen zu erblicken, ja es schien ihm, als müßten diese freien 
Söhne Kaliforniens über alle kleinlichen Ränkespinnereien des bürgerlichen 
Lebens erhaben sein.“ „Eine Dame befand sich nun auch bei dieser über¬ 
seeischen Gruppe“, die mit „vornehmer Neugier das Männlein musterte, 
und ihre märchenhaft träumerischen Augen an seiner niedlichen Gestalt 
weidete, wie an einem Dürerschen Bilde, das die Lieblichkeit selbst 
darstellt, während der Duft der Historia schon seine Geistigkeit ver¬ 
klärt hat“. 


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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 133 

# Da fuhr die Schwalbe in Erlenbach an. „Die Amerikaner schleuder¬ 
ten ihre hageren Glieder vornehm lässig über das Trittbrett des morschen 
Steges, und die Dame trippelte in einigem Abstand hinter ihnen her über 
das unangenehme Verbindungsvehikel.“ Balthasar Hefti ließ seine „glück¬ 
blinzelnden Augen auf dem Oval des schönen Weibes spielen, herumirren 
und versinken, als stünde er wieder wie vergangenen Sommer im Palazzo 
Pitti vor dem anmutverklärten Botticellischen Frauenkopf, nur mit dem 
Unterschiede, daß es jetzt lebendig und in einem zauberischen Frühlings- 
rnorgen zu pulsierendem Leben erwacht war, um ihm die Sinne zu ver¬ 
wirren mit dem fleischlichen Atem seiner Nähe, seiner greifbaren Schönheit. 
So geschah es, daß er im Sturme einer jäh aufsteigenden Aspiration so 
etwas wie eine Verzeihung stammelte, mit der Hand an die breite Schlapp¬ 
hutkrempe griff und im Verlauf einiger sinnverwirrenden Sekunden mit 
der schönen Dame in ein veritables Gespräch verwickelt war, aus dem es, 
so schien ihm, für seine preisgegebene Männlichkeit keine Rettung mehr 
gab. Aber die jetzt mit dreifacher Milde lächelnden und liebreiz verheißen - 
den Augen setzten ihn bald über die nachhinkenden Bedenken hinweg“. 
„So war der erste Schritt zu einer Anbahnung einer neuen Gemütsbeziehung 
in aller Schlichtheit vollzogen, und was sich des ferneren ereignen wird, 
sind nur die natürlichen Wechselwirkungen zweier grundverschiedener 
Menschenkinder, die sich auf dem Lebensweg ihres jungen, sehnsüchtigen 
Dranges und in einer besonderen Stunde gefunden haben.“ 

Vielleicht interessiert es den werten Leser, auch noch das Gedicht 
„Glyzene“ zu lesen, mit dem Namlos seinerzeit, als er von Berlin zurück¬ 
kehrte, den ersten „Erfolg“ errang. 

Glyzene. 

(Indisches Gedicht aus dem Jahre 1913.) 

Glyzene meines frühlingsmilden Traumes: 

Glyzene, Indiens allerschlankste Tulpe. 

Düfteschwangrer Wind am Gangesufer 
Dehnte deiner Glieder weiche Formen. 

Deine Wangen, o Glyzene, glühten 
Und du lächeltest, wie nur die Blumen, 

Wenn sie lieben, lächeln mögen. 

Und du schwiegest, wie die Bläue überm Eden, 

Wenn sie trunken und voll Liebe träumet, 

Wenn die Tropensonne deine Schwestern überflutet. 

Meines Heizens Süchte und dein Gleißen 
Und die Seufzer eines sel’gen Wander’s 
Gingen in dem schwülen Abend unter 
Unberührt, jungfräulich und phantastisch. 


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Jörger, 


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Meine Wünsche und das süße Schwingen 
Einer halb betörten trunk’nen Stunde 
Glitten aus dem Traumland, o Glyzene 
In das starre Licht Europens Sonne. 

O Glyzene meiner hellen Tagei 
Warum lliehtest du aus Indiens Fluren 
In das Nordland deiner blonden Haare? 

Warum bist du schlankste aller Blumen 
Mir gleich in das süchtge Licht gestiegen, 

Das dir blendet deine zarten Augen 
Und du weinest ob* des Tages Lügen? 

Weine nicht Glyzene meiner Tagei 
Lächle wie die blonden fernen Schwestern 
In dem Himmelsgarten deiner Heimat 
Und wie Menschen, die sich glücklich wähnen. 

Bewundernswert die Bescheidenheit eines Dichters, der die Publi¬ 
kation des Gedichtes allein als „Erfolg“ betitelt! 

Er fühlte sich in erster Linie Flaubert am nächsten, aber auch Mau- 
passant und Oskar Wilde standen ihm nicht ferne. Unausgesprochen, 
aber doch der einzig richtige Vergleich war der mit Goethe. 

Technisch schien uns—wenn wir eine kleine Meinung wagen durften — 
die göttliche Länge der Sätze und Perioden an Kleist zu erinnern, und 
darum kamen Untersuchungen zu keinem Ende, weil alles mit epischer 
Breite und Umständlichkeit umschrieben und dargestellt wurde, und man 
am Schlüsse noch nicht wußte, was Namlos eigentlich gemeint hatte. 

Aber es kommt schließlich nicht auf die Form an, sondern den Geist, 
den sie umschließt. Da wir selbst keine Dichter sind, um über hohe Kunst 
ein richtiges Urteil zu haben, so unterhielten wir uns mit Namlos auch 
über anderes. Es seien hier einige Proben aus diesen Gesprächen zitiert: 

„Frühling und Sommer sind bedingt durch die verschiedenen Sonnen- 
und Erdstellungen zueinander, dadurch verändern sich die klimatischen 
Verhältnisse der Atmosphäre, indem die Sonne weniger Wärme ausstrahlt. 
Das langsame Zurückweichen der Erdwärme ist ein Parallelismus zum 
langsamen Zurückweichen der Sonne zur Erde.“ Er habe seiner Zeit 
das Kant-Laplacesche System studiert. Aber da es lange her ist, ist er¬ 
klärlich, daß die Stellung und Bewegung der Himmelskörper ihm nicht 
mehr so ganz klar sind und er die Tages- und Jahresdrehungen der 
Erde durcheinanderwirft. 

Auch in irdischer Geographie gerät er leicht abseits; in der Richtung 
Zürich—Rapperswil geht es vorzüglich bis nach Sargans, dann aber kann 
er die Richtung nur mit Mühe einhalten, kommt ins bayerische Alpenland, 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 135 

wirft Görz und Verona, Bologna und Mailand usw. durcheinander. Auf 
einer stummen Karte kann er die Grenzen des Kantons Freiburg nicht 
umfahren. 

Napoleon hat ihm als Parvenunatur imponiert, er schätzt seine Leb- 
zeit um ca. 1700, weiß dann, daß er vor Goethe lebte, der 1830 starb. 
Irgendein wichtiges Ereignis aus Napoleons Leben kann er nicht angeben, 
außer daß er mit größter Rücksichtslosigkeit die Völker seinen Zwecken 
opferte. Elba ist ihm St. Helena und St. Helena Elba, wo die Inseln liegen, 
ist nicht weniger unklar usw. 

1291 war die „erste definitive Konstitution“ des Bundes der Eid¬ 
genossen, zu dem damals Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus und Bern 
gehörten. Circa ums Jahr 1000 lebte Wilhelm Teil „friedlich seinen Weg, 
ein guter, dummer Mensch“. Er erlebte dann die Affäre mit Geßler von 
Grüningen regelrecht nach Schiller. Was seither in unserem lieben Hel- 
vetien noch geschehen, hat den Dichter Namlos nicht mehr berührt. 
Darum hat er auch keine blasse Ahnung über Zweck, Zusammensetzung, 
Zahl usw. des Bundes-, Stände- und Nationalrates wie auch anderer eid¬ 
genössischer oder kantonaler Behörden. 

über Christus wußte unser Poet folgendes zu berichten: „Der Heiland 
lebte ungefähr 500 Jahre nach der griechischen Blütezeit. Unsere Zeit¬ 
rechnung, von der Geburt Christi an gezählt, dürfte etwa zu der Zeit, da 
Paulus in Rom predigte, begonnen haben. Christus hat als Prophet der 
Menschheit durch seine Handlungen das neue Evangelium verkündet, er 
hat uns die lebendige Kraft Gottes in seinen Handlungen gezeigt, indem 
er sich als Sohn Gottes ausgab und somit auch mit göttlichen Kräften 
geweiht war und das Volk Israel aus dem Dunkel seines religiösen Zu¬ 
standes befreite.“ 

„Die Pharisäer kreuzigten Christus, weil er sich als Sohn Gottes aus¬ 
gab, weil er ihre tote, dogmatische Wissenschaft mit seinen Handlungen 
widerlegte und sie als Heuchler hinstellte und er ihnen sagte, daß sie Buße 
tun müßten. Christus ist gestorben für die Idee seiner neuen Ideale. Er 
ist gestorben, weil die Konsequenzen seiner Lehre ihn vernichtet haben. 
Er ist der Erlöser, er hat uns von der Schuld des Unglaubens erlöst!“ 

Trotz aller dieser schönen und trefflichen Phrasen, die nach außen 
hin sehr richtig sind, konnte aber Namlos auch auf langes Fragen nicht 
angeben, wo der Kernpunkt der ganzen Erlösungslehre liegt, nämlich im 
Opfer für die Schuld des Sündenfalles. Und besser konnte unser Poet die 
Auffassung und Verarbeitung eines Begriffes nicht dokumentieren, als 
wie er oben unsere Zeitrechnung und das Leben Christi in Zusammenhang 
brachte. 

Das hinderte ihn aber nicht, über Psychologie und Psychanalyse zu 
sprechen, zumal da er bei Freud in Wien empfangen worden sein will. 
Das Fundamentale der ganzen Lehre Freuds sei, ins Unterbewußtsein ein- 
dringen zu können. „Das Unterbewußtsein ist meines Erachtens das 


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Jörger, 


schlummernde. unbewußte Seelenleben in chaotischem Zustande des 
Gehirns. Ich .lenke mir dieses als eine Kugel, in der das Unterbewußtsein 
ist. Alle Sinneseindrücke sind hier gebannt. Die Kugel wäre ein psychi¬ 
scher Raum, und der l. bergang aus dieser Kugel zum Oberbewußtsein 
wäre die psychische Zeit. Das Mittel dieses Überganges ist der Traum. 
Alle Gefühle des Unterbewußtseins sind für den Menschen tot. solange sie 
nicht durch eine Reizung geweckt und durch den Traum zur psychischen 
Zeit werden. Psychische Zeit ist das Produkt des Überganges eines Ge¬ 
fühles oder Gedankens des ünterbewußtseins in den Zustand des Traumes 
oder des Oberbewußtseins. Theoretisch ist der Traum eine Loslösung und 
Widerspiegelung eines unterbewußten Gefühls. Der Traum ist die un¬ 
willkürliche Betätigung des Gehirns und unterscheidet sich von dem Ober¬ 
bewußtsein in den meisten Fällen durch das Fehlen einer Kontrolle durch 
den Verstand des Träumenden. Es gibt allerdings Fälle, wo der Träumende 
im Traume selbst retlektiert. ihn verstellt oder abändert, nach seiner schein¬ 
baren Willkür gestaltet, aber diese Traumart ist m. E. nur typisch und 
das Kennzeichen für hervorragende Intelligenz.“ 

Wie die Anführungszeichen zeigen, ist dies ein wörtlich wieder¬ 
gegebenes Diktat unseres Dichters. Er stellte sich überhaupt seine dichte¬ 
rischen Themata in die Lösung irgendeines psychologischen Problems. 
Und er ging so sehr in der Psychologie auf, daß er seinem eben ernannten 
Vormund angab, er leide an ,.psycho-physischem Paralellismus“. Diese 
neue Krankheit entsprang bei ihm, wie er erklärte, der Beobachtung, daß 
er jedesmal, wenn eine Depression sein Gemüt psychisch bedrückte, auch 
physisch Schmerzen empfand, in Form von Rheumatismus! — 

Vielleicht sind Begriffe, die seinem hohen Berufe inneliegen, klarer? 
Es definiert darum unser Poet, „der gewohnt sei, streng dramatisch 
zu fühlen“, den tragischen Helden folgendermaßen: „Der tragische Held 
ist das leidende Wesen, die Konsequenz einer Handlung, die zu seinen 
Ungunsten endet, und die in ihm durch menschliche Einflüsse und Schick¬ 
sale und eigene Fehler Leiden machen.“ „Ödipus ist tragisch, weil er 
seine Mutter geliebt hat, ohne es zu wissen, und weil die sittliche Kon¬ 
sequenz in ihm nachher diese Liebe wider seinen Willen zerstörte.“ 

„Lyrisch ist die Einfachheit eines Gefühls ohne Komplikationen, 
das von außen oder von innen auf den künstlerischen Geist einwirkt und 
in demselben eine Stimmung auslöst, die eine ruhige Melodie oder ein un¬ 
kompliziertes Moment in seiner Reinheit und Tiefe darstellt und in seiner na¬ 
iven Empfindungsweise unmittelbar zum Herzen drängt. Ich betrachte die 
Lyrik künstlerisch und seelisch als die einfachste, vielleicht auch naivste 
dichterische Form, die auch ohne qualitative Fähigkeiten, sprachliches 
Ausdrucksvermögen usw. möglich ist und in ihrer Art das Einfache, 
Schlichte, Persönliche des Menschen äußern kann. Die Poesie hat ihren 
Ursprung in dem primitiven Volkslied, und ihre höchste Entwicklung ist 
wiederum in einer reinen Primitivität des Ausdrucks erreicht worden — 


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Uber unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 137 

z. B. Goethe — das Heideröschen —. Meine Ansicht ist die, daß jede 
lyrische Betätigung einem unschuldigen Dilettantismus entspringt, nur 
bei künstlerisch stark begabten Menschen das Niveau des Durchschnittes 
übersteigt, und viele Menschen, die sehr lyrisch begabt sind und dort 
Künstlerisches erreicht haben, sind meines Erachtens als Dichter, wenn sie 
nicht auf andern Gebieten, Prosa, Novelle, Homogenes erreicht haben, 
keine eigentlichen Dichter, sondern nur Gelegenheitsdichter, deren Be¬ 
gabung entweder aus dem Volksliede hervorging“ (sic!). 

Vielleicht ist ein geneigter Leser Fachmann und kann eher beur¬ 
teilen, ob diese Definition dem Begriff des Lyrischen entsprechend sei. Auf 
jeden Fall ist sie recht tief in ein schwer zu durchdringendes Gewirr bom¬ 
bastisch aufgeschossenen Phrasengesträuchs verborgen. Sie ist für den 
Leser nicht recht klar, und noch weniger hat man den Eindruck, daß 
sie dem Dichter selbst klar sei. 

Kehren wir uns zur prosaischen Realität, die möglicherweise dem 
Dichter geläufiger war. Er möge etwas von der Dampfmaschine sagen, und 
er berichtet: Eine Dampfmaschine „beruht auf der treibenden Kraft des 
siedenden Wassers, d. h. der Dampf sucht sich zu verdrängen (sic!) und 
bewirkt durch Einschließung einen Druck an die Wände eines verschlossenen 
Raumes, der dann durch die Öffnung in lebendige Kraft umgewandelt 
wird“. „Am Ort der Öffnung, wo der Dampf ausströmt, muß die Ma¬ 
schinerie angebracht werden.“ — „Kupfer ist ein Metall. Ich glaube, die 
Gelehrten wissen es selbst nicht, denn ich habe einmal im „Caf§ Terrasse“ 
einem sehr gelehrten Gespräch mit Prof. W. zugehört, in dem man sich 
stritt, warum es Elektrizität leite.“ 

Ebenso kann er nicht plausibel erklären, warum man Vorfenster hat. 
„Es ist geschützterl“, aber warum, weiß er nicht, usw. 

Wir könnten noch verschiedene Proben aus dem Wissen unseres 
Dichters anführen, aber es dürfte genügen. Mit überlegenem Lächeln 
bezeichnet er dies alles als einen Wissenskram, der einen großen Dichter 
nur belästige. Auch Goethe habe z. B. nicht gewußt, was eine Lerche 
sei, er habe es eben in den Gesprächen mit Eckermann gelesen. 

Auf was seine Düngerfabrikation aufgebaut war, haben wir oben 
schon dargestellt, und ebenso, was er zu seinen verschiedenen Taten zu 
bemerken hat. Es schien, als ob die Dinge, je konkreter sie waren, ihm 
um so ferner lagen. 

In der Klinik war Namlos’ Stimmung stets eine gleichmäßig ruhige, 
lächelnd überlegene, gefaßte, selbstbewußte. Auf ihr spielten Affekte, 
freilich nicht sehr ausgiebig, nicht weil sie ungenügend stark waren, sondern 
weil des Dichters würdevolles Benehmen sie unterdrücken mußte. Er 
vermochte über den Unsinn seiner Düngerfabrikation zu lachen, „sie werde 
ihn sein Leben lang als eine lächerliche Episode verfolgen“. Es berührte 
ihn unangenehm, sein Wissen so minim sehen zu müssen, auch wenn es 
äußerlich durch das überlegene Lächeln und den Vergleich mit Goethe 


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Jörger. 


verdeckt wurde. Er verlor seine Fassung ganz und gar, errötete zornig 
verlegen und weinte schmerzvolle Tränen, als er nach einer Reihe längerer 
Unterredungen merkte und erfahren mußte, daß wir von seiner Künstler¬ 
schaft gar nicht berührt und überzeugt waren, daß wir ihn nicht für einen 
Dichter, aber wohl eher für einen Schwindler halten mochten. 

Unerschöpflich war seine Phantasie. Alles wußte er in wohlgesetzter 
Rede aufs schönste auszuschmücken und zu berichten. Alles strahlte 
im Abglanz seiner dichterischen Persönlichkeit und wurde vom modern¬ 
sten psychologischen Standpunkt aus betrachtet und erfaßt. Im Dienste 
dieser Dichterpersönlichkeit modelte er auch alles um und setzte es sich 
zurecht. Seine Liebesverhältnisse wuchsen sich aus zu den Beziehungen 
literarischer und künstlerischer Art nach den besten Vorbildern der Welt¬ 
geschichte. Er hatte mit allen Größen verkehrt: Schnitzler, der Dichter, 
ist ihm gewogen, bei Freud, dem berühmten Psychologen, geht er zu Gast, 
er verkehrt in Berlin mit Moissi und Reinhard; Maler und Künstler sind 
seine Bekannten, dieser und jener hat die besten Urteile über seine Tätig¬ 
keit; indische Fürsten empfangen ihn usw. 

Ähnlich in seinen geschäftlichen Beziehungen. 

An den Funktionen seines Gedächtnisses war uns nichts aufgefallen. 

Über seine moralischen Qualitäten war zu sagen, daß er nicht als 
moralisch defekt bezeichnet werden konnte. Aber weil sein Verstand 
klein, seine überbrodelnde Phantasie im Verhältnis dazu übergroß war, 
ermangelte er der Einsicht in seine Handlungen. 

Wir fanden keine Anhaltpunkte für krankhafte Sinnestäuschungen 
irgendwelcher Art. Ebenso nicht für krankhafte Wahnideen, wie sie bei 
erworbenen Geisteskrankheiten Vorkommen. 

Während seines hiesigen Aufenthaltes fiel uns nichts auf im Sinne 
einer Periodizität seiner Stimmungslage. 

Er beschäftigte sich in der Klinik mit seinen Werken, schrieb uns 
zum Beweise seiner Künstlerschaft verschiedene Bruchstücke aus seinen 
Schöpfungen auf, ein bestimmt gegebenes Thema novellistisch zu bear¬ 
beiten, gelang ihm in mindestens 2 Wochen nicht, die Umstände wirkten 
zu lähmend auf sein dichterisches Schaffen. Begreiflich und verzeihlich! 
Körperlicher Arbeit schien er sehr abhold zu sein, jeder Anlauf brach am 
1. Tage in quälendem „Rheumatismus“ zusammen. 

Dieser Fall fügt sich trefflich zum erst beschriebenen. Beide Jüng¬ 
linge treten in einer sich vorphantasierten Persönlichkeit auf. der eine 
als „Doktor“, der andere unter der Firma „Schriftsteller“. 

Beide besitzen eine sehr große Fähigkeit der Rede und des Auf¬ 
tretens, beide verbergen dahinter eine fast unglaubliche Unklarheit. 
Oberflächlichkeit und Leere der Auffassung; ihre Begriffe sind ohne 
Abgrenzung, gasförmig, unfaßbar. Der reale Untergrund dessen, mit 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 139 


dein die beiden operieren, ihre Rolle durchführen, die Leute blenden 
und bestechen, ist eine zerfließende hohle Blase, über welche eine viel¬ 
versprechende Sauce großartiger Redegewandtheit gegossen ist. 

Dem Doktor kommt eine gewisse technische Fähigkeit in seinem 
Berufe zuhilfe, und der Schriftsteller ersetzt dies durch Pose. 

Der Doktor wie der Schriftsteller scheitern. Jeder hat einen 
praktischen Beruf, den er ausüben kann, der ihn ehrlich durchs Leben 
zu bringen vermöchte, freilich in bescheidenen Grenzen, der eine als 
Buchdrucker, der andere als Zahntechniker. Beide aber lassen sich 
durch ihre krankhafte Phantasie und einen ebenso krankhaften Trieb 
und Tätigkeitsdrang verleiten, über die Grenzen ihrer Fähigkeiten 
weit hinauszugehen und schließlich mit den Gesetzen in Konflikt zu 
geraten. 

Die Unklarheit und Oberflächlichkeit der Begriffsverarbeitung 
zeigt sich beim Dichter Namlos vor allem in seiner Fabrikations¬ 
gründung. 

Mit dem Wunsche, seine Selbständigkeit zu dokumentieren, mehr 
oder weniger getrieben von einer Liebesaffäre, greift er die Idee einer 
vorteilhafteren Verwertung von Pferdemist auf. Es genügt ihm dazu, 
in einer Zeitschrift einmal einen Artikel über ein derartiges chemisches 
Verfahren gelesen zu haben, um die Idee zur Tat werden zu lassen. 
Ohne jegliche Vorkenntnisse in geschäftlicher und technischer Be¬ 
ziehung stellt er ein Expose auf, berechnet glänzende Einnahmen und 
schließt mit allen Pferdebesitzern der Stadt Verträge ab. Weder weiß 
er, ob sein Verfahren überhaupt möglich ist, noch was er dazu braucht, 
ob er überhaupt Abnehmer für seine Fabrikationsprodukte finden 
wird — dies alles wird nicht im entferntesten in Erwägung gezogen; 
irgend jemand im Kaffeehaus hat ihm gesagt, die Idee sei glänzend, 
und ein anderer stellte ihm Geld in Aussicht, falls die Fabrik gehe: dies 
genügt, um ihn ein riesiges Geschäft inszenieren zu lassen, das monat¬ 
lich Tausende Franken von Reingewinn abwerfen soll, in dem aber der 
einzige Arbeiter noch aus der eigenen Tasche die Werkzeuge beschaffen 
muß! 

Für ihn war die ganze Geschichte kein Bluff, mit dem er eine 
Reihe Leichtgläubiger hineinlegen wollte; die Sache war das ehr¬ 
lichste Unternehmen, das er in seinem Leben angepackt hatte, und den 
größten Schaden trug er selbst in jeder Beziehung davon. 


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J ö r g e r, 


Auch der Handel mit dem Magenpräparat war auf einer ähnlichen 
Denkunklarheit basiert. Er wollte sich goldene Berge damit erwerben 
und wußte nicht einmal, aus was es bestand und wie das Mittel herzu¬ 
stellen wäre. 

Die Aussicht, irgend etwas unternehmen zu können, z. B. beim 
„Deutsch-Nationalen Weltbund“ beschäftigt zu werden, ließ ihn die 
Wirklichkeit der Idee schon als vorhanden erscheinen, der 
Plan, Filialen zu gründen, machte ihn zum Leiter derselben. 


Noch deutlicher erscheint nun die Unklarheit des Denkens bei 
einem dritten Fall, der in seinen Unternehmungen weniger phantastisch 
und sich überhebend war als die beiden eben dargestellten Fälle. Um 
so deutlicher tritt dafür das Mißverhältnis zwischen Trieb und Kön¬ 
nen hervor, die Diskrepanz zwischen Scheinen und Sein in den 
intellektuellen Fähigkeiten. 

3. Der Kaufmann Albert Nichtgenannt hatte außer einer seit 20 
Jahren geisteskranken Stiefschwester keine Fälle von psychischer Er¬ 
krankung in seiner Familie. Als er zur Welt kam, war sein Vater, ein 
häßlicher Apotheker, schon 60 Jahre alt. Als Kind war Ungenannt nervös, 
litt in den Entwicklungsjahren an Nachtwandeln und war in der Schule 
schlecht, zum Teil wohl aus Faulheit. Auch viele Nachhilfestunden trieben 
die Leistungen des Jünglings nicht so in die Höhe, daß man ihn hätte 
studieren lassen können. Nach der Schulzeit trat er darum in die Lehre 
als Drogist, übernahm später die Apotheke des 80jährigen Vaters, machte 
eine Drogerie daraus, wurde selbständig und wandelte schließlich seine 
Firma in ein Kompagniegeschäft um. Um seinem Geschäft eine solidere 
Basis zu geben, heiratete er ein reiches Mädchen, aber schon nach 5 Jahren 
ging jeder Teil seine eigenen Wege, ohne freilich zur Scheidung zu schreiten. 

Von jeher zeichnete ihn nach Bericht der Schwester eine große Lügen¬ 
haftigkeit, Feigheit und grenzenlose Gutmütigkeit aus. 

Es brannte ihm sein Haus ab, und da schickte er nachher seiner 
Schwester eine Ansichtskarte mit der Brandstätte, auf der er nebst einigen 
Feuerwehrleuten abgebildet war. Darunter standen die Worte: „Das 
größte Brandunglück, das je gesehen wurde“, und er berichtete mündlich 
mit Tränen der Rührung, wie selbst die Töchter des reichen Weberei¬ 
besitzers in Kanonenstiefeln mitten im Trubel hilfreich Hand ans Werk 
gelegt hätten, was gar nicht wahr gewesen war. 

Seinen Verdienst im Geschäft schätzte er nach seinen Berichten auf 
10—20 000 Fr., meist für jeden seiner Teilhaber; er gründete Filialen, 
schaffte sich ein Lastauto an, verdoppelte und vervielfachte das Personal, 
trieb aber so seine Firma, die früher guten und regelmäßigen Verdienst 


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geboten hatte, in Konkurs, trotzdem ihm seine Frau 180 000 Fr. gebracht 
hatte. 

Kurz vor dem Ruin mietete er in der benachbarten Stadt noch 
zwei Bureaux, lud seine Verwandten zu Autofahrten ein, berichtete von 
seinem neuen Luxusauto und von großartigen Geldgeschäften. 

12 Jahre nach der Verheiratung reichte die Frau des Nichtgenannt 
Scheidungsklage ein, und obwohl auch sie seit Jahren Beziehungen zu 
Angestellten ihres Mannes gehabt hatte, ließ sich Nichtgenannt von dem 
Advokaten bereden, alles auf sich zu nehmen, er willigte in sämtliche Ver¬ 
träge ein und verpflichtete sich, die 180 000 Fr. Frauen vermögen zurück¬ 
zubezahlen und monatlich für seine Kinder 300 Fr. Alimente zu entrichten. 

Nichtgenannt blieb natürlich jegliches schuldig, denn er hatte längst 
abgewirtschaftet. Er siedelte nach der Großstadt über, übernahm Ver¬ 
tretungen, mietete eine Vierzimmerwohnung, nahm eine Haushälterin, 
einen Prokuristen und ein Bureaufräulein. Der Betrieb war fidel, herzlich 
und sorglos. Autos fuhren vor, Gäste wurden empfangen, der Ruf des 
reichen Kaufherrn verbreitete sich bald, seine Haushälterin kaufte Seide 
und Samt, er dinierte im Hotel. 

Einmal freilich wollte die Sittenpolizei das fröhliche Haus näher 
besehen, aber sie zog sich wieder zurück, ohne etwas Tadelnswertes zu 
rügen. Bald wollte auch der neidische Klatsch am Glanze des Hauses 
nagen, man sprach von unbezahlten Rechnungen und wollte den reichen 
Mitteln mißtrauen. Da bezog Nichtgenannt eine andere Wohnung und 
gründete eine Lebensmittelgesellschaft „Cerealia“, wurde Direktor der¬ 
selben, alleiniger Verwaltungsrat und Inhaber. Die stets heruntergelasse¬ 
nen Rolladen seines Magazins verbargen dessen reich aufgestapelte Vor¬ 
räte, die 50 Säcke Gerste ausmachten, man nahm an, Kaufmann Nicht¬ 
genannt mache in Kommission. 

Im Drange der Geschäfte vergaß Herr Nichtgenannt immer seinen 
Verpflichtungen der geschiedenen Frau und den Kindern gegenüber nach¬ 
zukommen; darum legte der Anwalt dieser mit Recht Klage ein, zumal 
man im Glauben war, er verdiene bei seinem großartigen Betriebe viel Geld. 

Alsbald zeigte sich aber die Kehrseite des Bildes: außer Schulden 
und 50 Säcken Gerste war nichts da, und es häuften sich auf diese Ent¬ 
deckung hin Klage um Klage. Es ergab sich, daß er seine Wohnungs¬ 
mieterin mit Schecks vertröstet hatte, für die fälligen Termine aber keine 
Gelder auf der Bank lagen, daß er als Vertreter einer ausländischen Pe¬ 
troleumfirma die schuldigen Beträge wohl einkassiert, aber nicht weiter¬ 
gegeben hatte, daß er im Namen von Fabriken als deren angeblicher Ver¬ 
treter Bestellungen ausgeführt und auf eigene Rechnung weiter verwertet 
hatte. Kurz, es kam so viel zusammen, daß Herr Nichtgenannt, der auch 
durch ziemlich reichen Alkoholgenuß schon mitgenommen war, schwer 
nervös wurde und in der Klinik des Burghölzli Ruhe und Erholung zu 
suchen sich gezwungen sah. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. * 

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Jörger, 


Die Untersuchung und Beobachtung in der Klinik ergab weder för 
Dementia praecox noch Epilepsie Anhaltpunkte. Ebenso war ein Suchen 
nach Paralyse resultatlos. Im Vordergründe der Symptome stand seine 
Willensschwäche, verbunden mit einer Pseudologia phantastica, die ihn 
von jung an ausgezeichnet hatte, und für die wir oben, um nicht zu lang 
zu werden, nur einige kurze Belege gaben. 

Was aber für die vorliegende Arbeit das meiste Interesse beansprucht, 
war die Art und Weise, wie seine intellektuellen Fähigkeiten sich äußerten. 

Er beschreibt z. B. den Unterschied zwischen Kind und Zwerg 
folgendermaßen: „Der Zwerg bleibt, wenn er auch älter wird, verhältnis¬ 
mäßig immer in der gleichen Größe, währenddem das Kind mit dem Alter 
wächst und eine normale Größe durch die fortwährende Entwicklung 
erhält. Ein Zwerg (der nicht mehr wächst) mit einem Kinde verglichen: 
Ein Kind ist in Gedanken und in den Handlungen stark zurück und 6ieht 
noch seiner Entwicklung entgegen. Man kann es gut „defilieren“ (sic!): 
ein normales Kind entwickelt sich nach und nach im Geist und im Körper, 
und ein ausgewachsener Zwerg, der eventuell die gleiche Größe hat wie ein 
kleines Kind, ist im Geist und Körper total entwickelt.“ — 

Die Definition wird rein äußerlich schon unklar durch die Länge, 
die Wiederholung, die Unverständlichkeit. Der Beisatz „wenn er auch 
älter wird“, ist unnötig, denn im Begriff „Zwerg“ ist das „alt“ schon 
enthalten. Das gleiche gilt von der Bemerkung in der Klammer („der 
nicht mehr wächst“). Beide Nebensätze werden auch unnötig durch die 
Formulierung: „Der Zwerg bleibt“. Mit „verhältnismäßig“ will er aus 
einem andern Gedankengang das Mißverhältnis zwischen Größe und andern 
Eigenschaften, wohl den geistigen, angeben, wendet dann aber dieses 
Mißverhältnis nachher falsch an, indem er vom Kinde sagt, „ist in Ge¬ 
danken und Handlungen stark zurück“. Das Beiwort „normales“ 
ist wieder aus einem andern Gedankengang hergenommen, indem der 
Zwerg nicht normal ist, der Vergleich mit einem normalen Kinde aber 
selbstverständlich. Auch „ausgewachsen“ liegt schon im Begriff „Zwerg“, 
und der Satz „der eventuell die gleiche Größe hat“ ist überhaupt als der 
Ausgangpunkt des Vergleiches, der doch von der Größe bzw. Kleinheit 
ausgeht, wieder überflüssig. — 

„Ein Strauch ist ein Gebüsch, während der Baum einen Stamm mit 
Ästen und Blüten hat.“ — „Strauch“ und „Gebüsch“ ist im Sinne der 
Unterschiedsfrage ungefähr das gleiche. Der eigentliche Unterschied, der 
..Stamm“, wird beim einen Vergleichsobjekt gar nicht erwähnt, beim 
andern nur in der Nebensache und zum Vergleich nicht ausgenutzt, dafür 
aber der Hauptwert auf „Äste und Blüten“ gelegt, was keine Vergleichs¬ 
eigenschaft ist, da auch der Strauch oder das Gebüsch „Äste und Blüten“ 
hat. — 

„Die gegenwärtige Kriegslage (März 1916): Deutschland, Österreich, 
Japan und Türkei gegen Frankreich, Rußland, Serbien, England und 


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Ober unklares Denken und Psendologie bei Verhältnisblödsinn. 143 

Portugal. Die jetzige Situation ist die, daß seit Kriegsbeginn kein großer 
Fortschritt erklärt werden kann, als daß eine Unmasse militärpflichtiger 
Personen zum Opfer gefallen sind.“ — Einmal zeigt diese Antwort, wie ober¬ 
flächlich und unklar auch aktuelle Dinge aufgefaßt werden, die sonst jeden 
Menschen, gar von dem Tätigkeitsdrang und dem Unternehmergeist 
des Nichtgenannt, interessieren. „Japan“ ist am falschen Orte aufgezählt 
und ist inhaltlich gleichgültig. Ebenso ist „Portugal“ für die Beant¬ 
wortung der Frage gleichgültig, es wird nur hergesagt, weil es gerade in 
'den Zeitungen steht, dafür aber werden Italien, Belgien, Montenegro, deren 
Anteilnahme am Kriege gerade für uns eine viel wichtigere Bedeutung 
hatte, nicht erwähnt. Von den großen Ereignissen wird nichts genannt. 
„Fortschritt erklären“ ist schwülstig, vom Biertisch hergenommen, im 
Zusammenhang der Examensituation deplaciert, ersetzt wohl den Aus¬ 
druck „man kann sagen“. Das Wort „militärpflichtig“ ist in diesem Ge¬ 
dankengang, der von Krieg spricht, in erster Linie selbstverständlich, 
weil jeder sofort in diesem Zusammenhang an „Militär“ assoziiert. In der 
Zusammenstellung mit „Personen“ wirkt es dann wieder unvollständig 
und verwaschen, weil mit „Personen“ die „Zivilisten“ in die Nähe des 
Gedankengangs gerückt werden. Es sollte darum wohl heißen „militär¬ 
pflichtige und andere Personen“ zum Opfer gefallen. 

„Petroleum ist Rohöl, das aus der Erde gewonnen wird. Es kommt 
aus Gegenden, wo viel Steinkohle, wo verkohlter Boden ist. Steinkohlen, 
sind in der Erde verbrannte, verkohlte Steine, davon ist schon der Name, 
in den Gegenden, wo gewisse Gasentwicklung existiert. Es ist ein Ver¬ 
brennungsprozeß von Substanzen in der Erde. Die Erde ist gashaltig und 
die Gruben, und mit den Jahren und mit dem Druck sind feste Erdmassen 
und Steine eben verbrannt.“ Bei dieser Antwort ist nicht zu vergessen, 
daß Nichtgenannt mit Petroleum und Benzin Engrosgeschäfte betrieb. 
Dann auch, daß er als Sohn eines gebildeten Apothekers eine Reihe physi¬ 
kalischer und chemischer Begriffe kennen mußte. Dies zeigt auch der 
Gebrauch von „Verbrennungsprozeß“, „Gasentwicklung“, „Druck“ usw. 
Trotzdem hat er die Assoziation von der Unverbrennbarkeit des Bodens 
und der Steine nicht, und erklärt er „Steinkohle“ den einzelnen Begriffen 
der Wortzusammensetzung nach, wie höchstens einer tun kann, wenn er 
zum ersten Male mit diesem Wort zusammenstößt und von „Stein¬ 
kohle“ in keiner Richtung eine Ahnung hat. 

Ein bestes Beispiel ist folgende Antwort: „Katholisch ist gleich¬ 
bedeutend mit „konservativ“; die vertreten den katholischen Glauben. 
Bei den Protestanten hat es Liberale, Demokraten, aber auf der konserva¬ 
tiven Seite hat es auch Demokraten. Sozialisten hat es bei den Konserva¬ 
tiven und bei den Protestanten. Juden sind vom hebräischen Stamm; 
dort gibt es keine Konservative“ (letzteres mit herzlichem Lachen, weil 
ihm die entsprechende Frage wohl gar zu naiv vorkamI). 

Ein langer Kommentar ist da nicht nötig. Nichtgenannt lebte immer 

11 * 


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144 


Jöiger,' 


in einer paritätischen Gemeinde und in einer eifrig politisierenden Gegend, 
machte selbst sicher schon als Handelsmann ex officio in politicis eifrigst 
mit. Trotzdem konnte er die Begriffe „katholisch“ und „protestantisch“ 
nicht so verarbeiten, um zu begreifen, daß sie mit politischen Parteien 
im Grunde gar nichts zu tun haben; anderseits wieder ist ihm nicht bewußt 
geworden, daß es Vertreter von beiden Konfessionen bei den Liberalen wie 
bei den Demokraten, Konservativen und Sozialisten geben kann und gibt. 
Daß in „Juden“ ein Religionsbegriff ist, wollte er mit „vom hebräischen 
Stamm“ ausdrücken und wohl einen Gegensatz gegen „Christen“ bilden. 
Weil er „konservativ“ und „katholisch“ gleichsetzt, kommt ihm darum die 
Frage lachhaft vor, ob es bei den Juden auch „Konservative“ gebe. Dafür 
hat er aber nicht gemerkt, daß alle politischen Parteien bei den Juden 
vertreten sein können, eben weil „Juden“ ein religiöser Begriff ist, der 
wieder mit den politischen Richtungen und Bekenntnissen nichts zu tun hat. 

Noch einige Antworten aus seinem Fachgebiet als Drogist und Ge¬ 
hilfe in der Apotheke seines Vaters. „Spiritus ist ein Destillat aus Kar¬ 
toffeln. Es gibt auch denaturierten Spiritus, der nur einfach destilliert ist.“ 
„Destillation ist ein Auszug von einer Frucht oder einer Pflanze ver¬ 
mittelst Weingeist. Es kann auch gewöhnliches Quellwasser überdestilliert 
oder ausgezogen werden. Dazu braucht man keinen Weingeist (lachend 1). 
Es bleiben die Salze zurück.“ — Hier sind eine Reihe von Begriffen, die 
er praktisch gelernt, deren eigentlichen Inhalt er aber nicht verarbeitet hat. 
So nimmt er vom „Destillat“ nicht das Wesen des Verdampfens und Über¬ 
führens, sondern einen Nebenfall, bei dem zuerst ein alkoholisches Extrakt 
hergestellt wird, und verallgemeinert damit. Anderseits weiß er aber, daß 
bei der Destillation von Wasser der Weingeist nicht in Betracht kommt, • 
kann aber daraus nicht folgern, daß darum nicht der Weingeist, sondern 
etwas anderes das Wesentliche der „Destillation“ sein muß. — 

Unterschied zwischen Tinktur und Destillat: „Tinktur wird auf 
kaltem Wege bereitet, während bei der Destillation die Zubereitung per 
Dampf oder per Holz- oder Kohlenfeuerung, je nach dem System, vor sich 
geht.“ Nach der Formulierung seiner Antwort kann „Tinktur“ mit „De¬ 
stillation“ nicht mehr verglichen werden. „Tinktur“ ist der fertige Zustand, 
der mit dem Prozeß in „Destillation“ verglichen wird. Der Kernpunkt 
des Unterschiedes, die Extraktion, wird aber nicht gegeben, dafür wird 
ein Bestandteil beim Prozeß der Destillation in den Vordergrund gehoben, 
nämlich „Dampf oder Holz- oder Kohlenfeuerung“. Beim Vergleich ist 
die Art der Wärmeerzeugung ganz unwesentlich, die Häufung der Aus¬ 
drücke wird schwülstig, zudem ist die Reihe „Dampf — Holz — Kohle“ 
keine gegensätzliche Reihe. — 

„An der Dampfmaschine ist der Kolben die Hauptsache, worin der 
Dampf „gewechselt“ wird.“ 

„Dampf ist aus gekochtem Wasser, er wird erzeugt durch Erhitzen 
von Wasser. Wenn das Wasser kocht, entsteht schon Dampf bei 40—50°; 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Yerhältnisblödsinn. 145 

2 . B. in einem Baderaum wird die Decke naß vom Dampf. 60—70° ist 
der Siedepunkt. Das Wasser gefriert bei 10° Kälte.“ Die letzten Zitate 
brauchen nach den obigen keiner weiteren Bemerkungen. 

Die oben angeführten und kommentierten drei Fälle zeigen beson¬ 
ders deutlich das „unklare Denken“, das den Verhältnisblödsinn zu 
begleiten pflegt. Einmal operieren diese Leute mit Begriffen und 
Worten, denen ein reales Wissen gar nicht entspricht. Wenn der 
„Kaufmann“ als Sohn eines Apothekers und als Drogist und Handels¬ 
mann mit ausgedehntem Geschäft von Petroleum, von Steinkohlen, 
von Destillat und Tinktur spricht, so sollte man füglich annehmen 
können, daß er seiner Bildung und Stellung gemäß die Dinge auch 
einigermaßen verstehe, von denen er redet, und auch die entsprechen¬ 
den chemischen und physikalischen Kenntnisse, die etwa drum und 
dran hängen, beherrsche. Dies ist aber nicht der Fall, er manövriert 
freilich in größter Sicherheit mit den Worten herum, hinter ihnen 
steckt aber kein Wissen und kein abgegrenzter Begriff. 

Nichtgenannt konnte freilich bei vielem, das er gefragt wurde, 
behaupten, er habe es längst vergessen, z. B. Tatsachen des allge¬ 
meinen Wissens, Tellsage, Religionsfragen, Geographie usw. Hätte 
•er es wirklich nur vergessen, so müßte er die nicht vergessenen Bruch¬ 
stücke wenigstens in richtiger Art und Weise darstellen und die Un¬ 
sicherheit zeigen, die man halb entschwundenen Dingen gegenüber hat. 
Dem ist aber nicht so; was vorgebracht wird, erscheint mit der Sicher¬ 
heit des festen Besitztums und zeigt, daß nicht nur das Übriggebliebene, 
sondern auch das Vergessene nur ungenau, nebelhaft aufgefaßt und be¬ 
griffen worden ist. Darum auch das „Vergessen“ so vieler Tatsachen, 
die sonst sogar zum geistigen Besitz selbst des einfachsten und unge¬ 
bildetsten Mannes gehören! 

Die gleiche Unklarheit der Begriffsauffassung und Verarbeitung 
erscheint auch bei den Dingen, die ihn alltäglich umgeben, und mit 
denen er jederzeit arbeiten muß. Es sei nur nochmals auf seine De¬ 
finition von „Baum“ und „Strauch“ hingewiesen, auf seine Ausein¬ 
andersetzungen über „katholisch und reformiert“. 

Bei solchen Leuten mit unklarem Denken wird zur Regel, was 
• jeder Klardenkende schon ausnahmsweise an sich beobachtet haben 
wird: man hört oder liest irgend in flüchtiger Weise ein Fremdwort, 
piaßt es nur halb auf und trägt es so unverarbeitet mit sich herum. 


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Jörger, 


Der Normale versichert sich nun des Wortes bei der nächsten Gelegen¬ 
heit und nimmt es in richtigen und dauernden Besitz, oder aber er tut 
es nicht und schleppt es geniert als Ballast mit, den er sich nie recht 
zu gebrauchen getraut, weil er seiner nicht sicher ist. Leute mit un¬ 
klarem Denken aber versichern sich des schlecht aufgefaßten Begriffes 
nicht, weil ihnen das Gefühl der Unsicherheit mangelt, und sie genieren 
sich darum auch nicht, den Begriff nur halb oder gar nicht verstanden 
zu gebrauchen. 

Alle die beschriebenen Fälle erscheinen klinisch in erster Linie 
nicht als Imbezille, sondern als Pseudologen und Verhältnisblödsinnige, 
worüber später noch einiges gesagt werden soll. 

Ihre Unklarheit des Denkens und der Auffassung ist für unser 
jetziges Wissen ganz analog derjenigen Störung, die oft bei erethischen 
Imbezillen vorkommt. 

Als Beispiel dienen Bruchstücke aus der Kenntnisprüfung bei 
einem 15jährigen Knaben. 

4. Aus der Krankengeschichte des Hermann Bleng war zu be¬ 
merken, daß der Vater Potator gewesen, die Mutter nervös und Geschwister 
an Tuberkulose leidend. 

Körperlich war der Junge für sein Alter sehr hoch aufgeschossen, 
zeigte sonst nichts Auffälliges. In der Schule mußte er 2mal sitzen bleiben; 
er war in letzter Zeit faul geworden, oberflächlich, flüchtig, gehorchte nicht 
mehr, machte eine Reihe loser Streiche, lief weg und stahl an mehreren 
Orten Geld und allerlei Kleinigkeiten, auch eine Uhr. Die Zustände zu 
Hause wurden unhaltbar, und schließlich sahen sich die Behörden veran¬ 
laßt, den Psychiater um Beobachtung und Rat zu bitten. 

Der Knabe hielt sich in der Klinik gut. Er zeigte sich munter, auf¬ 
geweckt, tätig. Eine genauere Prüfung seiner Kenntnisse und geistigen 
Fähigkeiten ergab, daß, abgesehen von wenig entwickelten moralischen 
Gefühlen, er als debil zu bezeichnen war. Es kam dabei, wie die folgenden 
Beispiele zeigen werden, auch hier die unklare, oberflächliche, verwischte 
Auffassung der Dinge zutage. 

Von Wilhelm Teil berichtete der Knabe folgendes wörtlich Notierte: 
„Wilhelm Teil und sein Bruder schritten einst durch einen Fußweg. Sie 
sahen, daß an einer Stange Geßlers Hut aufgehängt war. Der Knabe 
sagte zu Wilhelm, was das bedeuten sollte, der Hut auf der Stange, der 
Vater sagte, Geßler hat gesagt: Wer diesen Weg durchzog, muß sich vor 
ihm beugen. Wilhelm Teil neigte sich aber nicht. Hinter dem Gesträuch 
waren ein paar Kriegsknechte, sie nahmen Teil gefangen und führten ihn 
vor Geßler. Geßler befahl dem Wilhelm Teil sein Bruder Walter ein Apfel 


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über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 147 

vom Haupte zu schießen: „Ich mußte meinem Bruder so ein gefährliches 
Ding in den Kopf schießen. Mein Blut soll fließen, nicht Walters!“ Er 
nahm die Flinte und schoß. Glücklich war der Pfeil durch den Apfel. 
Mit lautem Jubel wurde Teil begrüßt. Der Geßler befahl einige Kriegs¬ 
leute (sic!), sie sollen ihn auf Küsnacht mit dem Schiff überführen und 
dort in den Keller werfen, weil er den Hut nicht gegrüßt hatte, und weil 
er nun den Apfel getroffen hatte, kam er noch in den Kerker“ usw. 

Nicht nur zeigte es sich, daß er die Geschichte bloß teilweise ver¬ 
standen hatte, sondern daß er die Begriffe Flinte und Armbrust ver¬ 
wechselte, trotzdem er von beiden wußte, was sie bedeuten. Ebenso machte 
er ein Durcheinander aus den Persönlichkeiten der Geschichte. Er wußte, 
daß Wilhelm Teil der Vater des Knaben war, dem er den Apfel vom Haupte 
schoß, zugleich mußte ihm aber auch vorschweben, daß es ein Bruderpaar 
Walter und Wilhelm gab, und darum setzte er in einer Erzählung „Bruder“ 
für „Vater“, ohne es zu merken. 

Ähnliches zeigte der Knabe auch ein andermal, da er von Jesus be¬ 
richten sollte: „Der Jesus ist auf einem Spaziergang gewesen und ist ver¬ 
raten worden von einem Juden. Sie führten ihn dann vor Petrus und 
zeigten ihn an und verleugneten ihn. Petrus fand aber keine Schuld an 
ihm. Petrus rief: Jesus, sollen wir mit dem Schwerte dreinhauen,nahm 
das Schwert aus der Scheide und hieb einem Soldaten ein Ohr ab. Jesus 
heilte es wieder. Petrus schickte Jesus dann zu Pilatus. Der fand auch 
keine Schuld und geht auf die Treppe und rief: Ich finde keine Schuld. 
Die Juden riefen: Jesus habe den Knechten gesagt, sie wollen alle kleinen 
Kinder von den Weibern wegnehmen. Jesus wurde dann in einem Keller 
gepeitscht und die Kleider beraubt. Sie zogen ihm einen Purpurmantel 
an, damit sie ihn auslachen können, und eine Dornenkrone auf den Kopf 
gesetzt. Das war das Leiden Christi. Sie taten es, weil sie gesagt haben, 
' er sei der König der Juden. Sie ziehen ihn vor das Volk, spien ihn an und 
schlugen ihn. Die Juden hatten noch mehr an ihm machen wollen und 
führten ihn vor Petrus und fragten ihn, was muß ich jetzt machen mit 
diesem Menschen. Die Juden riefen: Kreuzigen ihn, kreuzigen ihn. Petrus 
sagte: Ich muß so einen Menschen, so einen unschuldigen Menschen 
kreuzigen lassen, und sagte, sie sollen mit ihm zu Pilatus gehen, und er 
' sagte, er gebe ihnen die Erlaubnis zu kreuzigen. Nun wurde er genommen 
und mußte das schwere Kreuz auf die Schulter nehmen und ging auf den 
^ Klavarienberg“ usw. 

Aus dieser Erzählung geht hervor, daß der Fehler nicht in einem 
^' mangelhaften Gedächtnis liegt, dagegen spricht schon die Menge der vor- 
" gebrachten Details. Diese sind aber ungenau aufgefaßt und werden unver- 
r J Ständen mehr gefühlsmäßig als in einer durch den Verstand kontrollierten 
'"^Reihenfolge wieder zusammengesetzt und vorgebracht. 

'* Schon äußerlich zeigt sich die Unschärfe der Begriffsauffassung. 
: ‘ üinem deutschgeborenen Knaben von 15 Jahren, der am Endo der Volks- 


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Jörger, 


Schulzeit steht, passieren sonst keine solche grammatikalischen Fehler, 
wie sie oben in Menge wiedergegeben sind. Ähnlich wie er die grammati¬ 
kalische Wortbildung mangelhaft verarbeitet, hat er auch Worte selbst 
unrichtig und nur oberflächlich erfaßt und sagt darum u. a. „Klavarien- 
berg“. 

Inhaltlich vermischt er die Personen des Petrus und Pilatus. Er 
vermengt den bethlehemitischen Kindermord des Herodes in die An¬ 
klagen gegen Christus, schiebt aber den Ausspruch vom „König der Juden“ 
den Juden selbst in den Mund. Dies sind Begriffe, die gleichsam klang¬ 
lich aufgelesen wurden, die aber unverarbeitet und unverstanden blieben 
und darum in falscher Zusammensetzung, oft sogar in sinnloser Zu¬ 
sammenstellung wiedergegeben werden. 

Diese Störung der Auffassung der Verarbeitung von Begriffen ist 
dem gleichzusetzen, was der Kaufmann tat, wenn er „katholisch“ und 
„konservativ“ zusammenstellt, wenn der Schriftsteller von „höheren 
Hemisphären“ schreibt, der Doktor seine Dissertation über Radium und 
Emanation zusammenschmiert, Büchners Philosoph über die Vor- 
sokratiker sich ausläßt und Bleulers „Naturheiler“ seine medizinischen 
Schriften verfaßt. 

Diese Störung bleibt aber nicht nur bei theoretischen Dingen stehen, 
sie greift ins praktische Leben hinein und macht sich auch in den Werken 
und Taten unsrer Helden bemerkbar. Durch sie wurde das „Schweiz. 
Institut für Naturdüngervertrieb“ gegründet, die Gesellschaft „Cerealia“ 
konstituiert, die kosmetischen Operationen des „Doktors“ ausgeführt und 
die Pläne für die „Nobles lettres de France“ verfaßt. 

Dies unklare, man möchte sagen nur anfangende, aber nicht 
vollendende Denken, dem gleichsam in der Zielrichtung zu wenige, in 
den Nebenwegen zu viele nebensächliche oder gar falsche Assoziationen 
zur Verfügung stehen, nähert die gewöhnlichste Erscheinungsweise des 
Verhältnisblödsinns der erethischen Oligophrenie. Diese beiden 
Krankheiten haben außerdem noch einige Eigentümlichkeiten gemein¬ 
sam, namentlich die Aktivität. 

Unsere Fälle zeigen auch deutlich das Mißverhältnis zwischen 
Wollen und Können. Der eine will Großkaufmann werden, gründet 
Filialen, vermehrt sein Personal und kauft Automobile, er kann aber 
nicht einmal das vom Vater übernommene Geschäft führen und halten. 
Der Doktor will Arzt sein, es genügen seine praktischen Fähigkeiten 
kaum zum Zahntechniker, und der Schriftsteller will ein Geschäft 
gründen, er kann aber nicht einmal die primitivsten Grundlagen für 
seine Gründung verstehen. 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 149 


Das Aktive und Tätige in ihnen ist nun nicht so stark entwickelt 
und nicht so geartet, daß man daraus eine chronisch submanische Ver¬ 
stimmung konstruieren könnte. Wenigstens war in der Anstalt bei 
keinem dieser Fälle diese Diagnose zu machen; möglich aber, daß 
draußen im Leben in ungehemmter Bewegungsfreiheit manische Züge 
zu beobachten gewesen wären. Immer muß bei diesen Leuten etwas 
laufen. Pläne über Pläne werden geschmiedet und entworfen und so 
und so viele davon ausgeführt. 

Kommen sie zur Tat, zeigt sich bald, daß das Streben einer ge¬ 
nügenden intellektuellen Leitung entbehrt; diese Leute scheitern über 
kurz oder lang im praktischen Leben. Alle drei unserer Helden kommen 
mit den Gesetzen in Konflikt, sie hatten sich größerer oder kleinerer Be¬ 
trügereien schuldig gemacht, nur zum kleinen Teil in doloser Absicht; sie 
hatten, selbst von der Güte ihrer Pläne überzeugt, mit ihrer glänzenden 
Beredsamkeit auch andere davon zu überzeugen vermocht, und diese 
gaben ihr Geld oder unterschrieben Verträge für die gewinnverheißende 
Sache. 

Während nun Bleuler auf dieses Scheitern im praktischen Leben 
einen großen Wert legt, möchte Büchner in seinem klinischen Beitrag 
dies Symptom in den Hintergrund drängen und legt den Schwerpunkt 
auf die Minderwertigkeit der Intelligenz. 

Diese ist nun bei den drei beschriebenen Fällen sicher vorhanden: 
es handelt sich um angeboren schwachsinnige Leute, die nicht einmal 
imstande waren, ein mittleres Wissen eines Sekundaschülers zu be¬ 
herrschen, sich aber trotzdem den Anschein einer höherwertigen 
Intelligenz, den Anschein vom gebildeten Arzt, feinsinnigen Künstler 
und großen Geschäftsmann zu geben wußten. 

Außerdem erscheint aber bei unseren drei Fällen eine Störung, 
die weder Bleuler noch Büchner bei ihrem Material zeigen, die Pseudo¬ 
logia phantastica. Auf den ersten Anschein hin sind sowohl der 
Arzt wie der Schriftsteller und Kaufmann Pseudologen. Sie schwindeln 
und phantasieren, leben in ihren Träumen, verfechten sie allenthalben, 
zu fremdem und eigenem Schaden, sie können einsehen, daß sie schwin¬ 
deln, aber nicht davon lassen, selbst dort, wo sie sich dadurch direkt 
schaden. 

Diese Beobachtungen machen es wahrscheinlich, daß ein Teil der 
bisher als Pseudologen beschriebenen Kranken im Bleulerschen Sinne 


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Jörger, 


Verhältnisblödsinnige waren, ja man muß sich fragen, ob es nicht 
bei allen der Fall ist. 

Letzteres kann man insofern bejahen, als jeder krankhafte Pseudo¬ 
loge im Leben daran scheitert, daß seine Phantasie stärker ist als ihre 
Zügel 1 ), und so im „Verhältnis“ seiner psychischen Fähigkeiten 
abnorm ist. Doch resultiert gerade aus dieser Anomalie nicht etwas, 
was man „Blödsinn“ nennen möchte, auch nicht im Sinne Bleulers. 
Wir möchten also einen Pseudologen nicht deswegen, weil er Pseudologe 
ist, als verhältnisblödsinnig bezeichnen, werden aber festhalten, daß 
viele dieser Kranken verhältnisblödsinnig sind, und daß umgekehrt 
mancher Verhältnisblödsinn mit Pseudologie verbunden ist. Es handelt 
sich um Symptomenkomplexe, die nicht notwendig zusammengehören, 
aber offenbar eine so große genetische Verwandtschaft haben, daß sie 
in Wirklichkeit sich häufig beim gleichen Individuum finden. 

Eine weitere Frage drängt sich auf: Sind die Pseudologen 
auch Unklare? Es stehen leider keine genügend weitgehenden 
Untersuchungen in dieser Hinsicht zur Verfügung. Allein schon rein 
theoretisch betrachtet kann ein Phantast noch so sehr schwindeln, noch 
so sehr im Leben durch seine Phantastereien scheitern, braucht aber des¬ 
wegen nicht unklar zu denken. Er kann wie unser Schriftsteller eine große 
Fabrik gründen wollen und sich als Besitzer derselben ausgeben, ohne 
daß auch nur ein einziger Ziegelstein seiner Fabrik in Wirklichkeit da ist, 
das einzelne aber, die kommerziellen, technischen und chemischen Grund¬ 
lagen, kann er deshalb gleichwohl vollkommen beherrschen. 

Es kam kürzlich ein Fall von Pseudologie in unserer Klinik zur 
Begutachtung. Er war draußen unmöglich geworden, indem er sich 
als Detektiv aufgespielt hatte, in dieser Eigenschaft Standespersonen 
anrempelte, Verhaftungen vornahm, Zeitungen konfiszierte; er schwin¬ 
delte Fabelhaftes von seinen Geschäften, seinen Millionen, warf Geld 


Die letzteren sind nicht ganz einfach zu beschreiben: die Intelli¬ 
genz im allgemeinen sollte die Verwechslung von Phantasie und Wirklich¬ 
keit verhindern; außerdem besteht eine für sich wandelbare, also in ge¬ 
wissen Beziehungen selbständige Funktion, die schon als „Wirklichkeits- 
sinn“ bezeichnet worden ist, und wichtig ist natürlich, auch der 
Zustand der Affektivität, die durch qualitativ richtige und namentlich 
auch durch andauernde Betonung des Dealen ein Sichhingeben an Phanta¬ 
siegebilde verhindern kann. 


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Ober unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 151 


mit vollen Händen zum Fenster hinaus, berichtete von seinen Be¬ 
ziehungen mit den höchsten Kreisen bis hinauf zum Deutschen Kaiser, 
war Flugkünstler, Student, Bräutigam usw. 

Die Untersuchung ergab keine Anhaltpunkte für eine Dementia 
praecox oder Paralyse;- seine Affekte waren durchaus moduliert und 
adäquat, und seine Intelligenz war gut, zeigte seiner Bildung und 
Lebensstellung ganz entsprechende Kenntnisse und wies vor allem 
nichts von der Unklarheit und Unfertigkeit der Auffassung vor, sondern 
er wußte genau und klar, was er wollte und tat. 

Wie es sich aus dem Verlauf der Krankheit zeigte, war hier die 
Pseudologia auf dem Boden einer manischen Verstimmung gewachsen, 
die freilich nie so stark gewesen war, daß man sie in der Klinik 
während der Beobachtung und aus der Anamnese hätte nachweisen 
können. Erst das Eintreten einer Depression mit Suizidideen ließ 
später diese Grundlage diagnostizieren. 

Liest man die Beschreibungen Delbrücks in seiner grundlegenden 
Arbeit über Pseudologia phantastica, so wird man finden, daß er selbst 
bei Fall Z. „eine gewisse Art von Schwachsinn“ konstatiert, daß er 
bei Fall N. findet: „bei N. stehen Verstand und Phantasie nicht in 
rechtem Verhältnis zueinander“, und „daß er trotz verhältnismäßig 
guter Urteilsfähigkeit sich kein klares Urteil über seine Lage bildet“. 

Es ist nun leider aus der wiedergegebenen Krankengeschichte die 
„Unklarheit des Urteils“ nicht ersichtlich und darum nicht erlaubt, 
diese Fälle direkt als verhältnisblödsinnig zu bezeichnen, aber man 
möchte es doch nach allem gern tun. 

Es fehlen auch bei den andern Fällen die entsprechenden Intelli¬ 
genzprüfungen und somit die Beweise, aber nach allem möchte man 
diese hingegen nicht zu den Verhältnisblödsinnigen, sondern in erster 
Linie zu den Pseudologen zählen. 

Auch den Fall Georg Grün, den mein Vater seinerzeit in der Viertel¬ 
jahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen 
XXVII beschrieb, und der noch in den verschiedensten schweizerischen 
Anstalten, u. a. auch im Burghölzli, zu Gaste war, zeigt nichts von 
einer Unklarheit des Denkens und der Auffassung der Begriffe. Er 
galt allgemein als sehr intelligent, und das einzelne seiner phantasti¬ 
schen Schwindeleien führte er nach allem sehr klar und zielbewußt aus. 

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J örge r, 


Mein Vater schätzte ihn in intellektueller Beziehung als gut, „ja 
sogar über das gewöhnliche Mittel hinaus beanlagt. Das beweisen 
außer den Zeugen auch seine ungewöhnlichen Leistungen im Studium 
und die tatsächlich vorhandenen achtunggebietenden Kenntnisse auf 
'allen Gebieten, über die sich sein bloß lückenhaftes und vielfach 
unterbrochenes Studium erstreckt“. 

Das Gutachten des Burghölzli bemerkt: „Die Intelligenz des 
Exploranden ist eher über dem Durchschnitt stehend. Wir hatten 
mehrmals Gelegenheit, ihn in recht komplizierten Diskussionen über 
seine verwickelten rechtlichen Verhältnisse mit bewunderungswürdiger 
Schärfe und Kaschheit des Denkens reden zu hören. Auch aus seinen 
vielen Schreibereien ergibt sich eine völlig von seinem Standpunkt 
aus richtige und für ihn vorteilhafte Auffassung der Situation.“ 

Auch die Begutachter in Basel fanden, daß „seine Auffassung und 
Kombinationsfähigkeit entschieden einen überdurchschnittlichen Ent¬ 
wicklungsgrad“ zeigten. 

Es fehlen ja freilich auch in diesem Falle genauere Darstellungen 
der Intelligenz- und Kenntnisprüfung. Es ist aber nicht anzunehmen, 
daß eine solche Störung, wie sie die Unklarheit des Denkens dar¬ 
stellt, einer Reihe von psychiatrischen Untersuchern und Beobachtern 
entgangen wäre. 

Es darf also wohl mit einigem Recht der Fall Georg Grün zu den 
reinen Fällen von Pseudologia phantastica gezählt werden, die mit 
einem Verhältnisblödsinn nichts zu tun haben. 

Ich wäre am Schlüsse meiner Ausführungen. Ich wollte erst nur 
einen rein klinischen Beitrag zu der Lehre Bleulers vom „Verhältnis¬ 
blödsinn“ geben. Es zeigte sich dann aber im Verlaufe der Unter¬ 
suchung, daß meine Fälle sich durch eine ausgesprochene Pseudologia 
phantastica sowohl von den Fällen Bleulers als von denen Büchner s 
unterscheiden. Daneben zeigen sie aber auch besonders deutlich das 
unklare Denken. Die bisher beschriebenen Formen des Verhältnis- 
blödsinns, Pseudologie und unklares Denken bilden eine Gruppe von 
Syndromen, die sich so häufig beisammen finden, daß sie eine innere 
Verwandtschaft haben müssen. 

Ähnliche Beziehungen zu dieser Gruppe hat eine übertriebene 
Aktivität bis zu erkennbarer manischer Dauerverstimmung. Sie ist 


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Über unklares Denken und Pseudologie bei Verhältnisblödsinn. 153 

insofern ein notwendiger Bestandteil dieser Verhältnisblödsinnsformen, 
als das falsche Verhältnis hier gerade auf der Stärke der Aktivität und 
der relativen Schwäche des Verstandes beruht. Sie ist auch notwendig, 
um eine bestehende Pseudologia in der Art des beschriebenen Bildes 
in die Erscheinung treten zu lassen; denn eine Pseudologie ohne den 
Trieb, im Sinne der Phantasiegebilde zu handeln, macht ihren Träger 
nur zum Träumer, nicht zum pathologischen Schwindler. 

Übergroße Aktivität und Unklarheit haben wir in enger Ver¬ 
bindung auch bei den meisten'der erethischen Oligophrenien. 

Lockerere, aber doch noch recht deutliche Beziehungen, die indes 
noch studiert werden sollten, haben alle diese Syndrome auch zu morali¬ 
schen Defekten und zum hysterischen Symptomenkomplexe. 


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Über einen Fall von Hydrocephalus maximus. 

Von 

Dr. Rudolf Ganter, Wormditt. 

Fälle von Hydrocephalus birgt jede Idiotenanstalt, so daß es 
einer gewissen Rechtfertigung bedarf, wenn man mit einem derartigen 
Falle vor die Öffentlichkeit treten will. Unser Fall ist bemerkenswert 
durch sein Alter, die Größe des Schädels, die Degenerationszeichen und 
den pathologisch-anatomischen Befund. 

F. Sch. wurde am 16. 11. 1872 geboren. Über Erblichkeit weiß seine 
Schwester nichts anzugeben. Der Vater ist mit 33 Jahren gestorben, die 
Mutter, 76 Jahre^alt, lebt im Armenhause. Pat. hat noch 2 Schwestern, 
die älter sind als er. Die eine Schwester starb im Alter von 10 Jahren an 
„Wassersucht“, die andere ist 43 Jahre alt, gesund und verheiratet. Die 
erste Schwester war eine Zangengeburt, die Entbindung des Pat. dagegen 
ging leicht vonstatten. Pat. war bis etwa zum vierten Monat gesund, dann 
wurde er schwer krank, hatte große Schmerzen und schrie viel. Allmählich 
gingen die Kopfknochen auseinander. Pat. lernte anfangs etwas an der 
Hand gehen, die Beine jedoch verkrümmten nach und nach, es bildete sich 
ein Buckel aus. Erst nach einigen Jahren lernte Pat. etwas sprechen. 
Hören und Sehen war gut, der Verstand schwach, doch war ein gewisses 
Erinnerungsvermögen vorhanden. Kein Schulbesuch. Seine Bedürfnisse 
meldete er an. 

ln die Anstalt aufgenommen am 18. 10. 1913. Kopfumfang 74 cm. 
Glabella — Prot. occ. ext. (Bandmaß) 46 cm, Ohr — Ohr (Bandmaß) 43 cm. 
Glabella — Prot. occ. ext. (Zirkel) 24 cm, größte Breite 19,5 cm. Haar¬ 
grenze — Nasenwurzel 10 cm, Länge des Gesichtes 14 cm. Körperlänge 
ungefähr 140 cm (Kyphoskl., Kontraktur der Extrem.). Körpergewicht 
40 kg. Nasenbeine eingesunken, Nase stumpf, knollig. Große Lidspalte. 
Augen etwas vorstehend. Großer Mund, vorstehender Unterkiefer, gutes 
Gebiß. Ein großer Zwischenraum zwischen den mittleren oberen Schneide¬ 
zähnen. 


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Uber einen Fall von Hydrocephalos maximus. 


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Anthelix wulstig, sehr große, tiefe Concha. Fossa navicularis sich 
ins Läppchen fortsetzend, links vom Antitragus unterbrochen. Ohrläppchen 
angewachsen. 

Starke, nach rechts konvexe Kyphoskoliose. Ober- und Unterschenkel 
kontrahiert, aktiv nicht, passiv nur ganz wenig beweglich. Die Oberschenkel 
säbelscheidenartig, nach vom konvex, verbogen. Die Flexoren der Ober¬ 
schenkel sind als derbe Wülste zu fühlen. Die Unterschenkel sind dünn. 
Umfang der Oberschenkel in der Mitte 43 cm, der Unterschenkel 26 cm, 
Plattfüße, Zehen volarwärts flektiert. 

Hals kurz und dick. Haut grobfaltig, geringer Grad von Struma. 
Die Kopfhaare sind ziemlich dünn gestellt. Oben auf dem Kopfe fehlen 
sie ganz, nur vorn über der Stirn thront eine Kleine Haarinsel. Die Bart¬ 
haare sprossen reichlich. Die Unterarme und unteres Drittel der Oberarme, 
die Beine und die Kreuzbeingegend tierartig mit langen dichten schwarzen 
Haaren besetzt. Auf dem Brustbein einige lange Haare, ebenso auf dem 
Rücken und der Schulterhöhe. Auch in der Achselhöhle lange schwarze 
Haare. Die Pubes zeigen die gleiche Art dichter Behaarung. 

Kniereflexe wegen der Kontraktur nicht auslösbar, Fußsohlen¬ 
reflex Kremaster-, Bauchreflex 0 (fette faltige Bauchdecken). Schmerz - 
und Berührungsempfindung +, Pupillenreaktion +. 

Pat. sitzt im Bett so, daß die gekrümmten Extremitäten etwas nach 
rechts liegen und die Unterschenkel nach rechts hinten außen gerichtet 
sind. Beim Sitzen im Lehnstuhl am Tisch ruhen die Beine auf einem hohen 
Schemel. Die Arme kann Pat. aktiv etwas bewegen, doch nicht so, daß 
er allein zu essen imstande wäre. Die Hände legt er auf den Tisch, ähnlich 
wie die artigen Schulkinder auf die Bank. Sein gewaltiges Haupt ruht 
gewöhnlich auf der linken Hand. Vorübergehend, wenn man ihn anredet, 
hebt er den Kopf. Seine Bedürfnisse meldet er an, nur nachts näßt er ein. 
Wenn er zum Sprechen ansetzt, öffnet sich ganz langsam der Mund, langsam 
und etwas mühsam kommen auch die wenigen Worte heraus, die er spricht. 
Ebenso langsam geht auch der Kauakt vor sich. Die Bewegungen des 
Unterkiefers erscheinen dabei viel zu ausgiebig. 

Pat. ist im allgemeinen heiteren, zufriedenen Gemüts und freut sich 
über Annehmlichkeiten. Als er, mangels eines andern Vehikels, von der 
Bahn mit einem Auto in die Anstalt gebracht wurde, erzählte er immer 
wieder freudig: „Das war aber hübsch.“ Sein Alter, Ort und Zeit weiß 
er nicht anzugeben, wohl aber, woher er kommt. Die gewöhnlichen Gegen¬ 
stände und die Namen verschiedener Kranken kennt er. Morgens bei der 
Visite grüßt er erst dann, den Kopf erhebend und lächelnd, wenn ich ihm 
auf die Schulter klopfe oder ihn frage, ob er schlafe: „Nein. Guten Morgen, 
Herr Doktor.“ Ob er je aus eigenem Antrieb gesprochen hat, ist mir 
zweifelhaft. Seinem Nachbar soll er erzählt haben, was seine Schwester 
ihm bei einem Besuch mitgebracht hatte. Als einmal ein Kranker ihn 
nach seiner Schwester frug, soll er gesagt haben: „Der Herr Doktor soll 


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156 


Ganter, 


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schreiben, daß seine Schwester ihn besuche.“ Gelegentlich war er auch 
verdrießlich: „Ich will nichts von euch haben“, „ich will keinen Kaffee“. 
Am meisten scheint ihn geärgert zu haben, wenn er zur Nacht eine Unter¬ 
lage bekam: „Ich will keine Unterlage, ich mach’ mich nicht naß.“ Diese 
Worte wiederholte er dann hintereinander immer wieder, auch nachts, 

- wenn er erwachte. Wenn der Pfleger ihn stille sein hieß, wies er ihn ab 
mit den Worten: „Was willst du von mir, geh’ weg!“ 

Anfang Juni 1916 wurde Pat. bettlägerig, aß wenig und starb 
schließlich unter zunehmender Benommenheit am 20. 6. 16. 

Sektion: Herzmuskel blaßbraun. Hypostase der rechten Lunge, 
Emphysem ihres Oberlappens. Atelektase der linken Lunge. Die übrigen 
Organe o. B. Organgewichte: Herz 201, rechte Lunge 433, linke 307, 
Leber 743, Milz 187, rechte Niere 104, linke 106 g, Körpergewicht 34 kg 
(in den letzten 3 Wochen um 6 kg zurückgegangen). 

Die Dura haftete in ziemlich großer Ausdehnung am Schädeldach 
an, ließ sich aber leicht ablösen. Unter der Dura fand sich über dem linken 
Scheitellappen ein handgroßer Blutkuchen von 2—3 cm Dicke, bestehend 
aus eingetrockneten roten krümeligen Massen. Die Dura war auch sonst 
verdickt und ließ sich an der Basis auffallend leicht ablösen. Das Gehirn 
selbst bildete einen großen, schwappenden, etwa 3 1 seröser Flüssigkeit 
enthaltenden, 4—5 mm dicken Sack. Die Windungen hatten eine breite 
und platte Form angenommen, die Furchen zeichneten sich nur noch als 
Linien ab. Balken und große Ganglien waren platt gedrückt. Pia zart. 
Gewicht des Gehirns nach Abfluß des Wassers 1129 g. Todesursack’. 
Durhämatom. 

In manchen Punkten gleicht unser Fall dem von Tuczek und 
Gramer veröffentlichten, so auch in der Größe des Schädels 1 ). Wir 
haben darum die dort (für das Schädelskelett) angegebenen vielseitigen 
Schädelmaße unsern Schädelmessungen zugrunde gelegt. Die von 
Tuczek und Gramer gefundenen Maße fügen wir den unsrigen in Klam¬ 
mern bei. 

Schädelumfang: 

Horizontaler Umfang ( H): Glabella bis zur Prot. occ. ext. 72 cm (71,2 . 
Sagittalumfang ( S ): Von der Sut. naso-lab. bis zum hinteren Rande de ; 
Foramen magnum 54 (53,7). 

Querumfang (Q): von dem oberen Rande des einen Meatus aud. ext. bi- 
zum andern 46 (45,5). 


Lineare Maße: 

Größte Länge (L): Glabella bis zur Prot. occ. ext. (Zirkel) 23 (23,9). 
*) Archiv für Psychiatric 1889, Bd. 20, S. 354. 


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Ober einen Fall von Hydrocephalus maximus. 


157 


Breite: 

Größte Breite ( B ): Interparietaldurchmesser, in unserem Falle mehr nach 
vorn gelegen, also Interfrontaldurchmesser 19 (20,3). 

Stirnbreite (B'), geringster Abstand der Schläfenlinie am Stirnbein dicht 
über der Wurzel der Proc. zygom. 13 (11,7). 

Koronarbreite, zwischen den Schnittpunkten der Koronarnaht und der 
Linea semicircularis 17 (17,5). 

Abstand der Stirnhöcker (rechter mehr ausgebuchtet) 10 (7,3). 

Höhe: 

Höhe ( H ), von der Mitte des vorderen Randes des Foramen magnum, 
senkrecht zur Horizontalebene bis zur Scheitelkurve 16,5 (17,1). 

Ohrhöhe (OH), vom oberen Rande des Meatus aud. ext. bis zum senkrecht 
darüber stehenden Punkte des Scheitels, senkrecht zur Horizontal¬ 
ebene des Schädels gemessen 15,5 (15,2). 

Länge und Breite der Basis: 

Länge (LB), von der Mitte des vorderen Randes des Foramen magnum 
bis zur Mitte der Sut. naso-front. 11,5 (11,0). 

Breite, Entfernung der Spitzen der beiden Proc. mastoidei 13,0 (12,2). 


Lineare Maße des Gesichtsschädels: 

Gesichtsbreite (GB), Entfernung der beiden Sut. zygomat.-maxillares, von 
ihrem unteren Rande gemessen 9,5 (10,3). 

Jochbeinbreite (J), größter Abstand der Jochbogen voneinander 14,5 (15,1). 
Gesichtshöhe (GH), von der Mitte der Sut. naso-front. bis zur Mitte des 
unteren Randes des Unterkiefers 12 (12,7). 

Obere Gesichtshöhe (G' H), von der Mitte der Sut. naso-front. bis zur Mitte 
des Alveolarrandes des Oberkiefers zwischen den mittleren Schneide¬ 
zähnen 8,5 (7,9). 

Höhe der Nase (NH), von der Mitte der Sut. naso-front. bis zur Mitte der 
oberen Fläche des Nasenstachels 6,0 (3,7). 

Breite der Nase (NB), größte Breite der Nasenöffnung 2,6 (3,0). 

Breite der Orbita (OJ, größte Breite des Augenhöhlenrandes, in der 
Lichtung zwischen den Augenhöhlenrändern gemessen r. 5,0, 1. 4,3 
(4,2). 

Höhe der Orbita (O,), größte Höhe des Augenhöhlenrandes, senkrecht 
zur größten Breite, zwischen den Rändern gemessen 3,8 (r 3,1, 

1 3>2) - . „ 

. Gaumenlänge (G x ), von der Spina nasalis post, bis zur inneren Lamelle 

des Alveolarrandes zwischen den mittleren Schneidezähnen 4,7 (5,6). 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI1I. 2/3. 12 


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158 


Ganter, 


Gaumenbreite (G t ), zwischen den inneren Alveolarwänden, an den 2 Mo¬ 
laren gemessen 3,7 (4,1). 

Profillänge des Gesichtes, von dem am meisten vorspringenden Punkt der 
Mitte des äußeren Alveolarrandes des Oberkiefers bis zum vorderen 
Rande des Foram. raagnum 10,2 (10,1). 

Profilwinkel 90° (95°). 


öcnaaeiinaizes: 


, 100 x 19 

Längen-Breitenindex (L:B) -—-= 82,6 (85,6). 


Breiten-Höhenindex (B : ff) 
Gesichtsindex (GH : GB) 



23 


100 

X 

16,5 


23 


100 

X 

16,5 


19 


100 X 

12 


9,5 


= 71,7 (72,1). 

= 86,8 (84,2). 

= 126,3 (123,3). 


100 v ft 

Obergesichtsindex ( G'H : GB) — -—— = 89,4 (76,6). 

9,5 

100 x 12 

Jochbreiten-Gesichtsindex (J : GH) -= 82,7 (84,1). 

14,5 ’ ’ 

Jochbreiten-Obergesichtsindex (J : G' H) —- X 8,5 = 58,6 (52,3). 

14,5 

100 x 3 5 

Augenhöhlenindex (O t : O a ) --—— = 70,0 rechts (73,8). 


5 

100 x 3,5 


Nasenindex (NH : NB) 


4,3 

100 x 2,6 
35 


= 81,4 links (76,1). 


= 74,3 (81,0). 


100 X 3 7 

Gaurnenindex (G t : G t ) -’ = 78,7 (73,2). 

4,7 


Gewicht und Schädelinhalt: 

Gewicht des Schädels 1210 (1395). 

Gewicht des Unterkiefers allein 63 (92). 

Gewicht des Schädels ohne Unterkiefer 1147 (1303). 

Gewicht des Schädeldaches 527. 

Inhalt des Schädels (mit Wasser gemessen) 4000 (3750, mit Erbsen 
gemessen). 

Zur besseren Veranschaulichung möge den Zahlenangaben ein© 
Beschreibung des Schädels folgen: 


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Über einen Fall von Hydrocephalns maximns. 


169 


Zunächst springt am Schädel die gewaltige Ausdehnung der Stirn - 
höcker in die Augen, wobei vor allem der rechte sich vorbauscht, während 
der linke mehr verstrichen ist. Von der Kranznaht an fällt der Schädel 
schräg nach hinten und seitlich ab, so daß man eigentlich kaum von 
Scheitelhöckern reden kann. Die größte Breite des Schädels (19 cm) 
liegt seitlich an der Kranznaht. Würde man das Schädeldach ohne nähere 
Kenntnis der Verhältnisse in die Hand nehmen, so würde man sicher den 
hinteren Teil des Daches für die Stirngegend halten. Die Linea nuchae, 
die am unteren Rande des Überganges des absteigenden Teiles des Hinter¬ 
hauptsbeines in den horizontalen Teil liegt, springt stark vor. Dagegen ist 
die Prot. occ. ext. nicht besonders ausgebildet. Die ihr entsprechende 
Prot. occ. int. liegt auf dem Boden, nicht an der Hinterwand. 

Die Stirnnaht ist verstrichen. Über die Höhe des rechten Stirn¬ 
höckers hinweg zieht eine Naht, die an der rechten Kranznaht, 3 cm vom 
Ausgangspunkt der Stirnnaht entfernt, beginnt und über der Mitte der 
rechten Orbita endet. Ihre größte Entfernung von der Stirnnaht beträgt 
7 cm. Diese Naht schließt offenbar einen großen Schaltknochen ein, der 
an der breitesten Stelle bis zur Kranznaht 10 cm mißt, ln der Gegend der 
rechten seitlichen Kranznaht sind zahlreiche Schaltknochen eingelagert. 
Ebensolche Knochen Anden sich auch im unteren seitlichen Teil der rechten 
Hinterhaupt-Scheitelbeinnaht und gegen die Schläfenbeinnaht zu. 

Die über den rechten Stirnhöcker verlaufende Naht enthält ein etwa 
linsengroßes Emissarium. Ein kleineres liegt am hinteren Ende der Pfeil¬ 
naht. Zwei kleine, unregelmäßig gestaltete Öffnungen sind im hinteren 
seitlichen Teil des linken Scheitelbeins zu sehen. 

Das Schädeldach ist, abgesehen von der Umgebung des Sulcus, 
mehr oder weniger durchscheinend. Die dickeren Stellen des Sägeschnittes 
messen 5, die dünneren 3 mm. Hier Andet sich nur Compacta. Die Im- 
pressiones digit. sind nur gering ausgebildet. 

Im Innern springt die Crista Galli als dreieckiger Dorn 2 cm vor 
und verliert sich erst in der Höhe des Daches. Alle Schädelgruben sind 
natürlich vergrößert. Doch ist die hintere verhältnismäßig am größten, 
sie nimmt etwa die Hälfte der Basis ein. Auch die Sella turcica ist sehr 
breit. Die Öffnungen für den Durchtritt der Nerven sind ebenfalls in die 
Breite gezogen. 

Große Orbita, rechte etwas breiter. Nasenbeine ziemlich lang 
(2,5 cm), so daß die Apertura pyriformis ziemlich niedrig ist (3,5 cm). 

Die Zähne des Unterkiefers stehen vor denen des Oberkiefers. 

Im ganzen betrachtet erscheint das Gesicht im Vergleich zu dem 
gewaltigen Hirnschädel nicht einmal besonders klein, die großen Orbitae 
schaffen einen gewissen Ausgleich. 

•i’r Der Unterkiefer ist ziemlich niedrig, die Seitenäste laufen breit aus¬ 
einander (Parabel), der Unterkieferwinkel ist sehr stumpf. 

12 * 


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160 


Ganter, 


Glüh und Ritterhaus geben eins Zusammenstellung der in der 
Literatur bekanntgewordenen Fälle von Hydrocephahis 1 ). Suchen 
wir diejenigen Fälle heraus, die einen Kopfumfang von über 70 cm 
und ein Alter von über 30 Jahren auf weisen, so erhalten wir folgende 
kleine Tabelle: 


Kopfumfang 

cm 

Alter 

Jahre 

Autor 

88 

50 

cTAstros. 

85 

60 

Kellner. 

83 

31 

Büttner . 

82 

30 

Weichselbaum. 

75 

32 

Tuczek und Gramer . 

74 

44 

unser Fall. 

71 

46 

RosenthaL 

70 

38 

Christian . 


Unter diesen 8 Fällen ist der unsrfge dem Kopfumfang nach der 
sechste, dem Alter nach der vierte. Wie die Tabellen von Glüh und 
Rüterhans zeigen, erreichen nur recht wenige Fälle mit großem Hydro- 
cephalus ein höheres Alter. Die meisten sterben in früher Kindheit, 
manche darunter mit einem etwas sagenhaften Kopfumfang. Immer¬ 
hin ist es merkwürdig, daß da, wo das Gehirn zu einer großen Wasser¬ 
blase ausgedehnt ist, nicht nur ein höheres Alter erreicht wird, sondern 
auch noch ein Fünklein Intelligenz zu glühen vermag. 

Unser Pat. besaß ein gewisses Auffassungs- und Erinnerungsver¬ 
mögen für die alltäglichen Vorgänge seiner Umgebung. Er kannte die 
gebräuchlichen Gegenstände und die Namen verschiedener Kranken. 
Zeitlich kannte er sich gar nicht, örtlich nur insofern aus, als er wußte, 
wo er herkam. Als er einmal in eine andere Anstalt übergeführt und nach 
kurzer Zeit wieder zurückgebracht worden war, machte das keinen weiteren 
Eindruck auf ihn, nur über das Autofahren äußerte er seine Freude. Hem¬ 
mend auf seine psychische Entwicklung, wenn eine solche überhaupt 
möglich gewesen wäre, mußte auch der Umstand wirken, daß er durch 
seine Kontraktur an seinen Platz gefesselt war und sein gewaltiges Haupt 
nur für kurze Zeit vom Tisch zu erheben vermochte. Im ganzen legte Pat. 

l ) Glüh, Über Hydrozephalie. Ztschr. f. d. Erforsch, u. Beh. des 
jugendl. Schwachsinns, 1912, Bd. 5; Ritterhaus, Zur Frage der Hydro¬ 
zephalie. Ebenda 1914, Bd. 7. 


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Ober einen Fall von Hydrocephalus maximus. 


161 


«ine große Gleichgültigkeit an den Tag, stellte auch nie selbst eine Frage, 
grüßte nur, wenn er dazu angeregt wurde. So bestand sein Leben in einem 
ruhigen, zufriedenen, nur gelegentlich von Äußerungen des Mißbehagens 
unterbrochenen Hindämmern. 

Dem anfänglichen Staunen, daß ein solches Hirn überhaupt noch 
eine gewisse Tätigkeit entfalten konnte, machte die Wage ein Endet 
1129 g Hirngewicht, ohne Wasser. Das Gewicht liegt also nur 58 g 
unter dem Durchschnittsgewicht von 1187 g, das wir bei 16 erwachse¬ 
nen männlichen Schwachsinnigen gefunden haben. Ja, die Zahl fällt 
noch innerhalb des Normalen, denn nach Kaufmann läßt erst das 
Gewicht unter 1000 g bei männlichen Individuen mittleren Alters auf 
geistige Erkrankung schließen*). Es wird sich also in unserem Falle 
kaum um einen Ausfall nervöser Substanz gehandelt haben: diese war 
nur ausgereckt. Hierbei scheint allerdings die motorische Funktion 
mehr gelitten zu haben als die psychische. Das Gehirn war offenbar 
nicht mehr imstande, seinen zügelnden Einfluß auf die Vorderhorn¬ 
zellen des Rückenmarkes auszuüben, so daß die Muskeln dem spasti¬ 
schen Zustande mit all seinen Folgeerscheinungen anheimfielen. Die 
motorischen Hiranerven hingegen litten weniger, Sprechen und Kauen 
war möglich, wenn auch der Apparat mühsam und langsam arbeitete. 
Die Sensibilität im ganzen Körper war erhalten. Leider haben wir 
die mikroskopische Untersuchung des Nervensystems unterlassen. 
Wie mag z. B. die motorische Rinde beschaffen gewesen sein ? 

Die meisten Schwierigkeiten in der Hydro cephalusfrage bereitet 
die Erklärung über das Zustandekommen des Hydrocephalus. Die 
Dehnung einer Hülle kann erfolgen, entweder wenn der Innendruck 
zu hoch wird, oder die Hülle zu leicht nachgibt, oder beides eintritt. 
Manche nehmen an, daß es durch Verlegen des Foramen Monroi, des 
Aquaeductus Sylvii oder des Foramen Magendie zu einer Druck¬ 
erhöhung im Schädelraum komme. Andere wieder geben auf diese 
Verlegung nicht viel, da zum Abfluß des Liquor der Subarachnoideal- 
raum genügend Raum gewähre (Kausch). In eine? Reihe von Fällen 
spielen Entzündungsvorgänge unzweifelhaft eine Rolle. Weiter suchte 
man die Ursache in einer verminderten Widerstandsfähigkeit der 
Hemisphären, wodurch bei Hydrocephalus internus die Ventrikel stark 
erweitert und die Hirnrinde plattgedrückt würden (Weber). Auch die 
infolge von Rachitis auftretende Widerstandslosigkeit der Kopf- 

*) Lehrb. der spez. path. Anat. 6. Aufl. Berlin 1911. 


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162 Ganter, Über einen Fall von Hydrocephalns m&ximns. 


knochen wurde zur Erklärung herangezogen (Huguenin). Schließlich 
glaubte man, auf eine Anlageanomalie zurückgreifen zu müssen. Auch 
Tuberkulose und Lues sollten eine gewisse Disposition schaffen 1 ). 

Was unsem Fall betrifft, so liegt anamnestisch und klinisch nichts 
vor, was für den letzteren Punkt spricht. Die Geburt ging ohne Störung 
vonstatten. Erst nach einigen Monaten traten krankhafte Erscheinun¬ 
gen auf: das Kind schrie viel, die Kopfknochen gingen auseinander. 
Es handelte sich zweifellos um entzündliche Vorgänge. Man müßte 
nun annehmen, daß eine so straffe Haut wie die Dura einer durch die 
Entzündungsprodukte angestrebten Ausdehnung beträchtlichen Wider¬ 
stand entgegensetzen könne. Anders freilich, wenn diese selbst in den 
Entzündungsprozeß mit einbezogen wird, oder an sich schon, infolge 
einer Bildungsanomalie, weniger Widerstandskraft besitzt. Auch die 
Rachitis darf nicht übersehen werden, indem durch sie die Knochen¬ 
bildung verzögert wird. Und daß unser Patient an einer schweren 
Form von Rachitis gelitten hat, beweisen die Kyphoskoliose und die 
säbelscheidenartig verkrümmten Oberschenkel. Wie so oft in der 
Medizin haben wir es hier nicht nur mit einer Ursache, sondern mit 
mehreren zu tun. Die letzte Ursache sehen auch wir in einer Anlage¬ 
anomalie, und daß eine solche vorhanden war, zeigt die als Degenera¬ 
tionszeichen anzusprechende abnorme Behaarung des Patienten. Auf 
einem solchen ab ovo geschädigten Gewebe finden Entzündungserreger 
einen günstigen Nährboden. Es kommt zu einer Meningitis mit Ex¬ 
sudation und Drucksteigerung. Die Dura gibt nach, sei’s weil sie an 
dem Entzündungsprozeß beteiligt ist, sei’s daß sie an sich wenig 
Widerstandskraft besitzt. Die Rachitis verzögert die Knochenbildung. 
All das wirkt zusammen, und als Ergebnis haben wir den gewaltigen 
Hydrocephalus vor uns, wie wir ihn geschildert haben. Ob die bei der 
Sektion gefundene Pachymeningitis, die zuletzt durch Bildung eines 
Durhämatoms den Tod verursacht hatte, auf die in frühester Kindheit 
entstandenen entzündlichen Vorgänge zurückgeführt werden kann, 
wagen wir nicht zu entscheiden. Schließlich muß sich der Prozeß recht 
ungleich abgespielt haben, da nur die Stirnhöcker, und von diesen 
wieder der rechte, jene auffallende Ausbuchtung zeigten, während die 
hintere Hälfte des Schädels breit und flach sich abschrägte. 

l ) Misch, Zur Ätiologie und Symptomatologie des Hydrocephalus. 
Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1914, Bd. 35. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine 


Kriegstagung 

des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu München 
am 21. und 22. September 1916. 

Sitzung am 21. September im Hörsaal der psychiatrischen Klinik. 

Anwesend die Herren: EArens-Teupitz, Eigner-München, Elt-Ucht- 
springe, Andernach-D uisburg, EnAalt-Merxhausen, Est-Conradstein, Bak- 
AenAdAler-Aplerbeck, BarAo-Pforzheim, BartscA-Hannover, Becker- Düren, 
BendücsoAn-München, BergentAal-Düsseldorf,Berliner-Gießen, Beyer-Roder - 
birken, Binswangen- Jena, Birnbaum- Buch, BlanA-München, Böhmig- 
Dresden, Roland-Tübingen, Bött iger- H am bürg, Bon Aö^er-Berlin, Bott- 
Bamberg, Braunert-Ückermünde, Broxner-München, Brügelmann- Konstanz, 
Br üAl-Kiedrich, Brunner-Neuemühle, Bruns- Hannover, Bulassa- Budapest, 
BumAe-Breslau, Cimbal- Altona, CoAen-Hamburg, Cohen (Mil.-Arzt), Coüa- 
Bethel, DamAöAler-Günzburg, Daniel- Kassel, David {Mil.-Arzt), Dees- 
Gabersee, Deet/en-Wilh elmshöhe, RiuAoscA-Obrawalde, Dobrick- Kosten, 
Domalip- Pola, Dreschfeld-München, DuAAers-Allenberg, v. Ehrenwall- 
Ahrweiler, FicAelAerg-Hedemünden, FisatA-Hall, Fisen-Regensburg, Elias¬ 
berg (Mil.-Arzt), Engelhardt- Straßburg, Fnnen-Merzig, FrA-Herbom, 
Frlenmeyer-Bendorf, Faas- Kutzenberg, FaAricius-Düren, Facklam- Sude- 
rode, Filser (Mil.-Arzt), FiscAer-Wiesloch, Flatau-Dresden,Flügge-Bedburg- 
Hau, Förster- Berlin, Freund-Breslau, FürnroAr-Nürnberg, Gallus-Potsdam, 
Gdupp-Tübingen, GierlicA-Wiesbaden, Goldstern-Frankfurt a. M., Goldstein- 
Halle, Gregor- Leipzig, Gro/?-Gleiwitz, Groß- Schussenried, Gudden- München, 
GücAel-Nümberg, Güntz-Erfurt, Gutekunst- Weißenau, Haake- Berlin, Haärdt- 
Emmendingen, RaniseA-Stettin, Hagmann- Koblenz, //aAn-Frankfurt a. M., 
//aüeroorden-Landsberg a. W., Harlander- Regensburg, Harlwich-E'ickel- 
born, Haßmann- Bretten, Hauptmann- Freiburg i. B., Havemann-T apiau, 
Haymann- Krcuzlingen, Min.-Dir. ReinA-Dresden, ReinricA-München, Ren- 
Ael-Hadamar, Herhold- Breslau, Herfeldt- Ansbach, Hermkes- Eickelborn, 
Rerting-Galkhausen, Rewig-Marsberg, Rey/nann-Süchteln, RocAe-Freiburg, 
v. Hößlin- Eglflng, RomAurger-Heidelberg, Hübner- Bonn, Hügel- Klingen¬ 
in ünster, Ipsen- Innsbruck, Jacob- Hamburg, /acoAsoÄn-Berlin, Jirzik-7Aegen- 
hals,/olly-Halle, Fästner-München, Kalb-Müller-München, FeAr-Hamburg, 
FeArer-Freiburg, Fern-Stuttgart, F irchgraber- München, FlüAer-Erlangen, 
Fnörr-Teupitz, FocA-Ingolstadt, Fönig-Bonn, Föster-Flensburg, Kohn- 
stamm- Königstein, FoscAella-Stuttgart, Fröpelin-München, Frouse-GehlK- 


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164 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


heim, Areuser-Winnental, Laudenheimer- Alsbach, Letunstein-Schöneberg, 
Levy-Suhl-Berlin, Lewy- Werneck, Liebermeister- Düren, Liebers- Dösen, Lieb- 
mann-Cöln, Zienau-Hamburg, Zalienstein-Nauheim, -Löfcy-Marienbad, 
ZuAas-München, ZütgerafA-Neustadt i. Holstein, Mann- Breslau, Mann- 
Mannheini, MartAen-Landsberg a. W., Mar<m-Neubabelsberg, Martineck- 
Berlin, Mayer-Tübingen, Meier-München, Meier- Köppern, Mendel-Berlin, 
Moeli-Berlin, Möller-Zehlendorf, Märchen- Wiesbaden, Münzer-Charlotten¬ 
burg, jVügeli-Tübingen, iVeißer-Bunzlau, JVeuAaue-Düsseldorf, Nißl-Heidel- 
berg, Osman- Konstantinopel, Oster- Konstanz, Payst-Eglfing, Paulus-Eßlin¬ 
gen, Peltzer- Bremen, Peretti-Grafenberg, P/ei/er-Nietleben, Pfersdorff-Tübin¬ 
gen, Piltz- Krakau, Pilzecfter-Heidelberg, Plange-München, Plaut-München, 
Pönitz-Halle, v. Poray-Madeyske-BrixleB, Prager- Kassel, Prinzing- Kauf¬ 
beuren, Quensel-Leipzig, v. Rad- Nürnberg, PanAe-Münehen, PeAm-Bremen, 
PeAm-München, Reichardt-Würzburg, Reichmann- Königsberg, Reischauer- 
Magdeburg, Peiyü-Tübingen, Remertz (im Felde), Repkewitz-Schleswig, 
PieietA-Görden, Rieder- Koblenz, Römer- Illenau, Punge-Kiel, Samuel- 
Stettin, Sauermann- Merzig, Schäfer-Roda, Schedtler-Merxhausen, Scheiber- 
Mainkofen, Scheven-Danzig, Schmidt-Lehe, Schmidt-Platterode, Schmidt- 
Sorau, Schnitzer-Stettin, Schröder-Greifswald, iScAröder-Hildesheim, Schulte- 
Marsberg, Schultheis - Littenweiler, Schuster- Berlin, Schwabe - Plauen, 
NcAwwz-München, Schweighofer-Salzburg, *Seige-Partenkirchen, Sichel- 
Frankfurt a. M., «SieAerf-Galkhausen, Siemens- Stettin, iSpielmeyer-München, 
Spliedt- Görden, 5tamm-Ilten, Steinberg- Krefeld, Stern-Kiel, Stertz-Breslau, 
Stier-Berlin, Stöckle-Lohr, Stöeesanrft-Bremen, Stransky-Wxen, Strasmann- 
Düsseldorf, Strüppler-München, Pesdorp/-München, Thumm-Haar, Többen- 
Münster, TuezeA-Marburg, V ierzigmann-Regensburg, V ix.-Darmstadt, Vor- 
kastner- Greifswald, Fo/?-Düsseldorf, WaeAsmutA-Eichberg, Wagner-Gießen, 
Wallenberg-J) anzig, Warda-Blankenburg i. T., WeAer-Chemnitz, Weiler- 
München, Weiler- Westend, Weinberger (Mil.-Arzt), Weinland-Zwiefalten, 
Werner-Heppenheim, Weygandt- Hamburg, Weyland-Marburg, Wietfeldt- 
Kuxhaven, Willige- Halle, Wittgenstein-Kassel, Wörnlein- Sorau, Zinn- 
Eberswalde. Zusammen 241 Teilnehmer. 

* Am Vorstandtisch: Bonhöffer, Kraepelin, Kreuser, Moeli, Siemens, 
Tuczek (verhindert: Laehr). 

Schriftführer: Gail-München, Papst-Eglfing. 

Der Vorsitzende Moeli-Berlin begrüßt die Versammlung und weist 
auf die neuen Aufgaben hin, die durch die Beteiligung großer Massen 
an den unmittelbaren Kriegsereignissen für die Psychiatrie erstanden 
sind. Die Zeit mahnt, auch hier alle Kräfte einzusetzen. Daher schien 
es erwünscht, die in zwei Kriegsjahren gewonnenen Erfahrungen auszu¬ 
tauschen und sie im Hinblick auf praktisch wichtige Maßregeln und Be¬ 
stimmungen zu erörtern. Für die Wahl des Ortes und den Zeitpunkt der 
Tagung ausschlaggebend war das Entgegenkommen des Vereins deutscher 
Nervenärzte, auf der von ihm angesetzten Jahresversammlung eines der 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


165 


-wichtigsten Themata gemeinsam zu behandeln. M. spricht den Wunsch 
aus, es möge eine gewisse Einheitlichkeit der Auffassung erzielt werden, 
die der Allgemeinheit zugute kommen wird. 

Sodann gedenkt der Vorsitzende der Verluste, die der Verein seit 
seiner letzten Tagung zu beklagen hat. Zunächst nennt er die 11 Mit¬ 
glieder, von denen bis jetzt bekannt ist, daß sie in treuer Pflichterfüllung 
für das Vaterland ihr Leben hingegeben haben. Es sind dies Rud. Bund- 
scAuA-Ulenau, Hans Dieckert-Schleswig, Jos. v. ü’Ärenw'aM-Ahrweiler, Hugo 
Ermisch- Treptow a. R., Franz Afeimmger-Neustadt (Holstein), Friedr. 
Plaseüer- Hall (Tirol), Wilh. Siebert-MarsbeTg, Am. .Stegmann-Dresden, 
Vikt. Vogel- Kolditz, G. Zander-Nietleben und ZirAef-Bamberg. „Ihrer 
gedenken wir an erster Stelle. Aber es gibt unter uns wohl kaum eine 
größere Familie, die nicht einen nahen Angehörigen zu den Opfern zählte, 
die der Krieg uns auf erlegt hat. Sie zu nennen vermag ich deshalb nicht, 
aber auch den gefallenen Söhnen und Brüdern unserer Mitglieder widmen 
wir heute inDankbarkeit undEhrfurcht unser Erinnern.“—Noch29Namen 
sind zu nennen, eine lange Reihe, wenn auch seit unserer letzten Zusammen¬ 
kunft längere Zeit verstrichen ist, als sonst zwischen unseren Jahres¬ 
sitzungen lag. Besonders müssen wir beklagen, daß neben älteren Mit¬ 
gliedern, die der Zeit ihren Tribut zahlten, darunter auch eine Anzahl 
solcher sich finden, die noch nicht im vorgeschrittenen Alter standen und 
die sich wiederholt in schätzenswertester Weise an unseren Besprechungen 
beteiligt haben und so ihre wissenschaftliche und praktische Erfahrung 
uns unmittelbar zugute kommen ließen: Hofrat Lochner , Dir. d. städt. 
Privatanstalt Thonberg b. Leipzig, San.-R. Rob. Walter, Dir. d. Privat¬ 
anstalt Deutsch-Lissa b. Breslau, Geh. Rat Minist.-Rat a. D. Prof. Hub. 
Grashey in München, Prof. Karl Heilbronner in Utrecht, Priv.-Doz. Eugen 
Haüervorden in Königsberg, Prof. Robert Thomsen, Dir. d. Hertzschen 
Privatanstalt in Bonn, Geh. Med.-Rat Franz Fischer, Dir. d. Landesanstalt 
Pforzheim, Geh. Med.-Rat Wilh. Tigges, früherer Dir. des Sachsenbergs, 
Oberarzt Ernst Veit in Wuhlgarten, San.-Rat Leopold Laquer in Frankfurt 
a. M., Geh. San.-Rat Ad. Knecht, früherer Dir. d. Landesanstalt Ücker¬ 
münde, Geh. Med.-Rat Prof. Martin Bernhardt in Berlin, Geh. San.-Rat 
W. Reiß in Arendsee, San.-Rat A. Lilienfeld in Lichterfelde, Prof. Max 
Rothmann in Berlin, Med.-Rat Gust. Rabbas, Dir. d. Pfov.-Anstalt Neu¬ 
stadt W.-Pr., Hofrat Paul Länderer, früher Leiter d. Privatanstalt Kennen- 
burg, Prof. Alois Alzheimer in Breslau, San.-Rat Theod. Schneider, Oberarzt 
in Eickelborn, Prof. Max Koppen in Berlin, Paul Schürmann, Dir. d. 
Landeshospitals Haina, Priv.-Doz. Ernst Storch in Breslau, Priv.-Doz. 
Oberarzt R. Walker in Bern (Waldau), Staatsinspektor Jan van Deventer, 
früher Dir. von Meerenberg, San.-Rat Paul Werner, Oberarzt d. Prov.- 
Anstalt Andernach, San.-Rat Joh. Longard in Sigmaringen, Oberarzt Luther 
in Lauenburg, Med.-Rat Ferd. Karrer, Dir. d. Kreisanstalt Klingenmünster, 
u. Obermed.-Rat Dr. Karl Rank, früher Dir. d. Landesanstalt Weißenau. 

Zur Ehrung der Toten erhebt sich die Versammlung von den Sitzen. 


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166 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Der Vorsitzende begrüßt sodann als Ehrengäste die Vertreter des 
Sanitätsamts des I. Bayr. Armeekorps Oberstabsärzte Dr. Lucas and 
Dr. Schwarz, des Kgl. Sächsischen Ministeriums des Inneren Ministerial¬ 
direktor Geh. Rat Heink und des Kgl. Preuß. Kriegsministeriums Ober¬ 
stabsarzt Dr. Martineck. Der preußische Herr Minister des Innern wird 
sich ebenfalls berichten lassen. 

Moeli teilt ferner mit, daß Geheimrat Laehr am Erscheinen ver¬ 
hindert ist, die Versammlung herzlich grüßen und ihr guten Verlauf 
wünschen läßt. Auch Kollege Rüdin ist zum großen Bedauern durch Er¬ 
krankung am Erscheinen verhindert. Die Versammlung wünscht ihm 
baldige und völlige Genesung. 

Begrüßungstelegramme sind eingelaufen von Sanitätshauptmann 
Hans Afaier-Bellinzona, Prof. Sommer-Gießen und von der Anstalt Illenau, 
ferner ein schriftlicher Gruß des Ehrenmitglieds Geheimrat Schule und 
von Prof. Specfa-Erlangen. 

Geschäftliche Angelegenheiten waren, da es sich um eine außerordent¬ 
liche Versammlung handelt, bis zur nächsten ordentlichen Jahresversamm¬ 
lung zurückgestellt. Nur zwei Punkte wurden kurz erwähnt. 1. Kraepelin 
teilt mit, daß die Errichtung eines Forschungsinstitutes für 
Psychiatrie finanziell gesichert ist, wenn auch zunächst in bescheidener 
Form; bei Ende des Krieges soll es eingerichtet werden. Er bittet, der Sache 
weiterhin Interesse entgegenzubringen. Es ist in Aussicht genommen, 
daß ein Mitglied des Vereins in das Kuratorium aufgenommen wird. 
2. Zu der Anregung des Vorstandes, es möchten die Vorkommnisse an den 
einzelnen Anstalten gesammelt werden, um sie nach dem Schlüsse des 
Krieges zusammenzustellen und bekanntzumachen (s. diese Zeitschrift 
Bd. 72 S. 247—249), schlägt Afayser-Hildburghausen in einer brieflichen Mit¬ 
teilung vor, in dem in Aussicht gestellten Fragebogen sub IIA zwischen 
„Wieviel Kranke im ganzen verpflegt?“ und „Wieviel entlassen?“ sowie 
sub II B zwischen 2. und 3. die Frage einzuschalten: „Welche Krankheits¬ 
formen ?“ Der Einheitlichkeit wegen bei Stellung der Diagnose empfehle 
er, das von Vocke ausgearbeitete Schema zu benutzen. Der Vorsitzende 
bringt diesen Wunsch zur Kenntnis der Versammlung. Alsdann wird in 
die Tagesordnung eingetreten. 

Bericht von Bonhöffer- Berlin: Erfahrungen aus dem Kriege 
über die Ätiologie psychopathologischer Zustände. 

Der Vortr. bespricht die Erschöpfung und Emotion in ihrer 
psychopathogenetischen Bedeutung nach den Kriegserfahrungen. Er be¬ 
richtet zunächst über schwere körperliche Erschöpfungserscheinungen, 
wie sie sich bei den kriegsgefangenen Serben fanden. Diese zeigten sich 
in schwerster Abmagerung, diffuser Muskclatrophie, Herzdilatation, 
Ödemen der unteren Extremitäten, außerordentlicher Schwäche, die in 
einzelnen Fällen zu monatelangem Bettliegen führte, gesteigerter Mor¬ 
bidität und Mortalität, Neigung zu Tuberkulose und schwer heilenden 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 167 

Phlegmonen und in einer besonders bei den älteren Gefangenen sehr 
ausgesprochenen Unfähigkeit zur Erholung. 

Es werden sodann einzelne Erschöpfungssymptome auf nervösem 
Gebiete, die im Kriege hervorgetreten sind, besprochen: die Mayerhofsche 
Feststellung der Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit als 
lokale Wulstbildung beim Perkussionsschlag, das Auftreten leicht neuriti- 
scher Symptome, die Ermüdungshalluzinationen auf optischem und akusti¬ 
schem Gebiete. 

Das akute nervöse Erschöpfungsbild, wie es sich bei den aus 
erschöpfenden Feldzugserlebnissen Eingelieferten zeigt, kennzeichnet sich 
zunächst als Schlafsucht mit moroser Verstimmung und dem Gefolge 
eines leichten hyperästhetisch-emotionellen Schwächezustandes. Für das 
Vorkommen eigentlicher Psychosen als Ausdruck der Erschöpfung — also 
für eigentliche Erschöpfungspsychosen — hat der Feldzug keine 
Beweise erbracht. Es wird besonders auf das Fehlen von Psychosen bei 
den Serben in irgend belangreichen Zahlen hingewiesen. 

In zweiter Linie wird di'e pathogenetische Bedeutung der Er¬ 
schöpfung für die Entwicklung von psychischen und nervösen Erkran¬ 
kungen anderer Ätiologien untersucht. 

Die Entwicklung der zerebrospinalen Lues wird anscheinend durch 
Erschöpfungseinflüsse begünstigt. Doch hat Vortragender an seinem 
Material keine Beweise dafür gefunden, daß gerade die frisch akquirierte 
Lues unter Erschöpfungseinflüssen sich mit Vorliebe am Nervensystem 
festsetzt. Mehrfach hat der Vortragende gesehen, daß hinter einer im 
Feldzug entwickelten Epilepsie sich eine Lues verbarg, die sonst keine 
neurologischen Symptome machte. Eine Verkürzung der Inkubations¬ 
zeit der progressiven Paralyse infolge Erschöpfung hat der Vor¬ 
tragende an seinem Material nicht nachweisen können. 

Von den emotionellen Faktoren wird zunächst die Schreck¬ 
emotion besprochen. Als psychischer Ausdruck der Schreckemotion 
ist die Bä'/zsche Emotionslähmung zu betrachten. Es wird die patho¬ 
genetische Bedeutung der bei der Emotionslähmung eintretenden Affekt- 
abspaltung und der daran anschließenden intermediären Phase für die 
Entwicklung der Granatemotionsneurosen besprochen. 

Die als Schreckpsychosen geschilderten Erkrankungen zeigen zumeist 
die Kriterien psychogener Erkrankung. Die Emotion der Mobilmachung 
hat pathologische Reaktionen bei Psychopathen ausgelöst. Ob bei den 
während der Mobilmachungszeit häufiger beobachteten Alkoholdelirien 
emotionellen Einflüssen eine Bedeutung zukam, ist dem Vortragenden 
zweifelhaft. 

Bezüglich der Frage der Bedeutung der Emotion für die Auslösung 
endogener und anderer Psychosen wäre das Studium der Aufnahmever¬ 
hältnisse der Anstalten der Zivilbevölkerung, besonders auch der Frauen¬ 
stationen, der Sammelorte von Flüchtlingen aus besetzten Gebieten 
geboten. 


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Xßg Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Eine Zunahme der manisch-depressiven Erkrankungen, die behauptet 
wird, ist dem Vortragenden aus eigenem Material nicht bemerkbar ge¬ 
worden. Dagegen ein häufigeres Auftreten depressiver Reaktionen bei 
konstitutionell Depressiven. 

Wichtig ist das Verhältnis der Emotion und Erschöpfung zur psycho¬ 
pathischen Konstitution. Hier sind bemerkenswert gegenüber der relativen 
Häufigkeit psychopathischer Reaktionen bei den Armeen aller am Kriege 
beteiligten Nationen die geringen Zahlen bei den kriegsgefangenen Serben 
und Franzosen. Das weist darauf hin, daß zu den erschöpfenden und 
gemütserschütternden Feldzugserlebnissen noch die Anforderungen an die 
Willensleistung, die der Krieg mit sich bringt, hinzutreten müssen, um die 
krankhaften Reaktionen in größerem Umfange auszulösen. — Der Er¬ 
schöpfung und Emotion kommt eine vorbereitende Bedeutung zu, sie ver¬ 
stärken die Labilität der Psychopathen und sie sind auch bei den psychisch 
Robusten imstande, vorübergehend einen Zustand herbeizuführen, der der 
psychopathischen Konstitution in der Reaktionsweise gleichkommt und 
zu episodischen Störungen (pathologische Räusche, Affektkrisen, patho¬ 
logische Verstimmung usw.) führen kann. 

Der Einfluß der Erschöpfung auf den Verlauf körperlicher Er¬ 
krankungen ist bekannt. Über entsprechende Beobachtungen an Psycho¬ 
sen hat der Krieg wenig Sicheres gebracht. 

Von den Alkoholdelirien ist gesagt worden, daß sie unter Emotions¬ 
einflüssen schwerer verlaufen. Weygandt spricht von „Kriegsparalyse“ 
in dem Sinne, daß die im Felde zur Entwicklung gekommenen Paralysen 
einen schnelleren Verlauf nehmen. Der Vortragende hält diese Angabe 
nach seinen eigenen Erfahrungen noch weiteren Beweismaterials für be¬ 
dürftig. Der Gesamtüberblick über die Kriegserfahrungen zeigt eine große 
W’iderstandfähigkeit des gesunden Gehirns und die Unerheblichkeit der 
Erschöpfungs-Emotionseinflüsse auf die Entwicklung eigentlicher Geistes¬ 
krankheiten. (Ausführliche Mitteilung in dieser Zeitschrift Heft 1, S. 77.) 

Besprechung. — Stransky-Wien betont die Notwendigkeit, aus¬ 
drücklich auszusprechen, daß es „eine Kriegspsychose“ nicht gibt. — ln 
der Erschöpfungsfrage ist das Moment der Anpassung zu berücksichtigen, 
die eine sehr große Rolle spielt; davon zu sondern ist die Reaktion etwa 
auf Infektionen. An eine Erschöpfungsneuritis glaubt Str. nicht. Str. 
betont besonders die depressive Erregung und deren Bedeutung zumal 
für die Auslösung gewisser pathologischer Affekte (speziell den „Kriegs- 
knall“ Stranskys), die auch forensisch von Bedeutung sind; besonders bei 
Rückzügen ist sie eine der vorherrschenden Stimmungen. Nach seiner 
eigenen Emotionslähmung, die Bonhöffer zitiert hat, war Str. sehr erregt, 
ungeduldig u. a. Dies und andere Erscheinungen bildeten das, was Str. 
nervöse Reaktion nannte. — Str. sieht jetzt viele Luiker, rezente und alte 
Lues, aber wenig Nervenlues oder Paralyse; freilich sind es meist degenera- 
live (forensische) Fälle. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


169 


Weygandt- Hamburg: Daß bei Dementia praecox trotz endogener 
Grundlage auslösende Umstände in Frage kommen, ergibt sich in somati¬ 
scher Hinsicht für die vielfach im Puerperium ausgebrochenen Fälle. Psy¬ 
chische Auslösungsfaktoren können bei manchen in der Haft ausgebroche¬ 
nen Fällen in Betracht gezogen werden. Einzelne Kriegserfahrungen sowie 
die Hinweise von Wilmanns und Alt lassen wenigstens die Aufmerksamkeit 
auch in jener Richtung für die Kriegsfälle einstellen. —Bei der Abgrenzung 
von Dementia praecox und anscheinenden Erschöpfungszuständen kommt 
es darauf an, wie hoch man den Wert der Abderhaldenschen Abbaureak¬ 
tion einschätzt. Galoppierende Verlaufsformen bei Paralyse von Kriegs¬ 
teilnehmern finden sich in unserem Material wesentlich häufiger als in 
Friedensfällen. Das in letzter Zeit zugeflossene Material hat dies weiterhin 
bestätigt. Die histologische Nachuntersuchung sicherte die Diagnose; 
nur in einem Falle handelt es sich wohl um eine Mischinfektion durch 
Kokken, die meningeale Erscheinungen hervorriefen. Daß die Inkuba¬ 
tionszeit verkürzt würde, war zu verneinen, ebenso wie es auch durch einen 
so erfahrenen Autor wie Pilcz geschah. 

Zoew’y-Marienbad verweist als Beispiel von Erschöpfungsfolgen auf 
das Erlebnis eines Stabsarztes, der nach erschöpfendem Reiten und Hun¬ 
gern das „Riesenrad“ aus dem Prater, aber feurig, und Zweige von Weih¬ 
nachtsbäumen sah, ferner auf einen Fall, der ohne persönliche Gefahr in 
einer schweren Schlacht nach dreitägigem Munitionsverladen delirant 
erkrankte, eine mehrmonatige Verwirrtheit bot, an welche sich ein De¬ 
pressionsstadium anschloß. Als wichtig betont er auch die Differenz 
zwischen der Wirkung des Kleingewehrfeuers und der Artilleriebeschießung; 
er bringt als Beispiel die Feuertaufe seines Landsturmregiments durch 
plötzlichen, ganz unvermuteten Feuerüberfall in der Nacht mit schwerstem 
Kugelregen ohne Artilleriebeschießung und ohne einen Fall von psychischer 
Schädigung im Gegensatz zu dem, was wir von der Granatwirkung wissen. 
Er bringt dann seine parallele Tabellierung der Symptome und der ätio¬ 
logischen Momente der Kriegsfälle, welche ausführlich publiziert werden 
sollen. 

Aschaffenburg-Cöln hält es für einen besonderen Gewinn, daß durch 
die Kriegserfahrungen endgültig festgestellt ist, wie wenig die Erschöpfung 
zur Entstehung psychisch abnormer Zustände beiträgt. Daß die Anforde¬ 
rungen des Kriegsdienstes die Kräfte in einer Weise anspannen, die weit 
über das hinausgeht, was man für möglich gehalten hat — man denke nur 
an die Riesenmärsche ohne ausreichende Nahrung und Schlaf bei dem 
Vormarsch in Belgien und in Rußland —, ist nicht zu bezweifeln; aber 
gerade in dieser Zeit haben auch schwächliche Menschen, darunter recht 
viele Nervöse, allen Strapazen standgehalten, ohne zusammenzubrechen, 
ein Beweis, wie sehr psychische Erlebnisse: die Begeisterung und die Freude 
über den Erfolg, überwiegon gegenüber den Schädigungen der Überan¬ 
strengung. 


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170 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Gelegentlich eines Besuches an der Front habe ich Truppen, die 
unmittelbar aus schwersten Kämpfen zurückkamen, besucht und zum 
Teil untersucht, und zwar bevor die Soldaten Gelegenheit hatten, sich 
auszuruhen. Von nervösem Zusammenbruch war nichts zu entdecken. 
Ich fand sogar eine derartig frische und heitere Stimmung und eine solche 
Beweglichkeit und Lebendigkeit, daß ich unwillkürlich an die Erscheinun¬ 
gen erinnert wurde, die nach körperlicher Anstrengung mittels psycho¬ 
logischer Experimente nachgewiesen worden sind. Wie man aber auch 
diese Beobachtung deuten mag, es hat sich auf alle Fälle im Verlauf dieses 
Krieges erwiesen, daß unser Körper und unsere Psyche eine erfreuliche 
Befähigung besitzen, sich gegebenen Verhältnissen anzupassen; sie macht 
es verständlich, weshalb auf der einen Seite die Soldaten, soweit sie 
psychisch gesund sind, trotz der größten Anstrengungen nicht erliegen, 
auf der andern Seite in der Ruhe schnell die alte Lebensfrische und 
Leistungsfähigkeit wiedergewinnen. 

Damit soll nicht gesagt sein, daß diese glückliche Eigenschaft stets 
und immer vorhanden ist; der konstitutionell Nervöse wird leichter zu¬ 
sammenbrechen als der Gesunde; aber auch ein Gesunder kann schließlich 
ans Ende seiner Kräfte gelangen. Dann aber zeigt sich gerade der große 
Unterschied: der Gesunde — abgesehen von solchen außergewöhnlichen 
Fällen, wie sie Bonhoeffer von den Serben berichtet — kommt schnell 
wieder in die Reihe, er schläft seine Erschöpfung aus, und die psychische 
Erregung verblaßt bald, während der Nervöse meist schon erheblich 
längere Zeit braucht, um körperlich wieder in die Höhe zu kommen, die 
psychischen Eindrücke aber erst recht sehr viel langsamer, häufig über¬ 
haupt nicht mehr überwindet. 

Was ich, Bettmann, Weygandt u. a. experimentell nach körperlicher 
und geistiger Ermüdung, nach Schlaf- und Nahrungsentziehung gefunden 
haben, darf wohl auch heute noch als zutreffend erachtet werden; aber in 
der klinischen Verwertung der Ergebnisse unserer Versuche für das Pro¬ 
blem der Überarbeitung und zur Erklärung der Krankheitsbilder und 
Krankheitssymptome sind wir wohl vorsichtiger geworden und in vielem 
zu andern Anschauungen gekommen. Meine — von der Doktorarbeit 
abgesehen — erste psychiatrische Veröffentlichung behandelte die soge¬ 
nannten Kollapsdelirien. Die Deutung dieser Zustände als eine eigen¬ 
artige psychische Reaktionsweise auf schwere körperliche Erschöpfung 
war falsch, und ich habe meine Auffassung schon lange zugunsten der 
Intoxikationshypothese aufgegeben. Ich habe mich im Laufe der Jahre 
mehr und mehr davon überzeugt, daß ernstere psychische Störungen nur 
in ganz seltenen Fällen durch körperliche Erschöpfung entstehen, und daß 
auch dann den nie ganz fehlenden Gemütserregungen wahrscheinlich die 
größere Bedeutung zukommt. Die körperliche Erschöpfung ist nur als ein 
besonders geeigneter Boden zu betrachten, auf dem die psychischen Er¬ 
lebnisse leichter Wurzel schlagen und sich eher in krankhafte Formen um- 
gestalten können. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


171 


Die Wandlung unserer Auffassungen ist klinisch und praktisch von 
außerordentlich großem Wert. Besonders für die Scheidung der kon¬ 
stitutionellen Nervosität von der akuten Erschöpfung und für die Be¬ 
handlung der „Neurastheniker“. Ich halte es für überaas erfreulich, daß 
man in Zukunft den „Überarbeiteten“, den Nervösen, die glauben, mit 
dem „Kapital ihrer Kräfte“ äußerst schonend umgehen zu müssen, und 
schließlich auch der allgemeinen Befürchtung, sich durch zu viel Arbeit 
schädigen zu können, durch den Hinweis auf die Kriegserfahrungen mit 
größerer Sicherheit und erfolgreicher entgegentreten kann. 

9. Hößlin Eglfing: In der ausschließlichen Betonung endogener Mo¬ 
mente gegenüber den exogenen, erschöpfenden und emotionellen Schädlich¬ 
keiten für das Zustandekommen psychopathologischer Zustände scheint 
mir eine Gefahr für die richtige Beurteilung bestimmter krankhafter Er¬ 
scheinungen zu liegen, namentlich in forensischer Hinsicht. Wenn auch 
der Meinung des Berichterstatters insofern beigepflichtet werden kann, 
daß Psychosen im engeren Sinne des Begriffes exogenen Ursprungs selten 
sein mögen, so entwickeln sich doch nach zahlreichen Beobachtungen, die 
ich machen konnte, insbesondere durch akute Schreckwirkung sowohl als 
infolge erschöpfender Wirkung lange dauernden Trommelfeuers nicht 
selten sowohl bei bis dahin gesunden, als besonders bei Psychopathen 
psychische Ausnahmezustände, die die Willensfreiheit der Betreffenden 
nicht nur einzuschränken, sonderu gänzlich aufzuheben imstande sind. 
Ausnahmezustände können ihrer Natur nach vorübergehend sein, können 
sich jedoch auch wiederholen und bei gewissen Vergehen, wie besonders 
-unerlaubter Entfernung bzw. Fahnenflucht, Gehorsamsverweigerung und 
dergleichen von bestimmender Bedeutung für die Handlungen der Täter 
werden. 

Gofdsfem-Frankfurt a. M.: Es ist von forensischer Bedeutung im 
Trommelfeuer eine hochgradige Apathie, ein starkes Ermüdungsgefühl, 
das zum Einschlafen führen kann. Die Pflicht wird mechanisch getan, 
die Schaffenskraft braucht nicht herabgesetzt zu sein. Der Puls ist zu¬ 
nächst beschleunigt und gespannt, später eher verlangsamt. Der Sinn 
für die Zeit, für die Abschätzung von Zeitspannen, geht verloren, während 
z. B. der Raumsinn gut erhalten bleiben kann. Das Gedächtnis ist im 
Trommelfeuer nicht nur für die Zeit desselben vermindert, sondern hinter¬ 
her oft tagelang im allgemeinen herabgesetzt; die Wortfindung wird er¬ 
schwert. — Epileptische Anfälle habe ich nach vieljähriger Pause wieder 
auftreten sehen. Halluzinationen und Illusionen habe ich besonders bei 
Imbezillen beobachtet, was diese Leute natürlich durchaus dienstunfähig 
für die vorderen Linien macht. Die Halluzinationen, die ich bei Gas- 
vergifteten zu sehen Gelegenheit hatte, glaube ich auf Atropininjektionen 
zurückführen zu müssen. Organische Psychosen waren selten, dagegen 
traten im Anschluß an Erschöpfung und Schreck hochgradige Verwirrt¬ 
heitszustände mit vollkommenen Analgesien (auch Amoklaufen) auf. -— 


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172 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Neuritis und Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit fand sich 
häufig bei stark Erschöpften, bei Typhus abdominalis und Dysenterie. 

Weber- Chemnitz: Eine besondere Form der Erschöpfung ist nicht 
körperlicher Natur, sondern liegt auf psychischem, speziell intellektuellem 
Gebiet: die lange andauernde intellektuelle, zum Teil auch affektive An¬ 
spannung als Beobachtungsoffizier. Beispiel: Bis dahin gesunder, 33jähri- 
ger Offizier, Ballonsportsmann von Haus aus, war 3 Monate im Ballon¬ 
dienst im Fesselballon. Danach Erkrankung an echt epileptischen An¬ 
fällen, die etwa alle 2 Monate auftreten. Sie haben insofern einen affekt- 
epileptischen Charakter, als die Anfälle besonders dann nachts kommen, 
wenn der Patient bei Tag eine affektive Erregung erlitten hat (Nachrichten 
aus dem Felde). Der Patient hat eine Gehirnerschütterung durch Sturz 
aus dem Ballon im 25. Lebensjahr erlitten, ohne danach an Epilepsie zu 
erkranken, und ist jetzt — im 33. Lebensjahr — in einem Alter, in welchem 
Epilepsie auf genuinem Boden nicht mehr aufzutreten pflegt. 

E. Meyer- Königsberg berichtet von den Flüchtlingen in Ostpreußen. 
Ein wesentlicher Einfluß der Erschöpfung und Emotion auf die Entstehung 
psychischer Störungen im Sinne der „Erschöpfungspsychosen“ des Frie¬ 
dens war nicht festzustellen, trotzdem diese Schädigungen sehr stark 
waren. M. weist darauf hin, daß in der Diskussion pathologische Reak¬ 
tionen, psychopathische Konstitutionen und psychische Störungen im 
Sinne der „Erschöpfungspsychosen“ nicht genügend getrennt sind. Was 
Stransky, v. Hößlin usw. berichtet haben, gehört nach seiner Ansicht durch¬ 
weg dahin. Einzelbeobachtungen dürfen nicht überschätzt werden. 

Rehm- Bremen hat an frisch aus dem Gefecht kommenden Kranken, 
welche nach schweren, zum Teil körperlichen, zum Teil psychischen 
Schockwirkungen ins Lazarett gebracht wurden, Additionsversuche nach 
Kraepelin und Messungen des Pulses und Blutdruckes vorgenommen. Es 
hat sich herausg^stellt, daß es sich um eine schwere Ermüdung, Willens¬ 
störungen und Herabsetzung der Leistungen handelt. Der Puls und Blut¬ 
druck ist erhöht. Die körperlich schwer Geschädigten und konstitutionell 
Nervösen zeigen die ungünstigsten Resultate. Eine Gruppe mit Neigung 
zur Erholung steht einer Gruppe mit anscheinend ungünstigen Aus¬ 
sichten gegenüber. 

Hellpach- Karlsruhe beobachtet bei den angeblich „normal“ ge¬ 
bliebenen Kriegsdiensttuern eine Gruppe von 4 Symptomen, die er als 
Elemente der pathologischen Umwandlung des Seelenlebens durch den 
Kriegsdienst anspricht: .Gedächtnisschwäche, Interessenstumpfheit, er¬ 
regtes Traumleben, Stimulantiensucht (namentlich Nikotinismus). Dies 
sieht zum Teil nach Erschöpfung aus, ist aber in der Hauptsache Erregungs¬ 
folge, Folge der chronischen Emotion des Kriegslebens, die selber wieder 
Mitursache der schleichenden Erschöpfung ist. Diesen schleichenden 
Emotionen als psychogenetischen Ursachen ist mehr Beachtung zu schen¬ 
ken, da sie mit wachsender Kriegsdauer an Bedeutung zunehmen und auch 
bei der Wiederkehr des Friedens eine sehr wichtige Rolle spielen dürften. 


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Deutscher Verein für Psychiatrie. 


173 


Hübner -Bonn hat im Anfang des Krieges eine Häufung von zirku¬ 
laren Psychosen gesehen, später nicht mehr. Er weist darauf hin, daß die 
Emotions- und Erschöpfungspsychosen oft mit der Dementia praecox ver¬ 
wechselt werden, obwohl durch das Vorhandensein von körperlichen 
Symptomen (vasomotorische Erscheinungen, Sensibilitätsstörungen usw.) 
die Möglichkeit der Differentialdiagnose häufig gegeben ist. 

Bonhöffer (Schlußwort): Im Hinblick auf die weitere Tagesordnung 
möchte ich mich kurz fassen. Bezüglich der Schilderungen einzelner 
psychotischer* Bilder kann ich mich auf das von Herrn E. Meyer und 
Aschaffenburg Gesagte beziehen. Es hat sich dabei wohl ausnahmlos 
um psychopathische Reaktionen gehandelt. Was uns der Krieg in 
seinen Massenwirkungen gelehrt hat, ist die Unerheblichkeit der Er¬ 
schöpfung und der Emotion für die Entwicklung von Psychosen. 
Ich freue mich besonders der Zustimmung des Herrn Aschaffenburg. Ich 
möchte aber seiner heutigen Beurteilung seiner früheren Arbeiten über Er¬ 
schöpfungspsychosen doch nicht zustimmen. Daß das, was er damals auf 
Erschöpfung bezog, toxisch-infektiöse Schädigungen waren, hebt den Wert, 
den seine Arbeiten über die Kollapsdelirien seiner Zeit hatten, nicht auf. 
Es wird auch das Los unserer heutigen Arbeiten sein, daß sie, sagen wir, 
in spätestens 30 Jahren, überwunden sein werden. — Herrn Webers An¬ 
schauungen über Epilepsie und Erschöpfung stehen doch die Mehrzahl der 
Kriegserfahrungen entgegen. — Herr Heüpach hat auf ein Gebiet hinüber¬ 
gegriffen, das wir nach unseren Beschlüssen erst morgen behandeln wollen. 
Ich möchte mich deshalb mit der Bemerkung begnügen, daß ich seinen 
Schilderungen nicht so pessimistisch gegenüberstehe. Die Arbeitsnöti¬ 
gung der kommenden Friedenszeit wird auch diese Schädigungen über¬ 
winden helfen. 

Bericht von Wilmanns- Heidelberg: Dienstbrauchbarkeit der 
Psychopathen. 

Seine Ausführungen gründen sich auf Kranke, die in den Beobach- 
tungs- und Behandlungslazaretten für Nervenkranke im Dienstbereich 
des XIV. Armeekorps — fachärztlich geleiteten Reservelazaretten — 
beobachtet und behandelt und deren ärztliche und militärische Schick¬ 
sale weiterverfolgt wurden. 

Die Kranken wurden in folgende 5 Gruppen geteilt: 

1. Die Imbezillen, Psychopathen im engeren Sinne und Hysterien. 

2. Die Erschöpften, akuten Neurastheniker und vasomotorischen 
Neurotiker. 

3. Die Kriegsneurotiker im engeren Sinne. 

4. Die Epileptiker. 

5. Die Alkoholiker. 

Das Ergebnis der Feststellungen ist in folgenden Tabellen wieder¬ 
gegeben: 

Zoitaohrift für PsyohUtrie. LX3III. 2/8. 13 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



• ffi M • - m » ■ ■ r ,•• \ f. i- s 6 . - 1 ! »' . 



V«?rl!aiiUitrageri psychiatrischer Vereine. 


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ÜNtäß'ftstef .9f>'MjCBFeAH 


Digltized-b; 






Deutscher Verein für Psychiatrie, 


Tabelle 2. 


K/afökfroüs 

i-nipJKV, 








I / 5yel.i (]■().; jjrie 




4 ••AKiii-h $%uf 


0 Vasomet. Neurose; 


<>• Palbolugisclie 
Reaktion 


7. f -hroniacher 
■MWmlisujo 


H-. Epiten.sjie 


Zu jrinn diuoJneu Gruppen wird bemerkt: 

..Dfe Beurteilung 4er miUiäriricliien VervceutÜ/arkeit der Vertrete»' 
*Vr er«.len Gruppe-'stößt am h hoi längerer■'.Rfeö.b.achtnng im Lazarett auf 
Sc.hwimgki'ilrft, »Ja auf j>ev\i?se t lüfsmitlet. — Aktendnrehsielit. Pest-- 
Stellungen iifi 4er lieMftüp ätisj ZeiftrfArig^i werden itttfßv 

tvteü : ißfih uw». <Ie*i Ättgabeu de* 

Wawrlws anftwof »«vstr: ??«d. Infolge 

4*r-.«:n h;u die TfiipjKS: Mutig die in ikn7tbel.r.c» &nf*v.}K-kli>!(g<>n nicht, an- 
erkaeät.UHü sieb, oft um gutem- Etfalgty iii-«»er dndervmUgcn V er wen • 
düng des Mrtimes M'd-y.lilosywi. 

Von den eirt/efiu ?» liob>'>’g (, fijf>p‘'n gilt leigendes:. 

Imbezille nut nnübgrtg Vorwiegend infeilekiuefieu Mängeln - 
passive Imbezille aitt^^^^^:-^|g<iitt'#n'ispe«‘e.b ; cfid ihrer körperlichen 


iginai-frorw. 


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176 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

Leistungsfähigkeit und beruflichen Ausbildung in den verschiedensten 
Stellen in der Garnison, der Etappe und unter Umständen auch in der 
Front zu verwenden. 

Gegenstand fachärztlicher Begutachtung wird der Imbezille erst 
dann, wenn er an einen Posten gestellt wird, dem er nicht gewachsen ist. 
Die Mehrzahl der Imbezillen versagt im Heeresdienst nicht wegen intel¬ 
lektueller, sondern wegen gemütlicher Mängel, wegen ihrer Reizbarkeit^. 
Widersetzlichkeit und ihres Unvermögens, sich in die strenge Ordnung 
und Manneszucht einzufügen. Imbezille mit ausgesprochenen gemütlichen 
Mängeln — erethische Imbezille — sind dienstunbrauchbar. 

Das gleiche gilt von Psychopathen, die zu ausgesprochenen 
Stimmungsschwankungen, reizbaren und depressiven Verstimmungen 
neigen: von epileptoiden Psychopathen, Poriomanen und Dipsomanen. 

Sehr viel schwieriger ist die Beurteilung der Psychopathen, die 
unter den umfassenden Begriff der konstitutionellen Neurasthenie fallen, 
der chronisch Nervösen, der habituell Deprimierten, der Übersensiblen 
und der krankhaft ängstlichen Persönlichkeiten. Es soll zugegeben werden, 
daß diejenigen von ihnen, bei denen sich diese Schwächen mit einem hohen 
Maße von Verantwortlichkeits- und Pflichtgefühl verbinden, bisweilen 
wertvolle Dienste an der Front zu verrichten vermögen. Im allgemeinen 
sind sie jedoch nicht als k. v. zu bezeichnen. Ob es im Interesse der Truppe 
liegt, sie zu Garnison- oder Arbeitsdienst heranzuziehen, hängt wesentlich 
von ihrer beruflichen Ausbildung ab. 

Ähnlich sind die hysterisch veranlagten Psychopathen zu beur¬ 
teilen, die schon vor ihrer Einstellung oder unter den geringen Anforde¬ 
rungen der Ausbildung an Krampfanfällen, Dämmerzuständen und andern 
hysterischen Erscheinungen erkranken. Sie versagen unter den körper¬ 
lichen Anforderungen und seelischen Erschütterungen des Felddienstes 
sehr bald, während sie auf ruhigeren Posten in der Etappe und der Garnison 
Ersprießliches leisten können. 

Wie die Tabellen zeigen, ist das Ergebnis der Feststellungen über 
das militärische Schicksal der ersten Gruppe unerfreulich. Die Hälfte 
der Leute ist aus dem Heere ausgeschieden: 58% der Imbezillen, 44% der 
Psychopathen, 53% der Hysteriker sind bereits entlassen oder beurlaubt 
in den Beruf bzw. zur Beendigung des D. U.-Verfahrens. Im Felde steht 
etwas mehr als Vto der Leute, nämlich 14% der Imbezillen, 12% der 
Psychopathen und 10 % der Hysteriker. Doch auch diese werden zumeist 
nur zum Arbeitsdienst herangezogen; als k. v. in den vordersten Reihen 
sind nur 7 der Psychopathen festgestellt. 

Bei der Bewertung dieser unerfreulichen Ergebnisse muß jedoch 
berücksichtigt werden, daß die in die Nervenlazarette Eingewiesenen eine 
Auswahl besonders minderwertiger Psychopathen darstellen, von Mann¬ 
schaften, die bereits während der Ausbildungszeit oder draußen in der 
Etappe oder im Felde versagt haben und deshalb in das Heimatgebiet 


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abgeschoben worden sind. Die zahlreichen Psychopathen — die kon¬ 
stitutionell Erregten, sanguinisch Minderwertigen usw. —, die in Friedens¬ 
zeiten sich schwer in die wirtschaftliche Ordnung einzufügen vermochten, 
in der Front aber sich durch ihr Draufgängertum auszeichnen, kommen 
naturgemäß nicht in ärztliche Beobachtung. 

2 . Die zweite Gruppe umfaßt die akuten Neurastheniker und 
vasomotorischen Neurosen. 

Unter die akutenNeurastheniker sind auch die wegen körper¬ 
licher oder seelischer Erschöpfung in die Lazarette Eingewiesenen gezählt. 
Die akute Neurasthenie des körperlich und seelisch Rüstigen bietet günstige 
Heilungsaussichten. Ist das Heilergebnis der in den Nervenlazaretten 
behandelten Neurastheniker unerfreulich, so liegt das an der ungünstigen 
Auswahl der Eingewiesenen. Von 123 akuten Neurasthenien sind 31% 
als d. u. entlassen bzw. zur Arbeitsaufnahme oder bis zur Beendigung 
des D. U.-Verfahrens beurlaubt. Im Felde stehen 21, d. i. 17%; davon 
sind allerdings eine große Anzahl k. v. Die übrigen 52 % werden als g. v. 
oder a. v. im Heimatgebiet verwandt. 

Die Herzneurosen, Thyreotoxie und ähnliche Zustände sind als vaso¬ 
motorische Neurose der akuten Neurasthenie angegliedert. 42% von 
ihnen sind in das bürgerliche Leben ausgeschieden; 45% werden im 
Heimatgebiet verwendet; nur 13 % stehen im Felde, und auch diese werden 
sämtlich nur als g. v. oder a. v. dort verwendet. Auch dieses ungünstige 
Ergebnis ist auf die besondere Auswahl zurückzuführen, die in die Nerven- 
lazarette eingewiesen wird. 

3. Die Epilepsie ist in ihrem Kern eine organische Erkrankung. 
Da der Kreis der Epilepsie jedoch von vielen sehr weit gefaßt wird und 
Zustände darunter begriffen werden, die zweifellos funktionellen Ursprungs 
sind, so wird auch ihrer in diesem Zusammenhänge gedacht. 

Nachgewiesene Epilepsie macht d. u. Die Fachärzte haben sich in 
ihren Entscheidungen nicht streng an diese Bestimmung gehalten: von 
47 Epileptikern wurden in den Beobachtungsabteilungen 25 als d. u., die 
andere Hälfte als g. v. und a. v. bezeichnet. Die Truppe ging teilweise noch 
weiter: Zwar wurden 34, also 72%, aus dem Heeresdienst entlassen bzw. 
beurlaubt, 8,5% jedoch ins Feld geschickt. 3 von ihnen stehen in Ar- 
mierungsbataillonen, einer tut sogar Felddienst. Als k. v. ist jedoch der 
Epileptiker in keinem Falle zu bezeichnen; andrerseits läßt sich darüber 
streiten, ob es bei dem jetzigen Mannschaftsbedarf gerechtfertigt ist, jeden 
Epileptiker als d. u. zu erachten. Geistig rege Epileptiker mit seltenen, 
zumal nächtlichen Anfällen und ohne seelische Störungen könnten ohne 
Bedenken als g. v. oder a. v. für leichten Dienst bezeichnet werden. 

4. ChronischeAlkoholiker machen der militärärztlichen Beur¬ 
teilung ihrer Verwendbarkeit oft große Schwierigkeiten. Die Entscheidung 
des Facharztes wird davon abhängen, ob er den Mann für durch disziplinäre 
Maßnahmen besserungsfähig oder unbeeinflußbar hält, ob er ein Laster, 


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178 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

die Trunkfälligkeit, oder eine Krankheit, die Trunksucht, bei ihm an¬ 
nimmt. Der Trunksüchtige, der degenerierte Alkoholiker, ist wie der 
Geisteskranke zu behandeln und für keinen Dienst verwendbar, der Trunk¬ 
fällige hingegen entsprechend seiner körperlichen und seelischen Anlage, 
seinem Wissen und Können als g. v., a. v., gegebenenfalls auch k. v. Die 
Truppe neigt dazu, den Trinker als lasterhaft, nicht als krank zu bezeichnen. 
Nur 36% wurden entlassen und beurlaubt, 25 stehen im Felde, allerdings 
nur einer als k. v., die übrigen bei Armierungsbataillonen und im Arbeits¬ 
dienst. 

5. Die militärische Verwendbarkeit der Kriegsneurotiker läßt 
sich nur von demjenigen beurteilen, der sich über Ursprung und Wesen 
ihrer Störungen klar ist. 

Die Kriegsneurosen im engeren Sinne unterscheiden sich nicht von den 
aus Friedenszeiten bekannten, als hysterisch bezeichneten Störungen, die 
sich aus geringem Anlaß bei krankhaft veranlagten Persönlichkeiten ent¬ 
wickeln. Sie sind pathologische Reaktionen zumeist auf gemütliche Er¬ 
schütterungen — auf Explosionen, Verschüttungen, langdauernde Be¬ 
schießung —, Schreckneurosen, die sich naturgemäß besonders leicht auf 
dem Boden krankhafter seelischer Veranlagung entwickeln, von denen 
aber auch Persönlichkeiten nicht verschont bleiben, die bis dahin keine 
Abweichungen vom Durchschnittlichen erkennen ließen. 

Die Schreckneurose hat an sich sehr günstige Heilaussichten. Ver¬ 
läuft sie ungünstig, wie z. B. die Schreckneurose nach Unfällen Ver¬ 
sicherter, so ist die Ursache für die Verschleppung der Heilung in Renten¬ 
begehrungsvorstellungen und andern Einflüssen zu suchen. 

Auch die Erfahrungen der an der Front tätigen Ärzte lehren, daß die 
Mehrzahl der Schreckneurosen in den Kriegslazaretten in kurzer Zeit zur 
Heilung kommt. Im Heimatgebiet freilich ist die Voraussage der Schreck¬ 
neurose schlecht. Hysterische Störungen, die im Anschluß an gemütliche 
Erschütterungen im Felde zum Ausbruch kommen, verschlimmern sich 
trotz aller ärztlichen Bemühungen; häufig treten sie bei Leuten auf, die 
wegen harmloser Verwundungen oder innerer Erkrankungen ins Heimat¬ 
gebiet verbracht wurden; ja gar nicht selten auch bei solchen, die nie im 
Felde waren, und ohne daß eine auslösende Ursache dafür erkennbar wäre. 
Es liegt nahe, die Entstehungen dieser Störungen im Lazarett auf sug¬ 
gestive Einflüsse zurückzuführen, die von andern Hysterischen auf krank¬ 
haft Veranlagte ausgeübt werden. Es ist nur erstaunlich, daß nur Sol¬ 
daten, nicht auch das weibliche Pflegepersonal davon befallen wird. 

Klarheit über die Verschleppung der hysterischen Reaktionen im 
Heimatgebiet und über ihre Entstehung in den Lazaretten geben uns 
folgende Tatsachen: 

a) Hysterische Störungen sind bei Schwerverletzten verhältnis¬ 
mäßig selten. Die weitaus größte Zahl der Neurotiker ist überhaupt nicht 
oder nur leicht verwundet. Da gerade bei Schwerverletzten die gemtit- 


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liehe Erschütterung als besonders heftig angenommen werden darf, kann 
nicht sie allein die auslösende Ursache für die große Masse der Neurosen 
sein. 

b) In den Kriegsgefangenenlagern ist die hysterische Neurose eine 
äußerst seltene Erscheinung. Unter 80 000 Kriegsgefangenen der Ge¬ 
fangenenlager im XIV. Armeekorps wurde nur eine einzige, ein hysteri¬ 
scher Mutismus nach Verschüttung, beobachtet. Auch unter den sämt¬ 
lichen zur Internierung in der Schweiz bestimmten Gefangenen befand 
sich keine Schreckneurose. Das ist nicht etwa darauf zurückzuführen, daß 
die germanische Rasse mehr als andere zu derartigen Störungen geneigt 
sei; denn 

c) auch unter den in der Schweiz internierten deutschen Gefangenen 
ist die Schreckneurose unbekannt. Und anderseits steht es 

d) fest, daß die hysterischen Reaktionen in den Lazaretten Frank¬ 
reichs zum mindesten ebenso verbreitet sind wie bei uns. 

Die Feststellung, daß die Schreckneurosen bei Kriegsgefangenen ihre 
natürliche baldige Heilung finden, bei Mannschaften jedoch, deren mili¬ 
tärische Verwendung noch in Frage kommt, zu chronischen Leiden sich 
entwickeln, läßt keinen Zweifel, daß gewisse Begehrungsvorstellungen für 
ihre Verschleppung verantwortlich zu machen sind, mit andern Worten, 
daß die Fixation, in vielen Fällen auch die Entstehung der hysterischen 
Neurose, eine Abwehrreaktion gegen die militärische Verwendung ist. 

Die Tatsache löst den scheinbaren Widerspruch zwischen den günsti¬ 
gen Heilaussichten der Schreckneurose in der Front und den ungünstigen 
im Heimatgebiete. Sie gab dem Sanitätsamt XIV. Armeekorps den 
Anstoß, die Nervenkranken den schädlichen Einflüssen der Stadt zu ent¬ 
ziehen und sie in ländlichen, fachärztlich geleiteten Lazaretten zu ver¬ 
sorgen. Die Erfolge waren bei den hysterischen Kranken zunächst nicht 
günstig; ein Umschwung trat erst ein, als ihre Behandlung mit starken 
elektrischen Strömen allgemein eingeführt wurde. Die Lazarette haben 
bisher über 300 Kranke behandelt: während die jährlichen Renten vor 
der Behandlung etwa einer Summe von 127 000 M. entsprachen, wurde 
ihre Höhe nach der Behandlung auf etwa 13 000 M. veranschlagt. Die 
jährliche Ersparnis beträgt daher etwa 114 000 M. 

Mit Rücksicht auf das Wesen und die Ursache dieser Störungen 
war jedoch von vornherein zu erwarten, daß der Wert dieser Behandlungs^ 
weise vorwiegend in einer wesentlichen Hebung der Erwerbsfähigkeit 
derjenigen Mannschaften bestehen würde, die in ihren Beruf entlassen 
werden. Da die Kriegsneurose eine unbewußte Abwehr gegen den Kriegs¬ 
dienst ist, kann es nicht überraschen, daß die Zahl der wieder k. v. werden«- 
den Neurosen verschwindend klein ist. 

Von hysterischen Kriegsneurosen sind mittlerweile aus dem Heeres¬ 
dienst als entlassen oder beurlaubt ausgeschieden 64%. Von den dem 
Heere noch Angehörenden befinden sich 5% wieder im Lazarett, 25 % als 


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g. y. oder a. v. im Heimatgebiet. Diese warten zum Teil noch in den 
Genesendenkompagnien ihre endgültige Verwendung ab. Die übrigen 
werden im Grenzschutz, in den Gefangenenlagern, in Depots und Bureaus, 
als Ordonnanzen und Burschen zu leichter Arbeit verwendet. Zum Teil 
genügen sie auch diesen Anforderungen nicht; bei 3,9% hoffen zwar die 
Truppenärzte auf Wiederherstellung der Felddienstfähigkeit, 10,4% sind 
jedoch als d. u. zur Entlassung vorgemerkt. Nur 6 % stehen im Felde, 
doch auch von diesen ist der kleinste Teil k. v. Abgesehen von 9 Fällen, 
wo Näheres nicht festgestellt werden konnte, tun vollen Dienst nur 5, die 
übrigen verrichten Arbeits- und Garnisondienst in Landsturmbataillonen 
hinter der Front usw. K. v. im engsten Sinne sind demnach von den 
Fällen sicher nur 1,1% bzw. 3,2%; aus dem Heeresdienst entlassen oder 
in absehbarer Zeit zu entlassen sind 74%. Dieses unerfreuliche Ergeb¬ 
nis gestaltet sich noch ungünstiger, wenn berücksichtigt wird, daß von 
den im Jahre 1915 in den Lazaretten behandelten Hysterikern 36%, von 
den 1916 behandelten 17 % mit Versorgung aus dem Heeresdienst entlassen 
wurden. Es ist daher zu erwarten, daß noch eine erheblichere Anzahl 
der zurzeit als g. v. und a. v. Geführten schließlich doch noch als d. u. 
entlassen wird. 

Das Ergebnis der Feststellungen ist äußerst ungünstig. Es soll nicht 
verhehlt werden, daß ein oder der andere Imbezille, Psychopath, Neur¬ 
astheniker, Alkoholiker, vielleicht auch einzelne der eigentlichen Kriegs¬ 
neurotiker, zumal in dem ersten Kriegsjahre, auf Grund fachärztlicher 
Zeugnisse entlassen wurden, obschon sie bei entsprechender Berücksichti¬ 
gung ihrer seelischen Eigenart doch noch irgendwie verwendungsfähig 
gewesen wären. 

Es kann nicht ausdrücklich genug betont werden, daß die mili¬ 
tärischen Anforderungen in verschiedener Beziehung wesentlich andere 
als in Friedenszeiten sind. In Friedenszeiten macht mehr oder weniger 
jeder Soldat (mit Ausnahme der Ökonomiehandwerker, der Militär- 
Krankenwärter usw.) eine längere gründliche Ausbildung mit der Waffe 
durch, die erfahrunggemäß und gerade wegen der zwar notwendigen, 
von vielen aber als kleinlich und schikanös empfundenen Gründlichkeit 
und Pünktlichkeit, wegen des „Kommiß“ manchen seelisch Regelwidrigen 
straucheln läßt. Im übrigen sind die Anforderungen an körperliche und 
seelische Widerstandsfähigkeit bis auf gewisse Ausnahmefälle mäßig und 
werden an alle Mannschaften in gleicher Weise gestellt. Die Verwendungs¬ 
möglichkeiten für den körperlich oder seelisch weniger Leistungsfähigen 
sind gering; wer nicht den allgemeinen Anforderungen genügt, paßt nicht 
in das Heer, und es ist bekannt, mit welcher Weitherzigkeit gerade der 
seelisch Regelwidrige in den letzten Friedensjahren vom Dienst befreit 
wurde. 

Im Kriege sind, zumal bei unserem großen Bedarf an Mannschaften, 
die Verhältnisse ganz anders geworden. Auf der einen Seite sind an der 


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Frönt die Anforderungen an körperliche Leistung und seelische Wider¬ 
standsfähigkeit ganz außerordentlich hohe, viel höhere, als irgendeiner 
von uns zu ahnen gewagt hat. Auf der andern Seite sind aber die Ver¬ 
wendungsmöglichkeiten für den nicht voll Leistungsfähigen wesentlich 
mannigfaltiger als in der Friedenszeit. Die Riesenorganisation im Heimat¬ 
gebiet, in der Etappe und in der Front verlangt eine Unmenge von Leuten 
in den Bekleidungsämtern, den Depots, den Bureaus, den Gefangenen¬ 
lagern, dem Grenzschutz, den Armierungsbataillonen, Schlächtereien, 
Bäckereien usw., wo neben dem körperlich Schwachen oder Geschwächten 
auch der seelisch regelwidrig Veranlagte oder Gewordene seinen Posten 
auszufüllen vermag Also was in Friedenszeiten nur ganz beschränkt 
möglich war, jetzt ist es Gebot und Voraussetzung, um den Anforderungen 
zu genügen, die der Krieg an uns gestellt hat, die Individualisierung. 
Ebenso wie wir jetzt Kranke mit körperlichen Mängeln im Heeresdienst 
behalten und ihren Kräften entsprechend verwenden, Mannschaften, die 
wir nach den Friedensbestimraungen für dienstunbrauchbar erklären 
müßten, ebenso dürfen auch die seelisch Regelwidrigen nur dann aus dem 
Heeresverbande entlassen werden, wenn für sie auch bei weitgehender 
Rücksichtnahme auf ihre Leistungsfähigkeit keine geeignete Tätigkeit 
gefunden werden kann. 

Die Frage, die dem Facharzt vorgelegt wird: „Verhindert die krank¬ 
hafte seelische Veranlagung die Ausbildung oder Ausübung des militäri¬ 
schen Dienstes“, läßt sich demnach dahin umschreiben: „Entspricht es 
dem Interesse des Heeres, daß der Mann militärisch eingezogen wird oder 
bleibt?“ Daraus geht schon hervor, daß nicht ausschließlich der Grad 
der seelischen Regelwidrigkeit für die Entscheidung über die Dienstfähig¬ 
keit maßgebend sein darf, sondern auch die berufliche Ausbildung des 
Psychopathen, sein Wissen und Können, denn, wie der einarmige Offizier 
oder der lungenkranke Arzt im Rahmen ihres Berufes bei entsprechender 
Rücksichtnahme auf ihre Gebrechen arbeitsverwendungsfähig sind, so ist 
auch bei gleicher seelischer Regelwidrigkeit der Rechtsanwalt anders zu 
beurteilen wie etwa ein ungelernter Arbeiter oder Landwirt. — 

Gaupp-Tübingen bittet bei der Besprechung das Thema über Kriegs¬ 
neurosen mit Rücksicht auf die Erörterung dieser Frage am folgenden 
Tage nicht zu behandeln. 

Binswanger -Jena schlägt vor, wegen Zusammengehörigkeit der 
Themata und um Wiederholungen zu vermeiden, den nächsten Bericht 
der Tagesordnung jetzt anzuschließen und die beiden Berichte gemeinsam 
zu besprechen. Der Vorschlag findet Anklang. 

Bericht von E. Meyer - Königsberg: Über die Frage der 
Dienstbeschädigung bei den Psychosen. 

Der Bericht beschränkt sich auf die Dementia praecox, das 
manisch-depressive Irresein, die Paralyse, die Epilepsie und 


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Verbandlangen psychiatrischer Vereine. 


das arteriosklerotische Irresein, weil der psychopathischen Kon¬ 
stitution in den andern Berichten schon so vielfach gedacht wird. 

M. weist zuerst darauf hin, daß die Sonderverhältnisse des Krieges 
oder außergewöhnliche Vorkommnisse in dieser Zeit nur Bedeutung für die 
Kriegsdienstbeschädigung nach dem Gesetz haben können, wenn ihr 
ursächlicher Einfluß erwiesen oder ausreichend wahrscheinlich gemacht ist. 

Dem Bericht liegt zugrunde das Beobachtungsmaterial der Königs¬ 
berger Klinik vom 1. August 1914 bis 31. Juli 1916; außerdem standen 
die schon erledigten Dienstbeschädigungsakten bei Geisteskranken aus 
dem Bereich des I. Armeekorps zur Verfügung. 

Unter 2561 Soldatenaufnahmen gehörten 194 Fälle, also 7,5%, der 
Dementia praecox an. Es ergab sich, daß die Zahl der Dementia 
praecox-Fälle anfänglich sehr gering war, dann anstieg und im zweiten 
Kriegsjahr 7 bis 8% der Aufnahmen ausmachte; gegenüber dem Friedens¬ 
prozentsatz von 12 und mehr Prozent eine verhältnismäßig geringe Zahl. 
Was das Alter anbetrifft, so ergab sich hierin eine große Übereinstimmung 
mit der Bleulerschen und in der Hauptsache auch mit der Kraepelinschen. 
Statistik aus Friedenszeiten. 

In mehr als der Hälfte der Fälle waren schon vor dem Kriege 
nervöse oder psychische Störungen vorhanden gewesen. 65 % der Kranken 
waren länger oder kürzer im Felde, doch bei nur 33 von ihnen, also 17 %, 
hatten besondere Schädigungen, wie Verwundungen, körperliche Er¬ 
krankungen und ganz vereinzelt Granatexplosionen und dergleichen 
eingewirkt. Der Verlauf und die Art der Erkrankung zeigten nichts Be¬ 
sonderes. 

Was die Kriegsdienstbeschädigung bei Dementia praecox angeht, 
so kommen für diese nach M.s Ausführungen Kopfverletzungen, Infek¬ 
tionskrankheiten, Granat- und Minenexplosionen und ähnliche äußere 
Schädigungen in Betracht, jedoch nicht die einfache Tatsache, 
daß jemand im Felde, selbst längere Zeit, war. 

Dem manisch-depressiven Irresein gehörten 43 Fälle an, von 
denen 27 schon früher krank waren. Von besonderen Schädigungen waren 
zu nennen 3mal Verwundungen, 2mal Hirnerschütterungen und 2mal be¬ 
sonders schwere seelische Erregungen. Der Verlauf ergab keine Be¬ 
sonderheiten. Alles sprach dagegen, daß dem Kriegsdienst als solchem 
eine ursächliche Bedeutung für die Entwicklung des manisch-depressiven 
Irreseins zukommt. 

66 Fälle waren progressive Paralysen. Das Alter derselben 
entsprach den Beobachtungen in Friedenszeiten. Bei 27 Kranken war 
frühere nervöse oder geistige Störung nachweisbar. Soweit syphilitische 
Infektion zugegeben wurde, lag sie zumeist 10 bis 20 Jahre zurück. Von 
besonderen Ereignissen wurden 5mal Verwundungen, einmal Sturz mit 
dem Pferde angegeben. Anhaltpunkte für die Annahme einer „Kriegs¬ 
paralyse“ im Sinne von Weygandt ergaben sich nicht. Auch bei der Para- 


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lyse wird Kriegsdienstbeschädigung nur bei Feststellung besonderer 
Schädigungen anzunehmen sein, nicht, wenn nur die allgemeinen Kriegs¬ 
dienstverhältnisse eingewirkt haben. 

63mal handelte es sich um genuine Epilepsie. In 93% der Fälle 
waren schon früher Störungen von seiten des Nervensystems beobachtet, 
zumeist Anfälle, selten psychische Störungen. Nur V* der Kranken waren 
im Felde gewesen; besondere Schädigungen wurden nur- sehr selten ange¬ 
geben. 

Das arteriosklerotische Irresein erwies sich für die Dienstbeschädi¬ 
gung ohne Belang. 

Zusammenfassung: Für die Frage der Kriegsdienstbeschädigung 
kommen vorwiegend die Dementia praecox, das manisch-depressive Irre¬ 
sein und die Epilepsie in Betracht. Das Krankheitsbild und der Verlauf 
waren dabei die aus Friedenszeiten her bekannten. In einem großen Teil 
der Fälle waren krankhafte Erscheinungen psychischer oder nervöser Art 
schon vor dem Kriegsdienst nachzuweisen. Äußere Schädigungen waren 
verhältnismäßig selten feststellbar. Kriegsdienstbeschädigung kann nach 
den bisherigen Erfahrungen bei den genannten Geisteskrankheiten nur 
angenommen werden, wenn die Kranken Einzelschädigungen von beson¬ 
derer Schwere ausgesetzt waren, nicht aber deshalb schon, weil sie über¬ 
haupt im Felde gewesen waren. (Ausführliche Veröffentlichung im Arch. 
f. Psych.) 

Besprechung. — Weygamfe-Hamburg glaubt, wenn von Para¬ 
lytikern, deren Anzahl etwa der des Herrn Referenten entspricht und die 
dauernd beobachtet werden konnten, mehrere nach 1 bis 3 Monaten und 
über 20 % schon im 1. Jahre starben, wohl eine Beschleunigung des Krank¬ 
heitsverlaufs annehmen zu dürfen. Es ist aber auch nicht prinzipiell 
abzulehnen, daß ebensogut wie einzelne Schädlichkeiten auch die chroni¬ 
schen Kriegsschädlichkeiten die Paralyse zu einem schweren Ausbruch 
drängen können. Gerade hinsichtlich der Auslösung einer Paralyse durch 
ein Trauma scheint ihm die von dem Herrn Referenten angegebene zu- 
längige Zw'ischenfrist von 2 Jahren zu hoch anberaumt. Der Ausdruck 
„Kriegsparalyse“ ist natürlich nur cum grano salis zu verstehen. — Wenn 
jetzt gegenüber dem im wohlwollendsten Sinne ,,in dubio pro aegroto“ 
gehaltenen § 151 der Dienstanweisung hinsichtlich der Dienstbeschädigung 
deutlich gebremst wird, so ist das bedingt durch die unheimlichen finan¬ 
ziellen Konsequenzen der Ansprüche der Kriegsneurotiker; diesen gegen¬ 
über spielen die Kriegsparalytiker numerisch nur eine kleine Rolle; zudem 
läuft bei ihnen, wenn sie ledig sind, die Unterstützungspflicht ohnedies 
bald ab. Verpflegt müssen sie sowieso werden, überdies bilden sie keinen 
psychischen Infektionsherd wie die Kriegsneurotiker. — Daß Epilepsie 
nach langjähriger Latenz wieder im Krieg ausbrechen kann, ist auch aus 
der heutigen Diskussion zu entnehmen. Die Fälle, in denen anscheinend 
eine Epilepsie bei einem bisher ganz Gesunden hervorgerufen wurde, sind 


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wohl anamnestisch nicht hinreichend geklärt. Um Dauerschädigungen 
handelt es sich jedoch dabei nicht. Daß unter Umständen ein Epileptiker 
felddienstfähig sein kann, ergibt sich aus dem Beispiel zweier berühmter 
Epilepsiefälle, Napoleons und seines Gegners von Aspern, des Erzherzogs 
Karl. — Hinsichtlich der Diensttauglichkeit sollte man auch die Kategorie 
berücksichtigen, für welche die von Rittershaus angewandte Bezeichnung 
gilt: „felddienstfähig, aber nicht garnisondienstfähig“. Es sind das nicht 
nur einzelne Abenteurer, Phantastiker, reizbare Imbezille und solche 
Minderwertige, die durch den Alkohol und andere schädliche Umstände 
der Garnison, Verwöhnung, Sexualverkehr, Bummelei, gefährdet sind; 
an der Front ist der Alkohol immerhin leichter zu dosieren. Freilich ist 
auch seine gegenwärtige Verwendung noch reichlich, wie sich aus der 
Tätigkeit der Kriegsgerichte ergibt, die Fälle von Entfernung, Gehor¬ 
samsverweigerung, Widersetzlichkeit, Gewalttätigkeit und Sexualdelikte 
bekommen, bei denen der Alkohol die Hemmung der Minderwertigen 
hinweggeräumt hat. Es wäre höchst segensreich, wenn diese Versamm¬ 
lung ilire Autorität nach dieser Richtung hin zur Geltung brächte. 

Stransky■'Wien läßt entsprechend der Anregung Gaupps die Neu¬ 
rosen zunächst aus dem Spiel. Er stimmt Wilmanns zu, nur in einem 
Punkte muß er von ihm abweichen. Die wesentlich nur kriminellen Ele¬ 
mente (zumal die Gewalttätigen) wären, wie Str. schon vor langer Zeit 
vorgeschlagen hat, vor allem als frontdiensltauglich zu erklären. Jeden¬ 
falls sind sie nicht garnison- bzw. kaderdienstfähig, im Hinterlande be¬ 
währen sie sich minder, in der Front aber bewähren sie sich vortrefflich. 
Gewisse Elemente sind unter der straffen Feld zucht etwa zu Armierungs¬ 
arbeiten gut zu verwenden, aber aus selektiven Gründen sind diese Ele¬ 
mente, wie Stransky auch vor längerer Zeit betont hat, besser jetzt nicht 
im Hinterlande zu halten. Sie sollen nicht mehr Gelegenheit zur Fort¬ 
pflanzung als schon im Frieden haben. Epileptiker möchte Str. keineswegs 
im Wachdienst verwenden. 

.Stier-Berlin weist zunächst darauf hin, daß wir nicht, wie der Bericht¬ 
erstatter meinte, die schweren psychogenen Reaktionen erst seit dem 
Kriege bei Soldaten sehen, sondern daß sie auch in ganz der gleichen 
Form im Frieden dawaren; des weiteren, daß nach der D. A. Epilepsie 
nicht schon nach einem, sondern erst nach dem Auftreten wiederholter 
Anfälle von Bewußtlosigkeit anzunehmen ist, daß dann aber völlige Dienst¬ 
unbrauchbarkeit mit Recht angenommen wird wegen der fast nie fehlenden 
gesteigerten Reizbarkeit, Unfügsamkeit und Alkoholintoleranz dieser 
Leute. — Bei den Psychopathen mit psychogenen Reaktionen ist tunlichst 
völlige Beseitigung der akuten Symptome anzustreben, dann aber sind 
diese Leute — N. B. nicht wegen Nervenkrankheit, sondern nach 
1 U 15 wegen krankhafter seelischer Veranlagung — sofort für unbrauchbar 
zu jedem Dienst zum mindesten nur für a. v. zu erklären. Letzteres er- 


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scheint besonders angebracht, wenn die Betreffenden durch ihre beruf¬ 
lichen Kenntnisse für den Krieg in der Heimat nutzbringend verwendet 
werden können. Keinesfalls sind sie als g. v. zu erachten, da dann das 
Damoklesschwert der Wiederhinaussendung in den Krieg dauernd über, 
ihnen schwebt und Rückfälle der Krankheitserscheinungen sofort aufzu¬ 
treten pflegen. — Dienstbeschädigung ist nach Beseitigung der akuten 
Erscheinungen grundsätzlich nicht anzunehmen, da die Erwerbsfähigkeit,, 
wie die Erfahrungen des Friedens und der Unfallgesetzgebung zeigen, bei 
diesen Leuten in ihrem alten Beruf durchaus gut ist und durch den bei 
Ablehnung der D. B. geschaffenen Zwang zur Arbeit der Rest der Be¬ 
schwerden bald verschwindet. Eine solche Stellungnahme ist gesetzlich 
möglich, da D. B. nicht vorliegt bei Gesundheitsstörungen, die „ihrem 
Wesen nach vorübergehender Art“ sind; eine Härte liegt darin nicht, da. 
in Ausnahmefällen, w r enn tatsächlich nach einiger Zeit noch eine wesent-, 
liehe Einbuße an Arbeitsfähigkeit bestehen sollte, nachträgliche Annahme 
der D. B. durchaus möglich ist. — Der Hauptvorzug der Ablehnung der, 
D. B. gegenüber der Bewilligung einer kleinen Rente aber besieht in der 
endgültigen Beruhigung des Mannes, da eine Klage gegen die Ablehnung 
der D. B. nicht zulässig ist. 

IFoWenterg-Straßburg: Mit den allgemeinen Schlußfolgerungen des. 
Herrn Wilmanns bin ich einverstanden. Im einzelnen wird morgen in der 
Diskussion der Kriegsneurosen noch einiges zu sagen sein, insbesondere 
mit Bezug auf die Therapie. In dieser Beziehung ist Herr Wilmanns bei, 
der Besprechung der Hilfsmittel, die wir für die Beurteilung der Psycho¬ 
pathen im Lazarette besitzen, auf die Arbeitstherapie nicht eingegangen. 
Diese gewährt jedoch bei richtiger Behandlung mit Überwachung recht 
gute Anhaltpunkte. Ein als Ncrvenheilstätte eingerichtetes Lazarett in 
Preßburg hat sich in dieser Hinsicht recht gut bewährt und wird auch von 
andern Lazaretten vielfach in Anspruch genommen. — Was die Psycho¬ 
pathen betrifft, die der von Herrn W. genannten ersten Kategorie ange¬ 
hören, so scheint es mir, als würden diese von Nichtpsychiatern gegen¬ 
wärtig nicht selten als Simulanten angesehen. Hinsichtlich der Epi¬ 
leptiker stehe ich auf dem Standpunkte des Herrn W., daß man Leute 
mit den von ihm geschilderten Eigenschaften nicht gar zu schematisch 
vom Dienst ausschließen soll. 

Binstvanger-Jena, will nur auf zwei Punkte aufmerksam machen. 
1. Die Behandlung der Kriegspsychoneurotiker mittels des faradischen 
Stromes ist vor 30—40 Jahren Gemeingut der militärärztlichen Therapie 
gewesen in allen Fällen der Hysterie, die dem Begriff der Simulation ein¬ 
geordnet war. Die Erfolge von damals sprechen nicht für Dauerheilungen. 
Viel nützlicher sind individualisierende Isolierkuren (psychische Ab¬ 
stinenzkuren), die in */» der Fälle — es wurden nur langwierige und sym- 
ptomatologisch schwere Fälle auf diese Weise behandelt — einen guten, 
dauernden Erfolg hatten. — 2. Man soll mit der D. U.-Erklärung bei den 


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Psychoneurotikern objektiv und zurückhaltend sein. Herstellung der 
Arbeitsfähigkeit — nachdem den Patienten strikte erklärt worden ist, 
daß eine Dienstbeschädigung nicht vorliegt — muß in kürzer oder länger 
dauernden Arbeitsbeurlaubungen und Arbeitsleistungen erprobt und be¬ 
festigt werden. Mißlingt dieser Urlaub, so sind diese Leute in die Spezial¬ 
lazarette zurückzuführen, um später den Versuch zu wiederholen. Auf 
diesem Wege gewinnt man für die Armee einen, wenn auch kleinen, Bruch¬ 
teil kriegsverwendungsfähiger Mannschaften und einen sehr großen Pro¬ 
zentsatz arbeitsverwendungsfähiger Leute. G. v. sind diese Psycho- 
neurotiker nicht zu schreiben, denn in dem Garnisondienst geht jeder 
Gewinn der spezialärztlichen Behandlung wieder verloren. 

LieÄers-Dösen hat ebenfalls zur Heilung psychoneurotischcr Affekt¬ 
symptome (Zittern, Mutismus, Aphonie), wenn andere Mittel versagten, 
starke sinusoidale Wechselströme angewendet, und zwar mit gutem Erfolg. 
Da die Methode aber, um wirksam zu sein, starke, sehr schmerzhafte Ströme 
erfordert, so hält er, genau so wie zu größeren Operationen, die vorherige 
Einwilligung des Kranken für notwendig. Es ist ihm bisher immer ge¬ 
lungen, diese Einwilligung zu erlangen, wenn auch oft durch suggestive 
Vorbereitung, durch Appellation an ihr Ehrgefühl usw. Die Heilung 
erfolgte immer in der ersten Sitzung. 

A’eige-Partenkirchen macht zum Vortrage des Herrn W. einige Be¬ 
merkungen nach seinen feldärztlichen Erfahrungen. Er hat mit der Ein 
Stellung der weichlichen Psychopathen, geheilten Zitterneurotikern usw. 
im Etappendienste sehr gute Erfahrungen gemacht; sie haben hier eines¬ 
teils nicht die schlechten Einflüsse des Lebens in der Heimat, auch nicht 
den deprimierenden Eindruck, daß sie wegen ihres Leidens aus dem Kriege 
nach Hause geschickt wurden; auf der andern Seite sind sie den schädi¬ 
genden Einflüssen in der Front entrückt. Zur Frage der Dienstbeschädi¬ 
gung bei Epilepsie ist zu erwägen, daß im Kriege sicherlich eine große 
Anzahl Epileptiker entdeckt werden, die selbst nichts von ihren Anfällen 
wissen. Bei dem jahrelangen engen Zusammenleben der Mannschaften 
im Schützengraben kann kein Anfall übersehen werden, eine exaktere 
Überwachung wie im Kriegsdienst ist gar nicht denkbar. So erklärt sich 
eine Anzahl der Fälle von scheinbarer Entstehung der Epilepsie im Kriege. 
Wenn Herr Str. meint, daß die erethischen Psychopathen sich an der Front 
bewähren, so trifft dies wohl nur für den Bewegungskrieg zu, im Stellungs¬ 
kriege scheitern sie an der Disziplin. — Im Gegensatz zu dem Vorredner 
hat S. den Ganserschen Symptomenkomplex im Kriegslazarett äußerst 
selten gesehen, während er im Heimatlazarett sehr häufig zu sein scheint. 

Bei/J-Tübingen betont seine guten Erfahrungen auch mit schweren 
Psychopathen als Frontarzt, sobald eine individualisierende Behandlung 
stattfindet, die im Stellungskriege wohl durchzuführen ist. Allerdings ist 
eine weitgehende Unterstützung und Verständnis von seiten der Offiziere 
erforderlich, das man aber unschwer findet. Sind Psychopathen einmal in 


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Heimatlazarette gelangt, so trifft die ungünstige Schilderung des Wilmanne * 
sehen Referates unbedingt zu. Die Aussicht auf Kriegsverwendungsfähig* 
heit ist dann außerordentlich gering. Es kann nicht genug Wert darauf 
gelegt werden, auch psychopathisch Minderwertige mit allen Mitteln in 
der Front zu erhalten. 

Hübner- Bonn betont, daß nach den gegenwärtig geltenden Bestim¬ 
mungen die Dienstunbrauchbarkeitserklärung der Epileptiker verlangt wird. 

Wümanns bemerkt zur Frage der Dienstbeschädigung bei den 
Psychosen: 

Es sei sehr erfreulich, daß E. Meyer sich in so entschiedener Weise 
gegen die Annahme von D. B. bei den endogenen Psychosen ausgesprochen 
habe. Die Ärzte pflegen in fast allen Fällen von Psychosen, die im Felde 
zum Ausbruch kamen, einen ursächlichen Zusammenhang mit den An¬ 
strengungen und Erregungen des Dienstes anzunehmen, obschon sich das 
wissenschaftlich in keiner Weise stützen läßt. So liegen keinerlei Anhalt¬ 
punkte dafür vor, daß die Schädigung durch den Kriegsdienst eine Para¬ 
lyse auslöst oder in ihrem Verlauf beeinflussen kann. Die von Weygandt 
vertretene Anschauung, die im Felde entstandene Paralyse verlaufe 
schneller als gewöhnlich, ist nicht überzeugend. Zu derartigen Schlu߬ 
folgerungen reicht sein kleines Material nicht aus. Aber selbst wenn 
Weygandt recht hätte, würde eine andere Erklärung für den schnelleren 
Verlauf der Erkrankung einleuchtender sein: näher liegt, die jetzigen Er¬ 
nährungsverhältnisse und die mangelhafte Schulung des verfügbaren 
Pflegepersonals dafür verantwortlich zu machen. — Daß echte Epilepsie, 
d. h. die fortschreitende organische Gehirnerkrankung, durch die besonde¬ 
ren Verhältnisse des Feldzuges entstehen kann, ist durchaus unwahr¬ 
scheinlich. Hingegen muß zugegeben werden, daß sich infolge von seeli¬ 
schen Erregungen und auch wohl körperlichen Anstrengungen epileptische 
Anfälle bei Epileptikern häufen können. Ähnliches ist z. B. bei Anstalts¬ 
festlichkeiten in Epileptikeranstalten beobachtet. Hierbei handelt es sich 
jedoch nicht um eine Verschlimmerung der Erkrankung, sondern nur um 
eine vorübergehende stärkere Neigung zu epileptischen Krampfreaktionen. 
D. B. in derartigen Fällen anzunehmen, ist daher nicht gerechtfertigt. 
Die verbreitete Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen 
Kriegsschädigung und Epilepsie ist übrigens weniger auf solche Fälle als 
auf die außerordentlich häufige Verkennung von affektepileptischen und 
besonders hysterischen Anfällen zurückzuführen. — Praktisch am wich¬ 
tigsten ist die Frage der D. B. bei Dementia praecox. Fachärzte pflegen 
wohl durchweg die Erkrankung als eine endogene, durch äußere Schädi¬ 
gungen wie körperliche Anstrengungen und seelische Erregungen nicht 
beeinflußbare anzusehen. Faßt man die Dementia praecox in ihrem Kern 
als eine organische Gehirnerkrankung auf, die letzten Endes auf inner¬ 
sekretorische Störungen zurückzuführen ist, so könnte darauf hinge¬ 
wiesen werden, daß der Ausbruch von derartigen Erscheinungen im Felde 


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nicht ganz selten ist — Kriegsbasedow —, und daß mithin auch die 
Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen sei, daß auch die für die De¬ 
mentia praecox kennzeichnenden innersekretorischen Störungen durch die 
Besonderheiten des Feldzuges erzeugt werden können. Auch könnte 
daran erinnert werden, daß unter den lebenslänglich Verurteilten eine 
ungewöhnlich große Zahl an fortschreitenden Geistesstörungen erkrankt, 
die sich von den jugendlichen Verblödungsprozessen symptomatologisch 
nicht unterscheiden, und auch diese Tatsache als Stütze für die Annahme 
herangezogen werden, daß die seelischen Schädigungen und vielleicht auch 
die Ernährungsstörungen im Feldzuge ähnliche Wirkungen ausüben können. 
Allein das sind fernlicgende Möglichkeiten, die auf unsere wissenschaft¬ 
lichen Entscheidungen keinen Einfluß ausüben können. Auch das Trauma 
kann als auslösendes Moment für die Dementia praecox nicht angesehen 
werden. Derartige Schädlichkeiten sind im Felde ungemein häufig, und 
die Dementia praecox ist die verbreitetste geistige Störung, so daß mit 
einem zufälligen Zusammenfallen beider von vornherein gerechnet werden 
muß. Die Veröffentlichungen über den kausalen Zusammenhang von 
Trauma und Dementia praecox sind um so weniger überzeugend, als es 
traumatische Geisteskrankheiten gibt, die katatonische Zeichen aufweisen 
und zu Verwechslungen mit der Dementia praecox häufig Anlaß geben. — 
Auch bei Psychopathien wird viel zu häufig D. B. angenommen. Es gibt 
zahlreiche Fälle, in denen Nervenschwächlinge in den ersten Tagen nach 
ihrer Einstellung unter den mäßigen Anforderungen des Garnisondienstes 
von hysterischen Krämpfen befallen werden und mit namhaften Renten 
zur Entlassung vorgeschlagen werden. Derartige Zustände sind jedoch — 
wie Stier bereits betonte — ihrer Natur nach vorübergehende, und die 
Annahme von D. B. ist daher nicht berechtigt. Die Einigkeit der Fach¬ 
ärzte in diesen Fragen ist sehr erfreulich, und es darf daher gehofft werden, 
daß die Medizinalabteilung den Sanitätsämtern sachgemäße Anleitung in 
diesen Fragen geben wird, um die wissenschaftlich nicht zu begründende 
und daher durchaus unberechtigte Gewährung von Renten in diesen 
Fällen zu verhindern. 

Gallus- Potsdam: Aus den Potsdamer Provinzialanstalten ist eine 
größere Zahl, fast 70, von Psychopathen zum Heere eingezogen worden, 
zumeist Fürsorgezöglinge teils mit intellektuellen, teils mit affektiven 
Mängeln. Gegenüber den Feststellungen des Herrn Wümanns, die die 
mangelnde Brauchbarkeit der Psychopathen für den Heeresdienst be¬ 
tonen, wird bemerkt, daß von diesen 70 die meisten zum Teil seit 2 Jahren 
nach den bisher erlangten Auskünften sich im Heere gehalten haben, wenn 
sie auch wohl manchen Anlaß zum Anstoß gegeben haben mögen. Es 
sind einige gefallen, andere wegen Verletzungen ausgemustert, im übrigen 
ist keiner bisher wegen Unzulänglichkeit ausgeschieden worden. Immerhin 
gibt das kleine Material, das nur eine Ergänzung des Wilmanns sehen, aber 
nicht vom gleichen Gewicht ist, Anlaß zu der Annahme, daß die mili- 


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tärische Brauchbarkeit der Psychopathen vielleicht doch im Durchschnitt 
größer ist, als Referent angegeben. 

Bonhöffer -Berlin hofft, daß Herr Meyer die Frage der Dienstbeschädi¬ 
gung der Psychopathen noch in seinem Schlußwort bespricht, da gerade 
hier in der Praxis vielfach noch zu häufig Dienstbeschädigungen ange¬ 
nommen werden, während es sich lediglich um eine Reaktion auf unge¬ 
wohnte Verhältnisse handelt. Tatsächlich ist der Prozentsatz der als dienst¬ 
beschädigt anzunehmenden Psychopathen gering. Die Durcharbeitung 
meines Materials hat mir nur eben 5—8 % ergeben. Gerade bei der Psycho¬ 
pathie ist es wichtig, die Dienstbeschädigung nur in sicheren Fällen zu 
bejahen, da mit der Anerkennung der Dienstbeschädigung dem Psycho¬ 
pathen der Prozeßweg offen steht, dessen Schädlichkeit für viele dieser 
Invaliden klar liegt. Dem Gedankengang, der bei Herrn Weygandt mehr 
oder weniger ausgesprochen unterläuft, daß man einem Paralytiker, der 
doch nur kurz lebt, die Dienstbeschädigung ohne allzu große Bedenken 
gewähren kann, muß ich widersprechen. Es liegt darin doch ein Über¬ 
schreiten der ärztlichen Kompetenz. Es ist gerade davor zu warnen, daß 
diese sozialen Gesichtspunkte in die ärztliche Begutachtung hineinkommen. 

/sserfm-München: Ich möchte an die Bemerkung des Herrn Wollen- 
berg anschließen und gegenüber Herrn Wümanns festhalten, daß doch viel 
eindringlicher als der Truppenarzt der Psychiater imstande ist, die 
Leistungsfähigkeit — militärische und bürgerliche — des von ihm behan¬ 
delten psychisch und nervös Erkrankten zu begutachten. Es muß durchaus 
betont werden, daß es nicht genügt, die Entlassenen dem Truppenarzt 
mit einer psychiatrischen Diagnose zu übergeben, der fachmännische 
Begutachter muß vielmehr zu allen Möglichkeiten der Verwendung bzw. 
Nichtverwendung Stellung nehmen. Hierüber zu urteilen ermöglicht uns 
neben genauer anamnestischer Nachforschung, klinischer Beobachtung, 
psychologischem Versuch (insbesondere Arbeitsversuch), die Arbeitsbe¬ 
handlung, wie auch Herr Wollenberg betont hat. In der von mir geleiteten 
Abteilung werden fast alle Kranken zunächst mit Bettruhe behandelt, 
mit Medikamenten, larvierter und offener (auch hypnotischer) Suggestion, 
und kommen, sobald es zweckmäßig erscheint, in die Werkstätten. Es 
sind Werkstätten für Schreiner- und Kunstschlosserarbeit eingerichtet. 
Die Arbeit gilt nicht als Dienst, sie wird den Kranken als Heilmittel 
dargelegt; die Kranken werden nur mit ärztlich pädagogischen Mitteln 
zur Arbeit ermuntert. Es wird im großen ganzen sehr gern gearbeitet, 
zum Teil Vorzügliches geleistet; gerade die Art, wie die Kranken sich bei 
«ler Arbeit verhalten, liefert uns einen sehr wertvollen Einblick in das 
iCönnen und Wollen und gibt unserem Urteil über ihre militärische und 
bürgerliche Leistung sichere Grundlagen. Sobald es ratsam erscheint, 
tv'erden die Kranken dann zur Arbeit in heimatlichen oder fremden Be¬ 
trieben — landwirtschaftlichen und industriellen — beurlaubt, nach 
Zeitschrift für Peyohistrie. LXXÜI. 2/3. 14 


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einiger Zeit wieder im Lazarett beobachtet, wieder beurlaubt usw.; bei 
Behörden, Betriebsvorständen werden Erkundigungen eingezogen. So 
kann man bei der Entlassung des Mannes ein ziemlich sicheres Urteil 
fällen. So gewinnt man auch befriedigende Behandlungserfolge, wenig¬ 
stens was die bürgerliche Leistungsfähigkeit der Leute anbelangt. Die 
Prognose mit Bezug auf Felddienstfähigkeit allerdings ist ungünstig, und 
diö Zahlen, welche Herr Wilmanns brachte, dürften wohl recht behalten. 
Zweifellos gibt es genug Psychopathen, die eine Zeitlang mit Erfolg Feld¬ 
dienst machen, und wenn man sie bei den ersteren stärkeren Störungen 
nicht zu weit ab von der Front behandelt, dürfte es auch in vielen Fällen 
gelingen, sie wieder für einige Zeit nach vorn zu bringen. Sind sie aber 
erst einmal gründlich oder mehrfach zusammengebrochen, dann darf 
man nicht mehr sehr viel erhoffen. Wir haben eine Zahl alter Bekannter 
der Klinik aus dem Felde wiederkommen sehen. Sie waren zum Teil frei¬ 
willig hinausgezogen, waren nicht selten mit Auszeichnungen zurückge¬ 
kehrt. Nunmehr erschien allerdings der Versuch einer Wiederverwendung 
im Felde bei den meisten nicht mehr ratsam. Betonen möchte ich auch 
gegenüber einer Diskussionsbemerkung, daß gerade eine Anzahl chronisch 
Verstimmter und Zwangskranker aus meiner Beobachtung eine Zeitlang 
im Felde Gutes leisteten. Sie empfanden zum Teil den Krieg als eine 
Erlösung von dem dauernden Druck, freilich immer nur für einige Zeit. 
Besonders lehrreich war mir hier ein Kranker mit schweren Phobien. Er 
war mir lange vor dem Kriege bekannt, durch seine Krankheit in seinem 
bürgerlichen Berufe schwer gehemmt. Bei Ausbruch des Krieges einge¬ 
zogen, hielt er sich etwa y 2 Jahr lang sehr gut, schrieb frohe Briefe, er 
habe „keine Zeit“ zum Angsthaben, die wechselvollen Geschehnisse und 
Gefahren lenkten ihn von seinen Befürchtungen ganz ab. Er wurde wieder 
unsicher, als in seiner Nähe ein Kamerad geisteskrank wurde, und brach 
völlig zusammen, als er wegen einer körperlichen Erkrankung (Dysenterie) 
ins Lazarett kam. Also es geht auch bei Psychopathen — besonders bei 
solchen mit „intaktem Gesundheitsgewissen“ — eine Weile, und man soll 
gewiß versuchen, zu erreichen, was nach Lage des Falles möglich erscheint. 
Aber man sollte nicht durch unnütze Versuche die mit Bezug auf die Ar¬ 
beitsfähigkeit bestehenden Aussichten verschlechtern. Zur richtigen Be¬ 
handlung gehört es auch, im gegebenen Moment den Versuch auf Wieder¬ 
erlangung der Felddienstfähigkeit aufzugeben und sich mit Garnison- 
dienstfähigkeit oder Entlassung in den bürgerlichen Beruf (N. B. Stellen¬ 
vermittlung) zu begnügen. Äußerste Strenge muß hingegen dauernd bei 
der Anerkennung der Dienstbeschädigung und der Rentenerteilung walten. 
Nur bei 4% der als d. u. entlassenen Kriegsneurotiker habe ich — nach 
einer kürzlich gemachten Zusammenstellung — über 20% Rente zu¬ 
erkannt. 

7a/cofc-Hamburg berichtet über die Erfahrungen im Nervengene- 
sungsheim Malonne (Belgien) in zwei Punkten: die Behandlung der dort 


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relativ frisch eingelieferten funktionell-nervösen Bewegungs- und Sprach¬ 
störungen geschieht zunächst mit Ruhe und Isolierung, jedoch bald kom¬ 
biniert mit aktiver Behandlung (Hypnose und Strom). Refraktär ver¬ 
halten sich vor allem Schwachsinnige. — Was die Dienstbrauchbarkeit 
der Neurastheniker und Psychopathen angeht, so kann Jakob von einigen 
Fällen berichten, die vor dem Kriege jahrelang in Behandlung standen und 
im Kriege Mieder das Selbstvertrauen gewannen. Man kann hier von 
Kriegsheilung sprechen. — Ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz der 
hier zur Behandlung kommenden nervösen Schwächezustände wird geheilt 
Mieder als k. v. zur Front geschickt. — Das in der Heimat zur Behand¬ 
lung kommende Material muß sich wesentlich von dem unsrigen unter¬ 
scheiden. 

Martineck-Ber\in : Die Frage der Dienstbeschädigung bei Geistes¬ 
krankheiten und Psychoneurosen ist bereits eingehend in einer Sitzung 
des Wissenschaftlichen Senats an der Kaiser Wilhelms-Akademie erörtert 
worden, desgleichen die Bedeutung der Arbeitstherapie bei Nervösen. 
Das Ergebnis der Beratungen Mrird in einer besonderen Anleitung zu¬ 
sammengestellt und den Ärzten zugänglich gemacht werden. Dabei werden 
natürlich die Ergebnisse dieser Versammlung entsprechend mitberück¬ 
sichtigt werden. 

Äau/mann-Mannheim-Ludwigshafen bestätigt Herrn Binswanger, daß 
die Behandlung hysterischer Lähmungen mit schmerzhaften elektrischen 
Strömen so alt ist wie die Elektrotherapie selbst. Das, was er für sein 
Vorgehen bei der Behandlung der veralteten motorischen Kriegsneurosen 
für charakteristisch hält, ist die Kombination der elektrischen Behandlung 
mit der Erteilung der Suggestionen in Befehlsform, die • Übungstherapie 
unter militärischer Willensüberwältigung, die zum Verschwinden der 
Symptome in einer Sitzung führt, und zwar nicht nur bei Lähmungs-, 
sondern auch bei Reizerscheinungen. Er betont, daß das Elektrisieren 
jeweils nur ganz kurz ausgeübt ward, und daß das Üben und Exerzieren, 
das, was Kehrer sehr richtig als Gewaltexerzieren bezeichnet, im Vorder¬ 
gründe steht. Er hält dieses Vorgehen jedenfalls für weniger eingreifend- 
als die „psychische Abstinenzkur“ und für berechtigter als die Isolierung 
in einer Irrenabteilung. In einem K. zur Kenntnis gekommenen Exitus 
bei Behandlung mit starken Wechselströmen hatte der betreffende Arzt 
in fehlerhafter Weise starken Wechselstrom in der Herzgegend angewandt, 
die Autopsie hat Status thymicus ergeben. (Vgl. im übrigen die Dis¬ 
kussionsbemerkung K .s in der Sitzung vom 22. September, S. 205.) 

Gaupp-Tübingen stimmt Herrn Wilmanns in allem Wesentlichen zu, 
nur nicht in der Auffassung, daß der Truppenarzt die Frage der Dienst¬ 
fähigkeit manchmal besser beurteilen könne, weil er den Mann bei der 
Arbeit sehe, als der Fachmann im spezialistischen Lazarett. Im ganzen 
ist doch das Gegenteil so überwiegend der Fall, daß mir die Einrichtungen 
im Mdirttembergischen Armeekorps besser erscheinen, nach denen der 

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Truppenarzt beim Ehrsatztruppenteil einen Nervenkranken, der vom lach¬ 
ärztlichen Beirat begutachtet wurde, nicht kurzerhand anderweitig ver¬ 
wenden lassen kann, ehe nicht dem fachärztlichen Beirat noch einmal 
Gelegenheit zur Gegenäußerung gegeben wurde. 

Hahn-Frankfurt a. M. glaubt, daß chronische Alkoholisten noch am 
ehesten in der Front zu verwenden sind, weil im Etappen- und Heimat- 
gebiet die Versuchung zu groß ist. 

Älüher-Erlangen berichtet kurz über die im allgemeinen guten Er¬ 
fahrungen, die mit Psychopathen der Erlanger Anstalt im Heeresdienst 
gemacht wurden. Er teilt kurz einen Fall mit, der als klassisches Beispiel 
für die Richtigkeit der Erfahrung gelten kann, daß Psychopathen nicht 
als garnisondienst-, sondern als felddienstfähig zu verwenden sind, und 
auch da wieder mehr für den Bewegungskrieg als für den Stellungskrieg. 

Äosfer-Flensburg: Zu der vielerörterten Elektrotherapie möchte ich 
ein vor ca. 14 Tagen erlebtes Beispiel anführen als Beweis dafür, daß das 
Faradisieren mit hohen Strömen nicht immer unbedenklich ist. Bei einem 
kräftig gebauten Manne, der früher stets gesund gewesen sein soll, zurzeit 
eine hysterische Lähmung hatte, trat sofort beim Elektrisieren, das ein 
Flensburger Kollege vornahm, Angstgefühl ein; der Kranke sagte kurz: 
„Ich fühle, daß ich sterbe“ und starb. Sektionsbefund: Vergrößerte 
Thymus. Status thymicolymphaticus. Sonst normaler Befund. 

Stransky -Wien stellt mit Genugtuung fest, daß seinen schon früher 
erstatteten und jetzt wiederholten Anregungen und Vorschlägen bezüglich 
der Kriminellen — und er kann in Beantwortung einer Anfrage hinzu¬ 
fügen, auch der Alkoholiker — von Praktikern zugestimmt wird; vielfach 
haben diese Elemente selber das richtige Gefühl dafür, daß sie nicht garoi- 
son-, wohl aber frontdiensttauglich sind, und verlangen geradezu dorthin, 
wo sie sich nicht selten auszeichnen. Bei den Neurotikern sehen die Wiener 
(p. Wagner und Redlich) von Elektrotherapie und Kombination mit Iso¬ 
lierung und Diätbeschränkung oft überraschende und anhaltende Erfolge; 
selbst in verschleppten Fällen. 

Liebermeister -Düren hat ebenfalls einen Fall von Thymustod bei 
Faradisation gesehen; er rät, mit den ganz starken Strömen etwas vor¬ 
sichtig zu sein und durch gründliche Massensuggestion die Patienten so 
vorzubereiten, daß sie vor dem Elektrisieren solchen Respekt haben, daß 
die angewandten Ströme dann nicht so stark genommen zu werden brau¬ 
chen. Zweckmäßig ist gleichzeitige Behandlung gleichartiger Fälle. 

Nach IFiet/eW-Kuxhaven stellen die Psychopathen nach Alkohol¬ 
genuß eine besondere Gefahr für die Truppe dar. Die schweren Trinker 
sind weniger gefährlich, da diese auch von den nicht ärztlichen Vorge¬ 
setzten richtig beurteilt werden. Die Psychopathen werden durch Al¬ 
koholabstinenz in den meisten Fällen dienstbrauchbar, zum mindesten a. v. 
Man überweist zum Zwecke der Erziehung zur Abstinenz die Psycho- 


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pathen dem Blaukreuzverein oder der Guttemplerloge. In der Marine 
sieht man damit gute Erfahrungen. 

Witmanns (Schlußwort): Nach einigen Bemerkungen könnte es 
scheinen, als ob die Anforderungen der Fachärzte und Truppenärzte des 
XIV. Armeekorps an die militärische Verwendbarkeit der Psychopathen 
zu hoch gewesen wären, mit andern Worten, als ob das Ergebnis der Fest¬ 
stellungen ungünstiger gewesen wäre, als es bei sachlicher Entscheidung 
hätte sein dürfen. Es soll zugegeben werden, daß, zumal in dem ersten 
Kriegsjahre, Mannschaften als d. u. entlassen worden sind, die den be¬ 
scheidenen Ansprüchen in der Garnison und der Etappe wohl noch hätten 
.genügen können. Im allgemeinen sind jedoch die Entscheidungen sachlich 
und dem Interesse des Heeres gemäß gefällt worden. Daß das Ergebnis 
-der Erkundigungen so ungünstig ist, und kein klares Bild über die mili¬ 
tärische Verwendbarkeit des Psychopathen im allgemeinen gibt, liegt an 
-der besonderen Auswahl des eingewiesenen Materials, wie wiederholt betont 
wurde. Daß gewisse Psychopathen, z. B. die konstitutionell Erregten, 
.sanguinisch Minderwertigen und dergleichen in den engen Verhältnissen 
der Garnison versagen und im Frontdienst unter Umständen Ungewöhn¬ 
liches leisten können, habe ich erwähnt. Zahlreiche Beispiele aus den 
Kreisen der Fremdenlegionäre, der Zwangszöglinge und der Kriminellen 
beweisen, daß die Anschauung Stranskys und Weygandts richtig ist, daß 
«in Mann k. v., aber nicht g. v. sein kann. Seige hat aber mit Recht darauf 
hingewiesen, daß diese Typen wohl „bewegungskriegsverwendungs¬ 
fähig“, nicht aber „stellungskriegsverwendungsfähig“ sind, und damit 
gezeigt, welche Verantwortung der Truppenarzt auf sich nimmt, wenn er 
derartige Psychopathen als k. v. bezeichnet und damit der Truppe gegebe¬ 
nenfalls große Lasten und Scherereien aufbürdet. — Stier hat natürlich 
recht, wenn er hervorhebt, daß wir psychogene Reaktionen auch in Frie¬ 
denszeiten bei Soldaten gekannt haben. Neu war für uns jedoch ihre un¬ 
gewöhnliche Häufung, besonders der abenteuerlichen Formen, vor allem 
aber die Tatsache ihres Auftretens bei Personen, die bis dahin krankhafte 
Abweichungen vom Durchschnitt nicht gezeigt hatten und erst auf die 
ganz außerordentlichen seelischen Erschütterungen hysterisch zusammen¬ 
brachen. — Herrn Wottenberg gegenüber bemerke ich, daß — wie ich 
auch in meinem Bericht kurz gestreift habe — der Arbeitstherapie in den 
Nervenlazaretten des XIV. Armeekorps von Anfang an die größte Be¬ 
achtung geschenkt worden ist, daß aber der Erfolg dieser Behandlung bei 
den hysterischen Neurosen sehr unbefriedigend war und eine Besserung 
der Heilungsergebnisse erst mit der Einführung der Behandlung mit starken 
elektrischen Strömen erzielt wurde. Die Todesfälle, über die berichtet 
worden ist, sind sehr bedauerlich, geben uns aber nicht das Recht, über 
dieses Verfahren zur Tagesordnung überzugehen. Mißerfolge dieser Art 
hafteten vielen 'ärztlichen Verfahren an, die mittlerweile Gemeingut der 
Ärzte geworden sind; und ich bin der sicheren Überzeugung, daß bei richti- 


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Verhandlnngen psychiatris eher Vereine. 


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ger Anwendung der Methode Unglücksfälle sich in Zukunft vermeiden 
lassen werden. — Jsserlin und Gaupp gegenüber betone ich, daß selbst¬ 
verständlich der Facharzt ein sachlicheres Urteil über den Seelenzustand 
eines Mannes abgeben wird als der in der Seelenheilkunde unerfahrene 
Truppenarzt, daß aber andrerseits der Facharzt in den seltensten Fällen 
Gelegenheit haben wird, sich einen tieferen Einblick in die zahllosen Ver¬ 
wendungsmöglichkeiten zu verschaffen, die die militärische Organisation 
für seelisch Regelwidrige bietet. Der Truppenarzt wird dem fachärztlichen 
Gutachten die ihm gebührende Achtung entgegenbringen, trotzdem aber 
das Urteil unter Umständen umstoßen dürfen. Die Erfahrung lehrt, daß 
in zahlreichen Fällen Mannschaften in bestimmten für sie geeigneten 
Posten Nutzenbringendes zu leisten vermochten, die der Facharzt aus 
Unkenntnis dieser Möglichkeiten als dienstunbrauchbar zur Entlassung 
vorgeschiagen hatte. 

Das Ergebnis der Besprechung zeigt, daß in allen wesentlichen 
Punkten erfreuliche Einigkeit herrscht. Es ist als unbedingt notwendig 
erkannt worden: die Schaffung von Nervenlazaretten hinter der Front 
zur Aufnahme der Erschöpften und Schreckneurotiker, die Vermeidung 
der Verlegung dieser Kranken in das Heimatgebiet, die Sammlung und 
sachgemäße Behandlung der aus irgendwelchen Gründen trotzdem ins 
Heimatgebiet Verlegten in besonderen fachärztlich geleiteten und am 
zweckmäßigsten in ländlicher Umgebung gelegenen Nervenlazaretten. 
Auch darin besteht Einigkeit, daß die in das Heimatgebiet verlegten 
Kriegsneurotiker nur in verschwindenden Ausnahmen wieder k. v. werden, 
und daß es sich im allgemeinen empfiehlt, sie, ohne sie erst zur Truppe 
zurückzuschicken, als a. v. in die Kriegsindustrie oder den eigenen Arbeits¬ 
betrieb zu entlassen, ferner, daß auf jede Weise versucht werden muß, 
den Kranken nicht vor Erreichung des höchstmöglichen Grades von Er¬ 
werbsfähigkeit aus dem Lazarett zu entlassen, und endlich, daß Renten 
für Neurotiker möglichst gering zu bemessen und, wenn irgend zu verant¬ 
worten. überhaupt nicht zu gewähren sind. 

E. Mryer (Schlußwort): Die Aussprache hat <o \iel gezeigt, daß 
offenbar die Versammlung mit den Ausführungen über die Kriegsdienst¬ 
beschädigungen bei Geisteskrankheiten im wesentlichen einverstanden ist. 
Es steht zu hoffen, daß auch die Beurteilung in der Praxis sich danach 
lichten wird, wenn, wie mitgeteilt, das Kriegsministerium entsprechende 
Anleitung gibt. 

Was die psychopathischen Konstitutionen angeht, so hat M. anfangs 
die Neigung gehabt, Rente in weiterem Umfange zu gewähren; mit Rück¬ 
sicht auf den Nachweis, daß die Kranken mindestens zum großen Teil 
früher schon nachweislich nervöse Störungen hatten, und es sich zumeist 
um vorübergehende pathologische Reaktionen handelt, und im Hinblick 
auf die große allgemeine praktische Bedeutung ist M. jetzt ebenfalls der 
Meinung, daß solche Kranken ohne oder jedenfalls mit sehr gering* r 
Rente zu entlassen seien. , 

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Antrag von //oc/»e-Freiburg über die Kapitalabfindung von 
Kriegsneurosen: 

Hoche begründet kurz im Sinne seinem Veröffentlichung „Über Wesen 
und Tragweite der Dienstbeschädigung bei nervös und psychisch erkrank* 
ten Feldzugsteilnehmern“ {Monatschrift f. Psych. u. Neur. Heft 6, 1916) 
die Notwendigkeit, von neurologischer und psychiatrischer Seite ge¬ 
schlossen für die Einführung der Kapitalabfindung für die genannten 
Kategorien Verletzter einzutreten. Er schlägt folgende Resolution vor: 

„Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß unter den gesundheitlichen 
Nachwirkungen des Krieges, welche den Feldzugsteilnehmern den Anspruch 
auf eine Entschädigung gewähren, Störungen nervöser Art eine zahlen¬ 
mäßig sehr bedeutende und in ihrem Einfluß auf die Volksgesundheit und 
die nationale Arbeitskraft verderbliche Rolle spielen werden. ; 

Die tatsächlichen nervösen Kriegsbeschädigungen werden, wie wir 
das aus tausendfacher Berührung mit nervösen Unfallsfolgen im Fneden 
ableiten können, in ihrer Tragweite vervielfacht werden durch die Ver¬ 
quickung mit den seelischen Einwirkungen des Entschädigungsverfahrens. 

Insbesondere werden wir mit einer großen Anzahl von Neurosefällen 
zu rechnen haben, bei denen durch die Form der Entschädigung in einer 
fortlaufenden Rente (die nach den Militär-Pensionsgesetzen ausschließlich 
in Frage kommt), eine Wiederkehr der Arbeitsfähigkeit verzögert oder 
gänzlich verhindert wird („traumatische Neurosen“, „Kentenneurosen M 
usw.). 

Für Erkrankungen dieser Art ist im Interesse der einzelnen Geschä¬ 
digten wie der gesamten Volksarbeitskraft die endgültige Erledigung der 
Entschädigungsansprüche in Form der Kapitalabfindung als das wirk¬ 
samste Heilmittel zu erstreben. 

Es ist ein dringendes Erfordernis, daß durch gesetzliche Regelung 
die Möglichkeit der Kapitalabfindung für diejenigen Fälle nervöser und 
psychischer Kriegsschädigung geschaffen wird, deren Heilungsaussichten 
auf diesem Wege besser sind als auf dem des fortlaufenden Rentenbezuges.“ 

Diese Resolution wurde von der Versammlung einstimmig ange¬ 
nommen. 

Um 5 Uhr schließt der Vorsitzende Moeli die Versammlung, wobei 
er den Berichterstattern, dem Ortsausschüsse und den Schriftführern dankt. 
Er sagt weiterhin Dank der Klinik sowie deren Verwaltung, die trotz der 
Kriegszeit die Verpflegung während der Frühstückspause und die damit 
verbundene Mühewaltung übernommen hat. 

Sitzung am 22. September — gemeinsam mit der Gesellschaft Deutscher 
Nervenärzte — im Hörsaal der I. med. Klinik. 

a) Vormittagsitzung. 

Vorsitzender: Oppenheim-Berlin, später Saenger- Hamburg. Schrift¬ 
führer K. Mendel- Berlin. Lokaler Schriftführer: .Spiefmeyer-München. 


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Herr Oppenheim begrüßt die Versammlung, er gedenkt der in den 
letzten 3 Jahren verstorbenen Ehrenmitglieder, korrespondierenden Mit¬ 
glieder und Mitglieder: Ehrlich, Horsley, Gowers, Mitchell, Bernhardt, 
v. FrankUHochwart, Friedmann, Heilbronner, Hey, Hoenißer, Kaes, L. La - 
quer, Matthes, Oberndorfer, Rothmann, Thomsen. 

Bericht: Neurosen nach Kriegsverletzungen. 

I. Oppenheim- Berlin: 

1. Hysterie und Neurasthenie sind verschiedene Krankheiten. Die 
Begriffe Neurasthenia cordis, vasomotoria, sexualis etc. sind aufrechtzu¬ 
erhalten. Auch der Tic, die Hemikranie, die Quinckesche Krankheit, die 
Akroparästhesien, die Crampi usw. sind selbständige Affektionen. Es gibt 
also eine Gruppe von Neurosen. 

2. Da sich die Mehrzahl derselben im Gefolge eines Traumas ent¬ 
wickeln kann, ist es berechtigt, von traumatischen Neurosen zu 
sprechen, auch dann, wenn das Trauma nur die auslösende Ursache bildet. 

3. Ihre genauere Klassifizierung scheitert oft an der Neigung zu 
Kombinationen. Schon aus diesem Grunde kommt man oft über die 
Diagnose „traumatische Neurose“ nicht hinaus. 

4. Der Begriff des Traumas schließt die psychische und mechani¬ 
sche Erschütterung ein. Beide können dieselben Funktionsstörungen im 
zentralen Nervensystem hervorrufen. 

5. Die psychotraumatische Ätiologie schafft nicht nur psychische 
Krankheitsbilder. 

6. Die „Schreckneurose“ bedarf der schärferen Begriffsbestim¬ 
mung. Ihre Anerkennung und mehr noch die der Kommotionsneurose 
involviert auch die der traumatischen Neurose. 

7. Das peripherisch angreifende Trauma kann ohne psychische Ver¬ 
mittlung Neurosen hervorbringen; oft tragen aber psychische Vorgänge 
zu ihrer Fixierung bei. 

8. Auch „das freie Intervall“ ist kein Beweis gegen die Wirksamkeit 
des körperlichen Traumas. 

9. Die Hyperthermie kann zu den Symptomen der traumatischen 
Neurose gehören. 

10. Eis gibt vasomotorisch-trophisch-sekretorische Störun¬ 
gen bei t. N.,die weder hysterischer Natur sind, noch sich aus der Inaktivität 
und Druckverbänden erklären. Das Zustandsbild kann sich dem der 
Sklerodermie nähern. 

11. DieZeichendes Hyperthyreoidismus können zum Symptom¬ 
bild der t. N. gehören. 

12. Der Begriff Akinesia amnestica ist ein symptomatischer 
(etwa wie der der Akinesia algera). Sie kann sich auf dem Boden der 
Hysterie entwickeln, und ihre Entstehung wird durch die hysterische Dia- 


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these begünstigt. In der typischen, von mir geschilderten Ausbildung ist 
der Zustand kein hysterischer in dem bisher gebräuchlichen Sinne. 

13. Die völlige Ausschaltung der Bewegungen, auch unter Bedingun¬ 
gen, die von der Psyche unabhängig sind, verleiht der Akinesia am- 
nestica und Reflexlähmung ihre Sonderstellung gegenüber der 
Hysterie. Die Grenze zwischen der Akinesia amnestica und Reflexlähmung 
ist nicht immer eine deutliche, es gibt aber eine Form der letzteren, die 
der arthrogenen Muskelatrophie nahesteht. 

14. Die Rückbildung der Lähmungszustände vom Typus der Akinesia 
amnestica unter dem Einfluß starker Willensimpulse und peripherer Reize 
(Methode Kaufmann usw.) steht nicht im Widerspruch zu der ihnen von 
mir gegebenen Deutung. 

15. Die Innervationsentgleisung kommt sowohl bei organischen 
wie bei funktionellen Lähmungen vor. 

16. Die Crampusneurose (Myotonoclonia trepidans) hat innige 
Beziehungen zur Hysterie, ohne mit ihr identisch zu sein; sie steht etwa 
auf gleicher Stufe mit den Halsmuskelkrämpfen. 

17. Die Verbreitung der Hysterie unter den Kriegsverletzten ist 
von mir unterschätzt worden. 

18. Tr. Neurosen kommen auch in Lazaretten der Gefangenenlager, 
wenn auch anscheinend viel seltener wie in andern gemischten Lazaretten, 
vor. Die bisher für die Seltenheit versuchten Erklärungen halten zum Teil 
der Kritik nicht stand. 

19. Die tr. N. vom Typus der Hysterie und Neurasthenie gehören 
zu den in der Regel heilbaren Nervenkrankheiten. Wie bei allen Neurosen 
wird ihre Heilung durch die Hoffnung auf und den Willen zur Genesung 
wesentlich gefördert. Es muß deshalb alles vermieden werden, was den 
Willen zur Gesundung schwächt und das Haftenbleiben der Krankheit 
begünstigt. Die Rente ist also im allgemeinen niedrig zu bemessen und 
die Kapitalsabfindung zu befürworten. 

II. iVo/me-Hamburg: 

1. Der Krieg hat bewiesen, daß auch in bezug auf das Nervensystem 
bisher vollwertige Individuen einen neurasthenischen Symptomkomplex 
erwerben können. Die Ansicht über die Neurasthenie als eine Ermüdungs- 
krankheit im weiteren Sinne ist durch die Kriegserfahrungen bestätigt 
worden. 

2. Wenn man die Hysterie dahin kennzeichnet, daß bei ihr Gemüts¬ 
bewegungen abnorm leicht auftreten und wieder schwinden und daß die 
seelischen Zustände abnorm leicht in körperliche Symptome sich pro¬ 
jizieren, die Gemütsbewegung oft lange überdauernd, so hat der Krieg 
Igelehrt, daß Hysterie auch bei bisher Vollwertigen nicht selten ist. Außer¬ 
dem hat sich gezeigt, daß katastrophale Ereignisse jene Form der Hysterie 
in die Erscheinung treten lassen, die in Form von Abwehrbewegungen 


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Reminiszenzen an jedem Individuum angeborene und im normalen Leben 
latente Schutzmechanismen darstellt. Im übrigen sind häufig die ver¬ 
schiedenen Formen der monosymptomatischen und oligosymptomatischen 
Hysterie im Sinne Charcots. Die Grenzen zwischen gewissen Formen 
von Hysterie und Schreckneurose sind keine scharfen. Bei vielen Fällen 
von Hysterie im Kriege spielt die Art und Wertigkeit des Traumas eine 
größere Rolle als die Persönlichkeit des Kranken. 

3. Die lokalisierten Kontrakturen und Klonismen, die Akinesia 
amnestica, die Reflexlähmung, Myotonoclonia trepidans (pseudospastische 
Parese mit Tremor) sind bei den Kriegsfällen als Ausdruck der Hysterie 
aufzufassen. Die Psychogenie ist in vielen Fällen nachzuweisen, in andern 
Fällen nicht auszuschließen. In ihrer klinischen Erscheinungsweise bieten 
die Kriegsfälle nichts unseren bisherigen Erfahrungen über Hysterie prin¬ 
zipiell Widersprechendes. Alle Formen können auch ohne somatisches 
Trauma auftreten. 

4. Die — schon im Sanitätsbericht des Heeres 1870/71 erwähnte — 
Auffassung von einer mechanischen Erschütterung der peripheren Nerven 
und von da ausgehendem Reiz auf die zerebralen oder spinalen Zentren 
lassen sich nicht beweisen und nicht bindend widerlegen. Plötzliche, auf 
rein suggestivem Wege erzielte-Heilungen sprechen mehr im letzteren Sinne. 

Partielle funktionelle Lähmungen im Bereich organisch gelähmter 
Nerven sind aufzufassen zum Teil als funktionelles Fixiertbleiben einer 
abgeheilten leichten organischen Lähmung, zum Teil ideagen zu erklären. 

5. Die alkohologene Form der Hysterie spielt im Kriege nach den 
bisherigen Erfahrungen keine Rolle. 

Die „Granatexplosions“-Neurosen sind, soweit somatisch-organische 
Symptome auf neurologischem und psychischem Gebiete fehlen, funktio¬ 
neller Natur. Länger dauernde Bewußtlosigkeit schließt die Annahme 
einer funktionellen Grundlage keineswegs aus. Auch die Psychogenie ist 
durch Eintritt von Bewußtlosigkeit nicht ausgeschlossen. Auch solche 
Fälle können, auch nach einem Bestehen von vielen Monaten, akut durch 
Suggestion (insbesondere hypnotische Suggestion) geheilt werden, ebenso 
wie in Hypnose ganz dieselben Formen wieder akut hervorgerufen werden 
können. Die Umstände vor der Katastrophe spielen in vielen Fällen eine 
Rolle. 

Die Annahme organischer Veränderungen irgendwelcher Art im 
Zentralnervensystem ist für solche Fälle nicht berechtigt. Somatische 
Traumen sind für die Entstehung auch der schweren klinischen Bilder nicht 
nötig; akute und chronische psychische Traumen können sie ebenfalls 
hervorrufen. Auffallend häufig entwickeln sich dieselben Bilder im Kriege 
nach Infektionskrankheiten. 

6. „Traumatische Neurose“ ist keine besondere Krankheit. .Die 
unter diesem Namen beschriebenen Symptombilder sind unterzubringen 
unter die bisher bekannten Neurosebilder bzw. ihre Kombinationen. Diese 


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Erkrankungsform ist weniger bedingt durch die aus dem Unfall bzw. aus 
der Verletzung resultierenden direkten Folgen als durch die in der Per¬ 
sönlichkeit des Verletzten liegenden Eigenschaften und die sich dem „Ver¬ 
fahren“ anschließenden Begleitumstände. Die Störungen sind als eine 
Reaktion des Verletzten auf die durch den entschädigungspflichtigen Unfall 
für ihn neu geschaffene Situation anzusehen. Ein somatisches Trauma 
ist für das Auftreten dieser Symptombilder keine Vorbedingung. Organi¬ 
sche Veränderungen irgendwelcher Art liegen den Symptombildern nicht 
zugrunde. Diese Lehre ist auch praktisch bedenklich, weil eine solche 
Auffassung die Begutachtung und praktische Bewertung der Unfallsfolgen 
sowie die wirtschaftlichen Interessen des Staates und die gesundheitlichen 
Interessen der Erkrankten ungünstig beeinflussen würde. 

7. Die Prognose der im Kriege erworbenen Neurosen ist an sich die¬ 
selbe wie in Friedenszeiten, erhält aber eine besondere Färbung durch die 
Verhältnisse des Krieges. 

8. Die Therapie ist dieselbe, wie sie sonst geübt wird. Auch hier 
spielt die Psychotherapie im weitesten Sinne die Hauptrolle. In der Be¬ 
seitigung von Symptomen leistet die hypnotische Suggestion viel, ln der 
Prophylaxe des Auftretens sowie der Rezidive von Neurosen sowie für die 
eigentliche Behandlung der Neurosen bleibt Werte schaffende Arbeit das 
hauptsächlichste Moment. 

III. Gaupp-Tübingen: (In Übereinstimmung mit Nonne erweitert G. 
den Begriff „Kriegsverletzungen“ zu „Kriegsschädigungen“.) 

Eine besondere Kriegsneurose gibt es ebensowenig wie eine be¬ 
sondere traumatische Neurose. Die in der Literatur zutage tretenden 
Gegensätze und Mißverständnisse rühren hauptsächlich von unklarer Be¬ 
griffsbestimmung, von verschiedenem Gebrauch medizinischer Begriffe her. 
Es ist deshalb eine kurze Definition der neurologischen Grundbegriffe in 
bezug auf die Neurosen vorauszuschicken. 

Organische Erkrankung heißt jede anatomisch nachweisbare 
krankhafte Veränderung des Nervensystems; im Gehirn und Rückenmark 
ist die organische Erkrankung in der Regel gleichzeitig auch eine un¬ 
heilbare Erkrankung, weil das Zentralnervensystem zum Unterschied 
von den peripheren Nerven keine nennenswerte Regenerationskraft besitzt. 
Funktionelle Erkrankung heißt die anatomisch nicht oder noch nicht 
nachweisbare Krankheit, deren materielle, physikalisch-chemische Grund¬ 
lage unbekannt ist. Der Kreis des Funktionellen verengert sich mit dem 
Fortschritt der hirnpathologischen Forschung'(vgl. die Epilepsie, die Para¬ 
lysis agitans, die Chorea). Die funktionellen Erkrankungen sind in der 
Regel die leichteren, nicht unheilbaren, die ihnen zugrundeliegen¬ 
den Hirnvorgänge sind meist ausgleichsfähig, führen nicht zum anatomi¬ 
schen Zerfall, nicht zum klinischen Defekt. (Die Begriffe „mole¬ 
kular“, „mikroorganisch“, „mikrostrukturell“ sind entbehrliche Hills- 


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explosive, hypochondrisch-depressive Anlage) kann sich verstärken, die 
Neigung zu seelischer Dissoziation (Dämmerzustände) ist auch ohne akute 
Schädigung groß. Die psychiatrische Analyse des Einzelfalles weist die 
psychopathische Grundlage der meisten neurotischen Erkrankungen im 
Kriege auch da häufig nach, wo die übliche Erhebung der Anamnese 
versagt. 

3. Die akuten psychogenen und hysterischen Zustände. 
Massigkeit der hysterischen Symptome, Überwiegen der motorischen Ex¬ 
pressivsymptome. Kurze Übersicht über die klinische Symptomatik auf 
körperlichem und seelischem Gebiet. Die Bedeutung der prämorbiden 
Persönlichkeit auch hier unverkennbar. Der flüchtige schreckneuroti¬ 
sche Symptomkomplex als Ausdruck ungewöhnlich starker seelischer 
Erschütterung und die Fixation der Symptome unter dem Einfluß des 
Willens zur Krankheit, der ängstlichen Spannung und Erwartung. 
Gleichartigkeit der schreckneurotischen Bilder nach akutem schweren 
Schock (Minenexplosion, Granatexplosion, Verschüttung, Granatsplitter¬ 
verletzung, Kopfstreifschuß) und nach subakuter Einwirkung seelischer 
Erregungen (Einstellung zur Truppe, Ausbildung, Fahrt zur Front, erster 
Tag im Schützengraben, Ansage des Sturmangriffs, Vorgehen zum Sturm, 
Anblick schwer verletzter oder toter Freunde und Kameraden). Die all¬ 
mähliche Entwicklung vieler neurotischer Zustände in den Stunden, 
Tagen und Wochen nach dem akuten Schock, auf dem Wege zur Heimat, 
im Heimatlazarett, unter der Einwirkung ärztlicher Fehldiagnosen, falscher 
Behandlung, Angst vor erneuter Dienstleistung, Erinnerung an die Feld¬ 
erlebnisse. Die mechanische Erschütterung wird bei den Neurosen 
nach Granatexplosion oft überschätzt. Die Explosion kommt meist 
nicht so überraschend, daß zu einer seelischen Wirkung auf den Betroffenen 
keine Zeit wäre. Das nahende Geschoß wird meist vorher gehört. Schutz¬ 
maßregeln können sogar noch manchmal getroffen werden. Angstvolle 
Spannung geht der Explosion und daran sich anschließenden Bewußtlosig¬ 
keit in der Regel voraus. Die Bewußtlosigkeit ist häufiger eine psychogene 
Ohnmacht als eine mechanogene Commotio cerebri. Natürlich kommt 
aber auch diese vor. Anfangs oft organische Veränderungen (Commotio. 
Contusio und Compressio, Monoplegien, Hemiparesen, Trommelfellrup¬ 
turen, Labyrintherschütterung, Commotio medullae spinalis); manche 
dieser Störungen sind unheilbar, andere heilen rasch, wenn keine psycho¬ 
genen Störungen hinzu treten. 

Die Mehrzahl der klinischen Bilder sind rein psychogen: sehr 
häufig ist ein flüchtiger schreckneurotischer Komplex, der in der Ruhe 
rasch abklingt (Zittern, Schwäche der Beine, Spracherschwerung, Lachen 
und Weinen, dumpfe Apathie). Häufig fixieren sich die akuten schreck¬ 
neurotischen Bilder; oft kombinieren sie sich mit ideogenen hysterischen 
Symptomen. Die Abtrennung der Schreckneurose von der Hysterie ist 
eine Frage der Definition: Die „Akinesia amnestica“, die „Reflexlähmung“. 


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die „Myotonoclonia trepidans“ sind psychogene Zustandsbilder. Bei der 
Hysterie finden sich alle Grade der Lähmung von der leichten, eben noch 
dynamometrisch nachweisbaren Parese bis zur absoluten schlaffen Läh¬ 
mung mit vasoparalytischen und trophischen Begleitsymptomen. Die 
tiefe Wirkung des Psychischen auf die Körperlichkeit teilt die Hysterie mit 
der Hypnose. Die Heilung ist auf dem Wege akuter seelischer Beein¬ 
flussung möglich. Die Kriegsneurotiker sind meist unverwundet; 
die gegenteilige Behauptung Oppenheims wird durch die Erfahrungen an 
sehr großem Material absolut sicher widerlegt. Die Kriegsneurosen sind 
bei den Kriegsgefangenen, auch wenn sie schwer verschüttet waren, 
selten. Es besteht bei ihnen, namentlich da, wo Austausch nicht in Frage 
kommt, ein positiver Wille zum Gesundbleiben, weil dieses Gesundbleiben 
für sie die wichtigste Voraussetzung für die Erfüllung ihres liebsten Wun¬ 
sches, der Rückkehr in die Heimat, darstellt. 

Die Determinierung der jeweiligen Symptome der akuten 
psychogenen Zustände ist vielseitig: Fortdauer der akuten Schreckwirkun¬ 
gen, Wiederaufleben früherer neurotischer Symptome (z. B. Aphonie, 
Stottern, Tic), familiäre Anlage zu bestimmten Reaktionen, Bereitliegen 
gewisser biologisch vererbter Abwehrmechanismen im Sinne der Kraepelin- 
sehen Hysterielehre. Festhalten einer im Moment des Schreckens ein¬ 
genommenen Haltung, Verfall in offensichtliche Zustände der Hilflosigkeit, 
in Infantilismus, Puerilismus, Agrammatismus, Aufpfropfung massiver 
Symptome auf bestehende leichtere Übel, so der Taubstummheit und 
Taubheit auf alte Otitis oder organische Schwerhörigkeit, des Mutismus 
auf Stottern, Nachwirkung erst kurz vorher durchgemachter Krank¬ 
heit (Pseudotetanus nach früher durchgemachtem Tetanus), Fixation 
bestimmter Haltung nach anfänglichen Schmerzen durch Kontusion usw r . 
Dazu kommen manchmal unbestimmtere, der schon vorher bestehenden 
nervösen Erschöpfung entstammende Beschwerden, die dann mit den 
hysterischen Symptomen das Bild der sogenannten „Hysteroneurasthenie“ 
ausmachen. Symptomfixierend und variierend wirken auch ärztliche Rat¬ 
schläge und Fehldiagnosen, falsche Behandlung mit orthopädischen Ap¬ 
paraten. 

4. Die sogenannte ,, Kommotionsneurose“ bleibt außer Betracht, 
sie ist keine Neurose, sondern ein organisches Hirnleiden, dessen klinische 
Symptome sich freilich namentlich in leichten Fällen nicht immer von 
neurasthenischen und hysterischen Bildern unterscheiden lassen. Auch 
kann die organische Invalidität des Gehirns wie jeder geistige Schwäche¬ 
zustand (Imbezillität, Sklerose, Alkoholismus, beginnende Dementia 
praecox usw.) dem Auftreten psychogener Symptome den Weg bahnen. 

Die Frage der Simulation ist während des Krieges nicht öffentlich 
zu besprechen. Man geht heute in ihrer Ablehnung vielleicht eher zu weit. 

Die Prognose der kriegsneurotischen Zustände hängt hauptsächlich 
von der prämorbiden Persönlichkeit, ihrem Charakter und ihrer seelischen 


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Stellungnahme zum Kriege, vom Ort und von der Behandlung, von der 
Dauer des Krieges, der Gestaltung des Arbeitsmarktes und der Lösung 
der Renten* und Abiindungsfragen ab. Die Wege der Heilung sind 
zahlreich. Langsame und brüske Beseitigung der hysterischen Symptome, 
Einfluß der militärischen Disziplin und Autorität. Heilwirkung des 
Schreckens. Die Erfahrungen des Rückfalls. Grenzen unseres Einflusses 
bei der Frage der Wiederkehr der Dienstfähigkeit. (Vgl. meinen Aufsatz 
über Hysterie und Kriegsdienst in der Münch, med. Wschr. 1915, S. 361.) 
Notwendigkeit der Beseitigung von Dauerrenten. Abfindung oder zeitlich 
begrenzte automatisch endende Gewöhnungsrente. Der Heilwert der 
Berufsarbeit. 

Herr Hoche-Freiburg schlägt der Gesellschaft deutscher Nervenärzte 
die gleiche Resolution vor wie dem Verein für Psychiatrie am Vortage 
(s. S. 195). Die Resolution wird angenommen. 

b) Nachmittagsitzung am 22. September 1916. 

Vorsitzender: Obersteiner- Wien. 

Besprechung. — Stransky -Wien unterbreitet der gemeinsamen 
Versammlung der deutschen Psychiater und Neurologen folgende An* 
regung zur ev. Beschlußfassung: 

Unbeschadet der zurzeit erst im Stadium vorläufiger Erwägungen 
eines ganz kleinen Kreises befindlichen Aktion eines engeren Zusammen¬ 
schlusses der deutschen und österreichisch-ungarischen Psychiater bzw. 
ihrer Organisation wird es für wünschenswert erklärt, daß anstatt der 
wohl für lange Zeit ausgeschalteten, wissenschaftlich übrigens meist minder 
ergiebigen internationalen Kongresse künftighin ev. periodische wissen¬ 
schaftliche Zusammenkünfte der Psychiater und Neurologen Mittel¬ 
europas untereinander stattfinden mögen, zu welchem Behufe die nötigen 
Vorarbeiten in die Wege zu leiten bzw. die bereits im ersten Entwicklungs¬ 
stadium befindlichen nach Kräften zu fördern wären. 

Diese Anregung wurde von der Versammlung beifällig begrüßt. 

Bunnemaran-Ballenstedt (zu Protokoll gegeben, nicht vorgetragen) 
vertritt die Ansicht, daß über das besondere kriegsneurotische Problem 
keine Einigung zu erzielen ist, wenn man sich nicht vorher über die allge¬ 
meinen Daseinsprobleme ins Einvernehmen gesetzt hat. Es ist nach ß. 
ein erkenntnistheoretischer Irrtum, wenn man mit mechanischen oder 
physikalischen Vorgängen, als an sich vorhandenen, rechnet und darin 
eine zureichende Begründung für gewisse Erfahrungstatsachen sieht. 
Ebensowenig kann in den unserem Bewußtsein sich darstellenden Kom¬ 
plexen für neurotische Symptome ein zureichender Grund gesehen werden. 
Es gibt keine Erkrankungen, die nur somatogen, und auch nicht solche, 
die nur psychogen sind, sondern die Ursächlichkeit aller Lebenserscheinun¬ 
gen kann nur voll erfaßt werden, wenn man sie für somatogen und psycho- 


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gen zugleich ansieht, wenn man mit objektiv-subjektiven elementaren 
Rückbezüglichkeitsprozessen rechnet, aus denen sowohl die materiellen, 
als auch die psychischen Folgeerscheinungen abgeleitet' werden können. 
In diesen Elementarprozessen liegt aber das Abweichende bei den Neurosen 
auf der subjektiven Seite. Es besteht da eine subjektive Uberwertigkeit, 
die in bestimmten ideellen Richtungen nachzuweisen ist und in ihren 
graduellen Verschiedenheiten sich nach dem Aradtschen biologischen 
Grundgesetze richtet (wie in Nr. 5, 1916 des Neurol. Ztlbl. genauer ausge¬ 
führt ist). Im Gegensätze dazu halten wir uns für berechtigt, mit körper¬ 
lichen Erkrankungen zu rechnen, wenn wir materielle Folgeerscheinungen 
vorfinden, die dieselben von andern körperlichen Erkrankungen unter¬ 
scheidbar machen. Wir klassifizieren eben nicht danach, was ist, sondert* 
danach, was uns zunächst auffällt und was für uns in den erkennbaren 
Folgeerscheinungen den besten Unterscheidungswert besitzt. 

Röttiger-Hamburg macht auf die Verschiedenheit des zur Beob-. 
achtung gelangenden Neurosenraaterials aufmerksam, je nachdem es sich 
um Fälle handelt, die bereits eine Reihe von Lazaretten, durchwandert 
haben, oder um solche, die frisch von der Front bzw. nach Beginn ihrer 
Erkrankung ankommen. Bei den ersteren, die dann auch zum großen 
Teil schon Hypnose, elektrische Ströme .und anderes ohne Erfolg über¬ 
standen, sind weitere therapeutische Versuche meist zwecklos; für sie wird 
voraussichtlich erst der herannahende Friedensschluß Besserung bringen. 
Eine HeilungszifTer von fast 100% dagegen erreichte B. bei den seiner 
Lazarettabteilung zugehenden frischen Fällen von Neurosen, besonders 
Hysterien, und zwar (Jurch verschiedenste therapeutische Maßnahmen, 
die großenteils prophylaktisch einer festen Fixierung der beginnnden 
hysterischen Symptome entgegenarbeiten. Bei allen therapeutischen Ma߬ 
nahmen liegt die Wirksamkeit in der suggestiven Wirkung des Arztes und 
der Umwelt. Bezüglich der Schreckneurosen und der Reflextrophoneurosen 
nähert sich B. dem Standpunkt Oppenheims ; er hält ihre Symptome nicht 
für hysterisch, gibt aber zu, daß sie beim Abklingen allmählich von hysteri¬ 
scher Fixierung abgelöst werden können. Die hysterischen Sensibilitäts¬ 
und Gesichtsfeldstörungen betrachtet er nach seiner nunmehr 22jährigen 
Erfahrung als größtenteils durch die ärztliche Untersuchung erzeugt. 
B. selbst findet sie trotz darauf gerichteter Untersuchung, allerdings unter 
vorbeugenden Suggestionen, selbst bei hysterischen Mono- und Paraplegien, 
niemals mehr. 

Aau/mann-Mannheim-Ludwigshafen betont, daß er die Behandlung 
der motorischen Reiz- und Ausfallerscheinungen mittels der Methode 
der militärischen Willensüberwältigung unter. Unterstützung durch den 
elektrischen Strom (vgl. Münch, med. Wschr., feldärztl. Beilage 1916, 22) 
ausschließlich bei veralteten Fällen anwendet. In frischen. Fällen genügen 
die konservativen Methoden bei richtiger Anwendung fast immer. Die 
Hartnäckigkeit der verbummelten Fälle erhellt aus der Feststellung von 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII- 2/3. 16 


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Wilmanns, wonach 71 % der ein Jahr vorher entlassenen Kranken mit 
psychogenen motorischen Störungen bei der Nachprüfung ungebessert 
waren. Zur Beseitigung des Tremors benötigt K. selten mehr als % Stunde, 
meist weniger, und auch während dieser Zeit wird nur wenig elektrisiert, 
mehr mit energischer Wortsuggestion gearbeitet; er benutzt übrigens bei 
dem Tremor nicht mehr die labile Behandlung, vielmehr setzt er die Elek¬ 
troden auf einen der bekannten Nervenreizpunkte, je nach Lage des Falles, 
und immobilisiert das zitternde Glied durch den tetanisierenden Strom. 
Oft ist ein allgemeiner Tremor von einem Punkt aus zum Schwinden zu 
bringen. Über Rheostatenstärke 7 geht er bei Benutzung des Wechsel¬ 
stroms des Erlanger Pantostaten so gut wie nie hinaus (außer bei peri¬ 
pheren Anästhesien), und das ist eine Stromstärke, die sehr wohl zu er¬ 
tragen ist. Selbstverständlich dürfen die Elektroden nicht an differenten 
Stellen aufgesetzt werden. Die Rezidive der Tremores und Tics, die be¬ 
sonders gern auf akustische Reize folgen, sind nur sehr selten Dauerrezidive, 
öfters sieht man nach Beseitigung groben psychogenen Zitterns einen 
feinen Tremor; die Anamnese solcher Fälle ergibt meist, daß die Kranken 
schon früher bei Aufregungen bzw. Anstrengungen etwas gezittert hatten. — 
Eine besonders wichtige Rolle spielt die militärische Willensüberwältigung 
bei den Dysbasien bzw. Abasien. Auch hierbei wird die elektrische Bürste 
nur relativ spärlich gebraucht und der Hauptwert auf die für jedenFall 
vorher genau überlegten Frei- und Gehübungen nach scharfem (aber nicht 
grobem!) militärischem Kommando gelegt. Dabei braucht man meist 
mehr als y 4 Stunde, oft bis zu einer Stunde, selten länger. Von „stunden¬ 
langem Faradisieren“, das manche als charakteristisch für K. s Vorgehen 
angeben, kann also keine Rede sein. Ausführliches über seine bisherigen 
Erfahrungen wird K. in der Münch, med. Wschr. veröffentlichen. 

Schüller- Wien schlägt bezüglich der Begriffsbestimmung der „Rücken¬ 
markserschütterung“ vor, als „Commotio spinalis“ — analog der Com- 
motio cerebri — nur das der Gewalteinwirkung unmittelbar folgende Zu¬ 
standsbild (Phase des Schocks) zu bezeichnen. In den späteren Stadien 
handelt es sich entweder um Neurosen nach Trauma der Wirbelsäule oder 
um Mischformen von funktionellen mit organischen Symptomen (Reflex¬ 
anomalien, Veränderungen der elektrischen Erregbarkeit). Letztere Formen 
wären nach Analogie mit der Contusio cerebri als „Contusio spinalis“ zu 
bezeichnen. Als anatomisches Substrat der Contusio spinalis kommen 
zweierlei Veränderungen in Betracht, nämlich das ödem der Medulla 
(Borchard) und zirkumskripte Liquoransammlungen ( Ranzi und Marbxirg), 
während Blutungen (nach Borchard) meist fehlen. In allen hierher ge¬ 
hörigen Fällen kommt die Lumbalpunktion als diagnostisches und thera¬ 
peutisches Hilfsmittel in Betracht. Sch. erwähnt ferner die von ihm auf 
der Abteilung Redlichs gesehenen Röntgenbefunde von Spondylitis de- 
formans bei zahlreichen Fällen von Contusio spinalis und verweist dies¬ 
bezüglich auf eine bevorstehende Publikation von Kreutfuchs und Redlieh. 


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Es wäre übrigens möglich, daß durch weitere Untersuchungen der Wirbel¬ 
säule von Kriegsteilnehmern, die niemals ein akutes Trauma der Wirbel¬ 
säule erlitten haben, eine Spondylitis deformans festgestellt werden könnte, 
da ein großer Teil der Kriegsteilnehmer chronischer Überbelastung der 
Wirbelsäule ausgesetzt ist. 

Mörchen- Wiesbaden: In 1% Jahren hat M. als Lagerarzt des Darm¬ 
städter Kriegsgefangenenlagers unter mehr als 60 000 französischen Ge¬ 
fangenen 8 Fälle gesehen, die zur „traumatischen Neurose“ gerechnet 
werden können. Ein großer Teil der Gefangenen ist direkt aus schwerstem 
Trommelfeuer bei Verdun ins Lager gekommen. Es steht fest, daß die 
Leute in zahlreichen Fällen schwere somatische und psychische Kom- 
motionsschädigungen erlitten haben. Diese Zustände, die wir „primären 
Innervationsschock“ nennen (Münch, med. Wschr. 33, 1916 und Mtschr. 
f. Psych. u. Neurol. 1916) , sind aber bei und unmittelbar nach der Ge¬ 
fangennahme abgeheilt. In der Gefangenschaft fehlen die psychischen 
Bedingungen für Konservierung des primären Innervationsschocks oder 
die Entwicklung eines „sekundären Innervationsschocks“. Wir haben uns 
in den genannten Zeitschriften über die aus psychologischer Betrachtungs¬ 
weise sich ergebenden Gründe für das Fehlen des sekundären Innervations¬ 
schocks bei Gefangenen eingehend geäußert und nach Ausschluß aller 
organisch-nervösen Möglichkeiten in dem durch die Gefangennahme be¬ 
dingten „Entlastungsgefühl“ den Mächtigsten, direkt therapeutisch wirken¬ 
den Faktor gefunden. Die Gefangenenbeobachtungen geben uns in viel¬ 
facher Hinsicht Aufschluß über das Wesen der nervösen Kriegsschädigun¬ 
gen, vor allem ihrer fixierten Formen. Eis handelt sich zum Teil um Ana¬ 
logien zu posthypnotischen Suggestionsvrirkungen. Hier liegt eine 
psychische (nicht psychogene) Blockierung bestimmter psychomotori¬ 
scher und psychosensibler Mechanismen, meist mit Beziehung auf eine 
ganze Funktionseinheit (Arm, Bein) vor. Die andern Formen des sekun¬ 
dären Innervationsschocks stellen aber unseres Erachtens individuelle 
psychotische Reaktionen auf den erlittenen Unfall vor, wobei psychogene 
Einflüsse bewußt und unbewußt ^Verdrängung)) eine große Rolle spielen. 
Wir unterscheiden ja nach der individuellen Anlage hysterische, katatone 
und einfach neurasthenisch-depressive Reaktionen. Auch hinsichtlich 
der Prophylaxe dieser Zustände geben uns die Gefangenenbeobachtungen 
Mächtige Hinweise. Wenn wir feststellen konnten, welche äußere Um¬ 
stände und psychische Bedingtheiten bei Gefangenen die Fixierung oder 
Spätentwicklung von Innervationsschock verhindern, so ergeben sich 
daraus von selbst die Maßnahmen, die bei Nichtgefangenen prophylaktisch 
zu treffen sind. Das Gleiche gilt in vieler Beziehung von der Therapie 
dieser häufig verkannten und falsch behandelten Zustände. Die Prognose 
ist in .manchen Fällen mit schwerer individueller Disposition hysterischer 
oder katatoner Art sicher ungünstig; zahlreiche andere Fälle aber, so hart¬ 
näckig sie erscheinen, sollten nicht vor dem Kriegsende prognostisch de- 

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finitiv ungünstig beurteilt werden, weil mit jenem ein therapeutisch viel¬ 
versprechender Faktor in Rechnung steht. Zu frühzeitig abschließende 
Dienstunfähigkeits- und Rentenbegutachtungen können die Prognose an 
sich noch gutartiger Fälle einschneidend und dauernd verschlechtern. 
Eine Aufklärung nicht nur der Ärztewelt, vor allem der mit der militäri¬ 
schen Begutachtung und Behandlung beschäftigten, sondern bis zu einem 
gewissen Grade au*'h des Publikums erscheint dringend notwendig. 

./oloaics-Dresden: Neurosen sind offenbar in den Heimatiazaretten 
absolut häufiger als im Felde. Die in der Heimat an Neurose Erkrankten 
rekrutieren sich aus drei Gruppen: den Felderkrankungen, den nervösen 
Erschöpfungszuständen, den unter der Diagnose Verschüttung und Granat¬ 
explosionsschock eingelieferten psychisch akut Geschädigten und den 
Halbsimulanten. Für alle bedeutet der Abtransport in die Heimat einen 
Eingriff von umstimmender Bedeutung, der die Symptome erst manifest 
macht. Die in den besonderen Verhältnissen des Stellungskrieges be¬ 
gründete ,.Bereitschaft zur Neurose“ bildet den breiten, fruchtbaren Boden 
für die nervösen Erkrankungen. Das Schicksal der Erkrankung ist, wie 
bei den chirurgischen Kriegsverletzungen, wesentlich abhängig von der 
ersten Versorgung. Daher ist eine Behandlung möglichst bei andern 
Formationen und möglichst mit allen Mitteln anzustreben. 

P. Förster- Breslau: Bei der Frage nach dem Wesen der Symptome 
bei den Kriegsneurosen sind zwei Punkte scharf zu trennen, erstens, welche 
Ursachen erzeugen primär im Einzelfalle die jeweiligen Symptome, und 
zweitens, welcher Faktor führt zur Fixierung der Erscheinungen, die bei 
nicht neurotischen Individuen mehr oder weniger rasch wieder ver¬ 
schwinden. Die Ursachen für die Entstehung sind sehr mannigfaltige, 
somatische und psychische: erstere sind ihrerseits wieder unendlich mannig¬ 
faltig: Trauma. Infektionskrankheiten, Ermüdung, alle möglichen organi¬ 
schen Erkrankungen des Nervensystems, Ischias, Kehlkopfkatarrh. Blasen¬ 
leiden usw. Von den Symptomen, die durch sie primär erzeugt werden, 
wird das eine oder andere funktionell fixiert; ein großer Teil ist primär 
psychisch bedingt, auf den Schreck folgt reflektorisch Zittern, Stimm¬ 
verlust, Urinabgang usw. Aus der ungeheuren Mannigfaltigkeit der pri¬ 
mären Ursachen folgt die ungeheure Mannigfaltigkeit der Symptome, 
folgen die vielen bunten Bilder, die zum Teil ganz neu sind. Welcher 
Faktor führt nun zur Fixation der Erscheinungen? In der Fixation liegt 
erst das Pathologische, spezifisch Neurotische. Es ist ein psychischer 
Faktor, welcher fixiert ; man hat die Begehrungsvorstellung, die Furcht 
vor dem Schützengraben u. a. herangezogen. So bewußt ist der fixierende 
psychische Vorgang aber nicht. Höchstens wirken diese Vorstellungen 
auslösend für den eigentlichen fixierenden Faktor, denn er ist ein Affekt; 
ich habe dieselbe Auffassung wie Kraepelin, ein unbewußter, phylogenetisch 
immanenter Instinkt — Trieb zur Selbsterhaltung, zur Erlangung von 
Vorteilen usw. In den Dienst dieses Instinktes treten die Krankheitser- 


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scheinungen, richtiger gesagt, er hält sie fest, und erzeugt sie immer da 
wieder, wo es zweckmäßig ist; charakteristisch ist auf der einen Seite die 
enorme Paratschaft der Symptome im Dienste des Instinktes, wie durch 
Druck auf einen elektrischen Knopf springen die Symptome an. Aber sie 
verschwinden auch anderseits dann nur dadurch, daß Umstände auftreten, 
unter denen das momentane Aufgeben zweckmäßiger ist. Letzteres sehen 
wir besonders bei der Therapie, Übertrumpfung durch starken Schmerz, 
durch Abstinenzkur (Binswanger), Urlaubsverweigerung usw. 

Querwei-Leipzig: Nach den Erfahrungen bei den Friedensunfall¬ 
verletzten halte ich den Krankheitsbegriff der traumatischen Neurosen 
für unzweckmäßig und verwirrend. Der Vergleich der Kriegsneurosen mit 
denen der Friedensunfallverletzten ist zweckmäßig, da wir hier über ein 
abgeschlossenes Material verfügen. Tatsächlich findet man bei den Unfall¬ 
verletzten mit funktionell nervösen Störungen folgende 3 Gruppen, die 
zur Annahme von Neurosen führen: 1. Intern chirurgische Krankheiten 
mit lebhaften subjektiven Erscheinungen, 2. organische Nervenkrank¬ 
heiten, darunter speziell Kopfverletzungen mit unsicherem organischen 
Befund und vorwiegenden subjektiven Beschwerden, 3. echte Neurosen. 
Ihre traumatische Entstehung ist meist nicht einfach und eindeutig, aber 
nicht zu bezweifeln; auch eine psychotraumatische Entstehung im Sinne 
des Herrn Oppenheim halte ich zwar nicht für häufig, aber doch für gegeben. 
Alle drei werden kompliziert durch die normal psychologische Einwirkung 
äußerer Umstände, z. B. der Entschädigungspflicht der Betriebsunfälle, 
die aber nicht nur als Begehrungsvorstellung eine verständliche Reaktion 
hervorruft und psychogen krankmachend wirkt, weil und soweit sie mit 
Krankheitszuständen zusammentrifft. Ein reines isoliertes Krankheitsbild, 
das lediglich die Folgen der normalen Unfallreaktion darstellt, gibt es nicht. 
Die Kombination derselben mit den verschiedenen Krankheitsarten ergibt 
relativ charakteristische Bilder, am meisten mit den echten Neurosen, 
zumal bei Psychopathen und konstitutionell Hysterischen infolge der 
Wesensverwandtschaft. Keines dieser Bilder ist aber an sich spezifisch und 
erschöpfend. Auch die Kriegsneurosen zeigen eine gleichartige, wenn auch 
im einzelnen abweichende und eigenartige Mischung von Krankheits¬ 
zuständen mit den Erscheinungen einer psychologischen Reaktion auf 
besondere äußere Verhältnisse. Das wird außer sonstigen Erfahrungen 
besonders bewiesen durch die Notwendigkeit einer nicht nur medizinischen, 
sondern zugleich psychologischen, pädagogischen, militärischen, recht¬ 
lichen und sozialen Behandlung. Auffallend gegenüber den Friedensunfall¬ 
verletzten ist das häufige und überaus massive Auftreten sehr ausge¬ 
sprochener Hysterien, das vielleicht zusammenhängt mit der Häufigkeit 
und Intensität psychotraumatisch wirkender Traumen einer- mit der 
besonderen Bedeutung der psychogen wirkenden Faktoren anderseits. 
Beachtenswert scheint mir aber doch, daß wir nach den Friedenserfahrun-, 
.gen dringend mit der Möglichkeit organischer Komplikationen zu rechnen 


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210 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

haben. Die Lehre von der traumatischen Neurose ist keine rein medizinisch 
wissenschaftliche Frage. Der Begriff der traumatischen Neurosen könne 
also höchstens als äußerlicher Sammelbegriff weiter behalten werden, wie 
das Herr Oppenheim dankenswerterweise selbst jetzt anerkennt; am besten 
ist es, ihn ganz fallen zu lassen. 

Wollenberg- Straßburg: Inbezug auf die Hysterie stehe ich auf dem 
Standpunkte, den Herr Gaupp eingenommen hat. Zu den Wirkungen der 
akuten Emotion kommt die der chronischen, die oft noch lange Zeit im 
Lazarett nachwirkt und einen günstigen Boden für die hypochondrische 
Verarbeitung von Mißempfindungen und auch tatsächlich bestehenden 
peripherischen Veränderungen (Angioneurosen) bildet. Diese Auffassung 
der Hysterie eröffnet so viele Möglichkeiten, daß wir auch für ungewöhn¬ 
liche Symptome eine andere Erklärung nicht brauchen. Es liegt deshalb 
meines Erachtens kein Qrund vor zu der Annahme eines neuen Momentes, 
und ich bin der Meinung, daß die Erschütterungstheorie des Herrn Oppen¬ 
heim durch die Erfahrungen über Kriegsneurosen nicht gestützt wird und 
dadurch nicht haltbarer geworden ist als die erste war. Wenn wir aber 
dieser Meinung sind, dann sollten wir auch den letzten Schritt tun und den 
Ausdruck „traumatische Neurose“, der sicher doch immer wieder mißver¬ 
standen werden wird, durch einen passenderen zu ersetzen suchen. Was die 
Therapie betrifft, so sind wir wohl darüber einig, daß jede Einseitigkeit zu 
vermeiden ist, daß insbesondere frische Fälle in Ruhe gelassen werden 
müssen. Vor allem kommt es aber darauf an, die betreffenden Kranken 
so schnell wie möglich in die richtige Umgebung zu bringen und sie nicht 
erst lange in andern Lazaretten, medikomechanischen Instituten herum¬ 
sitzen zu lassen. Hierfür kommen als besonders geeignet Behandlungs¬ 
lazarette in Betracht, wie sie in Baden bereits vorhanden sind. Bei den 
hier konzentrierten Kranken müssen dann die verschiedenen Methoden 
sorgfältig ausgewählt werden, also zunächst Ablenkung durch Arbeit, 
Wachsuggestion, weiterhin Hypnose, Überrumpelung, endlich die energi¬ 
schen elektrischen Methoden. Unter allen Umständen müssen aber diese 
energischen Eingriffe solchen Stellen Vorbehalten bleiben, die über neuro¬ 
logische und psychiatrisch hinreichend erfahrene Ärzte verfügen. — 
Durchaus erforderlich scheint es mir übrigens, die Stellung kennen zu 
lernen, welche die Sanitätsämter zu den letztgenannten Methoden ein¬ 
nehmen. 

Rumpf- Bonn: Die fast einstimmige Annahme des Antrags Hocke hat 
gezeigt, daß die Kriegsneurosen im wesentlichen der Hysterie zugerechnet 
werden und eine günstige Prognose angenommen wird. Ich brauche des¬ 
halb auf die Arbeiten von Wimmer, Nägeli, mir und meinem Assistenten 
Horn über Kapitalabflndung nicht einzugehen. Auch die Schreckneurose 
betrachte ich nur als eine Unterabteilung der Hysterie. Ich betone aber, 
daß schon Oppenheim 1889 die Mehrzahl seiner Krankheitsbilder als. 
Hysterie betrachtet hat. Von Hysterie abzutrennen sind aber meines. 


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Erachtens die Kontusions- und Kommotionsneurosen. Herr Gaupp, dem 
ich ebenso wie Wollenberg in der Auffassung der Hysterie beistimme, 
möchte die Kontusions- und Kommotionsneurosen nicht anerkennen. 
Wenn man aber darunter Schädelverletzungen oder Gehirnerschütterung 
mit nachfolgenden nervösen Symptomen versteht, so wird Herr Gaupp 
mir recht geben, daß dieselben abzutrennen sind. Ihr Verlauf kann ja 
ähnlich der Hysterie sein, ist es aber häufig nicht, indem schwerere Störun¬ 
gen nachfolgen. Die Fälle von Reflexlähmung nach peripheren Verletzun¬ 
gen rechne ich der Hysterie zu, die zu organischen Störungen hinzugetreten 
ist. Alle diese Fälle mit organischen Verletzungen bedürfen naturgemäß 
einer andern Beurteilung als die einfach hysterischen Störungen, die 
leichter ausfallen, aber in der Folge vielfach Simulationserscheinungen 
zeigen. 

L. Mann-Breslau erwähnt Fälle von Akinesia amnestica, die durchaus 
der Schilderung Oppenheims entsprechen und die sich besonders dadurch 
auszeichnen, daß bestimmte Muskelgruppen funktionell erhalten waren 
und stets von den Kranken innerviert werden konnten, während die ge¬ 
samte übrige Muskulatur ausfiel, in welcher Situation auch immer der Pat. 
beobachtet wurde. Durch diese Konstanz unterscheiden sich diese Läh¬ 
mungen prinzipiell von den hysterischen Lähmungen. Ebenso gibt es 
meines Erachtens Tremorformen, die durchaus von dem hysterischen 
Tremor abzugrenzen sind: sie zeigen eine absolute Konstanz und gleich¬ 
bleibenden Rhythmus (240 bis 300 Schwingungen in der Minute), während 
die hysterischen Tremorformen nach den jeweiligen psychischen Einflüssen 
wechseln. Ich bin mit Oppenheim durchaus der Ansicht, daß diese Fälle 
von der Hysterie abzutrennen sind (die pseudospastische Parese mit 
Tremor betrachte ich dagegen mit Nonne als ein exquisit hysterisches 
Krankheitsbild). — Zur Therapie möchte ich bemerken, daß die von 
Kaufmann empfohlene Methode von mir, wie wohl von allen Neurologen, 
von jeher im Prinzip ausgeübt wird. Das Wesen liegt in einer Kombination 
von suggestiver Übungstherapie und Schmerzerregung. Das Neue in den 
Kaufmannsche n Mitteilungen liegt in der Rigorosität und Dauer der An¬ 
wendung des elektrischen Stroms. Ich halte es für wohl möglich, daß 
dadurch in manchen Fällen besseres geleistet wird, wie mit der bisherigen 
Methode, halte jedoch die allgemeine Empfehlung für bedenklich. Beson¬ 
ders möchte ich warnen vor sehr starker Anwendung des sinusoidalen 
Stroms, wie ihn der Pantostat liefert, und möchte unter allen Umständen 
raten, nur den Induktionsstrom anzuwenden. Die Schmerzerregung kann 
mit diesem ebensoweit getrieben werden, es sind aber wegen seiner physi¬ 
kalischen Eigenschaften üble Zufälle nicht zu befürchten. Wenn in einigen 
Fällen der Exitus eingetreten ist, so wäre dieser traurige Ausgang vielleicht 
bei Anwendung des Induktionsstroms zu vermeiden gewesen. Bedenklich 
erscheint bei einer allgemeinen Empfehlung der Kaufmannschen Methode 
die naheliegende Gefahr, daß von neurologisch nicht geschulten Ärzten 


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aus d$m Erfolge dieser Therapie geschlossen wird, daß Simulation Vor¬ 
gelegen habe. Dieser Auffassung muß energisch entgegengetreten werden. 

.SeAuster-Berlin bespricht einige seltene Symptome der Neurotiker: 
Bulbuszittern, entfernt an Nystagmus erinnernd, träge Reaktion der er¬ 
weiterten Pupillen auf Lichteinfall, erhebliche Herabsetzung der Knie¬ 
reflexe; er erwähnt ferner die auf ein Glied beschränkte myotonische Nach¬ 
dauer der willkürlichen Muskelinnervation sowie schließlich eine eigen¬ 
tümliche Kontraktur der langen Fingerbeuger, welche zwar sehr an die 
hysterische Kontraktur erinnert, aber doch nicht ganz mit ihr identisch 
ist; sie tritt auf bei Weichteilverletzungen der Beugeseite und beruht 
möglicherweise auf einer direkten traumatischen Muskelreizung. Die 
Frage, ob ein völlig gesundes Nervensystem im Kriege neurotisiert werden 
könne, bejaht Sch. Bezüglich der Genese der Reflexlähmung und der 
andern psychischen Lähmungen verweist er auf seine Ausführungen im 
Neurol. Ztlbl. Schließlich betont er noch das enorm wichtige Moment 
des Habituellen auf motorischem und sensiblem Gebiet und erwähnt die 
durch Nervenverletzungen (besonders Medianusstamm) erzeugte erheb¬ 
liche allgemeine Erregbarkeitssteigerung des gesamten Nervensystems. 

K. Gohfetei'n-Frankfurt a. M. empfiehlt zur Behandlung der hysteri¬ 
schen Symptome der Soldaten die Behandlung einer Scheininjektion in 
leichtem Chloräthylrausch. Die Erfolge sind sehr gute. (Nach dem Vor¬ 
schlag von Rothmann.) Er empfiehlt weiter, den Behandelten zur Er¬ 
leichterung des Wiedereintritts ins Leben und in ihre regelmäßige Arbeit 
eine relativ größere Rente zu geben, die aber nicht als „Rente“, sondern 
als Unterstützung auf eine gewisse kurze Zeit (etwa 1 Jahr) gedacht ist. 

Afa/m-Mannheim: Die Unterbringung der Kriegsneurosen in Nerven- 
lazaretten ist zweckmäßig. Die Behandlung Kaufmanns ist nicht so 
grausam, wie es nach den Veröffentlichungen erscheint. 

Liftenstein-Nauheim bringt folgenden Antrag ein, der angenommen 

wird: 

„Mit Rücksicht auf die schlechten Heilerfolge bei Kriegsneurosen 
in den Heimatlazaretten einerseits und die günstigen Erfahrungen mit 
diesen Erkrankungen an der Front und in den Feldlazaretten anderseits 
regt die Versammlung an, im Stellungskrieg bei mobilen Formationen umi 
in der Etappe psychiatrische und neurologische Genesungsheime zu er¬ 
richten.“ 

Curschmann-Hostock : In der Diskussion der Referate ist bereits 
mehrfach hervorgehoben worden, daß ein deutlicher Unterschied sowohl 
bezüglich der Krankheitsbereitschaft und -flxierung als auch der thera¬ 
peutischen Prognose je nach psychischer Beschaffenheit, Bildung und 
ethischer Veranlagung des betroffenen Kriegsteilnehmers besteht. Wenn 
nun völlig identische schwere Einwirkungen psychischer und somatischer 
Art bei psychisch verschiedenartigen Individuen prinzipiell verschiedene 
Krankheitseffekte schaffen, so spricht das sehr gegen die materielle (re- 


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flektorische, molekulare usw.) Einwirkung und für die mehr oder weniger 
rein psychogene; es gilt dies auch für die Formen, die Oppenheim von der 
Hysterie abgrenzen möchte, die Reflexlähmungen, verschiedenartige 
Hyperkinesen, wie Tic, Torticollis u. a. m. Mein Satz wird am deut¬ 
lichsten illustriert durch das völlig differente Verhalten der Offiziere und 
der Mannschaften nach schweren Kriegstraumen. Ich habe sowohl statio¬ 
när als auch als fachmännischer Beirat stets beobachtet, daß naive grobe 
Äußerungen der Hysterie (Mutismus, schwere Tremor- und Ticformen, 
Kontrakturen usw.) bei Offizieren auch nach dem Erleben all der oft 
zitierten Granat- und Minenschocks ganz außerordentlich selten sind. Eine 
Rundfrage an eine größere Reihe von Kollegen mit ausgedehnter Offiziers¬ 
praxis bestätigte das vollauf, fast ohne Ausnahme. Auch zahlreiche Kol¬ 
legen aus dem Felde äußerten sich in demselben Sinne. Wenn aber aus¬ 
nahmsweise einmal ein Offizier erkrankt, handelt es sich stets um einen 
ausgesprochen degenerativ Belasteten. Trotzdem ist die Prognose dieser 
seltenen „Offiziershysterien“, wie meine Rundfrage und eigene Erfahrung 
erwies, durchweg viel besser als die der Mannschaft, auch ohne Hypnose 
und heroische Prozeduren. Die Mehrzahl dieser (nervös doch schwer be¬ 
lasteten) Offiziere wurde nach einigen Wochen wieder kriegsverwendungs¬ 
fähig. Das alles spricht stark gegen die Oppenheimsche Anschauung und 
für die mächtige Wirkung des von Kohnstamm zitierten Gesundheits¬ 
gewissens (mit den Komponenten des Ehrgeizes, der Selbsterhaltung usw.). 
Zu der Böttigerschen. Negierung der Wirklichkeit der hysterischen Gefühls¬ 
störungen bemerke ich, daß ich, wie Nonne und viele andere, diese These 
B. s für falsch halte. Die Realität, das primäre Vorhandensein der hysteri¬ 
schen Gefühlsstörungen läßt sich dadurch beweisen, daß man vor der 
Prüfung der Gefühlsqualitäten ganz stillschweigend die sensiblen Reflexe 
durchprüft, vor allem auch solche, die auch der „ausgepichteste“ Trauma- 
tiker nicht kennt, z. B. den sensiblen Reflex des äußeren Gehörgangs (den 
ich übrigens meines Wissens lange vor Fröschel geprüft und publiziert habe, 
1906). Fehlen die sensiblen Reflexe halbseitig ganz oder zum Teil, so wird 
das für die Realität später gefundener Gefühlsstörungen von Wichtigkeit 
sein. Weiter habe ich durch meine Prüfung der Schmerz-Blutdruckreak¬ 
tion an hysterisch analgetischen Teilen fast stets das Ausbleiben dieser 
Reaktion, d. i. dasselbe Verhalten, wie bei grob organischen Gefühlsstörun¬ 
gen, feststellen können. Nach Heilung der Analgesie wird die Blutdruck¬ 
reaktion bei Schmerzreizen dann stets positiv. Auch diese Tatsachen 
sprechen unbedingt für die Realität der hysterischen Gefühlsstörungen. 
Sie kann uns ja auch angesichts der mächtigen vasomotorischen, sekretori¬ 
schen und trophischen Störungen, die die rein psychogene Neurose be¬ 
wirken kann, gar nicht wundernehmen. In der von Oppenheim als neu be¬ 
zeichnten Beobachtung des fehlenden Hervortretens der Sehnen bei 
hysterischen Lähmungen (im Stehen) bemerke ich, daß ich ähnliches, das 
Fehlen der auxiliären Mitbewegungen (sowohl der gleichen wie der Gegen- 


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Verhandlangen psychiatrischer Vereine. 


»eite) als ein wichtiges Hysteriesymptom bei hysterisches Lähmungen 
bereits beschrieben habe (vgl. D. Ztschr. f. Nerveoheilk. 1906). Auch das 
von Oppenheim demonstrierte Phänomen des Ausfalls der Hypothenar- 
kontraktion bei Ulnarabduktion bei hysterischer Lähmung erklärt sich 
durch meine Beobachtungen. Bezüglich der Therapie bemerke ich gegen¬ 
über Böttiger, daß nicht jede Therapie gegenüber den schweren hysterischen 
Störungen (speziell den Hyperkinesen) zum Ziele führt, sondern daß die 
Hypnose einerseits, die Überrumpelung anderseits die durchaus domi¬ 
nierenden Methoden sind. Denn die Raschheit des Erfolges ist die absolute 
Conditio sine qua non. 

A achaffenburg- Köln hält mit Gaupp die Folgen von Granatkommotio- 
nen nicht für wesensgleich mit den sonstigen psychisch-nervösen Störungen 
nach Schreck und dergleichen. Es treten jedenfalls in weit höherem Grade, 
als meist bekannt ist, organische Veränderungen im Zentralnervensystem 
durch Platzen von Granaten auf, auch unabhängig von grober Verletzung 
des Schädels durch Erdmassen, Baumstämme. Ich habe dadurch, daß ich 
von Kriegsbeginn an Gelegenheit hatte, als Chefarzt eines Festungslaza¬ 
retts, dem eine Augen- und Ohrenabteilung angegliedert war, viele Fälle 
von Granatschädigung dieser Organe, zum Teil ohne nervöse Störungen 
gesehen. Dabei fanden sich fast ausnahmlos auch im Bereich des Zentral¬ 
nervensystems Erscheinungen, die nicht anders zu erklären sind wie durch 
die Annahme lokalisierter organischer Schädigungen, wenn auch der Um¬ 
fang der dadurch bedingten Funktionsstörungen glücklicherweise in 
der Regel nur sehr gering ist. Da es von Wichtigkeit schien, festzustellen, 
wodurch diese Erscheinungen entstehen, habe ich eine große Zahl von ge¬ 
sunden Soldaten in Flandern untersucht, und zw r ar die meisten schon in 
den ersten 24 Stunden nach dem Verlassen des Schützengrabens; von 
74 Untersuchten fehlten nur bei 3 unverkennbare organische . Zeichen. 
Eine Ergänzung meiner Beobachtungen durch Dr. Petssch, der nach 
schweren Granatbeschießungen die Beteiligten (Unverletzten) am Tage 
nachher und später untersuchte, ergab, daß die Erscheinungen zum Teil 
innerhalb 8 Tagen verschwinden, aber nur zum Teil, daß aber außer¬ 
dem andere erst dann zum Vorschein kamen. Wahrscheinlich handelt es 
sich um nekrotische Schädigungen durch den Luftdruck. Auf meine An¬ 
regung durch Dr. Nicol im Priesterwalde gemachte Blutprüfungen zeigten 
wenigstens, daß die CO-Vergiftung von nebensächlicher, sicher nicht 
von ausschlaggebender Bedeutung ist. — Wenn ich nun aber bei den 
Granatexplosionsfolgen organische Veränderungen annehme, so trete ich 
damit doch nicht auf die Seite Oppenheims, daß die dabei nicht eelten 
zu beobachtenden und oft. im Vordergründe des Krankheitsbildes stehen¬ 
den psychisch-nervösen Symptome auf diese zurückzuführen sind. Da¬ 
gegen spricht vor allem, daß gerade die ausgeprägtesten hysterischen 
Granatfälle im allgemeinen am wenigsten organische Symptome aufwetses^ 
Ich hielt es an dieser Stelle nur deshalb für zweckmäßig, auf diese 
organischen Symptome hinzuweisen, weil wir durch solche Beobachtu n g «* 

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endlich ein wirkliches Verständnis für die uns bisher unerklärliche soge¬ 
nannte traumatische Demenz gewinnen. — Dann möchte ich noch ein Wort 
für die nervenkranken Soldaten einlegen. Mir will es nicht in den Kopf, 
weshalb wir den Menschen, deren Nervensystem durch eine unglückliche 
Veranlagung überhaupt nicht oder nicht auf die Dauer die notwendige 
Widerstandsfähigkeit gegenüber den unerhörten Anforderungen des Krieges 
besitzt, von vornherein solche Vorwürfe machen sollen, die sich hier, und 
besonders im Verlaufe der gestrigen Besprechung, in Worten wie: Be¬ 
gehrungsvorstellungen, Rentensucht, Defekt des Gesundheitsgewissens usw. 
verdichten. Und ebensowenig kann ich mich damit einverstanden erklären, 
wenn man gegen einen Mann, der längere Zeit Frontdienst getan und seine 
Gesundheit dabei eingebüßt hat, von vornherein den Verdacht der Simu-. 
lation hegt, weil die Symptome zufälligerweise künstlich, gemacht, unge¬ 
wöhnlich sind. Niemand wird zweifeln, daß auch Schwindler und Betrüger 
in unserem Heere sind, die ihre nervösen Symptome zur Erlangung persön¬ 
licher Vorteile ausnutzen und vielleicht sogar erfinden. Wenn ich auf einen 
solchen Fall stoße, dann bin ich wirklich nicht geneigt, den Kerl mit Samt¬ 
handschuhen anzufassen. Aber ich möchte doch davor warnen, diese, nach 
meiner Erfahrung sogar recht wenig häufigen Ausnahmen mit den übrigen 
Kranken zusammenzuwerfen, bei denen die Übertreibung nur der Ausdruck 
der verkehrten, krankhaften psychischen Einstellung ist. Ich bin wirklich 
der letzte, der nicht alles aufbieten würde, um jeden so weit zu bringen, daß 
er im Rahmen seiner Kräfte seine Pflicht tun kann; aber ich glaube, man 
kann das Ziel auch erreichen, ohne in so schrofTer Weise vorzugehen, wie 
hier so warm empfohlen worden ist. Ob wir schließlich nicht auf unseren 
bisher schon eingeschlagenen Wegen das gleiche erreichen können und 
dabei weniger Gefahr laufen, die Grenzen dessen aus dem Auge zu ver¬ 
lieren, was bisher als ärztlich zulässig erschien? 

/aAofr-Hamburg betont die Wichtigkeit der genauen anamnestischen 
Erhebungen, ob wirklich eine Commotio cerebri der nervösen Schädigung 
zugrunde liegt, und erinnert an seine experimentellen histologischen Unter¬ 
suchungen, die die klinische Abgrenzung der postkommotionellen nervösen 
Schwächezustände von den übrigen Neurosen fordern. Sehr häufig finden 
sich unter den Kriegsneurosen hysterische Zustandsbilder bei früher Ge¬ 
sunden; diese bieten gute Prognose. 

Lihenstein-Nauheim nimmt Bezug auf die von ihm als Chefarzt des 
Kriegsgefangenenlagers Gießen schon im ersten Kriegsjahr festgestellte 
Tatsache des Fehlens der Granaterschütterungen bei Kriegsgefangenen. 
Auch die Herzneurosen sind bei ihnen sehr selten. Erscheinungen von 
Angstzuständen am Herzen, Herzunruhe usw. wurden von Kriegsgefange¬ 
nen zum erstenmal gemeldet, als sich mit dieser Meldung ein Zweck ver¬ 
binden ließ: nämlich bei der Ausmusterung durch Schweizer Ärzte für 
einen Kuraufenthalt in der Schweiz. Die Herzneurosen der Soldaten 
nehmen ebenso wie der allgemeine Nervenschook mit der Entfernung von 
der Front, nach den Kriegs- und Reservelazaretten hin zu und kommen 


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Verhandlungen psychiatrischer ^Vereine. 


vielfach in den letzteren erst zur Entwicklung. Bei der Truppe und im 
Feldlazarett heilen sie leichter. 

Pappenheim-Wien führt an, daß er in den letzten 14 Tagen bei mehr 
als 50, zum Teil seit Monaten in Spitälern befindlichen, zum Teil schon 
im Rentenbezuge stehenden Kranken in kürzester Zeit teils durch bloßes 
Zureden — dies namentlich bei Offizieren —, teils durch andere Maßnahmen 
— Franklinisation, Isolierung, faradischen Pinsel, von Zivilärzten ange¬ 
wandt und oft in y 4 Minute wirksam — die auffälligen Symptome — Myo- 
tonoklonie, Gangstörungen, Halsmuskelkrämpfe, Stummheit usw. — be¬ 
seitigt hat. Zu erwägen ist, ob nicht die strengere Behandlung prophylak¬ 
tisch wirksamer ist, d. h. Rückfälle eher verhütet als die schonenderen 
Behandlungsmaßnahmen. Bei russischen Kriegsgefangenen, von denen P. 
einige Zeit alle in Österreich-Ungarn zum Invalidenaustausch bestimmten 
zu sehen bekam, fand er nicht selten geringen organischen Läsionen über¬ 
lagerte funktionelle Störungen, die teilweise wohl mit dem Wunsche nach 
Austausch zusammenhingen, dagegen nur ganz ausnahmweise schwere 
Astasie, Abasie und Myotonoklonie, die aber durch Faradisation behoben 
wurden, also auch psychisch beeinflußbar waren. 

Setge-Partenkirchen schließt sich den Ausführungen des Herrn Jolo- 
wicz über die Erscheinungsformen sowie die Behandlung der Kriegs¬ 
neurosen im Felde völlig an. Bemerkenswert erscheint ihm, daß bei 
Kriegsgefangenen kurz nach dem Gefechte schwere psychoneurotische 
Störungen nicht zu beobachten sind; ebenso konnte S. bei Zivileinwohnern 
französischer Ortschaften, die häufigen Beschießungen ausgesetzt sind, 
Kriegsneurosen nicht feststellen. £j v* 

Fortsetzung der Besprechung und^Schlußworte am 
23. September 1916. 

Trömner -Hamburg erinnert, obwohl er in der traumatischen Neurose 
keine klinische Einheit sehen kann, doch an zwei weder der Neurasthenie 
noch der Hysterie zuzurechnende epitraumatische Zustände, 1. an die 
Folgezustände von direkter Concussio cerebri, welche er vor 8 Jahren als 
traumatische Hirnschwäche umgrenzte (Merkunfähigkeit, Indolenz, In¬ 
toleranz gegen Nervengifte und Insuffizient bei höheren psychischen 
Leistungen), und 2. an die nicht selten traumatisch, rheumatisch oder 
postinfektiös entstehenden motorischen Zwangszustände (Tics, Torti- 
collis). Beide können sich in mannigfacher Weise mit sekundären nervösen 
Folgen komplizieren und oft schwer trennbar sein. Bezüglich der Reflex¬ 
lähmungen sieht T. in Lähmungen, welche mit dem Maße der auch sonst 
bekannten reflektorischen Muskelatrophien in erheblichem Mißverhältnis 
stehen, psychogene Auflagerungen. Die von Mann angegebenen Merk¬ 
male amnestischer Akinesien kann T. nicht als solche ansehen, welche 
hysterischen Lähmungen nicht gelegentlich zukommen. 


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.Liefer/neister-Tübingen: 1. Es ist von dem Absinken des Kriegstonus 
der Psyche bei der Überführung ins Heimatgebiet gesprochen worden. 
Wir sehen m diesem Absinken des Tonus einen Teil der Erholung und sind 
froh darüber. Wir müssen aber verlangen, daß diese Fälle von Kriegs¬ 
neurosen auf die Nervenstationen verlegt werden, weil sie in diesem „kriti¬ 
schen Stadium der Rekonvaleszenz“ besonders psychisch labil und un¬ 
günstigen Suggestionen zugänglich sind. Auf Nervenstationen heilen die 
frischen Fälle meist rasch aus, wenn man zur rechten Zeit nach der Ruhe¬ 
behandlung die Übungsbehandlung einsetzen läßt. 2. Zur Therapie: Der 
maßgebende therapeutische Faktor bei den Kriegsneurosen ist die Energie 
des Arztes. Die funktionellen Neurosen sind heilbar, also müssen sie 
geheilt werden. Grundsatz: „Fortiter“, ja „fortissime in re“, „suaviter“, 
aber militärisch „in modo“. Direkte Suggestion erweckt im Kranken 
leicht konträre Autosuggestionen, die wir dann unter Umständen mit 
heroischen Mitteln bekämpfen müssen, während für die indirekte Sug¬ 
gestion ein weites Feld der Betätigung bleibt, wenn der Arzt neben Energie 
auch die nötige Phantasie besitzt, an die listenreiche Kriegsneurosenseele 
im Einzelfalle anzupochen. Es gibt ja tausend Möglichkeiten. 3. Die 
schlechten Resultate bezüglich der Dauer der Heilung und Dienst¬ 
brauchbarkeit lassen sich durch guten Konnex zwischen Lazarettarzt 
und Truppenteil wesentlich verbessern. Wo dieser Konnex hergestellt 
ist, sind Dauerheilungen und Kriegsverwendungsfähigkeit häufig. 

Stransky-Wien möchte, wie schon bei einer früheren Gelegenheit, 
einen Gesichtspunkt hervorheben, der ihm in dieser Aussprache bis jetzt 
zu kurz gekommen zu sein scheint: die Bedeutung des inneren Krankheits¬ 
konsenses. Insbesondere der Feldarzt kennt diese Fälle: es gibt neuro- 
pathische Individuen, die unter dem suggestiven Einfluß des „Kriegstonus“, 
wie man es treffend genannt hat, sich zusammennehmen, oft Hervorragen¬ 
des leisten, bis dann endlich, nicht selten durch irgendein äußeres Moment 
gebahnt, der dem Außenstehenden alsdann unerwartet scheinende Zu¬ 
sammenbruch erfolgt, unter Hervorbrechen eines Heeres nervöser Symp¬ 
tome: der Dampf im überhitzten Topf, dessen normales Ventil verschlossen 
gehalten blieb, bricht sich ein „falsches“ Ventil; man denke an das, was 
man den richtigen Kern der sogenannten „Verdrängungslehre“ nennen 
könnte. Hierher gehört auch ein anderes Zusammentreffen: Der Soldat, 
zumal aber der Offizier im Felde draußen, unterdrückt oft alles Krank¬ 
heitsgefühl bei den zahllosen Erkrankungen, an denen es im Schützen¬ 
graben zumal nicht mangelt (man denke etwa nur an die Feldneuritis, an 
die Tibialgie usw.), eben wieder aus Scham -und Ehrgefühl bzw. mit Hilfe 
der gesteigerten Energie, die aus dem Kriegstonus erwächst; erfolgt dann 
aber schließlich doch der innere Krankheitskonsens bei ihm, dann werden 
sich sozusagen kompensatorisch oft neurotische Symptome einstellen, als 
quasi Reaktionserscheinungen auf die frühere Überenergie, welche dann 
den organischen Kern der Erkrankung überlagern. — Diese dem Feldarzt 


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V< 


psychiatrischer Vereine. 


sicherlich nicht anbekannten Dinge erklären vielleicht einen Teil dessen, 
worüber wir uns hier auseinandersetzen: die organischen Befunde bei vielen 
unserer Neurotischen. — Wir dürfen, diese Binsenwahrheit wäre vielleicht 
wieder zu unterstreichen, nicht die Verschiedenheiten des Materials ver¬ 
gessen, die manches Widersprechende erklären. So ist auch das Material, 
das in Deutschland zur Beobachtung gelangt, sicherlich nicht restlos ver¬ 
gleichbar mit dem ethnographisch und auch psychologisch so mannig¬ 
fachen Material Österreich-Ungarns. Zum Beispiel sieht St. in Wien gar 
nicht selten Alkoholhysterie, die Nonne in Hamburg vermißt. Es folgt 
daraus, daß auch die therapeutischen Grundsätze elastischer sein müssen, 
nicht starr sein dürfen. Als Su vor fast i y z Jahren nach seiner Rückkehr 
vom Felde den Gedanken aussprach, daß neurologisch-psychiatrische Be- 
obachtungs- bzw. Genesungsstationen nahe der Front zweckmäßig wären 
(im Verein f. Psych. u. Neur. in Wien), fand er damit so wenig Beifall, 
daß er die Publikation dieser Anregung unterließ: ein Jahr später hat dann 
im Anschluß an ein Referat Redlich s derselbe Verein sich dafür ausge¬ 
sprochen. und auch in unserer heutigen Versammlung ist wohl die com¬ 
munis opinio die nämliche. So wandeln sich die Ansichten, und sie werden 
sich wohl auch bezüglich der Therapie noch mannigfach ändern. Eines 
aber mochte Ar. besonders betonen: daß sich der Arzt bei der Behandlung 
der Fälle, welche therapeutischen Maßnahmen immer die besondere 
Situation zweckmäßig erscheinen lassen möge, als Kardinalgesichtspunkt 
in dieser ernsten Zeit nicht in erster Linie die Wohlfahrt des Einzelfalles 
vor Augen halten soll, sondern das Wohl unserer so eng verbündeten Vater¬ 
länder und die Schlagfertigkeit unserer verbündeten Heere! 

.-I. Aarfcö-Budapest verwahrt sich dagegen, je behauptet zu haben, 
daß der Hintergrund aller Kriegsneurosen in organischen Veränderungen 
zu suchen wäre. Überzeugt ist er von dem materiellen Hintergründe der 
sogenannten Granatfernwirkungen. Das beweisen auch Sektionen. Seine 
Fälle von Granatfemwirkungen heilen und gehen zur Front zurück. Werden 
solche Falle als Hysterien, traumatische Neurosen bezeichnet, so schafft 
man lYrseverierende. Letztere sind mit welcher Methode immer zu heilen. 
Er selbst ubt in solchen Fallen Aufklärung. Überredung. Die verschieden¬ 
sten Methoden sind gut. aber keine einzige hilft im Anfang der Erkrankung 
{Mohr. K aut mann ■: warum ? Wenn sie Hysterien wären, so müßten sie 
von Anfang an suggestiv zu heilen sein, so wie die Friedenshysterie. 

Yoß- Düsseldorf: Das VII. Armeekorps hat seit 1 Y Jahren in Kre¬ 
feld eine Spezialklinik für Nervenkranke eröffnet, an der ich, daneben 
auch als fachärztlicher Beirat, tätig bin. Die Klinik steht in enger Wechsel¬ 
beziehung mit der Düsseldorfer chirurgischen Klinik, deren Leiter, Geheim¬ 
rat iYitzel. uns zahlreiche interessante Falle < Schädelverletzte!) zur Beob¬ 
achtung und Nachbehandlung überweist. Zu den prinzipiellen Fragen 
ubergehend, bemerke ich. daß nach meiner Überzeugung die Schreckneurose 
als primäre hysterische Reaktion aufzufassen ist. die meist mono- oder 


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oligosymptomatisch auftritt. An der traumatischen Neurose halte ich 
fest; sie umfaßt einen durch die Mischung hysterischer und neurasthenischer 
Erscheinungen mit charakteristischen psychischen Störungen gekenn¬ 
zeichneten Symptomenkomplex. Die nervösen Beschwerden nach Schädel- 
verletzungen möchte ich aus den traumatischen Neurosen ausschalten. 
Wir können das Vorhandensein organischer Schädigungen kaum je mit 
völliger Sicherheit ausschließen, darauf weisen die häufig nachzuweisenden 
Reflexstörungen, die Röntgenbilder u. a. hin. Unter die wichtigen Zeichen 
organischer Störungen auf motorischem Gebiet gehört nach meiner Er¬ 
fahrung der Aossoltmo-Reflex. Das Verhalten der Sensibilitätsstörungen 
erleichtert die Unterscheidung organischer und funktioneller Zustände nur 
wenig; das scheint mir aus den demonstrierten Tafeln hervorzugehen. Zum 
Kapitel der Therapie: Die Goldsteinsche Äthermethode lehne ich für mich 
ab. Auch wenn es eine pia fraus ist, ziehe ich den geraden Weg der Wahr¬ 
heit vor. Kaufmanns energische Behandlung ist sicher für einzelne Fälle 
geeignet, nur glaube ich, daß sie eine vorsichtige Auswahl verlangt, die 
von nicht einwandfrei vorgebildeten Ärzten kaum erwartet werden kann. 
Die Hypnose leistet Vorzügliches; nur stehe ich persönlich auf dem Stand¬ 
punkte, daß sie nicht zu, wenn auch nur ganz vorübergehender, Hervor- 
rufung von Krankheitszuständen benutzt werden sollte. Die Methode der 
Wahl ist die Arbeitsbehandlung, und zwar durch Heranziehung der Nerven¬ 
kranken zur Tätigkeit in ihrem eigenen Beruf und gegen entsprechendes 
Entgelt. Ich weise auf die Ausgestaltung der Arbeitstherapie durch das 
Sanitätsamt des VII. Armeekorps durch die Schaffung von Arbeitsver¬ 
mittlungsstellen usw. 

Saenger- Hamburg konstatiert mit Freude, daß Oppenheim seinen 
Standpunkt schon in einigen Punkten nicht mehr so scharf vertreten hat 
wie nach Erscheinen seiner jüngsten Monographie. S. hat die ganze Ent¬ 
wicklung der traumatischen Neurosenfrage von Anfang an mitgemacht. 
Er erinnert an die schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 
gemachten Einwendungen von Friedrich Schultze, Jolly, Eisenlohr und 
Mendel. Daß Oppenheim jezt wieder auf seinen alten Standpunkt zurück¬ 
gekommen ist, erklärt S. durch den Umstand, daß O. sich viele Jahre, wie 
er selbst sagte, mit den Unfallnervenerkrankungen nicht mehr befaßt hat. 
Die in der Diskussion zutage getretenen Erfahrungen der Militärärzte 
(an der Front, in den Etappen und Gefangenenlagern), die überraschend 
schnellen Heilungsresultate mittels der Hypnose oder des Verfahrens von 
Kaufmann, Jendrassik u. a. sprechen überzeugend für die rein funktionelle 
Natur auch der lange bestehenden Kriegsneurosen und gegen die von O. 
aufgestellte materielle Erschütterungstheorie. S. hofft, daß O. unter dem 
Eindruck des sich immer mehr häufenden Tatsachenmaterials seinen 
Standpunkt aufgeben wird, analog wie einst Michel und Pflüger in den von 
ihnen jahrelang vertretenen Lehren, deren Unrichtigkeit sie schließlich 
selbst zugegeben haben. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Simons-Berlin: Wer lange genug psychogen akinetisch ist (schlaffe 
Lähmung, Kontraktur), bekommt eine mehr oder minder starke Knochen¬ 
atrophie. Sie unterscheidet sich gar nicht oder nur unwesentlich von der 
durch passive Ruhigstellung (z. B.Fixationsverbände), der bei peripheren 
Lähmungen oder traumatischen Hemiplegien (Vorzeigen entsprechender 
Röntgenaufnahmen). Die Knochen Veränderungen bei den genannten 
psychogenen Zuständen ist ein reine Inaktivitätsatrophie, ebenso wie die 
starke Muskelatrophie, die man nach längerer psychogener Akinesie sieht. 
Die Röntgenbefunde werden an anderer Stelle genauer beschrieben. Bei 
Schußverletzungen der Arme oder Beine pfropft sich die psychogene Kon¬ 
traktur oder Lähmung meist auf die Seite der Verletzung. Wer unverletzt 
ist (z. B. uneingezogener Landsturm, Verschüttete), bekommt, wie S. 
schon vor einem Jahre betont hat, meist die Lähmung der Kontraktur 
links. Von 22 Rechtshändern bekamen z. B. 4 eine Rechts-,18 eine Links¬ 
lähmung. Ob die Verhältnisse überall so liegen, weiß S. nicht; in seinen 
Kriegserfahrungen war jedenfalls das Überwiegen der natürlich unbe¬ 
wußten oder instinktiven Linkswahl bei Unverletzten bemerkenswert. Die 
Abschwächung der Reflexe an den Beinen, die Schuster bei der Hysterie 
fand, sah S. nur bei organischen Veränderungen, besonders nach der so 
häufigen, unbemerkt überstandenen leichten Polyneuritis und Poliomye¬ 
litis. S. sah erst vor wenigen Tagen auf einer Station für Ruhrkranke 
mehrmals bei Genesenden Fehlen oder Differenz der Achillesreflexe, Druck¬ 
schmerz der Waden und Nervenstämme; Trägheit der Pupillenreaktion, 
die Schuster sah, wurde mehrfach gesehen, aber so lange nicht im dunklen 
Raume oder bei genügender psychischer Ablenkung untersucht wurde. 
Wenige Male wurde schnellster, kleinschlägiger Klonus der Recti intemi 
beobachtet. Die Augen flogen so schnell wie Libellen gegeneinander. Bei 
Offizieren sah S. wie auch H. Curschmann niemals Taubheit oder Blind¬ 
heit, sehr selten psychogene Lähmungen und Kontrakturen, meist Pseudo¬ 
ischias, Pseudolumbago. Nach Äthernarkose schwand in keinem Falle 
eine psychogene Lähmung. S. warnt vor stundenlanger Faradisation, die 
von einzelnen zum Teil noch durch „roborierende“ Maßnahmen (Verlegen 
auf den psychiatrischen Wachsaal) verstärkt wird. Der Einfluß auf die 
nicht ärztliche Assistenz ist entschieden ungünstig, auch sind auf ent¬ 
sprechende Beschwerden kriegsgerichtliche Maßnahmen gegen die Behand¬ 
ler nicht ausgeschlossen. 

Antrag von C. S. Freund-Breslau: Im Interesse der Verhütung einer 
Verschlimmerung bzw. einer Fixierung psychogener Krankheitssymptome 
ist es eine dankenswerte und notwendige Aufgabe der an der Front bzw. 
in den vordersten Kriegslazaretten tätigen Psychiater und Nervenärzte, 
die in ihren Truppenverbänden stehenden Nichtfachärzte über den Nutzen 
und die Notwendigkeit einer frühzeitigen sachkundigen psychischen Ein¬ 
wirkung auf Kriegsbeschädigte durch beruhigenden und aufmunternden 
Zuspruch zum Zwecke der Zurückdrängung und Ablenkung krankmachen- 


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Deutsche* Verein fü* Psychiatrie. 


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der Vorstellungen zu belehren. Unter Hinweis auf die Lehren von BHUi&r 
und von Bdbinski sind die Nichtfachärzte anzuhalten, die erste Unter¬ 
suchung auf ;Nervensymptome den Fachärzten zu überlassen. Es wird 
dadurch die Gefahr des Ansuggerierens psychogener Krankheitssymptome 
durch den Arzt möglichst vermieden werden. Zur Durchführung einer 
solchen prophylaktischen Therapie ist eine Vermehrung der Fachärzte an 
der Front bzw. in den vordersten Kriegslazaretten im Sinne des Lilien*. 
Einsehen Antrags notwendig. 

Xiefters-Dösen hat auch sehr gute Erfolge mit der Anwendung starker 
Wechselströme erzielt, hält aber, da die Methode doch gewisse Gefahren 
mit sich bringen kann, die vorherige Einwilligung des Kranken für Un¬ 
bedingt notwendig. Nach seinen Erfahrungen ist aber nur ein beschränkter 
Teil der Patienten, eben nur ein Drittel, der Hypnose zugänglich. Auch 
empfiehlt es sich, das Wort Hypnose möglichst den Kranken gegenüber 
zu vermeiden, da es bei vielen Kranken störende Gegenvorstellungen aus- 
lösen kann und da viele sich gegen eine „Vergewaltigung ihrer Psyche“ 
sträuben. 

Meyersohn weist darauf hin, daß der Krieg nicht bloß Neurosen 
schafft, bzw. Neurotiker zu schädigen imstande ist, sondern auch im - 
Gegenteil sie günstig zu beeinflussen vermag. Er erwähnt als Beispiel 
einen hysterisch psychopathischen Menschen mit Tic, der es mit Mühe 
durchgesetzt hat, überhaupt dem Militärdienst überwiesen zu werden, 
dann aber alle Strapazen des Krieges mit dem besten Erfolg durchgemacht 
hat. Bemerkenswert ist es, daß er während eines Urlaubes unter dem 
Einfluß seiner altgewohnten Umgebung in der Familie bald seinen alten 
Tic wieder bekam, ihn aber sofort wieder los wurde, als er von neuem ins 
Feld zog. 

Lienau- Hamburg berichtet über die Erfahrungen, welche er als 
Oberarzt der Nerven- und psychiatrischen Abteilung der Ostseestation 
Kiel während der ersten 20 Monate des Krieges gemacht hat: 1. Krank- 
heitsformen, die man als Kriegsneurosen sui generis bezeichnen könnte, 
wurden nicht beobachtet. 2. In ätiologischer und symptomatologischer 
Beziehung sind außer dem selbstverständlichen Marinekolorit neue Mo¬ 
mente nicht zu nennen. 3. In fast allen Fällen war die Psychogenie der 
Symptome offenbar. 4. Kräftige, einwandfreie Leute erkrankten unter 
der Gewalt der Ereignisse gelegentlich auch. 5 Schußverletzte zeigten 
auffallend selten neurotische Symptome. 6. Der Begriff „traumatische 
Neurose“ sollte als eine interessante und dankenswerte wissenschaftliche 
Episode der Vergangenheit überliefert werden. 7. Die Hypnose wurde 
mehrfach mit glänzendem Erfolg angewendet und war auffallend leicht. 
Sie ist indiziert, wo andere Methoden versagen oder nicht genügend 
schnell zum Ziele führen. 

Wilmanns- Heidelberg: Oppenheims Angabe, wonach die Zahl der 
Neurosen in den Gefangenenlagern größer sei als von Lilienstein u. a. an- 

Zeitschrift for Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 16 

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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


gegeben sei, trifft nicht zu. Unter 80 000 Gefangenen in den Lagern des 
XIV. Armeekorps befanden sich 5 Hysterische, darunter nur eine hysteri¬ 
sche Schreckneurose (nach Verschüttung). Beachtenswert ist: unter 20 000 
zur Internierung in der Schweiz vorgeschlagenen Kranken befand sich 
nach Bericht der militärärztlichen Austauschkommission kaum eine 
Neurose, und das gleiche gilt von den in der Schweiz internierten Deut¬ 
schen, unter denen sich zahllose Neurastheniker, vasomotorische Neurosen 
usw. finden, aber keine Schreckneurosen. — Die Vermehrung von Laza¬ 
retten für Nervenkranke hinter der Front ist dringend nötig. Die Verlegung 
der Neurotiker in das Heimatgebiet wirkt äußerst ungünstig und krank¬ 
heitfördernd. Besonders ungünstig wirkt ihre Verlegung in das Lazarett 
des Heimatortes; diese sollte grundsätzlich verboten werden. — Die Ver¬ 
kennung hysterischer Störungen als organische ist etwas ganz Gewöhn¬ 
liches: es ist unbedingt erforderlich, daß die fachärztlichen Beiräte für 
Psychiatrie und Neurologie in enger Fühlung mit den Ärzten in orthopädi¬ 
schen Lazaretten (Kontrakturen, Lähmungen usw. hysterischer Natur), 
den urologischen Lazaretten (hysterische Blasenstörungen), den Lazaretten 
für Ohrenkranke (hysterische Ertaubung) stehen. Daß hysterisch Erkrankte 
Berufsumschulungen durchmachen und Anstellungen bekommen, ist recht 
gewöhnlich. Das wirkt krankheitfördernd und muß vermieden werden. 
Forschungen über das Schicksal der aus dem Heeresverbande entlassenen, 
zumeist in Sonderlazaretten behandelten Kriegsinvaliden haben gezeigt, daß 
etwa 75 % nicht gebessert, zum Teil verschlechtert sind. Von ungünstigen 
Einfluß waren hier die Angehörigen, oft auch die Ärzte; Begehrungsvor¬ 
stellungen, Kriegsangst u. a. verstärkten die Krankheit. Es ist dringend er¬ 
forderlich, diese Kriegsinvaliden wieder einzuziehen und einer sachgemäßen 
Behandlung zu unterwerfen. — Die Speziallazarette haben sich bewährt. 
Die Gefahr der Ansteckung im Frontlazarett ist geringer als die Gefahr der 
Verschleppung der Störungen in Heimatlazarette. Die Art der Behand¬ 
lung wird sich nach dem Wesen der Persönlichkeit der Ärzte richten müssen. 
Die Hypnose wirkt in zahlreichen Fällen günstig, liegt aber vielen Ärzten 
nicht. Das Ergebnis der Behandlung mit starken Strömen ist äußerst 
günstig: die Rentenhöhe betrug bei 317 Neurotikern vor der Behandlung 
etwa 130000, nach der Behandlung 13000 M.— Bewußte Übertreibung und 
Vortäuschung von Beschwerden und wahrheitwidrige Angaben über die 
Entstehung der Läsionen sind recht häufig. Die Ärzte werden daher 
den Mitteilungen der Kranken über Verschüttung, Granatkontusion und 
dergleichen die nötige Kritik entgegenbringen müssen. 

Rieder- Koblenz: Die zur Behandlung gewisser hysterischer Störungen 
empfohlenen Methoden (Hypnose, die sogenannte Kaufmannsche) führen 
selbstverständlich an der Hand des erfahrenen Facharztes zu einer gewissen 
Heilung. Ich bevorzuge in der jetzigen Zeit, in der die Ärzte nicht nur dem 
einzelnen Kranken gegenüber verantwortlich sind, sondern ebenso der 
Allgemeinheit, in der Mehrzahl der Fälle in der Heimat die Kaufmann - 


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sehe, und zwar so, daß ich die Kranken in Einzelkabinen bringe, psychana- 
lytisch vorbereite. Der Kaufmanns chen Methode liegt vom militärischen 
Standpunkt eine enorm wichtige Tatsache zugrunde, die im Wach¬ 
zustände herbeigeführte Wiedererziehung zum Gehorsam, 
die Unterordnung des eigenen Willens unter einen andern. Wichtig ist 
die Nachbehandlung. Hier besonders geeignet, wie bei den Arm- und 
Beinverlu6ten, das militärische Turnen unter ausgebildeten Turnlehrern. 
An die Hypnosebehandlung muß fast in allen Fällen eine militärische Hand 
wieder angelegt werden. Offiziere eignen sich schwerer zur Kaufmann- 
Behandlung, da das Subordinationsverhältnis fehlt. Die Behandlung darf 
nur durch erfahrere Fachkraft erfolgen. Das militärische Turnen wird 
mit anschließender Arbeit unter Bezahlung bis zur V. G.-Erklärung fort¬ 
gesetzt. Zur Behandlung der Hysterie stets Einverständniserklärung des 
Kranken in Gegenwart von Zeugen. Attestprüfung der funktionellen 
Neurosen bei den Sanitätsämtern nur durch Fachärzte. Einrichtung von 
Nervenlazaretten in der Nähe der Front bzw. der Etappe richtet sich nach 
Lage der kriegerischen Verhältnisse. Hinweis auf die vom preußischen 
Kriegsin in isler gegebenen Gesichtspunkte, die recht oft und genau gelesen 
werden müssen. 

AfoAr-Koblenz will die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen 
Physischem und Psychischem und des daraus entstehenden Circulus 
vitiosus stärker hervorgehoben wissen und glaubt, daß dadurch eine Ver¬ 
ständigung in manchen Streitpunkten möglich wäre, weil so die Schwere 
mancher Neurosen erklärbar wird. Ein solcher Circulus vitiosus kann nur 
von der psychischen Seite her in Angriff genommen werden. Ein wesent¬ 
liches Ergebnis aber der heutigen Verhandlungen ist nun gewiß die all¬ 
gemeine Erkenntnis der absoluten Überlegenheit einer wesentlich psychi¬ 
schen Behandlung, und es wäre von großer Wichtigkeit, wenn diese Er¬ 
kenntnis einem möglichst weiten Kreis von Ärzten zugänglich würde. Das 
hätte zugleich auch auf das Laienpublikum und die Allgemeinheit eine 
günstige Wirkung. 

Weiß -Wien schließt sich Stransky im allgemeinen an. 

A/ageb-Tübingen: Eine sehr große Zahl Neurosen bietet keinerlei 
grobe äußerliche Erscheinungen; diese Gruppe ist hier entschieden zu 
kurz gekommen. Solche Leute können aber kaum anders als durch Psycho¬ 
therapie im üblichen Sinne, nicht durch zu eingreifende Verfahren be¬ 
handelt werden. Vielleicht noch mehr Neurosen als in Nervenlazaretten 
liegen aber auf medizinischen Abteilungen unter allen möglichen Diagnosen 
(Herz-, Lungen-, Magen-, Darmleiden, Ischias, Rheumatismus). Der 
psychologisch denkende Arzt wird sie nicht verkennen. Schwierigkeiten 
entstehen hier, weil unter diesen Leuten zweifellos Aggravation und Simula¬ 
tion nicht selten sind, zumal es sich fast immer um Leute handelt, die nie 
an der Front waren. Auch hier muß später einmal noch genauer darüber 
gesprochen werden, wie denn überhaupt die Endresultate in vielen Fragen 

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224 Verbandluftgen psychiatrischer Vereine. 

erst weitere Klärung bringen werden. Ein lebhafteres Zusammenarbeiten 
zwischen Neurologen und Internen sollte aber in bezug auf manche Symp- 
toroe stattfmden. Ich habe das unlängst im Neurol. Ztlbl. betont. Natür¬ 
lich sieht der Interne z. B. auch Fieber bei seinen Neurosen, aber er deutet 
den Befund auf Grund seiner anderweitigen Untersuchungen (Röntgen, 
Tuberkulin usw.) anders und berücksichtigt die physiologischen Schwan¬ 
kungen viel mehr. Für das Verschwinden des Radialpulses in einem ge¬ 
lähmten Gliede käme beispielsweise in Betracht, daß neben den sehr 
häufigen Abnormitäten des Radialisverlaufs der Puls weniger fühlbar wird 
durch niedrigen Blutdruck, vasomotorische Verhältnisse (die Gefäße der 
juvenilen Sklerose Rombergs werden z. B. bei Fieber weich und sind nicht 
mehr zu fühlen). In gleicher Weise kann rascher Puls einwirken, und es 
kommt in Betracht, daß bei Inaktivität die Blutversorgung allmählich 
wesentlich geringer wird. Die Kritik Oppenheims gegen die Endresultate 
bei Unfallneurosen.kann ich nicht unwidersprochen lassen. Die Ergebnisse 
sind nicht vom Neid der Nachbarn abhängig. Hier sind durch die genaue¬ 
sten Erhebungen über die Erwerbsverhältnisse (Lohnliste') über Jahre hin 
die Verhältnisse in bezug auf Verdienst in unangreifbarer Weise klar¬ 
gestellt. 

M. Goldstein- Halle: Bei der französischen Bevölkerung kommen 
keine traumatischen Neurosen zur Beobachtung, trotzdem viele Ort¬ 
schaften häufig wochenlang fast täglich von schwerem Artilleriefeuer 
heimgesucht werden. Die Truppen, die sich aus Industriekreisen rekru¬ 
tieren, werden leichter von Neuroseepidemien heimgesucht als die aus der 
Landbevölkerung. Es muß das Ziel sein, die Neurotiker möglichst bald 
nach Entstehung ihrer Krankheit durch Suggestions- und Übemunpe- 
lungsverfahren von ihren Symptomen zu befreien. 

Longe-Breslau: Ich möchte nur mit einigen Worten darauf eingehen, 
was Mohr über den Circulus vitiosus zwischen den klinischen Erscheinun¬ 
gen der Neurosen bei Kriegsbeschädigten und latenten organischen Krank¬ 
heitszuständen gesagt hat. Zweifellos spielen diese Zusammenhänge eine 
große, viel zu wenig betonte Rolle, und es muß meines Erachtens unsere 
Aufgabe sein, ihnen so weit als irgend möglich nachzugehen. Es ist doch 
in vielen Fällen so, daß der hysterische Symptomenkomplex gewisser¬ 
maßen in den erwähnten Circulus vitiosus eingeschaltet ist und der Be¬ 
handlung trotzt bzw. nach ursprünglicher Beseitigung rasch rezidiviert, 
solange jener Zirkel nicht gesprengt ist. Mohr hat bedauert, daß wir da 
oft keinen sicheren Punkt zum An- bzw. Eingreifen hätten. Ich möchte 
mir nur erlauben, Ihre Aufmerksamkeit auf einen krankhaften körper¬ 
lichen Reizzustand hinzulenken, der bei Kriegsneurosen nach meiner Er¬ 
fahrung ganz außerordentlich häufig vorkomint, nämlich eine ganz unge¬ 
wöhnliche Druckempfindlichkeit der sogenannten Druckpunkte am 
Schädel. Es sind dies die Ansatzstellen besonders des M. orbicularis oculi, 
levator palpebrae, temporalis, masseter, sterno-cleideo-mastoideus und der 


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Nackeumuskeln. Die Empfindlichkeit ist oft so groß, daß schon bei leise¬ 
stem Druck die Kranken zurückzucken. Ich habe es mir angelegen sein 
lassen, diese Zustände durch manuelle bzw. instrumenteile Vibrations¬ 
massage systematisch zu behandeln, und kann Sie nur dringend bitten, 
auch ihrerseits darauf zu achten. Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Neigung 
zu Schwindel und andere, auch nur wenig ins volle Bewußtsein tretende 
Beschwerden verschwinden bei dieser Behandlung zusehends, und damit 
steigt die Raschheit, Sicherheit und Dauerhaftigkeit der Hysteriebehand¬ 
lung. Bezüglich dieser letzteren bemerke ich, daß wir das Gute nehmen, 
wo wir es finden, und alle möglichen Behandlungsarten wahlweise an¬ 
wenden. Alle geben gute Resultate. Wichtig erscheint mir nur, daß vor 
dem eigentlichen therapeutischen Schlußakt der Kranke so gut suggestiv 
vorbereitet wird, daß es gleichsam nur einer Einschaltung des schon — 
wieder — paraten gesunden „Komplexes“ bedarf. Wenn wir hierzu uns 
des faradischen Pinsels bedienen, so wenden wir, wie ich hervorheben 
möchte, nur Stromstärken an, wie wir sie tagtäglich bei unseren organischen 
Lähmungen ohne Schaden anzuwenden gewöhnt sind. Gewiß ist das manch¬ 
mal schmerzhaft, aber der springende Punkt ist doch, daß eben der Hysteri¬ 
sche viel stürmischer darauf reagiert. Wenn solcher Kranker also bei 
Strömen, wie sie Dutzende von organisch Gelähmten tagtäglich ohne 
ernstes Sträuben ertragen, erklärt:* „Das halt’ ich nicht aus, das ist für 
mich zu stark“, so, meine ich, sollte man hierauf nicht allzu viel geben 
und sich dadurch von der energischen Durchführung seiner ärztlichen Ab¬ 
sicht keinesfalls beeinflussen lassen. 

Löwent/uiZ-Braunschweig hält den Zeitpunkt für eine Entscheidung 
in Sachen der traumatischen Neurose nicht für gekommen, hofft aber für 
die Zukunft auf eine Anerkennung nervöser Symptome mit organischem 
Hintergrund, da solche Zwischenglieder zwischen ausgesprochen organi¬ 
schen Läsionen und psychogenen Störungen a priori existieren müssen. 
Bezüglich der Therapie lobt L. das Kaufmannsche Verfahren, nur in der 
Form der ärztlichen (nicht disziplinären) Handhabung und mit sorg¬ 
fältiger Nachbehandlung. 

Araauer-München hat an der Front gute Erfahrung mit der Behand¬ 
lung von Kriegsneurosen gehabt, konnte 68 % geheilt zur Front entlassen. 
Wichtig ist die Fühlung mit den Truppenärzten. An der Front können 
alle Angaben der Kranken gut kontrolliert werden, was im Heimatlazarett 
kaum mehr möglich ist. Wichtig ist auch die forensisch-psychiatrisch- 
neurologische Tätigkeit der Fachärzte. A. fand ebenfalls eine wesentliche 
-Verschiedenheit der einzelnen Volksklassen gegenüber der neurotischen 
Erkrankung. 

Kohnstamm -Königstein weist auf die Bedeutung des „Katatonus- 
versuchs“ für das Verständnis der Entstehung von Kontrakturen usw. 
hin. Es entsteht hier an der betreffenden Innervationsstelle eine „Sejunk- 
tion“. Auch neurasthenische und disharmonische Symptomenkomplexe 


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226 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

können auf Sejunktion beruhen. Was in der Art der Katatonuskontraktur 
nicht psychogen, aber psychisch beeinflußbar ist, nenne ich „psychoklin“. 
Hinweis auf den Hocke sehen Fall von Blitztrauma, in dem Schmerzen und 
vasomotorische Störungen jedesmal 2 Tage vor einem Gewitter auftraten. 
Empfehlung der „poliamnestischen“ (Abreaktions-) Methode bei gut 
hypnotisierbaren Fällen. Sofern anamnestische Komplexe mitwirken, 
erscheint der Fall als „schizothym“. Warum ein Redner das „defekte 
Gesundheitsgewissen“ mit seinem Bannfluch belegte, ist mir unerfindlich 
angesichts der allgemein anerkannten Wirkung der Begehrungsvorstellun¬ 
gen, wofür ich lieber „Sekurität“ sage. Bei Leuten mit strammem oder 
durch die Situation geschärftem Gesundheitsgewissen (Gefangenen) werden 
hysteroide Erscheinungen selten auftreten. Daß der Katatonusversuch 
die Brücke zum Organischen bildet, geht daraus hervor, daß bei gewissen 
Großhirnherden, die hinter den motorischen Zentren liegen, auf der ge¬ 
lähmten Seite der kataleptische Typus des Katatonus auftritt, ganz ähn¬ 
lich, wie man ihn auch bei psychisch Labilen erzeugen kann. Wahrschein¬ 
lich sind die Stammganglien das Zentrum der tonischen Komponente, die 
beim Katatonusversuch zur Demonstration kommt. 

Oppenheim (Schlußwort): Ich hatte in der Einleitung zu meinem 
Referat gesagt, daß mir die schwerste Aufgabe zufällt. So schwer hatte 
ich sie mir freilich nicht vorgestellt. Und es gehört schon die ganze Kraft 
der durch ernste Arbeit errungenen Überzeugung dazu, um diesem Ansturm 
von Gründen und Beweisen gegenüber standzuhalten. Ich habe immer 
das Prinzip gehabt: „Verwende den Stein, mit dem man dir dein Haus 
zerschmettern wollte, zum Bau deines Hauses.“ Ich werde das wieder 
versuchen, glaube aber, daß ich über die Zugeständnisse, die ich in meinem 
Referat gemacht habe, nicht hinauskommen werde. Zunächst habe ich 
Saehger zu begegnen. Er hat versucht, durch Anwendung des Kaufmann- 
schen Verfahrens eine völlige Umstimmung bei mir herbeizuführen. Ich 
weiß nicht, was ich an dem Vorgehen Saengers am meisten bewundern soll, 
aber doch wohl am meisten die Naivität, daß er wähnt, nach allem, was ich 
hier vorgetragen und demonstriert habe, könnte ich in dem Kern der Sache 
zu einer andern Anschauung gelangen als der von mir bisher vertretenen. 
Ich beuge mich auch keinen Majoritätsentscheidungen. Und es ist eine 
vollkommen unrichtige Wiedergabe meiner Darlegungen, wenn S. es so 
hinstellt, als hätte ich in den wesentlichsten Punkten etwas zurückgenom¬ 
men. Ich habe nur gesagt, daß ich die Verbreitung der Hysterie unter den 
Kriegsverletzten früher unterschätzt hätte. Daß sie häufig vorkommt, 
habe ich schon in meiner ersten Arbeit gesagt. Aber die weiteren Erfahrun¬ 
gen haben gelehrt, daß die hysterische Diathese doch noch viel verbreiteter 
ist, als ich ursprünglich gedacht hatte. Ferner habe ich in den praktichen 
Konsequenzen, in der Rentenfrage, den allgemeinen Erfahrungen Rechnung 
getragen. Das ist alles, und mehr vermag mir auch der Angriff «S.s nicht zu 
entlocken. Es ist mir freilich schmerzlich, daß meine so überzeugenden 


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Demonstrationen so wenig Eindruck gemacht haben, und daß es fast scheint, 
als ob ich in den Wind gesprochen habe. Aber da es S. so hinstellt, als ob 
ich mit meiner Meinung vollkommen isoliert dastände, will ich Ihnen aus 
vielen Zuschriften nur einen Brief Bruns' vorlesen, in dem er bezüglich der 
Akinesia amnestica, der Reflexlähmung und Innervationsentgleisung alle 
meine Beobachtungen bestätigt (geschieht). Das ist doch eine Stimme, 
die sich hören lassen kann. . Erwünschter wäre es mir gewesen, wenn S. 
auf meine Frage, was er unter Kommotionsneurose versteht, eine 
Antwort erteilt hätte. In den Referaten von Nonne und Gaupp und in 
dem, was die Mehrzahl der Diskussionsredner vorgetragen hat, hat zweifel¬ 
los die Lehre triumphiert, welche alles, was die Kriegstraumen an funktio¬ 
nellen Neurosen hervorbringen, auf psychogenem, und zwar vorwiegend 
auf ideogenem Wege vermittelst der Begehrungsvorstellungen und des 
Timor belli entstehen läßt. Dabei ist mein Hinweis auf den Doppelsinn 
des Wortes „psychogen“ leider kaum berücksichtigt worden. Es ist jeden¬ 
falls eine Erscheinung, die den Unbefangenen aufs höchste überraschen 
muß, daß in einer Versammlung der kompetenten Neurologen und Psychi¬ 
ater die gewaltigen Insulte des Krieges so gering geschätzt werden, daß man 
ihnen — soweit sie nicht organische Schädigungen verursachen — aller- 
höchstens einen flüchtigen Eindruck auf Seele und Körper zuschreibt. Ich 
schmeichle mir natürlich nicht, daß ich mit meiner entgegenstehenden 
Meinung hier im Kreise noch durchdringen werde, aber ich halte es für 
meine Pflicht, hervorzuheben, daß ich von der Berechtigung dieser An¬ 
schauung keineswegs überzeugt worden bin, und daß ich nach wie vor der 
Ansicht bin, daß die psychischen und mechanischen Angriffe auf das Ner¬ 
vensystem dieses zwar sehr oft nur in leichter, flüchtiger, aber ebenso auch 
in tiefgreifender, nachhaltigster Weise schädigen können. — Nun zu einzel¬ 
nen Fragen. Nonne hat uns ja im Bilde und am Objekt gezeigt, daß ein 
Teil dieser Zustände durchaus dem längstbekannten Verhalten der hysteri¬ 
schen Krankheitsformen entspricht, ebenso leicht produziert wie hinweg¬ 
gezaubert werden kann. Das war sehr schön und lehrreich, aber nicht ein¬ 
mal notwendig. Denn das wußten wir und ist nie, auch nicht von mir, 
geleugnet worden, daß echte Hysterie unter diesen Verhältnissen vor- 
koramt und eine große Rolle spielt. Und das, was wir hier in der Hypnose 
entstehen sahen, war echte Hysterie, konnte durchaus willkürlich nach¬ 
gemacht werden. Ich muß es aber unbedingt beanstanden, daß N. diese 
Zustände als Akinesia amnestica und Reflexlähmung bezeichnet hat. Die 
geringe Muskelatrophie allein macht die Reflexlähmung nicht aus, die 
absolute Atonie mit dem völligen Zurücktreten der Sehnen ist es, welche 
dem Bilde der Hysterie, wie wir es bisher kannten, durchaus fremd ist und 
auch willkürlich nicht einmal einen Moment hervorgebracht werden kann. 
Wir finden es nur bei den schwersten organischen Lähmungen peripheri¬ 
schen oder poliomyelitischen Ursprungs. Und gerade dieses Symptom 
hat in den Bildern N .s völlig gefehlt. Auch dieses Fehlen aktiver Muskel- 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


leistungen unter allen Umständen, auf das ich so viel Gewicht lege. Sie 
müssen doch zugeben, daß das mit unseren bisherigen Anschauungen von 
der hysterischen Lähmung in vollem Widerspruch steht, und Sie hätten 
wenigstens das eine Zugeständnis machen müssen, daß das ein neuer Ge¬ 
sichtspunkt ist. Nun sagt N.: Ja, wer kann das so bestimmt behaupten, 
daß nicht doch einmal eine aktive Muskelleistung vorhanden ist. Mit 
diesem Mißtrauen kommen wir nicht weiter. Es genügt vollkommen, zu 
wissen, daß es ein leichtes ist, bei der echten hysterischen Lähmung diese 
Inkonsequenz festzustellen, während es auch bei sorgfältigster Beob¬ 
achtung nicht gelingt, etwas Derartiges bei den von mir besprochenen Zu¬ 
ständen nachzuweisen. Das sind essentielle Unterschiede, die man nicht 
mit einem: „Ja wer weiß?“ abtun kann. Nonne hat nun auch historische 
Studien über die Reflexlähmung angestellt und gezeigt, daß auch das 
schon dagewesen ist. Der Name Reflexlähmung ist, wie ich von vornherein 
betont habe, ein alter; die Reflexlähmung bildet seit dem ersten Er¬ 
scheinen meines Buches ein stehendes Kapitel in demselben; aber das 
waren doch ganz andere Dinge. Die Bezeichnung^Reflexlähmung, wie ich 
sie seit Kriegsbeginn gebrauche, stellt etwas Neues dar, man mag die 
Deutung bekämpfen, aber das bescheidene Verdienst, das ich da für mich 
in Anspruch nehme, sollte man mir nicht bestreiten. Auch ich bitte die 
Herren, die von der Gewohnheitslähmung Ehrets, von dem Habituell¬ 
werden der Lähmung (ein Wort, mit dem ja nur die Tatsache umschrieben 
wird) sprechen, nicht zu vergessen, daß das wesentliche Element derselben 
— das Verlernen von Bewegungen — lange vor Ehret von mir beschrieben 
ist. Ehret hat ja auch nur einen speziellen Typus herausgegriffen. Aber 
etwas ganz Neues gibt es bekanntlich nicht. Eine ähnliche Theorie lag 
aber als Erklärung für die bemerkenswerte Erscheinung vor, daß junge 
Kinder nach lange bestehendem Blepharospasmus blind werden können. 
Doch genug von den Prioritätserörterungen, die gewiß nicht das Wesent¬ 
liche sind. Ich muß trotz aller Mitteilungen und Demonstrationen dabei 
bleiben, daß die Myotonoklonie nicht immer ein hysterischer Zustand 
ist, sondern daß sie genau wie die Halsmuskelkrämpfe eine durchaus ver¬ 
schiedene Genese haben kann. Daß es einen echt hysterischen Typus 
dieser Art gibt, habe ich selbst gelehrt, aber ich habe in einer im Anfang 
dieses Jahres erschienenen Abhandlung auch die Beweise dafür erbracht, 
daß es eine nichthysterische Form gibt, bei der das Symptom des Crampus 
und der Klonismen durchaus unabhängig von mechanischen Momenten 
ist. Übrigens hat selbst Strümpell, der Ihnen in seinen Anschauungen 
näher steht wie mir, die Crampusneurose für einen nichthysterischen 
Zustand erklärt. Und Schultze, auf den sich Saenger beruft, ist in vielen 
Punkten ganz auf meiner Seite, besonders auch in der Ablehnung der 
psychogenen Entstehung aller Symptome und Symptombilder. Gegenüber 
Voß — einem der wenigen meiner Getreuen — muß ich bemerken, daß 
man natürlich die Bezeichnung Myotonoklonie nicht auf organisch-spasti- 


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sehe Zustände anwenden darf, und diese werden durch Rossolimos Zeichen 
immer bewiesen. Nägeli muß ich erwidern, daß natürlich ein abnormer 
Verlauf der Arleria radialis nicht in Frage kam. Die Erklärung, die er 
in bezug auf seine Schweizer Statistik machte, läßt meinenEinwand hin¬ 
fällig erscheinen. Als ich Nonne gegenüber bei seiner Mitteilun g über die 
hypnotischen Heilerfolge beim Zittern den Zwischenruf machte: Alle? — 
wollte ich wahrlich nicht daran Anstoß nehmen, daß die Heilung nur in 
einem Prozentsatz der Fälle gelungen sei. Im Gegenteil, ich bin ganz über¬ 
rascht von den Erfolgen und kann sie nur bewundern. Aber gerade unter 
den 50 % Nichtgeheilten mögen die Fälle stecken, die eben nicht zur Hysterie 
gehören. Man soll doch nicht verallgemeinern und das Kind nicht mit 
dem Bade ausschütten. Es ist so viel von der Fixation als einem Kriterium 
der Hysterie gesprochen worden. Das verkenne auch ich nicht. Aber ver¬ 
gessen Sie doch nicht, daß der Fixation eine viel allgemeinere Bedeutung 
zukommt. Ich will gar nicht von der Perseveration der Aphatiker sprechen. 
Aber ich will an die Zwangsvorstellungen erinnern, ebenso an die Fixation 
der Schmerzen bei den Neuropathen (nicht nur bei Hysterie), auf die ich 
vor einigen Jahren hingewiesen habe. Wenn Sie das alles hysterisch 
nennen, wo sind dann die Grenzen zu finden ? Und nun ein Wort zu den 
Begehrungsvorstellungen. Es ist doch eine beachtenswerte Er¬ 
scheinung, daß von dem Mutismus und dem Stottern ganz vorwiegend 
die Jugendstotterer, von der Incontinentia urinae die Kindheitsenuretiker 
betroffen werden. Also die Erschütterung ergreift den Locus minoris re- 
sistentiae. Das deutet nicht auf Begehrungsvorstellungen. So erkläre ich 
ja auch die Bevorzugung der linken Hand. Noch ein anderes. Ich will 
mich nicht auf meine eigenen Mitteilungen berufen, aber in ganz gleich¬ 
mäßiger Weise wird doch von Muck, Kaufmann u. a. das Glück der Leute 
geschildert, das sich nach gelungener Heilung kundgibt. Läßt sich denn 
diese Tatsache mit den Begehrungsvorstellungen und dem Timor belli in 
Einklang bringen? Ich muß dabei bleiben, daß als Folgen der Granat¬ 
explosionen und Verschüttung zwar sehr oft nur leichte, aber gelegentlich 
auch recht schwere nervöse Krankheitszustände Vorkommen, die zunächst 
jeder Therapie trotzen und nur sehr allmählich weichen. Gerade da habe 
ich die entgegengesetzten Erfahrungen wie Förster gemacht bezüglich des 
Einflusses der Begehrungsvorstellung, in das Heimatlazarett entlassen zu 
werden. Gewiß ist das ein mächtiger Impuls, aber auch er hat nicht die 
Macht, die schweren Krankheitserscheinungen, zum Weichen zu bringen, 
die wir unter diesen Verhältnissen in einem Teil der Fälle beobachteten. 
Und nun die Dispositionsfrage. Sie ist ja eigentlich eine rein theo¬ 
retische. Denn wir haben kein Recht, in unserer praktischen Beurteilung 
einen andern Maßstab anzulegen, wenn sich nachweisen läßt, daß irgendein 
Qroßonkel des Patienten ein schrullenhafter Mann gewesen ist oder einen 
Hohlfuß gehabt hat. Ich möchte wohl wissen, wieviel Menschen vor dem 
Urteil dieser gestrengen Herren als Nichtpsychopathen übrig blieben. 


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Meine Herren! Zwei große Übel galt es zu vermeiden: die Überschätzung 
und die Unterschätzung der uns beschäftigenden Krankheitszustände. 
Die erste Gefahr ist dank der Gesinnung der Majorität, wie sie hier ver¬ 
treten ist, sicher vermieden worden. Aber ich sehe in bezug auf die andere 
Klippe mit großer Besorgnis der nächsten Zukunft entgegen. Hysterie 
— Begehrungsvorstellungen — Simulation, das ist jetzt die be¬ 
queme Fahrstraße für jeden Praktiker und Gutachter. Ja, und wäre es 
noch die alte harmlose Hysterie, wie wir sie früher kannten. Wenn ich so 
sehe, was jetzt mit dem Namen „Hysterie“ gedeckt wird, drängt sich mir 
immer der Vergleich mit dem Knabenhemd auf dem Körper eines ausge¬ 
wachsenen Mannes auf. Zwei Drittel der Körperoberfläche bleiben unbe¬ 
deckt. — Die Hysterie ist jetzt über alle Ufer getreten, und nichts ist vor 
ihr sicher. Die dauernde Zyanose, das Schwinden des Radialpulses, die 
trophischen Störungen an den Knochen und Nägeln, die Hyperidrosis und 
Anidrosis, die Alopecie, das fibrilläre Zittern und die Myokymie, die 
Crampi, die weiten, trägen Pupillen — und von da ist nur ein Schritt bis 
zur Pupillenstarre —, die Abschwächung der Sehnenphänomene — und 
von da ist nur ein Schritt bis zum Schwinden derselben —, alles das darf 
und muß jetzt Hysterie genannt werden. Wollenberg hat es so dekretiert: 
Fort mit dem Namen „traumatische Neurose“!, und Sänger hat mich zu 
einem „Pater peccavi“ aufgefordert. Daß die Hysterie eine Krankheit ist, 
wird dabei allenfalls zugestanden, aber ebenso bestimmt wird betont, daß 
sie ohne scharfe Grenzen in die Simulation übergeht. Und Jolowia — ein 
Arzt an der Front — hat uns gelehrt, daß zum Nachweis der Simulation 
schon die Feststellung genügt, daß irgendeine Angabe unwahr ist; von 
kranken Simulanten scheint er überhaupt nie gehört zu haben. Begreifen 
Sie, meine Herren, daß ich den Folgen unserer heutigen Diskussion mit 
schweren Bedenken entgegensehe, und daß es mich zum Schluß noch 
einmal zu einem Mahnwort drängt? Wenn ich auch die Ansicht hege, 
daß meine Lehren einmal zu einer trivialen Wahrheit werden, so mag 
doch eine lange Zeit darüber vergehen. Mögen deshalb die Herren, die 
auf mein Wort bisher einiges Gewicht gelegt haben, insbesondere meine 
Schüler, es nicht aus der Erinnerung verlieren, daß ich gegen einen großen Teil 
der Anschauungen, welche auf dieser Jahresversammlung vertreten worden 
sind, zwar in aller Bescheidenheit, aber auch mit der ganzen Bestimmtheit 
der innersten Überzeugung Einspruch erhoben habe. 

Nonne (Schlußwort): Die Verhandlungen haben bewiesen, daß die 
Befürchtung, das Thema sei schon allseitig oft genug behandelt worden, 
unbegründet war. Wir alle haben Neues gelernt. Aschaffenburg gegen¬ 
über betont N., daß im Bereich seiner Wirksamkeit in Stadt und Provinz 
von einer inhumanen oder engherzigen oder Mangel an Anerkennung 
tragenden Behandlung der Kämpfer nicht im entferntesten die Rede sein 
könne; der beste Arzt für jeden Kranken sei der, der ihn heile — auch 
wenn der Weg zur Heilung dornig sei. Zur Methode von Kaufmann ist zu 


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sagen, daß sie keineswegs „brutal“ sein muß; diese Bezeichnung lehnt N. 
ab; die „Uniform“ ist nicht nötig, aber eine gute Hilfe; die Hauptsache 
bleibt auch bei dieser Methode der Arzt und sein fester Wille, den Kranken 
nicht aus den Händen zu lassen vor erzielter Heilung. N. läßt nur mit 
dem faradischen Strom arbeiten. WohLvitt heilte von 11 Fällen 6 , Paschin 
von 15 Fällen 13; dabei hat N. erst vor wenigen Wochen diese Methode 
auf seiner Abteilung eingeführt; die Bezeichnung „pia fraus“ paßt für die 
Methode, die das Gegenteil von „fraus“ darstellt, nicht. Für Offiziere 
eignet sich die Methode wahrscheinlich nicht, das ist Sache des „Taktes“; 
Frühbehandlung ist nur da gestattet, wo alle körperlichen Erschöpfungs¬ 
zustände fehlen. Nach dem Kriege wird die Methode voraussichtlich vom 
Schauplatz abtreten. — Zur „Reflexlähmung“ entgegnet N. Oppenheim, 
daß die zwei von N. im Bilde vorgeführten Fälle beweisen, daß diese Läh¬ 
mungen, auch wenn sie alle die von O. beschriebenen Merkmale — ein¬ 
schließlich Hypotonie und Knochenatrophie — bieten, auf psychischem 
Wege geheilt werden können; es handelt sich demnach umTunktionelle 
Lähmungen; ob man das „hysterisch“ nennen will, ist offen zu lassen; die 
Fälle verdienen weiteres Studium. Bei den Fällen von „Akinesia am- 
nestica“ — das hat auch die Debatte ergeben — ist ein Wesensunterschied 
gegenüber hysterischen Monoplegien nicht erwiesen. Die Granatexplo¬ 
sionsschädigungen stellen sich — das ist ebenfalls jetzt erwiesen —in vielen 
Fällen auch da, wo langdauernde Bewußtlosigkeit bestanden hat, als 
funktionelle Neurosen dar, das beweist die prompte Heilbarkeit auf 
psychischem Wege, wie sie auch in der Diskussion vielfach betont wurde. 
Streng zu sondern sind die Fälle mit somatischen Störungen, sei es mit, 
sei es ohne Kombination mit funktionellen Störungen. Zur Hypnose sich 
die Erlaubnis zu erbitten, ist, wie N. vom Sanitätsamt eines Korps weiß, 
nicht nötig; das Reden mit den Kranken über das, was man will, kann den 
Weg zur Heilung nicht sperren. Es ist eine theoretische Erwägung am 
grünen Tisch, wenn man sagt, die Hypnose macht „weich“; N. exemplifi¬ 
ziert auf 4 Fälle, die bei Verdun, an der Somme und an der galizischen Ost¬ 
front seit Monaten in schweren und schwersten Kämpfen stehen, ohne 
rückfällig geworden zu sein, sowie auf viele Fädle, die wieder im bürger¬ 
lichen Leben stehen. N. warnt noch einmal, irgendwie mit den Leuten zu 
experimentieren; Heilsuggestion und damit Schluß! Sicherlich ist eine 
Nachbehandlung im Sinne der Re-Edukation (militärische Disziplin} 
nötig; dazu mag das militärische Turnen ein treffliches Mittel sein. All¬ 
gemein anerkannt ist, daß die Arbeit heilt, die Werte schafft, d. h. die 
dem Mann Verdienst bringt; daß aber auch dann nicht immer Neigung 
für Arbeit besteht, beweisen schon heute praktische Erfahrungen, die 
Arbeitgeber gemacht haben. N. wirft keineswegs alles zur Hysterie, ebenso¬ 
wenig wie Gaupp, sondern N. hat dargelegt, daß viele Krankheitsbilder in 
ihrer Entstehung zu begreifen sind, wenn man auf die Kraepelinsche Auf¬ 
fassung von der Reminiszenz von uralten Schutz- und Abwehrmechanis- 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


men zurückgreift. N. berechnet, daß unter diesem Gesichtswinkel 
der Begriff der Hysterie ein viel weiterer werden würde und den Begleitton 
des „nicht Standesgemäßen“ verlieren würde. Die Hauptsache aber bleibt 
— und das ist viel wichtiger als der Streit um die Einordnung einzelner 
Symptomgruppen in bestimmte Kategorien mit neuen Namen —, dafi 
nach dieser Debatte und gerade auch infolge dieser Debatte die Tatsache 
zu Recht bestehen bleibt, daß der Krieg im denkbar größten Stile be¬ 
wiesen hat, daß das schwere somatische Trauma mit der Entstehung 
der allgemeinen „traumatischen Neurose“ im Sinne Oppenheims nichts zu 
tun hat, daß dieses Krankheitsbild ein spezifisches nicht ist, daß ursächlich 
wirken psychische Traumen im weitesten Sinne, und daß die Begehrungs- 
vorstellungen (das beweisen auch die Darlegungen von Weiß über die 
Bosnier) im modernen Kriege von einer früher nicht gedachten Vielseitig¬ 
keit sind. N. tritt noch einmal — mit Wollenberg und Moser — dafür ein, 
den Namen „traumatische Neurose“ fallen zu lassen. 

Gaupp 1 Schlußwort): Die Vorträge und Diskussionsbemerkungen 
der Redner dieser Tagung geben mir kaum Anlaß zu Nachträgen oder 
Berichtigungen meines Referats. Wie sehr der Affekt die klare Erfassung 
fremder Meinung erschwert und trübt, zeigt mir Oppenheims Schlußwort, 
in dem er behauptet, ich halte alles für Hysterie, in der Hysterie fast 
alles für ideagen und führe fast alles nur auf Begehrungsvorstellungen 
zurück. Das Wort „Begehrungsvorstellungen“ kommt in meinem 
Referat überhaupt nicht vor, den Bereich des Ideagenen habeich 
deutlich eingeschränkt, und daß ich nicht alles bei den Kriegsneurosen 
für Hysterie halte, hat sicher der erkannt, der mich ruhig angehört hat. 
Ich bitte Oppenheim , er möge mein Referat, wenn es im Druck vorliegt, 
noch einmal in Ruhe zu Hause studieren, dann wird er mir recht geben. 
Auch den Vorwurf, daß ich Steine nach ihm geworfen, lehne ich ab. Mir 
liegt natürlich alles Persönliche fern (— es ist schlimm, daß man dies über¬ 
haupt sagen muß —), es handelt sich nur um die Sache, und ich würde es 
namentlich in jetziger Zeit für ärmlich und kleinlich halten, wollte ich 
jetzt beim Kampf um die Klärung wichtiger Fragen der Wissenschaft 
und des Volkswohls irgendwelche persönlichen Interessen oder Stimmun¬ 
gen zu Worte kommen lassen. Das Mißliche bildlicher Ausdrucksweise 
zeigten mir die Ausführungen Löwenihals, vor allem sein Gleichnis vom 
Lichtstrahlenbündel. Erkenntnistheoretische Unklarheiten führen hier 
zur völligen Verkennung der wirklichen Sachlage. In der Frage der 
Hysterie stößt man immer wieder auf den gleichen Denkfehler: zuerst 
bestimmt man doktrinär, daß „dies und das“ bei Hysterie nicht vorkomme, 
dann findet man „dies und das“ bei Neurotikern und erklärt nun, es könne 
sioh nicht um Hysterie handeln, weil eben „dies und das“ bei Hysterie 
nicht vorkomme. Was aber bei Hysterie vorkommt, ist Sache der Er¬ 
fahrung, nicht beliebiger Theorie. Wie tief seelische Vorgänge ins Körper¬ 
liche hinabwirken, sahen wir in den Erfahrungen der Hypnose, die ja in 


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dieser Richtung den hysterischen Zuständen wesensverwandt ist. Als 
ich zur Tagung nach München kam, wußte ich genau, daß wir hier keine 
völlige Einigung erzielen würden. Was wir gesehen und erlebt haben, 
stimmt zwar weitgehendst überein, aber in der Deutung des Gesehenen 
sind wir Ärzte durch unsere eigene Entwicklung und Schulung bestimmt. 
Oppenheim sucht als verdienstvoller Meister exakter, gewissenhafter und 
zuverlässiger neurologischer Detailuntersuchung im neurologi¬ 
schen Zustandsbilde das Hauptmittel zur diagnostischen Klärung, wir 
Psychiater ergänzen dies durch die psychologisch-psychiatrische Gesamt- 
analyse der Persönlichkeit und durch die nachdrücklichere Be¬ 
wertung der allgemeinen Erfahrungen soziologischer und 
statistischer Art. Meine Herren! Wenn wir jetzt auseinandergehen, 
so wollen wir uns eines vornehmen: wir wollen unsere Kranken so gründ¬ 
lich und sorgfältig neurologisch untersuchen, wie es uns Oppenheim, Nonne 
und Förster in diesen Tagen so trefflich vor Augen geführt haben, wir 
wollen sie auch in ihrer ganzen seelischen Struktur studieren, genau kennen 
lernen, wollen uns die Erfahrungen auf dem Gebiete der Kriegsneurosen 
in ihrer Gesamtheit stets vor Augen halten, wollen bei der Behandlung 
uns nicht von unwissenschaftlichen Gesichtspunkten leiten lassen, sondern 
den Weg einschlagen, der am sichersten zur Heilung führt, gleichgültig, 
ob wir ihn früher gern betraten, und wollen niemals vergessen, daß wir 
Ärzte unser ganzes Handeln jetzt in den Dienst der einen Aufgabe zu 
stellen haben: unserem Heere, unserem Vaterlande zu dienen. 


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Wahnideen im Völkerleben 1 ). 

Im vorigen Bande dieser Zeitschrift (S. 270 f.) habe ich Friedmanns 
„Wahnideen im Völkerleben“ kurz berührt, eben nur so weit, als mir zur 
Abwehr der Vorstellung einer Psychopathia gallica nötig schien. Aber 
die Zeit des jetzigen Völkerringens bringt nicht nur „Wahnideen“, die 
unsern Gegnern den Krieg gegen uns als notwendig für das Wohl ihrer 
Staaten und für die Sicherung der Zivilisation gegen deutsche Barbarei 
vorspiegeln, sondern auch „gesunde Ideen“, die aus dem Drange der Not 
eine gewaltige Kraft erlangen, in solcher Fülle hervor, daß sie die Auf¬ 
merksamkeit immer wieder auf Friedmanns gedankenvolle Abhandlung *) 
zurücklenkt und geradezu auffordert, sich mit ihrem Inhalt auseinander¬ 
zusetzen. 

Jene „Wahnideen im Völkerleben“, die „teils in ihren Folgen sich 
als grauenhaft und verderblich erwiesen haben, teils mehr lächerlich und 
kindisch uns anmuten“, und die zunächst als übernatürliche Wunder¬ 
wirkung, später; als epidemische Geistesstörung aufgefaßt wurden — die 
Besessenheits- und ähnliche Epidemien —, führt Friedmann unserem Ver¬ 
ständnisse näher, indem er im Anschluß an Bernheim u. A. zur Erklärung 
ihrer Erscheinungen den Begriff der hypnotischen Suggestion und der 
Hysterie heranzieht. Jene tiefergreifenden Störungen „konnten aber nur 
erwachsen auf dem Boden von allgemein in den Massen des Volkes sich 
ausbreitenden erregenden Geistesströmungen absonderlichen Inhalts“ 
(S. 206), wie sie auch jetzt noch überall entstehen können, „wenn die 
Agitatoren nur verstehen, die richtige Seite des Volksgeistes anzuschlagen, 
und wenn ihnen die Regierung dabei lange genug freie Hand läßt“ (S. 207) 
(Dreyfushandel, Ritualmordhetzen, Anarchismus, Spiritismus usw.). Uns 
beschäftigt hier nur die Frage, wie solche Geistesströmungen ent- 


*) Stark abgekürzt am 6. Juni 1916 in der Berliner Gesellschaft für 
Natur- und Heilkunde vorgetragen. 

*) M. Friedmann , Über Wahnideen im Völkerleben. Grenzfragen 
des Nerven- und Seelenlebens, herausgegeben von Löwenfeld u. Kurelia, 
Heft 7 u. 8. Wiesbaden 1901. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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stehen, und nicht ihre gelegentliche Verbindung mit Ekstase, hypnotischer 
Überreizung, hysterischen Zuständen und ausgesprochener Geistesstörung 
Einzelner, wie sie Friedmann bei den Schamanen, in den Besessenheits-und 
Lykanthropieepidemien usw. aufweist. Friedmann beantwortet die Frage, 
wie Oberhaupt solche geistigen Massenwirkungen entstehen, mit Hilfe des 
Begriffe der Wachsuggestion, die ihre Wirkungen „in jeder Stunde in inten¬ 
sivster Art auf das ganze Menschengeschlecht ausübt“. „Nicht nur die 
schon berührten fanatischen Geistesströmungen, die eigentlichen Wahn¬ 
gebilde der Völker, beruhen auf der gewöhnlichen Wachsuggestion, sondern 
alle Ideale, der ganze religiöse Glaube und selbst ein bedeutender Bestand¬ 
teil des wissenschaftlichen Denkens sind ihr entsprungen. Ich hoffe unserer 
heutigen Psychologie nicht zu nahe zu treten, wenn ich mit einem gewissen 
Vorwurf ausspreche, daß sie den epochemachenden neuen Gesichtspunkt, 
der in der Suggestionsdoktrin enthalten ist, doch kaum annähernd nutzbar 
gemacht hat für das Verständnis dieser geistigen Massenerscheinungen. 
Was hat uns denn für das gewöhnliche wachgeistige Leben der Sug¬ 
gestionsbegriff Neues gelehrt? Er hat gezeigt, wie man einfach 
durch Erregen starker Vorstellungen das Denken der Menschen 
beherrschen und ihm absichtlich und künstlich einen bestimmten 
Inhalt aufdrängen kann, und zweitens, daß die Vorstellung an 
sich und allein eine selbständige geistige Macht bedeutendster 
Art ist. Das sind doch die beiden wesentlichen Momente, welche 
die Wachsuggestion gemeinsam mit der hypnotischen besitzt“ (S. 
213). Nur dürfe man die Macht der Wachsuggestion nicht auf eine Art 
von Fesselung der geordneten Überlegung oder auf eine Einengung des 
Blickfeldes der „Apperzeption“ zurückführen, und auch der Hinweis auf 
die Affekt- und Gemütseinwirkung lasse noch recht wenig erkennen vom 
eigentlichen Wesen des Suggestivdenkens: „Die suggestive Vorstellung 
erregt nicht nur direkt eine subjektive Überzeugung, sondern sie ist lebhaft 
sinnlicher, anschaulicher Art, sie entsteht ohne Reflexion und ist geeignet; 
in Andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt zu werden (zum 
Unterschiede von der Überredung), und sie erzeugt weiter einen starken 
Impuls zur Aktivität“ (S. 215). So entstehe die Überzeugung bei allen 
großen Ideen. „Gründe, Motive sind an und für sich überflüssig und 
können sie etwa nur zu stützen helfen. Gegengründe bleiben unwirksam 
und werden ohne weiteres als Irrlehre verworfen“ (S. 118). Den Gegen¬ 
satz zum suggestiven Denken bildet das forschende, das reflektierende, 
das kritische Denken; bei ihm gehört zum Urteil „stets das Bewußtsein 
der Gründe, sowohl derer, die für, als derjenigen, die gegen das Urteil 
sprechen können. Die Forschungsresultate sind unabhängig vom sub¬ 
jektiven Element, und sie müssen für jeden, der zu reflektieren versteht, 
gleich verbindlich sein.“ Beim Forschen soll also „jede subjektive Über¬ 
zeugung aufgehoben sein und nur der logische oder objektive Wert der 
Argumente und Tatsachen entscheiden. Unter kritischem Denken ver- 


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Kleinere Mitteilungen. 


steht man somit die Hemmung, die Abwehr jeden subjektiven .Faktors 
beim Urteilen, sie ist das Resultat der Erziehung, der Einübung, so gut 
wie die Selbstbeherrschung beim Handeln, nicht aber angeborene Eigen* 
schaft des Geistes“ (S. 219). „Mit andern Worten heißt es: gerade das 
kritische überlegte Urteilen beruht nicht auf einer primären geistigen 
Kraft, einem Organ der Intelligenz (Verstandeskraft, aktive Apperzep¬ 
tion); wo ein Bedürfnis besteht nach Begründung aller von einer Person 
aufzunehmenden oder festzuhaltenden Ideen, da ist dieses Bedürfnis an¬ 
erzogen, und zugleich ist die Suggestibilität der Person von Haus aus 
eine geringe“ (S. 220). Es bedarf also einer gewaltsamen Ausschließung 
der intellektuellen Kräfte gar nicht, um beliebige Vorstellungen zur sub¬ 
jektiven Überzeugung zu bringen; „einzige Bedingung ist ..., daß keine 
kontrastierenden Vorstellungen notwendig mit der aufzunehmenden auf¬ 
tauchen“ (S. 221). 

So können zahlreiche Ideen ohne positive Motivierung vom mensch¬ 
lichen Geiste Besitz ergreifen und ihn zu leidenschaftlicher Betätigung 
treiben. „Die einzige Bedingung, daß keine offenen Widersprüche solchen 
Ideen beiwohnen dürfen, hat offenbar um so geringeren hemmenden Wert, 
je kleiner die Summe positiver Errungenschaften ist, welche auf dem 
Gebiete der geistigen Forschungsarbeit vorliegt, oder welche der einzelne 
Mensch besitzt“ (S. 232). Bei den die Massen erregefiden Ideen kommen 
aber drei besonders wichtige Faktoren hinzu: 

1. Intellektuelle Hemmungen pflegen nur so lange wirksam zu sein, 
als die Bewegung wenige Anhänger hat. „Denn die weitaus stärkste Hem¬ 
mung für jeden einzelnen Menschen ist die Rücksicht auf die Um um¬ 
gebende öffentliche Meinung; durch dieses in erster Linie wieder suggestive, 
aber doch auch sehr starke praktische Moment wird der einzelne von der 
Geltendmachung, ja sogar VQn der eigenen Verfolgung solcher Ideen abge¬ 
halten, die für töricht oder verwerflich gelten würden. Und darin scheint 
mir auch ein sehr wesentlicher Grund zu liegen, warum wir abnorme Ideen¬ 
bildungen, die bei Einzelnen sich ereignen, in intensiver und die Person 
durchaus beherrschender AusbUdung eigentlich nur auf geistig krank¬ 
hafter Basis zu treffen pflegen, während eine noch physiologische Ex¬ 
altation genügt, um ganz ähnliche Gedankenrichtungen in einer kom¬ 
pakteren Gruppierung von Personen zum voUen Durchbruch zu bringen“ 
(S. 233). 

2. „Ein zweiter, ziemlich ebenso starker unterstützender Faktor bei 
den Massenbewegungen findet sich in der suggestiven Gewalt des unmittel¬ 
bar vor den Augen jedes Beteiligten stehenden Vorbildes und Beispieles“ 
(S. 234). Besonders am Beispiele Muhammeds erläutert Friedmann, „wie 
wenig selbständig gerade die tonangebenden Ideen im Geiste der Massen 
zum Auftauchen und zur Geltung gelangen, wie fast alles, was wir denken, 
seinen Ursprung teils der einfachen Übertragung, teils der Suggestion 
von Person zu Person verdankt, somit ohne^unsere geistige Initiative in 


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uns aufgenommen wurde“ (S. 238). Nicht die Masse, sondern Einzelne 
schaffen neue Ideen, die dann in das Volk eingepflanzt werden und die 
Richtung der Bewegung bestimmen. Zum Teil bilden sich zum Zwecke 
der Einpflanzung besondere Berufe, wie der der Priester und neuerdings für 
politische Ideen der der Parlamentarier, der Berufs- und Zeitungspolitiker. 

3. Das wirksamste Moment bei Massenbewegungen ist die Suggesti- 
bilität der Volksmassen. Diese, nicht Idealismus und Vernunft, bildet die 
Grundlage für die erstaunliche werbende Kraft neuer Ideen selbst in den 
Kulturvölkern, die zu eigenen Herren und Lenkern ihrer Geschicke ge¬ 
worden sind, und in denen die öffentliche Meinung eine sieghafte Macht 
besitzt; das zeigen die bedenklichen Abwege des Volksinstinktes, der 
Mangel an Kritik, das Vorherrschen des Radikalismus, der den Vorzug 
starker Gefühlsbetonung und zugleich plastischer Klarheit und Schärfe 
in seinen Endzielen hat. 

Die Suggestion wirkt also dadurch, „daß sie eine mächtige Vorstellung 
in den Geist des Menschen einführt; aber sie hemmt ihn in diesen Fällen 
ganz und gar nicht“. „Ich erinnere nur als besonders beweisend an die 
Ideen, welche, wie die anarchistische oder mahdistische, eigentlich gar 
keine positive Begründung erfuhren; und welche beispiellose Agitation, 
welches Übermaß von impulsiver Tatkraft haben sie entzündet! Die be¬ 
sondere Bedeutung der Massenbewegung für die Psychologie ist hier 
offenbar die, daß sie gleichartige Wirkungen bei einer großen Zahl von 
Personen zeitigt, daß sie damit unabhängig macht von jenen irreführenden 
Analysierungsversuchen in dem Labyrinth der individuellen Psyche. Die 
Idee als solche hat eine werbende Kraft, und darum war es die Hauptsache 
in unserer Darstellung, klarzulegen, daß gerade die perversen Ideen ihre 
Macht nicht ihrem logischen Werte, d. h. einer Anzahl von Beweisgründen, 
verdanken. — Nur zugänglich, suggestibel mußten die Personen für die 
Idee sein, die Suggestivwirkung selbst mußte durch die Art und Weise 
der Einpflanzung, der Übertragung besorgt werden“ (S. 279). „Manmuß 
die eigene, selbstempfundene Gewalt der Idee, nicht ihre theoretische Be¬ 
gründung auf die andern wirken lassen, überzeugungvoll, imponierend 
und vor allen Dingen plastisch anschaulich und bestimmt, reich in den 
Sinnen vorstellbarem Detail (Schilderung von Verelendung bei den So¬ 
zialisten, von Hölle und Himmel, bestimmte Prophezeiungen bei religiösen 
Dingen usw.), so muß der Ausdruck sein. Ein Mann, der das vermag, 
wirkt auf die Massen, er ist ein Agitator. — Bedingung der Suggestibilität 
dagegen ist, daß die Idee in ihrer allgemeinen Richtung vorhandenen Denk- 
gewohnheiten entspricht oder doch nicht widerspricht, daß sie in der Person 
plastisch anschaulich zu werden vermag, und daß sie lebhaftes, leiden¬ 
schaftliches Interesse in ihr erwecken kann. Sache der Agitation Anderer 
ist es, dies stets zu steigern, eine immer intensivere Beschäftigung mit der 
Idee anzuregen“ (S. 280). 

„Die Suggestivvorstellung war für uns schließlich nichts anderes 

Zeitsebritt für Psyohatrie. LXXIII. 2 / 3 . 17 


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als eine für das Subjekt eindruckvoll, mächtig oder intensiv gewordene 
Vorstellung, freilich aber eine wirkliche plastische Vorstellung, nicht etwa 
eine abstrakte Idee wie die der Unendlichkeit oder ein allgemeiner Lehrsatz 
in Begriflsform. Diese letzteren repräsentieren keine psychische Kraft 
oder Macht, ein Begriff überzeugt überhaupt nie; niemand glaubt an sich 
den Lehrsatz, daß z. B. Tugend glücklich mache, wohl aber mag er erlebt 
haben, daß brave und gewissenhafte Menschen glücklich geworden sind. 
Solche rein abstrakte Ideen wirken also nie suggestiv. Nun könnte aber der 
Einwand naheliegen: Hat es denn einen besonderen Zweck, für solche elemen - 
tare psychische Tatsachen den Begriff der Suggestion zu verwenden, der doch 
ursprünglich an den speziellen Vorgang der Hypnose geknüpft war? 
Genügt es nicht, einfach von starken und eindruckvollen Vorstellungen 
zu sprechen? — Darauf ist zu erwidern: Die Tatsache der psychischen 
Wirkung starker Vorstellungen auf das ganze Denken der Menschen, 
speziell auf die Willens- und Intelligenzprozesse, birgt eine wesentlich neue 
Erkenntnis in sich und zeigt sich in der Völkerpsychologie von einer ganz 
eminenten Tragweite. Erst das Studium der geistigen Massenbewegungen 
einerseits und die experimentelle Psychologie der Suggestivmethoden 
andererseits hat gelehrt, welche werbende Kraft und welche die andern 
Personen beherrschende Wirkung der Übertragung eindruckvoller Vor¬ 
stellungen zukommt. Mit einem Wort, erst da konnte man lernen, daß 
wir hier eine psychische Macht vor uns haben. Man hatte bisher auf dem 
ganz ungenügenden Wege der Analyse der individuellen Psyche einer Theorie 
den Vorzug gegeben, welche eigentlich nur eine psychische, speziell in¬ 
tellektuelle Kraft zuließ, das war der Verstand oder moderner die Apperzep¬ 
tion, eine Kraft, welche angeblich nur auf Grund von Motiven überzeugende 
Urteile bildete, während die einzelne Vorstellung und die Assoziation ledig¬ 
lich inaktiv waren, d. h. der Apperzeption nur als Material dienten. Mit 
den längst bekannten Tatsachen des religiösen Glaubens und der Vor¬ 
urteile fand man sich — etwas oberflächlich — in der Weise ab, daß man 
der Apperzeption gleichsam zwei Nebenherrscher beigab, den Affekt und 
die Phantasie (mit Gemüt). Sie sollten die Apperzeption mit beeinflussen, 
sozusagen bestechen. Die Phantasie als psychische Kraft existiert aber 
in der modernen Psychologie überhaupt nicht mehr; was man damit be¬ 
zeichnen wollte, das ist eben der Tatbestand, daß die plastische Vorstellung 
eine intellektuelle Wirkung ausübt, also daß sie suggestiv wirkt. Plastisch 
denkende Personen, das sind die Künstler und Naturvölker, sind immer 
stark suggestibel“ (S. 301). 

Aber nicht nur bei Naturvölkern, sondern überall und stets ist in den 
Massen starke suggestive Empfänglichkeit vorhanden, „und als viel 
schwächer erweist sich der Einfluß der intellektuellen Hemmungen; und 
deshalb hängt es zum großen Teile von äußeren Umständen und Zeitver¬ 
hältnissen und fast ebensosehr von dem Auftreten bestimmter bedeutender 
Führer und von der Entwicklung einer folgerichtigen Agitation ab, nach 


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welcher Richtung hin die geistige Bewegung eines Volkes geleitet werde“ 
(S. 305). — 

Den Mittelpunkt der Friedmannschen Erörterung bildet die „starke 
Vorstellung“. Von ihr wird also eine Beurteilung seiner Ansicht auszu¬ 
gehen haben. Stark im Sinne Friedmanns ist eine Vorstellung nicht des¬ 
halb, weil sie ihren Platz im Bewußtsein lange behauptet oder in ihm 
immer wieder erscheint, sondern weil sie ohne logische Begründung Über¬ 
zeugung mit sich führt und widerstreitende Vorstellungen daher entweder 
überhaupt nicht neben ihr hervortreten oder, wenn sie auftauchen, von 
ihr überwunden werden, so daß sie in ihrem Bereich das Denken und 
Handeln bestimmt. Vorstellungen können sich aber nur widerstreiten, 
wenn sie nicht bloße Erinnerungsbilder oder Begriffe, sondern eine Ver¬ 
bindung solcher in Form von Urteilen darstellen. Es handelt sich also um 
Urteile oder um solche Vorstellungen, denen ein Urteil zugrunde liegt. 
Unter diesen werden die Urteile, die zur Beschreibung oder Bewertung 
eines Erlebnisses dienen, selten Anlaß zum Widerstreit geben, sondern im 
allgemeinen nur solche, die einen Zusammenhang zwischen Erlebnissen 
herstellen, namentlich ein Erlebnis auf eine Ursache zurückführen und 
seine möglichen Folgen aussprechen. Nicht das, was an und bei einer 
Sonnenfinsternis zu sehen ist, oder welchen Eindruck sie macht, sondern 
was die Sonnenfinsternis bedeutet, wie der Vorgang sich erklärt, und weiter, 
was seine möglichen Folgen sind, wie der Mensch diese abwehren kann, 
und dergleichen kann Gegenstand der Erwägung und des Streites werden. 
Den Stoff aber, der in dieser Form zur Erwägung kommt, bilden neben dem 
Erlebnis Einfälle, wie sie im Assoziationsspiel auftauchen, und bisweilen 
auch das Ergebnis der aus ihnen hervorgehenden Handlungen. Das gilt 
für das wissenschaftliche wie für das suggestive Denken. Der Unterschied 
zwischen beiden besteht in dieser Hinsicht nur darin, daß das wissenschaft¬ 
liche Denken viel mehr Arbeit darauf verwendet, die Einfälle zu prüfen, 
d. h. mit den Folgerungen aus dem dem Einzelnen überkommenen Wissen 
und seinen eigenen Erfahrungen zusammenzuhalten. Wissenschaftliches 
Denken kann also erst dann einen Einfall widerlegen, wenn ein genügender 
Schatz von anerkanntem Wissen und persönlicher Erfahrung gesammelt 
ist, der den Stoff des wissenschaftlichen Denkens abgibt. Friedmann führt 
als Beispiel unmittelbarer Assoziation und primärer Eigenbeziehungen an: 
„Kommt ein Europäer, der die Neger stark aufregt, neu an einen Ort und 
wird gleichzeitig — aber viele Meilen entfernt — ein Häuptling von einem 
Elefanten auf der Jagd verwundet oder gar getötet, wurde eine Frau von 
einem Krokodil zerrissen an einem Fluß, an dem der Europäer geweilt 
hatte, in allen solchen Fällen wird das erlittene Unglück verknüpft mit 
dem Erscheinen des Europäers, dieser ist schuld daran, er ist, wie man da 
und dort sagt, ein Seelenesser. Es genügt, daß der Europäer ein mächtiger 
Mann ist, also kann er das machen“ (S. 223—224). Friedmann hat recht: 
das genügt und muß genügen. Der Neger hat keine Möglichkeit, das 

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Können des Weißen abzugrenzen; er weiß nur, daß der Weiße als Fremder 
sein Feind ist, und daß die Weißen sehr vieles können, was er selbst und 
seine Genossen nicht vermögen, unter anderem auch in die Ferne wirken, 
und er hat andrerseits die Denkgewohnheit, für jeden Unglücksfall einen 
Schuldigen zu suchen; der Einfall hat also doch eine gewisse Begründung 
im Wissen des Negers, und Hemmungen gegen den Fehlschluß können bei 
ihm in der Tat nur soweit aufkommen, daß die Richtigkeit des Einfalls 
zweifelhaft erscheint, nicht aber, daß der Einfall widerlegt wird. Ebenso 
steht es mit der Vorstellung, die Sonnenfinsternis beruhe darauf, daß ein 
großer Vogel vor die Sonne fliege oder ein Wolf sie verschlinge. Dieser 
Einfall erklärt die Verdunkelung der Sonne, und das Höchste, was wissen¬ 
schaftliches Denken auf dieser Stufe vermöchte, wäre der Zweifel an der 
Richtigkeit der Erklärung. Diese wird aber hier sogar durch den Versuch 
bestätigt, denn die aus dem Einfall sich ergebende Handlung, das Lärmen 
und das drohende Zusammenschlagen der Waffen, verscheucht das Untier 
und befreit die Sonne. Daß solche Erklärungen angenommen werden, sich 
behaupten und das Handeln bestimmen — also die Stärke dieser Vor¬ 
stellungen —, liegt nicht etwa allein darin, daß zunächst dem Ersten, der 
sie bildet, oder seinen Genossen keine anderen oder doch keine gleich 
passenden Einfälle kommen, und später in der Gewohnheit, so zu denken; 
der Mangel an andern Erklärungen und die Macht der Gewohnheit befreit 
den Einfall nur von Hemmungen, Hemmungen können aber die Stärke 
einer Vorstellung ebensowenig erzeugen, wie ihr Fehlen das vermag, son¬ 
dern sie können sie nur steigern oder schwächen, je nachdem sie über¬ 
wunden werden oder sich mächtiger erweisen. Auch das Anschauliche und 
Plastische einer Vorstellung kann wohl zu ihrer Stärke beitragen, aber 
nicht den Grund zu ihr legen. Es mag im zweiten Beispiel besonders wirk¬ 
sam sein, fehlt dagegen ganz im ersten, denn die Verbindung der beiden 
Erlebnisse, der Ankunft des Weißen und des Unfalls, ist gewiß nicht an¬ 
schaulich. 

Nun könnte man aus der Stärke des äußeren Eindrucks, an den die 
Vorstellung sich anschließt, deren Stärke ableiten. Friedmann sagt: „Jeder 
starke äußere Eindruck, jede Wahrnehmung, deren Einwirkung oder 
Wirkungsweise nicht ohne weiteres zu erkennen ist, wird beinahe immer 
und ohne jede begründende Überlegung auf das Subjekt und dessen Er¬ 
lebnisse bezogen. Es gehört nur dazu, daß der Eindruck ein kräftiger ist, 
und das ist dann der Fall, wenn er an sich stark und schreckhaft ist, wie 
etwa Blitz und Donner, das wogende Meer, ein tätiger Vulkan, oder aber, 
wenn er auffällt durch seine Ungewöhnlichkeit, so z. B. eine Sonnen- oder 
Mondfinsternis“ (S. 223). Das ist sicher richtig und erklärt sich daraus, 
daß es zweckmäßig ist und sich im allgemeinen bewährt hat, alles Unge¬ 
wöhnliche als möglicherweise schädlich anzusehen und zu fürchten, solange 
seine Unschädlichkeit nicht erwiesen ist. Nur paßt der Hinweis auf die 
Stärke des äußeren Eindrucks nicht auf alle Fälle. „Der Indianer in Peru, 


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der auf die Reise geht, speit einen Kokaballen, wie er ihn stets im Munde 
führt, an eine Felswand. Findet er bei seiner Rückkehr dieses Zeichen 
noch intakt, so war seine Frau ihm inzwischen treu geblieben; ist der 
Kokaballen herabgefallen, so war die Frau untreu, und das steht für ihn fest. 
Ferner: Läßt man sich von einem für klug und mächtig gehaltenen Europäer 
anspeien, oder kann man gar Haare von dessen Haupt erhalten, so ist damit 
dessen Kraft und Verstand ebenfalls übertragen worden. Kann umgekehrt 
ein Anderer Haare, Nägel, Reste der genossenen Speise eines Australiers 
oder Negers erlangen, so ist der frühere Besitzer überzeugt, daß jener Macht 
über ihn erlangt habe, daß ihm alles passieren werde, was seinen Effluvien 
widerfährt; werden diese verbrannt, so muß er sterben, und er ist zu großen 
Opfern bereit, um etwas der Art abzuwehren“ (S. 224—225). Hier ist 
nicht die Stärke eines äußeren Eindrucks, sondern die einer Vorstellung 
maßgebend für die Stärke der Verbindung zwischen Eindruck und Vor¬ 
stellung, die Stärke der Vorstellung liegt aber zunächst in ihrer Gefühls¬ 
betonung, in der Hoffnung, klüger und kräftiger zu werden, in der Besorgnis 
vor der Untreue der Frau oder vor Krankheit und Tod oder aber, wenn 
diese Besorgnis so groß nicht ist, im Gefühl des Zweifels, was zu tun ist. 
„Er muß etwas tun, wenn die Sonne sich verfinstert, wenn der Verstorbene 
ihm eine Krankheit schickt, er muß denjenigen ermitteln, der seine Haare 
oder Nägel verbrannt hat, er muß Sorge tragen, wenn der nötige Regen 
ausbleibt. Was geschieht, das ist an sich gleichgültig und ist Sache des 
Herkommens. Genug, es geschieht in der Absicht, das Schädliche abzu¬ 
wehren, das Nützliche herbeizuführen“ (S. 225). Damit nähere ich mich 
dem Grunde der Sache. Der äußere Vorgang oder die innere Vorstellung 
beunruhigt den Menschen, er hat das Bedürfnis, diese Unruhe loszuwerden, 
und dies Bedürfnis bestimmt ihn, einem Einfall zu folgen, der geeignet ist, 
seinem Handeln oder auch nur seinem Denken die Richtung zu weisen. 
Daß der Einfall hierzu nur geeignet ist, wenn nicht andere Einfälle, die 
ihm widerstreiten, einleuchtender sind, ist selbstverständlich, und daß 
namentlich bei Naturvölkern, aber durchaus nicht nur bei ihnen, der 
Einfall um so kräftiger wirkt, je anschaulicher er ist, ist schon darin be¬ 
gründet, daß anschauliches Denken ursprünglicher ist und im allgemeinen 
viel leichter vor sich geht als begriffliches Denken. Ich möchte den Zu¬ 
sammenhang so ausdrücken: Das Ausbleiben widerstreitender Einfälle 
.bewirkt, daß die das Bedürfnis befriedigende Vorstellung von äußeren 
Hemmungen, die Anschaulichkeit der Vorstellung, daß sie von inneren 
Hemmungen frei die Richtung des Handelns oder Denkens bestimmen 
kann; die Stärke der Vorstellung aber rührt vom Bedürfnis her und ist 
um so größer, je stärker das Bedürfnis ist, und je mehr die Vorstellung 
zur Denkgewohnheit geworden ist und damit die Richtung festlegt, in 
der das Bedürfnis sich auswirken kann. 

Diese Betrachtung trifft jedoch auch für das wissenschaftliche Denken 
zu. Das Bedürfnis, dem Handeln oder Denken eine bestimmte Richtung 


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Kleinere Mitteilungen. 


zu geben, der Zweifel, welche Richtung zum Ziele führt, treibt Einfälle 
hervor oder läßt Einfälle benutzen, die eine Verbindung zwischen ver¬ 
schiedenen Vorgängen oder Vorstellungen schaffen. Widerstreitende Vor¬ 
stellungen oder die Folgen von Handlungen, die aus den Einfällen hervor¬ 
gehen, können diese Verbindung als ungangbar erweisen, und widerstrei¬ 
tende Vorstellungen werden dies besonders auch dann vermögen, wenn sie 
selbst einem stärkeren Bedürfnis entsprechen. Hätte Darwin einen Wider¬ 
spruch zwischen seiner ursächlichen Erklärung der organischen Zweck¬ 
mäßigkeit und Art Verschiedenheit und seinem Gottesglauben gefunden, 
und wäre in ihm das Bedürfnis, an Gott zu glauben, stärker gewesen als 
das Bedürfnis nach einer ursächlichen Erklärung jener Erscheinungen, so 
würden die Gegengründe gegen seinen genialen Einfall diesen zur Unfrucht¬ 
barkeit verdammt haben, oder er hätte jenen Widerspruch für scheinbar 
gehalten und vielleicht so lange gesucht, bis er ihn aufgelöst hätte. Fried¬ 
mann folgert aus dem Verhalten vieler Theologen und theologisch Denken¬ 
den, die den Darwinismus teils von vornherein als unmoralisch verwarfen, 
teils als falsche Hypothese bekämpften: „Offenbar schließt erstlich im 
Geiste dieser Personen die teleologische Idee kontrastierende Vorstellungen 
(hier die kausale Deutung) aus, es besteht ein förmlicher Impuls, sie abzu¬ 
wehren. Zweitens die Überzeugung selbst ruht auf einer Gewohnheit, so 
zu denken, aber nicht auf logischem Raisonnement; denn man hat von 
vornherein den Darwinismus abgewiesen und hat gar keinen Versuch ge¬ 
macht, die vielen Tatsachen, welche für ihn sprechen, abzuwägen gegen¬ 
über den Beweisgründen für die Teleologie. Diese letztere stand fest, der 
Darwinismus war ein Angriff, den es abzuwehren galt. Und der Haupt¬ 
grund für diese differente Behandlung ist ein nichtwissenschaftlicher, die 
moralische Bewertung beider Ideen“ (S. 218). Ich kann dem nicht ganz 
zustimmen; denn daß die teleologische Idee die kausale Deutung aus¬ 
schließe, ist auch im Sinne jener Personen nur soweit richtig, daß die 
teleologische Idee eine restlose kausale Deutung ausschließe, dagegen geben 
jene Gegner der Entwicklungslehre ganz allgemein zu, daß die kausale 
Naturbetrachtung durchaus berechtigt sei, und betonen nur, daß sie nicht 
alles erklären könne, und daß die Betrachtung unter dem Gesichtspunkt 
des Zwecks ihr übergeordnet sei. Sie könnten also auf diesem Boden 
sehr wohl, ohne ihrem Standpunkt etwas zu vergeben, zur Annahme der 
Darwinschen Entwicklungslehre gelangen, wenn — ja wenn bei ihnen ein 
Bedürfnis nach einer kausalen Naturerklärung der Zweckmäßigkeit im 
Tier- und Pflanzenreich bestände. Dies Bedürfnis ist es ja allein, was den 
von der Denkweise der heutigen Naturwissenschaft Durchdrungenen trotz 
der großen Beweislücken und der vielen bei näherem Eingehen noch 
wachsenden Schwierigkeiten zur grundsätzlichen Annahme der Abstam¬ 
mungslehre in dieser oder jener Form zwingt. Wo jenes Bedürfnis nicht 
besteht, nötigt nichts, sich über jene Lücken und Schwierigkeiten hinweg¬ 
zusetzen, denn Lamarck, Darwin und ihre Nachfolger ermöglichen zwar 


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durch Aufstellung von Richtlinien, die sich in manchen Fällen als zutreffend 
ergeben, die Überzeugung, daß nur unsere Unkenntnis zumal der Ver¬ 
gangenheit jene Lücken und Schwierigkeiten schaffe, aber die Ergebnisse 
ihrer Forschungen sind keineswegs „für jeden, der zu reflektieren ver¬ 
steht, gleich verbindlich“, sondern hier entscheidet ein subjektives Ele¬ 
ment, das Vorhandensein oder Fehlen des Bedürfnisses nach einer kausalen 
Naturerklärung der organischen Zweckmäßigkeit. Wie gering ein ebenso 
scharfsinniger wie besonnener Naturforscher, der von jenem Kausalitäts¬ 
bedürfnis getrieben die Darwinsche Lehre als einer der ersten in Deutsch¬ 
land annahm und mit Nachdruck vertrat, wie gering E. du Bois-Reymond 
von den Beweisen für Darwins Abstammungslehre dachte, zeigen seine 
bekannten Worte: „Mögen wir immerhin, indem wir an diese Lehre uns 
halten, die Empfindung des sonst rettunglos Versinkenden haben, der 
an eine ihn nur eben über Wasser tragende Planke sich klammert: bei der 
Wahl zwischen Planke und Untergang ist der Vorteil entschieden auf seiten 
der Planke“ *)• Hiernach braucht bei dem, der Darwins Lehre verwirft, 
die teleologische Idee die kausale Deutung nicht auszuschließen oder ein 
förmlicher Impuls zu bestehen, sie abzuwehren: wer nicht vom Bedürfnis 
gezwungen wird, sich auf das Meer kausaler Ableitung der organischen 
Zweckmäßigkeit und Artverschiedenheit zu wagen, kann dazu nicht durch 
den Hinweis auf die Plankentragfähigkeit der Abstammungslehre bestimmt 
werden. Dagegen hat Friedmann darin gewiß recht, daß die Überzeugung 
von der Unrichtigkeit des Darwinismus wenigstens anfangs vielfach auch 
auf Gewohnheit beruhte, und daß zu seiner Verwerfung häufig ein nicht 
wissenschaftlicher, sondern moralischer Gesichtspunkt führte. Nur sehe 
ich den Hauptgrund dafür, daß in jenen Männern die Gewohnheit siegte 
und die moralische Wertung zu keiner neuen Denkarbeit führte, die viel¬ 
leicht mit der Überwindung des Gegensatzes zwischen naturwissenschaftlich¬ 
kausaler und teleologischer Denkweise geendet hätte, im Mangel eines 
hinreichend kräftigen Bedürfnisses nach ursächlicher Erklärung auf diesem 
ihnen ursprünglich fremden Forschungsgebiete. 

Daß die Anschaulichkeit einer Vorstellung auch das wissenschaftliche 
Denken erleichtert, dafür brauche ich nur an die Atomlehre, die Struktur¬ 
chemie und Ehrlichs Seitenkettentheorie zu erinnern. Wie der Vogel, der 
zwischen Sonne und Erde schwebt und so die Sonnenfinsternis hervorruft, 
nicht selbst gesehen, sondern nur aus seinen Wirkungen erkannt wird, 
so sind die Atome, der chemische Bau der Moleküle und deren Riesen¬ 
wachstum in Seitenketten von keinem Auge gesehen und nur aus den 
Wirkungen, zu denen sie führen könnten, erschlossen worden. Ein an¬ 
schauliches und deshalb bequemes Bild für eine unbekannte Ursache, 
vorzüglich geeignet, eine große Anzahl von Tatsachen übersichtlich an¬ 
einanderzureihen, und schon aus diesem Grunde ein ausgezeichnetes 


1 ) E. du Bois-Reymond, Darwin versus Galiani, Berlin 1876. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Hilfsmittel der Forschung, hat jede dieser Lehren das Bedürfnis nach 
ursächlicher Erklärung soweit befriedigt, als es eben durch eine bildliche 
Darstellung befriedigt werden kann, aber keine dieser Lehren ist auch dem 
Schicksal entgangen, daß das in ihnen gegebene Bild als Wirklichkeit 
angesehen wurde. Die Folge war, daß die Entdeckung von Widersprüchen, 
zu denen die Atomlehre, die Mutter der beiden andern, führte, ihre Ver¬ 
werfung und ihren Ersatz durch eine andere, die energetische Theorie, zu 
fordern schien, während die Vorzüge eines Bildes vor einer begrifflichen 
Bestimmung so groß sind, daß man es wegen kleiner Unvollkommen¬ 
heiten, die man beim Gebrauch berücksichtigen kann, nicht aufgeben 
wird. Es ist die gleiche Unklarheit, die auch das Bild des Vogels, der die 
Sonne verdeckt, zu einem wirklichen Vogel machte, und die auf religiösem 
Gebiete Bilder und Symbole so leicht zum Ausdruck tatsächlicher Ver¬ 
hältnisse erstarren läßt. 

Also auch wissenschaftliche Ideen verdanken ihre Entstehung 
und häufig auch ihre Geltung nicht allein der Macht ihrer Gründe und 
dem Fehlen widerstreitender Vorstellungen, sondern vor allem dem Be¬ 
dürfnis, zu dessen Befriedigung sie geschaffen wurden, mag dies Bedürfnis 
mehr ein praktisches oder theoretisches sein und mehr von einem auf¬ 
fallenden Ereignis oder von einer mit Zweifel verbundenen Vorstellung 
ausgehen. Daß äußere Ereignisse praktische Bedürfnisse erzeugen und 
diese das wissenschaftliche Denken in Bewegung setzen, davon hat uns 
der jetzige Weltkrieg mit seiner Absperrung der Mittelmächte vom Welt¬ 
handel zahlreiche Beispiele in den Bemühungen um Gummi-, Stickstoff-, 
Eiweißersatz usw. geliefert. Und wie der Indianer im Bedürfnis, sich die 
Sonnenfinsternis zu erklären, zur nächstliegenden Vorstellung eines Vogels 
greift, der, ein Bewohner des himmlischen Luftmeers, die Störung im Ver¬ 
halten des andern Himmelsbewohners herbeiführt, so schloß Le Verrier 
von der Beobachtung auffallender Unregelmäßigkeiten der Uranusbahn 
auf das Dasein eines andern, noch unbekannten Planeten. Dasselbe aus 
dem Innern stammende Bedürfnis, mächtiger und klüger zu werden, das 
den Wilden dazu treibt, zu diesem Zwecke sich Haare vom Haupte eines 
Europäers zu verschaffen, hat wissenschaftliche Untersuchungen über 
Wasser- und Luftströmungen, Geschoßbahnen, die Wirkung von Arznei¬ 
mitteln und unzähligen andern Dingen veranlaßt. Und wie der Peruaner 
im Drange, die Treue seiner Frau festzustellen, auch ein Mittel dafür 
findet, so hat z. B. das Bedürfnis nach Anzeichen, ob eine geistige Störung 
heilen werde, zur Aufstellung der Dem. praecox und des manisch-depres¬ 
siven Irreseins geführt. Der Unterschied liegt eben darin, daß dort jede 
nur einigermaßen passende Vorstellung Leben gewinnen kann, während 
hier nur die tauglichste Vorstellung im harten kritischen Kampfe ums 
Dasein zur Reife kommt, nicht aber darin, daß hier das Ergebnis von 
subjektiven Elementen unabhängig sei: ein subjektives Element, die Stärke 
des Bedürfnisses, ist hierfür sogar von oft ausschlaggebender Bedeutung. 


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Das erhellt schon daraus, daß, je stärker der Widerstand des kritischen 
Denkens, um so kräftiger das subjektive Bedürfnis sein muß, um zum 
Durchhalten und zur Bewältigung der Arbeit auszureichen. 

Das Bedürfnis treibt aber nicht nur zum Auftauchen und zur Prüfung 
von Vorstellungen, die geeignet scheinen, die Unlust des Zweifels zu beseiti¬ 
gen und eine Sicherheit, sei es vorzugweise des Denkens oder des Han¬ 
delns, zu gewähren, sondern es bestimmt auch den Abschluß der Prüfung, 
sei es, daß es befriedigt wird, oder daß es vor der Befriedigung erlahmt, 
oder daß es keinen längeren Aufschub duldet und zugunsten einer nur 
scheinbaren oder unvollkommenen Lösung auf weitere Prüfung vorläufig 
oder ganz verzichtet. Letzteres kann auch im Lichte strenger Wissen¬ 
schaftlichkeit berechtigt sein, wenn das Bedürfnis nämlich nicht etwa ein 
äußeres, z. B. das nach einer raschen Veröffentlichung des Untersuchungs¬ 
ergebnisses ist, wenn vielmehr das Wissen zu einer Lösung des Zweifels 
nicht ausreicht, sondern nur bis zu einer nicht voll befriedigenden, mehr 
oder weniger begründeten Annahme führt. Mag solche Annahme auch 
manchmal nach E. du Bois-Reymonds Worten einer Planke gleichen, die 
durch den Ozean tragen soll, und das hemmende, kritische Denken mit 
gutem Rechte sich dem Bedürfnis entgegenstemmen und ihre Ablehnung 
fordern: sobald das Bedürfnis stark genug ist, wird man nicht auf eine 
vielleicht ferne Zukunft warten, die die Mittel zum Bau eines sicheren 
Fahrzeugs möglicherweise gewähren wird, sondern man wird sich auch 
der Planke anvertrauen, die wenigstens den Stillstand überwindet und 
weiter zu tragen vermag. So kann selbst eine nur unter dem Drucke eines 
starken Bedürfnisses emporgetriebene Annahme viel fruchtbarer sein als 
ein verständiger Verzicht auf sie, indem sie neue Bedürfnisse weckt und 
damit weitere Untersuchungen veranlaßt, die, mögen sie jene Annahme 
stützen oder zu ihrer Abänderung zwingen, ja, mögen sie ihre Unrichtigkeit 
erweisen, doch häufig dem wissenschaftlichen Denken einen frischen 
Anstoß und eine neue Richtung geben. 

Im Bedürfnis liegt also die Quelle sowohl des suggestiven wie des wissen - 
schaftlichen Denkens. Wie steht es nun mit den Unterschieden zwischen 
beiden, vor allem mit Friedmanns „Postulat, daß jede subjektive Überzeugung 
beim Forschen aufgehoben sein soll, und daß nur der logische oder objektive 
Wert der Argumente und Tatsachen entscheiden soll“(S. 219)? Gewiß, „zum 
Urteil beim forschenden Denken gehört stets das Bewußtsein der Gründe, 
sowohl derer, die für, als derjenigen, die gegen das Urteil sprechen können“, 
oder sollte es doch gehören, aber nicht nur bewußt müssen diese Gründe sein, 
sie“ müssen auch gegeneinander abgewogen werden, und ihr Gewicht, ihre 
Bewertung hängt meist von subjektiver Überzeugung ab und muß sogar 
in vielen Fällen davon abhängen, weil eine rein logische, rein objektive 
Feststellung nicht auf allen Gebieten möglich ist. Und der Wert der Tat¬ 
sachen? „Real sind doch hier (d. h. beim wissenschaftlichen Forschen) 
nur die sinnlichen Tatsachen selbst.“ Aber die sinnlichen Tatsachen geben 


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Kleinere Mitteilungen. 


nur den rohen Stoff zum Denken ab, jede Formgebung, jede ursächliche 
Verknüpfung, jede Folgerung ist schon subjektive Zutat und wird von der 
Überzeugung des Einzelnen beeinflußt, „entscheidend“ sind also nicht die 
bloßen sinnlichen Tatsachen selbst, sondern sie erhalten ihren Wert erst 
durch den Zusammenhang, in dem sie gedacht werden. Und kann denn 
ein Forscher für gewöhnlich allein auf eigenen Wahrnehmungen fußen? 
Muß er nicht auch die Beobachtungen Anderer heranziehen ? Wer bürgt 
ihm aber, daß diese richtig in seinem Sinne sind ? Ich will damit gar nicht 
sagen, daß der andere Beobachter leichtfertig vorgegangen sein oder gar 
bewußt Falsches in seine Darstellung eingemischt haben könnte, wohl aber, 
daß er anderes beachtet und eine andere Auswahl nicht nur seiner Beob¬ 
achtungen, sondern auch der in einer Beobachtung zusammengefaßten 
sinnlichen Tatsachen getroffen, manches, was jenem wichtig scheint, aus¬ 
gelassen, manches, was zufällig miteinander vereint war, in ursächlichen 
Zusammenhang gebracht hat, kurz, daß seine Auffassung eine andere 
gewesen ist. Ein Zusammenhang kann jemandem, der die Tatsachen nur 
aus der Beschreibung kennt, sehr deutlich und beweisend scheinen, auch 
wenn dieser Schein nur der Zusammenstellung der Tatsachen entspringt. 
Und ebenso kann in einer Beschreibung ein Zusammenhang ausgeschlossen 
scheinen, den ein anderer Beobachter, von andern Voraussetzungen aus¬ 
gehend, vielleicht herausgefunden hätte. Ob und mit welcher Beweiskraft 
jemand also Beobachtungen und Feststellungen eines Andern als Unter¬ 
lage seines Denkens heranzieht, wird sich nicht nur nach deren Inhalt, 
sondern auch nach seiner Ansicht von der Begabung und der Sorgfalt 
des Andern richten; eine rein objektive Bewertung der Zuverlässigkeit eines 
Andern ist eben nicht möglich. Diese Schwierigkeiten werden sich auf 
einem neuen Forschungsgebiete und bei der Aufstellung und Prüfung neuer 
Gesichtspunkte viel mehr geltend machen und die subjektive Überzeugung 
deshalb hier eine viel größere, aber notwendige Rolle spielen als da, wo die 
Grundlagen allgemein anerkannt werden und die Beobachtungen daher 
von gemeinsamen Voraussetzungen ausgehen. Aber auch hier läßt sich 
die Überzeugung nicht ganz ausschalten und erweist sich sogar unter Um¬ 
ständen als sehr förderlich. 

Als die Beobachtungen über die Uranusbahn unzweifelhafte Ab¬ 
weichungen von derjenigen Bahn ergaben, die der Uranus nach allen auf 
Grund der Gravitationstheorie angestellten Berechnungen hätte nehmen 
müssen, da dachte kein Astronom daran, daß die Gravitationstheorie falsch 
sein könne, sondern man schwankte nur zwischen der Möglichkeit, daß 
ein noch unbekannter Himmelskörper die Abweichungen bewirke, und der, 
daß außer der Gravitation noch eine andere unbekannte Ursache den Lauf 
des Uranus bestimme. Heißt das nicht: man war von der Geltung des 
Gravitationsgesetzes überzeugt? Diese Überzeugung bestimmte dann den 
weiteren Gang der Untersuchungen. Le Verrier fand, daß ein noch unbe¬ 
kannter Planet die Ursache der Uranusabweichungen sein müsse, und be- 


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Kleinere Mitteilungen. 


247 


rechnete dessen Stellung und Bahn, seine Masse und sogar seine Helligkeit 
so genau, daß Galle hiernach den damals noch unbekannten Planeten 
Neptun entdecken konnte. So ward die Überzeugung der Astronomen 
von der Gültigkeit des Gravitationsgesetzes glänzend gerechtfertigt. Was 
lehrt uns aber diese Geschichte? Hätten Le Verriers Rechnungen ergeben, 
daß ein anderer Himmelskörper die Störungen der Uranusbahn nicht 
hervorrufen könne, oder wäre der Neptun nicht gefunden worden, so 
würde man deshalb die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes nicht bezweifelt 
haben; man würde vielleicht zunächst versucht haben, durch Abänderung 
des Gravitationsgesetzes jener widersprechenden Tatsache Rechnung zu 
tragen, wie denn schon Le Verrier selbst die Möglichkeit erwogen hatte, 
daß die Wirkung der Schwerkraft in großer Sonnenferne eine Abänderung 
erleide, ohne aber die Erscheinungen mit dieser Annahme genügend er¬ 
klären zu können. Schließlich aber hätte man sich mit der Vorstellung 
einer noch unbekannten Ursache geholfen, die in diesem Falle eine schein¬ 
bare Abweichung vom Gravitationsgesetz bewirke. Weshalb hätte nun 
hier die anerkannte Tatsache, daß die Uranusbahn nach dem damaligen 
Umfang des Wissens dem Gravitationsgesetze widersprach, nicht als ent¬ 
scheidend gegolten, obwohl eine andere Ursache, die diesen Widerspruch 
aufgelöst hätte, sich nicht finden ließ? Die Antwort ist klar: das Gravita¬ 
tionsgesetz hatte sich in unzähligen Fällen bewährt, die Überzeugung, 
daß es richtig sei, konnte durch einen Fall, der es nicht bewährte, nicht 
umgestoßen werden; mit andern Worten: das Gewicht der Gründe, die 
dafür sprachen, überwog bei weitem; die eine Tatsache, die dagegen sprach, 
konnte nicht entscheiden, der Widerspruch mußte ein scheinbarer sein und 
seine Beseitigung von der Zukunft erwartet werden. 

Was unterscheidet nun diese Überzeugung, daß die Gravitations¬ 
lehre richtig sei, von der im Mittelalter ebenso allgemeinen Überzeugung 
von der Richtigkeit des Wunderglaubens? Friedmann sagt: „Wenn ein 
Naturforscher überzeugt ist, daß noch nie ein Wunder vorgekommen sei, 
so bedeutet das nur: nach aller seitherigen Erfahrung läßt das Naturgesetz, 
so wie wir es kennen, keine Ausnahme zu, wohl aber hat der Glaube und 
die Tradition der Menschen unzählige Male irrtümlich solche Abweichungen 
postuliert.“ Diese Berufung auf die Erfahrung ist aber doch nicht stich¬ 
haltig. Die Erfahrung führt in solchen Fällen oft zu ganz verschiedenen 
Ei*gebnissen, je nachdem man von vornherein von der lückenlosen Geltung 
des Naturgesetzes ausgeht oder ein Wunder da annimmt, wo ein natür¬ 
licher Zusammenhang der Vorgänge nicht nachgewiesen werden kann. 
Auch der Wunderglaube konnte und kann sich auf unzählige Erfahrungen 
berufen, und hätte die Wissenschaft ihn beibehalten, bis seine Widerlegung 
oder vielmehr, da diese im strengen Sinne nicht möglich ist, eine wenigstens 
annähernde naturwissenschaftliche Erklärung etwa der Wunderheilungen 
festere Unterlagen fand, so wäre sie bis zur genaueren Erforschung der 
hysterischen und hypnotischen Erscheinungen, also bis zum vorigen Jahr- 


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Kleinere Mitteilungen. 


hundert, vom Wunderglauben nicht losgekommen. Daß das Naturgesetz 
keine Ausnahme zuläßt, ist eine Voraussetzung, die die Forschung machte, 
lange bevor eine auch nur einigermaßen ausgedehnte Erfahrung ihr ein 
Recht dazu gab. Nicht die Erfahrung, die erst langsam gesammelt werden 
konnte, sondern die Anwendung der Mathematik, die keine Ausnahme 
kennt, auf die Erfahrung und damit deren Unterstellung unter allgemein* 
gültige, jede Möglichkeit des Zufalls ausschließende Denknotwendigkeiten, 
so geringen Raum sie auch namentlich anfangs im ungeheuren Gebiet 
des Naturgeschehens sich unterwerfen konnte, so verhältnismäßig gering 
auch heutzutage noch ihr Geltungsbereich ist, hat doch wie mit einem Schlage 
den Glauben an Wunder und Zufall aus der Wissenschaft entfernt. Schon 
der fromme Kepler sprach es aus, daß Gott an die Gesetze der Geometrie 
gebunden sei. Und die Idee der Allmacht Gottes brauchte dieser Auf¬ 
fassung nicht mehr hemmend in den Weg zu treten, sondern konnte ihr 
sogar als Stütze dienen, seit die Philosophie, zunächst gleichfalls von der 
Mathematik ausgehend, Gottes Wesen als Notwendigkeit, Widerspruch- 
losigkeit begreifen lehrte, am umfassendsten und folgerichtigsten zunächst 
bei Spinoza, der nicht nur der außermenschlichen Natur, sondern auch 
der Natur im Menschen Notwendigkeit zuschrieb und deshalb den freien 
Willen leugnete. 

Ergibt aber die Berufung auf die Erfahrung keinen Unterschied 
zwischen Wunderglauben und der Überzeugung von der ausnahmlosen 
Geltung des Naturgesetzes, so mag uns in dieser Frage gerade der eben 
erwähnte Spinoza als Wegführer dienen. Nach ihm ist alles richtige 
Wissen positiv und schließt höchste Gewißheit in sich, wie die Mathematik 
zeigt. Denn richtiges Wissen ist Vernunfterkenntnis, und diese bleibt 
nicht am Einzelnen und Vergänglichen haften, sondern sucht das Gemein¬ 
same und Bleibende, betrachtet die Dinge als notwendig, erfaßt sie dem¬ 
nach unter der Form der Ewigkeit. Gegenstand dieser Vernunfterkenntnis 
ist die Natur. — Hiermit ist die Form des Naturgesetzes umschrieben, die 
aus der Vernunft stammt, während den Inhalt des einzelnen Naturgesetzes 
nur die Erfahrung geben kann. Dem Naturgesetz gegenüber steht das 
Wunder oder der Zufall. Auch das Wunder führt die Tatsachen auf eine 
Ursache zurück, seine Annahme befriedigt somit mehr als die des Zufalls, 
aber die Erklärung durch ein Wunder setzt neben die natürlichen Ur¬ 
sachen eine außernatürliche Ursache, die im Zusammenhang des Natur¬ 
geschehens dem Zufall gleichkommt, beschränkt daher zwar nicht die 
Grenzen der Naturerkenntnis nach außen, aber schafft Lücken ihres inneren 
Zusammenhangs und ist somit für die Naturwissenschaft negativ; sie hat 
ferner zur Voraussetzung, daß der Vorfall, der mit einer außernatürlichen 
Ursache ausgestattet wird, auf natürliche Weise nicht erklärt werden kann, 
bringt also nicht im einzelnen Falle, sondern seinem Wesen nach Ungewi߬ 
heit jn die Naturerkenntnis und haftet — im Rahmen der Naturerkennt¬ 
nis — am Einzelnen und Vergänglichen, das nicht als notwendig, sondern — 


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Kleinere Mitteilungen. 


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im Rahmen der Naturerkenntnis — als zufällig aufgefaßt wird. Also der 
Wunderglaube und die Überzeugung von der ausnahmlosen Gültigkeit 
der Naturgesetze sind beide nicht der Erfahrung entnommen, sondern be¬ 
stimmen die Erfahrung und können sich dann freilich auch auf die von 
ihnen beeinflußte Erfahrung stützen; die Verschiedenheit ihres Inhalts 
läßt jedoch auf eine Verschiedenheit der Bedürfnisse schließen, die zu ihrer 
Aufstellung und Annahme führten: hier ein starkes Bedürfnis nach Natur¬ 
beherrschung sei es im Handeln oder Erkennen, wie es in der Renaissance¬ 
zeit die fortschreitenden praktischen Ziele der bürgerlichen Gesellschaft 
schufen, die in der städtischen Industriearbeit, im Handel, in der Medizin 
überall neue Aufgaben enthielten 1 ), dort das Bedürfnis nach einem mög¬ 
lichst persönlichen Verhältnis zu Gott und nach einer anschaulichen 
Vorstellung von Gott und seinem Wirken. Und wie der Ursprung, so sind 
auch die Wirkungen beider Überzeugungen verschieden. Während die 
Annahme des Wunders das besondere Bedürfnis, in dem sie wurzelt, und 
zugleich das allgemeine Bedürfnis nach ursächlicher Erklärung rasch be¬ 
friedigt, stellt die Annahme durchgehender Naturgesetzlichkeit vor immer 
neue Aufgaben und zwingt zu unablässiger Arbeit, um dem Bedürfnis zu 
genügen. Diese Arbeit hat nun zu immer neuen Erfahrungen und zur Auf¬ 
stellung und immer genaueren Anpassung der Naturgesetze an die Er¬ 
fahrung geführt. Die Überzeugung von der Richtigkeit des einzelnen 
Naturgesetzes, etwa des Gravitationsgesetzes, ist daher anders begründet 
als die Überzeugung, daß im Zusammenhang des Naturgeschehens eine 
Gesetzlichkeit erscheine, die keine Ausnahme zulasse, oder als ihr Wider¬ 
spiel, der Wunderglaube. Dort, bei der Überzeugung von der Gültigkeit 
des einzelnen Naturgesetzes, spricht die Erfahrung das entscheidende Wort, 
aber nicht hier, bei der grundsätzlichen Entscheidung zwischen Wunder¬ 
glauben und durchgängiger Naturgesetzlichkeit. Was folgt hieraus ? Das 
Naturgesetz, nicht „wie wir es kennen“, sondern wie wir es grundsätzlich 
auffassen, läßt keine Ausnahme zu. Zeigt sich solche bei einem einzelnen 
Naturgesetz, so ist sie scheinbar, oder das Naturgesetz ist falsch aufgestellt. 
Friedmann hat recht: „Alle sogenannten Naturgesetze und Naturkräfte 
gelten nur als Regeln und Hypothesen, um die Tatsachen unter einen ver¬ 
ständlichen Gesichtspunkt zu bringen, besten Falles als eine Näherung 
an den wirklichen Zusammenhang der Dinge.“ Aber daß ein solcher 
wirklicher Zusammenhang, und zwar lückenlos, existiert, daß in den einzel¬ 
nen vergänglichen Erscheinungen etwas Gemeinsames und Bleibendes, 
nämlich das — nicht dieses oder jenes — Gesetz enthalten ist, ist nicht 
Folge, sondern Voraussetzung der wissenschaftlichen Erfahrung, ist Sache 
nicht der Erfahrung, sondern der Überzeugung oder, wenn es als Vernunft¬ 
erkenntnis in Spinozas Sinne begriffen wird, Gewißheit. 


*) Vgl. W. Dillhey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit 
Renaissance und Reformation. Teubner, 4914, S. 257. 


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Kleinere Mitteilangen. 


Wir haben die Überzeugung nicht nur als grundsätzliche Voraus¬ 
setzung aller Wissenschaft, sondern auch beim wissenschaftlichen Denken 
selbst als wirksam befunden, Friedmann will sie beim wissenschaftlichen 
Forschen überhaupt ausgeschlossen haben und vertritt hiermit eine weit 
verbreitete Ansicht. Woher diese Verschiedenheit? 

Fragen wir zunächst: Was ist unter dem logischen oder objektiven 
Wert der Argumente und Tatsachen zu verstehen, der nach Friedmann 
beim Forschen allein entscheiden soll? Ich führte schon aus, daß man 
vom objektiven Wert eines Grundes oder einer Tatsache offenbar nur 
dann sprechen kann, wenn die Vorstellung des Grundes oder der Tatsache 
bereits einen Zusammenhang von Vorstellungen oder — eigenen oder 
fremden — Wahrnehmungen enthält. Ihr objektiver Wert läge dann 
in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit, und das Werturteil stellte fest, 
ob jener Zusammenhang — ganz oder z. B., wenn er in Zahlen ausge¬ 
drückt ist, mehr oder weniger annähernd — der Wirklichkeit entspricht. 
So einfach liegt jedoch die Sache nicht. Denn den wirklichen Zu¬ 
sammenhang kennen wir nicht und können also an ihm den Wert der 
Vorstellung, die wir an seine Stelle setzen, nicht messen. Je mehr eine 
Vorstellung aber in ähnlichen Tatsachen einen bestimmten Zusammenhang 
aufweist und je mehr die Abweichungen, die ihm zunächst widersprechen, 
dadurch als Ausnahme begründet werden, daß in ihnen zugleich ein anderer 
bestimmter Zusammenhang zum Ausdruck kommt, der ihre Abweichung 
erklärt und damit den Widerspruch aufhebt, je mehr also die Vorstellung 
„die Tatsachen unter einen verständlichen Gesichtspunkt bringt“, um so 
mehr objektiven Wert, d. h. also um so mehr Wahrscheinlichkeit, daß sie 
den wirklichen Zusammenhang ausdrückt, werden wir ihr zubilligen. 
Je weniger widersprechende Tatsachen schließlich übrigbleiben, deren 
Abweichung sich nicht einem andern bestimmten Zusammenhang gleicher 
oder ähnlicher Art einordnen und dadurch erklären läßt, um so wahr¬ 
scheinlicher wird es, daß wir es bei ihnen überhaupt nicht mit gleichartigen 
Tatsachen zu tun haben, sondern z. B. bei astronomischen Fragen mit 
Beobachtungsfehlern, die ihrer Art nach in den Bereich der Physiologie, 
der Optik, der Instrumentenkunde und dergleichen gehören. Der objektive 
Wert eines Vorstellungszusammenhangs richtet sich also nach der Wahr¬ 
scheinlichkeit, mit der dieser Zusammenhang die Wirklichkeit darstellt. 
Wir können ihn auch als Wirklichkeitswert der Vorstellung bezeichnen. 
Dagegen liegt der logische Wert einer Vorstellung, die in diesem Falle 
einen Begriff oder einen Zusammenhang von Begriffen darstellt, darin, 
daß der Begriff oder das Begriffsverhältnis richtig gebildet ist. Mit andern 
Worten, die Wahrscheinlichkeit, daß die in einem Vorstellungszusammen- 
hange vorkommenden Begriffe richtig gebildet und angewendet sind, 
macht den logischen, die Wahrscheinlichkeit, daß der Vorstellungszusam- 
menhang den wirklichen Zusammenhang wiedergibt, den Wirklichkeitswert 
des Vorstellungszusammenhanges aus; der logische Wert einer Vorstellung 
ist also in ihrem Wirklichkeitswert schon enthalten. Welchen Grad der 


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Wahrscheinlichkeit wir aber annehmen, ist nie völlig frei von subjektiver 
Beimischung, so daß auch am wissenschaftlichen Forschen, wenn auch in 
sehr verschiedenem Maße und in seltenen Fällen kaum merkbar, die Über¬ 
zeugung beteiligt ist. Der logische Wert beruht auf der Gewißheit, daß 
das eigene Denken und das Denken Anderer, die sich mit dem gleichen 
Gegenstände beschäftigt haben, bisher keinen logischen Fehler bemerkt 
hat, und der hieraus geschöpften Überzeugung, daß auch künftige Über¬ 
legung das gleiche Ergebnis haben wird; die Wahrscheinlichkeit richtet 
sich also hier nach dem Vertrauen, das dem Denken der Beteiligten gezollt 
wird. Und nicht besser steht es mit der Wahrscheinlichkeit, daß der ge¬ 
fundene Vorstellungszusammenhang der Wirklichkeit entspricht. Soweit 
Zahlen in ihm eine Rolle spielen, können diese durch Wahrscheinlichkeits¬ 
rechnung bewertet werden. Aber schon in der Astronomie, also einer 
Wissenschaft, die vor andern auf Mathematik aufgebaut ist, machen die 
Zahlen nicht alles aus, und wenn sie auch einen objektiven Maßstab ab¬ 
geben, an dem der Zusammenhang der gefundenen Tatsachen geprüft 
werden kann, so stimmen doch schon die gefundenen, der Berechnung zu¬ 
grunde gelegten Zahlen nie vollkommen überein, und ihre Bewertung ist 
insofern subjektiv, als der Einlluß der Bedingungen, die einen Fehler hervor¬ 
gebracht haben können, verschiedener Abschätzung unterliegt, von dieser 
Abschätzung aber das gegenseitige Wertverhältnis der Zahlen abhängt. 
Freilich verschwindet die Bedeutung der einzelnen Zahl und ihres Wertes 
immer mehr, eine je größere Zahl von Beobachtungen zu Gebote steht, 
und so kommt schließlich die subjektive Überzeugung praktisch kaum noch 
in Betracht. Daß aber in andern Wissensgebieten die Wahrscheinlich¬ 
keitsrechnung oft nur auf stark subjektiver Grundlage anwendbar ist, 
brauche ich vor Psychiatern nicht erst näher auszuführen. Und wenn es 
andrerseits heißt: „EinResultat muß sofort aufgegeben werden, sowie eine 
entscheidende Tatsache dagegen bekannt wird“, so erhebt sich gleich die 
Frage: Welche widersprechende Tatsache ist entscheidend, und welche 
widerspricht nur scheinbar? Und die weitere: Was ist als — gleichartige — 
Tatsache und was als irrtümliche oder ungenügende Beobachtung zu 
werten? Je mehr eine Wissenschaft im Wachstum und eine Frage im 
Fluß ist, um so weniger pflegt es möglich zu sein, den Wert der Argumente 
und Tatsachen völlig objektiv zu bemessen und somit die subjektive 
Überzeugung auszuschalten. 

Ich möchte es demnach nicht als „Postulat“, sondern als Ideal auf¬ 
stellen, „daß jede subjektive Überzeugung beim Forschen aufgehoben sein 
soll, und daß nur der“ auf rein objektiver Grundlage gefundene „logische 
und objektive Wert der Argumente und Tatsachen entscheiden soll“. 
Der Forscher wird sich bemühen, diesem Ideal so nahe als möglich zu kom¬ 
men ; dagegen würde, als unbedingte und bindende Forderungaufgefaßt, jener 
Satz weite Wissensgebiete zur Unfruchtbarkeit verdammen. Und ebenso¬ 
wenig kann ich der vorhergehenden Fried/nannschen Behauptung in ihrem 
.zweiten Teile beistimmen, daß „die Wissenschaft über eine große Zahl von 


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Kleinere Mitteilungen. 


Lehrsätzen verfügt, die beim heutigen Stande der Erkenntnis für jeder¬ 
mann feststehen, der wissenschaftlich denkt, die aber dennoch keiner für 
Wahrheit oder für einen Gegenstand seiner Überzeugung erklärt“. Wenn 
ich mit Friedmann als Merkmal der Überzeugung ansehe, „daß die Idee, 
d. h. die gebildete Assoziation, in Zukunft festgehalten wird, daß sie bei 
verwandten neuen Vorkommnissen sich als wirksame Analogie für das 
Subjekt bewährt, und daß nicht notwendig dabei kontrastierende Vor¬ 
stellungen auftauchen“, so bin ich von der Geltung des Gravitationsgesetzes 
überzeugt, d. h. ich bin davon überzeugt, daß dies Gesetz oder meinet¬ 
wegen diese Regel oder Hypothese den wirklichen Zusammenhang der 
Dinge ausdrückt, wie der Reliquiengläubige davon überzeugt ist, daß der 
Reliquienglaube den wirklichen Zusammenhang zwischen Reliquie und 
Krankenheilung ausdrückt. Gewiß bin ich bereit, die Geltung des Ge¬ 
setzes einzuschränken, falls Tatsachen ermittelt werden, die diese Ein¬ 
schränkung erfordern, aber das bezeichnet keinen grundsätzlichen Unter¬ 
schied, denn auch der Reliquiengläubige ist im allgemeinen bereit, auf 
neue, von ihm anerkannte Tatsachen hin die Geltung des Reliquien¬ 
glaubens einzuschränken, und wird nur darauf bestehen, daß derselbe für 
viele Fälle zutriflt und somit einen Wahrheitskern enthält. Wenn wir 
sagen, daß die wissenschaftliche Überzeugung viel sorgfältiger und genauer 
begründet ist, jederzeit nach Bedarf auf ihre Grundlagen untersucht werden 
kann, und daß sie ihre Stärke, soweit allgemein angenommene Lehren in 
Betracht kommen, namentlich auch daraus schöpft, daß etwaige Beob- 
achtungs- oder Denkfehler, die auch dem angestrengten Bemühen des 
Einzelnen entgehen könnten, von Andern schon gefunden und aufgezeigt 
wären, so macht dies alles keinen grundsätzlichen Unterschied aus, denn 
das Streben nach Gründlichkeit und die Zuversicht, daß alles geschieht, 
um die Wahrheit zu ermitteln, dürfen wir auch denen, die heutzutage eine 
Wunderheilung von Amts wegen feststellen oder an eine kirchlich aner¬ 
kannte Wunderheilung glauben, nicht absprechen. Auch die katholische 
Kirche hat von der Wissenschaft gelernt und umgibt die Anerkennung 
eines Wunders mit weitgehenden Vorsichtsmaßregeln, um Betrug und 
gutgläubigen Irrtum auszuschließen 1 ). Wissenschaftliche Arbeit ist in 
den Dienst religiösen Denkens getreten. Ich komme somit zum Schluß: 
Nicht die Form und Stärke, sondern der Inhalt der Überzeugung ist hier 
das Unterscheidende, dieser aber rührt von der Verschiedenheit des das 
Denken bestimmenden Bedürfnisses her. 

Der Grund, weshalb Friedmann die Überzeugung beim wissen¬ 
schaftlichen Denken ausgeschlossen haben will, liegt also darin, daß er 
nicht den tatsächlichen Hergang, sondern ein Ideal im Auge hat, aber ein 
Ideal, das streng genommen nur für die Überlieferung und die Anwendung 
feststehender Lehren paßt und hier zu einem sicheren und rein sachlichen 


‘) S. FamiUer, Das Heiligenleben in der modernen Psychopatho 
graphie. Regensburg, 1915. 


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Vorgehen verhilft, aber ein Fortschreiten auf neuen Bahnen verhindert, 
wenn es als Postulat, als Forderung aufgestellt wird. Daß Friedmann 
diese Forderung erhebt, zeigt, daß er das Verhältnis verkennt, das zwischen 
Überzeugung und Wirklichkeitswert besteht: ich bin von der Wahrheit 
einer Vorstellung überzeugt, wenn ich ihr einen so hohen Wirklichkeits¬ 
wert beimesse, daß ich geneigt bin, einen abweichenden Befund als nur 
scheinbar widersprechend aufzufassen. Was Friedmann mit seiner Forde¬ 
rung meint, ist offenbar: nur auf sorgfältiger Abwägung der Gründe, die 
dafür und dagegen sprechen, soll ich den Wirklichkeitswert einer Vor¬ 
stellung aufbauen; ich soll nicht Wünsche und Befürchtungen, auch nicht 
den Wunsch nach raschem oder glattem Abschluß der Untersuchung mit¬ 
sprechen lassen, keine Mühe scheuen und nur nach möglichst vollständigem 
Beobachten und reiflichem Durchdenken einen Abschluß herbeiführen, 
der nicht mehr aussagt, als ich nach ehrlicher, gewissenhafter Prüfung der 
Sachlage verantworten kann. 

Hiermit ist der Gegensatz, den Friedmann zwischen suggestivem und 
forschendem Denken aufstellt, beibehalten, aber auf andere Grundlage 
gestellt: der Vorgang ist in beiden Fällen gleichartig, indem eine von 
Andern übernommene oder als eigener Einfall auftauchende Vorstellung 
das Denken oder Handeln bestimmt, falls nicht hemmende Vorstellungen 
dazwischen treten, der Gegensatz aber liegt darin, daß dort kein Bedürfnis 
nach sorgfältiger Begründung besteht und deshalb die Arbeit, die diese 
kostet, nicht in Frage kommt, während hier aus dem Bedürfnis nach ge¬ 
nauer Erfassung der Wirklichkeit heraus immer neue und nie abschließende 
Arbeit geleistet wird. Dem suggestiven wie dem wissenschaftlichen Denken 
liegt also das Bedürfnis zugrunde; zunächst dem suggestiven Denken das 
Bedürfnis, dem Handeln die Richtung zu weisen, weiterhin als Beginn des 
wissenschaftlichen Denkens das Bedürfnis, diese Richtung dem Zwecke 
entsprechender zu gestalten und hierzu die Voraussetzungen des Handelns 
genauer zu erforschen, dem ausgebildeten wissenschaftlichen Denken 
endlich das hieraus abgeleitete Bedürfnis, den wirklichen Zusammenhang, 
dessen Kenntnis allein den Erfolg des Handelns gewährleistet, in allen 
seinen Teilen und mit allen Mitteln zu ergründen, die die Überlegung an 
die Hand gibt. So wird also Bedürfnis und Arbeit immer umfangreicher, 
und deshalb ist die Überzeugung, die die Forschung über einen Gegenstand 
abschließt, um so schwerer zu erlangen, je wissenschaftlicher das Denken 
wird, während das Suggestivdenken sie vergleichweise mühelos hervor¬ 
bringt. Schließlich führt das Forschen, wenn es nicht zu einem voll be¬ 
friedigenden Abschluß gelangt, statt zur Überzeugung nur zur Annahme 
oder vorläufigen Annahme. Je mehr der Forscher aber diese durch den 
Erfolg bestätigt findet, um so überzeugter wird er von ihrer Richtigkeit. 
Und je mehr solche Annahme sich auch Andern und auf andern Gebieten 
bewährt, um so mehr wird sie Gegenstand allgemeiner Überzeugung, so 
daß Tatsachen, die ihr widersprechen, zunächst als scheinbar wider- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 18 


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Kleinere Mitteilungen. 


sprechend aufgefaßt werden. Mag man sie auch dann noch als Annahme 
bezeichnen, um damit die Bereitwilligkeit auszudrücken, sie jederzeit ab¬ 
zuändern, wenn die Gegengründe überwiegen sollten, oder wenn auch nur 
eine Tatsache bekannt wird, die entscheidend, nicht scheinbar dagegen 
spricht, sie hat trotzdem die Eigenart der Überzeugung angenommen. 
Solche — zum Unterschied vom Suggestivdenken: begründete oder doch, 
da wir dem Suggestivdenken nicht jede Begründung absprechen dürfen, 
viel fester begründete — Überzeugungen geben, gleichviel ob sie von Andern 
auf Treu und Glauben übernommen werden oder zugleich auf eigener 
Prüfung beruhen, die Möglichkeit, an etwas Festes anzuknüpfen, und 
bilden so gleichsam das Knochengerüst der Forschung, das dieser ein Fort¬ 
schreiten gestattet, wobei es sich wohl ereignen kann, daß gerade bei diesem 
Fortschreiten sich ein Mangel der Unterlage herausstellt und zu ihrer 
Abänderung zwingt. Zu fordern ist also nicht, daß der Forscher frei ist 
von wissenschaftlichen Überzeugungen, sondern daß er gegebenenfalls 
stets bereit ist, deren Grundlage von neuem auf ihre Tragfähigkeit zu 
untersuchen und eine Überzeugung aufzugeben, wenn ihre Begründung 
sich hierbei mangelhafter zeigt, als er geglaubt. Diese Forderung drängt 
sich erst da auf, wo das Bedürfnis besteht, den wirklichen Zusammenhang 
in allen Teilen soweit als möglich zu erforschen, weil hier erst ein Teil von 
allen ihn berührenden Teilen abhängig wird und deshalb das Ergebnis 
einer Untersuchung alle damit zusammenhängenden Gebiete beeinflussen 
kann. Diese allseitige Verknüpfung ist dem Suggestivdenken fremd und 
daher die Überzeugung dort im allgemeinen fester, so daß Widersprüche 
viel leichter als scheinbar aufgefaßt und damit abgetan werden, ja ur¬ 
sprünglich, wo nur das Bedürfnis, dem Handeln die Richtung zu weisen, 
die Suggestivvorstellung hervorgetrieben hat, überhaupt nicht hervor¬ 
treten. Der Weg zur Überzeugung ist also beim forschenden Denken viel 
länger und die Überzeugung viel leichter zu erschüttern als beim Suggestiv¬ 
denken, sonst aber ist der Sachverhalt derselbe. Auch beim Indianer, 
der die Treue seiner Frau durch Anspeien des Kokaballens an die Felswand 
prüft oder die Sonnenfinsternis auf den Zwischenflug eines Vogels zurück¬ 
führt, trägt zur Überzeugung von der Richtigkeit dieser Vorstellung sehr 
wesentlich bei, daß sie der herrschenden Denkgewohnheit entspricht und 
sich in vielen Fällen anscheinend bewährt hat. Wenn man dies außer acht 
läßt, entsteht der Anschein eines so starken Gegensatzes, wie er bei Fried¬ 
mann sich darstellt, zumal wenn auch das Bedürfnis als gemeinsame Quelle 
nicht klar hervorgehoben wird. Das Bedürfnis, neue Vorstellungen zu 
bilden, wo ältere, die sich bewährt zu haben scheinen und allgemein ange¬ 
nommen sind, sich zu bequemem Gebrauche darbieten, entsteht bei primi¬ 
tiven wie bei Kulturvölkern nur in den verhältnismäßig Wenigen, die zu 
selbständiger Auffassung neigen und ihr mehr als der überlieferten ver¬ 
trauen, und diesen wird es nur selten gelingen, einen einleuchtenderen Zu¬ 
sammenhang als den geltenden zu finden. 


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Kleinere Mitteilungen. 


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Lehrreich für die Art, wie anscheinend ganz in der Luft schwebende 
Vorstellungen aus dem Bedürfnis entstehen können, ist auch Friedmanna Er¬ 
örterung über den Animismus. Friedmann macht darauf aufmerksam (S. 229), 
daß „wir auf der primitiven Stufe des menschlichen Denkens nur zwei Gebiete 
haben, die wir wenigstens theoretisch voneinander trennen können. Das eine 
ist das Gebiet der praktischen und technischen Lebensfürsorge, Kleidung, 
Nahrung, Schutz vor feindlichen Angriffen usw. Hier ist alles, was erlebt und 
entsprechend vorgestellt wird, unmittelbar sinnlich, erfahrungmäßig ... Wir 
treffen aber noch auf ein zweites mächtiges Gebiet, das, wie die Ausgrabun¬ 
gen aus der Urzeit mit ihren reichen Gräberbeigaben beweisen, ebenfalls 
schon vom ersten Dämmern des Menschengeistes ab bestanden hat. Auch 
hier macht die umgebende Welt und Natur Eindrücke auf den Menschen, 
aber sie nützen ihm weder, noch schaden sie ihm direkt, er bemerkt sinnlich 
gar keine Wirkung... Nichts bezeugt, daß es noch andere als natürliche, 
d. h. übernatürliche Wirkungen gibt... Tritt man dieser zweiten Kategorie 
von Vorstellungen näher, so bemerkt man, daß der Mensch viel mächtiger 
von ihnen erregt wrird als von den ersteren, und daß er ganz ungleich 
größere Opfer an wertvollem Besitz für sie hinzugeben pflegt als da, wo er 
praktische Ziele im Auge hat, z. B. Erwerb eines wichtigen Gerätes, Schutz 
vor Hunger usf. Nun zeigt sich weiter, daß die gebildeten Vorstellungen 
tatsächlich nicht theoretischer Natur sind, sie entspringen einem instink¬ 
tiven assoziativen Impulse der persönlichen Eigenbeziehung, d. h. alle 
eigenen Erlebnisse des primitiven Menschen, die ihn schrecken, und deren 
Herkunft er nicht kennt, z. B. Krankheit oder Mißernte, werden von dem 
dem Menschen nahestehenden Toten, aber auch von einem durch sein Er¬ 
scheinen ihn aufregenden Europäer abgeleitet. ... Aber wie das geschehen 
sein 6oll, darüber hat der primitive Mensch nie auch nur sporadisch nach¬ 
gedacht. Die einzige Hilfsvorstellung ist die, daß er sich den Toten noch 
irgendwie als Geist lebend denkt, und daß er ähnliche Geister in die Natur¬ 
dinge versetzt (aniraistische Vorstellung). Wie mechanisch diese Eigen¬ 
beziehung auf den Toten geübt wird, ersieht man auch daraus, daß man 
ihn nicht für an sich mächtig erachtet, und daß man .sich daher so gut 
wie nie hilfesuchend an ihn wendet. Das aber, was so auf den Menschen 
wirkt, das sind immer starke, aufregende Sinneseindrücke, wie der Tod 
eines nahen Verwandten, Sonnenfinsternis, Blitz und Donner.“ Dazu Ist 
zweierlei zu sagen. Einmal: der primitive Mensch kennt jenen Unterschied 
zwischen natürlichen und übernatürlichen Wirkungen nicht, weil er Natur¬ 
gesetze, die jenen Unterschied begründen, nicht kennt. Sodann die ani- 
mistische Vorstellung oder vielmehr, da von dieser im eigentlichen Sinne 
erst da gesprochen werden kann, wo zwischen Leib und Seele unterschieden 
wird, die Übertragung des Erlebnisses der eigenen Handlung auf Ver¬ 
storbene und Naturdinge mußte als „einzige Hilfsvorstellung“ auftreten, 
sobald überhaupt ein kausaler Zusammenhang gebildet wrurde, da nur die 
Erinnerung an das eigene Wirken dem primitiven Denken den Rahmen 

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Kleinere Mitteilungen. 


darbot, in dem zunächst auffallende Ereignisse als voneinander abhängig 
aufgefaßt werden konnten. Erkrankt jemand innerlich oder stirbt eines 
natürlichen Todes, so wird dies auf primitiver Stufe ganz allgemein als 
Angriff eines andern aufgefaßt, wie ja noch im Troerkriege Apollon mit 
Bogen und Pfeil die Pest im Griechenheer hervorruft. Ein solcher Zusam¬ 
menhang muß aber gefunden werden, damit sich das Schutzbedürfnis be¬ 
tätigen kann. So muß, da Krankheit und Mißernte Erlebnisse sind, die 
dem regelrechten Ablauf der Dinge fremd scheinen, ein anderes ungewöhn¬ 
liches Erlebnis mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden, also etwa 
der kürzlich erfolgte Tod eines angesehenen Verwandten oder Häuptlings. 
Die Art des Zusammenhangs kann verschieden gedacht werden, nur muß 
sie eine Schutzhandlung ermöglichen, um jenes Bedürfnis zu befriedigen. 
Daraus, daß der Zusammenhang und die Art desselben aus diesem Schutz¬ 
bedürfnis entstanden ist, erklärt sich erstens, „daß man den Toten nicht 
für an und für sich mächtig erachtet, und daß man sich daher so gut wie 
nie hilfesuchend an ihn wendet“, und zweitens, daß der primitive Mensch 
nie auch nur sporadisch darüber nachgedacht haben soll, wie Krankheit 
oder Mißernte vom Toten abzuleiten sind. Diese Ableitung fehlt nämlich 
nur insofern, als der primitive Mensch sich darüber keine Ansicht bildet, 
wie der Tote den Angriff machen kann. Naturgesetze sind ja nicht bekannt, 
und daher ist alles möglich, gegen alles zugleich kann aber keine bestimmte 
Art der Abwehr gefunden werden. Dagegen weiß auch der primitive Mensch, 
daß nur der angreift, der zornig ist oder sich rächen oder etwas erzwingen 
will ; es gilt also, den Toten zu besänftigen und seine Wünsche zu erfüllen. 
Damit ist dem Schutzbedürfnis die allgemeine Riohtung gewiesen, die nun 
weiter auf verschiedenen Wegen verfolgt werden kann. Hierüber hat nun 
zweifellos der primitive Mensch sogar recht eingehend bis ins einzelne 
nachgedacht und ist dementsprechend auch vor großen Opfern nicht 
zurückgeschreckt. Übrigens zeigen doch manche Bestattungsgebräuche, 
daß auch das Nachdenken über die Möglichkeit, den Toten an der Rück¬ 
kehr zu den Lebenden und damit am Angriff zu verhindern, nicht überall 
gefehlt hat. Die Überlegung ist also keineswegs ausgeschaltet, nur ist sie 
durch die Art der Kausalvorstellung und durch das Schutzbedürfnis in 
ihrer Richtung und in ihren Grenzen bestimmt. Sie fehlt erst dann, wenn 
solche Schutzhandlungen zur Gewohnheit geworden sind und demnach 
die Überzeugung von der Richtigkeit der ihr zugrunde liegenden Vor¬ 
stellung weiterer Begründung nicht bedarf. Daß endlich der primitive 
Mensch „ganz ungleich größere Opfer an wertvollem Besitz“ für Schutz¬ 
mittel gegen die ihm seiner Ansicht nach drohende Gefahr „hinzugeben 
pflegt als z. B. für den Erwerb eines wichtigen Geräts, Schutz vor 
Hunger usf.“, begründet ebensowenig einen Unterschied des suggestiven 
vom wissenschaftlichen Denken, denn wichtigen Erwerb hinzugeben und 
nötigenfalls auch Hunger zu leiden, um sich vor Krankheit und Tod zu 
retten, gilt auch dem wissenschaftlich Denkenden nicht als unverständiges 


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Opfer. Immer wieder zeigt sich: die Richtung des Denkens und Handelns 
wird im allgemeinen vom Bedürfnis, im besonderen von Denkgewohn¬ 
heiten und Überzeugungen bestimmt, und Überzeugung entsteht, wenn 
das Bedürfnis eine Vorstellung hervorgetrieben hat, die, weil sie sich be¬ 
währt, zum mindesten darin bewährt, daß der Druck des Bedürfnisses 
aufhört, dem wirklichen Zusammenhang zu entsprechen und damit auch 
ferner dem Handeln den Erfolg zu sichern scheint. Das gilt für das sug¬ 
gestive wie für das wissenschaftliche Denken. 

Ist dies richtig, so muß auch in der besonderen Art des Bedürfnisses 
der Grund liegen, weshalb die starke Vorstellung auch das letzte der von 
Friedmann so nachdrücklich betonten Merkmale aufweist: ..Die suggestive 
Vorstellung erregt nicht nur direkt eine subjektive Überzeugung, sondern 
sie ist lebhaft sinnlicher, anschaulicher Art. sie entsteht ohne Reflexion 
und ist geeignet, in Andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt 
zu werden, und sie erzeugt weiter einen starken Impuls zur Aktivität“ 
(S. 215). Das zuletzt angeführte ist zugleich das wichtigste Merkmal, denn 
auch wissenschaftliche Vorstellungen können unter Umständen wenigstens 
annähernd die übrigen Kennzeichen an sich tragen, ermangeln aber gerade 
dann völlig des letzten. Wenn in der Physikstunde etwa die doch sicher 
recht anschauliche Atomlehre vorgetragen wird, so kann die subjektive 
Überzeugung von ihrer Wahrheit auch ohne — noch dazu logische — Be¬ 
gründung dem Schüler eingepflanzt werden, der sie ohne Reflexion hin¬ 
nimmt, auch wenn er sich nicht erst besonders überlegt, daß der Lehrer 
ihm keinen Unsinn vormachen dürfe und werde: aber einen starken Impuls 
zurAktivität erzeugt sie gerade in diesem Falle gewiß nicht. Dagegen „beim 
religiösen Denken hat diese Seite des Suggestivvorstellens den Drang und 
Zwang zu einem Kultusdienst einerseits, und den starken Impuls zur Über¬ 
tragung auf andere, d. h. den Fanatismus, fast immer im Gefolge gehabt. 
Das liegt ganz gewiß sonst nicht in dem Vorstellen an sich begründet, am 
allerwenigsten in der Idee des Unendlichen (mit der man die religiöse Sug¬ 
gestivwirkung glaubte in Zusammenhang bringen zu können), wohl aber 
in der psychologischen Wirkung nachhaltigen starken, d. h. suggestiven 
Vorstellens“ (S. 215). 

Aber nicht jedes religiöse Denken führt zum Kultusdienst und Fana¬ 
tismus;, sondern nur das, welches äußerlich Gottes Schutz und Hilfe herbei¬ 
führen will, nicht das, welches auf die Ergebung in den göttlichen Willen 
abzielt und mit der Bitte endet: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe. 
Sicher ist das Bedürfnis, das Religion schuf und erhält, höchst persönlicher 
Art und geht viel unmittelbarer als das wissenschaftliche Bedürfnis auf 
die Grundtriebe des Menschen zurück. Glück und Unglück des Einzelnen und 
der Gesamtheit vom Zufall oder von einer unerbittlichen Notwendigkeit 
abhängig zu denken, ist hart und geeignet, gerade feinere Naturen mit 
lähmendem Entsetzen zu erfüllen. Namentlich dann, wenn allgemeine oder 
besondere Not die Aussicht in die Zukunft verdüstert, kann das Bedürfnis 


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unabweisbar werden, Halt und Schutz vor den drohenden Gefahren au 
einer über dem Zufall oder der blinden Naturnotwendigkeit waltenden 
Macht zu finden und zugleich die Entscheidung über das, was zu tun ist, 
auf die Weisung dieser Macht zurückzu führen, der damit gewissermaßen die 
Verpflichtung zufällt, es zum Guten ausgehen zu lassen. Durch welche 
Vorstellungen dies Bedürfnis befriedigt wird, richtet sich nach Über¬ 
lieferung und äußeren Einflüssen, nach Denkfähigkeit und Denkgewohn¬ 
heit des Einzelnen. Je unmittelbarer aber die Überzeugung, die das Be¬ 
dürfnis stillt, die Befriedigung der Grundtriebe verspricht, um so unge¬ 
hemmter wirkt deren Kraft zwar nicht auf die Stärke der Überzeugung, 
aber auf die Stärke des Handelns im Sinne der Überzeugung. Beides muß 
auseinandergehalten werden. Die Stärke der Überzeugung kann gleichgroß 
sein beim Muhammedaner und beim Anhänger Spinozas, Kants und Fech- 
ners, aber der Inhalt der Überzeugung entspricht dem Bedürfnis nach 
Glück dort im unmittelbaren Anschluß an die Grundtriebe des Menschen, 
an Nahrungs-, Schutz-, Geschlechtstrieb, hier in weitem Abstand von ihnen; 
dort wirken diese daher mit ungeschwächter Gewalt auf das Handeln ein, 
dessen Richtung — aber nicht, dessen Kraft — von der Überzeugung be¬ 
stimmt wird, hier haben sie sich so verästelt und verfeinert, daß ihre ur¬ 
sprüngliche Wucht gebrochen, ihre reißende Strömung ruhig geworden ist. 
Deshalb dort mehr stoßweises,- von der augenblicklichen Lage und äußeren 
Einflüssen abhängiges Aufflammen wilder Begeisterung mit ungestümem, 
leidenschaftlichem Tatendrang, hier mehr auf die Betrachtung beschränkte 
Gefühlsbetätigung und besonnenes, einheitliches Handeln, dort eben vor¬ 
wiegend Trieb-, hier Willenshandlung. Wie sehr der Wunderglaube in 
Verbindung mit Krankenheilung, wie sehr also auch gerade der oben er¬ 
wähnte Reliquienglaube einem ursprünglichen Triebe, dem Schutztriebe, 
die^Richtung weist, ohne ihn durch abgeleitete Bedürfnisse und dadurch 
eingeschaltete Überlegungen zu klären und umzuformen, leuchtet ohne 
weiteres ein, und auf diesem Vorwalten des ursprünglichen Triebes, nicht 
auf der Stärke der Überzeugung beruht auch der Unterschied in der ,.Stärke 
der Vorstellung“ des Reliquiengläubigen und des wissenschaftlich Denken¬ 
den. Jenem ist durch seine Überzeugung der Weg zur Hilfe gewiesen, 
dieser bedarf der Überlegung, um den rechten Weg zu finden. Sieht jener 
mehrere Wege, die ihm im Rahmen seiner Überzeugung zum Ziele zu 
führen scheinen, so bedarf er auch dann keiner Überlegung darüber, welchen 
er einzuschlagen hat, denn der Priester ersetzt ihm den eigenen Entschluß: 
der wissenschaftlich Denkende kann sich in solchem Falle wohl auch mit 
Andern beraten, aber die Entscheidung nicht von sich abwälzen. 

Auch der Fanatismus, den starke Ideen so leicht entfesseln, die ge¬ 
waltsame, oft blutige Propaganda, in der sich bei ihnen ein „impulsives 
Reaktionsbedürfnis“ äußert, ist auf die Macht der menschlichen Urtriebe 
zurückzuführen, deren Strom gerade in jenen Ideen, die eine fanatische 
Propaganda begünstigen, mit ungebrochener Gewalt und ohne den schütten* 


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den Damm fern abgeleiteter Bedürfnisse und hemmender Überlegungen 
wahllos daherbraust. Das gilt aber nur für die fanatische, nicht für jede 
Art der Verbreitung starker Vorstellungen, und Friedmann geht entschieden 
zu weit, wenn er sagt: „Auch für die Propaganda kann kein logisches Motiv 
geltend gemacht werden, es ist der Drang, Andern zu suggerieren, was die 
Person selbst so stark erfüllt“ (S. 231). Wer überzeugt ist, daß er in seiner 
Lehre die Anwartschaft auf himmlische Seligkeit besitzt, gegen die alle 
irdischen Leiden nichts sind, und daß die Ausbreitung der Lehre Gottes 
Wille sei, hat, wenn er seine Mitmenschen liebt und Gott gehorchen will, 
logischerweise das Bedürfnis, Andere zu bekehren, und ebenso der, welcher 
einen Fortschritt seines Volkes oder der Menschheit, vielleicht auch eigenen 
Vorteil von der allgemeinen Herrschaft seiner Idee erwartet. Das Be¬ 
dürfnis zur Propaganda entspricht also nicht der Stärke, sondern dem 
Inhalt der Idee, und der Wille dazu ist nicht motivlos, sondern durch 
Überlegung abgeleitet. Nur die rücksichtlose, gewaltsame Art der Aus¬ 
breitung, die unbekümmert durch Leid und Tod der Mitmenschen leiden¬ 
schaftlich ihrem Ziele nachjagt, ist Folge des ungebändigten Triebes, dem 
die starke Idee die Richtung gibt. 

Wenn Friedmann den Begriff der starken Idee an dem von ihm ein¬ 
gehend geschilderten Verhalten primitiver Völker gegenüber aufregenden 
Ereignissen, wie Tod eines nahen Verwandten, Sonnenfinsternis, Blitz und 
Donner, entwickelt, so scheint mir gerade aus seinen Ausführungen hervor¬ 
zugehen, daß die von mir gegebene Begründung auf diese Verhältnisse 
gleichfalls zutnflt. Ein ursprünglicher Trieb, der Schutztrieb, erzeugt das 
Bedürfnis nach einem vermittelnden und die Art der Abwehr bestimmenden 
Gedanken und entlädt nun seine Kraft in der Richtung dieses Gedankens. 
Auch Friedmann bezeichnet die sich hier bildenden Vorstellungsverknüpfun¬ 
gen als „Beispiele primärer Eigenbeziehungen“ und führt die Reaktion des 
primitiven Menschen „gegen jene Einwirkungen, welche die Natur und 
böse Menschen ihm gegenüber üben“, zurück auf „die Absicht, das Schäd¬ 
liche abzuwehren, das Nützliche herbeizuführen“. Einseitig ist nur sein 
Schluß: „Jeder starke Eindruck bewirkt direkt ohne Reflexion und ohne 
Motiv bestimmte, für den Menschen zwingende Ideenassoziationen, beson¬ 
ders die der Eigenbeziehung, und er veranlaßt ebenso direkt den starken 
Impuls zu einer tätigen Reaktion darauf, deren Wirkungsart ebenfalls 
nicht überlegt wird“ (S. 230). Daß dies nicht immer zutrifTt, zeigte ich* 
schon und leitete die Stärke der Vorstellung aus dem Bedürfnis ab. In¬ 
zwischen hat sich ergeben, daß im Bedürfnis der Trieb, der in ihm wirksam 
ist, und der durch die vom Bedürfnis herbeigeführte Vorstellung seine 
besondere Richtung erhalten hat, dieser Vorstellung die ihr eigentümliche 
Stärke verleiht. Er ist „der starke Impuls zu einer tätigen Reaktion“, 
der durch die „für den Menschen zwingenden Ideenassoziationen“ nur 
seine Richtung erhält, und er, nicht der starke Eindruck, bewirkt jene 
zwingenden Ideenassoziationen — das beweist der Indianer, der die Treue 


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seiner Frau durch den an die Felswand gespienen Kokaballen prüft» oder 
der Wilde, der durch die Haare des Europäers dessen Macht und Weisheit 
auf sich überträgt. Nur weil Friedmann den Trieb und das Bedürfnis in 
ihrer Bedeutung nicht genügend betont, kommt er zu jener irreführenden 
Auffassung, daß „die Vorstellung an und für sich eine starke psychische 
Kraft oder Macht ist“. 

Aber auch die plastische Anschaulichkeit, die Friedmann mit Recht 
als notwendige Eigenschaft seiner „starken“ Vorstellung hervorhebt, kann 
jetzt dem richtigen Zusammenhänge eingefügt werden. Ich begründete 
vorhin die Tatsache, daß bei Naturvölkern und nicht nur bei ihnen der 
Einfall um so kräftiger wirkt, je anschaulicher er ist, damit, daß anschau¬ 
liches Denken ursprünglicher ist und im allgemeinen viel leichter vor sich 
geht als begriffliches Denken. Das ist wohl richtig, zeigt den Sachverhalt 
aber nur von einer und nicht einmal von der wichtigsten Seite. Wichtiger 
ist, daß die ursprünglichen Triebe nicht mit Vorstellungen, sondern mit 
gefühlsbetonten Empfindungen verwachsen sind und somit auch durch 
sie am leichtesten geweckt werden, und daß die Anschaulichkeit einer Vor¬ 
stellung ja gerade auf ihrer unmittelbaren Entstehung aus einem erlebten 
Empfindungszusammenhang beruht. Die Schilderung einer Landschaft, 
eines Vorgangs wird dann anschaulich genannt, wenn der Hörer die vom 
Redner ihm vermittelten Vorstellungen unwillkürlich auf selbsterlebte — 
wenn auch in anderem Zusammenhang erlebte — Eindrücke zurückführt 
und sie sich so in der Einbildung mühelos sinnlich gestalten kann. Sind 
solche Eindrücke nun zugleich mit Trieben verknüpft gewesen, so werden 
auch diese mit ihnen leicht hervorgerufen und können jetzt auf Grund 
jener Schilderung von neuem wirksam werden. Je ursprünglicher aber, je 
enger also mit gefühlsbetonten Empfindungen verknüpft ein Trieb ist, 
um so stärker und um so allgemeiner verbreitet ist er auch, und so erklärt 
es sich, daß die starke und zur Übertragung auf andere geeignete Vor¬ 
stellung „vor allen Dingen plastisch anschaulich und bestimmt, reich an 
den Sinnen vorstellbarem Detail (Schilderung von Verelendung bei den 
Sozialisten, von Hölle und Himmel, bestimmten Prophezeiungen bei reli¬ 
giösen Dingen usw.)“ sein muß (S. 280). Hiernach ist in der Tat „leicht 
für uns verständlich“ die Bedeutung, die für die Ausbreitung von ideellen 
Bewegungen „der Grad der Erregbarkeit des Vorstellens“ besitzt, „also 
sowohl das Maß von plastischer Anschauungs- und Gestaltungskraft als 
der Grad der Gemütsbetonung und Leidenschaftlichkeit, welcher den 
Vorstellungen beiwohnt“ (S. 303—304),aber leicht verständlich nur deshalb, 
weil wir zur Begründung den Trieb, und zwar den starken Trieb, heran¬ 
gezogen haben, ohne den die Leidenschaftlichkeit nicht zustande käme. 

Es berührt nach allem, was ich bisher ausgeführt habe, zunächst eigen¬ 
tümlich, wie hoch gerade Friedmann, der beim Forschen jedes subjektive 
Element fernhalten und den logischen oder objektiven Wert der Argu¬ 
mente und Tatsachen allein entscheiden lassen will, den Wert des Genies 


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nicht nur für das Suggestivdenken, sondern auch für die wissenschaftliche 
Forschung einschätzt. Ungern widersteht er der Verlockung, „andeuten 
zu wollen, was die einzelnen genialen Männer unserer eigenen Kultur 
geleistet haben, was wir wohl davon besitzen würden, wenn uns solche 
ersten Größen gefehlt hätten, und wie endlich sowohl die soziale als die 
wissenschaftliche Errungenschaft heute aussehen würde, wenn nicht gerade 
sie, ein Moses, ein Christus und Paulus, ein Aristoteles, Galilei, Newton, 
Kant, endlich ein Lavoisier, Schwann, Darwin, Virchow, Lister und Koch 
und wie alle die führenden Geister heißen, gekommen wären. Kann man 
wirklich glauben, daß die Art der geistigen Entwicklung der Menschheit, 
ihre Ideenrichtung in erster Linie inneren psychologischen Gesetzen folgt, 
und daß die Individualität der einzelnen Bahnbrecher mehr nebensächlich 
dafür sei?“ (S. 237). Damit hebt Friedmann einen subjektiven Faktor 
hervor, der freilich von wesentlicher Bedeutung für den Fortschritt der 
Wissenschaft ist. Bedürfnis und Kritik allein würden die wissenschaftliche 
Bewegung oft über einen toten Punkt nicht fortführen können. Glück 
oder Genie muß ihnen zu Hilfe kommen und den fruchtbaren Einfall 
liefern, der weiter trägt. Aber Friedmann hat doch vielleicht recht, diesen 
subjektiven Faktor als objektiv in seine Betrachtung einzuführen, wenn 
nämlich nur der Einfall als fruchtbar gilt, der der Wirklichkeit näherbringt. 
Es fragt sich nur, wie das zu verstehen ist. Oft gibt der fruchtbare Einfall 
keineswegs genauer als die bisherige Auffassung die Wirklichkeit wieder, 
weil er neben richtigen auch falsche Bestandteile enthält, die mit jenen so 
innig verquickt sind, daß beide zusammenzugehören scheinen, und erst 
nach langer kritischer Arbeit die Aussonderung gelingt. Das Ergebnis ist 
aber nicht vorauszusehen, und die Arbeit würde daher nicht übernommen 
werden, wenn nur der logische oder objektive Wert der Argumente und 
Tatsachen entschiede, der zunächst oft gegen die neue Auffassung spricht. 
Oder der neue Zusammenhang wird nur ganz im allgemeinen geschaut und 
entbehrt noch größtenteils des Anschlusses an die Erfahrung im einzelnen. 
Dann hat die eigene oder fremde Kritik es leicht, ihn als unbegründet zu 
verwerfen, und muß ihn sogar abweisen, sofern sie sich nur auf objektive 
Argumente und Tatsachen stützen darf. Denn erst, wenn der Zusammen¬ 
hang, der den einzelnen Fall zu erklären scheint, sich auch für möglichst 
viele ähnliche Fälle als geeignet erweist und diese somit unter einen Ge¬ 
sichtspunkt zusammenzufassen gestattet, ist hieraus zu folgern, daß nicht 
die besondere Lage des ersten Falles jenen Zusammenhang nur vorge¬ 
täuscht hat. Aber um die Ähnlichkeit der Fälle zu erkennen, muß die Vor¬ 
stellung jenes Zusammenhangs dauernd festgehalten und immer wieder an 
neue Beobachtungen oder Erinnerungen herangetragen werden, sie muß 
gewissermaßen stets bereit liegen, um sich an neuen Tatsachen prüfen zu 
lassen. Erst wenn sich immer wieder der gleiche Zusammenhang ergibt, 
ist der Schluß berechtigt, daß ein wirklicher Zusammenhang darin getroffen 
ist. Also im Kampf mit eigener und fremder Kritik muß der fruchtbare 


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Einfall vielfach sich durchsetzen, und nur ein starkes Bedürfnis und die 
subjektive Überzeugung, auf dem rechten Wege zu sein und auf Grund 
jenes Einfalls das Bedürfnis befriedigen zu können, vermag die zur Arbeit 
und zum Kampf erforderliche Kraft hervorzutreiben. Ähnlich hat Edinger 
kürzlich aus Anlaß von Ehrlichs Tode den Schöpferischen in Gegensatz 
zum Kritischen gestellt *) — das geniale Denken ist ja schöpferisch durch 
fruchtbare Einfälle, und diese werden, ein hinreichend starkes Bedürfnis 
vorausgesetzt, um so fruchtbarer, je härteren Widerstand ihnen nach¬ 
träglich das kritische Denken entgegenstellt, das nicht die ersten, sondern 
die passendsten Gedanken, die das Bedürfnis hervorbringt, durchgehen 
läßt und ihnen durch Reibung die rechte Form verleiht. Schon Lessing 
sagt, als er vom Nutzen der Kritik spricht (Hamb. Dramat., 100.—104. 
Stück): „Ich bin mißtrauischer gegen alle ersten Gedanken als de la Casa 
und der alte Chandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch 
schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen 
noch des allegorischen, halte, so denke ich doch immer, daß die ersten Ge¬ 
danken nicht die besten sind, und daß das Beste auch nicht einmal in allen 
Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine ersten Gedanken sind gewiß 
kein Haar besser als jedermanns erste Gedanken; und mit jedermauns 
ersten Gedanken bleibt man am klügsten zu Hause.“ Das ist ganz im 
Sinne Friedmanns, der wohl auch den halb ironischen, halb von Herzen 
kommenden Worten Lessings zustimmen würde, die kurz vorher stehen: 
..Ich bin immer beschämt oder verdrießlich geworden, wenn ich zum 
Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken, und 
ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe 
kommt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke un¬ 
möglich erbauen kann. — Doch freilich, wie die Krücke dem Lahmen 
wohl hilft, sich von einem Orte zum andern zu bewegen, aber ihn nicht 
zum Läufer machen kann, so auch die Kritik.“ Was hier Lessing von der 
Kunstkritik sagt, gilt von aller Kritik. Sie kann bewirken, daß von den 
Einfällen, die als Antwort auf eine Frage auftauchen, der fruchtbarste fest- 
gohalten wird,aber sie kann ihn nicht schallen; höchstens kann das Wissen, 
da» in ihr flüssig gemacht wird, die günstige Konstellation ergeben, aus 
der der rettende Gedanke hervorblitzt. So ermöglicht die Krücke der 
Kritik die Fortbewegung, aber erst dann, wenn deren allgemeine Richtung 
in» Äugt; gefaßt, wenn ein neuer Zusammenhang als möglich geschaut, 
eine neue Fragestellung gefunden ist. 

Auf die Neuheit des Gesichtspunktes, unter den die Tatsachen gestellt 
werden, kommt es also zunächst an, dann aber muß der neue Gesichtspunkt 
sich auch als fruchtbar erweisen, d. h. der Zusammenhang, den er sichtbar 
macht, muß der Wirklichkeit näher führen. Zum Genie gehört also nicht 

M /.. Kdinger, Der Schöpferische und der Kritische. Beri. med. 
Wschr. v. LY Nov. lülö. Vgl. dazu Posner, Berl. klin. Wschr. v. 6. Dez. !9tö. 


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nur ein über den Durchschnitt gesteigertes Bedürfnis nach neuen und zwar 
der Wirklichkeit entsprechenden Zusammenhängen, sondern auch eine 
besondere Begabung, solche zu finden, die nicht mit dem Bedürfnis ver¬ 
bunden zu sein braucht. Eine weit verbreitete Auffassung geht ferner dahin, 
daß das geniale Denken noch viel mehr als das gewöhnliche im Unbewußten 
stattzufinden pflege, und daß der geniale Einfall plötzlich wie ein Blitz 
in der Nacht auftauchend das bisherige Dunkel erhelle. Diese Auffassung 
ist wohl zunächst aus dem Bereich künstlerischer Anschauung und zumal 
aus dem Gebiete der Dichtkunst und der Musik hergenommen, ich möchte 
sie aber auch für die Wissenschaft nicht ganz zurückweisen. Wie etwa 
ein lyrisches Gedicht innere und äußere Vorgänge zusammenreiht und 
durch deren Zusammenhang eine Stimmung zum Ausdruck bringt, so setzt 
der wissenschaftliche Einfall einen Zusammenhang von Tatsachen, und 
beide Zusammenhänge sind nur dadurch wertvoll, daß sie der Wirklich¬ 
keit auf neue Art entsprechen, daß also jener die gleiche Stimmung beim 
empfänglichen Hörer wirklich hervorbringt, dieser unter gleichen Ver¬ 
hältnissen immer wieder beobachtet wird. Einfälle kommen ja aber nicht 
ohne Ursache, und wenn ihr Zusammenhang mit andern Vorstellungen 
auch nicht bewußt wird, so ist er doch vorhanden. Jeder neu gefundene 
Zusammenhang setzt also voraus, daß ein ähnlicher Zusammenhang schon 
gebildet war und jetzt nur auf neue Verhältnisse übertragen wird. Dabei 
können mehr oder weniger Zwischenglieder übersprungen werden. Wird 
jener ähnliche Zusammenhang nicht bewußt, dann entsteht, um so stärker, 
je mehr Zwischenglieder übersprungen werden, der Eindruck, daß der 
Einfall unvermittelt aus dem Unbewußten emporsteigt. Wichtiger ist noch 
ein Zweites. Der Wert des gefundenen Zusammenhanges steigt mit dem 
Umfang seiner möglichen Anwendung auf ähnliche Verhältnisse, also da¬ 
durch, daß er nicht nur in gleichen, sondern auch in gleichartigen Fällen 
sich bewährt und somit im einzelnen etwas Typisches aufzeigt, und erst 
das dunkle Bewußtsein, daß das hier zutrifTt, und daß dem Einfall eine 
weitreichende Geltung zukommt — dunkel, weil die einzelnen Anwendungs¬ 
möglichkeiten nicht klar bewußt sind — macht dann in Wahrheit das aus, 
was man als das Hervortauchen des genialen Einfalls aus dem Unbe¬ 
wußten zu bezeichnen pflegt. Wie der Blitz erhellt er den ganzen Umkreis, 
aber nur das Nächste ist zu erkennen, alles Fernere ist verschwommen 
und undeutlich und wird mehr geahnt als wahrgenommen. Dieses Ahnen 
setzt voraus, daß auf verschiedenen Gebieten Teile jenes Zusammenhangs 
schon gebildet sind, daß also überall schon Verknüpfungen bestehen, die 
gewissermaßen darauf warten, von dem neuen Zusammenhang ergriffen 
und in ihn eingereiht zu werden. Dies aber erklärt zugleich die Leistung 
aus dem Unbewußten heraus, indem jene bereits bestehenden Verknüpfun¬ 
gen den Untergrund bilden, aus dem der Einfall entstehen konnte. Ist 
dem so, so läßt sich auch die Berechtigung der Ansicht aufzeigen, die das 
geniale Denken vorzugweise im Unbewußten stattfinden läßt. Auch das 


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bewußte Denken stellt, zumal wenn es sich auf einen größeren Umkreis 
erstreckt und zahlreiche Zusammenhänge in sich vereinigt, nur Gipfel* 
punkte dar, die bald hier, bald da aus dem Meer des Unbewußten hervor* 
ragen, dieses Hervorragen bedeutet abör, daß die Aufmerksamkeit nicht 
mehr völlig von den Ausgangpunkten gefesselt wird und sich einzelnen, 
von diesen angeregten Nebenvorstellungen zuwendet, die dadurch stärker 
betont werden und so den Gang des Denkens, falls dieser nur von den 
Ausgangpunkten bestimmt werden soll, einseitig beeinflussen und leicht 
aus der ursprünglichen Richtung ablenken. Infolgedessen kann die Leistung 
dem Gegenstände angemessener, sachlicher ausfallen, wenn sie völlig im 
Unbewußten vor sich geht, wo jene das Ergebnis verschiebende Ablenkung 
fehlt. Freilich nur unter der Voraussetzung, daß die von den Ausgang¬ 
punkten ausgehende Wirkung allein genügt, die Gedankenfäden folgerichtig 
sich bis zum Ergebnis fortspinnen zu lassen, daß sie, vor Störung bewahrt, 
schließlich an gemeinsamer Stelle zusammenlaufen und mit vereinigter Kraft 
die aus ihnen hervorgehende Vorstellung ins Bewußtsein heben. Ist die 
Unterlage, an die die Gedankenfäden sich heften, nach Anlage und Aus¬ 
bildung nicht so günstig geartet, daß sie den Fäden, welche von den Aus¬ 
gangpunkten aus vorwärts getrieben werden, die rechte Richtung ver¬ 
leiht, so kommt ein besseres Ergebnis zustande, wenn bewußte Vorstellun¬ 
gen im Meer des Unbewußten als Inseln auftauchen, hier eine Hemmung 
überwinden, dort die Richtung bestimmen und so doch einigen Fäden zu 
einem gemeinsamen Ziel verhelfen. Wo aber bei guter Unterlage die 
Zwischenvorstellungen im Unbewußten bleiben, wird der Weg nicht nur 
rascher durchlaufen, sondern es wird sich im glücklichen Falle auch ein 
das Wesentliche besser zusammenfassender Einfall ergeben. 

Wenn nun aber auch das größte Genie sein Geschäft selten völlig 
rein und ohne jede Verschiebung durchführen wird und daher, um sicher zu 
gehen, der Kritik bedarf, so darf es sich ihr doch nicht völlig überlassen, 
denn es wird ihm kaum je gelingen, die Fäden, die es unbewußt gesponnen 
hat, sich so bald ins Bewußtsein zu bringen und damit den genialen Einfall 
von seinem Ursprung aus zu begründen. Je weniger es das vermag, um so 
leichter hat es die Kritik, seine Kreise gleich anfangs zu verwirren und die 
Weiterverfolgung und bewußte Begründung des Einfalls durch Entgegen¬ 
halten herrschender und scheinbar widersprechender Vorstellungen zu 
hemmen, um so mehr, je weniger das Genie darauf aus ist, seinen Einfall 
als solchen durchzusetzen, und je mehr es ihm allein um die getreue 
Wiedergabe der Wirklichkeit zu tun ist. Nur das dunkle Bewußtsein, 
nicht geirrt zu haben, das als Nebenergebnis jener unbewußten Tätigkeit 
emportaucht, kann ihm in solchem Falle die Kraft geben, zunächst der 
eigenen Kritik zu trotzen und sich durch sie nicht vom genaueren Aus¬ 
spinnen und Prüfen des neuen Zusammenhangs zurückschrecken zu lassen. 
Was ist dies Bewußtsein aber anderes als die Überzeugung, auf dem rechten 
Wege zu sein, also auf wissenschaftlichem Gebiete die Überzeugung, daß 


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die Zukunft früher oder später, durch eigene oder fremde Arbeit, die Frucht¬ 
barkeit des Einfalls erweisen wird? Friedmanns Merkmale der Über¬ 
zeugung (S. 217), „daß die Idee in Zukunft festgehalten wird, daß sie bei 
verwandten neuen Vorkommnissen sich als wirksame Analogie ‘bewährt, 
und daß nicht notwendig kontrastierende Vorstellungen dabei auftauchen“, 
passen in allen Teilen auf das Bewußtsein, daß jener Einfall, obwohl er 
jetzt dem kritischen Denken nicht standhalten kann, doch Richtiges ent¬ 
hält, denn er wird allen Bedenken zum Trotz festgehalten, wird bei jeder 
Gelegenheit weiter sich wirksam erweisen und nicht notwendig die Vorstel¬ 
lung hervorrufen, daß möglicherweise die Zukunft ihm Unrecht geben wird. 

Diese Überzeugung erwächst dem Genie aber oft auch dadurch, 
daß die dem Genie eigentümliche Begabung für wirklichkeittreues Denken 
und das Bedürfnis hierzu sich auf dem Gebiete, auf dem der fruchtbare 
Einfall gelingt, schon vorher im Auffinden weniger umfassender Zusammen¬ 
hänge betätigt und so ein Vertrauen auf die eigene Leistung und eine Er¬ 
schütterung fremder Autorität hervorgerufen hat. In andern Fällen mag 
das Genie früher zur aufmerksamen Betrachtung der Tatsachen gelangen, 
ehe es die herrschenden wissenschaftlichen Ansichten in allen Auszweigun¬ 
gen in sich aufgenommen hat, so daß der Boden nur durch eigene Arbeit 
vorbereitet, nicht durch überkommene Meinungen einseitig beeinflußt ist. 
Man denke an Darwins genaue Naturbeobachtung auf Jagden und aus 
Anlaß von Sammlungen bei Vernachlässigung wissenschaftlicher Vor¬ 
lesungen und eingehenden Bücherstudiums, das er erst später nachholte, 
als *.r dessen bedurfte. Hier wurde der Boden fruchtbar durch eigene Be¬ 
obachtung und zugleich der Einfluß der Kritik hinausgeschoben und somit 
abgeschwächt; in andern Fällen schuf vorherige eingehende Beschäftigung 
mit andern Wissenszweigen die Möglichkeit, daß neue Früchte ungehindert 
erwachsen konnten, die der alte Boden allein nicht getragen hätte. 

Die Möglichkeit, daß die Kritik den fruchtbaren Einfall tötet, ist 
also keineswegs ausgeschlossen, wenn nur der objektive Wert der Argu¬ 
mente und Tatsachen entscheiden soll. Soll die Kritik das Genie fördern, 
so muß sie zunächst den rein objektiven Boden verlassen und sich in den 
Dienst des subjektiven Bedürfnisses stellen, die von diesem emporge¬ 
triebenen Einfälle nicht niederdrücken, sondern sieben, und wenn auf diese 
Weise die Überzeugung entsteht, daß einer derselben der Wirklichkeit 
näher führt, die Voraussetzung gelten lassen, daß die ihm entgegen¬ 
stehenden Gründe und Tatsachen nur scheinbar widersprechen, mag der 
Widerspruch jetzt auch noch so stark hervortreten und seine Auflösung 
erst einer fernen Zukunft beschieden sein. Sie rnuß, um das angeführte 
Bild du Bois-Reymonds zu gebrauchen, die Tragfähigkeit der Planken 
abschätzen, dann aber die Meerfahrt auf der, die als die tauglichste be¬ 
funden ward, antreien und den Kompaß abgeben, der die Richtung auf 
das jenseitige Festland einzuhalten gestattet; nur so kann der geniale 
Einfall durchdringen und schließlich auf rein objektivem Boden landen. 


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Kleinere Mitteilangen. 


wobei es nebensächlich ist, ob die Landung dort erfolgt, wohin der Einfall 
ursprünglich zielte, oder ob das Festland, zu dem er mit Hilfe der Kritik 
führt, in anderer Richtung gelegen ist. 

Die Forderung, daß beim Forschen jede subjektive Überzeugung 
aufgehoben sein soll, würde somit, auch wenn ich nur den Einfall als 
fruchtbar gelten lasse, der der Wirklichkeit näherbringt, oft gerade die 
Leistungen genialer Männer aufs äußerste beeinträchtigen. Forschung und 
Kritik müssen unterschieden werden, das kritische Denken gehört zum 
forschenden Denken, macht es aber nicht aus. Friedmann sagt: „Unter 
kritischem Denken versteht man die Hemmung, die Abwehr jeden sub¬ 
jektiven Faktors beim Urteilen“ (S. 219). Eine Hemmung ist gut, wenn 
man den Standpunkt nicht verlassen und nur von ihm aus genau Umschau 
halten und beobachten will. Zum Vorwärtskommen, zur Gewinnung eines 
neuen Standpunkts bedarf man aber der bewegenden Kraft, die durch 
Hemmung nicht unwirksam gemacht, sondern nur in der rechten Richtung 
gehalten werden soll, dies heißt aber, daß Bewegung und Hemmung mit¬ 
einander abzuwechseln haben, so daß jeder Bewegung eine, wenn auch nur 
allgemeine, Überschau folgt. Die Krücke der Kritik ist, um mit Lessing 
zu reden, zur Fortbewegung erforderlich, und nur ein guter Läufer, d. h 
derjenige, der bloß fruchtbare, wirklichkeittreue Einfälle hätte, also die 
Unterscheidung zwischen fruchtbaren und unfruchtbaren Einfällen nicht 
benötigte, könnte sie entbehren, sie dient aber zur Fortbewegung nur dann, 
wenn der Fortschreitende sie in richtiger Weise, seinem Bedürfnis ent¬ 
sprechend, gebraucht, nicht wenn sie selbständig wird und ihm etwa 
zwischen die Beine gerät. Das subjektive Element, das Bedürfnis, muß 
vom objektiven Elemente, der Kritik, zwar gehemmt und geregelt werden, 
aber die Führung behalten, wenn Neues und Fruchtbringendes gelingen 
soll. Gerade wer mit Friedmann die Individualität der einzelnen Denker 
als so wichtig für den Fortschritt der Menschheit ansieht, sollte also das 
subjektive Element nicht so völlig aus dem wissenschaftlichen Denken 
ausschalten. 

Nur das kann man sagen: der neue Weg, den das Genie einschlägt, 
wird durch subjektive Kräfte gefunden und gebahnt, aber wenn dieser 
Seitenpfad in den allgemeinen Weg der Wissenschaft wieder einmündet, 
«cru so der Gewinn dieses Seitenpfades klar hervortritt und das Neue sich 
bewährt hat, dann endet mit diesem Ergebnis das Subjektive im Objek¬ 
tiven: „Die Forschungsresultate sind unabhängig vom subjektiven Ele¬ 
ment, sie müssen für jeden, der zu reflektieren versteht, gleich vorbild¬ 
lich sein.“ — Zwar meine ich gezeigt zu haben, daß sie nur für den ver¬ 
bindlich sind, der vom gleichen Bedürfnis ausgeht oder doch vom gleichen 
Bedürfnis dann erfüllt wird, wenn der Weg gewiesen ist, auf dem es be¬ 
friedigt werden kann. Aber das Bedürfnis, auf dem neuen Wege Wahrheit 
zu suchen, pflegt sich rasch zu verbreiten, wenn Erfolge sichtbar werden, 
die auf den alten Wegen nicht zu erreichen waren, und damit die Über- 


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Kleinere Mitteilungen. 


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zeugung sich einstellt, daß hier noch weitere Erfolge zu erringen sind. 
Diese Überzeugung wird zwar nicht ohne Kritik erlangt, aber diese Kritik 
gründet sich nicht auf objektiven Boden, sondern auf den vorerst schwan¬ 
kenden Boden einer Annahme, und diese Annahme verdankt ihre Kraft 
dem allgemeinen Bedürfnis der Neuzeit nach Beherrschung der Natur, 
das jeden Weg willkommen heißt, der diesem Ziele näher führen könnte. 
Wohl dürfen wir nicht vergessen, daß auch der heutige Mensch noch andere 
Bedürfnisse hat und nicht vom Brote der Naturwissenschaft allein lebt, 
daß die Mischung dieser Bedürfnisse verschieden und daher subjektiv ist, 
und daß jedes dieser Bedürfnisse, nicht nur das naturwissenschaftliche, 
auf einen wirklichen Zusammenhang gerichtet ist. Aber auch wenn wir 
uns, wie billig, auf die Naturwissenschaft beschränken und nur das Be¬ 
dürfnis, den wirklichen Naturzusammenhang zu erkennen, zugrunde legen, 
so sind doch in diesem unendlich viel verschiedenartige und sich durch¬ 
kreuzende Einzelzusammenhänge verflochten, deren wahre und er¬ 
schöpfende Darstellung keinen Widerspruch enthalten würde, deren jetzige 
Darstellung aber unvollkommen ist und sich der Wahrheit und Vollständig¬ 
keit nur allmählich nähert. Die Kritik hemmt, d. h. sie deckt Wider¬ 
sprüche auf und richtet somit das Bedürfnis auf deren Beseitigung; so 
sorgt sie für möglichst widerspruchfreie Einordnung der einzelnen Tat¬ 
sachen in die Wissenschaft. Solange keine neuartigen Zusammenhänge 
aufgestellt werden, solange es sich also um bloße Einordnung neuer Tat¬ 
sachen in bekannte Zusammenhänge handelt, herrscht sie zweifellos mit 
Hecht; soll aber ein Zusammenhang neuer Art gewonnen werden, der in 
die bisherige Ordnung eingreift, so muß die von subjektiven Elementen 
unbeeinflußte Kritik, die den bisherigen wissenschaftlichen Besitzstand 
zur Unterlage hat, jenen mit dem bisherigen Wissen unvereinbaren Zu¬ 
sammenhang solange verwerfen, bis das Neue sein Daseinsrecht bewiesen, 
d. h. die Wahrscheinlichkeit dargetan hat, daß es sich um einen wirklichen 
Zusammenhang handelt, dann aber den Widerspruch zwischen dem neuen 
und den alten Zusammenhängen so lange hervorheben und damit zeigen, 
daß der wirkliche Zusammenhang noch nicht zutreffend wiedergegeben 
ist, bis dem Bedürfnis, diesen von allen Seiten richtig aufzufassen und 
damit dem Ziele der Naturbeherrschung näher zu kommen, die Beseitigung 
jenes Widerspruchs glückt. 

Gerade die Betrachtung des genialen Denkens zeigt somit deutlich 
die Stellung an, die der Kritik zukommt. Sie soll die Befriedigung eines 
Bedürfnisses möglichst fördern und sichern, indem sie die Vorstellungen, 
die zur Befriedigung des Bedürfnisses auftauchen, auf ihre Tauglichkeit 
hierzu beurteilt. Dem philosophischen Geiste des Aristoteles war an logisch¬ 
wissenschaftlicher, widerspruchfreier Ordnung der Erscheinungen, nicht 
an Erweiterung der Herrschaft über die Natur gelegen. So hat er die nicht 
leichte Aufgabe, die der einfachen Beobachtung zugänglichen Zusammen¬ 
hänge in ein begrifflich einwandfreies und mit seinen sonstigen Anschauun- 


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gen zusammenstimmendes System zu bringen, auf Grundlage des damaligen 
Wissens mit umfassender Kritik in Angriff genommen. Seine Darstellung 
genügte dem Mittelalter, dessen führende Schichten von religiösen und 
politischen Bestrebungen erfüllt waren und kein Bedürfnis hatten, der 
Natur auf neuen Wegen mehr abzuringen, als sie herkömmlicherweise gab. 
Ihr Bedürfnis nach Naturerkenntnis war durch Aristoteles befriedigt, 
und so galten seine Schriften als maßgebend und als Grundlage der Kritik. 
Je mehr aber neben der Ackerwirtschaft Handel und Industrie aufkamen, 
und je mehr neben Geistlichkeit und Adel die wohlhabenden Bürger der 
Städte an der Bildung teilnahmen, um so stärker wuchs das Bedürfnis, 
die Naturkräfte in größerem Umfange zu verwenden, als die bisherigen 
Mittel gestatteten, und hiermit das weitere Bedürfnis, neue Wege der Natur¬ 
erkenntnis zu finden. Indem auf neuen Wegen einzelne Fragen ohne 
Rücksicht auf die Aristotelische Anschauung in Angriff genommen wurden, 
kam bald Stoff genug für eine Kritik auf neuer Grundlage zusammen, 
die zahlreiche Widersprüche mit Aristoteles aufdeckte, und das Bedürfnis 
nach Auffindung wirklicher, d. h. solcher Naturzusammenhänge, die beim 
Versuch genau die nach ihm zu erwartenden Wirkungen ergaben, siegte 
rasch über das schon von andern Seiten her erschütterte Bedürfnis nach 
einer allumfassenden Autorität, wie sie in Aristoteles’ Schriften verkörpert 
war. Je mehr die Einzeluntersuchungen kritisch zusammengefaßt, Wider¬ 
sprüche durch weitere Untersuchungen beseitigt und die Arbeit auf weitere 
Gebiete ausgedehnt wurde, kurz, je geordneter und umfassender eine neu 
eingestellte Naturwissenschaft sich erhob, um so mehr fand auch die 
Kritik in ihr eine Grundlage, die tiefer geht und gesicherter ist als früher. 
Vor allem gilt dies von den Wissenschaftzweigen, in denen die Anwendung 
des Versuchs und der Mathematik besondere Sicherheit ermöglicht, und 
in denen die Arbeit vieler Geschlechter gewisse gesetzmäßige Zusammen¬ 
hänge immer wieder bestätigt hat. Viel unsicherer ist der Boden der 
Kritik in Wissenschaftzweigen, die solchen Kerns feststehender Gesetze 
noch entbehren. Schließlich ist aber überall, wo Neues und Altes sich 
entgegentritt und Gründe für beides sprechen, wie das bei fruchtbaren 
Einfällen zu geschehen pflegt, für die Entscheidung des Elinzeinen das 
Bedürfnis und die Überzeugung, wie diesem am besten entsprochen werden 
könne, maßgebend. Den Widerspruch zeigt die Kritik objektiv auf, die 
Bewertung der Gründe ist um so mehr subjektiv, je unsicherer der Boden 
ist, von dem die Kritik ausgehen muß. Daß trotzdem ganz allgemein das 
objektiv Richtigere im Laufe der Zeit zur Geltung kommt, bewirkt einmal 
der Umstand, daß seit dem Erwachen der neueren Naturwissenschaft das 
Bedürfnis der führenden Männer in erster Linie nicht auf Widerspruch freie 
Zusammenfügung der einzelnen Beobachtungsergebnisse in logischem 
Aufbau und in dessen Übereinstimmung mit der gesamten Weltanschauung 
gerichtet ist, sondern zunächst auf immer genauer der Wirklichkeit ange¬ 
paßte Darstellung der einzelnen schon bekannten und auf Auffindung 


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Kleinere Mitteilnngen. 


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neuer Zusammenhänge. Und dazu kommt der zweite Umstand, daß im 
Sinne jenes Bedürfnisses am Fortschritt der Wissenschaft nicht Einer oder 
Wenige, sondern Viele in immer wachsender Zahl arbeiten, die von ver¬ 
schiedenen Gesichtspunkten ausgehen und von verschiedenen Überzeugun¬ 
gen getragen sind, so daß im Kampf der Meinungen immer neue Unter¬ 
suchungen erfolgen, die schließlich die Widersprüche beseitigen und doch, 
indem sie zugleich immer neue hervorbringen, einen Stillstand unmöglich 
machen. Beide Umstände aber wurzeln darin, daß in der Neuzeit das Be¬ 
dürfnis nach Naturerkenntnis, so selbständig es im Einzelnen auftritt, im 
Grunde doch von dem ursprünglicheren Bedürfnis nach vermehrter Natur¬ 
beherrschung abgeleitet ist, das nur durch immer genauere Anpassung 
des Wissens an den wirklichen Naturzusammenhang befriedigt werden 
kann. Aristoteles und seine Schüler kannten dies Bedürfnis nicht und 
konnten deshalb die Überzeugung hegen, daß die Grenzen der Erkenntnis 
im wesentlichen erreicht seien, daß es sich nur noch darum handeln werde, 
neue Einzelheiten dem Grundstock des Wissens einzuverleiben, und daß 
die Naturwirklichkeit daher zugleich wahr und widerspruchlos nicht nur 
in sich dargestellt, sondern auch der philosophischen Gesamtanschauung 
eingefügt werden könne. Seit jenes Bedürfnis nach Naturbeherrschung 
diesen Glauben zerstört hat, kann es unbekümmert um den allgemeinen 
Zusammenhang sein Schwergewicht auf die genaue Erforschung einzelner 
Zusammenhänge werfen und wird, da es zugleich wirtschaftlich begründet 
und daher enger mit den Grundtrieben des Menschen verbunden ist, in 
Vielen vorwiegen. 

Objektiv ist also bei der Kritik nur die logische, Widersprüche auf¬ 
deckende Seite ihrer Tätigkeit, während die Bewertung ihrer Grundlagen, 
die für ihre Entscheidung für oder wider maßgebend ist, von subjektiven 
Elementen nur mehr oder weniger, nie aber völlig frei sein kann. Nur das 
ist richtig, daß das Bedürfnis nach Naturbeherrschung und der ihr ent¬ 
sprechenden Naturerkenntnis als Bedingung seiner Erfüllung das Streben 
nach Objektivität, nach Wirklichkeittreue mit sich führt, und daß die 
Kritik, die allein von diesem, richtig verstandenen Bedürfnis beherrscht 
wird, am meisten die Bezeichnung objektiv verdient. Der gegebene Aus¬ 
gangspunkt jeder „objektiven“ Kritik aber ist der bisherige Besitzstand, 
weil dieser sich zunächst mehr bewährt hat als etwas Neues, das sich erst 
bewähren soll, und hieraus, nicht allein aus Gewohnheit und Denkträgheit, 
stammt vielfach der Widerstand, den die Kritik auch solchen Einfällen 
zunächst entgegensetzt, die sie später als fruchtbar anerkennt. Der neu¬ 
artige Einfall des primitiven Menschen, der in einer zum Handeln drängen¬ 
den Lage die Richtung des Handelns bestimmt, erlangt leicht Geltung, 
wenn offenbare Widersprüche fehlen; der neuartige wissenschaftliche 
Einfall hat, wenn seine Richtigkeit nicht offen zutage tritt, viele, nicht 
nur aus andern Bedürfnissen hergeleitete, sondern sachliche Einwände 
zu überwinden, ehe er durchdringt, weil inzwischen die Wissenschaft ent- 
Zeitsehrift für Psychiatrie LXXI1I. 2/8. 19 


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Kleinere Mitteilungen. 


standen ist, die die bisherigen Erfahrungen zusammenfaßt und der Kritik 
zur Unterlage dient. Von den Ergebnissen der Wissenschaft und der von 
ihnen ausgehenden Kritik zunächst sich nicht abhalten lassen, unbe- 
kümmert die neu gefundene Spur verfolgen und erst, wenn ein gesichertes 
Ergebnis gewonnen ist, auf dieser Grundlage sich mit dem bisherigen Be¬ 
stände kritisch auseinandersetzen, führt am ungestörtesten zum Ziel. 
Dies Verfahren hat am Beginn der Neuzeit das Aristotelische Lehrgebäude 
umgestoßen und die heutige Naturwissenschaft geschallen, es wird sie 
auch weiter vor Erstarrung bewahren und gesund erhalten, weil es dem¬ 
selben Bedürfnis dient, dem auch sie entstammt, dem Bedürfnis nach 
Naturbeherrschung. 

Indem ich das „suggestive“ und ebenso das forschende Denken vom 
Bedürfnis und dem darin wirkenden Triebe ableitete, habe ich mich immer 
weiter vom Ausgangpunkte der Friedmannschen Betrachtung entfernt. 
Friedmann knüpft an die Wachsuggestion und die Autosuggestion an und 
entwickelt von hier aus den Begriff des Suggestivdenkens und der Sug¬ 
gestivvorstellung. Der Suggestionsbegriff „hat gezeigt, wie man einfach 
durch Erregen starker Vorstellungen das Denken des Menschen beherrschen 
und ihm absichtlich und künstlich einen bestimmten Inhalt aufdrängen 
kann, und zweitens, daß die Vorstellung an sich und allein eine selbständige 
geistige Macht bedeutendster Art ist. Das sind doch die beiden wesent¬ 
lichen Momente, welche die Wachsuggestion gemeinsam mit der hypnoti¬ 
schen hat“ (S. 213). Diese Gleichstellung ist aber nur äußerlich, wenn 
man der Wachsuggestion den Umfang gibt, den Friedmann ihr zuteilt, 
und nicht aufrechtzuerhalten, wenn man berücksichtigt, woher der 
„starken“ Vorstellung bei der hypnotischen und der Wachsuggestion die 
Stärke erwächst. Die Stärke der vom Hypnotiseur eingegebenen Vor¬ 
stellung kommt dadurch zustande, daß im Bewußtsein der Versuchsperson 
die dunkle Vorstellung der Machtlosigkeit und — besonders beim Bernheim - 
sehen Verfahren — der Abhängigkeit vom Hypnotiseur erzeugt wird, und 
die sonst unvermeidlichen Hemmungen fallen dadurch weg, daß im übrigen 
künstlich eine Leere des Bewußtseins hergestellt wird. Bei der Wach¬ 
suggestion sind die Verhältnisse nur dann ähnlich, wenn die Autorität des 
Suggerierenden widersprechende Vorstellungen überhaupt nicht auf- 
kommen läßt. Ist diese Autorität nicht von vornherein vorhanden oder 
nicht stark genug, so muß die Überlegenheit des Suggerierenden der Ver¬ 
suchsperson erst beigebracht, suggeriert werden, und hierzu ist die Über¬ 
raschung, die ja auch zur Herbeiführung der Hypnose benutzt wird, be¬ 
sonders geeignet, weil sie ein geordnetes Denken und damit Hemmungen 
ausschaltet. Ich erinnere an die Erzählung, wie Friedrich der Große nach 
der Schlacht bei Leuthen in ein Schloß eintritt, unter eine Menge öster¬ 
reichischer Offiziere gerät, die mit Windlichtern die Treppe herabeilen, 
ihnen zuversichtlich lächelnd zuruft: „Bon soir, MessieursI Gewiß haben 
Sie mich hier nicht erwartet; kann man hier auch noch mit Unterkommen ?“ 


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und ihnen so die Überzeugung beibringt, daß er eine größere Truppen* 
macht hinter sich habe; die Überraschung durch das plötzliche Erscheinen 
des Königs und seine sichere Ruhe schaltet hier das Überlegen und damit 
das Nachforschen, ob die Truppen ihm wirklich folgen, aus, und Friedrich 
weiß die Vorstellung seiner Überlegenheit so lange aufrechtzuerhalten, 
bis sie durch das Nachrücken seiner Truppen zur Wirklichkeit wird. Ihm 
gelingt dies, indem er die Offiziere sich ihm vorstellen läßt und sich mit 
ihnen unterhält, also auf Grund seiner scheinbaren Überlegenheit ihr 
Denken und Handeln bestimmt. Auch der Kranke, der der Wachsuggestion 
des Arztes folgt, glaubt an dessen Überlegenheit mindestens in der Auf* 
fassung und Behandlung seiner Krankheit und richtet daher sein Urteil 
völlig nach dessen Worten. Dagegen weicht die Suggestion hier um so 
mehr von der hypnotischen ab, je mehr der Arzt sein Gebot mit Gründen 
stützt oder durch Beispiele oder Vergleiche erläutert, also überzeugt oder 
überredet und nicht allein durch seine Autorität wirkt. Aber auch wenn 
er durch diese allein den Kranken bestimmt, verschieden ist diese Art der 
Suggestion von der hypnotischen doch darin, daß sie an ein Bedürfnis 
anknüpft und Befriedigung desselben erwarten läßt. Der Kranke möchte 
gesund werden oder doch diese oder jene Krankheitserscheinung los werden, 
und er hat das Vertrauen, daß der Arzt dies Bedürfnis befriedigen kann 
und will. Gewiß können Autorität und Bedürfnis in verschieden starkem 
Grade zur Folgsamkeit des Kranken beitragen, und von Suggestion wird 
man, wenn man von der hypnotischen Suggestion ausgeht, um so mehr 
sprechen können, eine je größere Macht die Autorität und eine je geringere 
das Bedürfnis ausübt, aber wenn man von den Fällen absieht, die man 
als Befehlsautomatie bezeichnen kann, und die der hypnotischen am 
nächsten stehen, wird das Bedürfnis stets eine wenn auch manchmal im 
Verhältnis zur Autorität geringe Rolle spielen. Selbst in jener Erzählung 
von Friedrich dem Großen ist das Schutzbedürfnis der österreichischen 
Offiziere, die in der Hand des Königs zu sein glauben, nicht ganz unbe¬ 
teiligt. Ähnliches gilt von den religiösen, politischen und andern „Wach¬ 
suggestionen“, die Friedmann anführt: überall ein Bedürfnis und das Ver¬ 
trauen, daß es auf dem Wege befriedigt werden kann, den der Redner 
angibt, wobei Bedürfnis und Vertrauen von vornherein bestehen oder 
durch den Redner erst allmählich hervorgerufen werden können. Je ge¬ 
ringer die Autorität, je mehr sie durch Gründe, Vergleiche, Beispiele usw. 
ersetzt werden muß, um so verschiedener ist der Vorgang von der hyp¬ 
notischen Suggestion, mit der ihn nur die Autorität des Redners verknüpft. 
Diese Autorität und damit der letzte Anlaß zur Gleichstellung mit der 
hypnotischen Suggestion fällt bei der „Autosuggestion“ weg, an ihre 
Stelle tritt hier völlig das Bedürfnis, und was man als Autosuggestion 
im Gegensätze zum überlegenden, begründenden, logisch vorgehenden 
Denken bezeichnet, ist gerade, daß die Macht der zur Herrschaft gelangen¬ 
den Vorstellung allein dem Bedürfnis und dem in ihm wirksamen Triebe 

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entstammt. Die Autosuggestion hat also mit der hypnotischen nichts als 
den Namen Suggestion gemein, und nur dadurch ist jene Wortübertragung 
erklärlich, daß ein innerer Zusammenhang durch das Dazwischenschieben 
der Wachsuggestion vorgetäuscht wird, die von beiden etwas enthält 
und daher zwischen beiden vermittelt. Der Name Autosuggestion führt 
somit irre, weil er eine gemeinsame Grundlage mit der hypnotischen Sug¬ 
gestion voraussetzen läßt, die gar nicht vorhanden ist, wenn man nicht die 
bloße Stärke der Vorstellung als gemeinsames Kennzeichen nimmt, ohne 
den Ursprung dieser Stärke zu beachten. Und selbst dann ist die Behaup¬ 
tung unrichtig, der Suggestionsbegriff habe gezeigt, daß die Vorstellung 
an sich und allein eine selbständige geistige Macht bedeutendster Art sei: 
er hat nur gezeigt, daß die Vorstellung diese Macht — nicht an sich, son¬ 
dern — in Verbindung mit dem Bewußtsein der Abhängigkeit oder in Ver¬ 
bindung mit einem Bedürfnis oder in Verbindung mit beiden besitzt. 
Auch „daß die Urteilsbildung und die leitenden Ideen des Menschen unter 
mächtigen Einflüssen einer angeborenen Suggestibilität stehen“, ist dem¬ 
nach auf ihren Zusammenhang mit dem Bedürfnis zurückzuführen, nicht 
aber darauf, „daß eben die Vorstellung an sich eine starke intellektuelle 
Kraft oder Macht darstellt“. 

Auch folgenden Sätzen (8.214) kann ich nur teilweise beipflichten: „Der 
alten und durch einen Forscher wie Wundt wieder vertretenen Lehre hat 
man bedingunglos wieder Folge geleistet, daß unsere Überzeugung im 
Denken ausschließlich durch eine höhere Intelligenzkraft, die Verstandes¬ 
kraft, Apperzeption oder wie man sie nennen will, bedingt wird. Ihr kommt 
ein souveräner Primat im Denken zu, ihr sind die Vorstellungen nur die 
passiven Elemente, die Bausteine, dig sie ordnet und annimmt oder afc- 
weist. Und diese Lehre erschien freilich gestützt durch die Analogie der 
Suggestion in der Hypnose. Wesentlich dadurch, daß hier, in letzterer, 
die Intelligenzleistungen, Reflexion und überlegter Wille, ausgeschlossen 
seien, ergebe sich die imperative Gewalt der Suggestiv Vorstellung. Und 
für die Wachsuggestion legte man sich eine Art von „Faszination“, eines 
Geblendet- und Oberwältigtsein durch die Suggestividee, zurecht, so daß 
auch hier die geordnete Reflexion passiv ausgeschlossen oder mit Wundt 
das Blickfeld der Apperzeption eingeengt sei. Es bestünde sozusagen 
gar nicht die Möglichkeit einer logischen Kritik oder einer Hemmung 
durch überlegten Willen, weil das Herbeiströmen der anderweitigen Ge¬ 
danken vereitelt wird.“ Und weiter (S. 220): „Gerade das kritische über¬ 
legte Urteilen beruht nicht auf einer primären geistigen Kraft, einem Organ 
der Intelligenz (Verstandeskraft, aktive Apperzeption); wo ein Bedürfnis 
besteht nach Begründung aller von der Person aufzunehmenden oder fest¬ 
zuhaltenden Ideen, da ist das Bedürfnis anerzogen, und zugleich ist die 
Suggestibilität der Person von Hause aus eine geringe.“ Dazu möchte ich 
folgendes bemerken: Ohne Apperzeption oder Verstandesgebrauch ist Sug¬ 
gestion überhaupt nicht möglich, denn der Befehl oder die Eingebung 


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Kleinere Mitteilungen. 


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sowohl in der Hypnose wie bei der Wachsuggestion muß verstanden und 
ebenso die starke Vorstellung der Autosuggestion als tauglich zur Befriedi¬ 
gung des Bedürfnisses aufgefaßt werden. Nur hierüber hinaus, zur Kritik: 
des Suggestivdenkens wird die Apperzeption oder der Verstand oder, 
um „nicht mit so komplexen und veralteten psychologischen Faktoren 
zu operieren, wie es der Intellekt oder die Verstandeskraft ist“, das Denken 
nicht verwandt; denn in der Hypnose sind Denken und Wollen, soweit sie 
eigenem Bedürfnis entstammen, künstlich unterdrückt, während Denken 
und Wollen auf Grund fremder Eingebung nicht gehemmt sind, und bei 
der Wach- und Autosuggestion erscheint der im Suggestivdenken erfaßte. 
Zusammenhang durch die Autorität des Suggerierenden so gesichert oder 
infolge des eigenen starken Bedürfnisses so einleuchtend, daß eine weitere 
Begründung oder Kritik als überflüssig unterbleibt oder die Gegengründe 
als nur scheinbar widersprechend abgefertigt werden. Bei allen drei 
Suggestivformen kann also das Bedürfnis und die Fähigkeit zu begründen¬ 
dem, kritischem Denken in der die Suggestion annehmenden Person aus¬ 
gebildet und in anderer Lage wirksam sein, nur im vorliegenden Falle wird 
es, soweit es eben vorhanden ist, in bezug auf die Suggestividee ausgeschaltet 
oder beeinflußt, weil das Bedürfnis danach entweder künstlich zum Schwei¬ 
gen gebracht wird oder gegenüber fremder Autorität oder einem eigenen 
stärkeren Bedürfnis zurücktritt. Dagegen kann sich das Denken, auch 
das kritische, im Dienste der Suggestividee sehr lebhaft betätigen: die 
Suggestion, die „dadurch wirkt, daß sie eine mächtige Vorstellung in den 
Geist des Menschen einführt“, „hemmt ihn in diesen Fällen ganz und gar 
nicht, eine Fülle psychischer Leistungen, von erweckten Ideen folgt sehr 

oft nach . Ich erinnere nur als besonders beweisend an die Ideen, 

welche wie die anarchistische oder die mahdistische eigentlich gar keine 
positive Begründung erfuhren; und welche beispiellose Agitation, welches 
Übermaß von impulsiver Tatkraft haben sie entzündetl“ (S. 279). Ich 
meine, gerade das Beispiel der anarchistischen Bewegung zeigt besonders 
deutlich, daß die Idee nicht an sich jene Macht besitzt, sondern sie nur da 
entfaltet, wo eben das ihr entsprechende Bedürfnis besonders stark aus¬ 
gebildet ist. Denn nicht die Masse des Volkes, die solchen Ideen kritische 
Hemmungen nur in geringem Maße entgegensetzen kann, wird von ihr mit 
fortreißender Gewalt ergriffen, sondern immer nur Einzelne, in denen das 
Bedürfnis nach voller Selbständigkeit des Handelns und nach Unabhängig¬ 
keit von staatlicher Bindung sich zu ungewöhnlicher Höhe entwickelt hat. 
Auch eine Volksmasse kann unter ungewöhnlichen Verhältnissen durch 
anarchistische Ideen vorübergehend „fasziniert“, geblendet, überwältigt 
werden, bald aber treten andere, fester eingewurzelte Bedürfnisse hervor 
und üben ihre Herrschaft; es gehört schon eine gewisse Bildung und 
kritische Fähigkeit dazu, um im Dienste der anarchistischen Idee immer 
neue Beweise für die Schädlichkeit jeglicher Staatsform und für die Richtig¬ 
keit der Lehre von der angeborenen, nur durch die bestehenden Verhält- 


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nisse verdorbenen und ohne sie frei und von selbst sich entwickelnden 
Trefflichkeit der menschlichen Natur herauszufinden und so das Bedürfnis 
nach Beseitigung des Staates rege zu halten und zu vertiefen, d. h. mit 
andern, zunächst stärkeren Bedürfnissen verschmelzen zu lassen. Das 
Bedürfnis nach Befreiung von staatlichem Zwang und Schutz ist eben nicht 
ursprünglich, sondern schon recht weit abgeleitet, und die menschlichen 
Urtriebe können daher in ihm nur soweit wirksam werden, als die Über¬ 
zeugung hervorgerufen und festgehalten wird, daß seine Befriedigung auch 
ihre Befriedigung enthält und am besten gewährleistet. Eine gewisse 
„Intelligenzkraft“ oder „Verstandeskraft“ — oder wie man sonst die 
Fähigkeit bezeichnen will, die Vorstellungen unter einem gemeinsamen 
Gesichtspunkte zusammenzufassen — muß aber vorhanden und ausge¬ 
bildet sein, um jene Überzeugung und damit das abgeleitete Bedürfnis in 
der nötigen Stärke entstehen und weiter bestehen zu lassen. Die Stärke 
der Vorstellung ist also weder durch Hemmung oder Ausschluß des Denkens 
entstanden — darin hat Friedmann recht — noch ist sie als selbständige 
Macht der Vorstellung an sich eigen — wie Friedmann will —, sondern ein 
starkes Bedürfnis, von menschlichen Urtrieben abgeleitet, sie in ihrer 
Richtung bestimmend und aus ihnen seine Stärke schöpfend, schafft durch 
Beeinflussung des Denkens die Überzeugung, daß das Bedürfnis auf dem 
durch die Vorstellung angezeigten Wege zu befriedigen sei, und verleiht 
dieser damit die ihr eigentümliche Stärke. 

Dies gilt nicht nur für die „perversen“, sondern auch für die „ge¬ 
sunden“ Ideen im Völkerleben. Beide erhalten die ihnen eigene Stärke 
nur durch das ihnen zugrunde liegende Bedürfnis und die Überzeugung, 
daß ihre Verwirklichung das Bedürfnis befriedigt, und jene unterscheiden 
sich von diesen nur dadurch, daß allseitige Überlegung und Erfahrung 
jene Überzeugung immer von neuem als richtig erweist. Die gesunden Ideen, 
die das Ziel des Handelns bestimmen, ähneln also in der Art ihrer Begrün¬ 
dung den Naturgesetzen, während die perversen in dieser Hinsicht falschen 
Naturanschauungen gleichen, die lange Zeit als Ausdruck eines wirklichen 
Zusammenhangs gelten können, schließlich aber doch durch die Erfahrung 
berichtigt werden. 

Bei der Entstehung solcher mächtigen Ideen, namentlich derer auf 
religiösem Gebiet, mag man vielfach mit gewissem Recht von Autosug¬ 
gestion reden, denn das Bedürfnis verlangt hier, und zwar gerade bei Vor¬ 
stellungen, die sich später als in ihrem Kerne gesunde Ideen erweisen, 
zunächst in geringem Maße eine überlegende Begründung auf dem Boden 
der gewöhnlich so genannten Wirklichkeit, der Urheber ist sich, vielleicht 
nach anfänglichem Schwanken, der Wahrheit seiner Idee unmittelbar 
bewußt, aber dann pflegt die Überlegung einzusetzen, die freilich nicht 
darauf ausgeht, die Idee auf ihre Vereinbarkeit mit den Ergebnissen der 
Wissenschaft und mit sonstigen Erfahrungen zu prüfen, sondern darauf, 
ob sie imstande ist, die dem Urheber etwa auftauchenden religiösen Zweifel 


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zu überwinden und auf die Dauer seinem besonderen Bedürfnis volles Ge¬ 
nüge zu leisten. Nach diesem Bedürfnis umgrenzt sich der Umkreis der 
Erfahrung, die hier die Dauer der Überzeugung von der Wahrheit der Idee 
bestimmt und der Idee die Stärke des Bedürfnisses erhält. Wie für alle 
Gebiete des menschlichen Denkens gilt es auch hier, nur hier noch in viel 
höherem Maße, daß der schöpferische Geist und alle, die ihm folgen, sich 
zunächst auf den Boden des neuen Zusammenhangs stellen und seine Trag¬ 
fähigkeit erproben müssen. Diese Prüfung ist nun zwar von der in der 
Wissenschaft, wo Beobachtung und Überlegung allein entscheiden, insofern 
nicht grundverschieden, als die religiösen Ideen, soweit sie auch andrer¬ 
seits über den Naturzusammenhang hinausgreifen, an innere Vorgänge, 
die in der Erinnerung festgehalten werden, sich anknüpfen und auf ihnen 
aufbauen, aber diese Vorgänge haben Beweiskraft nur für den, der sie 
selbst erlebt, und nur der erlebt sie, der sich ganz mit der neuen Idee erfüllt. 
Nicht Empfindungszusammenhänge, sondern allein die Gefühlszuordnung 
zu allen in Betracht kommenden Vorstellungen, die aus der Befriedigung 
eines mächtigen Bedürfnisses stammt und über Zweifel hinaus eine hohe 
Sicherheit und feste Willensrichtung zu geben vermag, schafft die Er¬ 
fahrung, die der religiösen Idee ihre volle Überzeugungskraft verleiht. 
Erst später regt sich, sei es im Urheber oder seinen Anhängern, das Be¬ 
dürfnis nach einem logischen Unterbau auf andersartigen Erfahrungen 
und auf den Ergebnissen der Wissenschaft, der vorläufig noch ganz im 
Banne der Idee ausgeführt zu werden pflegt, aber allmählich doch eine 
Umformung derselben hervorbringt, indem neue Bedürfnisse hervortreten 
und eine Anpassung erzwingen. So werden Kern und Wesen der religiösen 
Idee von zeitgeschichtlichen Beimengungen gereinigt und setzen sich mit den 
übrigen Erfahrungen in Einklang. Nicht alsob hierdurch die Stärke der reli¬ 
giösen Idee unmittelbar vermehrt oder vermindert würde, da sie allein von 
jener ganz persönlichen inneren Erfahrung des Einzelnen abhängt, aber die 
Überzeugung von der Wahrheit der Idee, die die Voraussetzung ihrer Er¬ 
folge ist, wird leichter erlangt und sicherer behauptet, wenn sie nicht im 
Gegensätze zu andern Erfahrungen und anerkanntem Wissen steht, sondern 
auch auf ihrem Grunde sich aufbaut und somit das religiöse Bedürfnis ohne 
begründeten Widerspruch befriedigt. Zwei verschiedene Arten wissen¬ 
schaftlicher Betrachtung führen hierzu, die geschichtliche und die philo¬ 
sophische. Jene verfolgt die Wirkungen der Religion und ihrer verschiede¬ 
nen Formen im Einzelmenschen und in Gemeinschaften und Völkern und 
stellt sie unter den Gesichtspunkt, dem Lessing am Ende seiner Erzählung 
von den drei Ringen im Nathan klassischen Ausdruck verliehen hat, diese 
beseitigt Widersprüche mit der sonstigen Erfahrung und erweist so im 
Sinne Kants oder Fechners die Gottesidee, obwohl ihr Gegenstand nicht 
von dieser Welt ist, als in einem berechtigten Bedürfnis begründete und 
wissenschaftlich einwandfreie Ergänzung der Weltanschauung. 

Diese Ausgleichung der religiösen Vorstellungen mit der Wissen- 


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schaft, die in christlichen, nicht aber z. B., soweit mir bekannt, in 
muhammedanischen Bildungen im Werke ist und die Macht der 
religiösen Idee von inneren Hemmungen befreit, stellt somit einen 
Vorgang gleicher Art dar, wie die Verarbeitung eines fruchtbaren 
Gedankens in der Naturwissenschaft, der auch gewöhnlich mit 
manchen überflüssigen und nur im engsten Umkreise der Erfahrung nicht 
störenden Einschlüssen behaftet ist und von ihnen erst durch vergleichende 
Heranziehung immer weiterer Gebiete allmählich befreit wird. Und ebenso 
ist das Bedürfnis, das für die Entstehung naturwissenschaftlicher Erkennt¬ 
nisse und andrerseits selbst höherer Religionen maßgebend ist, nicht so ver¬ 
schieden in seinem Ursprung, als es zunächst erscheint. In beiden Fällen ist 
es ein gesteigertes, vom Erhaltungstrieb abgeleitetes Machtbedürfnis, das 
sich nur nach verschiedenen Richtungen, dort nach außen, hier nach innen 
wendet. Dort wird Herrschaft über die Natur erstrebt, hier Herrschaft über 
das Leid in jeder Form; dort erfolgt die Befriedigung des Bedürfnisses 
durch Anpassung an die Naturgesetze, hier durch Unterwerfung unter den 
Willen Gottes, und damit dies möglich ist, müssen dort die Naturgesetze, 
hier der göttliche Wille erkannt werden. Dieser gemeinschaftliche Ursprung 
aus dem Machtbedürfnis spricht sich nun auch darin aus, daß mit Religion 
und Naturerkundung in der Urzeit und auch weiterhin Zauberglaube und 
magische Gebräuche in Wettbewerb treten, die zur Befriedigung jenes Be¬ 
dürfnisses einen rascheren und geistig müheloseren Weg einschlagen. Wie 
„die Naturwissenschaften als eine Art Instrumentensammlung für das 
Denken und Handeln, um durch die Welt zu kommen“ x ), so kann man 
die religiöse Gottesvorstellung als ein Mittel betrachten, um allem Leid 
gegenüber, das von außen und aus den Widersprüchen des eigenen Innern 
immer neu empordringt, die zum ungestörten Wirken nötige Sicherheit 
und Freudigkeit aufzubringen. Tauglich sind aber auch hier die Mittel 
nur, wenn sie sich als Ausdruck einer Wirklichkeit — mag diese meta¬ 
physisch oder psychologisch aufgefaßt werden — in der Erfahrung 
bewähren, und die Überzeugung, daß dies auch in Zukunft der Fall sein 
wird, ist um so begründeter, je ausgebreiteter die Erfahrung ist, von der sie 
getragen werden, und mit der sie übereinstimmen. 

Aus diesen letzten Ausführungen läßt sich nun aber auch deutlicher 
als bisher das Verhältnis zwischen „Wahnideen“ und „gesunden“ Ideen 
ableiten. Gemeinsam ist beiden, daß sie ihre Stärke aus der Stärke des 
Bedürfnisses und der Stärke der Überzeugung von ihrer Richtigkeit, d. h. 
ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit schöpfen; sie unterscheiden 
sich dadurch, daß nur die gesunden Ideen sich auf die Dauer bewähren. 
Um eine Idee als eine gesunde, als eine berechtigte, als eine wahre zu er- 


*) So faßt Oesterreich die Ausführungen Machs in treffender Weist* 
zusammen. Überwegs, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 4. Bd.. 
S. 351. 


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kennen, gibt es aber kein anderes Kennzeichen, als ihre Begründung auf 
der bisherigen Erfahrung in ihrem eigensten Geltungsbereich und ihre 
widerspruchlose Einordnung in alle übrigen Erfahrungsgebiete. Ob bei 
einer Idee dies Kennzeichen für alle Zukunft zutreffen wird, kann niemand 
Voraussagen; ob es jetzt zutrifft, mag von den Einzelnen verschieden beur¬ 
teilt werden; völlige Sicherheit, daß eine Idee wahr ist, kann es daher nicht 
geben. Wer sie in einer Idee zu besitzen glaubt, oder sie für eine Idee 
verlangt, ist in einem grundsätzlichen Irrtum befangen. Aber daß in einer 
Idee Wahrheit enthalten ist, vielleicht nicht die volle Wahrheit, vielleicht 
Wahrheit mit Irrtum gemischt, und daß eine Idee der bisherigen Erfahrung 
zufolge treuer Ausdruck der Wirklichkeit ist, das kann allerdings mit 
Grund behauptet werden und mit Recht Sache der Überzeugung sein. Hierzu 
genügt obiges Kennzeichen und wird dem genügen, der sich bewußt ist, 
daß jede Idee nur Ausdruck, nicht Abbild einer Wirklichkeit sein kann, 
gleichsam nur eine Übertragung in eine andere, nicht Abschrift in gleicher 
Sprache. Dem gegenüber können wir als Wahnideen im Völkerleben die¬ 
jenigen einflußreichen Ideen bezeichnen, die schon in ihrem eigensten 
Wirkungsbereich der bisherigen Erfahrung ganz oder zum größten Teil 
widersprechen. Als wahr gelten sie nur ihren Anhängern, denen jener 
Widerspruch entgeht, während einem nüchternen Urteil auf Grund der 
bisherigen Erfahrung ihre Unwahrheit einleuchtet. Zwischen ihnen und 
den wahren Ideen liegen aber die meisten Ideen mitten inne, die im Völker¬ 
leben ihre Macht entfalten, d. h. sie enthalten Wahres und Unwahres und 
bilden so den Übergang von der wahren zur Wahnidee. Das Wahre in 
ihnen pflegt sie vor dem Verstände zu rechtfertigen und ihnen Dauer zu 
verleihen, das Falsche eingewurzelten, aus der besonderen Lage hervor¬ 
gegangenen Denkgewohnheiten und Bedürfnissen zu entsprechen und gerade 
die Mischung von beiden ihnen eine besondere Gewalt zu verleihen. Dies 
gilt sowohl für die Ideen, die mehr Wahres, als für die, die mehr Unwahres 
enthalten. 

Einflußreiche Ideen müssen von ihren Anhängern für wahr gehalten 
werden, weil sie sonst stärkere Wirkungen nicht ausüben könnten. Ihre 
Verbreitung wird daher, soweit sie ohne ausreichende Begründung erfolgt, 
zunächst gefördert durch Mangel an Erfahrung auf dem Gebiet, in dem 
sie Geltung beanspruchen, da sie in diesem Falle keine Hemmung erfahren. 
Daneben hebt aber Friedmann mit Recht die Gewalt der öffentlichen 
Meinung, die Macht des Vorbildes und Beispiels, und als wirksamstes 
Moment die Suggestibilität der Volksmassen hervor. Die Suggestibilität 
der Volksmassen beruht jedoch auf allgemein verbreiteten und daher 
überall weckbaren menschlichen Trieben; die Idee, die diesen Aussicht 
auf Befriedigung eröffnet und in der Erfahrung des Einzelnen die wenigsten 
Hemmungen findet, wird dem Triebe die Richtung geben und dessen Stärke 
auf sich lenken. Um Ideen Andern einzupflanzen, gilt es also, möglichst 
starke Triebe zu wecken, sie in einem Bedürfnis zusammenzufassen und 


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einen gangbaren Weg zu dessen Befriedigung in der Idee aufzuweisen, 
und zwar wird die Überzeugung, daß die Idee einen solchen Weg aufweist, 
um so leichter und rascher sich einstellen und um so rascher auf genauere 
Begründung verzichten, je mächtiger das Bedürfnis ist, und je mehr es 
daher auf Befriedigung oder doch zunächst auf die Feststellung eines Weges 
hierzu hindrängt. Schon die Feststellung dieses Weges vermittelst derldeee 
kann die Befriedigung so vorwegnehmen, daß weiteres Nachdenken und 
die Heranziehung weiterer Erfahrung als überflüssig erscheint. Und dies 
wird noch wesentlich gesteigert durch die Autorität des Urhebers der Idee 
und dessen, der sie der Masse mundgerecht macht. Diese Autorität liegt 
darin, daß man jenen größeres Wissen und tieferes Nachdenken als sich 
selbst zutraut, und sie wird dadurch erworben oder bewahrt, daß die Dar¬ 
stellung im Anklang an sonstige, auf andern Gebieten gemachte Erfahrun¬ 
gen die Tauglichkeit der Idee zur Befriedigung des Bedürfnisses möglichst 
handgreiflich heraushebt. In gleichem Sinne wirken nun auch die beiden 
andern von Friedmann hervorgehobenen Umstände: daß Andere in der 
Umgebung von der Idee erfaßt sind oder erfaßt werden, führt deutlich 
vor Augen, daß etwas an der Idee daran sein muß; wer selbst den Zu¬ 
sammenhang nicht recht durchschaut, glaubt, daß die Andern oder doch 
manche von ihnen ihn besser durchschauen, und vertraut deren besserer 
Einsicht, dies Vertrauen vermehrt aber wieder das Vertrauen zum Ur¬ 
heber oder Vertreter der Idee. Die Bedeutung des Beispiels oder Vor¬ 
bildes liegt in gleicher Richtung, nur daß hier nicht die eigene Umgebung, 
sondern der Urheber oder der Vertreter der Idee selbst in Betracht kommt. 
Daß dieser sich von der Idee durchdrungen zeigt und ihr vertraut, auf sie 
womöglich zu leben und zu sterben bereit ist, steigert das Vertrauen auf 
die Wirksamkeit der Idee um so mehr, je stärker der Eindruck der Über¬ 
legenheit seines Denkens und seiner Erfahrung im Umfang des Wirkung¬ 
bereichs der Idee anwächst. Es ist der gleiche Vorgang, als wenn jemand 
das Ergebnis fremder Forschung vertrauensvoll übernimmt; auch er wird 
dies um so eher tun, je größer ihm des Andern Überlegenheit auf diesem 
Wissenschaftsgebiete erscheint, und hierzu wird ebenfalls nicht wenig bei¬ 
tragen, wenn diese Überlegenheit auch von Andern oder gar allgemein an¬ 
erkannt wird. Er spart dadurch ebenso eigene Bemühung auf einem 
ihm vielleicht fernliegenden Gebiete wie der Einzelne in der Masse, der bei 
Aufnahme der ihm bisher fremden Idee eigenes Denken und Forschen 
im Vertrauen auf die Leistungen Anderer als überflüssig und weniger 
sicher vernachlässigt. 

Ich habe die Macht der Idee auf das Bedürfnis, zu dessen Befriedi¬ 
gung sie den Weg aufweist, und damit auf den Trieb zurückgeführt. Das 
-mag manchen befremdet haben, der mir darin zustimmt, daß ich „die 
Vorstellung an und für sich“ als „eine starke psychische Kraft oder Macht“ 
nicht ansehen kann, und namentlich dem Assoziationspsychologen dürfte 
es viel näher liegen, zur Erklärung jener Macht das mit der Vorstellung 


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verbundene Gefühl heranzuziehen. Ich habe statt dessen den Trieb einge¬ 
führt, nicht nur, weil hierdurch der biologische Zusammenhang klarer 
hervortritt, sondern auch, weil ich das Gefühl nicht in allen Fällen für 
ausreichend halte, um darauf allein die Macht der Idee zu begründen. Ich 
berühre mich hierin mit Friedmanns Auffassung, daß „der Hinweis auf 
das im religiösen Denken steckende Werturteil, ja sogar auf die viel deut¬ 
lichere Affekt- und Gemütseinwirkung noch recht wenig vom eigentlichen 
Wesen des Suggestivdenkens erkennen läßt“ (S. 215). Das Gefühl, auf 
das das Werturteil zurückführt, und das doch wohl auch unter der Affekt- 
und Gemütswirkung religiöser Vorstellungen zunächst zu verstehen ist, 
reicht auch nach meiner Auffassung nicht zur Erklärung des Einflusses 
der Idee auf den Willen aus, während Bedürfnis und Idee gemeinsam, d. h. 
der durch die Vorstellung des Bedürfnisses und die den Weg zu dessen 
Befriedigung weisende Idee in seiner allgemeinen Richtung bestimmte 
Trieb den Willensvorsatz ausmacht, der nur des zureichenden Anlasses harrt, 
um sich in Handlungen zu betätigen. Wo der Trieb schwach ist, da ist 
auch der Wille schwach, und führt der Trieb nur in stürmischer Gemüts¬ 
bewegung zu augenblicklichem kräftigen Handeln, so versagt nach deren 
Erlöschen der Wille, wenngleich das in der Gemütsbewegung enthaltene 
Gefühl auch ohne sie in hohem Maße lebendig sein kann. Hierfür hat uns 
Shakespeare in seinem Hamlet ein klassisches Beispiel gegeben. Da ich 
aber weder dem Gefühl noch der Vorstellung allein oder beiden zusammen 
jene Macht zuschreiben kann, halte ich Friedmanns Ableitung der Sug- 
gestibilität der Massen, die doch deren Wollen und Handeln zu bestimmen 
gestatten soll, allein aus dem Fehlen hemmender Vorstellungen und dem 
Grade der Erregbarkeit des Vorstellens für ungenügend. Es würde dann 
ausreichen, der Menge auf einem Gebiete, auf dem ihr eigene Erfahrung 
und eigenes Wissen abgeht, plastisch geschaute und gestaltete Ideen so 
vorzuführen, daß Phantasie und Gefühl mächtig ergriffen wird. Die Sug¬ 
gestion, die hierdurch erzeugt wird, ist jedoch nur eine solche, wie sie am 
vollendetsten durch das Schauspiel erzeugt wird, und dies pflegt den Willen 
zum Handeln im Sinne der dramatischen Handlung nicht gerade stark in 
Bewegung zu setzen, obwohl die Stärke des von ihm erregten Gefühls den 
Durchschnitt der Gefühle des täglichen Lebens im allgemeinen weit über¬ 
steigt. Wenn ich davon absehe, daß zur Renaissancezeit Verschwörer in 
Italien und im London Elisabeths und Shakespeares sich ein Schauspiel 
bestellten, um sich durch dasselbe zur Ausführung ihres Planes anfeuern 
zu lassen, so ist mir nur ein Fall bekannt, daß infolge eines Dramas fanati¬ 
sche Massenhandlungen zustande gekommen sind: als 1830 die Nachricht 
von der französischen Julirevolution in Brüssel eingetroffen war, zerstörten 
nach der Aufführung der Oper „Die Stumme von Portici“ Volkshaufen die 
Druckerei einer Brüsseler Zeitung, die im holländischen Sinne geleitet 
wurde, den Palast des verhaßten Justizministers und die Wohnung des 
Polizeidirektors, u r A damit begann der Aufruhr Belgiens gegen die hol- 


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ländische Oberherrschaft. Aber damals hatte die Mißstimmung des Volkes 
über Steuerdruck und Handelssperre, über die Begünstigung der holländi¬ 
schen Sprache und des Protestantismus bereits seit langem überhand ge¬ 
nommen, es bestand ein kräftiges Bedürfnis, die drückende Herrschaft der 
als fremd empfundenen holländischen Regierung abzuschütteln, und dieses 
Bedürfnis, verschärft durch das in Paris gegebene Vorbild, nicht die Idee 
der dramatischen Handlung und das dadurch erregte Gefühl, verhalf 
scheinbar der Oper zu jener Wirkung. Überall war also der Wille oder das 
Bedürfnis bereits vorhanden, und das Schauspiel konnte nur dazu dienen, 
durch Vorführung ähnlicher Vorgänge die bereits bestehende Gemüts¬ 
bewegung im Sinne des Willens oder des Bedürfnisses aufzupeitschen und 
so innere Hemmungen gegen aufrührerische Handlungen für den Augen¬ 
blick zu beseitigen. Ein durch äußere Einwirkung entflammtes Gefühl 
vermag Trieben, die mit Gegentrieben ringen, zum Siege zu verhelfen, 
aber es ist nicht imstande, ohne diese Unterlage dem Willen zum Handeln 
eine bestimmte Richtung aufzuprägen. Der Trieb stellt sich im Bewußtsein 
dar als ein Gebilde aus Empfindungen und Gefühlen, und das Bedürfnis ist 
eine besondere Art gefühlsbetonter Vorstellung, aber die Stärke des Triebes 
und des Bedürfnisses entspricht nicht nur der Stärke des mit ihm auf¬ 
tretenden Gefühls. Eine nähere Ausführung würde hier zu viel Raum 
beanspruchen und mag bei anderer Gelegenheit erfolgen, vorläufig kam es 
mir darauf an, meine Übereinstimmung mit Friedmann in diesem Punkte 
hervorzuheben. 

Die Erkenntnis, daß Ideen nur dann zu tatkräftigem Handeln 
führen, wenn ihre Verwirklichung geeignet scheint, einem lebhaften, von 
starken Trieben ausgehenden Bedürfnis abzuhelfen, wirft auch ein Licht 
darauf, weshalb nach Friedmann die perversen Bewegungen, im Gegensätze 
zu andern, die psychologische Besonderheit zu haben scheinen, noch all¬ 
gemein menschlicher zu sein, d. h. tiefer in der Volksseele zu wurzeln und 
dabei an sich nichts Neues an den Tag zu bringen. „Alte, von je glimmende 
Leidenschaften und Wahngebilde, öfter das, was gemeiner Aberglaube ist. 
bricht mit einem Male hervor und tritt nun gleich einem reißenden Strome 
über seine Ufer. Man hat naturgemäß gern auch hier eine pragmatische 
Geschichtsbehandlung zu üben gesucht, man wollte z. B. nachweisen, wie 
mit den großen legalen Volksbewegungen, gleichsam angeregt und be¬ 
fruchtet dadurch, oft auch als Reaktion, die perverse Stimmung und Unter¬ 
strömung Leben gewinne. Der Aufklärung des letzten Jahrhunderts ging 
parallel der schon erwähnte pietistische Rückschlag, an den als Retter von 
der sozialen Knechtung des Proletariats aufgetretenen sozialistischen 
Idealismus hat sich der blutige Anarchismus geheftet, die große Reforma¬ 
tion Luthers ließ die Wiedertäuferorgien emporwachsen; dem weltbe¬ 
freienden und in ebenso schwärmerisch religiösem Idealismus als tat¬ 
kräftiger Menschenliebe erblühenden Christentum ist die selbstsüchtig 
versunkene anachoretische Bewegung gefolgt“ (S. 234—235). An dieser 


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Auffassung, meint Friedmann , sei gewiß etwas Wahres, dennoch lasse ein 
näheres Eingehen auf diese Dinge in solchem Sinne meist unbefriedigt. 
„Wir verstehen doch nicht, warum diese perversen Regungen, welche doch 
so tief in der Menschenbrust gegründet sind, gerade jetzt zum Ausbruch 
kamen, warum z. B. der Anarchismus, dem doch im Herzen zu allen Zeiten 
ein leider so großer Teil der Menschen, alle rabiaten und verbrecherischen 
Naturen zujauchzen würden, warum er bisher nur das eine Mal ernsthaft 
und in größerem Stile sich gezeigt hat.“ Diese Frage glaubt Friedmann 
zunächst dadurch zu lösen, daß er auf den Einfluß hervorragender Männer 
hinweist, aber gerade für die perversen Volkserregungen treffe freilich diese 
suggestive Einpflanzung durch geniale Männer doch nicht völlig in gleichem 
Maße zu. „Es gibt elementare Instinkte, deren Aufwallungen förmlich 
explosiv in den niederen Massen sich dokumentieren, und so scheint jetzt 
von unten her in China jener elementare Patriotismus am Werke zu sein, 
welcher das Land vor der Besitznahme und sogar nur vor dem Eindringen 
der Fremden zu schützen sucht. Ähnlich ergeht es mit der Rassenfeind¬ 
schaft bei uns und bei den meisten Nationen“ (S. 238). Sobald wir die 
Macht der Idee darauf zurückführen, daß sie einem starken Bedürfnis 
Befriedigung verspricht, erklären sich die Besonderheiten, die Friedmann 
an den perversen Ideen findet. Sie sind allgemein menschlicher, weil sie 
aus überall verbreiteten Grundtrieben hervorgehenden und deshalb all¬ 
gemein menschlichen Bedürfnissen entgegenkommen, ohne besondere 
geistige Arbeit vorauszusetzen. Sie bringen nichts Neues zutage und können 
gerade deshalb, weil der in ihnen gewiesene Weg zur Befriedigung des Be¬ 
dürfnisses uralten Denkgewohnheiten entspricht und wenig Neudenken 
erfordert, förmlich explosive Gewalt entfalten, wenn das Bedürfnis durch 
die Zeitlage brennender wird und einzelne Begabtere sie in zündender Form 
und den neuen Verhältnissen angepaßt in die Massen hineinwerfen. Die An¬ 
passung an neue Verhältnisse deckt sich vielfach mit dem, was Friedmann 
als das Wahre an der pragmatischen Geschichtsauffassung bezeichnet: 
neue Ideen, die einen Fortschritt in der geschichtlichen Entwicklung be¬ 
deuten, verschmelzen mit älteren, zumal solchen, die durch sie überwunden 
schienen, aber nun gerade durch die Verschmelzung mit ihnen neue und 
wirksame Begründung erhalten. Bei der anachoretischen Bewegung, die 
dem aufblühenden Christentum folgte, entsprang dem christlichen Ver¬ 
langen, durch volle Hingabe an Gott das Heil der Seele zu sichern, und dem 
uralt volkstümlichen Gedanken, die Gottheit durch Opferung wertvollsten 
Besitzes und durch Selbstpeinigung am sichersten versöhnen zu können, 
die Vorstellung, einfacher und sicherer als der Weg tätiger Nächstenliebe 
und Selbstüberwindung im Getriebe der Welt führe grundsätzliche Abkehr 
von der Welt und ihrer als wertvoll geltenden Lust, der erlaubten und uner¬ 
laubten, zum Ziele. Als dann die ersten Einsiedler wegen ihrer Jedem deut¬ 
lichen Willenskraft und Entschiedenheit angestaunt wurden und in den 
Geruch der Heiligkeit kamen, vermochte ihr Ruf und ihr Beispiel eine 


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größere Anzahl auch solcher zu verlocken, die nicht nur durch starkes 
religiöses Bedürfnis und die Scheu vor den Versuchungen und der Verant¬ 
wortlichkeit des täglichen Lebens, sondern auch durch Unglück und ge¬ 
scheiterte Hoffnungen oder durch ehrgeiziges Verlangen nach höherer 
Geltung sich der Weltflucht zuwandten, und so konnte durch regeren 
Zustrom neben und aus dem Einsiedlertum das Mönchtum sich heraus¬ 
bilden, in seinen höheren Formen gewissermaßen ein Zwischenglied zwischen 
Einsiedlertum und reinerem Christentum, dessen Lehren es in kleinerem 
Kreise und daher scheinbar zugleich gefahrloser und vollkommener zu 
betätigen versuchte. Ganz ähnlich steht es mit dem Entstehen der Wieder¬ 
täuferorgien aus der Reformation. Die Lehre von der Freiheit des Christen¬ 
menschen, die Luther und Zwingli auf den festen Boden wissenschaftlicher 
Bibelauslegung gründeten, wurde von den Schwärmern mit der mittel¬ 
alterlichen mystischen Vorstellung einer unmittelbaren Erfassung gött¬ 
licher Geheimnisse und eines innigeren, tieferen Verständnisses der Heils¬ 
tatsachen und Bibelworte durch bloße gefühlsmäßige Betrachtung oder 
auch mit Hilfe visionärer Zustände und bedeutungvoller Träume verquickt 
und damit dem neu erwachten religiösen Bedürfnis 1h Anlehnung an eine 
früher mächtige und noch in der Tiefe lebendige Strömung der Weg zu 
einer anscheinend sichereren und müheloseren Befriedigung eröffnet, die 
zugleich dem Bedürfnis größerer Geltung des Einzelnen unmittelbarer ent¬ 
sprach, da die aus der verderbten Kirche zum wahren Glauben Durchge¬ 
drungenen und Wiedergeborenen das tausendjährige Reich vorzubereiten 
und durchzuführen hatten. So schien die Gemeinschaft der Heiligen, in die 
man durch die Wiedertaufe eintrat, das allgemein menschliche Bedürfnis 
nach Schutz und Macht in einem neuen Verhältnis zu Gott und zur irdischen 
Umgebung schnell zu befriedigen und konnte ebenso zu begeisterter Hin¬ 
gabe von Gut und Blut wie zu den wüstesten Ausschreitungen schwärme¬ 
rischen Handelns führen. Etwas anders liegt es beim Pietismus, der als 
Rückschlag gegen die Aufklärung doch nur halb zu verstehen ist. Zutreffen¬ 
der faßt man wohl beide Bewegungen als einseitige Fortsetzung der Re¬ 
formationsbewegung nur in entgegengesetzter Richtung auf, indem das 
religiöse Bedürfnis, das von Luther in einem für seine Zeit höchst glück¬ 
lichen Zusammenschluß von Verstand, Gefühl und Phantasie befriedigt 
war, im weiteren Fortgang wieder getrennte Wege einschlug, die schon im 
Mittelalter hier zur Mystik,' dort zur Scholastik geführt hatten. Der 
Anarchismus aber hat es nur einmal und unter ganz ungewöhnlichen Um¬ 
ständen, die in Paris 1871 nach Aufhebung der Belagerung sich heraus¬ 
gebildet hatten, zu einer Massenbewegung gebracht, an der außer den 
Führern nur die untersten Schichten der Bevölkerung teilnahmen. Diese, 
die wenig zu verlieren hatten, während der Belagerung bei geringer Arbeit 
an regelmäßige Verpflegung gewöhnt und sich ihrer Macht bewußt geworden 
waren, sollten nun in die frühere Ordnung einlenken, durch Arbeit ihren 
Unterhalt verdienen, Miete und Steuern zahlen und gehorchen, kurz die 


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bisherige Ungebundenheit mit staatlichem Zwange und bürgerlichen Pflich¬ 
ten vertauschen. Daß unter solchen Verhältnissen die anarchistischen 
Ideen der Führer das Bedürfnis der Masse nach Lebensversorgung und 
Macht mit der Vorstellung leichterer und rascherer Befriedigung auf dem 
Wege des Aufruhrs zu blutigen Taten entflammen konnten, dazu führte 
nicht nur und nicht einmal vorzugweise die vorangegangene Denkarbeit 
Proudhons und anderer Theoretiker des Anarchismus — sie gab nur die 
neue Form, in der alte Instinkte wieder auflebten —, dazu gehörte vor 
allem die Macht der Erinnerungen an die früheren Revolutionen, zumal 
an die Schreckensherrschaft der Masse während der großen Revolution, 
die jetzt aufs neue sich verwirklichen zu wollen schien. In allen von 
Friedmann angeführten Fällen finden wir demnach elementare Bedürfnisse 
wirksam, die Aussicht auf Befriedigung Anden in einer Verschmelzung 
neuer einflußreicher Ideen mit alten in der Masse schlummernden und 
durch die Berührung mit jenen zu frischem Leben erweckten Vorstellungen. 
Nur ist solche Verschmelzung nicht etwa an sich eine besondere Eigen¬ 
tümlichkeit perverser Ideen; auch wenn eine neue, fruchtbare Idee sich 
bildet, pflegt sie zunächst Bestandteile früherer Ideen in sich aufzunehmen, 
mit ihrem neuen Inhalt zu vereinigen und erst in der weiteren Entwicklung 
sich von dem nicht zu ihr Gehörigen zu befreien. Gerade die Entstehung 
des Christentums mit seiner Erwartung baldigen Weltuntergangs und die 
Reformation mit ihrer Bindung an die in ihrer ursprünglichen Niederschrift 
auf Inspiration zurückgeführte Bibel und selbst an deren überlieferten 
Wortlaut — man denke an Luthers Stellungnahme im Marburger Re¬ 
ligionsgespräch — weist diese Anknüpfung an Früheres und im Grunde 
überwundenes — überwunden in der Idee, aber nicht in deren Träger — 
deutlich auf. Der Einfluß der Zeitlage zeigt sich bei der Gestaltung neuer 
Ideen eben auch in großen und fortschreitenden Denkern mächtig, auch 
sie müssen, um mit Archimedes zu reden, einen festen Standort haben, um 
die Welt aus den Angeln zu heben, und können ihn nirgends anders finden 
als in den Bedürfnissen und Vorstellungen, die ihnen aus ihrer Zeit und 
Umwelt heraus gegeben sind. Entspricht die Idee, die in ihnen mächtig 
geworden ist, nicht auch den Bedürfnissen Anderer, und schließt sie sich 
nicht wenigstens zum Teil an verbreitete Vorstellungen an, so kann sie die 
Welt nicht oder doch erst dann aus den Angeln heben, wenn jene Voraus¬ 
setzung ihrer Wirkung erfüllt ist. Aber freilich tritt hier auch ein durch¬ 
greifender Unterschied zwischen fruchtbaren und perversen Ideen, die zur 
Herrschaft gelangen, zutage, daß nämlich das Neue, was jene dem Zeit¬ 
inhalt hinzufügen, zu dessen Überwindung hinleitet, während das Besondere, 
das diese mit ihm vereinigen, einer bereits überwundenen Vergangenheit 
angehört und deshalb die Fortentwicklung unmittelbar hemmt; die neue 
Richtung, die die perverse Idee der Zeitströmung gibt, weist rückwärts, die 
neue Wendung, die von der fruchtbaren Idee ausgeht, führt vorwärts. 

Jetzt, wo die ? in ihrer Bedeutung als Ausgangpunkt neuer 


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Ideen hervorgetreten ist, dürfte auch der Grund einleuchten, weshalb ich 
zwischen Trieb und Idee das Bedürfnis eingeschaltet habe. Die Grund¬ 
triebe sind überall und jederzeit vorhanden und erwachen auf innere oder 
äußere Reize hin. Gelangen sie ohne die Empfindung einer Schwierigkeit 
zur Befriedigung, so entwickelt sich aus ihnen kein Bedürfnis. Erst der 
Widerstand, den sie, sei es im Innern, sei es in der Umwelt, finden, ruft das 
Bedürfnis hervor, d. h. die unlustbetonte Vorstellung eines Mangels, dem 
sich der Wunsch nach Abhilfe desselben gesellt. Solcher Widerstand 
erwächst ihnen aber hauptsächlich aus den zeitlichen und örtlichen Ver¬ 
hältnissen, wie sie von der Natur oder den Mitmenschen hervorgebracht 
werden. Das Bedürfnis ist das Ergebnis von Trieb und Auffassung der 
Lage, es ermöglicht eine Richtungsänderung der Triebe und ihre Zusammen¬ 
fassung in einer Vorstellung. Veränderte oder anders aufgefaßte Verhält¬ 
nisse schaffen veränderte Bedürfnisse, die zu ihrer Befriedigung andere 
Wege verlangen und daher andern Ideen zur Macht verhelfen, während die 
Grundtriebe sich gleich bleiben und nur ihre besondere Richtung und Zu¬ 
sammenfassung sich ändert. 

Einen besonders überzeugenden Beleg hierzu hat der jetzige Krieg 
erbracht, der nicht nur ganz plötzlich und unvermutet, sondern auch ganz 
allgemein und in weit größeren Ländergebieten, als es sonst der Fall zu 
sein pflegt, die Lage der Massen von Grund aus veränderte und damit 
andern Bedürfnissen und andern Ideen überragende Macht verlieh. Bei 
uns in Deutschland hatte ein langer Friede und das allgemeine Vertrauen 
auf unsere Volkskraft und die bewährte Heeresleitung das Bedürfnis nach 
einer stärkeren, den allmählich und Vielen unmerklich veränderten Ver¬ 
hältnissen mehr entsprechenden Kriegsbereitschaft in weiten Kreisen ab¬ 
gestumpft, und zunehmender Wohlstand, der auch die Masse des Volkes 
weit über den früheren Stand gehoben hatte, im Verein mit den Versiche¬ 
rungsgesetzen das Bedürfnis nach fortlaufendem Lebensunterhalt ge¬ 
schwächt, da seine Befriedigung wesentlich erleichtert und sich bei richti¬ 
gem Verhalten beinahe von selbst zu verstehen schien. So konnten sich 
andere, weiter abgeleitete Bedürfnisse ausbreiten. Vielfach über das be¬ 
rechtigte Maß hinaus wuchs das Bedürfnis nach wirtschaftlichem Empor¬ 
kommen des Einzelnen und seines Standes, in die breiteren Massen drang das 
Bedürfnis nach äußerem Glanz und Scheinwesen oder nach ungezügeltem 
Sichausleben und unbekümmertem Genuß, daneben zu unserem Glück 
auch das nach lebhafterer Anteilnahme an den Ergebnissen von Kunst 
und Wissenschaft. In den letzten zwei Jahrzehnten trat auch das religiöse 
Bedürfnis, das sich auf immer engere Kreise zurückgezogen hatte, in 
weiterem, wenn auch immer gegen frühere Zeiten kleinem Umfang wieder 
hervor und rang im Anschluß an die früheren, ihm nicht mehr genügenden 
Vorstellungen um neue Formen der Betätigung. Zu gleicher Zeit griff 
auch das Bedürfnis nach körperlicher Ausbildung und Kräftigung in allerlei 
Gestalt um sich. Es waren also zum Teil durchaus berechtigte, d. h. der 


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Erhaltung und Förderung des Einzelnen und der Gesamtheit nützliche Be¬ 
dürfnisse, die in immer wachsendem Umkreise das Volk erfüllten. Aber 
ebensoweit und vielleicht noch weiter in die Massen hinein hatten sich 
auch die für den Einzelnen und für das Ganze unfruchtbaren und deshalb 
auf die Dauer schädlichen Bedürfnisse verbreitet, so daß den unbefangenen 
Betrachter wohl die Sorge beschleichen konnte, ob unser Volk, das in 
harter Not zur Kraft gelangt war, auch das Glück eines langen Friedens 
und anerkannter Macht lange ohne Schaden ertragen könne. Da schuf 
der unerwartet aufflammende Krieg wie mit einem Schlage von Grund 
auf andere Verhältnisse, und aus ihnen erhob sich das allgemeine Be¬ 
dürfnis nach Schutz vor den Feinden, vor dem alle Einzel- und Gruppen¬ 
bedürfnisse zurückgedrängt wurden, und das die plötzlich zu gewaltiger 
Macht anschwellende Idee gemeinsamer Verteidigung und Erhaltung des 
Vaterlandes zum Ergebnis hatte. Hier hatte eine lange Geschichte vor¬ 
gearbeitet und allgemeine Denkgewohnheiten geschaffen, die wohl zeitweise 
in den Hintergrund getreten, aber noch nicht erloschen waren und nun 
das neu erwachende Bedürfnis unwiderstehlich in ihre Bahn zogen. Zu¬ 
gleich waren alle Maßregeln bis ins Kleinste in langer Friedensarbeit wissen¬ 
schaftlich durchdacht und vorbereitet, so daß die Anordnungen Schlag 
auf Schlag und in folgerichtigem Zusammenhang erfolgten und Autorität 
und Bedürfnis, suggestives und überlegendes Denken in der gleichen Rich¬ 
tung zusammenwirkten. Anders war es, als neben dem kriegerischen 
Angriff der Feinde auch ihr Versuch, Deutschland durch Abschneidung 
der Zufuhr zu bezwingen, allmählich bedrohlich wurde und das Bedürfnis 
verschärfte, Nahrungsmittel und andere notwendige Güter sich nicht nur 
für die Zukunft zu sichern, sondern auch für den Tag selbst zu verschaffen. 
Hier versagte die bisherige Idee des freien Handels, und die Idee des 
staatlichen Zwanges auch auf diesem Gebiete gewann immer mehr an 
Boden, aber allgemeine Denkgewohnheiten fehlten, und was von Einzelnen 
theoretisch durchdacht und in den Köpfen vieler Sozialisten herrschend 
geworden war, entbehrte der Unterlage praktischer Anwendung und Er¬ 
fahrung und somit der bis ins einzelne gehenden Anpassung an die wirk¬ 
lichen Verhältnisse*. Kein Wunder, daß hier das Bedürfnis bald zu dieser, 
bald zu jener Vorstellung greift in der Hoffnung, in ihrer Verwirklichung 
Befriedigung zu finden, daß irreführende Schlagworte die Massen fort¬ 
reißen, und daß die Staatsgewalt, die, im Bewußtsein ihrer großen Verant¬ 
wortung mehr geschoben als führend, vorsichtig tastend vorwärts geht, 
mit allen unter dem Zwang der Verhältnisse immer eingreifenderen Ma߬ 
nahmen wohl dringender Not wehren, aber das erregte Bedürfnis der 
Massen nicht nach Wunsch befriedigen kann. Wir sehen deutlich die Be¬ 
mühungen der Regierung, auch auf diesem Gebiete den Anschluß an die 
vorhandene und allmählich wachsende Erfahrung nicht zu verlieren, wir 
freuen uns, daß günstige Umstände, wie die reichere diesjährige Kornernte, 
ihren Bemühungen entgegenkommen und den Aushungerungsplan unserer 

Zeitschrift fflr Psychiatrie ' XXIII. 2/3. 20 


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Kleinere Mitteilungen. 


Feinde vereiteln, aber ein allgemeines Vertrauen bleibt erklärlicherweise 
auf diesem Gebiete aus, schon deshalb, weil eine seit langem vorbereitete 
Organisation fehlt, die allein die Anordnungen der oberen Behörden auf 
den einzelnen Fall anwenden und somit sinngemäß zur Ausführung bringen 
könnte, und weil die deshalb unvermeidlichen Fehlgriffe den Anordnungen 
selbst zur Last gelegt werden. Es ist sehr lehrreich, jenen Gegensatz des 
Verhaltens der Masse dort zur Heeres-, hier zur Wirtschaftleitung zu 
beobachten: dort von Anfang an die allgemeine Überzeugung, daß nur 
gemeinsames Handeln und deshalb unbedingte Unterordnung unter die 
Gebote der Heeresleitung zum Erfolg führen könne, und als dieser bald 
und in immer wachsendem Maße eintrat,, ein immer stärkeres Vertrauen 
auf die Fähigkeit der Führer, hier zunächst ein Kampf Aller gegen Alle, 
dem nur wenige Einsichtige widerstanden, dann ein Wogen sich wider¬ 
sprechender, mehr oder weniger mangelhaft begründeter Ansichten, das 
schließlich sich in den Ruf nach einem Lebensraitteldiktator zusammen¬ 
schloß, und als diesem Rufe so weit als möglich durch Errichtung eines 
neuen Reichsamts entsprochen wurde, nach kurzer Frist Enttäuschung 
und ein Zurückßauen der Bewegung, weil naturgemäß auch diese Maßregel 
die hochgespannten Erwartungen der Menge nicht befriedigen konnte und 
die dadurch erreichbare Besserung längere Zeit beansprucht. Aber das 
Schutzbedürfnis schuf auch andere, in ihrer Übertreibung oft verderbliche 
Vorstellungen, ich erinnere an die zeitweise ganz unüberlegt sich äußernde 
Spionenfurcht, die mehrere Opfer erforderte und jeden Scheunenbrand, 
jede Explosion auf Rechnung feindlicher Machenschaften zu setzen neigte. 
Wie leicht da Gerüchte auftreten und sich verbreiten, die dann wieder das 
allgemeine Schutzbedürfnis verschärfen, davon erlebte ich ein kenn¬ 
zeichnendes Beispiel. In meinem Heimatorte wurde eines Tages zu Anfang 
des Krieges überall erzählt und lange geglaubt, daß in einer bestimmten 
Straße zu genau angegebener Zeit ein als Krankenschwester verkleideter 
Spion festgenommen sei; man habe unter dem Kleide einer Schwester, die 
sich mit auffallend langen Schritten vorwärts bewegte, Männerstiefel 
gesehen und die Polizei darauf aufmerksam gemacht, eine förmliche Jagd 
auf die verdächtige Person sei erfolgt, diese habe sich in ein Haus gerettet, 
sei aber dort erwischt, windelweich geprügelt und nur mit Mühe von der 
Polizei dem Strafgericht der Menge entzogen worden. Unser früheres 
Aushilfmädchen, das sonst nicht gerade zu Unwahrheit neigte, hatte ihrer 
Angabe nach den ganzen Auflauf miterlebt und die Männerstiefel unter 
dem Kleide sogar selbst entdeckt. Und doch war von der ganzen Ge¬ 
schichte nichts, aber auch gar nichts wahr, und das Mädchen hatte alle 
Einzelheiten in der Erregung, die sie in jenen Tagen zwecklos umhertrieb, 
teils von andern übernommen, teils sich aus den Fingern gesogen. 

Scheint aber der jetzige Krieg, der das Bedürfnis als maßgebend für 
den Einfluß der Idee auf große Volksbewegungen erwiesen hat, nicht auch 
Friedmanns Behauptung zu widerlegen, „daß .auf politischem Gebiet 


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Kleinere Mitteilungen. 


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wirklich reale und wichtige Interessen, wie z. B. die Schädigung des 
Handels* und Erwerbsbetriebes, so gut wie nie imstande waren, die Völker 
leidenschaftlich gegeneinander zu erregen“ (S. 302)? Tritt nicht immer 
klarer hervor, daß der jetzige, wie viele frühere Kriege, für England, 
unseren Hauptfeind, zunächst ein geschäftliches Unternehmen bedeutete, 
daß wenigstens das politische England ihn auf sich nahm, weil es in ihm 
,,eine nicht so leicht wiederkehrende Gelegenheit zu einem glänzenden 
Geschäfte, d. h. der Vernichtung eines seiner gefährlichsten Konkurrenten, 
ohne bedeutende eigene Anstrengung“ 1 ) sah? Das ist sicher richtig, 
aber es gilt im wesentlichen nur für die maßgebenden Politiker, nicht für 
das übrige Volk, das zum großen Teile den Krieg ebensowenig gewünscht 
hat wie die überwiegende Bevölkerung der übrigen kriegführenden Länder. 
Freilich konnte es sich leichter als diese mit der Tatsache des Krieges ab- 
finden, weil es sich vor seinen Schrecknissen durch das Meer und die „un¬ 
überwindliche“ Flotte geschützt glaubte, und weil beim Fehlen der allge¬ 
meinen Dienstpflicht der Einzelne nicht selbst sein Leben für die Durch¬ 
führung des Krieges einzusetzen genötigt war. Daß aber die innere Zu¬ 
stimmung breiter Schichten zum Kriege nicht nur durch die „wirklich 
realen und wichtigen Interessen“ des Landes bestimmt wurde, daß viel¬ 
mehr das ideelle Bedürfnis, die England zugeschriebene/ Rolle eines 
Schützers des Rechts und der kleineren Staaten auch gegen Deutschland 
zu wahren, daran beteiligt war, steht doch wohl außer Frage und läßt sich 
nicht allein mit der jetzt üblichen Berufung auf den englischen Cant 
abtun. Unter diesem Ausdruck, der, vom lateinischen cantus stammend, 
ursprünglich den halb singenden, getragenen Predigertonfall bezeichnet, 
in dem manche religiöse Sekten Bibelsprüche und moralische Gemeinplätze 
auch bei alltäglichen Hantierungen und im Geschäftsleben gewohnheit¬ 
mäßig vorbrachten, versteht man jene im heutigen England wohl mehr 
als anderswo verbreitete und zur Vollkommenheit ausgebildete besondere 
Art der Heuchelei, die den Antrieb gewöhnlichen Eigennutzes mit christ¬ 
lichen und hochmoralischen Beweggründen zu umhüllen und zu verbergen 
sucht, und es ist nicht zu leugnen, daß die englische Regierung seit Jahr¬ 
hunderten diesen Cant geschickter und erfolgreicher als andere Regierun¬ 
gen geübt und namentlich auch während dieses Krieges im vollen Bewußt¬ 
sein der Täuschung überreichlich benutzt hat. Aber man geht entschieden 
zu weit mit der Annahme, daß sie damit nur auf die Verbündeten und 
Neutralen habe Eindruck machen wollen, und daß das eigene Volk 
die im Brustton der Überzeugung vorgetragene Behauptung, daß England 
einzig für Belgiens Unabhängigkeit und zum Schutze anderer Länder gegen 
Deutschlands Übergriffe und Barbarei das Schwert gezogen habe, als Cant 


*) L. Löwenfeld, Mußte er kommen? Der Weltkrieg, seine Ursachen 
und Folgen im Lichte des Kausalitätsgesetzes. Wiesbaden, Bergmann, 
1916. 

20 * 


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durchschaut und nur aus schlauer Berechnung und politischer Erziehung 
sich zu eigen gemacht habe. Für Gerechtigkeit und andere sittliche Güter 
einzustehen, ist zwar ein weit abgeleitetes und deshalb bei den meisten* 
nicht gerade tiefgehendes, aber zugleich ein weit verbreitetes Bedürfnis» 
an das jemand, der die Massen erregen will und seine Sache versteht, 
kaum je vergebens sich wenden wird, solange er sich mit begeisterter oder 
entrüsteter Zustimmung begnügt und keine persönlichen Opfer verlangt. 
Geht es an den eigenen Beutel oder Kragen, dann pflegt bei der Menge die 
Berufung an die höchsten Güter der Menschheit zu versagen oder tut 
dann nur etwa im Sinne des Cant ihren Dienst, indem sie gestattet, vor 
Andern und vor sich selbst die sittlichen Beweggründe hervorzuheben und 
die eigentlich wirksamen Triebfedern in den Hintergrund zu stellen. In 
England genügte die Schilderung deutscher Frevel und Greuel zur Recht¬ 
fertigung des Krieges, so lange business as usual daneben möglich schien, 
als aber die Lage gefährlich wurde, mußte der Schleier, der die wahren 
Ursachen des Krieges einhüllte, an einzelnen Stellen zerrissen und den 
Massen klargemacht werden, daß der Krieg einer wachsenden Not des 
Landes abzuhelfen bestimmt war. Nur so konnte man hoffen, die Auf¬ 
wallung der Massen in zähe Entschlossenheit und Opferwilligkeit zu ver¬ 
wandeln. Es zeigen somit gerade die Vorgänge in England, daß nur wichtige 
oder doch wichtig scheinende Bedürfnisse die Tatkraft erregen, sie zeigen 
aber zugleich, daß Friedmann mit seiner Behauptung in gewissem Sinne 
recht hat. Leidenschaftliche Erregung der Massen im Sinne heftigen 
Aufflammens wird durch Anklingen sittlicher Ideen verhältnismäßig leicht 
erzeugt, während nachhaltiger Wille der Masse einem — wirklichen oder 
vermeintlichen — näherliegenden Bedürfnis entspringt. 

Wenn ich sittlichen Ideen eine tiefergehende und andauernde Massen¬ 
wirkung abspreche, so schlage ich damit ihre Bedeutung für große Volks¬ 
bewegungen keineswegs gering an. Sie können eine auf näherliegenden 
Bedürfnissen fußende Bewegung erheblich fördern oder beeinträchtigen 
und sind deshalb auch in diesem Kriege in weitestem Umfange herange¬ 
zogen worden. Wie ist der sittliche Unwille in allen Ländern gegen uns 
Deutsche aufgeboten und mit allen Mitteln genährt worden 1 Wie weit 
man darin gegangen ist, zeigt ein nicht zu überbietendes Beispiel, das ich 
der „Täglichen Rundschau“ entnehme: Eine in Dänemark erschienene 
Schmähschrift „Klokke Roland“ von Joh. Jörgensen, in Dänemark in 
17 Auflagen verbreitet und in wohl alle europäischen Hauptsprachen 
übersetzt, läutet Sturm gegen die deutschen Bestien, die aus angeborener 
Mordlust die Frauen schänden, die Kinder töten, die heiligen Gefäße der 
Kirche beschmutzen, in den Städten sengen und plündern. Wie ein 
greller Schrei des Wahnsinns klingt die Stimme dieser Glocke in die Welt 
hinaus. Wachet alle miteinander auf und haßt diese Deutschen l Sie sind 
der Auswurf der Erde! Sie sind ein Volk von Verbrechern und waren es 
von jeher! Sie sind der ewige Barbarenaufruhr, der die gesitteten Völker 


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bedroht. Sie sind ein Schwert, das sich an Blut satt trinken muß. Sie 
schlagen allem Menschlichen und Göttlichen mit frecher Faust ins Gesicht. 
Sie haben eine gemeine Freude daran, ihre Notdurft in geweihte Gefäße 
zu verrichten und dem Heiligen ins Antlitz zu speien. Haßt die Deutschen, 
schlagt sie in Kette nl Sperrt sie in ein unterirdisches Gewölbe der euro¬ 
päischen Weltl Aber nicht nur das Bedürfnis nach Sittlichkeit und Ge¬ 
rechtigkeit, auch religiöse Vorstellungen ruft der Verfasser, der vor 20 
Jahren zum Katholizismus übergetreten ist und seine Schrift dem Kardinal 
Mercier gewidmet hat, gegen uns auf: „Wir gehen dem Jüngsten Tage 
entgegen, daran zweifeln nur wenig denkende Menschen. Der Krieg leitet 
ihn ein.“ In stärkerer Weise kann wohl kaum ein sittliches Bedürfnis 
gegen ein Volk wachgerufen werden. Wie verbreitet aber solche „Wahn¬ 
ideen“ sind und welche Verirrungen aus ihnen hervorgehen können, zeigt 
auch beispielweise der Armeebefehl des französischen Generals Dubois, 
Führers der 6. Armee, vom 2. Juni 1915, dessen Eingang lautet: „Mit 
Entrüstung hat der Armeeführer erfahren, daß an einem Punkte der Front 
Unterhaltungen und manchmal sogar Austausch von Händedrücken mit 
Deutschen stattgefunden haben. Es fragt sich, ob es überhaupt möglich 
ist, daß ein Franzose so tief sinke, um einem von diesen Banditen die Hand 
zu drücken, die überall Brand und Zerstörung verbreiten, die Frauen, 
Kinder und Greise morden, die verräterischerweise unsere Gefangenen 
töten, indem sie sie ans Kreuz binden, und die unsere Verwundeten zu Tode 
quälen.“ Dort ein neutraler und daher mit dem Schein der Unparteilichkeit 
ausgestatteter Schriftsteller, dessen giftiges Buch weiteste Verbreitung 
findet, hier die Autorität eines verantwortlichen Heerführers, beide in den 
gemeinsten Beschuldigungen zusammentreffend, und doch, wie sehr auch 
selbst in neutralen Ländern durch solche und ähnliche Kundgebungen 
die öffentliche Meinung gegen uns eingenommen worden ist: wo nicht 
eigene, näherliegende Bedürfnisse mitsprechen, vermochte alle Entrüstung 
die Teilnahme am Kreuzzug gegen Deutschland nicht durchzusetzen. 
Wohl aber haben in den uns feindlichen Völkern solche Veröffentlichungen 
das Verlangen, Deutschland niederzuringen, verstärkt und dadurch, daß 
Deutschlands Züchtigung als Forderung der Gerechtigkeit erschien, viel 
dazu beigetragen, die Berechtigung des Krieges, deren Nachweis bei Be¬ 
schränkung auf den wahren Zusammenhang nicht möglich gewesen wäre, 
den Massen darzutun; zugleich aber hat jene Lüge auch rohe und grausame 
Handlungen gegen wehrlose Deutsche ausgelöst, die die Rache, vor der 
unsere Heere Deutschland bewahrten, in Ermangelung des beschuldigten 
Volkes am unschuldigen Einzelnen vollzogen. 

Wie hier die Vorstellung deutscher Barbarei barbarische Antriebe 
von Hemmungen befreite, die sonst derartige Ausbrüche in europäischen 
Kulturstaaten doch wohl unmöglich gemacht oder ihnen wenigstens die 
-entschiedene Mißbilligung weiter Kreise zugezogen hätten, so haben wir 
-auch in Deutschland, wenn auch in ganz anderem Zusammenhang zu 


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Kleinere Mitteilungen. 


Anfang des Krieges die befreiende Macht der rein sittlichen Idee erfahren. 
Der Gedanke an die Gerechtigkeit unserer Sache, das Bewußtsein, daß 
der Krieg von unserer Seite nicht leichtfertig durch Eroberungslust und 
Begehrlichkeit entfesselt war, daß im Gegenteil unser Kaiser und unsere 
Regierung den Willen zum Frieden bei früheren Gelegenheiten und ebenso 
jetzt so weit getrieben hatten, als mit dem Schutze unseres Daseins nur 
irgend vereinbar schien, hat durch Beseitigung hemmender Vorstellungen 
nicht nur in der sozialdemokratischen Partei ganz wesentlich zum ein¬ 
mütigen Zusammenschluß des deutschen Volkes beigetragen. Denn mehr 
als unseren Gegnern ist dem deutschen Volke das Bedürfnis eines reinen 
Gewissens eingeprägt, und der Grundsatz: wright or wrong, my country 
ist zum Leidwesen mancher bei uns nie verbreitet gewesen. Wir wollen uns 
dessen frejien, um so mehr, als die Wurzel dieser oft als unvorteilhaft emp¬ 
fundenen Eigenart auf den Grundzug hinführt, den wir als höchstes Erbgut 
unseres Volkes schätzen, und auf den wir auch jetzt die feste Hoffnung 
unseres Sieges oder doch unseres Durchhaltens bauen. Gründlichkeit, 
oft in Schwerfälligkeit und Grübelei ausartend, Folgerichtigkeit im Denken 
und Handeln, leicht zu pedantischem Dogmatismus versteinernd, und 
damit verbunden ein starkes Streben nach Sachlichkeit der Auffassung 
und Beurteilung, das eher dazu führt, Fremdes zu überschätzen als unbe¬ 
fangen das Eigene hochzuhalten, das sind seelische Grundzüge, die sicher 
dem deutschen Volke nicht allein eigen, aber in ihm im Guten und Schlech¬ 
ten verbreiteter sind und tiefere Wurzeln geschlagen haben als anderswo. 
Sie haben uns den Ruf eines philosophischen und wissenschaftlichen Volkes 
eingetragen, in Industrie und Handel, nicht zum wenigsten aber auch im 
Militärwesen Deutschlands Leistungen gesteigert und zugleich auf sitt¬ 
lichem Gebiete unser Volk den besonderen Weg geführt, der durch die 
Namen Luther, Lessing, Kant, Goethe und Schiller gekennzeichnet wird, 
und auf den auch die Massen geleitet zu haben ein Verdienst preußischer 
Zucht und des allgemeinen Schulzwanges ist. 

Denn das wissenschaftliche Denken, das dem Bedürfnis engeren 
Anschlusses an den wirklichen Zusammenhang entspringt, und das durch 
jene unserem Volke vor andern eigene besondere Geistesrichtung ebenso 
begünstigt wird, wie es fördernd darauf zurückwirkt, zeigt sich nicht nur 
im Erkennen fruchtbar, sondern steht auch in engerem Zusammenhang 
mit dem sittlichen Wollen, als es zunächst den Anschein hat. Wenn der 
Trieb zum Wollen wird durch das Bewußtsein des Ziels und der Beweg¬ 
gründe, so wird er zum sittlichen Wollen dadurch, daß er das rechte Ziel 
aus den rechten Beweggründen erstrebt. Das Gewissen, in dem sich das 
Bedürfnis rechten Handelns äußert, weist dem sittlichen Wollen den Weg, 
den die Überlieferung und eigenes Denken gebahnt hat.* Je mehr aber jene 
Überlieferung auf wissenschaftlich haltbarem Grunde ruht, d. h. der Wirk¬ 
lichkeit angepaßt ist, um so sicherer führt sie ein Volk durch Gefahren und 
ist geeignet, dem Einzelnen dauernde Befriedigung zu gewähren und alle 


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Arbeit segensreicher für die Menschheit zu gestalten. Der große Wurf 
eines religiösen und sittlichen Genies ist ja nur insoweit glücklich, als er 
den Ertrag wissenschaftlichen Denkens, das er befruchtet und schließlich 
richtunggebend beeinflußt, unbewußt und oft im Widerspruch mit zeit¬ 
genössischen Ansichten vorwegnimmt, und er vermag, so sehr er an und 
für sich das Wollen zu versittlichen geeignet ist, auf die Dauer nur dann 
seine ursprüngliche Wirkung zu bewahren oder neu zu entfalten, wenn die 
durch ihn zur Herrschaft gelangte Idee sich durch Anpassung an die stets 
neu auftauchenden Bedürfnisse und doch im Geiste strengster Sachlich¬ 
keit umgestaltet und damit lebendig und mit voller Kraft in den Besten 
fortzuwirken imstande bleibt. Sachliches Denken, mag es in den einzelnen 
Wissenschaften oder im philosophischen Zusammenschluß der Wirklich¬ 
keit sich nähern, führt deshalb auch, wenngleich oft auf weiten Umwegen 
sich verzweigend und scheinbar weitab leitend, schließlich doch zur Aus¬ 
gestaltung und Vereinheitlichung der sittlichen und religiösen Idee und 
ändert hierdurch langsam und unmerklich weiterhin auch den Inhalt 
dessen, was dem Einzelnen sein Gewissen sagt. Der tiefste Grund, auf dem 
die Macht des Gewissens wie des wissenschaftlichen Denkens beruht, ist 
ja eben das Bedürfnis nach^sachlichem, nicht vom eigenen vorübergehen¬ 
den Gefühl und wechselnden Vorstellungen bestimmtem Handeln, nach 
Anpassung dort an eine zunächst geahnte, hier an eine sogleich denkend 
erfaßte Wirklichkeit, und wie der Denker, um sein Ziel zu erreichen, ge¬ 
wissenhaft Vorgehen muß und dadurch sein Gewissen in dieser Richtung 
weiter bildet, so vermag er auch bisweilen durch fernab liegende wissen¬ 
schaftliche Ergebnisse hindurch auf das Gewissen Anderer inhaltgestaltend 
einzuwirken. 

Daß ich das Gewissen als Ausdruck eines Bedürfnisses auffasse und 
damit vom Triebe ableite, mag zunächst manchen deshalb befremden, 
weil es in der Form des Gebotes „Du sollst“ auftritt und deshalb gewöhnlich 
den Trieben entgegengestellt wird. Doch auch wenn diese wirklich, wie es 
beim Menschen zunächst den Anschein hat, nur der Erhaltung des leib¬ 
lichen Ich dienten, würde das Gewissen, das offenbar ein ganz anderes Ziel 
verfolgt, im Gegensätze zu ihnen stehen. Aber im Tierreich, besonders 
deutlich bei manchen Insekten, sehen wir, daß die Triebe, je unbewußter 
und eindeutiger sie das Verhalten bestimmen, um so mehr im Falle eines 
Widerspruchs zwischen beiden Wirkungen nicht die Erhaltung des Einzel¬ 
nen, sondern die Erhaltung der Gemeinschaft und damit der Art fördern, 
und wir leiten dies davon ab, daß die Gemeinschaft, bei der das Triebleben 
in solcher Weise geordnet ist, im Kampfe ums Dasein am besten besteht. 
Je mehr in der Reihe der Lebewesen mit zunehmendem Bewußtsein 
statt bloßer Triebe Bedürfnisse auftreten und deren Befriedigung nicht 
nur für die Gegenwart, sondern auch für eine immer weitere Zukunft ins 
Auge gefaßt wird, um so verwickelter und einander widerstreitender ge¬ 
staltet sich der Zusammenhang der Vorstellungen, der den Bedürfnissen 


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Kleinere Mitteilungen. 


entspringt und ihrer Abhilfe dient. Zugleich aber vertieft sich mit der 
Zunahme des Bewußtseins die Kluft zwischen der eigenen Person und den 
übrigen Menschen, und die eigene Person gewinnt auf Grund des unmittel¬ 
baren Gefühls eine weit größere Bedeutung, so daß, wenn wir vom Ge¬ 
schlechtstrieb absehen, im Einzelleben die Triebe mehr gepflegt und ge¬ 
wohnheitmäßig befriedigt, also gestärkt werden, die auf die Erhaltung 
des Einzelnen und erst hiervon abhängig und in merkbarem Abstande 
auch auf die Erhaltung der hierzu notwendigen kleineren Gemeinschaft 
gehen. Erst allmählich und auf Umwegen entstehen weiterhin Bedürf¬ 
nisse, die der Erhaltung größerer Gemeinschaften dienen. Was auf früheren 
Stufen unbewußter Trieb war, wird jetzt durch Überlegung Einzelner 
gewonnen, und mag diese Überlegung einseitig religiöser oder sittlicher 
Art sein oder vom Standpunkte des Nutzens ausgehen, immer wird das 
Schlußergebnis die Ausdehnung der Gemeinschaft — wenn auch in mannig¬ 
facher Abstufung — auf die gesamte Menschheit sein, also weit über die 
dem bloßen Triebe gezogenen Schranken hinausweisen. Am raschesten 
und eindeutigsten kommt zu diesem Schlußergebnis die religiöse und 
sittliche Betrachtung, jene, indem der Familiengott sich zum Volksgott 
und weiter zum einzigen Gott entwickelt, dem nun die gesamte 
Menschheit angehört, diese, indem die Überlegung die wesentliche Gleich¬ 
heit und damit Gleichberechtigung aller Menschen klar vor Augen stellt. 
Erst viel später und auf breitester Grundlage führt die vom Standpunkte 
des Nutzens ausgehende Überlegung zur Überzeugung, daß die gesamte 
Menschheit den Einzelnen angeht, und zwar in immer stärkerem Maße, 
je mehr sowohl Handel und Verkehr wie geistige Bestrebungen sich aus¬ 
dehnen und eine Gemeinsamkeit und gegenseitige Abhängigkeit der Völker 
hervorbringen. So fällt das Endergebnis der Überlegung vom religiös¬ 
sittlichen und vom Nützlichkeitstandpunkt in der Auffassung der ge¬ 
samten Menschheit als einer einzigen großen Gemeinschaft zusammen. 
Aber freilich lautet die Antwort auf die Frage, wie ich mich nun zu den 
einzelnen Angehörigen dieser Gemeinschaft zu verhalten habe, entsprechend 
dem Ausgangpunkte beider Betrachtungsarten grundverschieden, weil 
jeder Ideenkreis das Verhältnis zu den übrigen Menschen in anderer Weise 
abstuft: dort ist der Nächste der, der meines Beistandes zunächst bedürftig 
ist, hier der, der mir am meisten zu nützen die Macht und den Willen hat, 
und ein wenigstens in der Mehrzahl der Fälle einheitliches Verhalten als 
Ergebnis beider Betrachtungsarten springt erst dann heraus, wenn beide 
nicht nur in genauer Überlegung bis zu Ende geführt sind, sondern auch 
das Ergebnis dieser Überlegung maßgebend für das Handeln 
und zwar nicht etwa für das Handeln Einzelner, sondern für 
das der Gesamtheit maßgebend geworden ist. Da ein solcher all¬ 
gemeiner Sieg der Idee aber erst in einer unendlich fernen Zukunft, 
etwa im tausendjährigen Reich, Aussicht auf Verwirklichung hätte, bleibt 
für die Welt, in der wir leben, der Zwiespalt zwischen Egoismus und sittlich- 


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religiöser Forderung sogar schon in der Mehrzahl der Fälle unausgeglichen 
bestehen. Wieviel mehr erst in der Minderzahl, wo eine sachliche Über¬ 
legung im Dienste des Egoismus unter allen Umständen zu durchaus 
anderem Handeln führen muß als im Dienste des religiös-sittlichen Be¬ 
dürfnisses. Und da bei gleicher Ausstattung mit Überlegung und Tat¬ 
kraft der Egoismus im allgemeinen die größere Aussicht des Erfolges für 
sich hat, und zwar um so größere, je weniger er durch sittliche Regungen 
gehemmt wird, müßte da nicht der Kampf ums Dasein dem Egoismus 
um so sicherer zum Siege und allmählich zur Alleinherrschaft verhelfen, 
je feiner und folgerichtiger die Überlegung sich ausbildet? 

Dies wäre sicher richtig, wenn es immer nur auf Durchschnittleistun¬ 
gen ankäme. Unter sonst gleichen Verhältnissen hat aber, wenn es auf 
höchste Kraftanspannung ankommt, der von einer sittlichen Idee geleitete 
Wille einen Vorsprung vor dem egoistisch bestimmten Willen dadurch, 
daß er ohne entscheidenden Ausblick auf das Wohl des Trägers sein Ziel . 
verfolgt, daher Gefahren leichter auf sich nimmt und unbeirrt das Äußerste 
da wagen kann, wo es dem Egoismus seiner Grundlage nach nicht möglich 
ist. Freilich wird dann, wenn es gilt, die Früchte dieser Höchstleistungen 
zu ernten, der Egoismus gewöhnlich jenen Vorsprung wieder einholen und 
so trotz seiner Unterlegenheit in Höchstleistungen schließlich doch die 
größere Aussicht haben, sich auf die Dauer im Kampfe ums Dasein erfolg¬ 
reich durchzusetzen. 

So sehr dies aber im Leben der Einzelnen zutrifft, so wenig gilt es 
für die staatliche Gemeinschaft. Selbst wenn ein Staat aus lauter Egoisten 
bestände, die sachlich denkend den reinen Ichstandpunkt durchaus folge¬ 
richtig bis zu Ende führten und danach handelten, so würde jene Be¬ 
trachtung nur so lange richtig sein, als es diesem Staate gelänge, einen Zu¬ 
sammenstoß mit andern Staaten zu vermeiden, deren Bürger in stärkerem 
Maße aus sittlichen Beweggründen handelten. Diese Staaten würden 
jenem nach obigen Darlegungen in bezug auf Höchstleistungen ihrer 
Bürger überlegen sein und ihn deshalb im friedlichen Wettbewerb unter 
sonst gleichen Voraussetzungen überflügeln, wenn auch hier ein Ausgleich 
durch Übernahme der Errungenschaften, zumal auf wissenschaftlichem 
Gebiete, eher möglich ist. Daß jene Überlegenheit aber im Fall eines 
Krieges ungeschmälert zutage treten muß, leuchtet ein, da der reine Egois¬ 
mus zum unbedingten Opfer für den Staat unfähig ist und darum auch 
unfähig zum unbedingten Willen, ihm den Sieg unter allen Umständen 
zu erkämpfen und hierfür das Höchste zu leisten. Der Staat, in welchem 
die sittliche Idee eine überwiegende Macht darstellt, mag daher jenem 
aus folgerichtigen Egoisten bestehenden Staate unter gewöhnlichen Ver¬ 
hältnissen vielfach unterlegen sein, da dieser in der Wahl seiner Mittel 
durch sittliche Erwägungen nicht beschränkt ist, und z. B. im Cant, solange 
derselbe nicht allgemein durchschaut wird, einen vorzüglichen Schutz 
sittlich denkenden Völkern gegenüber zur Anwendung bringen kann: 


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Kleinere Mitteilungen. 


die grundsätzliche Überlegenheit wird jedenfalls dann offenbar werden, 
wenn es ums Letzte geht und der Sieg davon abhängt, daß der Einzelne 
sich ganz für das Gemeinwohl einsetzt. 

Wenn nun auch der hier angenommene Fall nicht der Wirklichkeit 
angehört, da es einen nur aus reinen Egoisten und noch dazu folgerichtig 
denkenden Egoisten bestehenden Staat nicht gibt, so sind doch Unter- 
schiede der Verbreitung sittlicher und egoistischer Bedürfnisse in den 
Massen unzweifelhaft zwischen einzelnen Völkern vorhanden und müssen 
im Sinne jener Folgeerscheinungen wirken. Nicht als ob jeder Einzelne 
oder auch nur ein beträchtlicher Teil eines Volkes wissenschaftlich dächte 
und eine dem sittlichen oder egoistischen Ausgangpunkt sich angliedernde 
Gesamtanschauung folgerichtig auszugestalten imstande wäre, wohl aber 
teilen die von den geistigen Führern geformten Ideen, sobald sie einem 
Bedürfnis entsprechen, sich zunächst einer meist rasch sich vergrößernden 
Anzahl von Gebildeten mit, die, weniger schöpferisch als aufnahmefähig 
und nachschaffend, das Gebotene in sich verarbeiten und weiter verbreiten. 
Je größere Kreise die Bewegung zieht, um so mehr weicht dann das denkende 
Erfassen der Idee der autoritativen Einpflanzung, die Friedmann unter 
dem Suggestivdenken befaßt, und von der schon hinlänglich die Rede 
war. Ist die Idee erst in den maßgebenden Schichten zur Herrschaft 
gelangt, so wird sie durch Gewöhnung und Erziehung weiter befestigt, 
soweit nicht stärkere Bedürfnisse dem entgegenwirken. 

•Freilich führt wissenschaftliches Denken, auch wenn es noch so 
vielseitig begründet ist und zu noch so einheitlicher Auffassung der Wirk¬ 
lichkeit fortschreitet, für sich allein nicht zur Überwindung des Egoismus 
durch Sittlichkeit. Wohl begünstigt wissenschaftliche Tätigkeit die Sitt¬ 
lichkeit dadurch, daß sie gewissenhaftes Vorgehen verlangt und daran 
gewöhnt, eine Sache um ihrer selbst willen, nicht ihres Nutzens wegen, zu 
betreiben. Mag jemand zunächst auch aus eigennützigen Beweggründen 
nach Erkenntnis streben, ihm wird leicht und unmerklich zum Ziel, was 
ihm anfangs Mittel war, wie Anhäufung von Reichtum, begonnen als 
Mittel zum Genuß und zur Sicherung desselben, so häufig später zum 
Selbstzweck wird. Aber über seinen eigenen Bereich hinaus kann wissen¬ 
schaftliches Denken sittliches Handeln nicht hervorbringen; nur da, wo 
bereits ein Keim der Sittlichkeit vorhanden ist, kann er mit Hilfe wissen¬ 
schaftlichen Denkens erstarken. Und einen solchen Keim, der in fast allen 
Menschen vorhanden ist, stellt das Bedürfnis zur Erhaltung der kleineren 
Gemeinschaft dar, auf die der Einzelne zur Selbsterhaltung angewiesen ist. 
Wer, zunächst aus Egoismus für die eigene Familie, den eigenen Wirkungs¬ 
kreis oder, wenn feindliche Angriffe das Bedürfnis eines größeren Zusam¬ 
menschlusses herbeiführen oder wach halten, für den eigenen Stamm sorgt, 
wird hierin nicht nur durch Überlegung bestärkt, sondern auch er macht 
leicht die Erfahrung, daß das, was ursprünglich nur Mittel war, leicht zum 
Zweck auswächst: der Erhaltungstrieb, der erst in gewissem Abstand vom 


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eigenen Wohl das Wohl der Familie oder des Stammes in sein Ziel ein¬ 
schließt, baut diese Nebenleitung dadurch, daß er sich immer häufiger 
und stärker in ihr betätigt, allmählich so fest aus, daß die Familie oder 
der Stamm dem Menschen gleich wichtig oder schließlich gar wichtiger 
wird als das eigeneich. Man spricht da gern vom erweiterten Ich oder vom 
sekundären im Gegensätze zum primären Ich oder bezeichnet auch wohl 
die Familie als Urzelle der Sittlichkeit; doch wie man auch jene Lenkung 
des Egoismus in sittliche Bahnen darstellen mag, es wird in ihr die bei 
Zunahme des Bewußtseins sich öffnende Kluft zwischen Ich und Gemein¬ 
schaft durch das Bedürfnis überbrückt. In gleichem Sinne wirkt dann 
aber, und mit immer stärkerer Kraft, die Überlieferung, die für die Er¬ 
haltung menschlicher Gemeinschaften die gleiche Wichtigkeit gewinnt wie 
die Naturordnung der Triebe im Tierreich, wie diese im Kampfe ums Dasein 
erworben und seinen Forderungen mit dem Ziele der Erhaltung der Ge¬ 
meinschaft angepaßt. Solange die Verhältnisse sich nicht wesentlich 
ändern, pflegt auf tieferen Kulturstufen ein Widerstreit zwischen den 
Forderungen der Überlieferung und egoistischen Strebungen des Einzelnen 
verhältnismäßig selten aufzutreten; wo er aber auftritt, erfolgt er in der 
Form des Kampfes zwischen Neigung und Gewissen. Denn die Über¬ 
lieferung, soweit sie das Handeln regelt, tritt dem Einzelnen als Gebot ent¬ 
gegen: du sollst handeln, wie die Ahnen gehandelt, wie die Götter es wollen, 
wie es recht und gut ist; das haben die Eltern durch Ermahnung und Bei¬ 
spiel, in Liebe und Strenge, das haben die, die du achtest, und deren 
Achtung du dir erwerben und erhalten willst, das haben die Götter selbst 
dir ins Herz gepflanzt; handelst du anders, so lösest du innerlich dich von 
der Gemeinschaft der Tüchtigen und Frommen, die der Überlieferung 
treu sind, und verdienst die Strafe der Menschen und Götter. So spricht 
in der Stimme des Gewissens zunächst die Vergangenheit und fordert ein 
Handeln im Sinne der Erhaltung und Förderung der Gemeinschaft, ein 
Handeln, das gerade, weil seine Richtung im Gegensätze zur Vereinzelung 
des Egoismus dem Bedürfnis der Gesamtheit angepaßt ist und dessen Be¬ 
friedigung zum Ziele hat, in Einklang setzt mit allem, was als gut und edel 
und göttlich gilt, und somit inneren Frieden zu schaffen geeignet ist. 

Wurzelt das Gewissen in der Überlieferung, so muß besonders da, 
wo deren Führung nicht ausreicht, wo eine neue Lage neue Bedürfnisse 
hervortreibt und gewohnte Bahnen zu deren Befriedigung nicht vorhanden 
sind, die Stimme des Gewissens leicht übertönt werden, bis sie durch Über¬ 
legung ergänzt und den neuen Anforderungen gerecht wird. Das zeigt sich 
beim Einzelnen in der Pubertätszeit, bei der Gesamtheit zur Zeit großer 
Umwälzungen, wenn etwa einem Volke eine überlegene Kultur zugeführt 
wird oder einschneidende wirtschaftliche Änderungen sich geltend machen. 
Da hierdurch die Vorstellungen vermehrt, durch ihren Gegensatz verdeut¬ 
licht, zugleich aber neue, oft stark vom Bisherigen abweichende Gefühls¬ 
zuordnungen gebildet werden und sich erst allmählich befestigen müssen, 


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das Bewußtsein sich also rasch erweitert und langsamer auch vertieft 
haben wir in solchen Zeiten einen ähnlichen Fall wie bei der Entwicklung 
der Menschheit aus der Tierheit, nämlich den, daß mit der Zunahme des 
Bewußtseins die bisherigen Triebe in Unordnung geraten und die eigene 
Person größere Bedeutung gewinnt. Nur ist in den jetzt betrachteten Fällen 
immerhin eine Überlieferung sittlicher Gedanken und damit eine Bindung 
des Denkens und Fühlens an die Vergangenheit da und kann daher auch 
mit den neuen Vorstellungen zu neuen Gebilden sich vereinigen, so daß 
ebenso, wie in solchen Zeiten der Egoismus in Vielen stärker und in unge¬ 
wohnter Gestalt hervortritt, auch neue Formen der Sittlichkeit in buntem 
Gemisch und vielfach einander entgegengesetzt auftauchen, von denen 
dann diejenigen, die der Überlieferung und den neuen Bedürfnissen am 
besten angepaßt sind, am meisten Aussicht haben, sich allmählich im 
maßgebenden Teil der Gesamtheit durchzusetzen und die Überlieferung 
und mit ihr den Gewissensinhalt späterer Geschlechter in ihrem Sinne zu 
beeinflussen. Ein naheliegendes Beispiel bietet die Renaissancezeit, aber 
auch die Umwälzung der Produktions- und Handelsverhältnisse im 
19. Jahrhundert. 

Die Stimme des Gewissens ist demnach die Form, in der die Über¬ 
lieferung auf das Handeln des Einzelnen unmittelbar autoritativ wirkt. 
Ein vom Selbsterhaltungstrieb abgeleitetes Bedürfnis gibt der Autorität 
der Überlieferung Nachdruck, das Bedürfnis, mit der Gemeinschaft in 
äußerem und innerem Zusammenhang zu bleiben, Vorbildern, mögen sie 
der Überlieferung oder persönlicher Erfahrung entnommen sein, zu folgen 
und sich Achtung zu erwerben nicht nur vor Andern, sondern auch vor 
sich selbst. Dies Bedürfnis ist in früher Jugend in Anknüpfung an zahllose, 
im einzelnen der Erinnerung entfallene Vorgänge entstanden und weiter 
befestigt, so daß es als ursprünglich und in seinem Keime angeboren er¬ 
scheinen kann. Durch Anknüpfung an religiöse Vorstellungen gewinnt es 
eine besondere Macht und kann dem, der eine metaphysische Wirklichkeit 
anerkennt, auch dann mit Recht als göttliche Gabe gelten, wenn er es auf 
Überlieferung und Erziehung begründet, ja auch dann, wenn er die Wirkung 
des Gewissens wie die der „Wahnideen im Völkerleben“ auf Wachsuggestion 
in Friedmanns Sinne zurückführt und „eine nicht zu leugnende Ver¬ 
wandtschaft mit der Dressur höherer Tiere“ annerkennt (S. 280). 

Diese Verwandtschaft liegt ja nur in der Einpflanzung von außen 
durch eine physisch und autoritativ stärkere Macht, sei es eines Einzelnen, 
sei es der Umwelt im ganzen, und in den Folgen dieser Einpflanzung. 
Friedmann berichtet an anderem Orte *): „Wer einen Hund besitzt, weiß, 
daß innere, den Eindruck der Reflexion darbietende Kämpfe täglich bei 
ihm sich ereignen, der Hund sieht bald auf das Verbotene, bald auf den 


*) Friedmann, Weiteres zur Entstehung der Wahnideen und über 
die Grundlage des Urteils. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. II, S. 17. 


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Herrn und läßt, auch wenn dieser keinerlei Zeichen gibt, oft unter Stöhnen 
von seinem Vorhaben ab. Ebenso weiß es der Hund ganz wohl, wenn er 
nach strafbarer Handlung eine Züchtigung zu erwarten hat, nur ver¬ 
stehen die Hunde, welche ich persönlich beobachten konnte, nicht zu unter¬ 
scheiden, ob ihr Herr den Fehltritt beobachten konnte oder nicht, z. B. 
wenn er vor Ankunft des Herrn geschah.“ Also auch bei diesen Hunden 
wird das Unbehagen, das dem Zuwiderhandeln gegen das Gebot folgt, 
durch bloß summarische Erinnerung an frühere Erlebnisse geweckt, „es 
fehlt die Auseinanderlegung eines Erinnerungskomplexes in seine einzelnen 
Vorstellungselemente“ 1 ), und der abgeleitete Trieb, der im Widerstreit 
mit einem ursprünglichen Triebe unterlag, scheint als Folge seiner Hem¬ 
mung nur ganz im allgemeinen die unlustbetonte Vorstellung der Strafe zu 
hinterlassen, wie das böse Gewissen die unlustbetonte Vorstellung der 
Schlechtigkeit oder Unwürdigkeit. Dieser Unterschied der unlustbetonten 
Vorstellung entspricht der verschiedenen Bewußtseinsstufe und der ver¬ 
schiedenen Art der Einprägung beim Hunde und Menschen, und man 
kann, hiervon abgesehen, somit beide Vorgänge in ihrer Entstehung und 
seelischen Wirkung sehr wohl miteinander vergleichen, und ebenso darin, 
daß ein fortgesetztes Verhalten im Sinne der Dressur oder des Gewissens 
die Macht des abgeleiteten Triebes steigert, dagegen wiederholte Siege 
der ursprünglichen Triebe die Dressur und das Gewissen rasch um die 
langsam erworbene Wirkung bringen. Dagegen tritt ein wesentlicher 
Unterschied zutage, wenn wir uns von den psychologischen Vorgängen zu 
deren Zweck und Nutzen wenden. Im Gegensätze zum menschlichen Ge¬ 
wissen fördert die Dressur, die den Hund mit seinen ursprünglichen 
Trieben entzweit, ihn nicht an und für sich in seinem Innenleben oder im 
Kampfe ums Dasein, sondern nur im Hinblick auf sein dienendes Verhältnis 
zum Menschen, ihr Zweck ist die Brauchbarkeit des Hundes nicht für 
seinesgleichen, sondern für den Menschen, ja sie bietet nicht einmal die 
Aussicht, daß auch bei völligem Siege der Dressur in einer Anzahl von 
Hunden und bei Weiterbildung der entsprechenden Anlage durch passende 
Zuchtwahl ihren Nachkommen je ein Nutzen erwächst, der nicht durch 
ihre Beziehungen zum Menschen bedingt wäre, kurz, die Dressur des Huudes 
dient in allem einem artfremden Zweck, während das Gewissen den Keim 
zu einer höheren Entwicklungsstufe der Menschheit enthält nicht im Sinne 
einer Anpassung an eine fremde Wesensart, sondern im Sinne der Aus¬ 
bildung und Vereinheitlichung der in ihm angelegten Triebe zum Vorteil 
der Menschheit selbst. Der durch Dressur erlangte Gehorsam des Hundes 
macht ihn zwar von seinen ursprünglichen Trieben in weitem Umfang 
unabhängig, aber vom Menschen abhängig; das Gewissen schafft nicht nur 
weitgehende Unabhängigkeit von den ursprünglichen Trieben, sondern 
auch Selbständigkeit gegenüber der Umwelt. 


*) Ebenda S. i8. 


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Der ursprüngliche Inhalt des Gewissens ist durch die Überlieferung 
bedingt, der Inhalt kann aber durch Überlegung erweitert und den wech¬ 
selnden Anforderungen besser angepaßt werden. Wissenschaftliches 
Denken, insofern es den Wert der das Handeln leitenden Vorstellungen 
für den Einzelnen und für die Gesamtheit aufweist und einen einheitlichen, 
der Wirklichkeit angepaßten Zusammenhang herstellt, trägt daher nicht 
nur wesentlich zur Ausgestaltung und nachhaltigen Begründung der sitt¬ 
lichen Idee bei, welche von wechselnden Antrieben unabhängig macht und 
eine Stetigkeit der Lebensführung gewährleistet, sondern ermöglicht 
auch, von je breiterer Grundlage es ausgeht, um so mehr, auch neuen 
Bedürfnissen und unvorhergesehenen Lagen gegenüber die einmal ein- 
geschlagenen Richtlinien festzuhalten, und beugt somit einer Unsicher¬ 
heit des Gewissens, einer „Verwirrung des Gefühls“ vor. 

So fördern sittlich gerichteter Wille und wissenschaftliches Denken 
sich gegenseitig, und zwar in viel höherem Maße, als dies zwischen Egois¬ 
mus und wissenschaftlichem Denken möglich ist. Den Boden des reinen 
Egoismus verläßt schon derjenige, der nicht zu seinem Vergnügen oder zu 
seinem Nutzen wissenschaftlich tätig ist, sondern Erkenntnis um ihrer 
selbst willen sucht. Der folgerechte Egoist, der, wie Stirner will, seine Sache 
auf nichts als auf sich selbst stellt, den das Gemeinwohl nicht kümmert 
und der die Gesetze umgeht, bis er Kraft gesammelt hat, sie zu stürzen, 
denkt nicht wissenschaftlich in umfassendem Sinne, sonst würde er finden, 
daß solches Handeln auf die Dauer den Boden untergräbt, auf dem es 
wirksam sein kann. Stirners Versuch, den Egoismus philosophisch aus¬ 
zugestalten, zeigt jedenfalls, daß ein Volk, welches diese Richtung ein¬ 
schlüge, rasch der Schwäche und Auflösung verfallen müßte. Aber hierzu 
besteht keine Gefahr; jeder Staat, der sich im geschichtlichen Leben be¬ 
hauptet, beweist damit schon, daß neben dem Egoismus, mag dieser sich 
noch so rein in Einzelnen erhalten oder rein entwickeln, die auf Über¬ 
lieferung beruhende Sittlichkeit in breitem, wenn auch vielleicht flachem 
Strome die Masse seiner Bürger durchdringt. Die Überlegung des Egoismus 
will im allgemeinen nicht dessen philosophischen Standpunkt klarlegen, 
sondern das Handeln im egoistischen Sinne regeln und führt daher in der 
Welt, in der wir leben, leicht zum Cant, aber nicht zu einer wissenschaft¬ 
lichen Forschung über den Zweck des Lebens und Handelns, der ja dem 
wurzelechten Egoismus bereits feststeht. Eine philosophisch-wissenschaft¬ 
liche Behandlung dieser großen, sich stets von neuem aufdrängenden 
Fragen gelingt in umfassender Weise nur auf dem Boden der Sittlichkeit. 
Wo sittliche Überlieferung und wissenschaftliches Bedürfnis Zusammen¬ 
treffen, werden daher die sittlichen Leitideen nicht nur besonders um¬ 
fassend und gründlich ausgearbeitet werden, sondern auch die tiefste und 
breiteste Wirkung ausüben können. So haben die Grundgedanken Luthers, 
Kants und unserer großen Dichter das Volk, aus dem sie hervorgingen, 
und dessen Bedürfnissen sie entgegen kamen, in weiterem Umfange beein- 


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Hussen können als andere Völker, deren in manchem abweichende Bedürf¬ 
nisse von ihren hervorragenden Denkern in anderer Weise befriedigt und 
in andere Richtung gelenkt wurden. Wie sehr hier das Bedürfnis mit¬ 
spricht, davon haben wir ein naheliegendes Beispiel in Shakespeare, dessen 
rein sachliche und zugleich im höchsten Sinne sittliche Behandlung dramati¬ 
scher Vorwürfe größerer Empfänglichkeit in Deutschland als in seinem 
Vaterlande begegnet und ihm bei uns eine viel allgemeinere und tiefere 
Wirkung verschafft, während er auf der englischen Bühne mehr ein prunk¬ 
volles und durch den Ruhm seines Namens gesichertes Scheinleben führt. 

Man braucht durchaus nicht blind zu sein gegen die große Ver¬ 
breitung egoistischen, die Gesamtheit schwer schädigenden Handelns auch 
unter uns, die sich allerorten und mit einer oft ebenso unbefangenen wie 
erschreckenden Rücksichtlosigkeit der Beachtung aufdrängt, und kann 
doch die Überlegenheit deutscher Sittlichkeit und Sachlichkeit anerkennen 
und darauf die Zuversicht deutschen Sieges gründen. Einmal steht es, 
soweit darüber jetzt ein Urteil möglich ist, in Deutschland mit egoistischen, 
dem Gemeinwohl verderblichen Machenschaften nicht schlimmer als in 
den uns feindlichen Ländern, wohl aber insofern erheblich besser, als die 
maßgebenden Männer unserer Regierung nicht nur selbst sittlich rein, 
sondern auch von Kreisen, die jenen Bestrebungen zugetan sind, persönlich 
unabhängig dastehen; dann aber beruht ja unsere Zuversicht nicht allein 
darauf, daß Sittlichkeit und PHichtbewußtsein in unserem Volke ver¬ 
breiteter ist und tiefer wurzelt als bei unseren Feinden, sondern auf der 
Verbindung dieser besonderen Art der Sittlichkeit mit über dem Durch¬ 
schnitt stehendem sachlichen Denken. Um dessen sicher zu sein, brauchen 
wir nur die Beurteilung der jetzigen Kriegs- und Wirtschaftlage bei uns 
und bei unseren Gegnern zu vergleichen und die Forderungen zu betrachten, 
die im Vierverband für die künftigen Friedensbedingungen nicht etwa von 
unmaßgeblichen Einzelnen, sondern von verantwortlichen Staatsmännern 
und tonangebenden Zeitungen bei jeder Gelegenheit laut vor aller Welt 
verkündigt werden. Gewiß wird man die Verblendung, die aus den Reden 
englischer Minister spricht, deshalb nicht auch ihrem Denken zuschreiben; 
seit langem ist ihnen ja neben dem Cant der Bluff als wirksames Mittel 
vertraut, und es ist in der Tat sehr bezeichnend, daß uns für beide von 
ihnen gewohnheitmäßig geübten Täuschungsarten nur englische Worte 
zur Verfügung stehen, aber wenn das Vertrauen auf diese. Mittel auch auf 
langjähriger, oft erprobter Erfahrung beruht, sachliches Denken spricht 
sich darin nur mit der sehr wesentlichen Einschränkung aus, daß zwar 
leichte und vorübergehende Erfolge von jenem Verfahren zu erwarten sind, 
nachhaltige Wirkungen jedoch da ausbleiben müssen, wo die Täuschung 
durchschaut wird und Mut und Kraft zum Widerstand nicht erlahmen. 
Cant und Bluff teilen das Schicksal jeglicher Art von Mimikry: sie können 
da von durchschlagendem Nutzen sein, wo sie gläubig hingenommen und 
nicht näher geprüft werden; sachliches Denken und festes Zugreifen zer- 


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stört den falschen Schein zum Unheil des Urhebers. So wird die Einigkeit 
des gegen uns aufgebotenen bunten Völkergemisches, welche durch jene 
Mittel und die mit ihrer Hilfe verbreiteten „Wahnideen“ hervorgerufen 
und aufrechterhalten wird, auf die Dauer der Wahrheit nicht standhalten 
können. Was aber zunächst auch kommen mag, wir dürfen darauf ver¬ 
trauen, daß im Kampfe ums Dasein unter sonst gleichen Umständen 
zuletzt dem Volke der Sieg winkt, dessen Führer und dessen Massen sach¬ 
licher zu denken und sittlicher zu handeln gewohnt sind. Sachliches Denken 
und sittliches Handeln gehören hierbei zusammen, denn nur die Form der 
Sittlichkeit, die ihre Ausgestaltung sachlichem Denken verdankt, und 
sachliches Denken, das, von jener Sittlichkeit getragen, die Aufgabe der 
Stunde ergreift, sind geeignet, in der Zeit der Not das Höchste zu leisten. 

Aber der Krieg fördert andrerseits auch jene gegenseitige Durch¬ 
dringung von Sachlichkeit und Sittlichkeit. Er hat in der sittlichen Wert¬ 
ordnung Vieler die Idee des Staates erst an die ihr sachlich gebührende 
Stelle gerückt, und das durch den Krieg geweckte und geschärfte Bedürfnis 
nach Erhaltung und Sicherung des gefährdeten Staates, das seine Kraft 
den in ihm zu gemeinsamer Richtung zusammengefaßten Grundtrieben 
entlehnt, kann nur befriedigt werden, wenn jene Durchdringung sich be¬ 
hauptet und weiter durchsetzt. Und da sachliches Denken den besten 
Schutz gegen die Verbreitung von „Wahnideen im Völkerleben“ gewährt 
und Volksführer, deren Sittlichkeit durch sachliches Denken geläutert ist, 
gar nicht in die Lage kommen, durch Einpflanzung falscher Vorstellungen 
Erfolge anzustreben, ist die Hoffnung vielleicht nicht unberechtigt, daß 
gerade dieser Krieg, der so viele und verderbliche „Wahnideen im Völker¬ 
leben“ gezeitigt hat, dazu beitragen wird, künftigen den Boden zu ent¬ 
ziehen oder doch ihrer Verbreitung engere Grenzen zu setzen. 

Hans Laehr. 


Der Einfluß des Alkohols auf die Treffsicherheit beim 
Schießen. — Bei der am 23. September 1916 zu München abgehaltenen 
Jahresversammlung des Vereins abstinenter Ärzte des deutschen Sprach¬ 
gebietes hielt Geheimrat Prof. Dr. Kraepelin -München einen Vortrag über 
„Schießversuche mit und ohne Alkohol“. Folgendes war der wesentliche 
Inhalt seiner Ausführungen: Im Herbste 1908 wurden vom Bayrischen 
Kriegsministerium in großem Maßstabe und mit äußerster Sorgfalt Schie߬ 
versuche durchgeführt, um die Frage nach dem Einflüsse des Alkohols 
auf die Treffsicherheit zu lösen. Die Zahl der von 20 Schützen an 20 Ver¬ 
suchstagen abgegebenen Schüsse betrug über 30 000. Als Ergebnis stellte 
sich heraus, daß durchschnittlich eine Verschlechterung der Schießleistung¬ 
um etwa 3 % eintrat; die Wirkung war am deutlichsten 25—30 Minuten 
nach Einverleibung der verhältnismäßig geringen Alkoholgabe (40 g), 
die etwa einem Liter Bier entsprach. Nach der Mittagsmahlzeit war die 


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Wirkung verzögert und abgeschwächt. Im einzelnen zeigte sich, daß 
öfters im Anfänge und bei zwei Schützen auch späterhin keine Abnahme, 
sondern eine, allerdings nicht erhebliche, Zunahme der Treffsicherheit 
eintrat, vielleicht wegen der Beseitigung der inneren Spannung beim 
Schießen durch den Alkohol. Andere Schützen boten nur geringfügige 
und wechselnde Beeinflussungen dar. Die überwiegende Mehrzahl aber 
schoß bedeutend schlechter, vielfach um 8, 9, 10 und selbst 12%. Von 
besonderem Interesse ist es, daß diese Verschlechterung ihnen durchaus 
nicht zum Bewußtsein kam. Eine Reihe von Schützen glaubten sogar 
besser zu schießen als ohne Alkohol, während sie in Wirklichkeit eine Ab¬ 
nahme der Treffsicherheit bis zu 10% erkennen ließen. Wenn derartige 
Erfahrungen schon bei körperlich und geistig völlig gesunden, ausgeruhten 
und gut genährten Schützen nach einer so kleinen Alkoholgabe gemacht 
werden konnten, so wird man erwarten dürfen, daß die Alkoholwirkungen 
unter ungünstigen Bedingungen, bei nervösen, überanstrengten, durch 
Schlafentziehung und mangelhafte Ernährung heruntergekommenen, ge¬ 
mütlich erregten Personen wahrscheinlich noch bedeutend stärker aus- 
fallen werden. Die Schlußfolgerungen für die Verhältnisse des Krieges 
ergeben sich daraus von selbst. (Holitschers Korrespondenz.) 


PersonalncicJvrichten. 

Dr. Ernst Thonta, Med.-Rat, bisher Oberarzt in Illenau, ist zum Direktor 
der Heilanstalt, 

Dr. Heinrich Ehlers , Anstaltsarzt d. Landesanstalt Potsdam, und 
Dr. Adolf Schöngarth, Anstaltsarzt d. Landesanstalt Sorau, sind zu Ober¬ 
ärzten, 

Dr. Karl Jaspers, Priv.-Doz. in Heidelberg, ist zum ao. Professor, 
Dr. Otto Dörrenberg, Kreisarzt in Soest, zum Geh. Medizinalrat, 

Dr. Karl Blümcke, Oberarzt in Bethel b. Bielefeld, 

Dr. Matthias Bolle, Oberarzt in Osnabrück, 

Dr. Heinrich Fuchs, leit. Arzt d. städt. Anst. Lindenburg in Cöln, 

Dr. Gustav Sauermann, Oberarzt in Merzig, 

Dr. Richard Schroeder, Oberarzt in Grafenberg, 

Dr. Eduard Dingel, Dir. in Saargemünd, und 

Dr. Emil Nawratzki, leit. Arzt d. Privatanstalt Waldhaus in Nikolassee, 
sind zu Sanitätsräten ernannt worden. 

Dr. Hermann Adler, Geh. San.-Rat, 2. Arzt in Schleswig, hat den 
Kronenorden 3. Kl., 

Dr. Oskar Kluge, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Potsdam, und 
Dr. August Metz, Oberarzt in Neustadt i. H., das Eiserne Kreuz 
1. Kl., 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 2/3. 21 


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Kleinere Mitteilungen. 


Dr. Moritz Weichelt, San.-Rat, Dir. der Anstalt St. Thomas in Ander¬ 
nach, und 

Dr. Walter Levinstein, San.-Rat, Leiter d. Privatanstalt Schöneberg, das 
Eiserne Kreuz 2. Kl., 

Dr. Ernst Colla , San.-Rat, Oberarzt in Bethel b. Bielefeld, die Rote 
Kreuz-Medaille 2. Kl., 

Dr. Rob. Wollenberg, Geh. Med.-Rat, Prof, in Straßburg, 

Dr. Karl Wilmanns, Prof, in Heidelberg, 

Dr. Adolf Schmidt, Geh. San.-Rat, Dir. d. Landesanstalt Sorau, und 

Dr. Walter Levinstein, San.-Rat, Leiter d. Privatanstalt Schöneberg, die 
Rote Kreuz-Medaille 3. Kl., 

Dr. Wilhelm Staiger, San.-Rat, Leiter d. Abt. f. Geisteskranke in Hohen- 
Asperg, das Ritterkreuz 1. Kl. d. Württ. Friedrichordens 
mit Schwertern und 

Dr. Karl Zinn, San.-Rat, Dir. d. Landesanstalt Eberswalde, d. österr. 
Ehrenzeichen 2. Kl. mit Kriegsdekoration erhalten. 

Dr. Rud. Frotscher, Oberarzt in Weilmünster, ist am 15. September 1916, 

Dr. Ludwig Bruns, San.-Rat, Prof., Nervenarzt in Hannover, am 9. No¬ 
vember im 59. Lebensjahre nach kurzer Krankheit, 

Dr. Leopold Oster, Med.-Rat, Dir. d. Landesanstalt bei Konstanz, 64 Jahre 
alt. am 18. Januar 1917, 

Dr. Leo Nieszytka, Anstaltsarzt in Tapiau, nach schwerem Leiden in der 
med. Klinik zu Königsberg, und 

Dr. Oswald Berkhan, Geh. San.-Rat in Braunschweig, im 83. Lebensjahre 
am 20. Februar 1917 gestorben. 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 

» 

Von 

Dr. Hans Seelert, 

Assistenzarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik 
der Kgl. Charite in Berlin (Direktor Geheimrat Bonhöffer). 

In seinen Arbeiten über Paranoia hat Specht x ) die Anschauung 
begründet, daß der Querulantenwahn eine besondere Erscheinungs¬ 
form der Manie ist. Daß dieses für einen Teil der Psychosen mit dem 
Symptomenbüde des Querulantenwahnes zutrifft, ist nach den heutigen 
Erfahrungen nicht zweifelhaft. Der Nachweis der manischen Grund¬ 
lage der Krankheit läßt sich bei der klinischen Beobachtung solcher 
Querulanten aus dem Symptomenbüde nachweisen oder wahrscheinlich 
machen, auf ein weiteres diagnostisches Kriterium muß die klinische 
Beobachtung jedoch fast immer verzichten. Daß ein Krankheitsbüd 
mit den Erscheinungen des Querulantenwahnes restlos abheilt wie 
andere manisch-depressive Erkrankungen, ist selten, und noch seltener, 
als die Heüung eintreten dürfte, kommt sie zur klinischen Feststellung. 
Deshalb scheint mir unser Pat. L., bei dem die Psychose des Queru¬ 
lantenwahns bis zur Krankheitseinsicht und Korrektur der Wahn¬ 
vorstellungen abgeheüt ist, besondere Beachtung zu verdienen. Das 
Abheüen der Psychose und die dadurch gegebene Möglichkeit, ihren 
ganzen Verlauf zu übersehen, erleichtert und sichert in diesem Falle 
die nosologische Beurteüung. 

Es ist mehrfach erwähnt worden, daß Erkrankungen mit dem 
Symptomenbüde des Querulantenwahnes zur Besserung und Heüung 

x ) Specht, Über die klinische Kardinalfrage der Paranoia. Ztlbl. f. 
Xervenheilk. u. Psyeh. 1908. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI1I. 4. 22 


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Hans Seelert, 


kommen können (Koppen 1 ), Wemicke 2 ), Thornsen 8 ), Siemerling 4 ), 
unter den in der Literatur ausführlicher beschriebenen Fällen finde 
ich aber keinen, bei dem der Nachweis der Heilung der Psychose bis 
zur Krankheitseinsicht und Korrektur der pathologisch entstandenen 
Vorstellungen gebracht wird. In dem von Straßmann 5 ) als rezidi¬ 
vierender Querulantenwahn beschriebenen Falle scheinen Exazer¬ 
bationen bei einem chronisch manisch-paranoischen Menschen Vor¬ 
gelegen zu haben. 

Mit der Feststellung des Querulantenwahns ist die klinische Dia¬ 
gnose nur symptomatologisch formuliert, es bleibt noch die patho¬ 
logische Grundlage zu bestimmen, auf der sich das Symptomenbild 
aufgebaut hat. Das ist bei unserem Patienten L. wohl zweifelsfrei 
möglich gewesen. Schwieriger zu beurteilen ist in dieser Hinsicht der 
Patient K. Beide unterscheiden sich durch ihren äußeren Habitus 
voneinander, bei genauerer Analyse der pathologischen Erscheinungen 
zeigt sich aber, daß die Grundlage des pathologischen Zustandes bei 
ihnen keineswegs völlig verschieden ist. Bei K. kommen zu den patho¬ 
logischen Erscheinungen, die beiden Kranken gemeinsam sind, noch 
Symptome hinzu, denen wir nach unseren heutigen Kenntnissen eine 
andere Pathogenese zuschreiben. Daraus ergibt sich, daß wir das 
Symptomenbild bei K. als ein kompliziertes auffassen müssen, das 
dicht aus einem einheitlichen, sondern einem gemischten pathologi¬ 
schen Boden erwachsen ist. Der Vergleich beider Fälle erleichtert 
wesentlich die nosologische Beurteilung der pathologischen Erschei¬ 
nungen bei Pat. K. 

Pat. L. wurde auf Gerichtsbeschluß nach § 81 StPO, in die Klinik 
eingewiesen, es wurde das folgende Gutachten über ihn abgegeben. 


M Koppen , Der Querulantenwahnsinn in nosologischer und forensi¬ 
scher Beziehung. Arch. f. Psych. 38, 1896. 

*) Wemicke, Grundriß der Psychiatrie. 2. Aufl. Leipzig 1906. S. 146. 

3 ) Thornsen, Diskussion zum Vortrag Köppens. Allg. Ztschr. f. Psych. 
52, 1896, S. 850. 

4 ) Siemerling, Diskussion zum Vortrag Köppens. Allg. Ztschr. f. 
Psych. 52, 1896, S. 852. 

*) Straßmann, Über einen Fall von rezidivierendem Querulanten¬ 
wahn. Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Med. 19, 1900, S. 26. 


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Zur Pathologie des Qnerulantenwahnes. 


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Berlin, den 5. April 1916. 

Der Staatsanwaltschaft beim Königlichen Landgericht III Berlin 
erstatten wir in der Strafsache gegen den 62jährigen Bauunternehmer L. 
wegen Beleidigung das gewünschte Gutachten über den Geisteszustand 
des L. Das Gutachten erfolgt nach Untersuchung und Beobachtung des 
L. in der psychiatrischen und Nervenklinik der Königlichen Charitö vom 
28. 1. bis 6. 3. 1916 und nach Einsicht der Akten mit Beiakten. In der An¬ 
klageschrift vom 15. 6.14 wird L. angeklagt, am 10.12.11 den Justizrat W. 
a) durch einen an dessen Sohn, den Oberleutnant W., gerichteten Brief 
vom 10. 12. 11 beleidigt zu haben, b) durch einen Brief in Beziehung auf 
den Justizrat W. nicht erweislich wahre Tatsachen behauptet oder ver¬ 
breitet zu haben, welche ihn verdächtig zu machen oder in der öffentlichen 
Meinung herabzuwürdigen geeignet waren. Am 30. 6.14 wurde das Haupt¬ 
verfahren gegen L. eröffnet. 

In dem der Anklage zugrunde liegenden 20 Seiten langen Briefe 
schrieb L. u. a.: „Ich erkläre es Ihnen hiermit und werde es nachstehend 
beweisen, daß Ihr Vater 2 Meineide geleistet und Frau Sch. um 18 000 M. 
betrogen hat. Ich habe lange Jahre gebraucht, um mir die Beweise zu 
verschaffen, sogar die Bücher der ehemaligen Akt.-Ges. habe ich in diesem 
Monat erhalten und werde den Beweis der Wahrheit für meine Behauptung 
antreten. Da Sie in der ganzen Angelegenheit Mitwisser sind, muß ich 
beim Korpskommandeur des 17. Armeekorps eine genaue Untersuchung 
unter Vernehmung des Herrn Majors Z. und noch mehrerer Zivilherren 
beantragen, falls Sie Ihren Vater nicht innerhalb 5 Tagen veranlassen, daß 
er dafür Sorge tragen will, daß er meine Bestrafung im Wiederaufnahme¬ 
verfahren rückgängig macht und dafür sorgt, daß der ehemalige Aufsichts¬ 
rat, sei es im Prozeßwege oder Vergleich, der Frau Sch. den Schaden 

ersetzt.Ihr Vater bezeichnet sich damit als den größten Hochstapler 

und Schwindler der Welt und kann keinen Anspruch auf das Vertrauen 
eines Notars haben, denn Millionen fordern und Millionen vorspiegeln 

übertrifft alles bisher Dagewesene für einen Kgl. Notar.Ihr Vater 

ist ein großer Schwindler, das werde ich ihm durch zehnfache Beweise nach- 
weisen, er hat mich durch falsches Zeugnis ins Gefängnis gebracht, jetzt 
hat die Stunde der Abrechnung geschlagen, ich werde ihn wegen Meineid 

ins Zuchthaus bringen.Ich habe jetzt durch jahrelange mühevolle 

Nachforschungen die Beweise zusammengebracht, habe auch die Cassa- 
bücher der Akt.-Ges. erhalten und werde den Beweis meiner Behauptungen 
erbringen, um meine Rehabilitation durchzuführen, falls Sie und Ihr 

Vater nicht einsehen, daß mir unrecht geschehen ist.Dieses wäre 

meine Hauptbedingung, damit meine Ehre hergestellt wird. In zweiter 
Linie erst würde der Schadenersatz an Frau Sch. zu regeln sein.“ — L. 
kündigte dann in dem Briefe an, er werde eine Abschrift an den Korps¬ 
kommandeur, den Justizminister, an die Staatsanwaltschaft und den 
Reichstag schicken. 

22 * 

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Hans Seelert, 


Uber seine Absicht, die er mit dem Schreiben dieses Briefes verfolgte, 
gab L. außer dem, was er schon in dem Briefe erwähnt, bei seiner Ver¬ 
nehmung durch den Untersuchungsrichter am 18. 7. 12 an, er habe in 
erster Linie damit erreichen wollen, daß Oberleutnant W. seinen Vater 
dazu veranlasse, seine Aussage in dem vorausgegangenen Strafprozeß gegen 
L. als Irrtum zu bezeichnen, damit ihm ein Wiederaufnahmeverfahren in 
diesem Strafprozeß ermöglicht würde. In einem Strafantrage gegen W. 
vom 20. 8. 12 schrieb L.: „In meiner Notwehr habe ich an den Sohn W.s 
den Brief vom 10. 12. 11 geschrieben, und in meiner Notwehr greife ich 
hiermit den Herrn Oberstaatsanwalt P. an, um zu erzielen, daß ich, falls 
der meineidige Betrüger W. weiter geschützt wird, wegen Meineid vor ein 
Geschworenengericht komme, um darzutun, wie unsere preußischen Richter 
und Staatsanwälte meineidige Betrüger schützen und unterstützen.“ 

Aus den zahlreichen, bei den vielen Akten befindlichen Schreiben 
• les L. sind für die ärztliche Begutachtung seine Beschuldigungen, An¬ 
klagen und Beschwerden außer gegen Justizrat W., gegen die Richter des 
Landgerichtes G., gegen den Staatsanwalt und Oberstaatsanwalt sowie 
gegen «las frühere Aufsichtsratsmitglied der Gütereisenbahn G., Le. 
bemerkenswert. 

Nach dem Strafregister ist L. zum ersten Male irn Jahre 1907 bestraft 
wegen Untreue in zwei Fällen und wegen Unterschlagung; der Prozeß 
begann im Jahre 1900. Ein zweites Mal ist er bestraft wegen Beleidigung 
d«>r Richter des Landgerichts G. Im Jahre 1904 begann ein Rechtsstreit 
der Wirtschafterin des L., Frau Martha Sch., gegen Justizrat W. beim 
Landgericht G., und 1905 ein weiterer Rechtsstreit der Frau Sch. gegen 
die Gütereisenbahn G. Auch diese beiden Akten enthalten viele Eingaben 
an das Gericht und Briefe des L., die von der Frau Sch. unterschrieben 
sind, die aber, wie sich aus der Art ihrer Abfassung und der ganzen Sachlage 
vermuten läßt, von L. verfaßt wurden, was er auf Befragen bei der ärzt¬ 
lichen Untersuchung bestätigte. In beiden Fällen wurde die Klage der 
Klägerin, im zweiten auch in der Berufungsinstanz abgewiesen. 

Viermal hat L. gegen Justizrat W. Strafantrag bei der Staatsanwalt¬ 
schaft gestellt. Die darauf von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Ver¬ 
fahren wegen Betrug, Meineid und Untreue wurden, wie die Akten zeigen, 
eingestellt. In «ler Begründung der Einstellung des Verfahrens ist erwähnt, 
«laß L. trotz mehrfacher Aufforderung seit 14 Monaten nicht in der Lage 
gewesen ist, für seine Behauptung, W. habe sich noch weiterer strafbarer 
Handlungen schuldig gemacht, Tatsachen und Beweise anzugeben. Bei 
einem Strafantrag der Frau Sch. gegen W. wurde die Verfolgung abgelehnt. 
Zum 5. Male stellte L. Strafantrag gegen W 1912. Das Verfahren ist bis 
zur rechtskräftigen Erledigung der Sache, in der jetzt Begutachtung des L. 
«*rfolgt, vorläufig eingestellt worden. 1907 wandte sich L. mit einer Be¬ 
schwerde und mit Gesuch um Bestrafung des Untersuchungsrichters und 
der Richter des Landgerichts G. w'egen Verletzung ihrer Amtspflichten an 


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Zur Pathologie des Qaerulantenwahaes. 


307 


den Justizminister. Eröffnung des beantragten Verfahrens wurde abge¬ 
lehnt mit der Begründung, daß weder die Eingabe des L. noch das gegen 
ihn geführte Strafverfahren den geringsten Anhalt dafür böten, daß die 
Beschuldigung gegen die Richter zutreffe. 

Bei der ärztlichen Begutachtung desL. ist es erforderlich, zu beachten, 
daß er alle diese Gerichtsverfahren hintereinander anstrengte, nachdem 
er April 1904 aus der Aktiengesellschaft Gütereisenbahn G. ausgeschieden 
war. Von der Zeit der Gründung der Aktiengesellschaft im Jahre 1900 
hat er sie bis 1904 als Vorstand verwaltet; Justizrat W. war Vorsitzender 
des Aufsichtsrats und blieb auch nach dem Austritt L.s weiter in der 
Aktiengesellschaft. 

1902 wandten sich W. und L. an den Regierungspräsidenten in M. 
mit der Bitte um Genehmigung zum Bau einer Kleinbahn von G. nach R. 
Im Jahre 1903 und Anfang 1904 wurden weitere Vorarbeiten zum Bau 
der projektierten Bahn gemacht. In der Urteilsbegründung, die L. in 
beglaubigter Abschrift vorlegte, ist erwähnt, daß die Aktiengesellschaft 
während der Verwaltungszeit des L. in Vermögensverfall geriet, so daß, 
als L. seine Stellung aufgab, der Konkurs der Gesellschaft drohte. 1903 
leistete L., wie auch in dem Urteil erwähnt ist, den Offenbarungseid. 

Aus den Akten ist also zu ersehen, daß die persönlichen pekuniären 
Schwierigkeiten des L., sein Austritt aus der Aktiengesellschaft und damit 
das Scheitern seines Planes der Erweiterung der Aktiengesellschaft und 
Baues der Bahn von G. nach R., für den er länger als ein Jahr gearbeitet 
und geworben hatte, den von ihm angestrengten Prozessen vorausgegangen 
waren. In diese Zeit, in der er einen Prozeß nach dem andern anstrengte, 
aber noch vor Abfassung des jetzt der Anklage zugrunde liegenden Briefes 
fällt seine Verurteilung wegen Untreue in zwei Fällen und Unterschlagung 
(1907) und wegen Beleidigung (1910). 1907 war ein Verfahren wegen 

Beleidigung des Justizrates W. gegen ihn eingeleitet worden, das 1909 
eingestellt wurde, nachdem W. seinen Strafantrag zurückgezogen hatte. 

Über den Grund seines Austrittes aus der Aktiengesesllchaft schrieb 
L. in seinem Strafantrag gegen Justizrat W. vom 7. 2. 06: „Da am 24. Fe- 
bröar 1902 bei der Generalversammlung der Aktiengesellschaft Güter¬ 
eisenbahn G. mein Antrag auf Erhöhung des Aktienkapitals abgelehnt 
worden war, und statt dessen neue Wechselschuld in Höhe von 25 000 M. 
beschlossen wurde, kündigte ich meine Stellung mit der Begründung, daß 
ich nicht länger eine Gesellschaft vertreten will, die mit so hohen Wechsel¬ 
schulden arbeitet, auch halte ich demzufolge das Kapital der Frau Sch., 
welches doch nur auf mein Betreiben gegeben worden ist, für gefährdet.“ 
Der Grund, der ihn veranlaßte. so viele Prozesse anzustrengen, läßt sich 
aus einzelnen Stellen seiner bei den Akten befindlichen Schreiben ent¬ 
nehmen. In einem Brief an W. vom 2. 7. 07, von dem sich eine Abschrift 
bei den Akten befindet, schrieb er: „Sie können versichert sein, daß ich, 


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Hans Seelert, 


solange ich lebe, nicht früher ruhen werde, bis mir mein Recht ordnungs¬ 
mäßig wird.“ 

In einer an das Oberlandesgericht in M. gerichteten Beschwerde¬ 
schrift vom 16. 3. 09 schrieb er: ..Ferner bin ich durch fortwährende Krank¬ 
heit und Altersschwäche (55 Jahre) sowie durch ungerechte Bestrafung 
(das Wiederaufnahmeverfahren ist vom Oberlandesgericht M. angeordnet) 
in meiner Vermögenslage derart geschwächt, daß ich die 'Reisekosten und 
damit verbundenen Logis- und Unterhaltungskosten nicht besitze.“ Am 
25. 10. 09 schrieb er an die Strafkammer: „Ich bin 55 Jahre alt, nicht 
bestraft und nur durch W.s Intriguen als schlechter Mensch verleumdet 
und bestraft worden, meine Lebensaufgabe soll es sein, meine Ehre zu 
retten, und beantrage ich deshalb, falls W. keinen Meineid geleistet, gegen 
mich wegen Meineid vorzugehen, indem ich das Gegenteil beschworen.“ 
Immer wieder behauptete L. in seinen Schreiben an die Gerichte, daß er 
durch W.s Handlungsweise geschädigt sei. In seinem Strafantrag gegen 
den Kaufmann L. vom 12. 8. 07 schrieb er: „Ich bemerke noch, daß der 
Herr Justizrat W. zu der ganzen Sache der Anstifter ist, und ich werde 
auch gegen W. später Anzeige erstatten.“ Bei diesen Akten findet sich in 
einem Schreiben des L. an den Untersuchungsrichter vom 28. 11. 07 fol¬ 
gender Satz: „Ich habe die positive Überzeugung, daß Le. dem W. zur 
Gefälligkeit den Meineid geleistet hat“; ferner: „Es ist richtig, daß ich zu 
4 Monaten und 500 M. Geldstrafe wegen Untreue bestraft bin, aber nur 
infolge der von L. und W. geleisteten Meineide.“ Mit Bezug auf W. schrieb 
er in seinem Strafantrag gegen ihn 1909: „Ich habe ihm gefolgt, damit er 
nicht ruiniert wurde, jedoch hat er die anderen Gläubiger bei der Sanierung 
befriedigt, nur nicht die Frau Sch., wahrscheinlich aus Rache gegen mich, 
obwohl ich mir keiner Schuld bewußt.“ 

In Zusammenhang mit seiner Behauptung, durch die Hand¬ 
lungsweise des Justizrates W. geschädigt zu sein, stehen seine vielfach er¬ 
hobenen Anschuldigungen gegen Richter und Staatsanwalt. Am 19. 4. 06 
schrieb er an die Staatsanwaltschaft in G.: „Gleichzeitig werde ich mich 
Beschwerde führend an das Königliche Justizministerium wenden, mit der 
Bitte, mir ein anderes Gericht zu bestellen, da ich den Eindruck habe, 
daß dort Befangenheit herrscht, indem W. ca. 20 Jahre dort als Anwält 
tätig war und freundschaftlichen Verkehr mit sämtlichen Richtern ge¬ 
pflogen hat.“ An den Landgerichtspräsidenten in G. schrieb er am 11. 6. 08: 
„Ich werde der Staatsanwaltschaft, dem Untersuchungsrichter und den 
Strafkammerrichtern nachweisen, daß sie ihre Verpflichtungen auf das 
gröblichste verletzt haben, indem meine Gegenbeweise unterdrückt wurden, 
ich werde nachweisen, daß sie den beabsichtigten Betrug des Justizrates W. 
unterstützt haben, denn kein gesunder Menschenverstand kann die Ver¬ 
träge vom 20. Oktober 1903 für sofort als gültig erklären.“ Bei seiner 
Vernehmung durch den Richter am 1. 7. 08 beschuldigte er die Richter 
der Rechtsbeugung gegen ihn, indem er erklärte, mit seinen Vorwürfen 


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Zur Pathologie des Querulanten wahnes. 


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berechtigte Interessen wahrzunehmen. In seiner Beschwerdeschrift mit 
dem Gesuch um Bestrafung der Richter des Landgerichts G. vom 18.11. 07 
an den Justizminister schrieb L.: „Da W. länger als 20 Jahre bei dem Land¬ 
gericht G. als Rechtsanwalt und Notar gewirkt hat, war er naturgemäß 
mit sämtlichen Richtern und Staatsanwälten eng befreundet, und die 
Strafanzeige gegen mich wurde eifrig aufgenommen, dagegen der Zivil¬ 
prozeß der Witwe Frau Sch. bis nach Ausgang meines Strafprozesses 
vertagt, obwohl Frau Sch. zu den Akten des Zivilprozesses reichliche 
Gegenbeweise einreichte und Zeugen namhaft machte.Das Ver¬ 

schwinden dieses Vertrages und das Wort „versehentlich“ im Urteil lassen 
erkennen, daß die Richter bestrebt waren, die wahre Tatsache zu ver¬ 
schleiern, um dem Kollegen W. nützen zu können. W. ist der Denunziant, 
hat überhaupt die Denunziation erst eingereicht, als ich schon 1 y 4 Jahr 
von der Gesellschaft weg war, und als er sah, daß er die schwebenden 
Prozesse, die vorn bezeichnet, verlieren werde. W.s Zweck war, sich als 
Zeuge verwerten zu lassen und in dem Zivilprozeß Geltung zu erlangen. 
Diese Manipulation haben die Richter zugunsten des W. nicht allein ge¬ 
duldet, sondern die Unehrlichkeit des W. sogar gefördert.Dies ist 

ein klarer Beweis, daß die Richter vorsätzlich die Wahrheit niedergedrückt 

und zugunsten des Kollegen W. gewirkt haben.Es ist möglich, daß 

Richter sich in einzelnen Fällen einmal, auch zweimal, auch dreimal irren 
können. Hierbei ist aber das Ganze von Anfang bis zu Ende eine fort¬ 
gesetzte Handlung.“ 

Auch gegen den Oberstaatsanwalt erhob L. Anschuldigungen. In 
seinem Strafantrag gegen W. vom 20. 8. 12 schrieb er: „Wenn der 
Bescheid des Herrn Oberstaatsanwaltes P. vom 18. 4. 10 richtig wäre, 
dann ist es nicht zu verstehen, warum ich nicht wegen Meineid zur Verant¬ 
wortung gezogen worden bin, und daraus schließe ich, daß der Oberstaatsan¬ 
walt P. die Klarlegung der Sache uicht haben will, um den Kollegen Justizrat 
W. vor Überführung des Betruges und Meineides zu schützen“; und weiter: 
„Vergleicht man meine angebotenen Beweise, dann muß jeder Mensch 
erkennen, daß diese beiden Behauptungen zur Unmöglichkeit gehörten, 
während preußische Richter und Staatsanwälte darüber nicht nachdenken, 
oder richtiger, darüber nicht nachdenken wollen, um zur Schande der 
preußischen Justiz den meineidigen Betrüger zu schützen. Diese Pflicht¬ 
verletzung, besonders der Bescheid des Herrn Oberstaatsanwaltes P., 
haben mich in meiner Notwehr dahin getrieben, daß ich am 10. Dezember 
v. J. an den Sohn des Betrügers — Oberleutnant W. — einen Brief schrieb, 
worin ich einen zweifachen Meineid und den Betrug seines Vaters klarlegte, 
mit der Aufforderung, entweder die Sache auszugleichen oder der Staats¬ 
anwaltschaft zu übergeben.“ Weiter: „Die Widerlegung des Herrn Ober¬ 
staatsanwaltes P. vom 18. 4. 10 geht unter Berücksichtigung der von mir 
eingereichten Beweise gegen die gute Sitte, gegen Treue und Glauben, 
gegen den gesunden Menschenverstand, und läßt klar erkennen, daß Meineid 


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Hans Seelert. 


und Betrug direkt durch die Staatsanwaltschaft geschützt wird, wenn der 
meineidige Betrüger Justizrat und Kollege ist“. Ferner: „Der Bescheid 
des Herrn Oberstaatsanwaltes P. zu 2 vom 18. 4. 10 ergibt klar, daß er 
die Wahrheit nicht will, und den Blödsinn des meineidigen Betrügers \Y. 
wiedergibt.“ 

In einem Schreiben des L. an den Ersten Staatsanwalt beim Land¬ 
gericht I Berlin vom 14. 5. 13 findet sich folgender Satz: „Jeder Schwein¬ 
hund spuckt derartigen Menschen ins Gesicht, nur der Herr Staatsanwalt 
schützt den meineidigen Betrüger.“ 

In einer Beschwerdeschrift des L. an den Justizminister vom 3. 10. 12. 
von der eine Abschrift bei den Akten liegt, geht hervor, daß er sich darin 
zum vierten Male, Beschwerde führend über die Richter, an den Justiz¬ 
minister wandte; er schrieb darin: „Da aber Euer Exzellenz die Eingaben 
behufs Erledigung an die persönlich interessierten Vorgesetzten der Rechts¬ 
brecher abgegeben, ist es natürlich, daß die Rechtsbeugung nicht erblickt, 

unterdrückt, mit leeren Phrasen zurückgewiesen wurde.Ich klage 

die Richter nicht allein wegen Rechtsbeugung, sondern auch wegen Ver¬ 
leitung zum Meineid an, denn es ist eine Schande für die preußische Justiz, 

daß Richter den Betrüger unterstützen, wenn er Kollege ist.Ich 

beantrage gegen die bezeichneten Richter, die nicht wie Richter, sondern 
schlimmer als jeder Verbrecher, vorzugehen oder mich zur Verantwortung 
zu ziehen, denn gern will ich den Sumpf in der preußischen Justiz auf¬ 
decken.“ 

Als L. 1912 auf Anordnung des Untersuchungsrichters auf seinen 
Geisteszustand untersucht werden sollte, weigerte er sich, sich untersuchen 
zu lassen. Am 1. 9. 12 schrieb er an die Staatsanwaltschaft: „Ich habe dem 
Medizinalrat St. erklärt, daß ich mich nicht untersuchen lasse, es ihm aber 
anheimgegeben, denjenigen, der meine Untersuchung angeordnet, selbst 
auf seinen Geisteszustand zu untersuchen, denn meine Beweise ergeben, 
daß W. ein meineidiger Betrüger ist, und wenn der betreffende Unter¬ 
suchungsrichter oder Staatsanwalt das nicht aus den von mir eingereichten 
Beweisurkunden erkennt oder rechtbeugend nicht erkennen will, dann 
werde ich den betreffenden Herrn zur Verantwortung ziehen.“ Am 1. 12. 12 
schrieb L. an den Untersuchungsrichter, daß er über die Sendung des 
Medizinalrates St. in seine Wohnung, die er als widerrechtlich bezeichnete. 
Beschwerde bei einem deutschen Reichstagsabgeordneten geführt habe, 
daß er hoffe, daß der Reichstag ihm Hilfe bringen und prüfen werde, ob 
§ 346 StGB, verletzt ist. Ein Satz in dem Schreiben lautet: „Ich erblicke 
in dem vorbezeichneten Versuch, mich als geisteskrank pressen zu wollen, 
und der Nichtprüfung meiner Beweisurkunden und Zeugenbeweise den 
Beweis gemäß § 346 StGB, als erbracht, den Justizrat W. der gesetzlichen 
Strafe entziehen zu wollen, denn die Handlung, mich als geisteskrank hin- 
slellen zu wollen, ist ein klarer Beweis, indem meine bisherigen Eingaben 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


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mit zehnfachen Beweisurkunden und Zeugenbeweisen belegt sind, demnach 
mein Geisteszustand nicht in Betracht kommen kann.“ 

Am 16. 12. 12 wurde er vor Gericht dem Medizinalrat St. vorgeführt, 
er weigerte sich jedoch, sich körperlich untersuchen zu lassen, und lehnte 
es ab, auf Fragen des Sachverständigen zu antworten. Nach dieser Vor¬ 
führung zur ärztlichen Untersuchung reichte L. am 10. 2. 13 Strafantrag 
beim Oberstaatsanwalt ein, mit der Begründung, daß er darin eine Frei¬ 
heitsberaubung erblicke. Das Verfahren ist nach den Akten nicht erledigt. 

Medizinalrat St. hat mehrmals auf richterliche Anordnung den 
Versuch gemacht, den L. in seiner Wohnung zu untersuchen; er berichtete 
darüber am 2.12. 12: L. lehnte es ab, sich körperlich untersuchen zu lassen, 
erklärte, er sei körperlich und geistig gesund, er geriet bei seinen Aus¬ 
führungen in Wut, so daß er hochrot wurde und überhastig sprach. — 
Dr. St. hatte L. schon vor Jahren untersucht und dabei festgestellt, daß 
er an Gicht und an Arteriosklerose litt. Damals hatte L., als Dr. St. ihn 
aufsuchte, eine Menge von augenscheinlich eben angefertigten umfang¬ 
reichen Schriftstücken ausgebreitet. Schon damals vermutete Dr. St., 
daß es sich bei L. um einen Querulanten handle; in dieser Vermutung 
wurde er 1912 durch seine Wahrnehmungen bestärkt. 

Bei den Akten findet sich eine ärztliche Äußerung, daß L. an Gicht 
leide. Am 17. 11. 13 schrieb L. an den Untersuchungsrichter, er habe 
einen weiteren Beweis erhalten, daß der frühere Buchhalter der Aktien¬ 
gesellschaft P. Buchfälschungen im Aufträge von W. gemacht habe. 

Einzelne Schreiben des L. zeigen, daß er in schweren Zorn und Er¬ 
regung gegen Justizrat W. geriet; in einem Briefe an ihn vom 19. 9. 13 
schrieb er: „Ich werde Ihre Meineide und Betrug in größerer Massenschrift 
in Ihrer Umgebung verbreiten, auch erklären, daß Sie mit Hinterlist die 
Anklage und Aufklärung hintertreiben, außerdem werde ich Gelegenheit 
suchen, Sie auf offener Straße zu treffen und Ihrer Würde entsprechend 
züchtigen!!! Jahrelang habe ich schriftlich keinen Erfolg erzielt, nun 
werde ich mit Taten beginnen. Meine bisherige Ausdauer bürgt, daß ich 
Wort halte, auch wenn die Taten mir oder Ihnen das Leben kosten. Ich 
erwarte, daß Sie auch diese Schreiben der Kgl. Staatsanwaltschaft über¬ 
geben oder eine Einigung mit ihr anbahnen.“ — Ein Schreiben an die 
Strafkammer vom 24. 8. 14 schloß er mit den Worten: „Ich werde dadurch 
gezwungen, Selbstjustiz an dem Verbrecher zu begehen, um dadurch 
schnellere Aufklärung zu schaffen.“ Ähnlich schrieb er am 3. 5. 15: „Diese 
Verschleppung zwingt mich zu strafbaren Handlungen, eventuell zur 
Selbstjustiz gegen W. auf offener Straße, seiner Würde entsprechend.*' 

Zu beachten ist noch, daß L. die gegen die Richter des Landgerichts G. 
in seinem Strafantrag vom 11. 6. 08 erhobenen Beschuldigungen der Rechts¬ 
beugung, der absichtlichen Unterdrückung der Wahrheit zugunsten ihres 
Kollegen Justizrat W. und zu seinen Ungunsten während seiner Haft im 
Strafgefängnis T. 1910 einschränkte. Auch vorher hatte er schon erklärt, 


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Hans Seelert, 


daß er nur berechtigte Interessen wahrnehmen wolle, und jede Beleidigung 
der Richter ihm fernliege. Während der Haft korrigierte er, wie er in seinem 
Schreiben ausführte, seine früheren Urteile dahin, daß es sich um eine 
Rechtsverkennung der Richter gehandelt habe, die er für Rechtsbeugung 
hielt, in seiner damaligen Erregtheit habe er alle Fehler in dem Ausdruck 
Rechtsbeugung zusammengefaßt. Er glaube jetzt, daß ein falsches Urteil 
gegen ihn aus Irrtum gefällt worden sei, und daß nicht genügend Beweise 
erhoben worden seien. 

Bei den Akten findet sich eine Druckschrift, mit der L. für einen 
von ihm erfundenen elastischen Hufbeschlag wirbt. 

Während seiner letzten Strafhaft bat L. in einem Schreiben an das 
Gericht vom 1. 9. 15, die Untersuchung seines Geisteszustandes gemäß 
§ 81 StPO, anzuordnen, er erwähnte, daß er während seiner Strafhaft 
1909/10 Schwindelanfälle gehabt habe, bei denen er bewußtlos hingestürzt 
sei, und erklärte, daß er selbst, die Überzeugung gewonnen habe, die Ver¬ 
mutung, daß er an Geisteskrankheit leide, sei berechtigt gewesen. Auf 
Antrag von Dr. St. wurde am 22. 11. 15 die Beobachtung des L. nach § 81 
StPO, beschlossen. 

Bei der Untersuchung in der Klinik gab L. an, er habe den Brief an 
den Sohn des Justizrat W. geschrieben, „um Aufklärung zu schaffen“. 
Er habe erwartet, daß W. daraufhin einen Beleidigungsprozeß gegen ihn 
anstrengen werde; in diesem wollte er geltend machen, daß er den Brief 
in Wahrung berechtigter Interessen geschrieben habe und daher nicht 
bestraft werden könne. Er habe erwartet, daß dann der Untersuchungs¬ 
richter die Untersuchung und Begutachtung der Bücher der Aktiengesell¬ 
schaft anordnen werde, und daß bei dieser Untersuchung seine Unschuld 
herauskommen und erwiesen werden würde, daß er unschuldig wegen 
Untreue verurteilt worden sei. Er habe, als er den Brief schrieb, erwartet, 
daß er auf diese Weise eine Handhabe zu erfolgreichem Wiederaufnahme¬ 
verfahren in der Sache und zu einer Rehabilitation bekommen werde. Er 
habe den Brief geschrieben, als er Einblick in die Bücher der Aktien¬ 
gesellschaft bekommen und in ihnen seiner Ansicht nach falsche Ein¬ 
tragungen entdeckt hatte. Wenn er selbst die Untersuchung der Bücher 
veranlaßt und dem Gericht ein Privatgutachten eingereicht hätte, so wäre 
dies wahrscheinlich nicht ausreichend zur Beweisführung gewesen, und 
ohne ausreichendes Gutachten hätte er ein Wiederaufnahmeverfahren 
nicht erreicht. In der Notwehr und in der Annahme, unter dem Schutz 
des § 193 StGB, zu handeln, habe er den der Anklage zugrunde liegenden 
Brief geschrieben. Immer wieder erklärte er bei der Untersuchung, daß 
er nur eine Anklage erreichen wollte, weil er glaubte, damit beweisen zu 
können, daß die von W. geleisteten Eide falsch waren, und daß er un¬ 
schuldig verurteilt sei. 

Damals, als er den Brief schrieb, sei er überzeugt gewesen, daß die 
Eide des W. Meineide waren. Jetzt, nachdem er eine Abschrift von dem 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


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Gutachten des Bücherrevisors R. vom 6. 5. 14 erhalten habe, sei er nur 
überzeugt, daß die Eide des W. falsch waren. Daß er durch falsches Zeugnis 
des W. ins Gefängnis gebracht worden sei, das sei jetzt durch das Gut¬ 
achten erwiesen; ob es mit Absicht des W. geschehen sei, das wisse er nicht. 
Daran halte er auch jetzt noch fest, daß W. nicht recht gehandelt hat, 
er könne ihn aber jetzt nicht mehr als Schwindler bezeichnen, da er aus dem 
Büchergutachten ersehen habe, daß W. das Geld bei der Aktiengesellschaft 
gelassen hat. Ebenso korrigierte L. jetzt bei der Untersuchung seine An¬ 
schuldigungen gegen Richter und Staatsanwalt. Auch heute sei er der An¬ 
sicht, daß die Richter ihn nicht hätten verurteilen können, wenn sie die 
Fälle näher geprüft hätten; früher, in der Zeit, als er den Brief schrieb, 
sei er der Überzeugung gewesen, daß die Richter wissentlich falsch über 
ihn geurteilt haben, heute habe er nur den Glauben, daß sie leichtfertig 
geurteilt haben, das Gericht habe dem W. es leicht gemacht, daß er die 
Eide leisten konnte. Seine Behauptung, daß der Oberstaatsanwalt leicht¬ 
fertig oder absichtlich, vielleicht aus kollegialen Rücksichten, seine weiteren 
Beweise unterdrückt habe, halte er heute, wo er wisse, daß die Sache etwas 
anders liege, als er damals glaubte, nicht mehr aufrecht. 

Seine damaligen Maßnahmen, die wiederholten Beschwerden an den 
Justizminister, sein Gesuch an den Reichstag halte er auch heute für be¬ 
rechtigt und seiner damaligen Situation entsprechend, er sei das seinen 
Kindern und sich selbst schuldig gewesen; auch die Form seiner Beschwerde 
an den Justizminister sei seiner damaligen Situation durchaus entsprechend 
gewesen, er habe sich nicht anders helfen können. Heute sehe er aber ein, 
daß er „ein zu scharfes Urteil“ gehabt habe, er habe damals die Sache nicht 
so genau überlegt. 

Die Form des jetzt der Anklage zugrunde liegenden Briefes vom 
10. 12. 11 an den Sohn des W. sei dadurch entstanden, daß er damals in 
einer schweren Erregung war, in der Erregung sei er in der Form unzweifel¬ 
haft zu weit gegangen. Wenn er damals gewußt hätte, wie die Sache liegt, 
was er durch das Gutachten des Bürgerrevisors R. jetzt erfahren habe, so 
würde er den Brief nicht geschrieben haben, heute tue es ihm leid, daß er 
ihn schrieb. 

Er sei der Ansicht, daß er damals, als er den Brief schrieb, krankhaft 
erregt war. Er sei damals sehr empfindlich, sehr reizbar gewesen; wenn er 
vom Gericht einen Brief, eine Zustellung bekam, habe er vor Aufregung 
gezittert; er sei verärgert gewesen, daß er als alter, bisher nicht bestrafter 
Mann ins Gefängnis gekommen war. Er habe damals viele schlaflose Nächte 
gehabt, manche Nacht darüber nachgedacht, wo das Geld geblieben sein 
könne. Er habe gewußt, daß er es nicht genommen hatte, aber nicht 
gewußt, wie es möglich sei, daß die Posten in den Kassenbüchern standen. 
Er habe durchaus Aufklärung schaffen wollen; er habe sich allein in sein 
Zimmer eingeschlossen und darüber nachgedacht; er habe in der Zeit viel 
geschrieben, mehr als es manchmal nötig war. Für alles andere sei er inter- 


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Hans Seelert. 


esselos gewesen, sei still, einsilbig gewesen im Verkehr mit Menschen. Er 
habe in dieser Zeit keine Arbeit ausfuhren können, bei allem sei ihm der 
Gedanke an die Prozeßangelegenheit gekommen, immer habe er darüber 
nachgedacht, wie er den Nachweis seiner Unschuld führen könne. Er habe 
damals nicht so denken können wie früher und wie jetzt. Als er in dieser 
Zeit sein ihm verloren gegangenes Modell der von ihm erfundenen Eisen¬ 
bahnkuppelung wiederherstellen wollte, habe er es nicht fertig gebracht; 
seine Gedanken seien immer durch die Gerichtssache abgelenkt gewesen. 
Er habe an Kopfschmerzen und anfallweisem Schwindelgefühl gelitten. 

Mit Intensitätsschwankungen habe dieser Zustand von 1904 bis 1914 
bestanden, er habe angefangen, als sich die Schwierigkeiten in der Aktien¬ 
gesellschaft einstellten, Schwierigkeiten, die ihn persönlich in pekuniärer 
Hinsicht trafen. Nach seiner Verurteilung 1907 sei sein Gesundheitszustand 
dann noch schlechter geworden, er sei noch erregter geworden, als er vorher 
schon war. Als er dann in den Büchern falsche Eintragungen gefunden 
habe von einer Handschrift, die er nicht kannte, da sei er erst recht auf¬ 
gebracht, aufgeregt gewesen. Unmittelbar vorausgegangen sei diesem 
krankhaften Zustand ein Unfall, den er am 17. 2. 04 auf dem Bahnhof in 
G. gehabt habe, er sei damals gefallen und mit dem Hinterkopf auf¬ 
geschlagen, wochenlang habe er danach Kopfschmerzen gehabt; nach dem 
Unfall habe sich eine Schwellung erst des linken, dann auch des rechten 
Fußgelenkes und auch der Zehengelenke eingestellt; diese Erscheinungen 
seien vom Arzt als Gicht erklärt worden. Sein Körpergewicht habe in der 
Zeit von 1904 bis 1914 um 10 kg abgenommen. 1910 habe er sich schon 
halb mit dem Urteil abgefunden gehabt, dann aber die Bücher der Aktien¬ 
gesellschaft in die Hand bekommen und die falschen Eintragungen gefun¬ 
den, wodurch er wieder aufgebracht und erregt wurde. Er habe in den 
10 Jahren keine verdienstbringende Tätigkeit gehabt. 

1914 sei dann sein Zustand wieder anders geworden. Er sei wieder 
ein ganz anderer Mensch geworden, heiterer und geselliger, sein Denken 
sei wieder ein anderes geworden, er habe nicht mehr immerfort nur den 
einen Gedanken an seine Verurteilung im Kopf gehabt, habe auch wieder 
an anderes denken können; als er dann wieder seine Arbeit für das Patent 
der Eisenbahnkuppelung aufnahm, habe er sich wieder damit zurecht¬ 
gefunden, „wie neugeboren, noch einmal jung“ sei er 1914 geworden. 
Diese Änderung seines Krankheitszustandes sei eingetreten, als er im Mai 
1914 das Gutachten des Bücherrevisors R. erhalten und aus den Büchern 
die Bilanz der Aktiengesellschaft für 1903/04 aufgestellt hatte. Als er 
dieses beides hatte, habe er nicht weiter darüber nachdenken brauchen, 
wie er seine Unschuld beweisen könne; dem Gedanken, der ihn jahrelang 
beschäftigt hatte, habe er nun nicht mehr nachgehen brauchen. Seine 
Beruhigung sei mit dem Bewußtsein gekommen, daß er jetzt Beweise in 
den Händen habe, mit denen er sicher seine Unschuld beweisen könne. 

über sein Vorleben gab L. an, daß er von Jugend an ein heiteres 


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Zur Pathologie des Qaeralantenwahnes. ' 315 

Grundtemperament habe, gern in Gesellschaft und ein guter Unterhalter 
gewesen sei. Er habe viel geschafft im Leben, Unternehmungslust in ge¬ 
schäftlichen Dingen gehabt. Er habe 25 Jahre für die Eisenbahndirektion 
Th., B. und D. gearbeitet, Arbeiten beim Bau von Eisenbahnen übernom¬ 
men; er habe viel Geld verdient, mitunter auch etwas verloren; zeitweise 
habe er 600 Leute beschäftigt. In den 25 Jahren, die er als Bauunter¬ 
nehmer tätig war, habe er nur 4 oder 5 Zivilprozesse gehabt, und auch diese 
nur um geringfügige Sachen. Zu den vielen Prozessen sei er erst gekommen, 
als sich die Schwierigkeiten in der Aktiengesellschaft eingestellt hatten 
und er als Vorstand ausgetreten war. Außer den Prozessen, die in Beziehung 
zu seiner Tätigkeit in der Aktiengesellschaft standen, habe er noch 1904/05 
und 1910 einen Prozeß mit seinem Stiefvater gehabt, sonst habe er früher 
nie Streit oder Zank gehabt, auch nicht mit seinen Mietern und Haus¬ 
bewohnern. 

1884 habe er Flecktyphus gehabt, er sei damals 21 Tage lang be¬ 
wußtlos gewesen und vom Kreisarzt in G. behandelt worden. Einen 
gleichen oder ähnlichen Zustand wie in den Jahren 1904—14 habe er 
vorher nicht gehabt, niemals habe er an irgendwelchen Verstimmungen 
gelitten. 

Von der Wirtschafterin des L., Frau Sch., mit der L. seit 20 Jahren 
zusammen lebt, wurde uns angegeben, daß L. ein fleißiger, strebsamer, 
lebhafter Mensch sei; er sei immer Optimist, er habe sich mehrere Erfindun 
gen patentieren lassen, eine Eisenbahnkuppelung, einen Hufbeschlag und 
eine Befestigungsvorrichtung für Frühstücksbeutel; seitdem 1905 die 
Prozesse angefangen hatten, beschäftigte er sich dauernd mit diesen. Ein 
Sohn aus zweiter Ehe des L., Artur L., gab an, sein Vater sei in früheren 
Jahren ein verträglicher, nie reizbarer Mensch gewesen. Als er den Plan 
der Vergrößerung der Gütereisenbahn G. aufnahm, habe er mit großem 
Eifer dafür gearbeitet, er sei viel auf die Dörfer der Umgegend gefahren, 
habe dort Versammlungen beigewohnt; täglich habe er viel von dem Ver¬ 
größerungsplan gesprochen und habe damals wohl die Verwaltung der 
Aktiengesellschaft vernachlässigt. Juli 1904 habe er in Berlin ein Kohlen¬ 
geschäft eingerichtet, dessen Verwaltung er ganz dem damals 17 jährigen 
Sohn überlassen habe; er selbst habe kein Interesse dafür gehabt, habe 
sich dauernd mit seinen Prozeßangelegenheiten beschäftigt; die Folge sei 
gewesen, daß das Geschäft in Konkurs kam. Er habe damals sehr viel 
geschrieben, vielfach die Schriftstücke zerrissen und wieder neue ge¬ 
schrieben. Auf Einwendungen und Warnungen gegen den Inhalt seiner 
Schriften sei er abweisend und unzugänglich gewesen, habe erklärt, es 
sei seine Sache. Im Gegensätze zu früher habe er sich damals nicht mehr 
um die Erziehung seiner Kinder gekümmert, er sei reizbar, manchmal 
grob zu den Angehörigen gewesen, habe viel geschimpft, habe nachts 
nicht geschlafen, sei erst gegen Morgen eingeschlafen. Er habe in der Zeit 
viel davon gesprochen, daß er sein Geld aus der Aktiengesellschaft wieder- 


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Hans Seelert, 


* 

bekommen müsse, habe Pläne darüber gemacht, was er mit dem Gelde 
anfangen werde; er habe schon die Zinsen von dem Gelde ausgerechnet, 
habe ausgerechnet, wieviel Geld er jedem Kinde geben werde. Vor jedem 
Gerichtstermin sei er hofTnungsfreudig gewesen, nachher habe er ge¬ 
schimpft, daß die Richter auf seiten des Justizrats W. ständen. Er habe 
sich in den ganzen Jahren nicht darum bemüht, verdienstbringende Tätig¬ 
keit zu finden. 1914, vor Beginn des Krieges, fiel dem Sohn gelegentlich 
eines Besuches beim Vater auf, daß dieser wieder anders war, daß er wieder 
Interesse für die Familie hatte, nicht mehr so viel schrieb. 

Die körperliche Untersuchung des L. ergab folgenden Befund: L. ist 
mittelgroß, mittelkräftig, er befindet sich in reduziertem Ernährungs¬ 
zustand. Sein Körpergewicht betrug am 29. 1. 16 65 kg, am 26. 2. 16 
67,5 kg. Für sein Alter von 62 Jahren sieht L. recht rüstig aus; er ist stark 
kurzsichtig. An Brust- und Bauchorganen fanden sich keine krankhaften 
Veränderungen; an den fühlbaren Arterien waren arteriosklerotische Ver¬ 
änderungen nicht zu erkennen. Der Harn war frei von Eiweiß und Zucker. 
Die Pupillen sind gleichweit, sie reagieren gut auf Licht und Einstellung 
der Augen für die Nähe. Die Bewegung der Augen, der Gesichtsmuskeln 
und der Zunge sind nicht gestört; es besteht eine Konvergenzschwäche der 
Augen, wahrscheinlich bedingt durch die Kurzsichtigkeit. Die Bauch¬ 
decken- und Hodenreflexe, die Kniesehnen- und Achillesreflexe sowie die 
Zehenreflexe verhalten sich normal. Bewegungsstörungen bestehen nicht. 
Die Schmerzempfindung ist normal. 

• Während der Beobachtung in der Klinik zeigte L. ein der Situation 
entsprechendes Verhalten, nichts, das auf krankhafte Störungen auf psychi¬ 
schem Gebiet hinwies. Auf die Untersuchung ging er stets bereitwillig ein 
und gab ausführlich auf alle Fragen Auskunft. Ausführlich berichtete er 
in sachlicher Art über seine Prozeßangelegenheiten; dabei zeigte sich immer 
wieder, daß jetzt im Vordergründe seines Denkens „die Beweise“ stehen, 
die er jetzt in dem Büchergutachten und in der von ihm aufgestellten 
Bilanz von 1903/04 zu haben glaubt. Er ist fest davon überzeugt, daß er 
mit diesen das Wiederaufnahmeverfahren durchsetzen und nachweisen 
werde, daß er unschuldig verurteilt worden ist; alle Einwendungen und 
andere Möglichkeiten lehnte er ab. Bei Schilderung seiner Prozeßange¬ 
legenheiten blieb er ruhig, zeigte dabei keine Steigerung der Affektreaktion. 

Anhaltpunkte für durch Krankheit und das vorgerückte Alter ver¬ 
ursachte Abnahme der intellektuellen Fähigkeiten waren bei L. nicht zu 
erkennen. Über körperliche Beschwerden klagte er in der Klinik nicht; 
der Schlaf war gut. 

Zusammenfassung und Gutachten. — Nach dem Ergebnis der 
Untersuchung und dem Akteninhalt ist anzunehmen, daß L. einen sich 
über mehrere Jahre erstreckenden krankhaften Verstimmungszustand 
gehabt hat, der reaktiv nach affektbetonten Erlebnissen aufgetreten ist. 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


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Wahrscheinlich war es ein auf dem pathologischen Boden hypomanischer 
Konstitution entstandener Krankheitzustand. 

Die Symptome des krankhaften Zustandes bestanden nach seiner 
eigenen Schilderung, der seiner Angehörigen und dem, was wir aus den 
bei den Akten befindlichen zahlreichen Schriftstücken entnehmen können, 
in gesteigerter affektiver Reizbarkeit, in Störung des Schlafes und in Ein¬ 
engung des Interessenkreises unter einem krankhaft überwertigen Vor¬ 
stellungskomplex. Das Vorherrschen des Vorstellungskomplexes der 
rechtlichen Benachteiligung führte unter der krankhaft veränderten Af¬ 
fektivität zu krankhaften Mißdeutungen seiner Erlebnisse im Sinne der 
sein Bewußtsein beherrschenden Vorstellung der Benachteiligung. Es 
läßt sich aus dem Akteninhalt verfolgen, wie die auf krankhafter Grundlage 
entstandenen Gedankengänge der rechtlichen Benachteiligung bei L. mehr 
und mehr erweitert wurden. Sie knüpften an Differenzen an, die L. mit 
Justizrat W. innerhalb der Aktiengesellschaft hatte. L. hielt und hält W. 
auch heute noch für den Urheber seiner rechtlichen Benachteiligung. 
Für die ärztliche Beurteilung ist es belanglos, ob diese Annahme zutreffend 
ist oder nicht. Daß L. in dem Verstimmungszustande die Handlungsweise 
des W. in krankhafter Weise verkannte, geht mit Wahrscheinlichkeit daraus- 
hervor, daß er sie heute, nachdem der krankhafte Zustand vorüber ist, 
anders beurteilt als damals. Es wird dieses ferner wahrscheinlich aus der 
Art, wie er in dem krankhaften Zustande andere Erlebnisse damit in Zu¬ 
sammenhang brachte, und wie er seine Schlußfolgerungen zog. 

Aus der Erfahrung, daß er mit seinen Eingaben an die Gerichte und 
mit seinen Strafanträgen sein Ziel nicht erreichte, zog er unter der in seinem 
Bewußtsein überwertigen Überzeugung, daß das Recht auf seiner Seite 
sei, den Schluß, daß Richter und Oberstaatsanwalt absichtlich seine Be¬ 
weise nicht prüfen und nicht anerkennen wollten, weil sie W., der Jurist ist 
und mit ihnen bekannt war, begünstigen wollten. In gleichem Sinne mi߬ 
deutete er die richterliche Anordnung der Untersuchung seines Geistes¬ 
zustandes. 

Die Abweisung seiner Strafanträge war nicht geeignet, sein Urteil 
zu korrigieren. Auch hierin zeigt sich die krankhafte, Überwertigkeit des 
ihn damals beherrschenden Vorstellungskomplexes. Sie tritt ferner hervor 
in der Art, wie er sein Ziel zu erreichen suchte, und in der Bedeutung, die 
er damals seinen persönlichen Angelegenheiten für die allgemeine Recht¬ 
sprechung beimaß; es kommt dieses zum Ausdruck in seiner Beschwerde¬ 
schrift an den Justizminister. 

Ausgelöst und unterhalten wurde der krankhafte Zustand bei L. 
durch die Gemütserregungen, die sich für ihn aus seinen Schwierigkeiten 
mit der Aktiengesellschaft ergaben, aus der Abweisung der Klage der Frau 
Sch. und vor allem wohl aus seiner strafrechtlichen Verurteilung. Aus 
seinen Angaben und aus den Akten geht hervor, daß der krankhafte Zu¬ 
stand nicht dauernd mit gleicher Intensität bestand, sondern Schwankungen 


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Hans Seelert, 


aufwies. Eine Besserung scheint 1910 während seiner Strafhaft aufge¬ 
treten zu sein. Eine Besserung, die bis zum Schwinden der Krankheit¬ 
erscheinungen fortschritt, stellte sich wiederum 1914 ein. 

Jetzt ist der krankhafte Zustand bis zur Krankheiteinsicht abge¬ 
laufen. Für dieses Urteil ist es gleichgültig, ob die den L. jetzt beherr¬ 
schende Ansicht, daß er jetzt in der Lage sei, zu seinem Ziel zu kommen 
und seine Unschuld nachzuweisen, zutreffend Lst oder nicht. 

Für die Frage, ob L. den der Anklage zugrunde liegenden Brief vom 
tu. 12. 11 im Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne 
des § 51 StGB, geschrieben hat, kommt in Betracht, daß bei ihm in dieser 
Zeit der krankhafte Verstimmungszustand bestand, und daß die Krank¬ 
heiterscheinungen in diesem derartige waren, daß die Voraussetzungen des 
§ 51 Vorlagen. 

Wir geben daher unser Gutachten dahin ab, daß L. sich zur Zeit 
<ler Begehung der Straftat, die der Anklage zugrunde liegt, im Zustande 
krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 StGB, befun¬ 
den hat. 

Das Symptomenbild der psychischen Krankheit des L. entspricht 
in allen Einzelheiten den als Querulantenwahn bezeichneten Psychosen. 
Die psychischen Elementarsymptome sind pathologische Erscheinun¬ 
gen auf affektivem Gebiete und ein krankhaft überwertiger Vor¬ 
stellungskomplex. Beide sind eng miteinander verknüpft. 

Der primäre Kern der Erkrankung liegt zweifellos in der krank¬ 
haft veränderten Affektivität. Auf ihrer Grundlage erhält der vor¬ 
herrschende Vorstellungskomplex der unrechtmäßigen Benachteiligung 
seine krankhafte Überwertigkeit und damit seinen pathologischen 
Einfluß in der Psycho des Kranken. 

Nach Abklingen des krankhaften Affektes hat der Pat. die Vor¬ 
stellung der unrechtmäßigen Benachteiligung behalten, sie hat bei ihm 
nichts an Überzeugungstreue eingebüßt, im Vordergründe seines Den¬ 
kens stehen weiter „die Beweise“, die er zu seiner Rechtfertigung 
führen will, die Wahnbildung aber, die hier auf krankhafter Mißdeutung 
der in Zusammenhang mit dem Vorstellungskomplex der Benach¬ 
teiligung stehenden Erlebnisse beruht, hat mit Abklingen des patho¬ 
logischen Affektes aufgehört, es ist sogar zur Korrektur der zur Zeit 
des pathologischen Affektes entstandenen wahnhaften Mißdeutungen 
gekommen. Daraus geht hervor, daß die krankhaft veränderte Affek¬ 
tivität die Grundlage der Wahnbildung bei dem Pat. ist; die Vorstellung 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


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der unrechtmäßigen Benachteiligung bestimmt nur die Richtung der 
Wahnbildung. 

Mit dem Abklingen des Affektes und dem Schwinden der Wahn¬ 
vorstellungen änderte sich das Verhalten des Kranken. Während des 
krankhaften Zustandes beschränkte sich seine Betätigung ausschlie߬ 
lich darauf, seine Rechtsansprüche durchzusetzen. Er vernach¬ 
lässigte dabei Familie, Geschäft und Verdienst, seine Lebensführung 
wurde eine andere, sie wurde geleitet durch den Vorstellungskomplex 
der rechtlichen Benachteiligung. Nachdem jetzt die Affektivität des 
Pat. aus der pathologischen wieder zur gesunden Form zurückgekehrt 
ist, besteht zwar der Vorstellungskomplex der Benachteiligung bei 
dem Kranken fort, aber er hat seinen starken Einfluß im Seelenleben, 
seine krankhafte Überwertigkeit verloren. Die krankhafte Über¬ 
wertigkeit des Vorstellungskomplexes zeigt sich hier in selten durch¬ 
sichtiger Weise an den krankhaften Affekt gebunden. Die Affekt¬ 
betonung, die der Vorstellungskomplex nach Abheilen des krankhaften 
Affektes behält, liegt im Rahmen der Gesundheitsbreite. In diesem 
Rahmen halten sich jetzt auch die Handlungen des L., die er im 
Sinne des Vorstellungskomplexes der Benachteiligung unternimmt. 
Seine Eingaben an die Gerichte werden nach Zahl und Form sachlich 
bestimmt, seine Vielgeschäftigkeit in Verfolgung seiner Rechtsan¬ 
sprüche hat trotz des Weiterbestehens der festen Überzeugung der 
rechtlichen Benachteiligung aufgehört, die Mittel und Wege, die er 
einschlägt, halten sich in den gebräuchlichen Formen. 

In allem zeigt sich, daß in der Psychose das treibende Element 
der krankhafte Affekt war. Der krankhafte Affekt ist der pathologi¬ 
sche Kern der Erkrankung; durch ihn erhielt der Vorstellungskomplex 
der rechtlichen Benachteiligung pathologische Überwertigkeit. Auf 
der Grundlage der krankhaften Affektivität ist es unter dem Einfluß 
des überwertigen Vorstellungskomplexes zu krankhaften Mißdeutungen 
von Erlebnissen im Zusammenhang mit diesem Vorstellungskomplex 
gekommen. Als weitere krankhafte Erscheinungen werden uns Störun¬ 
gen des Schlafes und die affektive Reizbarkeit genannt. Andere Er¬ 
scheinungen, wie Änderung der Lebensweise, Einengung des Inter¬ 
essenkreises, Schreibdrang sind sekundäre Erscheinungen, es sind 
psychische Eigenarten, die für Querulantenwahn charakteristisch sein 
können, die aber niemals die Bedeutung psychopathologischer Symp- 


Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 4. 


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Hans Seelert, 


tome in klinischem Sinne haben. Es ist unzureichend, sich bei der 
Diskussion über die Nosologie des Querulantenwahnes, wie eines 
psychischen Zustandsbildes überhaupt, auf Betrachtung und klinische 
Einschätzung derartiger allgemeiner Erscheinungen zu beschränken. 
Zum Ziel kann nur eine genaue symptomatologische Analyse der patho¬ 
logischen Erscheinungen führen. 

Entstanden ist der krankhafte Zustand, wie wir aus den Angaben 
des Pat., denen seines Sohnes und den anamnestischen Daten aus 
den Akten entnehmen können, reaktiv nach affektbetonten Erleb¬ 
nissen. Die Enttäuschung, die er mit seinen Plänen der Vergrößerung 
der Gütereisenbahn erleben mußte, und Schwierigkeiten in der Aktien¬ 
gesellschaft werden die ersten auslösenden Ursachen gewesen sein, 
der Prozeß seiner Wirtschafterin, der seine eigene pekuniäre Lage 
berührte, und schließlich der Strafprozeß, der seine Verurteilung zur 
Folge hatte, waren geeignet, anhaltenden Einfluß auf die Stimmung 
auszuüben und starke Affekterregungen zu erzeugen. Dazu kamen 
dann noch andere Prozesse, die gegen ihn angestrengt wurden. 

Die Erkrankung scheint eine allmähliche Entwicklung, allmähliche 
Steigerung und auch allmählichen Abfall gehabt zu haben. Der Beginn 
der krankhaften Verstimmung vollzog sich wahrscheinlich schon im 
Jahre 1904 nach einem Unfall mit Kopftrauma und einer Erkrankung, 
die als Gicht bezeichnet worden war. In der zweiten Hälfte des Jahres 
1914 und in der ersten von 1915 heilte der Zustand ab. 1908 stellte 
sich, während L. in Strafhaft war, eine vorübergehende Remission ein. 
Vorausgegangen ist der Erkrankung eine Zeit von der Dauer etwa 
eines Jahres, in der L. eine erhöhte geschäftliche Tätigkeit und gestei¬ 
gerten Eifer an den Tag legte, er betrieb damals die Vorarbeiten zum 
geplanten Vergrößerungsbau der von ihm verwalteten Bahn der Ak¬ 
tiengesellschaft. Die Heilung ist bis zur Krankheitseinsicht gelangt. 
L. sieht jetzt ein, daß er einen krankhaften Verstimmungszustand mit 
gesteigerter aktiver Erregbarkeit durchgemacht hat, er korrigiert die 
krankhaften kausalen Verknüpfungen seiner damaligen Erlebnisse, 
ohne die Überzeugung, daß er im Recht gewesen und rechtlich be¬ 
nachteiligt worden ist, verloren zu haben. Wenn L. jetzt das Ab¬ 
klingen des krankhaften Affektes darauf zurückführt, daß er mit dem 
Gutachten des Bücherrevisors und mit der von ihm aufgestellten Bilanz 
der Aktiengesellschaft sichere Beweise für seine unrechtmäßige Ver- 


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Zur Pathologie des Querui&ntenwahnes- 


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urteilung erhalten habe, so wird zuzugeben Fein, daß die Erlangung des 
Büchergutachtens und sein Inhalt einen günstigen Einfluß auf seine 
Stimmung ausgeübt haben werden. Diese Anschauung des L. kann 
nicht als Zeichen unvollständiger Krankheitseinsicht angeführt werden, 
ebensowenig können dafür angesehen werden seine Behauptungen,- 
daß Justizrat W. der Urheber seiner rechtlichen Benachteiligung ist, 
daß das Gericht aus Irrtum ein falsches Urteil gegen ihn gefällt habe, 
und daß er jetzt in dem Gutachten des Bücherrevisors und in der Auf¬ 
stellung der Bilanz die Beweise zum Nachweis seiner unrechtmäßigen 
Verurteilung habe. Ihre pathologische Überwertigkeit haben diese 
Vorstellungen verloren, ob sie den Tatsachen entsprechen, werden die 
Gerichte zu entscheiden haben, für die ärztliche Beurteilung des Pat. 
ist das belanglos. 

Bei Entscheidung der Frage, welcher Art die affektive Verstim¬ 
mung des L. gewesen ist, weisen uns die Angaben seiner Wirtschafterin 
und seine eigenen nach bestimmter Richtung hin. Er selbst gab an, 
er habe von Jugend an ein heiteres Grundtemperament gehabt, sei 
gern in Gesellschaft und ein guter Unterhalter gewesen, er habe viel 
geschafft im Leben, Unternehmungslust in geschäftlichen Dingen 
gehabt. Von seiner Wirtschafterin, mit der er seit 20 Jahren zusammen 
lebt, wurde L. als fleißiger, strebsamer, lebhafter Mensch geschildert, 
der immer Optimist gewesen sei. Diese Schilderungen machen es in 
Verbindung mit dem ganzen Untersuchungsbefund wahrscheinlich, 
daß L. ein Mensch von hypomanischer Konstitution ist, die Lebhaftig¬ 
keit und Gewandtheit, die L. in der Klinik bei der Unterhaltung zeigte, 
ist geeignet, uns in dieser Annahme zu bestärken. Von seinem Vater 
sagt L., er sei auch so wie er „spekulativ veranlagt“ gewesen. 

Die angeführten klinisch-pathologischen Merkmale mußten uns 
bei ihrer Kombination miteinander zu der Anschauung bringen, daß 
der Krankheitszustand des L. mit dem Bilde des Querulantenwahns 
ein auf dem Boden endogener hypomanischer Konstitution ent¬ 
standener Verstimmungszustand mit paranoischen Symptomen ge¬ 
wesen ist, Verlauf und Ausgang der Erkrankung sprechen gleichfalls 
dafür. Daß ausgesprochene paranoische Erkrankungen auf dem Boden 
manisch-depressiver Veranlagung entstehen, zeigen uns die klinischen 
Erfahrungen. Vor einigen Jahren konnten wir hier in der Klinik einen 
Patienten mit rein paranoischem Krankheitsbild beobachten, bei dem 

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Hans Seelert, 


sich an dem Symptomenbilde der paranoischen Psychose die depressiven 
und manischen Elementarsymptome mit Deutlichkeit nachweisen 
ließen*). Dieser Kranke ist später durch Suizid gestorben. Bei L. ? 
der uns erst zur Untersuchung zugeführt wurde, nachdem seine Krank- 
•heit schon länger alsein Jahr abgeheilt war, ist die symptomatologische 
Analyse nicht so weit möglich gewesen; seine Schriften aus der Krank¬ 
heitszeit lassen nichts erkennen, das mit Bestimmtheit als manisches 
oder depressives Symptom aufgefaßt werden kann, sie zeichnen sich 
aus durch formelle Gewandtheit und sind zum Teil auffällig durch 
viele Unterstreichungen. 

Das Abheilen der Psychose, das diesen Fall von Querulantenwahn 
besonders beachtenswert macht, ist ein klinisches Moment, das zur 
Diagnose der manischen Verstimmung mit paranoischen Symptomen 
beigetragen hat. Wäre die Psychose nicht zur Heilung gekommen, 
so würden sich für die Anschauung, daß eine manische Erkrankung 
Vorgelegen hat, zwar auch Wahrscheinlichkeitsgründe anführen lassen, 
eine wesentliche Stütze der Diagnose würde jedoch fehlen. 

Schwieriger als bei diesem Patienten ist die nosologische Beur¬ 
teilung in einem andern Falle, den wir vor 2 Jahren in der Klinik be¬ 
obachtet haben, und der jetzt wieder nachuntersucht werden konnte. 
Auch dieser Patient wurde gemäß § 81 StPO, untersucht und begut¬ 
achtet. Es wurde das folgende Gutachten abgegeben. 

Berlin, den 14. März 1914. 

Auf Ersuchen des Herrn Untersuchungsrichters vom Landgericht I 
Berlin erstatten wir das gewünschte Gutachten über den Geisteszustand 
des 43jährigen Kaufmanns Hermann K. Das Gutachten erfolgt nach 
Untersuchung und Beobachtung des K. in der Psychiatrischen Klinik der 
Königlichen Charitö vom 16. 1. bis 26. 2. 1914 und nach Einsicht der 
Akten und Beiakten. K. ist siebenmal vorbestraft wegen Beamtenbeleidigung, 
öffentlicher Beleidigung, Unterschlagung, Vergehens gegen das Waren¬ 
zeichengesetz, betrügerischen Bankerotts, versuchter Erpressung, Be¬ 
leidigung. 

Jetzt schweben gegen ihn mehrere Verfahren wegen Betruges und 
Untreue. Am 25. 2. 13 wurde er in London festgenommen und befindet sich 
seit seiner Auslieferung im Juni 1913 in Untersuchungshaft. In dem einen 
Verfahren sind Mitbeschuldigte des K. der Vermittler Hermann R. und 
der Inhaber einer Auskunftei Wilhelm J. 


*) Seelert, Paranoische Erkrankung auf manisch-depressiver Grund¬ 
lage. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 36, 1914. 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


323 


In dem Haftbefehl vom 15. 3. 13 wird K. beschuldigt, im Januar und 
Februar 1913 in der Absicht, sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil 
zu verschaffen, das Vermögen der offenen Handelsgesellschaft in Firma 
von G. und K. dadurch beschädigt zu haben, daß er durch Vorspiegelung 
der falschen Tatsache, er wolle Wechsel für die Firma diskontieren, während 
er den Erlös tatsächlich für sich verwenden wollte, einen Irrtum erregte. 
In diesem Haftbefehl ist folgender Sachverhalt ausgeführt. K. hatte sich 
erboten, für jene Firma 1 000 000 M. auf Wechsel zu verschaffen. Dem 
Mitinhaber der Firma K. und dem Angestellten M. hat er sich als Berg¬ 
werksbesitzer und Fabrikbesitzer ausgegeben und hat davon gesprochen, 
daß er in London eine Aktiengesellschaft mit 4 Millionen Mark gründen 
werde; er hatte einen Katalog einer Fabrik von K. vorgezeigt, die er als 
die seinige ausgab. Im Vertrauen auf die Angaben des K. und veranlaßt 
durch sein sicheres Auftreten, übergab die Firma ihm Wechsel zur Ge¬ 
samtsumme von 1 100 000 M. und eine Generalvollmacht. K. reiste nach 
Paris ab. Von dort aus schrieb er, daß er sich in eigener Sache nach Liver¬ 
pool begeben habe. Trotz vielfacher telegraphischer und schriftlicher 
Mahnung berichtete er nicht über die Ausführung seines Auftrages. Von 
London aus vertröstete er ohne Angabe seiner Adresse die Firma. Einen 
Teil der Wechsel hatte er inzwischen zurückgeschickt; zwei Wechsel zu 
je 50 000 M. hatte er weitergegeben. In London wurde er auf Veranlassung 
der Firma verhaftet. 

Ajm 22. 3. 13 wurde gegen K. auf Antrag der Staatsanwaltschaft 
Voruntersuchung eröffnet in der Sache, in der er wegen Untreue beschuldigt 
wird; er soll im Jahre 1909 als Bevollmächtigter über Forderungen seiner 
Auftraggeber, nämlich über von ihm für die früheren Inhaber der Berliner 
Ölhandelsgesellschaft eingezogene Forderungen in Höhe von 1899 M. 
absichtlich zum Nachteil seiner Auftraggeber verfügt haben, indem er die 
Forderungen einzog und das Geld zu seinem Nutzen verwandte. Am 
19. 4. 13 wurde die Voruntersuchung eröffnet wegen der Anschuldigung 
der Staatsanwaltschaft wegen Betruges und schwerer Urkundenfälschung 
und wegen versuchten Betruges. K. soll das Vermögen des Rentiers K. 
um 15 000 M. und um 25 000 M. geschädigt haben, in rechtswidriger Ab¬ 
sicht eine öffentliche Urkunde fälschlich angefertigt und von derselben zum 
Zwecke einer Täuschung Gebrauch gemacht haben, um sich einen Vermögens¬ 
vorteil zu verschaffen, er soll ferner versucht haben, um sich einen rechts¬ 
widrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen des Agenten L. 
zu schädigen. Es handelt sich hierbei um Wechsel- und Hypotheken¬ 
geschäfte. Am 7. 6. 13 wurde die Voruntersuchung ausgedehnt auf die 
im Haftbefehl vom 3. 5. 13 erhobene Beschuldigung des Betruges gegen 
die Frau G. in den Jahren 1911 und 1912; auch in diesem Falle handelt es 
sich um Hypothekengeschäfte. K. soll es verstanden haben, sich einen 
Hypothekenbrief über 150 000 M., der auf eine Zeche in M. eingetragen war, 
von der Frau G. zedieren zu lassen, ohne daß diese die Absicht hatte, die 


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Hans Seelert, 


Hypothek aus den Händen zu geben und zu zedieren. Am 20. 9. 12 wurde 
die Voruntersuchung eröffnet gegen K., R. und J. auf Antrag der Staats¬ 
anwaltschaft wegen der Beschuldigung des Betruges im Jahre 1911 und 
1912 gegen die Firmen B., H., I., K., T. In diesen Fällen handelt es sich 
darum, daß Waren von diesen Firmen auf den Namen K. und R. bestellt 
und später nicht bezahlt wurden. In dem Fall B. geschah die Bestellung 
von K. auf einem Briefbogen, dessen Kopf mit der Firma „Krasta Original- 
kraftbandgesellschaft mit beschränkter Haftung“ versehen war; K. be- 
zeichnete sich darauf als Direktor der Gesellschaft. In dem Haftbefehl 
vom 21. 3. 13 wird diese Firma als eine Sehwindelfirma, gegen die die 
Zwangsvollstreckungen fruchtlos ausfielen, bezeichnet. In einem weiteren 
Verfahren wegen Betruges an dem Kommissionär F. im Jahre 1911 handelt 
es sich um Wechselgeschäfte; auch in diesem Falle soll K. die falsche Tat¬ 
sache vorgespiegelt haben, daß er und die von ihm vertretene Gesellschaft 
Krasta zahlungsfähig seien, während beide unvermögend waren. Dem Ver¬ 
fahren wegen Betruges an dem Verlagsbuchhändler J. liegen auch Geld¬ 
geschäfte zugrunde. 

Aus dem ganzen Aktenmaterial geht hervor, daß K. an sehr vielen 
geschäftlichen Unternehmungen beteiligt war. In einem Schreiben vom 
19. 9. 13 an Herrn Medizinalrat St. hat er einen Teil seiner Geschäftsunter¬ 
nehmungen seit 1907 und einige Geschäftsprobleme, deren praktische Aus¬ 
führung er vorhatte, aufgezählt; er erklärt in dem Schreiben, daß er un¬ 
endlich viel mehr Geschäfte gemacht, als er an dieser Stelle aufgezählt 
habe. Aus dieser Aufzählung ist zu erwähnen, daß er 1908 die Verwertung 
eines Vexierspieles betrieben habe, das so aufgebaut sei, daß Dritte Millionen 
beisteuern, ohne zu erkennen, daß damit nur ein großes Warenversandhaus 
in die Welt gesetzt und bekannt gemacht werden soll. Er erwähnt in diesem 
Schreiben weiter, daß er seit 10 Jahren sein Geschäft Crödit mobilier in 
ganz besonderer Art in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln beabsichtige, 
wozu jedoch 10 Millionen gehören, die durch Spiel und die Krastagesell- 
schaft beschafft werden sollen, in ein bis zwei Jahren werde es dann das 
größte Bankhaus sein, das existiert. Er habe die Idee gehabt, die zur 
Durchführung erforderlichen Mittel durch ein Spielsystem zu beschaffen, 
durch das er täglich 40 000 bis 1 y 2 Millionen der Bank schon hätte ent¬ 
ziehen können, so daß er dadurch in den Stand gesetzt wäre, seine geschäft¬ 
lichen Ideen trotz aller Anfeindungen zu verwirklichen. In einem Briefe 
an seine Frau schrieb er, daß er eine glänzende Idee habe, schnell Millionen 
zu verdienen, auch das System für das Roulette fein durchgedacht habe. 
Ein Verlust sei jetzt ganz unmöglich. Ein weiteres Problem des K., mit 
dem er auch an die Öffentlichkeit getreten ist, ist seine Idee, Untersee¬ 
bahnen herzustellen. In den Akten des Landgerichts L. befinden sich 
einige Blätter des Leipziger Tageblattes und der Frankfurter Zeitung aus 
dem Jahre 1904, in denen dieser Plan und die von K. daran angeknüpften 
phantastischen finanziellen Spekulationen kritisiert werden. Dort be- 


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Zur Pathologie des Querulantenwahoes. 


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findet sich auch eine Zeitungsnotiz, die auf das Rätselhafte seiner Idee, 
die dem Crödit mobilier zugrunde liegt, hinweist. 

Von verschiedenen Zeugen ist angegeben worden, daß K. in seinem 
Auftreten andern gegenüber sehr selbstbewußt war, mit seinen geschäft¬ 
lichen Unternehmungen, seinen Vermögensverhälfnissen und seiner ge¬ 
schäftlichen Leistungsfähigkeit prahlte. Nach den Aussagen des Zeugen K. 
hat er sich diesem gegenüber als reicher Bergwerks- und Fabrikbesitzer 
ausgegeben, hat erzählt, daß er in England eine Aktiengesellschaft mit 
4 Millionen gründen werde, daß er für die Firma von G. und K. mit Leichtig¬ 
keit eine Million beschaffen könne. Zeuge Architekt B. hat ebenfalls ange¬ 
geben, daß der Angeschuldigte mit seinen Unternehmungen und mit seiner 
Fähigkeit, leicht Geld verschaffen zu können, prahlte. Sein Auftreten dem 
Zeugen H. gegenüber, bei dem er eine Wohnungseinrichtung von 40 000 M. 
bestellte, war derartig, daß der Zeuge die Überzeugung gewann, der An¬ 
geschuldigte sei reich. 

Diese hohe Einschätzung seiner persönlichen Leistungen ist bei K., 
wie aus den Akten hervorgeht, nicht erst praktisch in Erscheinung getreten 
während der jetzt schwebenden Strafverfahren. Nach den Zeugenaus¬ 
sagen seines Vaters und seines Bruders hatte er auch früher, wie der Vater 
und Bruder sich ausdrücken, eine Art Größenwahn, wollte immer hoch 
hinaus bei seinen kaufmännischen Unternehmungen, rechnete dabei nur 
nach Millionen, brachte sich durch seine Unternehmungen oft in Not, so 
daß er von dem Vater unterstützt wurde. 

Im Widerspruch /u dieser Selbsteinschätzung seiner persönlichen 
Verhältnisse stehen bei K. objektive Aussagen von Zeugen und Sachver¬ 
ständigen über Einzelheiten seiner geschäftlichen Tätigkeit und seiner 
Vermögensverhältnisse. Die Zeugin G. hat angegeben, daß K. ein gut 
eingerichtetes Kontor] hatte, das die Schilder „Krastagesellschaft“ und 
,,Berliner Ölhandelsgesellschaft“ trug, daß aber in der Zeit von Oktober 
1911 bis Januar 1912, in der sie in dem Kontor tätig war, für diese beiden 
Gesellschaften ihrer Beobachtung nach Geschäfte nicht gemacht wurden, 
daß während ihrer Anwesenheit ein Kunde in Geschäften dieser Gesell¬ 
schaften nicht gekommen sei. 

Nach den Zeugenaussagen des Amtsgerichtssekretärs M. hat der 
Angeschuldigte im Jahre 1902 das Steinkohlenbergwerk Zeche M. für 
6000 M. erworben. Auf diese Zeche hat er eine Hypothek von 150 000 M. 
eintragen lassen, diese hat er dann als sehr wertvolle erstklassige Hypothek 
gerühmt. Nach Auskunft des herzoglichen Bergamtes O. vom 24. 4. 13 
und der Polizeiverwaltung M. hat seit 1907 eine Förderung in der Gruben¬ 
zeche M. nicht stattgefunden; April 1913 war dort kein Arbeiter beschäf¬ 
tigt. Nach dem Urteil der Königlichen geologischen Landesanstalt Berlin 
vom 15. 5. 13 hat das Steinkohlenbergwerk M., da es zurzeit nicht förde¬ 
rungsfähig ist, überhaupt keinen wirtschaftlichen Wert, sondern nur einen 
sehr bedingten und geringen Spekulationswert. Der Sachverständige 


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Hans Seelert. 


Bergrat L. erklärte in seinem Gutachten vom 26. 5. 13, daß er nach den 
vorliegenden Unterlagen dem Grubenfelde vom bergmännischen Stand¬ 
punkt aus einen irgendwie nennenswerten Wert nicht zusprechen könne, 
es liege nichts vor, das die Annahme auf ein bauwürdiges Vorkommen von 
Steinkohlen irgendwie*rechtfertigen könne. 

Mit diesen von sachverständiger Seite erteilten Gutachten über 
den Wert der Zeche M. fand sich K. ab, indem er erklärte, daß er diese 
Auskünfte als zutreffend nicht anerkennen könnte; es möge sein, daß sie 
das Richtige treffen, könne aber auch anders sein; ihm sei jedenfalls vor 
Ankauf von dem verstorbenen Bergmeister H. erklärt worden, daß er die 
Zeche, die er für 6000 M. gekauft habe, für 30 000 M. gefunden hätte, sie 
sei die beste von ganz Thüringen, es seien ihm auch schon bis 450 000 M. 
dafür geboten worden. 

Den Widerspruch, der bei K. zwischen seinen Äußerungen über seine 
Vermögensverhältnisse, seinen entsprechenden Handlungen und den tat¬ 
sächlichen Verhältnissen liegt, illustrieren weitere Zeugenaussagen. Der 
Zeuge B. hat angegeben, daß der Möbellieferant von K. die Schlafzimmer¬ 
einrichtung wieder abholen ließ, daß K. die Miete unpünktlich zahlte und 
schuldig geblieben ist, daß Lieferanten ihn häufig um Geld gemahnt haben 
sollen. Nach Aussage des Direktors der Auskunftei Sch. waren die Ver¬ 
mögensverhältnisse des Angeschuldigten nach dem Ergebnis der Ermitt¬ 
lungen der Auskunftei sehr schlechte. Die Schutzgemeinschaft für Handel 
und Gewerbe hat am 21. 2. 12 der Staatsanwaltschaft unter Angabe der 
Aktenzeichen berichtet, daß K. am 8. 12. 11 den Offenbarungseid in einer 
Zwangsvollstreckungssache geleistet hat, daß er wiederholt fruchtlos aus¬ 
gepfändet worden ist. 

ln seinem Schreiben an Medizinalrat St. klagt K. darüber, daß ihm 
durch die Haft die Realisierung seiner Millionen darstellenden Werte un¬ 
möglich gemacht sei. 

Eine andere 'Charaktereigentümlichkeit des K., die aus dem Akten¬ 
material hervorgeht, ist seine abnorme Neigung zu Mißdeutungen der 
kausalen Beziehungen seiner unangenehmen Erlebnisse. Die Akten ent¬ 
halten zahlreiche Schriftstücke, in denen er sich über den Untersuchungs¬ 
richter, den Staatsanwalt und das Gericht beschwert. Bei seiner Ver- 
. nehmung am 9. 8. 13 durch den Untersuchungsrichter erklärte er, daß er 
nach Lage der Sache nur annehmen könne, daß R. sich Schriftstücke von 
ihm angeeignet habe, als er in dem Geschäftszimmer des Untersuchungs¬ 
richters die Papiere als Sachverständiger durchsah. In einem Schreiben 
vom 13. 8. sprach er die Möglichkeit aus, daß der Untersuchungsrichter C. 
die Wegnahme seines fehlenden, bei ihm beschlagnahmten Beweismaterials 
und der 300 Aktien gestattet haben könnte. Am 8. 8. schrieb er an den 
Untersuchungsrichter, es sei jetzt das zweite Mal, daß sein in die Hände des 
Gerichtes gegebenes Entlastungsmaterial spurlos verschwindet; er bittet 
in diesem Schreiben ferner um Abschriften aller Haftbefehle, wie sie dem 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 327 

englischen Gericht Vorgelegen haben, da ihm gestern aufgefallen sei, daß 
ihr Inhalt ein anderer war. In einem weiteren Schreiben an den Unter¬ 
suchungsrichter vom 16. 8. 13 schrieb er: ,,R. hat unzweifelhaft Helfer 
innerhalb des Gerichts gehabt.“ Bei einer Vernehmung durch den Unter¬ 
suchungsrichter am 27. 9. 13 erklärte er, er stehe mit einer großen Vor¬ 
eingenommenheit dem Landrichter C. gegenüber, weil er annehme, daß 
dieser mit Absicht sein Entlastungsmaterial in die Hände der G. und des 
R. gegeben habe. In einem Brief an Rechtsanwalt B. schrieb er: „Durch 
unerhörte Intrigen des R. und seiner Geliebt’en bin ich Ende Februar, 
unmittelbar vor der Realisierung meiner jahrelangen Bestrebungen, auf 
Veranlassung einer hiesigen Firma verhaftet worden.“ In den Akten be¬ 
findet sich eine Notiz, daß eine Beschwerde des K. an den Justizminister 
durchgeht, nach der er bei seiner Vorstellung verharrt, daß der Unter¬ 
suchungsrichter den Entlastungsbeweis wissentlich durch R. abhanden 
gebracht hätte. 

Eine abnorme Neigung, frühere unangenehme Erlebnisse mit der 
augenblicklichen Situation zu verknüpfen, zeigt sich in einer Äußerung 
des K. am 6. 10. 13; er stellte damals den Antrag, ihm mitzuteilen, in 
welche Irrenanstalt er übergeführt werden solle, da es für ihn von großem 
Interesse sei, zu wissen, welche Ärzte in der Anstalt sind; er habe nämlich 
früher mit weiten ärztlichen Kreisen Differenzen gehabt. 

In einem Schreiben vom 5. 10. 13 an die Strafkammer lehnte er den 

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Untersuchungsrichter C. wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Er 
schreibt dann weiter: „Landrichter C. hat während des bisherigen Ver¬ 
fahrens dauernd gegen die gesetzlichen Bestimmungen zu meinem Nachteil 

verstoßen.er hat nach Bekundung einer Zeugin die Beiseiteschaffung 

des gesamten Beweismaterials, welches zu meiner Entlastung diente, ge¬ 
stattet, und zwar aus seinem Amtszimmer sogar.Für mich ging auch 

aus andern Tatsachen die Mitschuld des Landrichters C. hervor, abge¬ 
sehen davon, daß ich sofort nach der mir bekannt gewordenen Beschlag¬ 
nahme bei mir den englischen Richter davon benachrichtigte und aus¬ 
sprach, daß ich überzeugt sei, daß nunmehr alle diese meine Entlastungs¬ 
beweise verschwinden würden, was ja a tempo auch eingetroffen ist. Daraus 
geht hervor, daß mein Gefühl, meine geäußerten Ansichten usw. in jeder 
Beziehung richtig waren.“ — Am 11. 10. 13 schrieb er, er habe den Ein¬ 
druck, Landrichter C. wolle ihm in jeder Weise Schwierigkeiten bereiten. 

Durch Beschluß der Strafkammer vom 17. 9.13 wurde die Beschwerde 
des K. gegen den Untersuchungsrichter für unbegründet erklärt; in der 
Begründung des Beweisbeschlusses heißt es, daß die schweren Vorwürfe 
und Beschuldigungen des Angeschuldigten, wie insbesondere der Vorwurf 
der Beiseiteschaffung des Entlastungsmaterials aus dem Richterzimmer 
durch R., der Entwendung oder Unterschlagung von beschlagnahmten 
Aktien so aufs Geratewohl und völlig beweislos aufgestellt seien, daß sie 
von vornherein nicht den geringsten Anspruch auf Glauben haben. 


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Hans Seelert, 


Wie weitere bei den Akten befindliche Schreiben des K. zeigen, 
nahmen seine Vorstellungen, unrechtmäßig behandelt zu werden, immer 
krassere und größere Ausdehnung an. Er beschwerte sich auch weiterhin, 
wie er es schon früher, nach Beschluß der Strafkammer beweislos, getan 
hatte, darüber, daß er seine Briefe zu spät erhalte; in einem Schreiben vom 
22. 10. 13 zieht er die Unparteilichkeit des Untersuchungsrichters in Frage, 
er protestiert gegen den Strafkammerbeschluß vom 17. 10. 13 und fährt 
dann fort: ,,...denn meine Strafanträge gegen alle meines Erachtens 
bewußt mir meine Rechte schmälernden Richter werden ja die notwendige 
Aufklärung bringen“. In einer Beschwerde an das Kammergericht schrieb 
er am 23. 10. 13, der Untersuchungsrichter habe bewußt § 123 StPO, ver¬ 
letzt, und fuhr dann fort: „Ebenso wie m. E. die Strafkammer und der 
Staatsanwalt schwer das Recht zu meinem Nachteil verletzten, denn es 
darf doch kein Haftbefehl aufrechterhalten werden, wenn die absolut und 
einwandfrei vorliegenden Schriften usw. das Gegenteil ausweisen, als was 
der Haftbefehl behauptet, und wenn an Hand von früheren eidlichen Zeugen¬ 
aussagen und Gerichtsakten die jetzigen eidlichen Aussagen derselben 
Personen als Meineide klipp und klar bewiesen werden ?“ In einer andern 
Beschwerde an das Kammergericht schrieb er: „Aber Herr Landrichter C. 
ist befangen, und in seinen Händen muß ich mich als rechtlos ansehen“, 
und weiter: „Es ist mir das Recht bis heute genommen worden, andere 
Richter (nur Herr Untersuchungsrichter L. nicht) haben sich dem un¬ 
gesetzlichen Verweigerungsprinzip angeschlossen und somit, mit oder 
ohne Beeinflussung durch Herrn C., das Recht zu meinem Nachteil bewußt 
gebeugt.“ Er schildert dann in dem Schreiben, daß, anläßlich einer Unter¬ 
redung zwischen den Untersuchungsrichtern, ihm und seiner Frau über 
das Verschwinden seiner Entlastungsbeweise, der Untersuchungsrichter C. 
plötzlich an den Untersuchungsrichter L. herangetreten sei und ihn schnell 
mit dem Fuß angestoßen habe, wobei jener sich sofort in seinen Worten 
unterbrochen habe. Die Beschwerde an das Kammergericht wurde als 
unbegründet zurückgewiesen. 

In einem Briefe des K. an seine Frau vom 17. 12. 13, von dem sieh 
eine Abschrift* bei den Akten befindet, kommt zum Ausdruck, wie bei der 
Neigung des K. zur Erklärung seiner augenblicklichen Situation als Folge 
der Handlungen Anderer weitere Vorstellungsreihen mit der Überzeugung 
persönlicher Benachteiligung verknüpft werden. Er schrieb in dem Briefe: 
„Ich komme nicht darüber hinweg, daß merkwürdig Viele erweislich Fal¬ 
sches gegen mich bekundet haben, und bin nach wie vor der Ansicht, 
daß eine Beeinflussung zu meinem Nachteil von irgendeiner Seite seinerzeit 

erfolgt ist . damit kommen ja auch die früheren Erklärungen des 

Herrn Dr. W. zur Sprache, deren Erbe m. E. damals Herr C. angetreten 
hat.“ In einem Brief an seine Ehefrau schrieb er, „... ich möchte auch, 
daß über mich ein ungerichtlicher Arzt ein Gutachten abgibt, damit ich 
das ständige Mißtrauen verliere“. 


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Zur Pathologie des Querulantenwabnes. 


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Diese Neigung des Angeschuldigten zur Mißdeutung der kausalen 
Beziehungen seiner unangenehmen Erlebnisse ist nicht während der jetzt 
schwebenden Strafverfahren entstanden, sondern trat auch früher hervor. 
In den Akten der Strafanstalt W. ist er auf Blatt 1 als Querulant bezeichnet. 
In einem Schreiben an das Gericht vom 24. 4. 04 schrieb er: „Mein heutiges 
erneutes Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens ist allein aus der 
Tatsache, daß ein Richter mitgewirkt hat, welcher sich in Verbindung zur 
Sache eine strafbare Handlung hat zuschulden kommen lassen, voll be¬ 
gründet.“ Der Wiederaufnahmeantrag wurde vom Gericht als unbegründet 
verworfen. In einem Briefe vom 13. 1. 06, in dem er sich über die Be¬ 
handlung in der Haft beklagte, schrieb er: „... es liegt System darin“. 
In einem Schreiben vom 20. 9. 05 an das Landgericht L. schrieb er, das 
Verhalten des Staatsanwaltes lege klar eine persönliche Gehässigkeit gegen 
ihn an den Tag, er solle um jeden Preis besonders behandelt werden. In 
einem Schreiben vom 20. 10. 13 erklärte er, er werde nach Beendigung des 
Strafverfahrens nach Argentinien gehen, da er hier ja nur Gegner und 
Feinde gefunden habe. 

Für die ärztliche Begutachtung sind wichtig und sind aus den Akten 
zu erwähnen Angaben, die den Gesundheitszustand des Angeschuldigten 
betreffen. In den Akten des Landgerichts L. befindet sich ein Zeugnis 
von Dr. S. vom 15. 3. 05, der darin bescheinigt, daß er am 19. 7. 03 bei 
K. einen typischen epileptischen Anfall mit Pupillenstarre, Bewußtlosig¬ 
keit, Zuckungen, Zungenbiß beobachtet hat. Nach einer halben Stunde 
sei das Bewußtsein zurückgekehrt, mehrere Tage danach haben noch un¬ 
regelmäßige Zuckungen im rechten Arm bestanden. Während der Straf¬ 
haft in W. wurde K. oft wegen Verdauungsstörungen, Herzbeschwerden 
und verschieden lokalisierten Schmerzen behandelt. Die Akten enthalten 
mehrere ärztliche Berichte über den Angeschuldigten. Dr. St. berichtet, 
daß er von 1894 bis 1898 Hausarzt bei ihm war, er habe ihn mehrmals 
wegen Erkältungs- und Verdauungsstörungen behandelt, er habe damals 
den K. für psychisch defekt gehalten und, gestützt auf das Zeugnis der 
meisten damaligen Geschäftsleute in W., ihn für einen krankhaften Re¬ 
nommisten und Krakeeler angesehen; damals sei K. bei Beteiligung an 
«ler Radfahrerrekordbewegung ein Stück mit der Eisenbahn gefahren und 
habe dann mit der geradelten Strecke geprahlt. Durch leichtsinnige Aus¬ 
stellung von Wechseln und phantastische Einkäufe habe K. damals 
vielfach Beweise seines geistigen Defektes gegeben. 

Nach der Krankengeschichte des städtischen Krankenhauses Sankt 
Jakob in L. wurde der Angeschuldigte dort vom 23. bis 30. 12. 05 wegen 
Herzbeschwerden behandelt. Nach der Krankengeschichte des Militär- 
lazaretts W. wurde er dort 1891 wegen katarrhalischen Fiebers und Herz¬ 
leidens behandelt und wegen chronischen Herzleidens für dienstunbrauch¬ 
bar erklärt. Dr. G. hat am 14. 10. 13 angegeben, daß der Angeschuldigte, 
den er seit 1911 kenne, auf ihn einen sehr nervösen, leicht erregbaren 
Eindruck gemacht habe. 


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Hans Seelert. 


Der als Zeuge vernommene Vater des K. hat angegeben, daß sein 
Sohn als Kind Masern gehabt habe, daß er, 2 Jahre alt, auf den Kopf 
gefallen sei, daß er im allgemeinen an Körper und Geist gesund gewesen 
sei. nur eine Art Größenwahn gehabt habe. Der Bruder gab an, daß er 
im Alter zwischen 22 und 26 Jahren eines Nachts durch Unruhe seines 
Bruders, des Angeschuldigten, aus dem Schlaf geweckt worden sei und 
ihn darauf mit Schaum vor dem Munde besinnungslos im Bett gefunden 
habe. 

Weiter ist von diesen beiden Zeugen angegeben worden, daß die 
Mutter des Angeschuldigten an Migräneanfällen, bei denen sie manchmal 
irre gesprochen habe, gelitten habe, auch deren Geschwister und Vater 
sollen daran gelitten hab.*n. Ein Bruder des Vaters soll Trinker gewesen 
sein: nach Aussage des Wilhelm K. ist ein Bruder des Vaters duch Selbst¬ 
mord gestorben. 

Am 23. 8. 13 und II. I. 14 hat Medizinalrat St. über den Angeschuldig¬ 
ten Gutachten erstattet, ln beiden stellte er den Antrag aus § 81 StPO, 
und wies auf die ungewöhnliche Yielgeschäftigkeit, die Neigung zuin Mi߬ 
trauen und Querulieren des K. hin. Über die Haftfähigkeit des K. hat 
am 30. 10. 13 Medizinalrat H. ein Gutachten abgegeben, in dem er aus- 
fiihrte. daß die Beschwerde des K. an den Untersuchungsrichter nicht 
der Wahrheit entspreche: der Gesamtzustand des L. sei nicht derartig, 
daß die Haftfähigkeit aufgehoben wäre. 

Auf Anordnung des Gerichtes wurde der Angeschuldigte zur Vor¬ 
bereitung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand in die psychiatrische 
und Nervenklinik der Königlichen Charitö gebracht. 

Die Angaben, die K. hier in der Klinik machte, stimmen inhaltlich 
überein mit seinen Äußerungen bei den Vernehmungen und mit dem 
Inhalt seiner zahlreichen bei den Akten befindlichen Schriftstücke. Über 
seinen Gesundheitszustand und sein Vorleben gab er in Bestätigung und 
Ergänzung zu dem aus den Akten Angeführten an, daß er während der 
Schulzeit mehrmals an Gelenkrheumatismus gelitten habe. Als größeres 
Kind und auch später nach der Militärzeit habe er eine Zeitlang oft Bett¬ 
nässen gehabt; seit der Kindheit habe er oft Nasenbluten gehabt. Im 
Alter von 7 oder 8 Jahren habe er versucht, sich die Pulsadern aufzu¬ 
schneiden; er nehme jetzt an, daß es nach Alkoholgenuß gewesen sei; mit 
Nachbarskindern habe er öfters große Mengen Alkohol zu sich genommen, 
so daß er öfter bewußtlos aufgefunden und nach Hause gebracht worden 
sei. Als Kind sei er aus einem ersten Stockwerk gefallen und bewußtlos 
nach Hause gebracht worden; auch später habe er noch Unfälle gehabt. 
Nach der Militärzeit sei es öfters vorgekommen, daß er nachts nicht 
schlafen konnte, eine innere Unruhe spürte; nach den Angaben der Ange¬ 
hörigen sei er nachts umhergegangen, wofür ihm nachträglich die Er¬ 
innerung fehlte. Im Anschluß an den von dem Bruder beschriebenen, 
vor seiner Militärzeit aufgetretenen nächtlichen Anfall sei er eine Zeitlang 


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Zur Pathologie des Quernlantenwahnes. 


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krank gewesen, habe die Arbeit aussetzen müssen. Im Alter von 18 Jahren 
habe er eine Geschlechtskrankheit gehabt. 

1903 sei ein plötzlicher Anfall mit danach mehrere Wochen lang be¬ 
stehender Lähmung des linken Armes und linken Beines aufgetreten, 
auch das Sprechen sei eine Zeitlang erschwert gewesen; eine längere Zeit 
nach dem Anfall sei sein Gedächtnis schlecht gewesen. Seitdem habe er 
oft Beschwerden; anfallweise trete eine vorübergehende Schwäche im 
linken Arm und Bein auf. Im März 1913 sei er in der Haft in London 
bewußtlos niedergefallen, im Anschluß daran sei wieder die linksseitige 
Schwäche vorhanden gewesen; der letzte Anfall von linksseitiger Lähmung 
sei im Oktober in der Haft gewesen. Seit länger als 10 Jahren leide er mit 
wochenlangen Unterbrechungen an Kopfschmerzen, auch jetzt mitunter 
an stechendem Schmerz in der Herzgegend mit Beklemmungsgefühl. Sein 
Gedächtnis, seine Merkfähigkeit sei etwa seit 1905 nicht mehr so gut wie 
früher, er müsse sich jetzt immer Notizen machen. 

In der Volksschule habe er leicht gelernt, aber keine Lust dazu gehabt. 
2 Jahre habe er in Leipzig die Handelsschule besucht, seine kaufmännische 
Ausbildung bei seinem Onkel und in einer Generalagentur der Hamburg- 
Amerikanischen Paketfahrt-Gesellschaft erhalten. Mit seinen Familien¬ 
angehörigen habe er öfter Differenzen gehabt. 1894 habe er geheiratet, 
habe 5 gesunde Kinder, mehrmals habe seine Frau zwischen den Geburten 
der Kinder Fehlgeburten gehabt. 

Ausführlich schilderte er seine geschäftlichen Unternehmungen. 
1888 bis 1892 sei er im Geschäft des Vaters tätig gewesen. Da er mit seinem 
Bruder oft in Streit geriet, habe er dann ein eigenes Fahrradgeschäft ange¬ 
fangen. Durch große Vertrauensseligkeit beim Einkauf und leichte Kredit¬ 
gewährung beim Verkauf sei er in Schwierigkeiten gekommen, die zum 
Konkurs führten. In L. habe er dann nochmals ein neues Geschäft ange¬ 
fangen, auch bei diesem sei er wieder in Schwierigkeiten geraten. Etwa 
1899 habe er angefangen, Geldgeschäfte zu machen. Zunächst habe er 
versucht, eigene Erfindungen, Patente pekuniär auszunutzen, unter anderem 
die Herstellung von Steinholz, die Durchführung von Marineschauspielen, 
von Unterseebahnen, ein Verfahren zur Übertragung von Druckbildern 
und Photographien, die Finanzierung einer elektrischen Schreibmaschine, 
eines pneumatischen Schreibapparates, eines Bierschnellbrauverfahrens, 
eines Schnellgerbverfahrens, einer neuen Drehbank, eines Mittels gegen 
Ausfluß der Frauen und vieler anderer Erfindungen. Bei diesen Unter¬ 
nehmungen habe er zum Teil Vorversuche auf eigene Kosten anstellen 
lassen, habe Reisen auf eigene Kosten unternommen. Manchmal habe es 
sich herausgestellt, daß die praktische Durchführbarkeit nicht so möglich 
war, wie sie gedacht war. Mitunter sei er mit den Erfindern in Differenzen 
geraten. Das Patent der Unterseebahnen habe er 10 Jahre aufrechterhalten, 
habe Gesellschaften gegründet zu seiner finanziellen Durchführung. Die 
Idee, die seinem Crödit mobilier zugrunde liegt, sei die, das auf Sparkassen 


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Hans Seelert. 


deponierte Geld dem Bankverkehr zugänglich zu machen, dieses Problem 
habe er theoretisch ausgearbeitet. Durch das Mißlingen seiner Pläne habe 
er viel Zeit verloren. Gescheitert seien sie an den Angriffen gegen ihn. 
Die Auskunftei Sch. habe ihn stets ganz falsch beurteilt, habe behauptet, 
daß seine Pläne nicht durchführbar wären, ohne es zu wissen. Die Aus¬ 
kunftei hätte ein Interesse daran, ihm zu schaden; er habe sie scharf an¬ 
gegriffen, habe ihr eine falsche Auskunft nachgewiesen. 

Auch jetzt noch sei er von der finanziellen Durchführbarkeit vieler 
seiner bis jetzt erfolglos gebliebenen Pläne überzeugt. Er habe stets das 
Bestreben gehabt, viel Geld zu verdienen, auch andere Ziele scheinen ihm 
verlockend; so wären, wenn die Marineschauspiele gelungen wären, alle 
Beteiligten groß geworden, hätten außer dem pekuniären Erfolg Titel und 
Orden erhalten. Daß er die Baupläne, die er in Wien vorhatte, nicht durch¬ 
geführt habe, ärgere ihn heute noch; was ihn davon abgehalten habe, 
wisse er heute nicht mehr. Auch jetzt halte er sich für einen reichen Mann, 
wenn er auch augenblicklich kein Geld zur Verfügung habe. Er brauche 
nur zu bekommen, was ihm zustehe, ln seinem Bergwerk M. stecke Kapital; 
die Ansichten der Sachverständigen seien über den Wert eben verschieden. 
Er habe jetzt eine Menge Zivilprozesse, von deren für ihn günstigem Aus¬ 
gang sei er überzeugt. 

Seine Beschuldigungen gegen das Gericht hält er weiter aufrecht. 
Bei der psychiatrischen Untersuchung kam heraus, daß bei K. jetzt eine 
ausgesprochene Neigung zp systematisierender Verknüpfung seiner un¬ 
angenehmen Erlebnisse und deren kausalen Mißdeutungen besteht. 

Der Untersuchungsrichter C. habe jetzt seine Sache nicht unpar¬ 
teiisch geführt. Er habe mit ihm nie etwas persönlich gehabt; dieser 
Richter habe ihn vielmehr persönlich immer sehr gut behandelt. Er glaube 
aber, daß C. durch den Untersuchungsrichter W. gegen ihn beeinflußt 
worden sei. ln früheren Prozessen habe er mit diesem Differenzen gehabt. 
1911 habe er von W. eine Vorladung erhalten, habe geschrieben, er sei 
krank und könne nicht kommen. Daraufhin habe der Untersuchungs¬ 
richter sein Hauspersonal darüber vernommen, ob er krank gewesen sei. 
Das habe ihn geärgert; er sei gleich, als er es erfahren hatte, aufs Gericht 
zu W. gegangen, habe ihn zur Rede gestellt und ihm ein paar Ohrfeigen 
angeboten. Für ihn liege eine Bestätigung für seine Annahme, daß Unter¬ 
suchungsrichter C. beeinflußt worden sei, darin, daß er Anträge stellen 
konnte, wie er wollte, sie wurden abgelehnt. Daß er eine falsche Auf¬ 
fassung von den Paragraphen habe, sei ganz ausgeschlossen. Er habe 
die Erfahrung gemacht, daß ein Jurist immer den andern unterstützt. 
Die Richter hätten sich bestechen lassen, daß Verfahren gegen Personen 
eingestellt wurden; wären sie durchgeführt worden, so wäre er fein heraus¬ 
gewesen. Dieses wisse er aus Mitteilungen ihm befreundeter Richter, 
die er bis jetzt noch nicht verwertet habe, weil er die Herren nicht blo߬ 
stellen wolle. Als K. weiter über die Entstehung dieser Ansicht gefragt 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


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wurde, erklärte er, aus Richterkreisen wisse er nur, daß die Vorunter¬ 
suchungen gegen andere eingestellt wurden, um ihnen gefällig zu sein, und 
fügte dann hinzu: „die Schlußfolgerung liegt sehr nahe“, weil der eine 
Staatsanwalt von den betreffenden ein guter Freund sei. Im Leipziger 
Prozeß 1905 sei nachträglich das Protokoll gefälscht worden. Der Vor¬ 
sitzende habe ein Interesse daran gehabt, alle Revisionsgründe aus dem 
Protokoll zu entfernen, damit sein Urteil nicht über den Haufen geworfen 
werde. Um seine Behauptung zu bekräftigen, erklärte K., er habe das 
Protokoll gelesen und sich nachher Notizen gemacht, ein Irrtum von ihm 
sei daher ausgeschlossen. Er habe damals eine Beschwerde ans Reichs¬ 
gericht aufgesetzt, sei aber Tag und Nacht vom Gericht bearbeitet worden, 
sie zurückzunehmen, was er auch schließlich getan habe, weil man ihm Tag 
und Nacht keine Ruhe gelassen habe. Auf seine Beschwerden ans Mini¬ 
sterium gegen einen'Richter sei entschieden worden, daß nur ein Versehen 
des Gerichtsschreibers vorliege; auch da könne er nur sagen, „ein Jurist 
stützt den andern“. 

Daß seine weiteren Prozesse zu seinen Ungunsten entschieden 
werden, das werde den Herren nicht gelingen, seine Beweismittel ließen sich 
dieses Mal nicht beseitigen; er sei überzeugt, daß er freigesprochen werde. 
Er glaube, daß jetzt alles vom Untersuchungsrichter W. ausgehe. Er habe 
zu viel Erfahrungen gemacht mit dem Gericht; die ganze Treiberei gegen 
ihn sei schon in Leipzig losgegangen, „da greift eins ins andere“. Er habe 
überall Gegner, Auskunftei, Gericht, Polizei. In allem, was er machte, 
habe man eine betrügerische Absicht gesehen. 

Von der Ehefrau des K. wurde uns angegeben, daß seine Neigung 
zu Mißtrauen hauptsächlich bei den gerichtlichen und geschäftlichen An¬ 
gelegenheiten zum Ausdruck gekommen sei. Er sei stets ein lebenslustiger, 
vergnügter, sehr arbeitsamer Mensch gewesen, auch nachts habe er viel 
gearbeitet, sich mit der Ausarbeitung seiner vielen Geschäftspläne be¬ 
schäftigt, manchmal habe er 3 bis 4 Nächte hintereinander kaum geschlafen. 
Kritiklos und leichtgläubig sei er bei seinen Unternehmungen und Geld¬ 
verleihungen gewesen, habe seine geschäftliche Leistungsfähigkeit über¬ 
schätzt. Trotz seiner Vielgeschäftigkeit und Arbeit habe er oft nicht 
so viel Geld gehabt, daß die Familie damit auskommen konnte. Er habe 
durch seine Unternehmungen viel Geld verloren, sei ausgenutzt worden von 
Andern. Über seine geschäftlichen Mißerfolge sei er stets leicht hinweg¬ 
gekommen, habe sie sich durch äußere Gründe zu erklären versucht, nie 
Einsicht für seine ungenügende Erfahrung in einzelnen Gebieten gehabt; 
gegen Einwendungen und Vorhaltungen seiner Angehörigen sei er ab¬ 
weisend und einsichtslos gewesen. Ein leicht erregbarer Mensch sei er 
stets gewesen; in den letzten 3 bis 4 Jahren habe sich jedoch eine Steige¬ 
rung der affektiven Erregbarkeit und ein Nachlassen der Merkfähigkeit 
bemerkbar gemacht. 

In der Art, wie K. seine geschäftlichen Beziehungen und Unterneh- 


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Hans Seelert, 


mungen schildert, wie er von seinen Vermögensangelegenheiten spricht, 
kommt zum Ausdruck, daß er fest überzeugt ist, eine bedeutende geschäft¬ 
liche Begabung, Erfahrung und Leistungsfähigkeit zu besitzen. Immer 
wieder betonte er, daß er an der finanziellen Durchführbarkeit seiner Pläne 
nicht zweifle, daß er keine Bedenken gegen die Richtigkeit seiner theo¬ 
retischen Ausarbeitung habe. Auf alle Einwände, die ihm bei der Unter¬ 
suchung gemacht wurden, wußte er zu erwidern. Auch die Tatsache, 
daß er mit seinen Unternehmungen bis jetzt stets Mißerfolge gehabt habe, 
ist nicht geeignet, seine Überzeugung einzuschränken, seine Ansichten zu 
korrigieren. Den Widerspruch, der in dem Mißlingen seiner Unternehmun¬ 
gen und in seiner hohen persönlichen Einschätzung liegt, sucht er sich 
dusch die Annahme zu erklären, daß die Ursache für das Mißlingen nicht 
in seiner Person, sondern in den äußeren Verhältnissen liege. Mit dem 
gleichen Ausdruck fester Überzeugung äußerte er seine Ansicht von dem 
pekuniären Wert seiner vollendeten Pläne, seine Erwartungen von dem 
Ausgang seiner Zivilprozesse und vor allem seine Beeinträchtigungsvor¬ 
stellungen gegen Untersuchungsrichter und Gericht. Seine feste Über¬ 
zeugung von einem für ihn günstigen Ausgang der Prozesse und von einer 
dadurch bedingten Besserung seiner Situation hat eine auffällige Sorg¬ 
losigkeit gegenüber seiner Zukunft zur Folge. Dementsprechend war auch 
seine Stimmungslage während der klinischen Beobachtung und bei jeder 
Untersuchung. 

Seine sprachliche Schilderung ist sachlich und zeigt nichts, das auf 
einen krankhaften Gedankenablauf hinweist. Intellektuelle Störungen 
bestehen nicht, auch Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit waren bei der 
Prüfung gut. 

Die körperliche Untersuchung ergab folgenden Befund: K. ist 
mittelgroß, mittelkräftig, befindet sich in ausreichendem Ernährungszu¬ 
stand; sein Körpergewicht beträgt 65,5 kg. Die Herztöne sind leise, aber 
rein, der Puls zeigte hier in der Klinik nichts Abnormes. An Brust- und 
Bauchorganen wurden krankhafte Veränderungen nicht nachgewiesen. 
Der Harn war frei von Eiweiß und Zucker. 

Die Pupillen sind mittelweit, gleich, reagieren gut auf Licht und bei 
Einstellung der Augen für die Nähe. Es besteht Kurzsichtigkeit. Der 
Augenhintergrund zeigt nichts Krankhaftes. Die Bewegungen der Augen, 
Gesichtsmuskeln und der Zunge sind ungestört. Eine Sprachstörung be¬ 
steht nicht. Die Muskelspannung ist in Armen und Beinen normal, auf 
beiden Seiten gleich. Die Kraftleistungen sind gut; die geringe Differenz 
der Kraftleistungen des linken Armes gegenüber der des rechten liegt 
innerhalb des normalen Unterschiedes. Die Willkürbewegungen der 
Zehen sind links etwas schwerfälliger als rechts, sonst bestehen keine Be¬ 
wegungsstörungen. Die Sehnenreflexe und Knochenhautreflexe der Arme 
rechts und links sind gleich. Die Bauchdeckenreflexe sind vorhanden. 
Die Kniesehnenreflexe und Achillessehnenreflexe sind vorhanden, gleich 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


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auf beiden Seiten. Mehrmals wurde links der Oppenheims che Zehenreflex 
beobachtet. Die Berührungs- und Stichempfindlichkeit der Haut sowie 
die Bewegungsempfindlichkeit in Finger- und Zehgelenken ist ungestört. 

Die Reaktion des Blutes nach Wassermann war bei zweimaliger 
Untersuchung negativ, auch die gleiche Reaktion der Hirnrückenmarks¬ 
flüssigkeit war negativ; in dieser wurde eine abnorme Vermehrung der 
Zellen nachgewiesen, ihr Eiweißgehalt war nicht erhöht. 

Zusammenfassung und Gutachten.—Aus dem umfangreichen 
Aktenmaterial und dem Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung geht 
hervor, daß bei K. eine sfbnorme psychische Konstitution vorliegt. Die 
wesentlichen Merkmale seiner psychischen Persönlichkeit sind sein ab¬ 
normes Selbstbewußtsein und der abnorme Einfluß, den dieses in seinem 
Seelenleben hat. Es kommt das nicht nur zum Ausdruck in der Art 
seiner spekulativen Geschäftsunternehmungen und in seinen phantastisch 
großzügigen Plänen, die er in der Überzeugung von seiner Leistungs¬ 
fähigkeit angefangen hat, sondern vor allem in seiner für derartig psycho¬ 
pathisch veranlagte Menschen charakteristischen Reaktionsweise auf 
Schwierigkeiten, die ihm bei der Betätigung im Sinne der abnormen 
Selbsteinschätzung entgegentreten. 

Infolge seines abnorm hohen Selbstgefühls sieht er die Ursache für 
das Mißlingen seiner Unternehmungen nicht in seiner eigenen Person, 
sondern in den äußeren Verhältnissen, daher sind seine zahlreichen ge¬ 
schäftlichen Mißerfolge nicht geeignet gewesen, ihn in seiner kritiklosen 
Unternehmungslust zu hemmen. Einen gleich starken Einfluß hat die 
abnorme Betonung der Persönlichkeitsvorstellungen des K. auf seine Ge- 
danlfengänge, die sich auf das jetzt schwebende und die früheren Straf¬ 
verfahren beziehen. Die Akten und seine Angaben bei der Untersuchung 
in der Klinik enthalten reichliches Beweismaterial dafür, daß es in diesen 
Zusammenhängen bei ihm zu pathologischen Mißdeutungen gekommen 
ist. Eine Steigerung dieser abnormen psychischen Vorgänge liegt in 
der stark ausgeprägten Neigung zu systematisierender Verknüpfung seiner 
Erlebnisse und Mißdeutungen. 

Aus seinen Schreiben geht deutlich hervor, wie sich bei ihm immer 
mehr und mehr die Überzeugung unrechtmäßiger Behandlung durch das Ge¬ 
richt ausgebildet hat, wie sie immer stärker in denVordergrund seinesBewußt- 
seins getreten ist, wie der Kreis der damit verbundenen Vorstellungen 
immer größer geworden und wie es schließlich zu Mißdeutungen früherer 
unangenehmer Erlebnisse gekommen ist. Bei der abnorm starken AfTekt- 
betonung seiner Beeinträchtigungsvorstellungen genügt die Tatsache, 
daß er mit seinen vielen Beschwerden an das Gericht immer wieder abge¬ 
wiesen wird, zu der Schlußfolgerung, daß die Richter gegen ihn gestimmt 
seien, daß sie ihn absichtlich benachteiligen wollen, daß ein Richter durch 
den andern dazu veranlaßt sei, weil er nicht gegen seine Kollegen handeln 
Zeitschrift für Psychiatrie LXXIII. 4. 24 


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Hans Seelert, 


wolle. Die pathologische systematisierende Verknüpfung seiner in gleicher 
Weise unangenehmen Erlebnisse kommt hierin klar zum Ausdruck. 

Das Pathologische liegt nicht darin, daß K. als Angeschuldigter 
sich unrechtmäßig benachteiligt fühlt, sondern es liegt in der Intensität, 
mit der die Benachteiligungsvorstellungen sein Seelenleben beherrschen; 
erst diese führt zur Ausbildung der paranoischen Denkweise, die wir bei 
K. jetzt finden. 

« Es handelt sich hier nicht um eine paranoische Geisteskrankheit, 
sondern um die charakteristische Reaktionsweise eines psychopathischen, 
paranoisch veranlagten Menschen auf äußere. Schwierigkeiten. Daher 
sehen wir auch, daß mit der Haft und mit der Fortdauer der Haft die para¬ 
noischen Erscheinungen immer stärker zum Ausdruck kommen. 

Diflerentialdiagnostisch war zu erwägen, ob vielleicht eine manische 
Erkrankung mit paranoischen Symptomen vorliegt; das ist aber nach dem 
Ergebnis der Untersuchung nicht anzunehmen. 

Daß die psychopathische Veranlagung des K. nicht etwa erst jetzt 
während der schwebenden Strafverfahren zum Ausdruck gekommen ist, 
sondern daß sie schon in der Jugend vorhanden war und in Erscheinung 
trat, geht aus den Aussagen seines Vaters und Bruders hervor, und wird 
weiter bestätigt durch das Zeugnis des Dr. St. über das Benehmen des K. 
in der Zeit von 1894 bis 1898. Weitere, wenn auch andersartige Symp¬ 
tome psychopathischer Veranlagung sind bei dem Angeschuldigten der 
von seinem Bruder angeführte nächtliche Anfall mit daran anschließender 
Gesundheitsstörung. Auch seine eigenen Angaben, daß er als größeres 
Kind und noch später eine Zeitlang an Bettnässen gelitten habe, daß er 
nach Angabe seiner Angehörigen somnambule Zustände gehabt haben soll, 
weisen nach den ärztlichen Erfahrungen auf psychopathische Veranlagung 
hin. Es erscheint uns daher nicht zweifelhaft, daß die psychopathische 
Veranlagung des K. schon in der Jugend zum Ausdruck gekommen ist; 
seine wohl vorhandene gute intellektuelle Veranlagung spricht nach 
psychiatrischen Erfahrungen nicht dagegen. 

Das Vorkommen von Geistesstörungen bei den Verwandten seiner 
Eltern und die zum Teil schon in der Kindheit erlittenen Unfälle mit an¬ 
schließender Bewußtlosigkeit können vielleicht in ursächlicher Beziehung 
zur abnormen psychischen Veranlagung stehen. 

K. hat nun ferner, wie auch ärztlich von Dr. S. bestätigt wird, seit 1903 
Anfälle gehabt, die mit einseitigen Lähmungen einhergegangen sein sollen. 
Nach dem Zeugnis des Dr. S. von 1905 ist anzunehmen, daß diese organisch 
bedingte Anfälle waren. Der jetzt beobachtete linksseitige Oppenheimsche 
Zehenreflex und die Erschwerung der Bewegung der linken Zehe sind als 
ein Rest einer organischen Störung im Nervensystem anzusehen. Auch 
die Vermehrung der Zellen in der Hirnrückenmarksflüssigkeit weist auf 
pathologische organische Vorgänge im Nervensystem hin. Wie diese An¬ 
fälle klinisch zu deuten sind, hat sich jetzt nicht entscheiden lassen. 


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Zur Pathologie des Querulantenwahnes. 


337 


Auf körperlichem Gebiet wurden ferner abnorm leise Herztöne 
festgestellt, die mit dem früher konstatierten Herzleiden Zusammenhängen 
werden. 

Für die Frage der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit des K. 
ist zu berücksichtigen, daß die Zeichen psychopathischer Veranlagung bei 
ihm sehr schwerwiegende sind, und der große Einfluß, den die Merkmale 
dieser Veranlagung, das abnorme Selbstgefühl und die paranoische Denk¬ 
richtung, auf seine Handlungsweise ausüben. Die abnormen psychischen 
Erscheinungen sind bei ihm so hochgradig, daß sie einer Geistesstörung 
im Sinne des § 5t StGB, gleich zu erachten sind. 

Wir geben daher unser Gutachten dahin ab, daß der Angeschuldigte 
K. sich zur Zeit der Begehung der ihm zur Last gelegten strafbaren Hand¬ 
lungen im Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch den 
die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, befunden hat. 

Vom 19. 4. 14 bis 20. 7. 14 war K. in der Irrenanstalt Herzberge 
und vom 20. 7. 14 bis 1. 5. 15 in der Landesirrenanstalt Landsberg a. W. 
Die Aufnahme in die Anstalt erfolgte auf polizeiliche Anordnung. K. betrieb 
durch Beschwerde beim Polizeipräsidenten und Eingaben an den Minister 
seine Entlassung. Gegen ablehnenden Bescheid des Oberpräsidenten 
strengte seine Ehefrau, die als Pflegerin eingesetzt war, die Klage beim 
Oberverwaltungsgericht an. Mit Zustimmung der Polizei wurde K. aus 
der Anstalt entlassen. — Am 10. 5. 16 kam er auf Aufforderung zur Nach¬ 
untersuchung in die Klinik. Nach Angabe der Ehefrau hat sich sein Zu¬ 
stand nicht geändert. Regelmäßige Arbeit hat K. nicht, zurzeit be¬ 
arbeitet er eine Prozeßsache einer kaufmännischen Firma. Er selbst 
führt eine Anzahl Zivilprozesse, die sich schon lange hinziehen. An seinen 
früher geäußerten Beeinträchtigungsvorstellungen hält er auch jetzt fest. 
Er glaube auch heute noch, daß seine Sache nicht unparteiisch geführt 
werde, daß der Untersuchungsrichter C. gegen ihn sei. Er hat sich mit 
diesem Urteil abgefunden, keine weitere Konsequenzen daraus gezogen, 
seine Beeinträchtigungsvorstellungen auch nicht weiter ausgedehnt. Wie 
zur Zeit der Beobachtung vor zwei Jahren ist auch jetzt seine Grundstimmung 
eine sorglose Euphorie. Das Schwächegefühl im linken Arm und Bein 
soll auch jetzt noch zuweilen auftreten. Bei der körperlichen Untersuchung 
fand sich auch jetzt linksseitiger Oppenheimscher Reflex, sonst aber nichts 
Pathologisches. 

Daß sich das psychische Bild dieses Mannes von der zuerst beschrie¬ 
benen Erkrankung des L. wesentlich unterscheidet, ergibt sich aus dem 
Gutachten. Während der Querulantenwahn in dem ersten Falle eine 
im höheren Lebensalter einsetzende und wieder abheilende Krankheit 
darstellt, ist hier der Symptomenkomplex vom Charakter des Queru- 

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Haas Seelert, 


lantenwahns eine besondere Phase in dem Leben eines von jeher durch 
sein psychisches Verhalten auffällig gewordenen Menschen. 

Bei L. konnten wir die Diagnose einer manischen Verst immung 
mit paranoischen Symptomen stellen. Zweifellos bestehen auch bei K. 
manche pathologischen Züge, die an Eigenarten manischer Kranken 
erinnern. Sein abnormes Selbstbewußtsein, seine renommistischen 
Prahlereien, seine Vielgeschäftigkeit. seine phantastischen, spekulativen 
Unternehmungen, seine Unbelehrbarkeit durch zahlreiche geschäft¬ 
liche Mißerfolge, seine durch nichts beeinflußbare Sorglosigkeit gegen¬ 
über seiner Situation und seiner Zukunft, alles das sind psychische 
Eigentümlichkeiten, die wir gerade bei manischen Kranken finden, 
sie haben al»er nicht den Wert klinischer Elementarsymptome, die zur 
Diagnose manischer Erkrankung oder manischer Konstitution zwingen. 
Immerhin werden wir uns der Überzeugung nicht ganz entziehen können, 
daß in der Charakteranlage des K. Elemente enthalten sind, die in dem 
Boden endogener manischer Veranlagung wurzeln. Dem Komplex 
der manischen Elementarsymptome, der Ideenflucht, der assoziativen 
Ablenkbarkeit, dem erleichterten Ablauf der motorischen Reaktionen 
und der euphorischen Stimmung stehen die erwähnten Charakter¬ 
eigentümlichkeiten jedenfalls recht nahe. Die Tatsache, daß sie von 
Jugend an in Erscheinung getreten sind und sich durch das ganze 
lieben hindurchziehen, gibt keinen Anlaß, ihre manische Grundlage m 
leugnen. 

Trotzdem können wir das psychische Charakterbild des K 
rieht als manisches bezeichnen, denn mit der Annahme einer 
chronisch-manischen Konstitution ist es nicht geklärt und nicht 
erschöpft. Neben den Charaktereigenarten, die manischer Natur 
sein können, treten bei ihm noch psychopathologische Erschei¬ 
nungen anderer Grundlage hervor. Neben dem abnorm hohen 
Selbstbewußtsein mit Neigung zu kritikloser Überschätzung der 
persönlichen Fähigkeiten besitzt K. eine große Leichtigkeit, sich 
im Sinne dieses Selbstgefühls einer Situation anzupassen, sich in sie 
einzuleben und sich aktiv in ihr zu betätigen. Er erinnert in dieser 
Beziehung an pathologische Schwindler, die eine große Fähigkeit des 
Anpnssons und Einlebens in die Situation haben. Die Art, wie K. 
im Geschäftsverkehr auftrat, seine zahlreichen, zum Teil phantasti- 


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jagten ICHIGAN 



Zur Pathologie des Qnernlantenwahnes. 


339 


sehen Finanz- und Erfinderprobleme erscheinen geradezu als ein Pro¬ 
dukt von Pseudologia phantastica. Die Symptome organischer 
Grundlage, die 1903 zuerst aufgetreten sein sollen, scheinen keinen 
Einfluß auf die psychischen Erscheinungen gehabt zu haben. 

Wir sehen so in der psychopathischen Konstitution des K. 
nebeneinander Elemente, die wir als manische auffassen können, 
und andere, die wir als charakteristische Eigenarten der pathologischen 
Schwindler kennen. Die Verbindung und Vermischung dieser patho¬ 
logischen Grundzüge ist die hauptsächlichste symptomatologische 
Differenz, die das psychische Bild des K. gegenüber dem auf der Grund¬ 
lage der hypomanischen Konstitution entstandenen Krankheitsbild 
des L. aufweist. Andere auffällige Differenzen zwischen den beiden 
Fällen haben demgegenüber untergeordnete Bedeutung. Der zeitlich 
umgrenzte Verlauf der Erkrankung bei L. und die chronische Dauer 
des abnormen Zustandes bei K. können nicht als zwei nosologisch ver¬ 
schiedene Momente angesehen werden, wenn in beiden Fällen manische 
Elemente nachweisbar sind. Wir werden hier in der durch den Verlauf 
gegebenen Differenz ebensowenig einen nosologischen Unterschied 
sehen können, wie wir einen solchen zwischen akuter manischer Er¬ 
krankung und dauernder manischer Konstitution annehmen. 

Ähnlich unserem Patienten K. ist der eine der von Heübronner *) 
beschriebenen Fälle von Querulantenwahn. Heübronner weist aus¬ 
drücklich auf die Beziehungen seiner Patientin zu dem pathologischen 
Lügner hin und sieht in diesen Beziehungen eine Bestätigung seiner 
Anschauung, daß der habituelle Zustand seiner Kranken ein hysteri¬ 
scher ist. Auf der Grundlage dieses habituellen Zustandes sollen sich 
die Wahnvorstellungen entwickelt haben. Unter den von Siefert *) 
beschriebenen Geistesstörungen der Strafhaft scheinen einzelne Fälle 
der paranoischen Form Charakterzüge pathologischer Lügner zu haben, 
während der von Koppen *) als Querulantenw’ahn bei einem Entarteten 
beschriebene Fall eine manisch-paranoische Erkrankung bei einem 
manisch-depressiv veranlagten Menschen zu sein scheint. Der Kranke 

*) Heübronner, Hysterie und Querulantenwahn. Ztrlbl. f. Nervenhlk. 
u. Psych. 1907. 

*) Siefert, Über die Geistesstörungen der Strafhaft. Halle a. S. 1907. 

*) Koppen, Querulanten Wahnsinn bei einem Entarteten. Charite- 
Annalen 1895. 


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340 Hans Seelert, Zar Pathologie des Qaerulantenwahnes. 

hat mehrmals Depressionen mit depressiv-hypochondrischem Ge- 
dankeninhalt und andern charakteristischen Symptomen gehabt. 

Die Feststellung, daß sich das paranoische Krankheitsbild des 
Querulantenwahnes auf dem Boden der psychopathischen Konstitution 
des Individuums entwickelt hat, genügt nicht, um alle diese Fülle zu 
einer klinischen Gruppe zusammenzufassen und sie von andern, bei 
denen eine pathologische Grundlage vor der Erkrankung nicht hervor¬ 
getreten ist, als klinische Sonderheit abzutrennen, denn der Vergleich 
der Fälle zeigt, daß das Symptomenbild des Querulantenwahnes sowohl 
bei transitorischer manisch-paranoischer Erkrankung wie auch auf 
dem Boden der chronisch manischen oder manisch-depressiven Kon¬ 
stitution vorkommt. Mit den Symptomen der endogenen manisch- 
depressiven Erkrankung kommen, wie wir wissen, häufig Symptome 
anderer pathologischer Grundlage, namentlich hysterische, vor. Bei 
unserem Patienten K. haben wir die keineswegs vereinzelte Beob¬ 
achtung machen können, daß mit Charaktereigentümlichkeiten mani¬ 
scher Art solche der pathologischen Schwindler kombiniert sind. 

Wieviel Vermischung von Symptomen verschiedener Pathogenese 
dazu beiträgt, daß einzelne Fälle von Querulantenwahn als klinisch 
verschiedenartige Krankheitsbilder erscheinen, wird sich ohne ein¬ 
gehende Untersuchung und Vergleichung einer größeren Zahl Kranker 
nicht entscheiden lassen. Zu berücksichtigen ist, daß Unterschiede in 
der Intensität des Affektes und der Affektreaktionen gerade bei para¬ 
noischen Zuständen auf die Gestaltung des Symptomenbildes von 
großem Einfluß sind; die Wahnbildung und die Wahnhandlungen 
stehen in enger Beziehung zur Affektintensität. Nur der genaue Ver¬ 
gleich einer größeren Zahl von Patienten wird hier zum Ziel führen. 
In den Fällen, in denen es nicht gelingt, die psychopathologischen Er¬ 
scheinungen hinsichtlich ihrer nosologischen Bedeutung zu klären, 
wird man sich mit der Unmöglichkeit, die pathologische Grundlage 
des Querulantenwahns zu bestimmen, zunächst einmal abfinden 
müssen. Die Diagnose des Querulantenwahns ist keine Krankheits-, 
sondern eine Zustandsdiagnose. Die nosologische Klärung der Fälle 
von Querulantenwahn wird erschwert durch die Seltenheit, mit der 
diese Krankheitsbilder zur psychiatrischen Untersuchung und Beob¬ 
achtung kommen und durch den dadurch verursachten Mangel an 
ausreichendem, einheitlich beobachtetem Vergleichsmaterial. 


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Die Weiterentwicklung weiblicher Pflege auf 
Männerabteilungen der Irrenanstalten, mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der im Königreich 
Sachsen gemachten Erfahrungen. 

Von 

Oberarzt Dr. Arnemann, Hubertusburg. 

Unter dem Titel: „Über weibliche Pflege auf der Männerabteilung 
der Königlich Sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß bei 
Colditz“ hat im Herbst 1914 der damalige Direktor dieser Anstalt, 
der jetzige Vortragende Rat im Königlichen Ministerium des Innern, 
Herr Geheimer Medizinalrat Dr. Hösel eine größere Arbeit veröffent¬ 
licht 1 ). In derselben berichtet er über die Erfahrungen, welche er 
seit dem Jahre 1913 gemacht hat, d. h. seitdem in Zschadraß grund¬ 
sätzlich und in größerem Umfange die Pflege der männlichen Kranken 
weiblichen Personen übertragen wurde. 

Um sein Unternehmen von vornherein nicht zu gefährden, war er 
mit der Auswahl der Kranken sehr vorsichtig vorgegangen. Es wurde 
zunächst ein Haus für hinfällige und sieche Kranke, ein Haus für ruhige 
Männer der Pensions- und der oberen Verpflegklasse und ein Haus für 
ruhige arbeitende Kranke der unteren Klasse zur Schwesternpflege heran¬ 
gezogen. Auch bei der Auswahl des weibüchen Personals wurde mit der 
größten Vorsicht verfahren und dabei der Grundsatz aufgestellt: Das beste 
Persona] der Frauenabteilung ist gerade gut genug. 

Da der erste Versuch in jeder Beziehung gelang, wurden allmählich 
immer mehr Häuser in den Bereich des neuen Systems gezogen, vor allem 
Häuser mit halbruhigen und sicherungsbedürftigen Kranken. Schließlich 
waren von den 12 Krankengebäuden der Männerabteilung mit 500 Betten 
9 Gebäude mit einer Bettenzahl von 300 unter weiblicher Krankenpflege; 
lediglich unter Männerpflege standen je ein Haus für unruhige Männer 
der unteren und oberen Verpflegklasse und die Aufnahme- und Wach¬ 
abteilung (Bettenzahl 200). 

U Ztschr. f. d. ges. Neuro], u. Psych., Orig. XXVII, 2. 


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342 


Arnemann, 


Hösel hat nun eingehend geschildert, welche Vorteile das neue System 
hat und welche Bedenken dagegen geltend gemacht werden können, er hat 
dann dargelegt, in welcher Weise die Durchführung mit Erfolg möglich ist, 
und er kam zu der Erkenntnis, daß die weibliche Fürsorge auf Männer¬ 
abteilungen nicht bloß möglich ist, sondern daß sie eine Verbesserung 
darstellt, geradezu eine Wohltat für die Kranken. Als erfreuliche Neben¬ 
erscheinung ergab sich, daß auch auf wirtschaftlichem und finanziellem 
Gebiet Nutzen erzielt wurde. Hösel faßte seine Erfahrungen in die Worte 
zusammen: „Alles in allem erscheint die Einführung des Systems als ein 
überaus empfehlenswertes Hilfsmittel der Irrenpflege, und der Verf. kann 
nur wünschen, daß die Verpflegart größere Ausdehnung und Anwendung, 
und zwar nicht bloß auf den Siechenabteilungen, erfahren möchte.“ 

Zu diesem Wunsche veranlaßte ihn ganz besonders auch das Resultat 
einer Umfrage, welche er im Juni 1914 an sämtliche öffentliche Irrenan¬ 
stalten Deutschlands und Österreichs mit Ausnahme des Königreichs 
Sachsen gerichtet hatte. Aus den eingegangenen Antworten war zu ersehen 
gewesen, daß wohl hie und da bei siechen oder hinfälligen oder körperlich 
kranken Männern weibliches Personal eingestellt war, daß auch an einzelnen 
Anstalten die wohl in der Hauptsache wirtschaftliche Oberaufsicht in 
weiblichen Händen lag, daß aber eine grundsätzliche Einführung des 
Systems im großen nur an den Kliniken zu München, Würzburg und Kiel 
stattgefunden hatte. 

Bei der Niederschrift seiner oben erwähnten Anregung hat Hösel 
wohl kaum geahnt, daß sein Wunsch sehr bald in Erfüllung gehen 
würde, und wenn nicht der Weltkrieg ausgebrochen wäre, würde es 
sicher sehr, sehr lange Zeit gedauert haben, bis sein bahnbrechendes 
Vorgehen in giößerem Umfange Nachahmung gefunden hätte. Aber 
der Wegfall zahlreicher männlicher Pflegepersonen bei der Mobil¬ 
machung versetzte alle Anstaltsdirektionen in die Notwendigkeit, 
Ersatz zu schaffen. Daß die Frau im allgemeinen die in Männer¬ 
berufen entstandenen Lücken vielfach in überraschender Weise voll 
ausgefüllt hat, ist bekannt, besonders aber hat cs sich gezeigt, daß das 
weibliche Element im Irrenpflegedienst auf Männerabteilungen gut 
abgeschnitten hat, ja, daß es sich so bewährt hat, daß wohl in Zukunft 
in vielen Anstalten mindestens ein großer Teil der Männerabteilungen 
dauernd weiblichem Pflegepersonal anvertraut werden wird. 

Wie einschneidend und umwälzend der Krieg gewirkt hat, zeigt 
eine Durchsicht der irrenärztlichen Jahresberichte; eine kleine Auslese 
mag das beweisen. 

Die Anstalt Herborn, welcher in den ersten 5 Tagen von ihren aus- 


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Weibliche Pflege auf Männ er Abteilungen der Irrenanstalten. 343 


gebildeten 57 Pilgern nur 14 verblieben, und die später auch von diesen 
noch einen Teil verlor, berichtet: „Eis wurden zuerst aushilfweise ruhige 
Kranke zur Pflege mit herangezogen, außerdem meldeten sich, da bei 
Kriegsausbruch hier fast alle Fabriken den Betrieb aufgaben oder ein¬ 
schränkten, zahlreiche militärfreie Personen als Pfleger. Leider waren diese 
nur zum kleinsten Teil brauchbar, und die wenigen brauchbaren gingen 
meist wieder ab, zum Teil freiwillig zur Kriegskrankenpflege, zum Teil 
in die industriellen Werke, als nach einigen Wochen die hiesigen Fabriken 
sich auf Heereslieferungen einrichteten, unter Zahlung hoher Löhne den 
Betrieb wieder aufnahmen und immer weiter verstärkten. Es entstand 
dadurch ein fortwährender Wechsel des Personals, der bis zum 
Schluß des Berichtsjahres (1914) trotz aller Ausschreibungen von Pfleger¬ 
stellen in Zeitungen und trotz der Bemühungen, Kriegsbeschädigte zum 
Pflegerdienst heranzuziehen, zu keinem befriedigenden Abschluß ge¬ 
bracht werden konnte.“ Aus der Anstalt Emmendingen (Baden) wird 
über die Aushilfwärter geschrieben, welche sich aus den Kreisen der nicht 
oder noch nicht Militärpflichtigen sich meldeten: „Der Wechsel war 
groß, es war im ganzen eine sehr minderwertige Hilfe.“ Aus 
der Anstalt Sachsenberg (Mecklenburg) heißt es: „Der Ersatz durch 
angenommene Hilfskräfte blieb dauernd nach Quantität und Qualität 
ungenügend.“ Die Jahresberichte dieser und mancher anderer Anstalten 
erwähnen nichts davon, daß man auf weibliche Pflege zugekommen wäre, 
die meisten Anstalten melden das aber. 

Aus der Anstalt Schleswig (Stadtfeld), welche aushilfweise beur¬ 
laubte Soldaten und außerdem Wärterinnen angestellt hatte, wird über 
das zweite Kriegsjahr berichtet: „Die Einstellung beurlaubter Soldaten 
hat sich auf die Dauer nicht bewährt und mußte größtenteils wieder auf¬ 
gegeben werden. Der einzige Ausweg war, noch mehr Wärterinnen auf der 
Männerseite zu beschäftigen. Die Zahl solcher stieg von 19 auf 28. Wesent¬ 
liche Übelstände sind dabei nicht hervorgetreten.“ In der neuen Anstalt 
bei Konstanz, welche erst im Oktober 1913 eröffnet worden war, wurden 
von 54 Wärtern 44 eingezogen; „es galt zunächst die Wärter zum Teil 
zu ersetzen, die in den ersten \ier Tagen hatten einrücken müssen. Einige 
Werkmeister, ein Torwart versahen Wärterdienst, 12 Wärterinnen (später 
10) wurden auf die ruhige männliche Aufnahmeabteilung und die Siechen¬ 
abteilungen versetzt, Aushilfwärter wurden angenommen. Mit der Pflege 
der männlichen Kranken durch Wärterinnen haben wir recht gute Er¬ 
fahrungen gemacht, natürlich sind daneben noch Wärter notwendig. 
Nach und nach stellten wir 24 Aushilfwärter ein, doch hatten wir immer 
Schwierigkeiten, diese Zahl voll zu bekommen, besonders später, als immer 
mehr Leute eingezogen wurden, die Industrie sich wieder hob und sehr 
hohe Löhne draußen gezahlt wurden. Es war andauernd außerordentlich 
viel Wechsel, teils, weil viele der Angestellten noch nachträglich zum 
Militär eingezogen wurden, teils weil manche alsbald wieder kündigten 


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344 


Arnemann, 


oder ihnen gekündigt werden mußte.“ In Dalldorf war „der Wechsel 
bei dem neu eingestellten Personal ungemein groß. Es erwies sich auch 
nur zum Teil als für den Pflegedienst geeignet. Die fehlenden männlichen 
•Kräfte wurden auf sämtlichen Männerhäusern mit Ausnahme des vor¬ 
wiegend für verbrecherische Geisteskranke bestimmten Hauses 5 durch 
Pflegerinnen ersetzt; ihre Leistungen sind im allgemeinen durch¬ 
aus befriedigend gewesen. In Hamburg (Friedrichsberg) „wurde 
zum Ersatz der zum Kriegsdienst eingezogenen Wärter auf mehreren 
Männerabteilungen Wärterinnenpflege eingeführt, die sich gut bewährt 
hat.“ Die Anstalt Eglfing (Oberbayern) berichtet: „Die teilweise Ver¬ 
wendung von Pflegerinnen auf den Wachabteilungen für ruhige, über¬ 
wachungsbedürftige und für pflegebedürftige Männer und auf der Pen¬ 
sionärabteilung hat keine Schwierigkeiten ergeben; nur in wenigen, einzel¬ 
nen Fällen mußten Kranke auf Stationen mit nur männlichem Personal 
verlegt werden.“ Die Anstalt Lüben (Schlesien) hat mit der Annahme 
von männlichen Hilfswärtern ziemlich ungünstige Erfahrungen gemacht, 
sie hat für Stationen der Männerabteilung, welche als geeignet angesehen 
wurden, auch Pflegerinnen eingestellt, aber nur in beschränktem Umfange 
(8), und sie urteilt: „Ungünstige Erfahrungen haben wir mit diesem Not¬ 
behelf nicht gemacht.“ In Stephansfeld „ging die Einstellung jugend¬ 
licher oder ungelernter älterer Pfleger nicht ohne Mißstände ab, die weib¬ 
lichen Pflegekräfte auf der Männerabteilung haben sich hingegen durch¬ 
aus bewährt“. In Leubus (Schlesien) „hat die Verwendung von 
Pflegerinnen auf Männerabteilungen keine nennenswerten Schwierigkeiten 
ergeben, nur in wenigen vereinzelten Fällen mußten Kranke auf Abteilun¬ 
gen mit männlichem Personal verlegt werden“. Das Urteil der Anstalt 
Lindenhaus bei Lemgo (Lippe) lautet über das Jahr 1914: „Es 
mußten auf Männerabteilungen und selbst im Außendienst Pflegerinnen 
verwendet werden. Die großen Anforderungen, welche sich aus dieser 
Verwendung ergaben, haben die Pflegerinnen mit unermüdlichem 
Eifer und musterhafter Pflichttreue erfüllt“, und über das Jahr 
1915 heißt es: „Die Beschaffung des Ersatzes für die eingezogenen Pfleger 
ist immer schwieriger geworden. Die Verwendung der Schwestern auf 
Männerabteilungen mußte daher bis zu den äußersten Möglichkeiten aus¬ 
gedehnt und durchgeführt werden. Die Schwestern haben in dieser 
ungewohnten und zum Teil sehr schweren Pflege Vortreff¬ 
liches geleistet.“ Im St.-Jürgen Asyl zu Ellen (Bremen) wurde 
der Ausfall zum Teil durch Schwestern und durch Frauen der verheirateten 
Pfleger mit gutem Erfolg gedeckt. In der Anstalt Langenhagen (Han¬ 
nover) „wurden an Stelle der zum Heeresdienst eingezogenen Wftrter 
51 Hilfswärter eingestellt, von denen 31 wieder entlassen werden mußten. 
Da diese nur zum geringsten Teil zuverlässig und arbeitswillig waren, 
haben wir, so schreibt der dortige Direktor, auf mehreren Männerabteilun¬ 
gen Wärterinnen eingestellt, die sich so gut bewährt haben, daß wir 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 345 


sie auch nach Ablauf des Krieges auf einigen dieser Abteilun¬ 
gen beizubehalten gedenken. Unter den Hilfswärtern befanden 
sich auch 5 Kriegsbeschädigte, die sich leider nicht immer durch glühenden 
Trieb zur Arbeit auszeichneten und zum Teil in ausgiebigster Weise von 
den Rentenbeziehungsvorstellungen beherrscht wurden.“ Aus der Provinz 
Hannover liegt nun noch vom Direktor einer andern Anstalt, Osnabrück, 
ein Urteil über die zukünftige Bewertung der Pflege durch Wärterinnen 
vor, welches von dem eben erwähnten abweicht; es lautet: „Die Erfahrun¬ 
gen, die wir mit der letztgenannten Einrichtung gemacht haben, sind hier 
im ganzen durchaus günstig gewesen. Trotzdem kann ich mich 
für die spätere Beibehaltung dieser Einrichtung, die ver¬ 
einzelt schon früher und jetzt noch mehr empfohlen wird, 
nicht erwärmen.“ 

Man sieht also, daß die durch den Krieg auferlegte Notlage die ver¬ 
schiedenartigsten Wege zur Abhilfe einschlagen ließ. Meist waren 
zunächst männliche Aushilfskräfte eingestellt worden, wo und wie man 
ihrer habhaft werden konnte: Torwärter, Werkmeister und andere 
Angestellte wurden herangezogen, ruhige Kranke, beurlaubte Soldaten, 
Kriegsbeschädigte, Fabrikarbeiter usw. wurden verwendet, aber meist 
waren mit allen diesen Leuten recht schlechte Erfahrungen gemacht 
worden. Trotzdem sind einzelne Anstalten nicht dazu übergegangen, 
weibliches Personal einzustellen, wenigstens ist in den betreffenden 
Jahresberichten nichts davon erwähnt. Das mag vielleicht lokale 
Gründe haben, und daß es solche lokale Gründe geben kann, ist nicht 
von der Hand zu weisen. Das war auch schon bei der Kundfrage zutage 
getreten, welche Hösel vor Kriegsausbruch im Juni 1914 veranstaltet 
hatte. 

Eine Universitätsklinik hatte z. B. berichtet, daß sie nur deshalb 
keine weibliche Pflege auf Männerabteilungen eingeführt habe, weil es 
bis dahin noch nicht gelungen sei, eine Schwesternschaft zur Abgabe ge¬ 
eigneter Kräfte ausfindig zu machen. Und eine Provinzialanstalt hatte 
damals geschrieben: Die Einführung weiblicher Pflege auf Männerabteilun¬ 
gen sei vor Jahren angestrebt worden, aber die örtlichen Verhältnisse 
hätten damals keine andere Lösung gestattet, als daß die Ordensschwestern, 
welche seit Eröffnung der Anstalt dort Dienst bei Frauen taten, die Männer¬ 
pflege mit übernommen hätten. Der Orden sei aber dafür nicht zu gewinnen 
gewesen, und eine andere Art weiblicher Pflege auf Männerabteilungen 
hätte noch nicht ermöglicht werden können, so wünschenswert sie auch 
erscheine. 

Abgesehen von wenigen Ausnahmen haben aber die allermeisten 


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346 


Arnemann, 


deutschen Irrenanstalten den Versuch gemacht, weibliche Kräfte ein 
zustellen, und wenn man jetzt nach dem Beispiel ÄUs bei seinen Ver¬ 
öffentlichungen über die Familienpflege die Namen aller dieser An¬ 
stalten auf einer Landkarte eintragen wurde, su würde diese Karte im 
Vergleich zur Zeit vom Juni 1914 eine wesentliche Veränderung dar¬ 
bieten. Damals hätte außer den 3 Kliniken von München, Würzburg 
und Kiel mit ihrem relativ geringen Krankenbestand als einzige An¬ 
stalt, welche in größerem Umfang weibliche Pflege bei männlichen 
Geisteskranken eingeführt hatte, die Anstalt Zschadraß verzeichnet 
werden können; daneben kamen noch 2 sächsische Anstalten mit den 
Anfängen des neuen Systems in Frage. Jetzt aber würde die ganze 
Landkarte in allen Bundesstaaten mit Namen übersät sein. 

Eine Anzahl Anstalten registrieren die Einführung der weiblichen 
Pflege nur als Tatsache im Jahresbericht, ohne ein Urteil abzugeben, 
andere erwähnen, daß keine Unzuträglichkeiten vorgekommen sind, 
eine größere Zahl sprechen sich mit wenigen Worten günstig aus, aber 
man vermißt in den Jahresberichten nähere Mitteilungen über die 
Durchführung des Systems im einzelnen und über etwaige Fehlschläge 
und Schattenseiten. Für die praktische Psychiatrie ist aber 
die Entscheidung der Frage wichtig, ob man die ganze 
Einrichtung im Frieden beibehalten soll, oder ob man sie 
bloß als einen Notbehelf während des Krieges anzusehen 
hat. 

Da ist es nun sehr zu begrüßen, daß vor einiger Zeit zwei Aufsätze 
veröffentlicht worden sind, welche sich eingehender mit den in Rede 
stehenden Verhältnissen beschäftigen. 

Starlinger, welcher über seine Erfahrungen in der niederösterreichi¬ 
schen Landesanstalt Mauer-Oehling berichtet 1 ), erwähnt zunächst, 
daß in den niederösterreichischen Landesanstalten weibliche Kräfte von 
jeher Verwendung gefunden hätten, indem die Frauen der Traktpfleger, 
welche mitten unter den Kranken wohnten, jederzeit als Pflegerinnen 
Dienst getan hätten, selbst auf den schwersten Abteilungen. Er schreibt: 
„Da konnte man nicht selten sehen, wie aufgeregte Paralytiker oder andere 
schwer lenkbare Elemente durch die Frau oft weit leichter zu lenken und 
zu pflegen waren, als durch Männer. DerVerf. dieser Zeilen hat nicht selten 
Gelegenheit gehabt, zu sehen, daß ein aufgeregter Kranker, der kaum 
oder nur schwer von mehreren Pflegern gebändigt werden konnte, dem 

4 ) Psych.-neurol. Wschr. Nr. 11/12, 1916/17. 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 347 


gütigen und liebevollen Zuspruch der Traktpflegersgattin willig gefolgt ist.“ 
Dann geht er auf die Bedenken ein, welche gegen die allgemeine Ver¬ 
wendung von Pflegerinnen bei männlichen Geisteskranken vorgebracht 
werden, und zu denen besonders gehören: sexuelle Angriffe von seiten der 
Kranken, geringere Eignung der Pflegerinnen für professionelle Arbeiten, 
das Schlafen der Pflegerinnen unter den Kranken und die geringere Eignung 
derselben bei aufgeregten und namentlich verbrecherischen Kranken. Er 
gibt zu, daß die Frau auf den Abteilungen mit gewalttätigen Kranken 
wenig ihren Platz ausfüllen kann: ..Dort, wo unter Umständen die grobe 
Kraft zur Anwendung kommen muß. dort, wo die männliche Kraft und 
Energie schon imponieren und als ein gewisser Beruhigungsfaktor fun¬ 
gieren muß, dort wird die Frau auch späterhin kaum den Mann ersetzen 
können.“ Aber nach seiner Ansicht sind die übrigen Nachteile nicht so 
beschaffen, daß sie sich nicht größtenteils vermeiden ließen, er bezeichnet 
es hierbei indessen für erstrebenswert, daß auf einem und demselben Pa¬ 
villon nur ein Geschlecht von Pflegepersonen zur Verwendung kommt. 
Nach seinen Wahrnehmungen empfiehlt er schließlich die Beibehal¬ 
tung weiblicher Pflegekräfte in gewissem Umfange auch für 
die Zeit nach dem Kriege, namentlich für das Lazarett der Irren¬ 
anstalt, für Siechenabteilungen und zum Dienst als Extrapflegerin, es 
erscheint ihm ferner gar nicht so unmöglich, daß professionelle Verrichtun¬ 
gen von Frauen versehen werden, wenn sich hierzu geeignetes Personal 
finden läßt, namentlich bei landwirtschaftlichen Arbeiten der Männer, 
da ja die Frau auch jetzt schon für diese Arbeiten bei den weiblichen Grup¬ 
pen verwendet wird. Eine weitere Ausdehnung der weiblichen Pflege 
erscheint ihm davon abhängig zu sein, ob es gelingen wird, für die Schlaf¬ 
gelegenheiten des Pflegepersonals eine ausgiebige Vorsorge zu treffen. 

Die zweite Arbeit stammt von Epstein 1 ), dem Direktor der ungari¬ 
schen Staatsheilanstalt in Budapest-Angyalföld, er ist in der Ver¬ 
wendung von weiblichen Kräften wesentlich weiter gegangen. Bereits 
vor dem Kriege hatte er sich mit der Absicht getragen, auf einzelnen Ab¬ 
teilungen weibliche Hilfskräfte zum Pflegedienste bei männlichen Geistes¬ 
kranken heranzuziehen, er schritt deshalb bei Kriegsbeginn schnell zur 
Tat und verlor nicht die Zeit mit vielem überlegen und Erheben der ver¬ 
schiedensten Bedenken. Auch er ging anfangs tastend und behutsam vor, 
da aber die gemachten Wahrnehmungen durchaus günstig waren, ist die 
Einstellung von Pflegerinnen immer flotter vor sich gegangen, und so steht 
jetzt dort schon seit langer Zeit auf sämtlichen Abteilungen der 
Männerseite weit überwiegend weibliches Pflegeperson al in 
Verwendung. Denn die weibliche Pflege hat sich nicht nur als aus¬ 
reichend gezeigt, sondern in vielen Beziehungen war sie besser 
als die frühere männliche, nicht nur bei den siechen und den aus ver¬ 
schiedenen andern Gründen bettlägerigen Kranken, sondern auch auf den 

Psych.-Neurol. Wschr. Nr. 2619, 1916/17. 


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348 


Arnemann. 


Wachabtcilungen, den Abteilungen für Unruhige und im Bade: ferner 
wird die Stellung eines Traktpflegers durch eine Pflegerin gut ausgefüllt, 
auch die Nachtwache im Wachsaal für Ruhige und Halbruhige wird zur 
Zufriedenheit besorgt. Für die Nachtwache hatte der Yerf. anfangs die 
Pflegerinnen nicht zu verwenden gewagt, aber mit den für diesen speziellen 
Dienst angenommenen Aushilfpflegem waren die kläglichsten Erfahrun¬ 
gen gemacht worden, es waren ganz unglaubliche Elemente hereingekoni- 
men, welche in keiner Weise zu brauchen waren und infolge ihrer Un¬ 
brauchbarkeit ein fortwährendes Kommen und Gehen verursacht hatten. 
Daß mit der weiblichen Pflege auf Männerabteilungen gewisse Nachteile 
verbunden seien, gibt Epstein zu, jedoch meint er, daß dieselben keinen 
ernsten Charakter hätten. Der Verkehr zwischen Pfleger und Pflegerinnen 
führte zwar gelegentlich zu Reibereien, diese waren aber nicht dem System, 
sondern eher der Unverträglichkeit der betreffenden Personen zuzu- 
schreiben. Andrerseits wurden im Verkehr zwischen weiblichen Pflege¬ 
personen mit männlichen Kranken Tändeleien und Liebeleien gelegentlich 
beobachtet, diese waren jedoch nach der Ansicht des Yerf. den besonderen 
Zeitverhältnissen, dem Kriegszustände, zur Last zu legen, da es sich um 
„Marssöhne“ handelte, von denen diese Beziehungen ausgingen. Sexuelle 
Angriffe wurden allerdings gelegentlich unternommen, meist aber von 
Paralytikern, und zumeist in unschuldiger Form, nur ein einziger Kranker 
ist während der kurzen Zeit seiner manischen Erregung auf Pflegerinnen 
wiederholt losgestürmt. Angrifle anderer Art fanden auch statt, jedoch 
eher seltener als auf das männliche Personal, u. a. erhielt eine ahnunglos 
dastehende Pflegerin einen überaus heftigen Faustschlag ins Gesicht, der 
■eine Hirnerschütterung zur Folge hatte, aber dieselben unliebsamen Vor- 
kommnisse können sich beim männlichen Personal ebensogut ereignen 
und sprechen keineswegs gegen die weibliche Pflege im allgemeinen. Ep¬ 
stein kommt daher ebenfalls zu dem Schluß, daß die Beibehaltung 
und sogar die weitere Ausgestaltung der weiblichen Pflege 
auf Männerabteilungen auch nach dem Kriege gerechtfertigt 
sei, andrerseits stellt er sich teilweise in Gegensatz zu Starlinger, wenn er 
wünscht, „daß überall dort, wo es nur angeht, ausschließlich weibliches 
Pflegepersonal den Dienst versehe, dort aber, wo die physische Kraft 
und das energische Eingreifen des Mannes nicht entbehrt werden kann, 
neben den Pflegern auch Pflegerinnen verwendet werden, damit die be¬ 
schwichtigende, mildernde Einflußnahme des weicheren, liebevolleren 
weiblichen Elements nicht gerade auf den meist gefährdeten Abteilungen, 
dort, wo sie am dringendsten nottut, fehle; die Paarung des Strengen mit 
dom Zarten, des Starken mit dem Schwachen gibt hier sicher einen guten 
Klang.“ 

Abgesehen von den erwähnten beiden ausfflhrlichen Mittei¬ 
lungen sind dem Verfasser während des Krieges keine eingehenden 
Berichte über diese Frage bekannt geworden, wohl aber existieren 


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Weibliche Pflege auf Männer&bteilungen der Irrenanstalten. 349 

einige wenige ausländische Arbeiten über dieses Thema aus früherer 
Zeit, von denen nur zwei erwähnt sein mögen. 

In der livländischen Anstalt Stackein liegt, wie im Jahre 1910 
Behr l ) schreibt, die Pflege der Männer seit der im Jahre 1907 erfolgten 
Eröffnung des Betriebes in weiblichen Händen und hat sich außer¬ 
ordentlich bewährt. Es ist nur die Einrichtung getroffen, daß die un¬ 
sozialen und gewalttätigen Männer von männlichen und weiblichen Pflege¬ 
kräften gemeinsam gewartet werden. In den Abteilungen, in welchen 
Pfleger und Pflegerinnen zusammen pflegen, haben die männlichen Pfleger 
folgende Aufgaben: 1. das weibliche Personal gegen'Überfälle und Angriffe 
zu schützen, 2. spezifische Handleistungen (z. B. Klystiere) auszuführen, 
3. das Dauerbad zu besorgen und 4. die Nachtwache zu versehen. 

Besondere Beachtung verdient dann noch eine ausführliche Arbeit, 
welche von Hermann *), dem Direktor der Irrenanstalt des Gouvernements 
Orel in Rußland, im Jahre 1908 veröffentlicht worden ist, und welche die 
Verwendung von weiblichem Personal in der weitgehendsten Weise emp¬ 
fiehlt. In den russischen Irrenanstalten war seinerzeit bei Ausbruch des 
russisch-japanischen Krieges der gleiche Mangel unter dem männlichen 
Pflegepersonal eingetreten, wie jetzt bei uns infolge des Weltkrieges. Man 
war dort schon im Frieden vielfach mit den Leistungen de£ Personals 
wenig zufrieden gewesen, und darum wurde der schon vorher geplante 
Ersatz der Männer durch weibliche Pflegekräfte mit Beschleunigung 
durchgeführt. Auch dort ging man anfangs mit Umsicht und Vorsicht 
vor, es wurden die ältesten, erfahrensten und besten Krankenwärterinnen 
aus den Frauenabteilungen herausgesucht. In den ersten Tagen zeigte 
sich allerdings auf den Abteilungen eine ziemlich große Unruhe, die Kranken 
sprangen aus den Betten, schrien, gehorchten nicht, verweigerten die 
Nahrung, weil sie sie nicht aus den Händen von Wärterinnen nehmen 
wollten, aber nach einigen Tagen war alles ruhig. Die Kranken hatten sich 
daran gewöhnt, sie hatten begriffen, daß die Wärterinnen zur Pflege da 
seien. Der höfliche, milde Verkehr derselben mit den Kranken, ihr teil- 
nahmvolles Verhalten diesen gegenüber hatte auch das Verhalten der 
Kranken geändert, sie begannen zu gehorchen. Das weibliche Dienst¬ 
personal wurde mit den Kranken, sogar mit stark erregten und sehr un¬ 
ruhigen, sehr gut fertig. Die ganze Abteilung bekam ein weit besseres 
Aussehen, überall fielen Ordnung und Sauberkeit auf, die Pflege der Kran¬ 
ken wurde weit besser, die Behandlung mild, höflich, fürsorglich, so daß 
die Kranken seltener Veranlassung hatten, sich aufzuregen, die Zusammen¬ 
stöße der Kranken untereinander sowie deren Tätlichkeiten wurden weit 
seltener und weniger intensiv. Die von manchen russischen Psychiatern 
befürchteten Mängel stellten sich in der Praxis nicht ein, namentlich hatte 

*) Psych.-Neurol. Wschr. Nr. 41, 1910. 

*) Ztschr. f. Krankenpflege 1908, Bd. XXX, Nr. 5—7. 


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Arnemann, 


die Anwesenheit von Frauen durchaus keine sexuelle Aufregung zur Folge, 
und es konnte das weibliche Dienstpersonal selbst in den 
Abteilungen mit den unruhigsten Kranken seinen Dienst zur 
Zufriedenheit versehen. Schließlich haben sich nach den Angaben 
Behrs die Ärzte und das übrige Personal so an die Tatsache in Orel gewöhnt, 
daß sie eine gewöhnliche Erscheinung geworden ist und sie sich etwas 
anderes gar nicht mehr denken können. Zur Erklärung für die günstigen 
Beobachtungen erinnert er daran, daß das weibliche Personal im allge¬ 
meinen weit geduldiger ist, sich besser beherrscht, ein ausgesprocheneres 
Mitleidsgefühl besitzt als der Mann, und infolge dieser Eigenschaften 
weit leichter die Launen, das Schreien, die Unruhe und die Tätlichkeiten 
der Kranken erträgt; ferner, daß die unsauberen Kranken bei den Frauen 
kein Ekelgefühl hervorrufen, weil sie schon von der Kinderpflege her daran 
gewöhnt sind, und wie er weiter ausführt, liegt im Gegensatz zur Frau dem 
Mann im allgemeinen der Pflegeberuf nicht, weil er Selbstaufopferung 
fordert und vieles verlangt, was dem Manne direkt mißfällt, darum liebt 
er ihn nicht und gibt ihn verhältnismäßig leicht wieder auf, sobald sich 
andere Erwerbsmöglichkeiten bieten. 

Iin nachstehenden sei es nun gestattet, einen weiteren Beitrag zu 
der in Rede stehenden Frage zu liefern durch einen Bericht über die 
Verhältnisse im Königreich Sachsen. 

Hier haben wir die seit über 25 Jahren bestehende, aber in den 
Kreisen der Fachkollegen immer noch ziemlich wenig bekannte Ein¬ 
richtung des evangelischen Schwesternhauses zu Hubertusburg, welche 
uns bei der Ein- und Durchführung des neuen Systems zu großem 
Segen gereichte. Die Gründung derselben erfolgte am 1. Oktober 1888, 
als man das Unzulängliche des damaligen Pflegewesens erkannt hatte. 
Die Wünsche, welche erfüllt werden sollten, lauteten: „Weniger 
Wechsel der Pflegekräfte! Mehr Verständnis und mehr Herz für die 
Kranken!“ Die Gründung der Organisation war ein wichtiger Schritt 
in der Geschichte der Krankenpflege, denn zum ersten Male waren 
miteinander vereint: Staatsdienst und religiöse Gemeinschaft. Man 
fing an, Pflegerinnen auszubilden für alle sächsischen Heil-, Pflege- 
und Erziehungsanstalten, und zwar werden seitdem Mädchen im 
Alter von 18—35 Jahren angenommen, sie erhalten halbjährigen theo¬ 
retischen Unterricht, machen einen zweijährigen Hilfsdienst durch, 
erhalten dann Staatsanstellung und werden kirchlich eingesegnet. 
Die Einrichtung hat sich außerordentlich bewährt und hat uns sächsi¬ 
schen Psychiatern seit Jahren manche Sorgen und manchen Verdruß 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 351 


erspart, den wir nur aus den Jahresberichten der außersächsischen 
Irrenanstalten kennen. Anfang Januar 1917 standen ca. 700 
Schwestern in Arbeit. 

Auf diese Schwesternschaft konnten nun während des Krieges 
die sächsischen Anstalten zurückgreifen, und sie wurden darin durch 
den verdienstvollen Leiter des Schwesternhauses, Herrn Kirchenrat 
Naumann, in der denkbar entgegenkommendsten Weise unterstützt. 
Von vornherein wurden von seiner Seite nicht die geringsten prinzipiellen 
Bedenken gegen die Verwendung der Schwestern auf Männerabteilungen 
geltend gemacht, und im einzelnen blieb es daher den Anstaltsdirek- 
toren vollständig überlassen, Erfahrungen zu sammeln und auf Grund 
der Erfahrungen die Grenzen festzustellen, innerhalb welcher das 
neue System in Zukunft beibehalten werden könne. 

Vor allem wurde auch die Einführung der Schwestempflege infolge 
der in Zschadraß gemachten günstigen Erfahrungen vom Königlichen 
Ministerium des Innern gefördert. 

ln manchen sächsischen Landesanstalten, namentlich in solchen, 
welche bei Kriegsbeginn fast ihr gesamtes männliches Personal ver¬ 
loren hatten, wurden, ebenso wie in andern Gegenden Deutschlands, 
männliche Aushilfkräfte angenommen, aber auch hier wurden, wie 
fast überall, die allertraurigsten Erfahrungen gemacht. Die meisten 
Anstalten gingen sehr bald zur weiblichen Pflege über. Gedruckte 
Mitteilungen liegen Uber die Erfahrungen noch nicht vor, da die sächsi¬ 
schen Jahresberichte über die Kriegsjahre erst später erscheinen 
werden, aber durch persönliche Umfrage hat Verf. Nachrichten erhalten, 
und außerdem sind ihm in sehr dankenswerter Weise vom Schwestern¬ 
haus diejenigen Berichte zur Verfügung gestellt worden, welche von 
den Schwesternheimvorstehern der verschiedenen Anstalten im Ein¬ 
verständnis mit den Direktionen erstattet worden sind. Aus denselben 
ist folgendes bemerkenswert. 

Bereits Ende 1913 wurden in Großschweidnitz 6 weibliche 
Pflegepersonen (5 Schwestern und 1 Hilfswärterin) zur männlichen Pflege 
verwendet, auch in der Anstalt Sonnenstein waren es 6 (5 Schwestern 
und 1 Hilfswärterin), während es in Zschadraß schon 23 (11 Schwestern 
und 12 Hilfswärterinnen) waren. 

Ende 1914 waren in Arnsdorf bei 267 Kranken 14 weibliche Pflege¬ 
kräfte (11 Schwestern und 3 Hilfswärterinnen) tätig, jedoch ist bei dieser 
Krankenzahl in Arnsdorf zu berücksichtigen, daß auf einigen Abteilungen 


Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 4. 

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Arnemann, 


außer Schwestern auch Pfleger bzw. Hilfswärter mit tätig waren; in Groß- 
schweidnitz waren es bei 198 Kranken 24 (11 Schwestern und 13 Hilfs¬ 
wärterinnen, in Sonnenstein bei 84 Kranken 14 (10 Schwestern und 
4 Hilfswärterinnen). 

Mitte Januar 1917 lauten die Zahlen wie folgt. In Arnsdorf bei 
290 Männern 28 (21 Schwestern und 7 Hilfswärterinnen), in Dösen bei 
338 Männern 39 Pflegerinnen, in Großschweidnitz bei 181 Männern 
35 (20 Schwestern und 15 Hilfswärterinnen), in Hubertusburg bei 124 
Männern 18 (15 Schwestern und 3 Hilfswärterinnen), in Sonnenstein 2») 
(13 Schwestern und 7 Hilfsschwestern; dort waren auf einigen Abteilungen 
auch Pfleger tätig), in Untergöltzsch bei 67 Männern 9 (4 Schwestern 
und 5 Hilfswärterinnen) und in Zschadraß bei 233 Männern 32 (15 
Schwestern und 17 Wärterinnen; dazu kommen noch 6 Wärterinnen, 
welche aus Mangel an Pflegern nur zur Hausarbeit auf solchen Häusern 
verwendet werden, die von Pflegern besetzt sind). — Ergänzend sei be¬ 
merkt, daß in der Anstalt Colditz, welche verbrecherische und schwer 
unsoziale Kranke aufnimmt, keine Versuche gemacht wurden, in der Epi¬ 
leptikeranstalt Hoch Weitzschen ist weibliche Pflege nur bei Kindern 
eingeführt 1 ), dagegen sind in der der Strafanstalt zu Wald heim ange¬ 
gliederten Anstalt für verbrecherische Geisteskranke 3 Wärterinnen zur 
Zufriedenheit tätig. 

Übereinstimmend wird berichtet, daß in den sächsischen 
Anstalten die gemachten Erfahrungen gute, zum Teil sehr 
erfreuliche waren, und daher wird überall beabsichtigt, die neue 
Einrichtung auch nach dem Kriege beizubehalten. Alle 
Anstalten wollen den Umfang der Schwesternpflege später abhängig 
machen von der Zahl der zurückkehrenden Pfleger. Die Anstalt 
Großschweidnitz glaubt etwa 100 Kranke dauernd unter Schwestern¬ 
pflege stellen zu können, und in Arnsdorf wird wahrscheinlich das neue 
System in sämtlichen Abteilungen mit Ausnahme derjenigen für hoch¬ 
gradig Unruhige beibehalten werden. Für die Bäder wird fast allgemein 
die Verwendung von Pflegern empfohlen, dagegen werden die Nacht¬ 
wachen dort, wo es unbedenklich erscheint, von Schwestern geleistet. 
Die namentlich im Anfang fast überall beobachtete wenig freundliche 
Stellungnahme der Pfleger gegenüber der Schwestempflege scheint in 
der Hauptsache überwunden zu sein, aus Großschweidnitz wird aber 
berichtet, daß diese Stellungnahme auch jetzt noch nicht ganz behoben 
ist. Von besonderen Vorkommnissen sei erwähnt, daß ein als geheilt 

*) Seit einem halben Jahr auch bei Erwachsenen. Die Einrichtung 
hat sich auch hier gut bewährt und ihre Beibehaltung erscheint gesichert 
(Anm. bei der Korr.). 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 353 


entlassener Kranker, ein Geistlicher, sich dahin ausgesprochen hat, 
daß die Schwestempflege für ihn eine starke Hilfe zu seiner Genesung 
gewesen sei. Andrerseits ist ein schwerer Unglücksfall vorgekommen, 
indem eine Schwester von einem Kranken durch Stiche schwer ver¬ 
letzt wurde. 

Was speziell die Einführung des neuen Systems in der Anstalt 
Hubertusburg betrifft, so ist darüber folgendes zu berichten. 

Der Verfasser dieser Zeilen, welcher als ärztlicher Leiter der 
Männerabteilung tätig ist, hatte schon lange vor Kriegsbeginn im Ein¬ 
vernehmen mit der hiesigen Anstaltsdirektion beabsichtigt, einen 
Versuch mit weiblicher Pflege zu machen. Bei der Einberufung der 
ersten Pfleger zum Militär wurde daher in Hubertusburg überhaupt 
nicht der Versuch gemacht, männliche Ersatzkräfte einzustellen, und 
wir haben unser Vorgehen, wie gleich von vornherein gesagt werden 
kann, durchaus nicht zu bereuen gehabt. Ganz ähnlich wie in Zschadraß 
stand auch bei uns das männliche Personal den ganzen Vorbereitungen 
mit ziemlichem Mißtrauen gegenüber; es fürchtete von den Schwestern 
aus seinen Stellungen gedrängt zu werden. Natürlich waren solche 
Befürchtungen vollständig gegenstandlos, denn im Königreich Sachsen 
sind die Pfleger genau so organisiert wie die Schwestern, sie werden 
im Pflegerhaus zu Hochweitzschen ausgebildct, machen 2 Jahre 
Dienstzeit als Hilfspfleger durch und werden dann mit Staatsdiener¬ 
eigenschaft angestellt. Dieser Einrichtung verdanken wir, daß wir ein 
brauchbares und seßhaftes Personal haben, und es ist selbstverständlich 
gar nicht daran zu denken, daß den Pflegern ihre Lebensstellung ge¬ 
nommen werden kann, nur wird voraussichtlich bei der auch in Zu¬ 
kunft zu erwartenden Bewährung der weiblichen Kräfte die Neuein¬ 
stellung von Pflegern in geringerer Zahl notwendig sein als bisher. 
Natürlich wurden die Pfleger aufgeklärt, aber eine volle Beruhigung 
ist erst ganz allmählich eingetreten, anfangs hatten die Belehrungen, 
wie sich immer wieder zeigte, nur vorübergehenden Erfolg, ebenso die 
Mahnungen der verständigen Elemente unter den Pflegern selbst. 
Jedenfalls wurde viel Stimmung gegen das neue System gemacht, und 
es wurde alles mögliche versucht, den Kranken „die Abteilung mit 
Damenbedienung“ zu verleiden. Es mußte deshalb besonderer Wert 
darauf gelegt werden, daß der erste Versuch nicht etwa fehlschlug, 
und deshalb wurden zur Besetzung der ersten Abteilung möglichst gute 

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Arnemann. 


Pflegerinnen ausgewählt. Hierbei muß auch der hiesigen Frauen- 
abteilung die Anerkennung ausgesprochen werden, daß sie jederzeit 
in uneigennütziger Weise ihre guten Kräfte abgegeben hat. 

Zunächst wurde ein Pavillon mit 31 männlichen Kranken den 
Schwestern anvertraut, und zwar kamen dahin unter 3 Schwestern 
und 2 Hilfswärterinnen sieche und hinfällige Kranke, außerdem noch 
Halbruhige. Vom ersten Tage an hatten die Pfleger keinerlei Dienst 
mehr auf der Abteilung, auch die Nachtwache wurde sofort von den 
Schwestern und Wärterinnen übernommen. Und es ging alles 
ganz vortrefflich. Die von vornherein erwartete Verbesserung im 
ganzen Aussehen der Station trat sofort ein, Ordnung, Reinlichkeit und 
Behaglichkeit hielten ihren Einzug. Die Pfleger hatten sich, wie ohne 
weiteres anerkannt werden muß, die größte Mühe gegeben, das Haus 
in gut gereinigtem Zustand zu übergeben, aber es zeigte sich auch hier, 
daß ihnen die Kritik ihres Reinlichkeitbegriffs von seiten der Schwestern 
nicht erspart bleiben sollte. Die Stationsschwester begann nach der 
gründlichen männlichen Reinigung ein großes Scheuerfest, das nach 
ihrer Ansicht sehr notwendig war, konnte sie doch u. a. bei der Reini¬ 
gung eines im Dachgeschoß gelegenen Garderoberaumes dem Arzt 
auf einer Kehrichtschaufel eine Menge „Schlamm“ zeigen, den sie 
durch Aufweichen altehrwürdigen Schmutzes gewonnen hatte. Aller¬ 
dings muß hierbei erwähnt werden, daß gerade diese Schwester als die 
scheuerwütigste bekannt war: man erzählte sich von ihr, daß sie seit 
Jahr und Tag aus der eigenen Tasche Seife gekauft hätte, wenn sie 
nicht genug von der Wirtschaftsverwaltung geliefert erhielt. Einen 
besonderen Kummer bereitete der Stationsschwester der Zustand der 
männlichen Kleidungsstücke, überall hatte seit längerer Zeit die aus 
bessernde Hand bei kleinen und großen Defekten gefehlt, nur das 
Allernotwendigste war ausgebessert worden, und daher sprach sie die 
Ansicht aus, daß sie wohl erst nach Jahr und Tag die Garderobe in 
leidlichen Zustand würde versetzen können. 

Die Kranken selbst äußerten sehr bald ihre große Zufriedenheit 
mit dem Wechsel des Systems; manche, die infolge der vorausgegange¬ 
nen Beeinflussung durch die Pfleger nur mit Widerstreben sich hatten 
versetzen lassen, erklärten nach einigen Monaten, daß sie nicht wieder 
zu den Pflegern zurück möchten, und die intelligenteren machten dabei 
geltend, sie hätten eingesehen, daß die Pflegerinnen wirklich pflegten 


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Weibliche Pflege auf Männerabteiluugen der Irrenanstalten. 355 

und ihrem Namen Ehre machten, und daß sie weniger an Urlaub, 
Freizeiten, Vereinsangelegenheiten, Standesorganisation u. a. dächten 
als das männliche Personal. In ihren freien Stunden lasen die 
Schwestern den Kranken vor, oder sie spielten mit ihnen Salta, Halma 
usw., und man konnte beobachten, daß sie aus manchen Kranken, 
welche bereits als geistige Ruinen erschienen, noch manches heraus- 
holten, was nicht zu erwarten war, die betreffenden wurden geistig 
regsamer, und so kam es z. 6., daß ein Kranker, welcher monatelang 
im katatonischen Stupor dagesessen oder gelegen hatte, jetzt auf einmal 
recht gut Dame spielte. Als der Verfasser gelegentlich einmal übet 
diese Dinge in der ärztlichen Konferenz sprach und lobend erwähnte, 
daß sich die Schwestern sehr mit den Kranken abgeben, erwiderte ein 
Arzt der Frauenabteilung: „Solche Mühe haben sich aber die Schwe¬ 
stern nicht gegeben, solange sie bei den Frauen waren.“ Das ist aller¬ 
dings richtig, andrerseits aber auch erklärlich. Wie sich nämlich aus 
den Äußerungen der Schwestern ergeben hat, arbeiten sie viel lieber 
auf Männerabteilungen und bitten darum, sie nicht wieder zu den 
Frauen zurückzuversetzen. Denn auf sämtlichen Männerabteilungen 
geht es zunächst durchschnittlich ungleich ruhiger zu als auf den 
entsprechenden Frauenabteilungen, außerdem aber führen auch auf 
relativ ruhigen Frauenabteilungen die Patientinnen oft recht gemeine 
Reden, sie spucken die Schwestern an, raufen sie mit Vorliebe an den 
Haaren, setzen den Anordnungen heftigen Widerstand entgegen und 
haben für deren Tätigkeit häufig nur verächtliche Kritik übrig; von 
den Kranken der höheren Verpflegklassen werden die Schwestern 
nicht selten in nicht gerade schöner Weise als Untergebene behandelt. 
Ganz anders sind die Männer, sie sind viel leichter lenkbar und vor 
allem wesentlich dankbarer, sie schätzen die Leistungen der Schwestern, 
die ihnen das Gefühl der Behaglichkeit verursachen, und sprechen ihnen 
rückhaltlos ihre Anerkennung aus für all die kleinen Hilfen, Aufmerk¬ 
samkeiten und Annehmlichkeiten, welche ihnen geboten werden. 

2 Monate nach der Belegung der ersten Station wurde dann ein 
offenes Haus mit 35 männlichen Insassen, welche zum größten Teil in 
der Landwirtschaft tätig waren, unter Schwesternpflege gestellt. 
Auch vor der Besetzung dieser Abteilung setzte die männliche Agita¬ 
tion wieder ein, und es wurde behauptet, daß angeblich zahlreiche 
Kranke den Wunsch geäußert hätten, bei den Pflegern bleiben zu 


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Arnemann, 


dürfen. Zum Teil gingen die Kranken auch wirklich ungern und mit 
Mißtrauen in die neuen Verhältnisse über, aber sehr bald gaben sie 
spontan zu erkennen, wie wohl sie sich fühlten. Von den anfangs in 
Aussicht genommenen Kranken wurde nur ein einziger vom Verfasser 
bei den Pflegern gelassen, weil er in sehr beweglichen Worten darum 
gebeten hatte, jedoch schon nach einer Woche kam er, um anschaulich 
zu berichten, daß er sich überzeugt habe, wie schön es nun seine 
früheren Kameraden hätten, und wie sehr er es bedaure, nicht mit um¬ 
gezogen zu sein. Er mußte erst noch eine Zeitlang die vorher ver¬ 
schmähte Wohltat entbehren, dann aber wurde ihm als Weihnachts¬ 
geschenk die Versetzung in Schwestempflege beschert. Wie hoch diese 
Kranken aber die Veränderung einschätzen, läßt sich u. a. aus der 
Äußerung eines Patienten erkennen, welcher erklärte: „Ich komme 
mir jetzt vor, als wenn ich verheiratet wäre.“ Und gerade 
das in diesem Ausspruch hervorgehobene Moment des familiären 
Lebens, auf welches Verf. weiter unten noch ausführlicher zu sprechen 
kommen wird, stellt einen gar nicht hoch genug zu bewertenden Vorzug 
der weiblichen Pflege auf Männerabteilungen dar. 

Es sind dann in der Folgezeit, entsprechend den Einberufungen 
der Pfleger, weitere Stationen unter weibliche Pflege gestellt worden, 
so daß am 31. Dezember 1916 im ganzen 124 geisteskranke Männer 
unter der Pflege von 15 Schwestern und 3 Hilfswärterinnen standen. 
Und wenn in der hiesigen Anstalt nicht eine relativ große Anzahl von 
Pflegern noch zur Verfügung stände, weil wir ziemlich viel ältere, nicht 
mehr militärpflichtige Pfleger haben, so würde die Schwestempflege 
nach den bisherigen günstigen Erfahrungen schon längst einen weit 
größeren Umfang erreicht haben. Aber auch bei der letzten vorge¬ 
nommenen Erweiterung konnte man erkennen, mit welchen gemischten 
Gefühlen das Unternehmen von der Pflegerschaft betrachtet wird. Als 
nämlich an einem einzigen Tage wieder 3 Pfleger zum Heeresdienst 
einberufen wurden, erklärte das Oberpflegepersonal ganz spontan, 
daß trotz des Wegfalls dieser 3 Pfleger der gesamte Dienst vollständig 
anfrechterhalten werden könnte, und daß irgendwelcher Ersatz nicht 
nötig sei. Wenn unter andern Verhältnissen plötzlich 3 Pfleger hätten 
weggenommen werden sollen, dann wären die allergrößten Bedenken 
geäußert worden, aber im vorliegenden Fall erklärte man sich gern zu 


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Weibliche Pflege aal Männerabteüungen der Irrenanstalten. 357 

Mehrleistungen bereit; der durchsichtige Grund war natürlich der, 
die weitere Ausbreitung der weiblichen Pflege zu verhindern. 

Die Organisation ist nun so getroffen, daß sämtliche Abteilungen 
der Männerseite, welche unter weiblicher Pflege stehen, einer Ober¬ 
schwester untergeordnet sind, und da die Pfleger keinerlei Dienst mehr 
auf diesen Abteilungen tun, sind alle Reibereien zwischen männlichem 
und weiblichem Personal vermieden worden. Andrerseits sind hier 
niemals Liebeleien und Tändeleien zwischen dem Personal und den 
Kranken zur Beobachtung gekommen. Daß dieselben nicht ganz zu 
vermeiden sind, ist sicher und wird durch einige in anderen Anstalten 
gemachte Wahrnehmungen bewiesen. So soll es nach Mitteilungen 
des Schwesternhauses vorgekommen sein, daß eine Schwester auf dem 
Wege des Mitleids eine zu große Vertraulichkeit an den Tag gelegt hat, 
die zunächst zu Bevorzugung und schließlich zur Liebelei führte. 

Es wurden alle Arten von Kranken ausgewählt mit Ausnahme 
der Unruhigsten, der schwer Gewalttätigen und sexuell Erregten, und 
nirgends haben sich erhebliche Nachteile herausgestellt. Zwar ist es 
ganz selten vorgekonmien, daß eine Rück Versetzung w-ünschenswert 
erschien, aber nie hat es sich ereignet, daß der Anwesenheit von weib¬ 
lichem Personal die Schuld an einem auftretenden Erregungszustand 
beigemessen werden mußte. Ferner haben sich keinerlei Mißstände 
dadurch ergeben, daß in der hiesigen Anstalt die Abteilungen meist 
nicht Einzelpavillons darstellen, sondern viele derselben in einem 
einzigen Gebäude, dem alten Hubertusburger Schloß, sich befinden. 
Auch hier, wo die Treppenhäuser für die mit männlichem und weib¬ 
lichem Personal besetzten Abteilungen gemeinsam sind, ist alles glatt 
gegangen. 

Das Personal schläft grundsätzlich nicht unter den Kranken, 
sondern in besonderen Zimmern, welche so gelegen sind, daß dasselbe 
im Fall der Not von der Nachtwache zu Hilfe geholt werden kann. 
Nachts sind Sitz- und Wandelwachen eingerichtet, welche ausschlie߬ 
lich von den Schwestern und Hilfswärterinnen geleistet werden, nur 
im Anfang, bei der Einführung des neuen Systems auf einer Abteilung 
für Halbruhige im Schloß, war eine Zeitlang der Wachtdienst von 
Pflegern versehen worden. Der Dienst bei den Bädern wird ebenfalls 
vom weiblichen Personal versehen und hat weder von seiten der 
Kranken noch von seiten der Schwestern zu Beschwerden Veran- 


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Arnemann, 


lassung gegeben, vielmehr ist allgemein beobachtet worden, daß sieb 
alles ruhiger und glatter abwickelt als früher. Doch möchte ich nicht 
behaupten, daß gerade diese Frage mit der hier gemachten Erfahrung 
endgültig entschieden ist. Eine Anzahl von Kranken, welche zur 
Außenarbeit oder zur Beschäftigung in die Werkstätten geht, ist wäh¬ 
rend der Arbeitzeit unter Aufsicht der Pfleger, es sind aber auch schon 
einzelne kleine Gruppen unter Anleitung von Wärterinnen draußen 
tätig gewesen, namentlich gilt das von den erwachsenen Idioten. Auf 
diese hat übrigens der Übergang in weibliche Pflege ganz besonders 
günstig gewirkt. Früher war auf der Idiotenabteilung den ganzen Tag 
viel Geschrei und Unruhe, die Kranken waren unter dem scharfen, 
militärähnlichen Regiment der Pfleger meist auffallend gereizt und 
durchaus nicht an Reinlichkeit und geordnetes Wesen, viel weniger an 
irgendeine Tätigkeit zu gewöhnen. Alles das ist anders geworden, 
sie haben durch die milde Hand und die große Geduld der Schwestern 
die Reizbarkeit und die Neigung zur Unsauberkeit und zu allerhand 
üblen Gewohnheiten verloren, sie spielen Ball, beschäftigen sich mit 
Baukästen und andern Spielen und gehen zum Teil einer leichten 
Arbeit nach. 

Nebenbei sei noch bemerkt, daß am 1. Oktober 1915 das der 
hiesigen Anstaltsdirektion unterstehende Landeshospital, in welchem 
außer körperlich hinfälligen auch recht viel geistesschwache Männer 
untergebracht sind, in weibliche Pflege überging. Es werden dort 
zurzeit 31 Männer von 4 Schwestern und 1 Hilfswärterin verpflegt, 
und sie schätzen, wie das nicht anders zu erwarten war, den Wechsel 
ganz außerordentlich hoch. 

Sehr interessant und für die Beurteilung der ganzen Frage wert¬ 
voll ist es nun, auch die Ansichten der beteiligten Kranken 
etwas ausführlicher zu hören, natürlich soweit sie überhaupt zur Ab¬ 
gabe eines einigermaßen brauchbaren Urteils fähig erscheinen. 

Zunächst möchte ich hier das Urteil eines Patienten wiedergebeu. 
welcher zuerst lange Zeit die männliche Pflege kennen gelernt hat, dann 
den Übergang in weibliche Pflege mitmachte und unter derselben jetzt 
noch, nach 2 % Jahren, steht. Er litt draußen an alkoholischen Eifersuchts¬ 
ideen mit Neigung zu Erregungszuständen, ließ aber im übrigen, abgesehen 
von tabischen Erscheinungen, kaum Krankheitsymptome erkennen, ln 
der Anstalt besserte sich sein Zustand sehr bald so weit, daß schon seit 
langer Zeit nur noch ein schwacher Residualwahn nachweisbar ist. Er- 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 359 

läuternd möchte ich zu seinen Angaben bemerken, daß der Kranke ein 
intelligenter Mann ist, der aber nur einfache Bildung besitzt, er hat eine 
kleine Gastwirtschaft mit Hausschlächterei betrieben, gegen das straffe 
militärische Wesen im allgemeinen ist er durchaus nicht eingenommen, 
er war mit Lust und Liebe Soldat, auch im ersten Dienstjahre, kapitulierte 
und war etwa 4 Jahre Bursche bei einem Hauptmann. Seine Angabe 
machte er mir gegenüber in einer einzigen längeren Unterhaltung, auf 
welche er in keiner Weise vorbereitet war, und ich gebe seine Äußerungen 
wörtlich wieder, auch mit den in ihnen enthaltenen gelegentlichen Über¬ 
treibungen. Bemerkenswert erscheint mir besonders, daß er imstande war, 
das, was er sagen wollte, in treffende Worte zu fassen. Er sprach sich über 
den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Pflege nach meiner 
Niederschrift folgendermaßen aus. 

„Die Pflege des Mannes bleibt fabrikmäßig, geschäftlich, maschinen¬ 
mäßig. Was ihm dienstlich vorgeschrieben ist, macht er, aber mehr nicht. 
Vielfach merkt man ihm an, daß er seine Arbeit ungern tut, namentlich 
wenn er kleine Wünsche eines Kranken erfüllen soll. Wer feinfühlig ist, 
merkt das wohl, und man sagt dann lieber nichts, wenn man Wünsche 
hat, man unterdrückt sie. Nicht alle Pfleger sind so, wie ich sage, es gibt 
auch Ausnahmen, aber viele sind doch so. Wenn man als Kranker in die 
Anstalt hereinkommt, so denkt man, das Fabrikmäßige, das ist nun einmal 
so hier, und das muß wohl so sein, aber wenn man dann die Schwestern¬ 
pflege kennen gelernt hat, merkt man den Unterschied und sieht ein, 
daß es die Ärzte gar nicht so haben wollen, wie es die Pfleger machen, d. h. 
so kasernen- und fabrikmäßig, sondern daß die Pflege auch familiär 
gehandhabt werden kann. Ich hatte den Eindruck bei den Pflegern, 
als wäre hier kein Krankenhaus, sondern ein Aufbewahrungshaus, eine 
Internierung. Abends %8 Uhr heißt es: „Ins Bett, 5 Minuten Zugabe 
gibt es nicht“, die Pfleger halten sich an den Buchstaben der Anordnung, 
eine Gefälligkeit gibt es nicht, denn die Pfleger haben ihre Familie und 
haben dafür Interesse, sie sind froh, wenn sie mittags und abends nach 
Hause gehen können. Schon 10 Minuten vorher denken sie nur: „Heim, 
heim“, und von da an wird kein Finger mehr krumm gemacht, und wenn 
bei einem Kranken noch etwas zu tun ist, so überlassen sie am liebsten 
die Arbeit ihrem Nachfolger, aber die Schwestern sind immer da, und sie 
unterziehen sich auch allen Arbeiten sofort und bereitwillig, infolgedessen 
bekommen die Kranken auch viel weniger Dekubitus als bei den Pflegern. 
Bei den Schwestern heißt es nicht, so und so ist es vorgeschrieben und 
keine Idee anders, sondern da wird dem Kranken möglichst viel Freiheil 
gelassen, so viel, als die Schwestern verantworten können, und vor allem 
wird auf die einzelne Person Rücksicht genommen und auf seinen augen¬ 
blicklichen Zustand. Man merkt ihnen an, sie wollen den Kranken zu¬ 
friedenstellen und ihm Freude bereiten, auch wenn sie dadurch etwas 
mehr zu tun bekommen. Die Folge ist, daß alles auf der Abteilung besser 


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geht, es herrscht mehr Zufriedenheit unter den Kranken, während der 
Kranke durch das Verhalten der Pfleger leicht grillig wird, namentlich der 
barsche Ton und die schroffe Art haben etwas Abstoßendes, und wenn ich 
nicht die Schwesternpflege kennen gelernt hätte, würde ich später beim 
Verlassen der Anstalt einen sehr herben Eindruck mit hinausnehmen. — 
Wenn ein Pfleger einen Kranken zur Arbeit heranziehen will, so heißt es 
z. B.: ,,He, Müller oder Schulze, los, Teller waschen“, aber die Schwestern 
sagen: „Würden Sie uns nicht den Gefallen tun und aufwaschen, wir haben 
so viel zu tun?“ Das ist ein großer Unterschied bei derselben Sache, man 
hilft den Pflegern ja auch, aber nicht so gern, und man merkt auch bei den 
Pflegern, daß sie die Kranken hauptsächlich deshalb zu den Arbeiten an- 
halten, um sich selbst die Arbeit zu ersparen, namentlich die schmutzigen 
Arbeiten. — Die Schwestern halten Wäsche und Kleidung in ganz anderem 
Zustand, sie nähen sofort Knöpfe an, stopfen Strümpfe, bessern kleine 
Schäden aus, ehe ein größerer Schaden entsteht, und waschen beschmutzte 
Wäsche sofort aus. Bei den Pflegern dauert es aber manchmal längere 
Zeit, bis schmutzige Wäsche ausgewaschen wird, ferner bessern ja die 
Pfleger nicht selbst aus, sondern geben alles zum Ausbessern fort, und 
daher haben sie gar nicht das Interesse an den Dingen, wie die Schwestern. 
Manchmal hat es mich im stillen geärgert, wie es bei den Pflegern über 
die Sachen geht, und ob die Pfleger zu Hause mit ihren eigenen Sachen 
so umgehen, wie hier, möchte ich bezweifeln, hier könnten Tausende 
gespart werden. Bei dem scharfen An- und Ausziehen von widerstrebenden 
Kranken kommt es oft vor, daß Sachen zerrissen werden, und dann heißt 
es, der Kranke war aufgeregt und hat die Sachen zerrissen. Wenn die 
Kranken unsauber gewesen sind, namentlich die Paralysen, da machen sich 
die Pfleger nicht gern die Finger schmutzig, und sie ziehen dann die Sachen 
so heftig vom Leibe des Kranken ab, daß leicht etwas zerreißt. — 
Das Aussehen der Wohnräume ist bei den Schwestern ein viel besseres 
geworden, alles ist behaglich, die ganze Aufmachung ist eine andere, überall 
sind Servietten, Tischdecken, Blumensträuße, das liegt daran, daß die 
Schwestern hier ihr „zu Hause“ haben, sie machen die Räume den Kranken 
und sich wohnlicher, der Pfleger aber hat hier nur seine Arbeitstätte, 
seinen Berufsraum, seine Gedanken sind draußen, fast jeder hat ja eine 
Familie, ein eigenes Haus, einen Garten, er hat Abmieter usw., und das 
beschäftigt ihn. — Eine Heilung der Krankheit wird durch die Schwestern 
nach meiner Ansicht sicher erleichtert und beschleunigt, es kommt nicht 
zu so heftigen Zusammenstößen wie bei Pflegern, der Kranke W. zog sich 
/.. B. bei den Pflegern nie selbst an, es gab immer Spuk, aber unter den 
Schwestern wurde er viel ruhiger angefaßt, und seitdem zieht er sich selbst 
an. Überhaupt ist die ganze Behandlung eine ruhigere, und ich sage mir, 
wenn die Anstalt als eine Anstalt für Nervenkranke erklärt wird, so gehört 
auch dazu, daß eine möglichst ruhige Behandlung stattfindet. Aber das 
Liebevolle bringt der Pfleger nicht. Ein kranker Mann paßt sich einer 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 361 

Schwester auch viel leichter an als einem Manne, denn der kranke Mann 
sagt sich in seinen Gedanken: „Was ist denn der Pfleger eigentlich ? Er 
hat weiter nichts gelernt und getan, als hier Duminköpfe bearbeitet. Ich 
bin draußen viel mehr gewesen als so ein Pfleger“, und man fügt sich bei 
solchem Überlegen einem derartigen Manne nicht leicht, dagegen paßt 
man sich einer Schwester viel leichter an, weil man von Kindheit an 
gewöhnt ist, bei dem Namen ,.Schwester“ eine Vertreterin des Liebes- 
werkes zu sehen. Das Liebevolle kann man besonders bei den Mahlzeiten 
beobachten. Die Pfleger geben den Kranken das Essen hin, und nun 
müssen sie meist selber sehen, wie sie fertig werden, dagegen sind die 
Schwestern gerade bei den Mahlzeiten ganz besonders eifrig bemüht, die 
Kranken zufrieden zu stellen, sie sind ihnen in jeder Weise behilflich beim 
Essen, wärmen später das, was übrig bleibt, auf und sind oft sehr uneigen¬ 
nützig: sie geben den Kranken sogar von ihrem Essen etwas, damit der 
Patient, der in der Ernährung zurückblieb, wieder hochkommt. — Auch 
beim Baden geht es viel ruhiger zu. Der Pfleger kommandiert: „Rein, los 
gewaschen, raus; was machen Sie denn noch so lange!“ Dagegen ist hierbei 
gerade die weichere und freundliche Behandlung der Schwestern besonders 
erkennbar. Ich selbst wollte eigentlich gar nicht gern zu den Schwestern 
wegen des Badens, weil ich doch unbeholfen bin mit den Beinen, aber die 
Schwestern sind in einer Art, wie es sich gehört, behilflich, so daß sich 
niemand geniert. — Wenn die Schwestern Zeit haben, geben sie sich viel 
mit den Patienten ab, die Pfleger lesen dann Zeitungen, rauchen oder unter¬ 
halten sich untereinander, aber bei den Schwestern wird gesungen, es liest 
eine etwas aus einem Buche vor usw., und dadurch fühlt man sich familiär, 
und man kommt viel eher wieder hoch. Ich weiß, wie es mit dem Kranken 
Z. war, solange der unter den Pflegern war, heulte er den ganzen Tag, 
war verstockt, sprach nicht, und mit einem Male hob sich der Mann. 
Gerade an diesem Manne habe ich die Veränderung und die günstige 
Wirkung der Schwesternpflege zusehends gesehen, ich kann daher nur 
raten, möglichst viel Schwestern zu verwenden, und mancher Kranker 
wird eher entlassen werden können.“ 

Die von diesem Kranken erwähnte Besserung im Befinden des Pa¬ 
tienten Z. entspricht den Tatsachen. Es handelte sich bei dem betreffenden 
Kranken um eine Melancholie, welche schon recht lange (4 Jahre) ange¬ 
halten hatte. Unter der männlichen Pflege kam es immer und immer 
wieder zu Rückschlägen, so daß wir die Prognose für ungünstig hielten: 
da entschlossen wir uns, ihn als einen der ersten Kranken unter Schwestern¬ 
pflege zu geben, und der Erfolg war tatsächlich ein überraschender. Der 
Patient besserte sich zusehends, es kam nicht wieder zu Rückschlägen, 
und jetzt ist der Kranke (ein Schlosser) bereits seit Juni 1915 entlassen. 
Er hat draußen sofort Arbeit gefunden, ist Werkmeister geworden, hat 
die Aufhebung seiner Entmündigung erzielt und ist außerordentlich 
dankbar, namentlich schreibt er seine Genesung ausschließlich der weib- 


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liehen Pflege zu, während er auf die Pfleger gar nicht gut zu sprechen ist. 
Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt, und seine Ansichten über 
den Wert des neuen Systems lauten u. a. wie folgt: 

„Ich kann Ihnen versichern, daß ich bei den Pflegern niemals hätte 
gesund werden können, denn ein feinfühlender Mensch wie ich muß unter 
der Behandlung entweder gereizt oder apathisch werden. Es gibt aller¬ 
dings auch sehr gute, wirklich teilnahmvolle, rücksichtvolle und immer 
zum Guten geneigte Pfleger, die meisten Pfleger aber sind rücksichtlos, 
höhnisch, grob, launisch, hochnäsig, gönnen dem Patienten das Essen 
nicht, haben Freude am Unglück ihrer Patienten, denunzieren, um sich 
zu decken, lassen sich von den Patienten pflegen, lügen, lassen sich ihre 
Stiefeln putzen und reizen oft ihre Kranken. Die Pfleger sprechen einem 
sehr selten Mut zu, und wenn man kleine Anliegen hat, oder wenn man 
vor lauter Gram nicht weiß, wo man sein Herz ausschütten soll, da kann 
man sich nur an die wenigsten von den Pflegern wenden. Zu den Schwestern 
wollte ich nicht, denn ich versprach mir nichts Besseres, und wie unrecht 
hatte ich vermutet. Niemals habe ich, ebenso wie alle andern Patienten, 
bei den lieben Schwestern etwas Unrechtes bemerkt. Wir sind alle sehr 
gut und liebevoll behandelt worden: freundliches Bitten für kleine Dienste, 
peinlichste Sauberkeit beim Essen, kleine Zugaben, oft habe ich sogar 
vom Essen der Schwestern etwas bekommen, sie zeigten große Uneigen¬ 
nützigkeit, Hingabe bei hinfälligen Kranken. Mit der Wäsche war es wie 
Tag und Nacht, die Schwestern haben vieles getan, abends noch genäht, 
bei Verunreinigungen des Nachts wurde sofort Ordnung gemacht, Wäsche 
gewechselt, bei Unruhe gab es ein gütiges und freundliches Zureden, und 
dieses hat in den meisten Fällen geholfen. Überhäupt war auch am Tage 
viel mehr Ruhe auf der Abteilung wie bei den Pflegern, beim Essen wurden 
die unfähigen Kranken liebevoll gefüttert; mancher, der bei den Pflegern 
nicht gegessen hatte, aß bei den Schwestern, sie brachten es eben in den 
schwierigsten Fällen fertig. Beim Baden habe ich oft gestaunt, wie Pa¬ 
tienten, sonst sehr störrisch, einfach von einer einzigen Schwester an der 
Hand ins Bad geführt wurden, wo sonst vielleicht drei Pfleger Hand an- 
legen mußten. Das Baden war für mich eine Lust geworden, weil die 
Wanne immer wieder sauber geputzt wurde. Bei der Nachtwache hat 
Schwester Dora mit bewunderungswürdiger Ruhe und Gelassenheit alle 
Krakeeler zur Ruhe gebracht, und mit mir waren alle die lieben Schwestern 
herzlich gut, und daher auch meine schnelle Genesung; ich fand den 
Lebensmut wieder. Bei kleinen Anliegen fand man stets Entgegenkommen, 
und gegenüber der Oberschwester und dem Arzt wurde niemals etwas ver¬ 
heimlicht oder entstellt beim Fragen nach den Patienten. Die Schwestern 
und Oberschwestern haben wirkliches Gefühl und suchen jedem Patienten 
sein Los zu erleichtern, da könnten die Herren Pfleger und Oberpfleger 
noch sehr viel lernen. Wir haben auch viel Unterhaltung gehabt bei den 
Schwestern, fröhliche Unterhaltung und manchmal einen Heidenspaß, 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 363 


aber bei den Pflegern ist mir das Lachen vergangen. Wenn es in den 
Garten ging, da gingen wir mit den Schwestern alle gern, denn sie unter¬ 
hielten sich mit uns, erzählten uns etwas und freuten sich mit uns; im 
Winter haben wir uns mit Schneeballen geworfen. Die Pfleger sind dazu 
zu faul und zu stolz. Wenn man diese feinen Herren sprechen hörte, so 
waren es ihre Familienverhältnisse: wieviel Stollen sie backen, und was 
sie sonst Gutes zu essen hätten, der eine hatte Gänsebraten, der andere 
Karpfen, der dritte hatte zu den Feiertagen eine Sau geschlachtet, die 
Frau des einen hatte einen neuen Hut, die des andern einen Pelz, der dritte 
sprach den ganzen Tag von seinem Haus, aber für ihre Patienten da gab 
es kein freundliches Wort. Die Nachteile möchte ich sehen, welche die 
Schwesternpflege haben soll! Es können nur Kleinigkeiten sein, und diese 
sind dann nicht vorhanden, wenn die Auswahl der Kranken die richtige ist. 
Zu meiner Zeit waren einige Gefährliche da, und ich habe da manchmal 
den Hausknecht markiert, aber alles ging ganz gut. Es gibt auch hand¬ 
feste Schwestern genug, um Ruhe zu halten in bösartigen Fällen. Wenn 
man manchmal Sehnsucht nach daheim hatte, fand man bei den Schwestern 
das beste Verständnis und viel Teilnahme. Wenn Patienten der ersten 
und zweiten Klasse nicht wohl waren und nicht essen konnten, so kam 
alles den andern Kranken zugute. Beim Aufstehen und Waschen ging 
alles sehr gut, die Kranken ließen sich ruhig waschen, dagegen gingen 
die Pfleger beim Waschen nur etwas freundlich mit den Patienten um, 
wenn der Oberpfleger anwesend war, sonst ging es manchmal etwas derb zu. 
Und auf Grund meiner Beobachtungen kann ich nur die Bitte und den 
Wunsch aussprechen, daß noch recht viel Schwestern auf den Abteilungen 
verteilt werden möchten, damit allen Patienten mehr Licht zukommt.“ 

Bei der Bewertung der von den beiden Kranken gemachten An¬ 
gaben muß man berücksichtigen, daß sie die schwerste Zeit ihrer 
Krankheit unter Männerpflege durchgemacht haben, und daß sie daher 
manche Maßregeln der Pfleger, welche sich bei ihnen selbst oder bei 
ihren Mitkranken notwendig machten, infolge ihrer Krankheit nicht 
richtig beurteilten, oder wenigstens zu scharf kritisierten. Das einmal 
gefaßte Urteil haben sie, wie das oft bei Geisteskranken vorkommt, 
beibehalten und nachträglich gar nicht gemildert, und so kommt es, 
daß sie an dem Stand der Pfleger nicht viel zu loben haben. Das darf 
nicht unwidersprochen bleiben. Denn im allgemeinen leisten die 
Pfleger, namentlich unsere sächsischen Pfleger, welche sich diesen 
Beruf als Lebensberuf erwählt haben, das, was man verlangen kann. 
Daß sie von Natur aus nicht so zum Pflegeberuf veranlagt sind, wie das 
Weib, ist nicht ihre Schuld und wird überall beobachtet. Sie gehen 
eben meist nicht in ihrem Beruf vollständig auf, lassen sogar manchmal 


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Arneinann. 


die Arbeit an sich herankommen, ferner sind sie vielfach ganz, unbe¬ 
wußt streng und barsch, und dadurch wirken sie verhältnismäßig 
leicht aufreizend, aber sie tun ihre Pflicht und Schuldigkeit und er¬ 
füllen den Wortlaut der Dienstvorschriften. Bei einem Vergleich 
mit dem weiblichen Personal schneiden sie allerdings weniger gut ab, 
besonders deshalb, weil die Leistungen des letzteren sich im Durch¬ 
schnitt qualitativ und vielfach sogar quantitativ auszeichnen, und 
gerade das wird von den Kranken empfunden und bringt den famili¬ 
ären Charakter in die Pflege hinein. Es ist eben den Schwestern 
gegeben, treue Pflichterfüllung mit Herz und Gemüt zu paaren, und 
dadurch stellen sie ein inniges Verhältnis her 7,wischen sich und ihren 
Kranken. 

übrigens haben auch die andern Kranken, welche vom Verf. 
gefragt worden sind, sich in ganz ähnlichem Sinn wie die beiden er¬ 
wähnten Patienten geäußert, sie waren nur meist nicht imstande, 
in gleicher Ausführlichkeit und Klarheit ihre Ansichten wiederzugeben. 
Immerhin ist ein kurzes Urteil beachtenswert, welches ein TischleT- 
geselle abgab, er sagte: 

„Man glaubt gar nicht, wie sich die Männer leiten lassen 
von den Frauen. Die Frauen ignorieren das Schimpfen, und dadurch 
wird Krawall vermieden, jeder Sturm legt sich, es ist wie öl auf den Wogen. 
Die Frauen haben auch viel mehr Menschenkenntnis, sie kennen jeden 
einzelnen sehr genau, sie kennen die Eigentümlichkeiten eines jeden und 
behandeln ihn entsprechend, sie sprechen mit den Kranken über ihre 
häuslichen Angelegenheiten, fragen sie direkt danach, dadurch werden sie 
bekannter mit ihnen und treten ihnen viel näher, ihr ganzes Wirken ist 
ein familiäres. Dagegen ist bei den Pflegern alles schematisch, purer 
Dienst und weiter nichts, Individuelles fällt ganz weg, aber bei den 
Schwestern herrscht Individualismus. Es gibt natürlich unter den 
Schwestern auch einige, welche nicht alle Vorzüge besitzen, aber die 
meisten sind so.“ 

Sehr beachtlich ist der Umstand, daß alle Kranke erklärt haben, 
sie fühlten sich so wohl und behaglich, daß sie nicht wieder zu den 
Pflegern zurück möchten. Auch den Angehörigen der Kranken fällt 
bei ihren Besuchen der Übergang in weibliche Pflege vorteilhaft auf, 
und die Veränderung wird von ihnen lobend hervorgehoben. 

Im allgemeinen läßt sich sagen, daß in den wiedergegebenen Ur¬ 
teilen der gefragten Kranken alle Vorzüge der weiblichen Pflege 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten. 365 


niedergelegt sind, und daß damit die von vielen Ärzten schon ge¬ 
machten Erfahrungen bestätigt und ergänzt werden. Es bleibt nur 
übrig, zu erwähnen, daß auch in Hubertusburg finanzielle Vorteile 
mit der ganzen Einrichtung verbunden gewesen sind, da die Besoldung 
der weiblichen Kräfte geringer ist als diejenige der Pfleger. 

Überblicken wir nun die Gesamtheit der bis jetzt vorliegenden 
Mitteilungen über die Verwendbarkeit weiblichen Personals auf 
Männerabteilungen, so kann man etwa folgendes sagen. 

Ein abschließendes Urteil wird sich erst im Frieden bilden lassen, 
aber es unterliegt keinem Zweifel, daß sich der durch den Krieg ge¬ 
schaffene Ausnahmezustand auf die normalen Verhältnisse zum Teil 
übertragen wird. Aus zahlreichen Berichten ist zu entnehmen, daß 
zunächst alle Anstalten, welche überhaupt Versuche angestellt haben, 
mit den Leistungen des weiblichen Personals auf den Siechenabteilun¬ 
gen zufrieden gewesen sind, viele haben ferner erkannt, und zwar meist 
zu ihrer großen Verwunderung und Überraschung, daß die neue Ein¬ 
richtung sich auch auf andern Abteilungen recht gut verwirklichen 
läßt, und daß sie sogar durchschnittlich eine wesentliche Verbessemng 
der Gesamtverhältnisse darstellt. Die erzielten Erfolge sind 
sogar so ermutigend, daß schon eine ganze Reihe von 
Anstalten erklärt haben, sie würden das neue System 
auch im Frieden beibehalten. Der Krieg hat uns eben ge¬ 
zwungen, theoretische Bedenken beiseite zu lassen und mit Anschauun¬ 
gen aufzuräumen, welche von einer Generation der Psychiater auf 
die andere sich vererbt hatten, und in den uns aufgezwungenen 
neuen Verhältnissen haben wir das bestätigt gefunden, was an 
einzelnen Stellen im Ausland schon längst erprobt war (Hol¬ 
land, England und Rußland), und was in der letzten Zeit 
vor dem Kriege auch in Zschadraß sich bewährt hatte. Und 
w r enn schließlich in Zukunft das weibliche Element im Irren¬ 
pflegedienst der Männerabteilungen eine große Rolle spielen sollte, 
so wäre das erklärlich nach dem Grundsatz: „Das Bessere ist 
der Feind des Guten.“ Man darf dann darin nicht etwa einen unbe¬ 
rechtigten Eingriff in einen männlichen Beruf erblicken, denn, wenn 
man sich die Sachlage richtig überlegt, hat ja eigentlich infolge der 
geschichtlichen Entwicklung der Irrenpflege der Mann in einem Beruf 
Boden gefaßt, der seiner Natur nach ein weiblicher ist. Selbstvcr- 


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Arnemann, 


stündlich ist nun nicht gemeint, daß die männliche Pflege überhaupt 
als entbehrlich angesehen werden soll, sie bleibt ein wertvoller una 
unentbehrlich Faktor in der Behandlung männlicher Geisteskranker, 
aber sie wird sicher in jeder Anstalt eingeschränkt werden können. 

Wie groß die Zahl der in Frage kommenden Kranken sein wird, 
läßt sich zurzeit noch nicht genau angeben, es hängt dies auch sehr 
von der Art des gesamten Krankenmaterials in den einzelnen An¬ 
stalten ab. Legt man die Verhältnisse der Anstalt Zschadraß zugrunde, 
so kommt man auf ca. 60% der männlichen Kranken; es ist aber hierbei 
zu berücksichtigen, daß entsprechend den in Sachsen geltenden Auf- 
nahmebestimmungen dort keine verbrecherischen, schwer unsozialen 
und epileptischen Kranken untergebracht sind. 

Als ungeeignet für die weibliche Pflege müssen zunächst verbreche¬ 
rische Elemente angesehen werden, dann sexuell erregte und ferner 
gewalttätige, im übrigen kann aber der Versuch mit allen Arten von 
Geisteskranken gemacht werden, vorausgesetzt, daß es gelingt, geeig¬ 
nete Pflegerinnen zu finden. Dann aber bietet entschieden die 
weibliche Pflege die denkbar mildeste Form der Behand¬ 
lung, welche wir unseren männlichen Kranken innerhalb der 
Anstalt angedeihen lassen können. Sie fühlen sich ja auch nach ihren 
eigenen Angaben wohler und behaglicher als unter den Pflegern, und 
sie empfinden es zum Teil selbst, daß die ganz andersartige Verpflegung 
sie belebt, befriedigt und fördert. 

Wie sich der Dienst bei besonderen Verrichtungen gestaltet, z. B. 
der Wachdienst, der Dienst beim Baden und bei den verschiedenen 
Arbeitsabteilungen, wird erst noch sorgfältiger Prüfung überlassen 
werden müssen, ebenso die Frage, ob es empfehlenswert ist, auf einigen 
Abteilungen neben den Pflegerinnen noch männliche Kräfte zum Schutz 
und zur Hilfe zu belassen. Wahrscheinlich werden diese Fragen über¬ 
haupt nicht verallgemeinert werden können, sondern lokal verschieden 
behandelt werden. 

Sollten sich im Anfang unliebsame Vorkommnisse ereignen, sei 
es von seiten der Kranken, sei es von seiten des Personals, so darf 
man sich nicht abschrecken lassen, sie sind bei zunehmender Erfahrung 
zu vermeiden, und sicher ist, daß die kleinen Nachteile weit überragt 
werden von den Vorzügen. Wichtig ist, daß der Übergang in die neuen 
Verhältnisse langsam und vorsichtig vorgenommen wird, und daß 


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Weibliche Pflege auf Männerabteilongen der Irrenanstalten. 367 

möglichst ältere und durchaus erfahrene Pflegerinnen ausgewählt 
werden. 

Zunächst kommt es vor, daß nicht alle Schwestern ohne weiteres 
die richtige Stellung den Männern gegenüber finden, jedoch hebt sich 
die Schwierigkeit sehr bald im Laufe der Zeit. Sexuelle Angriffe sind 
bei vorsichtiger Auswahl der Kranken meist zu vermeiden, die Beob¬ 
achtung hat übrigens ganz allgemein gelehrt, daß sie viel seltener Vor¬ 
kommen, als man von vornherein befürchtet hatte. Erregungen anderer 
Art treten natürlich auf, aber die Praxis hat ergeben, daß sie unter 
weiblicher Pflege viel seltener und weniger intensiv auftreten, und 
daß andrerseits die Schwestern auch mit gelegentlich vorkommenden 
Erregungszuständen allein oder mit Unterstützung hilfsbereiter 
Kranker fertig werden. Unglücksfälle können sich allerdings ereignen, 
sie bleiben jedoch bei Männerpflege ebensowenig aus und dürfen nicht 
dem System zur Last gelegt werden. 

Bei der Frage nun, ob man sich für die weibliche Pflege entscheiden 
soll, kann nach meiner Ansicht auf viele Gesichtspunkte verwiesen 
werden, welche für die Einführung der Familienpflege als maßgebend 
bezeichnet worden sind. Alt hat ja in seinen bekannten Veröffent¬ 
lichungen darüber eingehend berichtet, und Verf. hat in einem Referat 
über Familienpflege x ) das Wichtigste darüber zusammengefaßt. Für 
die meisten Geisteskranken kommt ja leider eine recht lange Abwesen¬ 
heit vom eigenen Heim in Frage, und gerade das Femsein von den 
Ihrigen drückt viele Kranke außerordentlich. Als drückend erscheint 
namentlich die Monotonie des Anstaltslebens, der Mangel an genügen¬ 
der Anregung, lästig wirkt auf die Dauer die strenge Durchführung 
der Anstaltsordnung, und das Zusammenleben mit einer großen Zahl 
von Fremden läßt die Behaglichkeit und Gemütlichkeit des Familien¬ 
lebens vermissen. Wir Irrenärzte sind daher ganz besonders verpflichtet, 
den uns anvertrauten Kranken ihre Leidenszeit möglichst wenig fühl¬ 
bar zu machen und Mittel und Wege zu suchen, ihnen den Aufenthalt 
in der Anstalt so erträglich wie nur möglich zu gestalten, und da ist 
die Erkenntnis wichtig, daß die Einführung der weiblichen Pflege auf 
Männerabteilungen dem ganzen Getriebe einen mehr familiären 
Charakter gibt. Es unterliegt hierbei keinem Zweifel, daß dieser 


*) Sachs. Arch. für Rechtspflege 1913, Nr. 14/15. 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 4. 26 


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368 Arnemann, Weibliche Pflege anf Männerabteilangen d. Irrenanstalten. 

Erfolg am besten erzielt wird, wenn die Zahl der Schwestern größer 
ist als diejenige der mitpflegenden Wärterinnen. * 

Wie bekannt ist, bedurfte seinerzeit die Einführung und weitere 
Ausbreitung der Familienpflege in Deutschland auch eines besonderen 
Anlasses. Es braucht ja nur daran erinnert zu werden, daß im Jahre 
1893 das Gesetz über die außerordentliche Armenlast in Preußen in 
Kraft trat, welches zu einem ungeheuren Bedarf an Anstaltsplätzen 
geführt hat. Die Behörden interessierten sich daraufhin in ganz be¬ 
sonderem Maße für die Familienpflege, und der Ausbreitung der letzte¬ 
ren ist es zu danken, daß zahlreiche kostspielige Neubauten vermieden 
wurden. Ganz ähnlich verdankt plötzlich die weibliche Pflege auf 
Männerabteilungen einem besonderen Anlaß, einer Notlage, das ihr 
entgegengebrachte Interesse, und sie wird hoffentlich, ebenso wie die 
Familienpflege, allmählich zu einer dauernden Einrichtung werden. 

Diese Neuerung im inneren Betrieb der Irrenanstalten kommt ja 
wieder andern Gruppen von Geisteskranken zugute als die Familien¬ 
pflege, aber die zu erwartenden Wirkungen auf die Kranken sind ganz 
analoge. Denn sehr viele chronisch kranke Männer, welche nicht 
für die freieste Verpflegform, die Familienpflege, in Frage kommen, 
eignen sich für weibliche Pflege innerhalb der Anstalt, und unter dieser 
fühlen sie sich nicht bloß im allgemeinen wohler, sondern diese bietet 
ihnen den besten Ersatz für ihr Familienleben, das sie schwer 
vermissen; andrerseits ist zu erwarten, daß für eine ganze Reihe von 
heilbaren geisteskranken Männern, deren Leiden gewissermaßen auf 
einem toten Punkt angelangt ist, das neue System geradezu als ein 
wichtiger Heilfaktor sich erweist. Denn ganz ähnlich, wie über¬ 
raschende Besserungen und Heilungen erfahrunggemäß bei Geistes¬ 
kranken eintreten, wenn sie in eine andere Anstalt versetzt werden, 
oder wenn sie bloß in eine ganz andere Umgebung derselben Anstalt 
kommen, so werden sich die unter weiblicher Pflege stehenden Männer- 
abtoilungen nicht selten heilbringend erweisen und werden somit ein 
wichtiges Instrument darstellen in der Hand des Irrenarztes. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine 


101. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychia¬ 
trie in Breslau am 9. Dezember 1916. 

Anwesend die Herren: Alter-Krietern, Gertrud Än/-Breslau, Bumke- 
Breslau, Buttenberg- Freiburg, Cyran-Breslau, Dinter- Leubus, Dreserc-Brieg, 
Ensau, Foerster- Breslau, Freund-Breslau, GoMa-Breslau, Z/aAn-Breslau, 
//auc/c-Breslau, //einze-Breslau, //onigmann-Breslau, Hay n-Beuthen, Jo¬ 
seph, v. Funou's/ri-Rybnik, Fufner-Breslau, Lange, Michchowiiz, Moskie- 
(vicz-Breslau, ilfann-Breslau, Pulvermacher, Petersen-Brieg, Peterssen-Bor- 
etef-Plagwitz, .SaeAs-Breslau, Schubert- Lüben, .SWiütze-Tost, iStertz-Breslau, 
»Sprenger-Obernigk, Taunel, Thürwächter-Rybmk, Ziertmann-BnmlsM, 

Der Schriftführer, Herr Clemens Neisser, heißt die Mitglieder und 
Gäste willkommen und gedenkt des verstorbenen Vorsitzenden Professor 
Alois Alzheimer und des verstorbenen Mitgliedes Paul Przewodnik-hxtben. 

Meine Herren! Es liegt mir heute ob, die Sitzung zu eröffnen und Sie 
zur erstmaligen Tagung während des Krieges zu begrüßen. Seitdem wir 
zum letzten Male zusammenkamen, hat unser Verein schwere Verluste 
erlitten. In erster Reihe steht der herbe Schlag, der uns betroffen hat 
durch den Tod unseres Vorsitzenden, des Herrn Professor Alzheimer, 
welcher vor fast genau einem Jahre am 19. Dezember 1915 dem Leiden 
erlegen ist, welches ihn überfiel, als er hierher nach Breslau reiste, hierher 
an das Ziel neuen selbständigen Wirkens und Lehrens von dieser hervor¬ 
ragenden Stelle aus, nachdem er durch seine Forschertätigkeit sich längst 
seinen Platz in der wissenschaftlichen Welt erobert hatte. Meine Herren! 
Die Nachrufe in der gesamten medizinischen Presse geben ein Bild von 
der überragenden Bedeutung Alzheimers, wie namentlich auch von der 
warmen Verehrung, welche seiner Persönlichkeit als Forscher und Mensch 
gezollt worden ist. Ich vermag Ihnen Neues nicht zu sagen, nicht Besseres, 
um nur einige zu nennen als Lewandowski, der so feine Worte gefunden hat, 
als unser Kollege Stertz, der das Glück hatte, dem Verstorbenen während 
seines hiesigen Wirkens so besonders nahe zu kommen, und als Spiel¬ 
meyer, der Alzheimers Lebensarbeit mit der Pietät des Schülers so meister¬ 
haft zur Darstellung gebracht hat. Für den engeren Kreis unseres Vereins, 

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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


welchem er nur an zwei Sitzungen angewohnt hat, konnte Alzheimers 
Arbeit in unmittelbarer Wirkung naturgemäß nicht dasselbe bedeuten 
wie diejenige seiner Vorgänger, insbesondere des unvergeßlichen Wernicke 
und von Bonhoeffer, an deren wissenschaftlichem Streben und Fortschreiten 
wir stets in erster Reihe und fortlaufend beteiligt wurden. Immerhin hat 
er alsbald in der Sitzung vom 7. Dezember 1912, in welcher er dem Verein 
beitrat, in seinem Vortrage „Über noch nicht genauer bekannte paralyse- 
ähnliche Krankheitsbilder“ uns in sein eigenstes Arbeitsgebiet geführt, 
und er hat durch seine Vorschläge bezüglich der antiluischen Paralyse¬ 
behandlung ein gemeinsames Vorgehen der Klinik und der Provinzial¬ 
anstalten von dieser Stelle aus angeregt, so daß wir die Hoffnung haben 
durften auf einen engeren wissenschaftlichen Zusammenschluß und auf 
Förderung unserer eigenen Arbeit. 

Daß Alzheimer als anatomisch-histologischer Gehirnforscher über¬ 
ragend war und kaum ersetzbar, das wird, auch in den Nachrufen und 
Gedenkreden, von allen Seiten betont. Seiner besonderen Bedeutung 
aber, glaube ich, kann man nur gerecht werden, wenn man sich gegen¬ 
wärtig hält, daß von Alzheimer die klinischen Fragen mit mindestens 
dem gleichen Interesse umfaßt wurden, und daß er diese auch bei seinen 
anatomischen Arbeiten stets im Auge behielt, ohne doch je die Selbständig¬ 
keit beider Forschungsgebiete außer acht zu lassen und die Leistungs¬ 
grenzen in bezug auf die Verknüpfung der Ergebnisse zu verkennen. 
Gerade diese Tatsache scheint mir von ganz besonderer Bedeutung für die 
Auffassung von Alzheimers wissenschaftlicher Entwicklungsrichtung und 
seinen Forschererfolgen zu sein. Sie erklärt, warum Alzheimer zu Kraepe - 
lins Schule — auch innerlich — in ein näheres Verhältnis kam als zu 
Wernicke, trotz dessen mehr anatomischer Denkweise. 

Man muß sich die Entwicklung der deutschen klinischen Psychiatrie 
seit derZeit vergegenwärtigen, als der 24jährige Alzheimer zu dem Weslphal- 
schüler Sioli nach Frankfurt als Assistent kam, wo Nissls grundlegende 
Arbeiten reiften, während gleichzeitig im Senckenbergschen Institut Karl 
Weigert und Edinger Jünger aus aller Welt zu anatomischen Studien am 
Nervensystem anleiteten. Die klinische Psychiatrie dagegen stand damals 
nicht auf der Höhe. Die unter Westphals Einfluß die Diagnostik beherr¬ 
schende Lehre von der Verrücktheit, jener Kollektivgruppe, blieb ganz im 
Symptomatischen stecken; Westphals Abtrennung der Zwangsvorstellungen 
von den Wahnideen bereicherten mehr die Kenntnis der Neurosen als der 
Psychosen. Eine gewaltige Förderung brachte er zwar für die Paralyse¬ 
lehre, aber nicht von der psychiatrischen Seite, sondern durch die neuro¬ 
logisch-anatomische Bearbeitung der spinalen Symptome. Und von be¬ 
sonderem Einfluß für die ganze Arbeitsrichtung wurde es, da.üWestphal das 
führende literarische Organ, sein Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank¬ 
heiten, psychiatrisch-klinischen Arbeiten kaum öffnete oder sie doch hinter 
den neurologisch-anatomischen Untersuchungen offensichtlich zurücktreten 


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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie. 


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ließ. Je weniger von Psychischem die Rede war und je mehr vom nervösen 
Substrat, desto wissenschaftlicher erschien die Betrachtungsweise. Es 
kam dann Meynerts genialer Versuch der Begründung der Psychiatrie auf 
die anatomisch-physiologischen Vorderhirnleistungen, jener Versuch von 
wunderbarster künstlerischer Plastizität, aber aufgerichtet zum Teil auf 
unsicher hypothetischem Unterbau und darum nicht geeignet, als Aus¬ 
gangspunkt für eine ruhig fortschreitende klinische Weiterarbeit zu dienen. 
Eine wirklich klinische Betrachtungsweise, wie sie in andern medizinischen 
Disziplinen längst eingebürgert war, eine Betrachtungsweise, welche nicht 
nur die symptomatischen Zustandsbilder, sondern den ganzen Krankheit¬ 
ablauf ins Auge faßt und die einzelnen Symptome vom allgemein-patho¬ 
logischen Standpunkt zu werten trachtet, mußte für die Psychiatrie so gut 
wie neu begründet werden. Von den Anfängen hierzu ist in unseren Vereins¬ 
sitzungen manches zum Vortrag gekommen. Es gelang von diesem Stand¬ 
punkt aus, die Krankheitform der Katatonie und Kahlbaums klinische 
Gesichtspunkte zur Anerkennung zu bringen. Klinische DifTerential- 
betrachtungen über das Symptom der Verbigeration, der Konfabulation, 
des Residualwahns, der Eigenbeziehung, der Perseveration u. a. schlossen 
sich an; es kamen vor allem die klassischen Arbeiten der FPerntc/reschen 
Schule, ausgehend von den gehirnpathologischen Grenzgebieten, den im 
weiteren Sinne aphasischen und asymbolischen Störungen, es kam Lis- 
sauers atypische Paralyse, Bonhöffers Alkoholpsychosen, Liepmanns 
Apraxie und endlich, mit Spannung erwartet, die neue systematische 
Darstellung der psychischen Krankheitserscheinungen in Wernickes Grund¬ 
riß. War durch ihn die Analyse der Zustandsbilder und die Beschreibung 
und Differenzierung der Symptome unvergleichlich gefördert worden, so 
hatte während dessen Kraepelin mit seinen Schülern durch intensivste 
Durcharbeitung des gesamten Krankenmaterials die großen klinischen 
Gruppen der Psychosen nach ihrem Ablauf, ihrer Prognose, ihren End¬ 
ausgängen neu begründet, und jetzt erst war sowohl für methodische 
klinische Kleinarbeit als auch für die Inangriffnahme der Frage nach 
den pathologisch-anatomischen Grundlagen der einzelnen psychi¬ 
schen Krankheiten die Bahn frei gemacht. 

So fand nun Alzheimer den Boden bereitet und konnte mit dem ganzen 
Rüstzeug verfeinerter Technik, welche er wie wenige beherrschte, und an 
deren Entwicklung er jahrelang selbsttätig Anteil genommen hatte, frucht¬ 
bare Arbeit leisten und mit' der ihm eigenen, nie abirrenden Klarheit der 
Gesichtspunkte sein Gebiet abstecken. Dieser Geradlinigkeit und Einfach¬ 
heit seiner Fragestellungen, im Verein mit der Sorgfalt und Zuverlässig¬ 
keit seiner Arbeitsweise war es zu danken, daß er, soweit ich unterrichtet 
bin, niemals etwas zu widerrufen oder zurückzunehmen hatte, was von 
ihm als wissenschaftliches Ergebnis bekanntgegeben war. In selten glück¬ 
licher Weise mischte sich bei ihm optimistische Zuversicht bezüglich der 
Erreichbarkeit der in Angriff genommenen wissenschaftlichen Ziele mit 
vorsichtiger Skepsis bezüglich aller Einzelergebnisse. Und zu diesen 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Eigenschaften, die seinen Forscherruhm begründeten, gesellte sich eine 
nicht gewöhnliche Beherrschung des Wortes und eine Fähigkeit zu abge¬ 
rundeter didaktischer Darstellung, welche seine Vorträge zu einem Genuß 
machten und seinen Diskussionsbemerkungen stets eine Wirkung sicherten. 

Und wenn es mir gestattet ist, noch Persönliches anzufügen, so darf 
ich mit Dankbarkeit der freundschaftlichen Beziehungen gedenken, welche 
durch mehr als 20 Jahre mich mit Alzheimer verbunden haben, und ich 
gedenke mit besonderer Freude des Besuchs, den er um die Mitte der 
90er Jahre mir in Leubus machte. Aber die Hoffnungen, welche ich auf 
die nähere persönliche Berührung jetzt gesetzt hatte, haben sich nicht 
erfüllt. Der Druck der Kriegsarbeit lastete schwer auf Alzheimer, und 
die Krankheit hatte schon einen Schatten auf die Persönlichkeit geworfen 
und eine dieser kernigen Frohnatur sonst fremde Reizbarkeit gezeitigt. 
Aber wer nicht vergleichen konnte, wer ihn nicht früher gekannt, ge¬ 
riet auch jetzt noch ganz in den Bann dieser begabten, starken und 
liebenswürdigen Persönlichkeit, und ich bin sicher, daß Sie, meine Herren, 
daß wir alle dem teuren Entschlafenen ein verehrungsvolles, treues Ge¬ 
denken bewahren werden! 

Noch einen zweiten betrübenden Verlust hat der Verein erlitten 
durch den Tod des Oberarzt Dr. Paul Przewodnik von der Lübener Anstalt, 
welcher am 18. Juli 1916 in Ausübung seines Berufs als Bataillonsarzt zu¬ 
sammen mit dem Bataillonskommandeur und Adjutanten bei einem 
englischen Angriff in Flers bei Bapaume gefallen ist, im Alter von 37 Jahren. 
Meine Herren, der Kollege Przewodnik hat im Felde als Arzt sich ebenso 
wie in seiner ganzen Anstaltstätigkeit mit hervorragender Treue betätigt. 
Im Jahre 1902 hatte ich die Freude, ihn als meinen Assistenten in Lublinitz 
in die Psychiatrie einzuführen, und ich kann versichern, daß er in seinem 
Interesse und seinem Verständnis auch für feinere Probleme unserer 
Wissenschaft sich schon damals auszeichnete, und daß er sich die allge¬ 
meinste Schätzung und Zuneigung erworben hat, welche ihm über das 
Grab hinaus gewahrt bleiben soll! 

Ich bitte Sie, sich zum Gedächtnis unserer verschiedenen Mitglieder 
von den Plätzen zu erheben. 

Sodann habe ich noch die Freude mitzuteilen, daß Herr Prof. Bumke 
zum Eintritt in unseren Verein sich gemeldet hat. Indem ich Herrn Prof. 
Bumke hier als Mitglied begrüße, habe ich zunächst schon den Dank auszu¬ 
sprechen, daß er für unsere Tagung nach alter Tradition die Klinik zur 
Verfügung gestellt hat. Wir sind gewöhnt, die Klinik als den Mittelpunkt 
und Brennpunkt unserer wissenschaftlichen Bestrebungen zu betrachten, 
und ich hoffe, daß Herr Bumke sich wie seine Vorgänger als uns ganz zu¬ 
gehörig betrachten, daß er es sich in unserem Kreise gefallen lassen werde, 
und daß er sich überzeugt halten möge, daß wir stets dankbar sein werden, 
wenn wir von der Klinik lernen dürfen. 

Sodann werden auf den Vorschlag des Herrn Prof. Mann Herr 


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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie. 


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Clemens Neisser zum Vorsitzenden und Herr Bumke zum Schriftführer 
des Vereins gewählt. Es folgen die Vorträge. 

Vor der Tagesordnung demonstriert 

Herr C. S. Freund den Befund einer tuberösen Sklerose an dem 
Gehirn eines vor 2 Tagen verstorbenen 35jährigen, von Jugend an ver¬ 
blödeten, mit epileptischen Anfällen behafteten Idioten. 

Die Diagnose war zu Lebzeiten l ) gestellt worden auf Grund von 
Hautveränderungen: (rötliche Hautwärzchen in den Nasen¬ 
lippenfalten und in der das Kinn von der Unterlippe abgrenzenden Falte, 
ein Keloid rechterseits an der Stirn, eine Alopecia areata am Hinter¬ 
kopf, kleine gestielte Hautfibrome beetartig gruppiert an der Mitte 
und an den Seitenrändern der Nacken-Rückengrenze, ein Naevus seba- 
ceus in einem handtellergroßen Bezirk der unteren Lendengegend). 

Bei der Obduktion sah man in den Gyri beider Hemisphären zahlreiche 
tuberöse Herde. Es finden sich beide schon von Pelizzi unterschiedene 
Herdformen, nämlich solche, welche nur eine Verdichtung bestimmter 
Partien normal angelegter Gyri darstellen, und solche, welche mit scharfer 
Begrenzung aus dem Windungstypus herausfallen. Die letzteren sind stets 
von mehr oder weniger tiefen Furchen umsäumt und zeigen auf ihrem 
Kulminationsgebiet kraterförmige Einziehungen. Die Herde heben sich 
durch ihren weißlichen Glanz und ihre derbe Konsistenz ab (schon nach 
zweitägigem Aufenthalt in Formollösung sind diese Kennzeichen nicht 
mehr deutlich). 

Bei der Sektion der Brust- und Bauchorgane fanden sich an beiden 
Nieren zahlreiche geschwulstartige Bildungen, die sich bei der mikro¬ 
skopischen Untersuchung im Kgl. Pathol. Institut als Fibrome erwiesen. 

Das Gehirn wird zur mikroskopischen Bearbeitung durch Herrn Prof. 
M. Bielschotvsky an das Neurobiologische Institut nach Berlin geschickt 
werden. (Nachtrag: Bei der Freilegung der Ventrikel wurden auf der dem 
Seitenventrikel zugewandten Fläche des Nucleus caudatus mehrere 
hanfkorn- bis erbsengroße harte Geschwülstchen aufgefunden.) 

2. Herr Bumke. Zur Paranoiafrage. 

Die Frage der paranoischen Erkrankungen ist für die Anhänger 
Kraepelins durch die Aufstellung der Paraphrenien in ein neues Stadium 
getreten. Diese Aufstellung war nötig, nachdem sich herausgestellt hatte, 
daß das Gros der paranoischen Erkrankungen mit der Dementia praecox 
nichts zu tun hat, und daß es doch von dem Querulantenwahn scharf ge¬ 
trennt werden muß. So deckt der Name Paraphrenien das Problem der 
nächsten Zukunft; er umfaßt die paranoischen Erkrankungen, mit denen 
wir systematisch bis heute noch nichts anzufangen wissen. Darin liegt in¬ 
sofern ein großer Fortschritt, als auf diese Weise nach zwei Seiten hin von 

*) Vgl. Sitzungsbericht der Breslauer Psych.-Neurol. Vereinigung vom 
25. 5. 1914, Punkt 4 der Tagesordnung, Berl. klin. Wschr. 1914, Nr. 36. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


den unklaren (paraphrenischen) die geklärten Fälle abgetrennt worden 
sind, einmal die pathologischen Entwicklungen im Sinne des Querulanten¬ 
wahnsinns und zweitens die Verblödungsprozesse, die nur symptomato- 
logisch von paranoiden Erscheinungen begleitet werden. 

Im einzelnen ist der Vortragende beim Studium des verhältnismäßig 
großen Rostocker Materials zu Anschauungen gekommen, die von denen 
Kraepelins etwas abweichen. Ihm standen 76 Fälle mit paranoidem 
Beginn zur Verfügung, von denen 32 oder 42% der Schizophrenie zuge¬ 
rechnet, 3 oder 3,9% als Paranoia bzw. Querulantenwahnsinn diagnosti¬ 
ziert, 24 oder 31% als Paraphrenien, 11 oder 14,5% als Dementia phan- 
tastica aufgefaßt wurden. Der Rest von 6 Krankheitsfällen verteilt sich 
auf senile, arteriosklerotische, alkoholistische und Haftpsychosen. Aus 
dieser Zusammenstellung gehen die beiden wichtigsten Unterschiede, die 
Kraepelins Darstellung gegenüber bestehen, schon hervor. Erstens rechnet 
Verf. die von Kraepelin als Paraphrenia phantastica beschriebenen Fälle 
nicht den Paraphrenien zu und zieht deshalb den Namen Dementia phan¬ 
tastica vor. B. hat sich an den alten Rostocker Fällen überzeugt, daß sich 
diese Kranken zwar durch das Fehlen der spezifischen Assoziationsstörung 
und der körperlichen Symptome von dem Verhalten der Schizophrenie 
scharf unterscheiden, daß ihr Leiden aber als ein echter Verblödungsprozeß 
der gesetzmäßig mit dem Zerfall der Persönlichkeit endet, doch ganz anders, 
beurteilt werden muß als die eigentlichen Paraphrenien, bei denen es zu 
einer Verblödung in diesem Sinne nicht kommt. Daß die Unterscheidung 
der Dementia phantastica von manchen paranoiden Verlaufsformen der De¬ 
mentia praecox im Einzelfall schwer ist braucht nicht betont zu werden. 
Bei der Betrachtung eines größeren Materials von zum Teil abgelaufenen 
Fällen tritt der grundsätzliche Unterschied beider Krankheiten klar zutage. 

Zweitens hält B. die von Kraepelin neuerdings versuchte Trennung 
des Querulantenwahnsinns und der chronischen Paranoia für nicht haltbar. 
Nach der Meinung des Vortragenden ist die Abgrenzung einer eigentlichen 
Paranoia von den Paraphrenien überhaupt nur dann möglich, wenn zur 
Paranoia nur Fälle gezählt werden, bei denen eine von Hause aus psycho¬ 
pathisch veranlagte Persönlichkeit unter den Reizen des Lebens in psycho¬ 
logisch verständlicher Weise paranoisch erkrankt. Diejenigen Fälle aus 
Kraepelins Darstellung, die dieser Definition nicht entsprechen, lassen 
sich seiner Meinung nach von den Paraphrenien nicht trennen. Insofern 
ist das einzige Unterscheidungsprinzip, das wir heute überhaupt anwenden 
können, das, auf das Gaupp, Wilmanns, Bonhoeffer, Sieffert und andere 
hingewiesen haben, eben das zwischen dem Krankheitsprozeß und der 
pathologischen Entwicklung. Auf dem Boden dieser Anschauung erscheint 
jedoch der Unterschied zwischen Paranoia und Querulantenwahn als ein 
rein zufälliger. Ob der Anlaß der Wahnbildung von einem gerichtlichen 
oder von irgendeinem Konflikt im Leben sonst ausgeht, macht für die 
systematische Stellung der Psychose natürlich nichts aus. In allen 


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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie. 


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hierher gehörigen Fällen beschränkt sich die Entwicklung pathologischer 
Vorstellungen auf einen verhältnismäßig engen Kreis, und auch die eigent¬ 
lich krankhaften Gedanken dieses Komplexes bleiben immer psycho¬ 
logisch verständlich und betreffen an sich mögliche Vorgänge. 
Stets läßt sich ihre affektive Entstehung nachweisen, und in den meisten 
Fällen bestehen sehr lange bloße überwertige Ideen, ehe eine einzige Wahn¬ 
idee wirklich endgültig fixiert wird. Damit hängt zusammen einmal, daß 
abortive Fälle, und ferner, daß Mischungen und Übergänge der Krankheit 
zu andern funktionellen Krankheiten nicht selten beobachtet Werden. 
Übergänge bestehen nicht bloß zur chronischen Manie, sondern auch zur 
Hysterie und insbesondere zu manchen Unfallformen, zu den Pseudo- 
logisten, zu den wahnhaften Einbildungen der Degenerierten, wie überhaupt 
zu allen möglichen Formen der Psychopathie (Erfinder, Entdecker, Welt¬ 
verbesserer, Propheten, Verschrobene). 

Eigentliche Sinnestäuschungen, die über lebhafte Phantasievorstel¬ 
lungen hinausgehen, kommen nach den Beobachtungen des Vortragenden 
bei echten Paranoikern nicht vor. 

Was die Paraphrenien selbst angeht, so handelt es sich, wie gesagt, 
um eine vorläufige Aufstellung, die so sicherlich nicht bestehen bleiben 
wird. Der Kreis dieser nach rein symptomatologischen Gesichtspunkten 
zusammengefügten Krankheitsfälle wird auch heute schon zweifellos durch 
andere Kreise nicht bloß berührt, sondern geschnitten. Es sind zum Teil 
dieselben Fälle, die bald als Paraphrenien, bald als syphilitisch-paranoide 
Erkrankungen, bald als Involutionsparanoia (Kleist) oder als Melancholie 
im alten Kraepelinschen Sinne oder endlich als arteriosklerotische Psychose 
(Seelert) beschrieben werden. 

Eine ausführliche Darstellung der Frage erfolgt in einer nach dem 
Kriege erscheinenden Diagnostik der Geisteskrankheiten. 

Herr Neisser erkennt den Fortschritt in der von dem Vortragenden 
gegebenen klinischen Darstellung der einschlägigen Krankheitsgruppen an. 
Warum freilich der von Kahlbaum seinerzeit schon anders gebrauchte Ter¬ 
minus: Paraphrenie von Kraepelin in einem neuen Sinn eingeführt werden 
mußte, ist nicht recht einleuchtend. Bezüglich des Querulantenwahnsinns 
hat. N. die Unterschiede gegenüber den damals als Paranoia bezeichneten 
Krankheitstypen schon 1893 hervorgehoben x ). Die Betonung der Tat¬ 
sache, daß aus der Individualität heraus das Verständnis für die Krank- 
, heitssymptome gewonnen werden könne, sollte nur mit Vorsicht als 
klinisches Charakteristikum verwertet werden. N. erinnert daran, daß 
selbst einem Fachmanne von der Bedeutung Hitzigs in dieser Hinsicht 
Fehlurteile bedenklicher Art unterlaufen sind. 

*) „Psychische Elementarstörung als Grund der Unzurechnungs¬ 
fähigkeit.“ Motiviertes Gutachten zugleich als kritischer Beitrag zu 
Wemickes Lehre von den fixen Ideen. Arch. f. Psych. Bd. 26, H. 2. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Herr Sachs schließt sich dem Vortr. unter Hinweis auf manche Grenz¬ 
fälle an. 

Herr v. Kunowski erinnert an die historische Entwicklung des Para¬ 
noiabegriffes, dessen Hauptinhalt früher gerade die heute als Paraphrenie 
bezeichneten Fälle gebildet hätten. 

Herr Bumke : Schlußwort. 

Herr v. Kunowski: Zur Theorie der Farbenempfindungen. 
(Der Vortrag wird an anderer Stelle erscheinen.) 

G. Stertz : Zur Pathogenese hysteriformer und hysteri¬ 
scher Symptome. 

Die rein psychologischen Deutungsversuche der hysterischen Sym¬ 
ptome, soweit sie insbesondere durch Ausstrahlungen in das somatische 
Gebiet gekennzeichnet sind, ergeben im allgemeinen keine ganz befriedi¬ 
gende Lösung des Problems. Auch aus dem sogenannten hysterischen 
Charakter läßt sich, zumal er bei großen Gruppen hysterisch Reagierender 
fehlt, die Genese der Symptome nicht ohne weiteres ableiten. Suggesti- 
bilität und Affektlabilität erweisen sich bei näherer Betrachtung nicht als 
Eigenschaften von ausschlaggebender Bedeutung dabei. Sie können sehr 
ausgeprägt sein, ohne daß es zu hysterischen Reaktionen kommt, und um¬ 
gekehrt dort fehlen, wo wir die letzteren antreffen. Der Krankheitswunsch 
als ein die Symptome fixierendes Moment ist außerordentlich bedeutungs¬ 
voll, aber doch nicht für alle Fälle zutreffend. Als Erklärung für die spezielle 
Genese eines Symptomes kommt er nicht in Betracht. Aussichtvoller sind Ver¬ 
suche, sich dem Problem von der pathophysiologischen Seite zu nähern. 
Die Analogie der normalen Affektausstrahlungen zu den hysterischen 
Reaktionen weist uns für einen Teil der Fälle den Weg. Die primäre 
Wirkung heftiger Gemütserschütterungen ist als physisch, nicht als 
psychisch anzusehen, wenn auch die materielle Änderung des Substrates 
unerkennbar ist. Das Hineinspielen eines physischen Faktors in den 
psychogenen Mechanismus wäre auch angesichts des häufigen Vorkommens 
hysteriformer Erscheinungen bei organischen Erkrankungen zu erwarten, 
zumal der Wunschfaktor bei diesen keine wesentliche Rolle spielen dürfte. 
Es würde das den Versuch rechtfertigen, von dieser Seite dem Problem 
näherzukommen. Die genauere Betrachtung hysteriformer Erscheinungen 
organisch Kranker läßt erkennen, daß ihre Kenntnis der Vertiefung bedarf. 
Nach einem Hinweis auf die schwankenden Grenzen von organisch — 
funktionell — psychogen (in weiterem Sinne) wird an einigen Beispielen 
die Wirkung psychischer Vorgänge (z. B. Aufmerksamkeit, Affekte) auf 
funktionell geschädigte Systeme organisch Kranker erörtert. Die innigen 
Wechselwirkungen zwischen physisch und psychisch sind die Quelle zahl¬ 
reicher diagnostischer Irrtümer in solchen Fällen. 

Vortragender gibt eine Übersicht über besonders prägnante Fälle 
seiner Erfahrung, die zur Fehldiagnose „Hysterie“ Veranlassung gegeben 
hatten. 


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Es liegt nach seiner Ansicht etwas Gesetzmäßiges darin, daß gewisse 
diffuse, nicht oder lange Zeit nicht zu deutlichen hirnpathologischen Aus¬ 
fällen führende Krankheitsprozesse hysteriforme Symptome mit Vorliebe 
Hervorrufen, sowohl was die Störungen auf somatischem Gebiet, als auch 
was die allgemein psychischen Veränderungen anlangt. 

Hinweis auf die Pseudosklerose und auf eine Gruppe von Fällen 
mit sehr eigenartigen aphasischen usw. Ausfällen, die im jüngeren Alter 
im Geleit von Ohnmachtanfällen entstanden, mit Demenz verknüpft, 
ätiologisch sich nicht klären ließen, vielleicht auch diffusen, noch nicht 
näher bekannten Prozessen, ähnlich der Pseudosklerose, ihre Entstehung 
verdanken. 

Interessante Beobachtungen hysterischer Bilder, ganz besonders im 
Sinne der Astasie-Abasie, betrafen einige Meningitisfälle, ferner leichtere 
zerebrale Kinderlähmungen. Gestreift werden in diesem Zusammenhang auch 
andere organische Erkrankungen des Zentralnervensystems. Die nähere 
Analyse ergibt, daß es sich bei diesen hysteriformen Erscheinungen um 
genetisch verschiedenartige Zustände handeln kann: 

1. Funktionelles Vor- bzw. Rückbildungsstadium organischer Er¬ 
krankungen. Gewisse Systeme erweisen sich als funktionsfähig bei günsti¬ 
ger, versagen aber bei ungünstiger psychischer Konstellation. 

2. Funktionelle Überlagerung organischer Herde (Diaschisis). Sie 
sind im Wesen unabhängig von der Psyche, können aber auch psychisch 
bedeutend beeinflußt werden. 

3. Fixierung ursprünglich organischer Ausfälle bei Fortfall der or¬ 
ganischen Schädigung. Sie kann psychogen erfolgen, es ist aber das Walten 
von Vorstellungen nicht die einzige Erklärungsmöglichkeit. 

4. Eigentlich psychogene Überlagerung: dabei ist nicht wie bei 2. 
der Herd, sondern das Symptom überlagert, ob der Sitz des Herdes zentral 
oder peripher ist, hat dabei keine Bedeutung. 

5. Anderweitige psychogene Symptome bei organisch Kranken. 

Die Unterscheidung der einzelnen Formen ist nicht immer leicht. 

Viele als „hysterisch“ gedeutete Symptome organisch Kranker verdanken 
den andern Mechanismen ihre Entstehung. Wenn man das in Abrechnung 
bringt, wird sich wahrscheinlich nicht feststellen lassen, daß die organischen 
Hirnkranken in höherem Grade zum Auftreten hysterischer Symptome 
disponiert sind als andere organische Erkrankungen. 

Die Ursache von psychogenen Begleitsymptomen in engerem Sinne 
bei den organischen Erkrankungen des Gehirns ist nicht nachweislich in 
der durch die letzteren bedingten psychischen Veränderungen zu suchen. 
Eine solche ist oft gar nicht festzustellen, wenn nicht eine durch die Krank¬ 
heit im allgemeinen bedingte Abnahme der Widerstandsfähigkeit und 
Energie hierher gezählt wird. Diese ist aber nicht auf die Gehirnerkrankun¬ 
gen beschränkt, kommt vielmehr in gleicher Weise bei allen möglichen 
schwereren Erkrankungen vor. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Sind aber dabei psychische Veränderungen vorhanden, so kommen sie 
für die Entstehung hysterischer Symptome nicht ohne weiteres in Betracht 
Manche Erfahrungen des Vortr. (z. B. bei der Hysterie nach Typhus 
sprechen dafür, daß das Auftreten echt psychogener Komplexe bei Or¬ 
ganischen oft der Ausdruck einer bereits vorhanden gewesenen Disposition ist: 
der organische Herd wird jedoch bestimmend für die Lokalisation des 
hysterischen Symptoms, dessen häufigste Form daher die der Über¬ 
lagerung ist. 

Die hysterische Reaktionsweise, zumal die schweren somatischen 
Ausdruckformen, entstehen somit nicht in innerem Zusammenhang mit 
den organischen Veränderungen, sondern unabhängig davon auf dem 
Boden einer bestimmten Anlage. Wenn man dem physischen Faktor 
dieser Disposition nachzugehen versucht, so liegt er sicher in einer prin¬ 
zipiell andern Beschaffenheit des Substrats, als sie durch — auch leich¬ 
teste — organische Veränderungen erzeugt wird trotz aller innigen Wechsel¬ 
beziehungen, die wir auch bei letzteren zwischen physisch und psychisch 
nachweisen können. 

Ein maßgebender Unterschied liegt darin, daß sich die psychischen 
Wirkungen auf das organische bzw. funktionell geschädigte Substrat nickt 
fixieren. Cessante causa cessat effectus (die temporär sich fixierenden 
Perseverationserscheinungen haben eine ganz andere Bedeutung). Viel¬ 
leicht liegt nun gerade ein wesentlicher Faktor des hysterisch reagierenden 
Substrats nicht nur in einer erhöhten Reizempfänglichkeit, die sich in ab¬ 
normen Ausstrahlungsbedingungen der Reize kundtut, sondern auch in 
einer mangelhaften Ausgleichbarkeit der erzeugten Umstimmungen oder 
„Engramme“, welche eine primäre Fixierung des aus einem bestimmten 
Anlaß erzeugten Innervationskomplexes hervorruft. Die Bedingungen des 
Zustandekommens hysterischer Reaktionen sind damit noch nicht erschöpft. 
Es gehört zweifellos noch eine den Vorgang begünstigende psycho-physische 
Konstellation dazu, die man als hypnoid (Charcot, Breuer )bezeichnen kann: 
sie findet sich im Geleit starker Affekte, ebensowohl auch von Erschütte¬ 
rungen des Gehirns, im gleichen Sinne aber können mehr protrahierte, 
das Bewußtsein einengende Zustände der Ängstlichkeit, Erwartung und 
dergleichen wirken. Gerade diese Zustände schließen eine erhöhte Suggestibi- 
lität in sich. Sie besteht aber nur in der Richtung der herrschenden Gefühls¬ 
vorgänge und hat mit allgemeiner Suggestibilität nichts zu tun, die man 
unter verschiedenen Bedingungen findet, ohne daß hysterische Reaktionen 
daraus erwachsen. Die allgemeine Suggestibilität kann sogar bei hysterisch 
Reagierenden eher vermindert sein. In der Neigung zur Fixierung bzw. 
Automatisierung von einmal unter besonderen Bedingungen entstandenen 
pathologischen Komplexen ist vielleicht ein allgemeineres Prinzip der 
psychopathischen Anlage zu sehen. Unter vielen Beispielen, die sich hier 
anführen lassen, erinnert Vortr. an das Fortlaufen der Kinder, manche 


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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie. 


379 


Formen dipsomanischer Antriebe, Vorgänge, die, einmal unter besondren 
Umständen entstanden, später ein eigentümliches Sonderdasein im psy¬ 
chischen Leben der Betreffenden führen und ihnen selbst ebenso wie un¬ 
serer psychologischen Analyse unerklärlich sind. Die mit der Fixierung 
■verbundene Bahnung bewirkt, daß schon relativ geringe Mengen psycho¬ 
physischer Energie fortan den Komplex innervieren, Energiemengen, die 
so gering sind, daß sie keinen bewußten psychischen Ausdruck in Gestalt 
von Vorstellungen finden, wenn sie auch in ihrem letzten Ursprung doch 
mit psychischen Vorgängen Zusammenhängen mögen 1 ). 

Die Wiederholung der Innervierungen verstärkt natürlich ent¬ 
sprechend normalen Gesetzen die Bahnung und damit die Automatisierung 
des Vorganges. Auf solcher Grundlage entstandene hysterische Kom¬ 
plexe können nun nach Ansicht des Vortr. bestehen, ohne daß sekundäre 
Vorstellungsverbindungen (Wünsche, Begehrungsvorstellungen, Erwartun¬ 
gen, Befürchtungen) sich mit ihnen irgendwie nachweislich assoziieren. 
Ist aber das letztere der Fall, wie bei der großen Gruppe der Renten- 
und vieler Kriegshysteriker, so bilden diese sekundären Assoziationen 
eine Quelle stets sich erneuernder Energie, die, entgegen einer natürlichen 
Tendenz zum allmählichen Ausgleich auch der pathologischen Engramme, 
die letzteren weiter fixiert und damit die Krankheit unterhält. 

Wie die psychopathischen Abweichungen im allgemeinen nichts 
prinzipiell Neues darstellen, so wurzeln auch die hier genannten Ent¬ 
stehungsbedingungen hysterischer Komplexe: die erweiterte Ausstrahlung 
der affektbetonten Vorstellungen, die „hypnoiden“ Zustände, die Fixierung 
der entstandenen Engramme auf primärem und sekundärem Wege letzten 
Endes im Normalen, zu dem alle möglichen Übergänge hinüberführen, 
und sie stehen auch untereinander in einem reziproken Verhältnis. Je 
schwächer daher die primäre Fixierung ist, einen um so größeren Anteil 
haben am Fortbestehen eines Symptomes, u. U. auch an dessen weiterer 
Gestaltung, die sekundär damit verknüpften Vorstellungen (die übrigens 
z. T. vor Eintritt des auslösenden Vorganges schon vorhanden sein können). 
Dem Beobachter erwächst dann u. U. der Eindruck des Gekünstelten und 


x ) Hier würde für die Anhänger der Lehre vom Unterbewußtsein 
die Wirksamkeit „unterbewußter Vorstellungen“ mit ihren Affekten be¬ 
ginnen. Ob man das, was sich in einem gegebenen Augenblick außerhalb 
des Bereichs des Bewußtseins befindet, als latente oder unterbewußte Vor¬ 
stellungen bezeichnet, oder—von der materiellen Seite gesehen—als ein 
System von Engrammen, in denen sich mehr oder minder schwache Er¬ 
regungen abspielen, ist schließlich gleichgültig; daß aber diese unter¬ 
schwelligen Reize bzw. die unterbewußten „Vorstellungen“, und zwar 
letztere durch ihren Inhalt einen besonders lebhaften oder gar krank¬ 
machenden Einfluß auf die Psyche entfalten sollen, scheint dem Vortr. 
mit Kraepelin aller Erfahrung entgegenzustehen. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


wußten der Symptome. Je stärker aber die primäre Fixierung ist, je auto¬ 
matischer dadurch die Innervierung des Komplexes sich vollzieht, desto 
mehr entsteht der Eindruck des Natürlichen und Unbewußten. Für den 
Kranken drückt sich der gleiche Unterschied in einer (bis zu einem ge¬ 
wissen Grade) verschiedenen Stellungnahme zu dem Symptom aus, für 
den Therapeuten wohl auch in einer verschiedenen Wirksamkeit seiner 
Mittel. Vielleicht sind es Fälle starker kombinierter primärer und sekun¬ 
därer Fixierung, welche, ohne daß der Verdacht der Simulation vorliegt, 
jeder Therapie trotzen. 

Der hier skizzierte Deutungsversuch hysterischer Phänomene, der 
natürlich mancherlei Berührungspunkte mit denen anderer Autoren hat, 
hat gewissermaßen zwei Gesichter, deren eines der psychischen, das andere 
der physischen Seite der Vorgänge zugewendet ist. 

Nach Meinung des Vortr. hat er bessere Aussichten, manchen hysteri¬ 
schen Erscheinungsformen, besonders den auf das Somatische ausstrahlen¬ 
den, an die hier hauptsächlich gedacht ist, gerecht zu werden, als das Be¬ 
streben, sie rein psychologisch zu erfassen. Wir müssen zugeben, daß 
wir nicht in der Lage sind, indem wir uns in den Seelenzustand eines 
schweren Hysterikers zu versetzen trachten, die Kette der Erscheinungen 
bis zur Entstehung der eigentümlichen Ausdrucksformen der Krankheit 
zu verstehen. Ein Versuch, hier weiter zu kommen, muß an zunächst 
freilich hypothetische Eigenschaften des Substrats anknüpfen. 

(Ausführliche Veröffentlichung an anderer Stelle.) 

Bumke. 


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Kleinere Mitteilungen 


Deutscher Verein für Psychiatrie, E. V.: Rechnungs-Ab¬ 
schluß für das Jahr 1916. 


A. Kassenbestand vom Vorjahr: 

B. Einnahmen: 

a) 567 Mitgliederbeiträge für 1916 zu 5 M. 2 835,— 


b) Je 1 Mitgliederbeitrag für 1916 und 1917 

zu 5 M. 10,— 

c) Zinsen aus 2500 M. 3 % Pfandbriefen 75,— 

„ 3000 M. 3 y z % „ 105,— 

„ „ 5500 M. 4 % Reichsanleihe 220,— 

,, „ 4000 M. 5 % Kriegsanleihe 

II bis IV. 150,— 

d) Portoersatz 15,30 

e) Zurückgezahlter Reisebeitrag 500,— 


Summe der Einnahmen: 
A. und B. zusammen: 


13 838,73 


3 910,30 
17 749,03 


C. Ausgaben: 

a) Geschäfte des Vorstands: 387,80 

b) Geschäfte der Kassenführung 78,28 

Zusammen: 466,08 

Bleibt Bestand: 17 282,95 

Auf Erwerb von 3000 M. Kriegsanleihe IV und V 
verwendet 2 903,65. 

D. Vorhanden in: 

Nom. 2500 M. 3 % Pfandbriefe: Ankaufswert 2 168,35 


1» 

3000 „ 3 y 2 % 

11 

2 930,85 

11 

5500 „ 4 % Reichsanleihe „ 

5 586,70 


2000 „ 5 % Kriegsanleihe II „ 

1 947,20 

11 

1000 „ 5% 

HI „ 

965,40 

11 

1000 „ 5 % 

IV ,, 

972,90 

11 

2000 „ 5% 

V „ 

2 930,75 

Barbestand der Kasse: 


780,80 


17 282,95 

Winnental, den 4. März 1917. 

Der Schatzmeister: 
Obermedizinalrat Dr. Kreuser. 


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382 


Kleinere Mitteilungen. 


Anmerkung: Von den im Felde stehenden Kollegen sind Mit¬ 
gliederbeiträge teilweise uneinbringlich gewesen. Für 1917 wird wieder 
ein Beitrag von 5 M. eingefordert werden, damit sich der Verein an der 
Zeichnung auch für die Kriegsanleihe VI beteiligen kann. Nach Friedens¬ 
schluß wird es an passender Gelegenheit zur Verwendung der Einnahmen 
nicht fehlen. 


Die Heinrich Laehr-Stiftung hat im Rechnungsjahr vom 1. April 
1916 bis 1. April 1917 1100 M. an Prof. Dr. Isserlin- München zur Fort¬ 
setzung seiner psychologisch-phonetischen Untersuchungen gezahlt. Das 
Vermögen der Stiftung bestand am 1. April 1917 aus 


5 000 

M. 

3 % preuß. 

Konsols 

100 000 

1» 

3 % % „ 

» 

37 000 

» 

4% 

ij 

96 500 

»> 

5% 1. Kriegsanleihe 1 

70 000 

n 

5% 2. 

J 

52 000 

n 

5% 3. 

1 

39 000 

>* 

4y 2 % 4. 

« J 

29 000 

» 

5. 


4 000 

»t 

4%% 6. 



eingetragen im Staatsschuldbuch und 
der Darlehnskasse Berlin verpfändet 

eingetragen im Reichsschuldbuch und 
der Darlehnskasse Berlin verpfändet 

der Darlehnskasse Berlin verpfändet 


4 594,60 M. Guthaben bei der Darmstädter Bank. 

Demgegenüber standen 275 150 M. Schulden an die Darlehnskasse 


Berlin. 


Heinrich Schüle f. — Aus Leben und Beruf zugleich ist am 9. Dezember 
1916 Heinrich Schüle im Alter von 76 Jahren geschieden. Die Psychiatrie 
hat an ihm einen Vertreter verloren, gleich ausgezeichnet durch die 
Zeitdauer wie durch Umfang und Wert seiner Leistungen. Über 53 Jahre 
lang hat seine Wirksamkeit in lllenau gewährt. Mehr als ein Viertel¬ 
jahrhundert war er Roller und Hergt die verläßlichste Stütze und ein bahn¬ 
brechender Mitarbeiter, länger als ein zweites Vierteljahrhundert hat er 
nach ihnen die Anstalt geleitet. Ohne je den Geist seiner Vorgänger zu 
verleugnen, ist er zum Herold einer neuen Zeit geworden nicht nur für 
Illenau. Unter seiner Leitung hat die Anstalt ihre Krankenzahl verdoppelt 
und sich zugleich in allen ihren Einrichtungen verjüngt; für den Ausbau 
des badischen Irrenwesens ist er zum maßgeblichen Berater geworden. 
In Wort und Schrift ein eifriger und zielbewußter Vorkämpfer für alle 
fortschrittlichen Bestrebungen der Irrenheilkunde ist er weit über die 
Grenzen seiner engeren Heimat hinaus zu einem bewährten Führer in 
seinem Fache geworden, hat er sich durch die Ergebnisse wissenschaft¬ 
licher Forschung und deren lehrhafte Verwertung ungesucht Weltruhm 
verschafft. Dabei ist der mit so vortrefflichen Geistesgaben ausgerüstete, 
von reichem Wissen erfüllte, für alles, was des Menschen Herz über den 
Alltag erhebt, empfängliche, ja geradezu begeisterte Mann doch von 
rührender Anspruchlosigkeit geblieben, durchdrungen von Liebe und 


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Kleinere Mitteilungen. 


383 


Pflichtgefühl gegen seine Mitmenschen, von wärmster Teilnahme für alles 
Leiden und eben darum von unermüdlichem, mit entschlossener Tatkraft 
gepaartem Eifer zur Hilfe; bei seltener Tiefe des gemütlichen Empfindens 
von reinem Adel der Gesinnungen, der berufene Seelenarzt, allseitig hoch- 
geschätzt und aufrichtig verehrt. 

Im Sommer 1863 nach kaum erst glänzend bestandener Staats¬ 
prüfung auf Eckers und Kußmauls Empfehlungen frisch von der Frei¬ 
burger Hochschule hinweg als Hilfsarzt nach Illenau berufen, sah sich 
Schule hier, wie er rückschauend selbst erzählt 1 ), in eine Umgebung ver¬ 
setzt, die ihn zunächst befremdlich, ja beklemmend anmuten wollte. Sein 
lebendiger Geist hat sich rasch darin zurechtgefunden: schon als am 
18. Oktober der Völkerschlacht bei Leipzig feierlich in der Anstalt gedacht 
werden sollte, erschien er als der geeignetste Festredner. Am geselligen 
Leben der Anstalt hat er weiterhin nicht weniger rege sich beteiligt, seine 
Kräfte als ernster wie als fröhlicher Sänger ihm zur Verfügung gestellt. 
War die Pflege eines familiären Innenlebens, wie Roller es nachdrücklich 
betont hat *), doch damals auch den öffentlichen Irrenanstalten eine nicht 
unwesentliche Aufgabe. Ganz allgemein sollte die ärztliche Fürsorge 
dadurch volkstümlicher gestaltet und von den hergebrachten Vorurteilen 
gegen die Geisteskranken befreit werden; auch hatten noch ganz wenig 
Privatunternehmungen erst für die Bedürfnisse anspruchvollerer Kranker 
nach dieser Richtung zu sorgen begonnen, so daß im Rahmen aller An¬ 
stalten auch ihnen Rechnung zu tragen war. In Illenau war von jeher 
dieser Seite einer psychischen Behandlung besondere Aufmerksamkeit 
zugewandt worden. Schüle wäre der letzte gewesen, sich davon auszu¬ 
schließen: stets hat er den alten Brauch hochgehalten. Anstaltsfesttage 
wie seinen 70. Geburtstag am 24. August 1910 oder sein Dienstjubiläum 
am 4. Juli 1913 muß man miterlebt haben, um einschätzen zu können, 
was er dabei bezweckt, geleistet und erreicht hat. Auch als der Gefeierte 
des Tages hat er sich unablässig im Dienste befunden. Mit sicherem Blick 
das rege Treiben unter den hochragenden Bäumen des Anstaltsfestplatzes 
beherrschend, hat er sich die unscheinbarsten Vorkommnisse nicht ent¬ 
gehen lassen. Für jeden hatte er ein Auge, ein freundliches Wort, einen 
Gruß oder Händedruck zur Aufmunterung für die Gedrückten, zur Aner¬ 
kennung für etwaige Darbietungen; als ein väterlicher Freund schaltete 
und waltete er rastlos unter seinen Kranken und Angestellten. Wer dabei 
nicht sofort erkennen mochte, was er an Einfluß auf Pfleglinge und Per¬ 
sonal gewann, dem mochten es die Besuche früherer Anstaltsangehöriger 
offenbaren, die bei solchen Gelegenheiten von nah und fern in lllenau zu¬ 
sammenströmten, um ihre Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu bekunden. 
Unzweideutig sprach daraus ein Zeugnis für die Einschätzung, die Schüles 

1 ) Rede beim 50jährigen Dienstjubiläum. 

*) Roller, Psychiatrische Zeitfragen, Berlin 1874. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXX111. 4. 27 

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384 


Kleiner« Mitteilungen. 


persönlicher Anteil an der Krankenfürsorge bei seinen Schutzbefohlenen 
gefunden hat. Auch ein Hansjakob hat ja bekundet, wie seine Besuche 
immer sehnsuchtsvoll erwartet worden sind. Hatte Schale seinem Vor¬ 
gänger Hergt unerreichte Meisterschaft in psychischer Krankenbehand¬ 
lung nachgerühmt, so ist er selbst darin gewiß nicht hinter jenem zurück¬ 
geblieben. Gar manche Stiftung, deren sich die Illenauer Anstalt aus den 
Kreisen ihrer Pflegebefohlenen erfreuen darf, ist in Wirklichkeit nur eine 
Form innigen Dankes für Schüles persönliche Art bei der Krankenbehand¬ 
lung. Im heutigen mehr krankenhausmäßigen Betriebe der meisten größe¬ 
ren Anstalten wird vielfach dieser Seite ärztlicher Betätigung geringerer 
Wert beigelegt, wird es vielleicht da und dort auffallen, daß sie bei diesen 
Gedenkworten vorangestellt wird. Für Schule war sie jedenfalls von be¬ 
sonderer Bedeutung. Trat darin doch zutage, wie sehr für ihn der Schwer 
punkt psychiatrischer Wirksamkeit im Erfassen und in der Behandlung 
kranker Pe rsonen gelegen hat. Möge sein Vorbild gerade auch nach dieser 
Richtung nie unbeachtet bleiben! 

Die KrankheitsVorgänge als Erscheinungen veränderter Lebens¬ 
tätigkeit richtig zu erkennen, zu bewerten und zu beeinflussen hat er 
darüber gewiß nicht vergessen. Hat er doch in den ersten Reihen derer 
gestanden, die naturwissenschaftliche Gesichtspunkte dafür nachdrücklich 
zur Geltung gebracht haben. Von Anfang an war ihm festgestanden, daß 
Seelenstörungen auf organischen Erkrankungen beruhen. An der Hand 
der „psychischen Auskultationsphänomene“ nun auch den Spuren der 
entsprechenden körperlichen Veränderungen mit allen heranziehbaren 
physikalischen Untersuchungsmethoden nachzugehen, war sein vornehm¬ 
stes Streben; Benennung und Einteilung der Krankheiten und selbstver¬ 
ständlich auch ihre Behandlung wollte er auf solche Erkenntnis gründen. 
Bei seinem Eintritt in den Dienst der Psychiatrie waren die naturphilo¬ 
sophischen Anschauungen des Zeitalters der Romantik noch keineswegs 
überwunden. Um an ihre Stelle ebenso wie sonst in der Heilkunde natur¬ 
wissenschaftliche Ergründung zu setzen, bedurfte es gar mancher Neuerun¬ 
gen. Ungescheut ist Schule alsbald auch an die schwerer zugänglichen 
Geisteskranken mit Wärmemessungen, der Aufnahme von Pulskurven, 
mit Augen- und Ohrenspiegel, Tasterzirkel, Maßen und Gewichten, elek¬ 
trischen Strömen und dergleichen mehr herangetreten. Pathologisch¬ 
anatomische und histologische Untersuchungen wurden mit besonderem 
Eifer angeschlossen, um so immer sicherere Unterlagen für die Abgrenzung 
verschiedener Krankheitbilder zu gewinnen 1 ). War mit alledem Neuland 
betreten worden, so ergab sich doch nicht etwa ein Gegensatz zu Roller 
daraus. Mochte dieser hin und wieder nur zögernd auf Neuerungen ein- 
gehen, das Streben des jüngeren Mitarbeiters war durchaus nach seinem 
Sinne. In einem seiner Briefe an Zeller, auf den ich einmal in alten Akten 


l ) Al lg. Ztschr. für Psychiatrie Bd. 24, 25, 26, 27, 28, 32, 33, 35, 36,47. 


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Kleinere Mitteilungen. 


385 


unserer Anstalt gestoßen bin, hat er seine lautere Freude darüber ausge¬ 
sprochen. 

Hatten sich doch Einrichtungen und Betrieb der Illenauer Anstalt 
den Ruf von Mustergültigkeit erworben; ihn zu erhalten, hat sich Roller 
stets angelegen sein lassen. Dieser Ruf ist es ja doch auch gewesen, der 
große Anziehungskraft auf ältere und jüngere Irrenärzte ausgeübt hat, so 
daß gar mancher, der später im Inland oder auch im Ausland zu leitender 
_Stellung in seinem Berufe gelangt ist, sich seine Ausbildung oder wenigstens 
deren Vervollständigung in Illenau geholt hat. Für die Ärzte daselbst 
und für Schule insbesondere ergaben sich daraus erwünschte Beziehungen 
und Anregungen, auch Anlaß zu gemeinsamer Arbeit. Ihrer hat Schäl* 
stets mit besonderer Dankbarkeit gedacht. Zu keinem seiner Kollegen 
sind sie so innig gewesen wie zu seinem Altersgenossen v. Kraft-Ebing l ). 
Bald nach Schäle war dieser ebenfalls als Hilfsarzt nach lllenau gekommen; 
fünf Jahre sind die beiden nebeneinander dort tätig gewesen. Nie haben 
sie der gegenseitigen Förderung vergessen, die ihnen aus dieser Arbeits¬ 
gemeinschaft erwachsen ist. Gewinn daraus haben nicht nur sie selbst 
.gehabt, auch das Illenauer und das allgemeine wissenschaftlich-psychia¬ 
trische Leben. Dem im Tode Vorangegangenen hat der Überlebende im 
60. Bande der Allg. Ztschr. einen tiefempfundenen Nachruf gewidmet. 

Zunächst wetteiferten die Freunde im unmittelbaren Kranken- 
dienste. Von sich selbst sagt Schäle: „Ich fühlte bald, daß es Schöneres 
nicht gibt und nicht geben kann, als einer ratlosen, krankhaft niederge¬ 
drückten Menschenseele beizustehen und sie nach und nach sich selbst 
wiederzugeben, nachdem man in strenger Individualisierung die ursäch¬ 
lichen Zusammenhänge erkannt und die nervösen Schädigungen aus 
dem Wege geräumt hat. Arzt sein, heilen, lindern ist und bleibt doch 
das Höchste und Köstlichste, noch viel wertvoller und befriedigender als 
das Beobachten, Forschen und Finden, so groß und rein auch diese intel¬ 
lektuelle Freude ist.“ Solchem Sinn entsprach bei Schule jederzeit die 
Tat. Was immer das Wohl seiner Kranken fördern konnte, hat er freudigst 
begrüßt und zur Anwendung zu bringen versucht, ebenso bereitwillig, von 
andern zu lernen, als erfinderisch in eigenen Vorschlägen. Hatte er sich 
erst noch um die Abschaffung der Zwangsmittel zu bemühen gehabt, so 
folgten freiere Behandlung, vielseitige Beschäftigung, Überwachungs¬ 
abteilungen und neuzeitliche Badeeinrichtungen, ganz zu geschweigen von 
Versuchen mit verschiedenartigen Arzneimitteln und dem ganzen Rüst¬ 
zeug der heutigen Krankenpflege. Allenthalben erst vorsichtig tastend und 
prüfend war er stets darauf aus, sich sein eigenes Urteil am Krankenbett 
zu bilden, sich durch Lob und Tadel von anderer Seite weder fortreißen 

>) Vgl. seinen Nekrolog in der Allg. Ztschr. für Psychiatrie LX 
S. 305 und die Worte bei Enthüllung der Büste in der Wiener Universität, 
III. internationaler Kongreß für Irrenpflege S. 630. 

27* 


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Kleinere Mitteilungen. 


"noch beirren zu lassen. Die geschichtliche Entwicklung der Irrenpflege 
während eines halben Jahrhunderts verknüpft sich mit seinem Namen 
und seinen Erfahrungen. Mit Leib und Seele Arzt, hat er ohne jegliche 
Einseitigkeit nach Hilfe und Linderung für die Kranken gesucht, ist er 
nicht etwa nur auf den Glanz äußerer Erfolge ausgewesen, hat er auch 
die bescheidenen Dienste nicht gering geachtet, die noch Erleichterung 
zu schaffen vermögen, wo Wiederherstellung sich nicht mehr hoffen läßt. 
„Nicht in der Heilung der Heilbaren“ — heißt es in seinem Hand* 
buche —, „sondern in der geistig hebenden und fördernden Pflege der 
Unheilbaren liegt der Irrenanstalten schönste Auszeichnung.“ So manche 
seiner Mitteilungen im Kreise der Fachgenossen bekundet seine besondere 
Sorgsamkeit nach dieser Richtung 1 ). 

Zu Beginn seiner praktischen Wirksamkeit hatte die Illenauer Anstalt 
allein noch alle voraussichtlich heilbaren Geisteskranken des badischen 
Landes aufzunehmen, stand ihr zur Versorgung Unheilbarer allein die 
Pforzheimer Pfleganstalt zur Seite. Bald sollten beide für ihre Aufgaben 
nicht mehr ausreichen, galt es, die Irrenfürsorge des Landes Schritt 
tür Schritt zu erweitern und zugleich den Forderungen nach psychiatri¬ 
schem Unterricht zu genügen. Alle Entwürfe nach dieser Richtung waren 
in erster Linie Schule s Aufgabe. In besonderen Denkschriften*) hat er, 
später von Mitarbeitern unterstützt, die Bedürfnisse klargelegt, nach ihrer 
Anerkennung die Pläne *) bearbeitet und teilweise ihre Ausführung geleitet. 
-Die psychiatrischen Kliniken der beiden badischen Hochschulen und drei 
neuer Heil- und Pfleganstalten hatten an Schüles Bahre den Dank auszu¬ 
sprechen für seine Mitarbeit bei ihrer Entstehung; insbesondere hatte die 
Heidelberger Klinik, die erste ihrer Art, die in Deutschland eigens für 
ihre Zwecke erbaut worden ist, ihn als ihren Schöpfer zu rühmen. — Daß 
auch Illenau selbst unter Schüles Leitung sehr erheblich erweitert und allen 
Anforderungen der Neuzeit in vorbildlicher Weise angepaßt worden ist, 
darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. 

Vielfach, nicht nur aus der engeren Heimat, ist Schüles Gutachter¬ 
tätigkeit vor Gericht in Anspruch genommen worden, teilweise für Ent¬ 
scheidungen, die allgemeines Aufsehen erregt und ihm dadurch einen be¬ 
sonderen Andrang von vermeintlich zu unrecht für geisteskrank Erklärten 
verschafft haben. Klar und bestimmt hat er es verstanden, die für die 
richterliche Beurteilung wichtigen Gesichtspunkte hervorzuheben. Eine 
Meisterschaft in der Beherrschung des gesprochenen Wortes ist ihm dabei 
sehr zustatten gekommen. 

Seiner Sinnesart näher noch lag freiwillige Hilfsbereitschaft für die 
wirtschaftlich durch ihr Leiden Geschädigten. In Illenau standen ihm 


M Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 28, 32, 37, 36, 40, 51, 53. 
*) 1901 u. 1909 

*) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 41. 


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Kleinere Mitteilungen. 


387 


dafür reichliche Stiftungsmittel zu Gebote. Um auch über den Rahmen die* 
‘Ser Anstalt hinaus in gleichem Sinne wirken zu können, hat er, auf einen Lieb* 
lingsgedanken Rollers zurückgreifend, einen badischen Hilfsverein für 
entlassene Geisteskranke und notleidende Familien ins Leben ge¬ 
rufen und geleitet. Seit 1906 durfte er sich dessen segensreicher Tätigkeit 
-mit besonderer Genugtuung erfreuen. 

• • Nicht weniger durften sich die Kollegen Schüle s Hilfsbereitschaft mit 
-Rat und Tat erfreuen. Jüngeren Ärzten der Anstalt hat er die vielseitigsten 
Anregungen geboten. Zu Fortbildungskursen haben sich alljährlich 
Praktiker um ihn versammelt, besonders zur Vorbereitung auf die staats- 
^ärztliche Prüfung. Den Berufsvereinen hat er sich gern mit Vor¬ 
trägen zur Verfügung gestellt, und an ihren Besprechungen hat er sich 
-fragend, berichtigend und ergänzend lebhaft und schlagfertig beteiligt. 
Gbenso gern empfangend wie gebend, war er mit seinen durch Form und 
Inhalt gleich fesselnden Ausführungen bei allen Vereinen und Versamm¬ 
lungen einer ihrer belebendsten Teilnehmer, in vielen der besonnene und 
tonangebende Leiter. Im Deutschen Verein für Psychiatrie zumal und in 
dessen südwestdeutschen Abzweigungen war er eines der regelmäßigsten 
und tätigsten Mitglieder, bis ihm gesundheitliche Rücksichten mehr Be¬ 
schränkung in solchen Dingen auferlegt haben. Im Vorstande und als Schatz¬ 
meister des Hauptvereins hat er diesem viele Jahre hindurch die ersprie߬ 
lichsten Dienste geleistet. Bis zu seinem Lebensende ist er an der Herausgabe 
der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie beteiligt geblieben, für 
die er seit 1879 gewonnen worden war. Außer zahlreichen eignen Beiträgen 
aus seiner Feder finden sich daselbst namentlich auch seine Bericht¬ 
erstattungen über einheimische, französische und englische Fachliteratur. 
Sie zeugen von gründlichem und umfassendem Studium der jeweiligen Neu¬ 
erscheinungen. Sind in den letzten Jahren seine eigenen Beiträge seltener 
geworden, so wird man andern aus Illenau nicht zu nahe treten, wenn man 
aus ihnen wenigstens seines Geistes Hauch zu verspüren glaubt, wenn 
schon ihre Ausarbeitung anderen Persönlichkeiten zu verdanken ist. Eine 
Probe solcher Leistungen, die des Meisters vielseitigen Einfluß verrät, ist 
ihm von Illenauer Ärzten als Festgabe zum 50jährigen Dienstjubiläum 
dargebracht worden 1 ). 

Eine so überaus rührige Natur wie Schüle mußte sich fast zu schritt¬ 
st el le ri s che r Ar b ei t gedrängt fühlen, sobald die eigenenErfahrungen und 
Beobachtungen so weit gereift waren, um selbständige Anschauungen darauf 
begründen zu lassen. Als erste solche Frucht seines inneren Schaffens hat 
er 1867 das Krankheitsbild der Dysphrenia neuralgica *) aufgestellt, indem 
-er die seelischen Störungen zusammengefaßt hat, die auf dem Wege über 
veränderte Empfindungen in peripheren Nervengebieten zur Entwicklung 


*) AUg. Ztschr. für Psych. Bd. 70. 
*) Karlsruhe 1867. 


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kommen. Mag weitere Ursachenforschung namentlich dem so gewonnenen 
Gebiete inzwischen wesentlich engere Grenzen gesteckt haben, so ist die 
Forderung seines Suchens nach Störungen in den körperlichen Lebens- 
Vorgängen als Grundlagen für geistige Erkrankungen in der Folge nur 
immer noch mehr zutage getreten. Namentlich hat er selbst einen wichti¬ 
gen weiteren Schritt in dieser Richtung getan mit seiner 1874 nachfolgen¬ 
den Veröffentlichung von „Sektionsergebnissen bei Geisteskranken“ 1 ). 
Der Freiburger Hochschule gewidmet, ist diese Arbeit von ihr der Ver¬ 
leihung des Ehrendoktors für würdig befunden worden. In der Tat stellt 
sie wohl den ersten planmäßigen Versuch dar, zu einer pathologischen 
Anatomie der Geisteskrankheiten und ihrer Unterformen zu gelangen» 
indem sie die makroskopischen und mikroskopischen Befunde an der 
Leiche in gesetzmäßige Beziehungen zu den während des Lebens beob¬ 
achteten seelischen Stöi ungen zu bringen sich zum Ziele gesetzt hatte. 
Verbesserte Hilfsmittel und vollkommenere Untersuchungsmethoden sind 
seither gewonnen worden, um über ScKüle s damalige Ergebnisse wesentlich 
hinauszuführen; seine Forschungsrichtung ist beibehalten worden und 
kann auch künftig kaum je mehr verlassen werden. Sie bleibt einer der 
unerläßlichen Grundzüge jeder klinischen Psychiatrie. 

Wie durchschlagend in dieser Richtung Schule s Arbeiten gewirkt 
haben, ergibt sich wohl am besten aus der im Anschluß daran ihm geworde¬ 
nen Aufforderung, für das Ziemßensche Handbuch der speziellen Patho¬ 
logie und Therapie das Gebiet der Geisteskrankheiten zu übernehmen. — 
Seit Griesingers durchschlagendem Erfolge mit einer zusammenfassenden 
Darstellung des psychiatrischen Wissens war es zu einem ähnlichen Unter¬ 
nehmen nicht mehr gekommen. Griesinger selbst war tot; die Überarbeitun¬ 
gen seines Buches konnten es nicht auf der früheren Höhe erhalten. Trotz, 
eifriger schriftstellerischer Tätigkeit zahlreicher Irrenärzte konnte sich 
keiner finden, der wieder einmal den ganzen Stoff so zu sammeln und 
zu sichten bereit gewesen wäre, wie es zu seiner übersichtlichen Wiedergabe¬ 
dringend wünschenswert erschien. Selbst einer der dazu berufensten 
akademischen Lehrer des Faches, Westphal, hatte die Einladung dazu 
abgelehnt. Mutig hat sich Schule dieser Aufgabe unterzogen. Im Jahre 1878 
konnte sein ,.Handbuch der Geisteskrankheiten“ als 16. Band 
jenes Sammelwerks erscheinen. Rasch wurde eine zweite Auflage not¬ 
wendig; eine dritte völlig umgearbeitete folgte 1885 mit dem neuen- Titel 
„Klinische Psychiatrie“. Übersetzungen dieses Werkes sind in 
französischer, russischer und neugriechischer Sprache herausgegeben wor¬ 
den. Schon mit der ersten Auflage war nach kaum Jahresfrist des Freundes 
v. Krafft-Ebing Lehrbuch der Psychiatrie in Wettbewerb getreten. Für 
die Art desselben bezeichnend ist, daß die Freunde sich ihre Bücher gegen¬ 
seitig zugeeignet haben. 


1 ) Leipzig 1874. 


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Kaum kann man ihrer gedenken, ohne sie untereinander einiger¬ 
maßen zu vergleichen. Vermöge seiner übersichtlichen Darstellung des 
gesicherten Besitzstandes an psychiatrischen Kenntnissen der damaligen 
Zeit und begünstigt durch flüssige, leicht faßliche Art der Darstellung, 
hat das v. Krafft-Ebingsche Lehrbuch raschere und weitere Verbreitung 
gefunden. Ganz besonders für alle Anfänger war es schon dadurch geeig¬ 
neter, daß es sich auf schlichtere Wiedergabe des Stoffes zu beschränken, 
wissenschaftliche Streitfragen höchstens anzudeuten bemühte. Wesent¬ 
lich anders hat Schule seine Aufgabe durchgeführt. Über das unmittelbar 
ärztliche Gebiet hinausgreifend, bezieht er auch psychologische Erörterun¬ 
gen in sie ein, stellt den reichen Schatz eigener Beobachtungen fremden 
Ansichten gegenüber und knüpft er daran allerlei Fragestellungen und Ge¬ 
dankengänge an, über die erst noch Aufschluß gewonnen werden soll durch 
weitere Forschungen. So bietet i?cAüfesBuch namentlich allen in der Psychia¬ 
trie Erfahrenen wesentlich mehr, enthält es vielseitige Anregungen auch dann 
noch, wenn man des Verfassers Anschauungen nicht ganz oder nicht mehr 
zu teilen vermag. Seine Bedeutung dürfte es wohl für längere Zeiten be¬ 
haupten, wenn schon es inzwischen von mancherlei Fortschritten überholt 
worden ist. Leichter Lesestoff ist es freilich nicht; um so mehr gibt es 
Anlaß zum Nachdenken. Einer seiner eigenartigsten und fruchtbarsten 
Gedanken ist gewiß der durchgreifende Unterschied, der in der Erschei¬ 
nungsweise und im Verlaufe der Geistesstörungen gesucht und gefunden 
wird, je nachdem sie ein „rüstiges“ oder ein „invalides“ Gehirn befallen. 
Das Gebiet der Ursachenforschung ist damit von einer Seite her betreten, 
die folgerichtig zu vorbeugenden Maßnahmen gegen eine fortschreitende 
Entartung führen muß. Diesen Schlüssen galten denn auch spätere Be¬ 
mühungen Schule s, obschon inzwischen den Quellen des Irreseins von ganz 
anderer Seite her beizukommen weit mehr versucht worden ist. 

Erschöpfend hat Schule die klinische Psychiatrie dargestellt; keines¬ 
wegs erschöpft war dadurch sein eigener Arbeitsgeist und Wissensdrang. 
Tauchten anderweitige klinische Auffassungen auf, so hat er an ihrer Hand 
die eigenen immer wieder nachgeprüft und dazu auch wieder das Wort 
ergriffen, wie z. B. zur Begriffsbestimmung der Paranoia x ) und der Kata¬ 
tonie s ). Vorzugsweise sind es aber Erblichkeitsforschungen, mit denen 
er sich in seinen späteren Jahren befaßt hat, um auf ihrer Grundlage Mittel 
und Wege zu gewinnen, dem Fluche fortzeugender krankhfter Veran¬ 
lagung durch Heiratsverbote einen Riegel vorzuschieben *). So bestimmt 
Naturgesetze solche Bahnen weisen müssen, die Schwierigkeiten, durch 
Rechtsgesetze ihre Einhaltung zu erzwingen, hat er doch wohl unterschätzt. 
Um sie zu beseitigen, gibt es freilich kaum einen andern Weg, als die von 


x ) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 50. 

*) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 58. 

*) Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 42, 61. 


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ihm angelegte großzügige gemeinsame Arbeit in Erblichkeitsfragen 1 ). 

Die Ausarbeitung derartiger Entwürfe hat Schule , wie schon ange¬ 
deutet, mit der Zeit mehr und mehr jüngeren Mitarbeitern überlassen; 
doch unter lebhafter persönlicher Beteiligung an ihrer Durchführung. Die 
vielseitigen Bürden der Anstaltsleitung wie des Ausbaues der heimischen 
Irrenfürsorge nahmen seine Zeit und Kraft jetzt besonders in Anspruch r 
während persönliche Erlebnisse gebieterisch verlangten, haushälterisch 
damit umzugehen. Von schwerer eigener Krankheit hatte er sich wohl 
gut erholt, um eine staunenswerte körperliche Widerstandsfähigkeit nebst 
ungeschmälter geistiger Frische und Leistungsfähigkeit beizubehalten 
bis ins hohe Alter. Tief erschüttert haben ihn dagegen der Gattin und 
eines Sohnes Tod, die sich rasch aufeinander fölgten. Ein guter Arzt 
für sich selbst, hat er sich, um die unmittelbare Berufsarbeit unter keinen 
Umständen notleiden zu lassen, weise Beschränkung auferlegt in den 
schönsten Freuden seines Lebens, in der wissenschaftlichen Forschung 
und im Verkehr mit gleichgesinnten Kollegen. Die zahlreichen persön¬ 
lichen Beziehungen, die er im Laufe der Jahre anzuknüpfen Gelegenheit 
gefunden hatte, waren ihm stets innigste Herzensangelegenheit gewesen. 
Auf ihre Pflege hat er nur ungern, aus lauterem Pflichtgefühl, verzichtet; 
die geistige Zusammengehörigkeit hat er aufrecht zu erhalten gesucht 
durch regelmäßige schriftliche Grüße an die alten Freunde bei ihren Zu¬ 
sammenkünften, 

Einen etwas schwärmerischen Zug seines Wesens darin erblicken zu 
wollen, mag manchen um so näher gelegen haben, als auch die Schule 
eigene Sprache vielfach danach klang. Vergleichen und Bildern begegnete 
man darin fast mehr, als glatter Verständigung wohl dienlich sein mochte. 
Ein Flug der Gedanken durch die verschiedensten Wissensgebiete und 
Lebensanschauungen trat darin zutage, dem nicht jedermann mit der¬ 
selben Leichtigkeit zu folgen vermochte. Trotz solchen spielenden Hinaus¬ 
greifens über die Grenzen naturwissenschaftlicher Denkweise hat er doch 
sachlich deren Boden nie verlassen, hat er nur gezeigt, daß seinem um¬ 
fassenden Geiste auch andersartige Anschauungen stets gegenwärtig 
waren. Betrat er um der Erklärung willen solche Nebenwege, so konnten 
Andern wohl seine Ziele darüber verdunkelt werden, ihm selbst standen sie 
darum nicht weniger klar vor Augen; eine nüchtern denkende Natur ist 
er stets geblieben, so wenig er sein überreiches Gefühlsleben je zu ver¬ 
bergen versucht hat. — Die gegen seine Ausdrucksweise erhobenen Ein¬ 
wendungen hat er übrigens bei der Neubearbeitung des Handbuchs bereit¬ 
willig berücksichtigt. 

Einseitigkeit und Weltfremdheit, wie man sie den Irrenärzten bei 
ihrem eingezogenen Leben so vielfach zu Zutrauen liebt, waren gewiß 
niemand ferner gelegen als Schule. Obschon ganz erfüllt von seinem Be¬ 
rufe, hat er doch nie verkannt, daß dieser nur ein Teilgebiet menschen- 


M Allg. Ztschr. für Psych. Bd. 62. 

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freundlicher Bestrebungen darstellt, sich aber auf Personen aus den aller- 
verschiedensten Lebensstellungen zu erstrecken hat. Wer ihn so erfolg¬ 
reich zu üben vermag wie Schule, für den ist darum auch ein weitgehendes 
Verständnis für die mancherlei Verhältnisse der Bevölkerung und eine 
umfassende allgemeine Bildung unerläßliche Voraussetzung. Diesen An¬ 
forderungen hat Schule in besonderem Maße zu genügen verstanden; sich 
dafür tüchtig zu erhalten, war sein Bestreben in den spärlichen Erholungs¬ 
zeiten, die er sich gegönnt hat. Mit offenem Sinn für Natur und Kunst 
verband er eine Genußfreudigkeit, die andere mitreißen mußte, eine Le¬ 
bendigkeit der Auffassung, der die Gründlichkeit des Forschers auch nach 
dieser Richtung nicht nachgab. Wie hat er nur den heimischen Schwarz¬ 
wald geliebt und gekannt, ohne darüber andere Xaturschönheiten geringer 
zu achten; wie hat er so gern in Italien geweilt, um seiner klassischen Er¬ 
innerungen und seiner Kunstschätze sich zu freuen. Boten sich daheim 
aber Mußestunden, so waren sie den Gaben der schönen Literatur geweiht; 
vor allem hat er seinen Goethe immer wieder hervorgeholt. 

Lebendigen Anteil hat er genommen an allen Angelegenheiten von 
allgemeinerer Bedeutung, auch wenn sie nicht wie die Errichtung von 
Volksnervenheilstätten und von Trinkerasylen das eigene Wirkungsgebiet 
nahe berührten. Seine Betätigung innerhalb der Gemeinde hat die Stadt 
Achern durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts anerkannt. Für alle 
staatlichen Erfordernisse hatte er einen guten Blick, und ganz besonders 
hat er sich zu allen Zeiten für des großen deutschen Vaterlandes Wohl und 
Gedeihen erwärmt. Einst hatte er Deutschlands Befreiung von der Fremd¬ 
herrschaft rednerisch zu feiern gehabt; Feuer und Flamme ist er für 
Deutschlands Einigung gewesen, und am jetzigen Kampfe um des Reiches 
Bestand hat er mit allen Fasern des eigenen Seins teilgenommen; freudige 
Genugtuung war es ihm, daß er auch Opfern des heißen Ringens seine Für¬ 
sorge zuwenden konnte. 

Wie er das Beste gewollt, hat er stets auch das Beste gehofft und 
zuversichtlich einem vollen deutschen Siege entgegengesehen. Selbst 
äußerst friedliebend, ist er doch keinem streitbaren Austrag von Meinungs¬ 
verschiedenheiten je aus dem Wege gegangen, um sie zu klarer Entschei¬ 
dung zu bringen. Ob er eine solche wohl erwartet hätte von der Kunde 
über das deutsche Friedensangebot, die denen entgegenkam, die von der 
Stätte zurückkehrten, an der seine irdische Hülle eben zur letzten Ruhe 
gebettet worden war? — Es ist der lllenauer Waldfriedhof in seiner 
stillen Abgeschiedenheit. Inmitten so Vieler, um die er während seines 
arbeitreichen Lebens besorgt gewesen war, ist er bestattet worden nach 
erhebender Gedenkfeier im Anstaltsfestsaale, einer großartigen Kund¬ 
gebung des dankbaren Andenkens, das er sich durch reich gesegnetes 
Wirken in den weitesten Kreisen verdient hat. 

An Anerkennungen aller Art hatte es ihm ja auch während des 
Lebens nicht gefehlt. Von seiten des großherzoglichen Hauses sind ihm 
bei verschiedenen Gelegenheiten äußerst warmherzige Kundgebungen 


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geworden. Regierung und Volksvertretung des badischen Landes haben 
wiederholt Anlaß genommen, seines treu besorgten Waltens öffentlich zu 
gedenken. In der Auszeichnung durch Titel und Orden, nicht nur aus der 
engeren Heimat, selbst aus dem jetzt feindlichen Ausland ist die Wert¬ 
schätzung seiner Tätigkeit zum Ausdruck gelangt; nicht weniger durch 
andere Ehrungen aus akademischen Kreisen und aus wissenschaftlichen 
Vereinen. Solche zu Straßburg, Petersburg, Paris, London, Rom, Gent, 
Moskau und Wien haben ihm die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Auch 
der Deutsche Verein für Psychiatrie hat ihn auf diese Weise aus der Zahl 
seiner ordentlichen Mitglieder herauszuheben gewünscht. Was aber könnte 
den durchschlagenden Erfolg seiner praktischen und wissenschaftlichen 
Betätigung besser kennzeichnen als die von 1869 bis 1886 sich immer 
wiederholenden Berufungen zur Übernahme der Leitung anderer Anstalten 
oder akademischer Lehrstühle seines Faches? Er hat sie alle abgelehnt, 
um der Anstalt, an der er seine Erfahrungen gesammelt hatte, auch bei 
Verwertung derselben treu zu bleiben. Durch diese seine Anhänglichkeit 
an Illenau ist Schüles äußerer Lebensgang auf einen engen Raum beschränkt 
geblieben. Weit war der Kreis derer, die sein segensreiches Wirken um¬ 
spannt hat. An treuem Gedenken kann es dem nicht fehlen, der sich selbst 
und seiner Lebensaufgabe bis zum Tode so treu geblieben ist! 

ÄVeuser-Winnental. 


Personalnachrichten, 

Dr. Karl Wilmanns, ao. Prof, in Heidelberg, ist zum Direktor der Landes¬ 
anstalt bei Konstanz, 

Dr. Theodor Heller in Haina und 

Dr. Theodor Malcus in Marburg sind zu Oberärzten,. 

Dr. Eduard Reiß, Priv.-Doz. in Tübingen, ist zum ao. Professor, 

Dr. Gustav Länderer, Dir. des Christophbades in Göppingen, ist zum 
Geh. Sanitätsrat, 

Dr. Otto Deiters, Oberarzt in Grafenberg, 

Dr. Kurt Gallus, Oberarzt in Potsdam, 

Dr. Otto Juliusburger, Oberarzt am Berolinum in Lankwitz, 

Dr. Ernst Klipstein, Oberarzt in Herzberge, und 

l)r. Alexander Wilhelmy, leit. Arzt an der Hertzschen Anstalt in Bonn, 
sind zu Sanitätsräten ernannt worden. 
l)r. Richard Werner, San.-Rat, Oberarzt in Buch, und 
Dr. Josef Reis, Arzt an der Dr. Kahlbaumschen Anstalt in Görlitz, haben 
das Eiserne Kreuz 1. Klasse, 

Dr. Bernhard Schauen, San.-Rat, Dir. in Neustadt, W.-Pr., und 
Dr. Joh. Stövesandt, Prof., Dir. der Krankenanstalt in Bremen, die Rote 
Kreuz-Medaille 3. Kl. erhalten. 

Dr. Felix Winkler, Oberarzt an der Landesanstalt Arnsdorf, ist gestorben. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der seniien 
psychischen Erkrankungen. 

Von Dr. Pieszczek, Anstaltsarzt in Kortan. 


Den Menschen geleiten anf seinem Lebenswege eine große 
Reihe von Gesetzes Vorschriften, die ihm hauptsächlich in straf¬ 
rechtlicher und zivilrechtlicher Hinsicht vorschreiben, was er im 
allgemeinen tun und lassen soll. Die meisten von ihnen gehen 
den geraden Weg, ohne viel von Gesetzesparagraphen zu wissen, 
allein kraft des ihnen innewohnenden, durch Erziehung und 
Sitte fest verankerten Bewußtseins der Pflicht gegen sich selbst 
und der Rflcksichtnahme auf die Interessen der Mitmenschen, ein 
anderer Teil durchbricht aber die durch Recht und Sitte aufge¬ 
bauten Schranken in mehr oder weniger erheblichem Maße, teils 
durch von außen auf einen schwachen Charakter einwirkende 
Ursachen, teils durch innere angeborene und vererbte Antriebe dazu 
bestimmt. Zu diesem gehören in erster Linie die geistig Minder¬ 
wertigen, die Debilen, Imbezillen, die hysterisch Veranlagten, dann 
schließlich die mit einer ausgesprochenen Geisteskrankheit Be¬ 
hafteten, wobei die Dementia praecox, die Paranoia, die epilepti¬ 
sche Geistesstörung, die progressive Paralyse und schließlich die 
große Gruppe der senilen Erkrankungen, unter denen die arterio¬ 
sklerotischen Gehirnerkrankungen und die ausgesprochene Dementia 
senilis die hervorstechendsten sind, in Frage kommt. Man kann 
somit sagen, daß fast jedes Lebensdezennium zu einer bestimmten 
geistigen Erkrankung prädisponiert, auf Grund deren die in diesem 
Alter Stehenden möglicherweise mit dem Gesetzbuch irgendwie 
in Konflikt kommen können. 


Für das Greisenalter ist es durch langjährige juristische und 
psychiatrische Erfahrung um so erwiesener, als gerade Leute vom 
60. Lebensjahre ab straffällig werden, die vorher ein tadelloses 
Leben geführt haben und niemals vorbestraft waren. 


Zeiteehrift^fttr Psychiatrie LXXIII. 5. 

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394 


Pieszczek, 


Um zu verstehen, auf welchen Ursachen dieses beruht, müssen 
wir uns die senilen psychischen Erkrankungen und deren Haupt- 
erscheinungsformen in kurzen Umrissen vor Augen führen. 

In erster Linie handelt es sich um die arteriosklerotischen Geistes¬ 
störungen, die je nach dem Zeitpunkt des Beginnes der arterioskleroti¬ 
schen Herz- und Gefäßveränderungen auf Grund ererbter Disposition — 
Ziehen *) nennt es arteriosklerotische Heredität, Weber *) Gefäßbelastung 
— oder der verschiedensten sonstigen einwirkenden Ursachen wie chro¬ 
nischen Alkohol- und Tabakmißbrauchs, aufreibender, verantwortungs¬ 
voller Tätigkeit, wie bei größeren Kaufleuten, Bankiers und Aufsichts¬ 
beamten (Cramer *)), infolge Lues, weniger häufig infolge Bleivergiftung, 
verhältnismäßig früh einsetzen können ( Koeppen «)), wie z. B. in Al- 
brechts ®) Fall, wo es sich um einen erst 43 jährigen Mann handelt. 

Weniger die anhaltende, aber gleichmäßig dahinfließende geistige 
Arbeit, als das zermürbende verantwortungsvolle Moment in der Tätigkeit 
oder andauernd schwere körperliche Krafteilstungen, wie z. B. die eines 
Schmiedes oder Sackträgers, sind die ausschlaggebenden Momente in der 
Entstehung der Arteriosklerose, Ursachen, die sicher auf die Spannung 
und den Tonus der Gefäße einen erheblichen ungünstigen Einfluß aus¬ 
üben können. 

Dabei kann die Beteiligung der verschiedenen Gefäßgebiete des 
Körpers an dem krankhaften Prozeß eine ganz unregelmäßige sein. Oft 
eröffnet ein Schlaganfall plötzlich die bunte Szenerie der komplizierten 
körperlichen und geistigen Störungen, ohne daß körperlich an der be¬ 
treffenden Person etwas Besonderes in arteriosklerotischer Beziehung 
nachzuweisen gewesen wäre. 

Die eigentlichen arteriosklerotischen psychischen Erkrankungen 
bieten in ihren klinischen Symptomen ein Bild von reichster Mannigfaltig¬ 
keit (Kraepelin •), und es ist das Verdienst Binswangers T ) 8 ), Alzhei- 


*) Ziehen, Lehrb. der Psychiatrie. 4. Auf!., 1911, S. 798. 

*) Weber, Uber arteriosklerotische Psychosen. NeuroL Ztlbl. 1908, 
S. 1098. 

*) Cramer, Die nervösen und psychischen Störungen der Arterio¬ 
sklerose. D. med. Wschr. 1909, S. 1595. 

4 ) Koeppen, Arteriosklerose als Ursache von Geisteskrankheiten. 
Arch. f. Psych. Bd. 20, S. 882. 

s ) Albrecht, Ein forensischer Fall von arteriosklerotischer Geistes¬ 
störung. Ztschr. f. Medizinalbeamte XVII. Jahrg., 1904, S. 683. 

•) Kraepelin, Lehrb. der Psych. 1910, Bd. 2, S. 554. 

T ) Binswanger, Zur Klinik und pathol. Anatomie der arterioskleroti¬ 
schen Hirnerkrankung. Neurol. Ztlbl. 1908, S. 1097; Arch. f. Psych. 
Bd. 45, S 731. 

®) Derselbe, Diskussionsbem. Ztschr. f. Psych. Bd. 51, S. 811. 


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Di« gMÖchtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 395 

mers 1 ) *) 3 ) und Spiebmeyers 4 ) •), sie durch grundlegende klinische und 
anatomische Arbeiten seit den 90er Jahren als ein wohlumgrenztes, klares, 
scharf charakterisiertes Krankheitstuld dargestellt zu haben, obgleich 
man auch hier nach dem klinischen und anatomisch-histologischen Be¬ 
funde mehrere Unterarten unterscheidet. Es würde den Rahmen dieser 
Arbeit überschreiten, wollte ich auf diese im einzelnen näher eingehen, 
ich erwähne nur die hauptsächlichsten: Die nervöse Form der Arterio- 
sclerosis cerebri ( Cramer •), Pilcz ’), Windscheid 9 )), die oft den Anfang 
der Erkrankung darstellt, sich vor allem in Kopfdruck, Kopfschmerz, 
Schwindelanfällen und Abschwächung der Merkfähigkeit ausprägt und 
nicht weiter fortzuschreiten braucht. 

Ferner hat man euphorische und expansive Zustandsbilder be¬ 
obachtet (Weber *), Binstvanger 10 )), doch hauptsächlich nur bei Kranken, 
deren Natur schon in gesunden Tagen nach dieser Richtung hingeneigt 
hatte und nun ins Krankhafte verzerrt erschien. 

Unterarten von anatomisch besonderer Lokalisation des Krank¬ 
heitsprozesses sind die Encephalitis subcorticalis chronica ( Binstvanger u )), 
die abgesehen von einer Erschwerung des Gedankenablaufs, verlang¬ 
samter Auffassung und einer allmählichen bis zur Verblödung fortschrei¬ 
tenden geistigen Verödung von Anfang an gewisse, bald stationär werdende 
schwere Herderscheinungen zeigt, weiterhin Alzheimers perivaskuläre 


*) Alzheimer , Die arterioskL Atrophie des Gehirns. Allg. Ztschr. f. 
Psych. 1895, Bd. 51, S. 809. 

*) Derselbe, Neuere Arbeiten über die Dementia senilis und die auf 
atheromatöser Gefäßerkrankung basierenden Gehirnkrankheiten. Mschr. 
f. Psych. u. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101. 

*) Derselbe, Die Seelenstörungen auf arteriosklerotischer Grund¬ 
lage. Ztschr. f. Psych. 1902, Bd. 59, S. 695. 

4 ) Spielmeyer, Über die Alterserkrankungen des Zentralnerven¬ 
systems. D. med. Wschr. 1911, S. 1377. 

*) Derselbe, Die Psychosen des Rückbildungs- und Greisenalters. 
AschafTenburgs Handb. d. Psych., 5. Abt., 1912. 

*) Cramer, Die nervösen und psychischen Erkrankungen bei Arterio¬ 
sklerose. D. med. Wschr. 1909, S. 1595. 

7 ) Pilcz, Die psychischen und nervösen Störungen bei Arterio¬ 
sklerose des Gehirns. Wien. med. Wschr. 1910, S. 625. 

®) Windscheid, Über die durch Arteriosklerose bedingten Nerven¬ 
krankheiten. Neurol. ZtlbL 1901, S. 1069. 

•) Weber, Zur Klinik der arteriosklerotischen Seelenstörungen. 
Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1908, Bd. 23, Supplementheft S. 175. 

»•) Binstvanger, Zur Klinik u. pathoL Anatomie der arterioskL Hirn¬ 
erkrankung. Arch. f. Psych. Bd. 45, S. 731; Neurol. Ztlbl. 1908, S. 1097. 

11 ) Derselbe, Die Abgrenzung der allg. progressiven Paralyse. 
BerL klin. Wschr. 1894, Nr. 49 IT. 


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UMIVERSITY OF MICHIGAN 




396 


Pieszezek. 


Gliose 1 ), die durch fleckweisen Untergang der nervösen Substanz und 
herdförmige hochgradige Gliawucherungen an den schwer entarteten 
Gefäßen entlang auffällt 

Von den arteriosklerotischen Geistesstörungen zu der zweiten großen 
Gruppe der senilen psychischen Erkrankungen, der meist erst um das 
60. Lebensjahr herum einsetzenden Dementia senilis, finden sich klinisch 
und anatomisch zahlreiche fließende Übergänge 'und verwandte Sym¬ 
ptome (Kraepelin *), Alzheimer *), Buchholz*), Wille*), Fürstner *)), wenn 
auch die beiden zugrundeliegenden anatomischen Veränderungen unab¬ 
hängig voneinander bestehen können. 

Es können primäre Erkrankungen der Gehirngefäße oder infolge 
Arteriosklerose atrophische Vorgänge und Funktionsstörungen in anderen 
Körperorganen allein vorhanden sein und dann durch mangelhafte Blut¬ 
versorgung und Ernährungsstörungen die feinen nervösen Elemente des 
Gehirns leiden, so daß bisweilen schwere Funktionsstörungen schon bei 
geringen Veränderungen eintreten, es können aber auch die typisch senilen 
degenerativen Veränderungen in der Struktur der Hirnrinde und den 
Ganglienzellen infolge atheromatöser Degeneration der Himgefäße als 
etwas Selbständiges für sich bestehen, ohne daß eine nennenswerte Spur 
von Arteriosklerose vorhanden zu sein braucht. Nach Ackermann 7 ) 
und Bresler •) ist sie bei der genauesten Durchsuchung des Gefäßsystems 
von Greisen im Alter von 80 bis 100 Jahren am Sektionstische vermißt 
worden, obwohl der Körper sonst alle Zeichen der Seneszenz hatte. Die 
physiologische Gefäßinvolution des höheren Alters ist vielmehr als prä¬ 
disponierendes Moment für die Entwicklung der Arteriosklerose anzu- 


') Alzheimer, Über perivaskuläre Gliose. Allg. Ztschr. f. Psych. 
1897, Bd. 53, S. 863. 

*) Kraepelin, Lehrb. d. Psychiatrie 1910, Bd. 2, S. 593. 

3 ) Alzheimer, Neuere Arbeiten über die Dementia senilis und die 
auf atheromatöser Gefäßerkrankung basierenden Gehirnkrankheiten. 
Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101. 

4 ) Buchholz, Uber die Geistesstörungen bei Arteriosklerose und ihre 
Beziehungen zu den psychischen Erkrankungen des Seniums. Arch. f. 
Psych. 1905, Bd. 39, S. 499. 

*) Wille, Die Psychosen des Greisenalters. Allg. Ztschr. f. Psych. 
Bd. 30, S. 272. 

*) Fürstner, Über die Geistesstörungen des Seniums. Arch. f. Psych. 
Bd. 20, S. 458. 

’) Ackermann, Dementia senilis, Geistesstörungen des Greisenalters 
mit Berücksichtigung ihrer forensischen Bedeutung. Arch. f. Krim.- 
Anthropol. Bd. 45, S. 334. 

•) Bresler, Greisenalter u. Kriminalität. Jurist.-psych. Grenzfragen 
1907, Bd. 5, H. 2 u. 3. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 397 

sehen. Spielmeyer 1 ) sagt: „Jede Beschäftigung mit den Psychosen des 
Rückbildung» -und Greisenalters muß von dieser Tatsache ausgehen.“ 
Alzheimer *) nimmt auch eine durch erbliche Anlage erworbene Schwäche 
des Zentralnervensystems als ursächliches Moment an. 

Schließlich seien noch der ähnlichen Symptome wegen einige 
atypische Formen der senilen Demenz erwähnt, die in höherem Alter 
Vorkommen und infolge erheblicher Herabsetzung der geistigen Funk¬ 
tionen wohl auch einmal zu gerichtsärztlicher Bedeutung führen können. 

Hierhin gehört die sogenannte Alzheimersche Krankheit (Alz¬ 
heimer*), Kraepelin*), Schnitzler »)), eine im präsenilen Alter sich rasch 
entwickelnde, nicht auf arteriosklerotischer Grundlage beruhende, in 
kurzer Zeit zu den tiefsten Graden fortschreitende Verblödung, wobei 
von vornherein Andeutungen verschiedenartiger Herdsymptome, beson¬ 
ders aphasischer und asymbolischer Art sich bemerkbar machen. 

In anatomisch-histologischer Beziehung sind die Strukturverände¬ 
rungen der Hirnrinde viel hochgradiger als sie bei der eigentlichen De¬ 
mentia senilis gefunden werden. 

Ferner wäre hierher zu rechnen nach Pick*) die umschriebene 
senile Hirnatrophie — Alzheimers senile Hirnverödung (Kraepelin 1 )), 
auf deren Grundlage Herderscheinungen Zustandekommen können. Wahr¬ 
scheinlich handelt es sich in diesen Fällen um eine Kombination seniler 
und arteriosklerotischer Vorgänge, indem vorzugsweise die kleinen, von 
der Oberfläche her in die Rinde eintretenden Gefäße befallen werden und 
dadurch namentlich ein ganz allmählicher Verschluß eintritt. Es kommt 
gewöhnlich weder zu Blutungen noch zu Erweichungen, sondern zu einem 
einfachen Schwunde der nervösen Gewebsbestandteile. Herrschen die 
Erweichungen vor, so kann es zu dem Bilde des (Hat vermoulu nach Pierre 
Marie kommen, wie es Roßbach *) beschrieben hat. 


*) Spielmeyer, Die Psychosen des Rückbildung»- und Greisenalters. 
AschafTenburgs Handb. der Psych. 5. Abt., 1912. 

*) Alzheimer, Neuere Arbeiten über Dementia senilis. Mtschr. f. 
Psych. u. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101. 

s ) Alzheimer, Über eigenartige Krankheitsfälle des späteren Alters. 
Zschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 4, H. 3, S. 356. 

4 ) Kraepelin, Lehrb. d. Psychiatrie 1910, Bd. 2, S. 624. 

*) Schnitzler, Zur Abgrenzung der sog. Alzheimerschen Krankheit. 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig. 1911, Bd. 7, H. 1, S. 34. 

•) Pick, Senile Hirnatrophie als Grundlage von Herderscheinungen. 
Wien. klin. Wschr. 1901, Nr. 17 u. 46. 

7 ) Kraepelin, Lehrb. d. Psychiatrie 1910, Bd. 2, S. 621. 

*) Roßbach, Über einen eigenartigen Zerstörungsprozeß der Hirn¬ 
rinde auf arteriosklerotischer Grundlage. Ztschr. f. d. ges. Psychiatrie u. 
Neurol. 1910, Orig. I, S. 92. 


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398 


Pieszczek, 


Nach dieser kurzen Übersicht über die in gerichtlicher Be¬ 
ziehung möglicherweise in Betracht kommenden senilen geistigen 
Erkrankungsformen erscheint es mir am zweckmäßigsten, auf die 
Hauptsymptome sowohl der arteriosklerotischen wie der senilen 
Störungen, die in ihrer Gesamtheit außerordentlich viele wesens¬ 
verwandte Züge aufweisen, im allgemeinen näher einzugehen, da 
aus ihnen erst der Konflikt mit den Gesetzen begreiflich erscheint. 
Allerdings muß man sich von vornherein darüber klar sein, daß 
von der den physiologischen körperlichen und geistigen Rückbil- 
dungs- und Altersveränderungen eigentümlichen einfachen Ab¬ 
schwächung der Widerstandsfähigkeit und Spannkraft (Bansch- 
burg und Balint 2 )), die an sich noch keine Krankheit bedeutet 
(Koch 2 )), bis zu den schwersten Formen der psychischen senilen 
Erkrankungen ganz allmähliche Übergänge bestehen, so daß es 
oft schwer ist, bei einem Greise, der sich eines Vergehens schuldig 
gemacht hat, zu entscheiden, ob derselbe für seine Tat verant¬ 
wortlich gemacht werden kann oder nicht. 

Eines der ersten und frühesten Symptome ist eine gewisse Abnahme 
der Arbeits- und Tatkraft, sdwohl in körperlicher als auch besonders in 
geistiger Beziehung. Die Kranken ermüden leicht und empfinden ein 
starkes Ruhebedürfnis. Gewöhnlichen Anforderungen kommen sie eine 
Zeitlang zwar noch mit gesteigerter Anstrengung nach, scheuen jedoch 
vor neuen, aus dem Rahmen des Althergebrachten herausfallenden Auf¬ 
gaben zurück. 

Dazu kommt eine Abnahme des Gedächtnisses und der Merkfähig¬ 
keit. Sie verlernen eventuell gelernte Sprachen, werden besonders ver¬ 
geßlich für Namen und Zahlen, müssen sich auf diese oft erst lange be¬ 
sinnen, irren sich leicht, begehen auffallende Flüchtigkeiten und erzählen 
wiederholt dieselben Dinge. 

Die Aufnahmefähigkeit läßt nach, so daß ihnen die Ereignisse aus 
den letzten Monaten und Wochen leicht entfallen, während gerade Er¬ 
lebnisse und bekannte Tatsachen aus früherer Zeit, ja aus der Jugendzeit 
festsitzen und gern immer wieder von neuem in weitschweifiger Breite 
und typischer Geschwätzigkeit wiederholt werden, um die geistige Schwäche 
und die in ihrem Gedächtnis bestehenden Lücken zu verdecken. So kann 
es bei stärkeren Graden Vorkommen, daß die Gegenwart fast spurlos an 


*) Banschburg und Balint, Über quantitative und qualitative Ver¬ 
änderungen geistiger Vorgänge im hohen Greisenalter. Allg. Ztschr. f. 
Psych. Bd. 57, S. 689. 

*) Koch, Die psychopathischen Minderwertigkeiten. 1891, S. 350. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 399 


dem Kranken vorübergeht. Er vergißt, was er gestern und vorgestern 
getan hat, findet sich auch schließlich in seiner Umgebung nicht mehr 
zurecht, weiß sich auf die Namen alter Bekannter nicht mehr zu be¬ 
sinnen und verwechselt die Personen seiner Umgebung. 

In gleicher Weise mit dem Gedächtnis läßt auch die Aufmerksamkeit 
nach, sie überhören und vergessen wichtige Einzelheiten, verlieren in 
der Unterhaltung leicht den Zusammenhang und springen auf andere 
Dinge über. 

In der Ausübung ihrer täglichen Beschäftigung werden solche Per¬ 
sonen umständlich, kleben an nichtigen Kleinigkeiten, während sie für 
wichtigere Fragen kein Interesse haben, werden unzuverlässig, vergessen 
Aufträge und Verabredungen, lassen wichtige Angelegenheiten unerledigt, 
verlegen häufig notwendige Dinge und können besonders in Geschäfts¬ 
und Geldangelegenheiten nicht mehr Ordnung halten, so daß sie in den 
Verdacht der Unterschlagung und Veruntreuung geraten. 

Es ist jedoch dabei bemerkenswert, daß ein großer Teil des geistigen 
Besitzes zuerst noch nicht verloren geht, sondern nur mangelhaft beherrscht 
wird. Man sieht daher nicht selten, daß die Kranken, die zeitweise schon 
erheblich geistesschwach erscheinen, ein andermal überraschende Leistun¬ 
gen zustande bringen, wie überhaupt der oft schnelle Wechsel zwischen 
guten und schlechten Tagen für den senilen in geistigem Rückgang Be¬ 
griffenen charakteristisch ist. 

Auch ist die Einbuße gewöhnlich eine ungleichmäßige, manche 
Gebiete des Seelenlebens können noch leidlich erhalten sein, während 
sich auf anderen schon sehr schwere Störungen geltend machen. Endlich 
können die bei Apoplektikern sich vielfach einmischenden aphasischen 
Störungen den Grad der geistigen Schwäche unter Umständen erheblich 
höher erscheinen lassen, als er in Wirklichkeit ist. 

Der geistige Defekt ist gewöhnlich um so auffälliger, je höher die 
geistige Entwicklung früher war. 

Die Kranken werden unfähig, neue Gesichtspunkte zu gewinnen. 
Die altgewohnten Gedankenreihen und erstarrten Vorstellungsverbindun- 
gen erhalten sich zwar noch in stetem Kreisläufe und kehren bei jeder 
Gelegenheit ohne Rücksicht auf den Zusammenhang wieder, sind aber 
keiner weiteren Entwicklung mehr fähig, keiner Anregung von außen 
mehr zugänglich. Daraus erklärt sich der völlige Mangel an Verständnis 
für fremde Anschauungen und Verhältnisse und der störrische Eigensinn, 
mit dem das Althergebrachte festgehalten wird. 

Die Bildung selbständiger Urteile, die kritische Würdigung der 
auftauchenden Gedankenvorstellungen wird fortschreitend ungenügender 
und unsicherer. In den schwersten Fällen beurteilen früher ganz intelli¬ 
gente Leute die an sie herantretenden Lebensfragen in einer ganz kindi¬ 
schen Weise und werden schließlich völlig unfähig, auch nur die einfachsten 
Verhältnisse richtig zu würdigen. So entwickelt sich neben der Unbelehr- 


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400 


Pieszczek, 


barkeit und Starrköpfigkeit die Leichtgläubigkeit und die leichte Be¬ 
einflußbarkeit durch andere Personen, die vielfach alte Leute auf raffi¬ 
nierte Weise auszunutzen verstehen. 

Im allgemeinen ist jedoch die Urteilsschwäche, wie Ziehen 1 ) her¬ 
vorhebt, nicht so stark beeinträchtigt, wie bei der Dementia paralytica. 

Die Stimmung der senil Erkrankten ist häufig niedergeschlagen 
(Weber *)), stumpf, teilnahmlos. Bisweilen stellen sich ausgesprochene 
Depressionszustände ein (Gaupp 3 )), der Kranke äußert Lebensüberdruß, 
Selbstmordgedanken und allerlei Wahnideen, teils hypochondrischen 
Inhalts, die sich mit Vorgängen im eigenen Körper beschäftigen, teils 
Verfolgungsideen, die oft auf die Ehefrau oder andere nächste Verwandte 
bezogen werden. Nicht selten ist der Kranke aber auch reizbar, mi߬ 
trauisch und ärgerlich, zuweilen läppisch, euphorisch und redselig, wie 
ja der Wechsel der Stimmung, besonders für den Arteriosklerotiker, cha¬ 
rakteristisch ist. Die tieferen Gefühlsbeziehungen des Kranken zu ihren 
Angehörigen und den Vorgängen in ihrer Umgebung zeigen immer eine 
bedeutende Abschwächung. Sie bleiben bei Todesfällen oder ähnlichen 
Schicksalsschlägen stumpf, teilnahmlos, kümmern sich nicht um ihre 
Angelegenheiten, äußern keine Wünsche oder Hoffnungen. 

Die tägliche Beschäftigung wird dem Kranken gleichgültig, so daß 
er schließlich gar nichts mehr tut, stumpf dahinlebt oder nur auf die Be¬ 
friedigung der persönlichen Bedürfnisse und seiner Launen bedacht ist. 
Er wird rücksichtslos, ungeduldig, mürrisch, eigenwillig, rechthaberisch 
und fühlt sich durch jeden Widerspruch gereizt und beleidigt. Vielfach 
zeigt sich ein sinnloser Geiz, die Neigung, Geld zusammenzuscharren, 
ohne irgendwelche Möglichkeit der Verwendung zu haben, bisweilen auch 
die Furcht, zu verarmen, Gedanken, die häufig ganz besonders vorherr¬ 
schend sind und zu ausgesprochenen Wahnideen werden können. Diese 
tragen häufig etwas Inkohärentes an sich, es kann sich aber nach einer 
Hirnblutung auch einmal eine chronische Paranoia entwickeln, wofür 
Möller 4 ) einen Fall Ziehens, erwähnt. Gewöhnlich sind die Wahnideen 
mit Halluzinationen verbunden, und es bieten solche Kranke dann das 
Bild der halluzinatorischen Verrücktheit, wie Mendel *) und Kreyher •) 
solche Fälle beschrieben haben. 


') Ziehen, Lehrb. d. Psychiatrie 1902, 2. Aufl. 

*) Weber, Arteriosklerotische Verstimmungszustände. Münch, med. 
Wschr. 1909, S. 1524. 

*) Gaupp, Die Depressionszustände des höheren Lebensalters. Münch, 
med. Wschr. 1905, S. 1531. 

4 ) Moeller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre gerichts¬ 
ärztliche Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, 3. Folge, Bd. 42, S. 290. 

*) Mendel, Über psychische Störungen nach Hirnhämorrhagie. 
D. med. Wschr. 1882, S. 49. 

•) Kreyher, Ein Fall von sensorischer Aphasie mit Ausgang in hal¬ 
luzinatorische Paranoia. Diss. Berlin 1906. 


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Die gerichteärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 401 

Kogge 1 ) behandelt einen Fall, in dem nach einem apoplektischen In¬ 
sult bei einem arteriosklerotischen Trinker vorübergehender Verwirrtheits¬ 
zustand auftrat, von dem dauernde sensorische Aphasie und arteriosklero¬ 
tische Neurasthenie zurückblieb. 

Auch Größenideen kommen bei Apoplektikern vor. 

Nach Schlaganfällen von mehr oder minder größerer Ausdehnung 
kommt es vielfach zu Trübungen des Bewußtseins, zeitweise zu deliranter 
Benommenheit und Verwirrtheit mit Ausgang in Verblödung. Die Kranken 
sind unklar, verkennen die Personen, selbst ihre nächsten Angehörigen, 
reden verwirrt, Anden sich nicht zurecht, irren planlos umher und machen 
allerlei verkehrte Sachen. Dieselbe Verwirrtheit und Unruhe Andet sich 
bei den senil Dementen ( Zingerle *) 3 ) 4 )), bei denen sie besonders nachts 
gesteigert ist. Unter dem Eindrücke von sehr lebhaften Halluzinationen 
ängstlich-schreckhafter Natur können solche Kranke in eine äußerst 
hochgradige Erregung geraten, wobei sie meist glauben, verfolgt oder 
umgebracht zu werden, sich in ihrerWohnung einschließen und an Fa¬ 
milienangehörigen in diesem Zustande die gräßlichsten Verbrechen be¬ 
gehen können. 

Nach Ansicht Kraepelins *) und Alzheimers *) dürften in diesem 
Falle wahrscheinlich besondere Äußerungen der senilen Hirnentartung 
vorliegen. Auch Mendel bezeichnet diese mehr akute Form als Delirium 
hallucinatorium der Greise und betont ihre ungünstige Prognose. 

Entwickelt sich der senile Verfolgungswahn allmählich, so werden 
die Kranken gegen jedermann mißtrauisch, glauben, daß die Nachbarn 
sie auf jede Weise schikanieren und betrügen. Man läßt Besuche nicht 
zu ihnen, sucht sie geschäftlich zu benachteiligen, dringt in ihre Wohnungen, 
stiehlt ihnen Geld und andere Sachen. Vielfach zeigt das Mißtrauen 
sexuell gefärbten Inhalt, sie bezichtigen die Frau des Ehebruchs, 
verdächtigen ihre Töchter, daß sie sich mit Männern umhertreiben. Siege¬ 
raten mit aller Welt in Streit, zanken und schimpfen in gemeinster Weise, 
bedrohen ihre Angehörigen und die Umgebung und werden schließlich 
zu solchen Tyrannen, daß ein weiteres Verbleiben in der Häuslichkeit 
ausgeschlossen ist. 


*) Kogge , Über sensorische Aphasie und Geistesstörung bei Arterio¬ 
sklerose. Diss. Kiel 1911. 

*) Zingerle , Die Geistesstörungen im Greisenalter. Jahrb. f. Psych. 
u. Neurol. 1899, Bd. 18, S. 256, 309, 311. 

*) Derselbe, Die Geistesstörungen des Greisenalters. Dittrichs Handb. 
d. ärztl. Sachv.-Tätigkeit 1910, Bd. 9, S. 609. 

4 ) Derselbe, Die Geistesstörungen auf arter. Grundlage. Dittrichs 
Handb. der ärztl. Sach v.-Tätigkeit Bd. 9, 2. Lief., 1910, S. 622. 

‘) Kraepelin, Lehrb. d. Psych. 1910, 8. Aufl., Bd. 2. 

•) Alzheimer, Neuere Arbeiten über die Dem. senilis. Mtschr. f. 

Psych. ü. Neurol. 1898, Bd. 3, S. 101. 


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402 


Piesiczek, 


Andere Kranke werden einfach kindisch nnd verblöden allmählich, 
bleiben aber ruhig und freundlich. Diese können oft insofern für die 
Öffentlichkeit gemeingefährlich werden, als bei den Männern in typischer 
Weise trotz des Nachlassens aller körperlichen Funktionen eine erhebliche 
Steigerung der geschlechtlichen Erregbarkeit eintreten kann. Sie putzen 
sich für andere, wollen sich scheiden lassen, führen schamlose zotige 
Redensarten, suchen Liebesabenteuer mit zweifelhaften Frauenzimmern, 
exhibitionieren, masturbieren und machen sich vor allem an Kinder und 
junge Mädchen heran, um mit ihnen unzüchtige Handlungen zu verüben. 
Oft spielt auch hierbei eine jetzt erst aufgetretene Vorliebe für Alkohol 
eine gewisse Rolle, obwohl sie in dem Alter sehr wenig vertragen. Alle 
diese Neigungen führen auch häufig zur Ausbeutung durch Prostituierte, 
Glücksritter und eventuell zu bedenklichen Eheschließungen. 

Es sind ferner zu erwähnen die besonders bei Arteriosklerotikern 
nach Schlaganfällen vorkommenden Störungen der Sprache und der 
Schrift. 

Die Sprachstörungen sind meist die einer motorischen, seltener 
sensorischen Aphasie, am häufigsten Mischformen. Daneben bestehen 
vielfach noch artikulatorische Störungen. Das für die Dementia para- 
lytica charakteristische Silbenstolpern habe ich bei einem Arteriosklero- 
tiker ziemlich ausgesprochen beobachtet. Möller 1 ) erwähnt ebenfalls in 
dieser Beziehung zwei Apoplektiker. 

Nach Wer nicke *) findet sich das Zeichen in der Mehrzahl der Fälle, 
die eine motorische Aphasie, wenn auch nur als ein indirektes passageres 
Herdsymptom der linken Hemisphäre überstanden haben, doch ist es 
selten so charakteristisch wie bei der Dementia paralytica. 

Die Sprache selbst ähnelt vielfach der der Apoplektiker. 

Den Schriftstörungen, die Kraepelin in seinem Lehrbuch ausführlich 
bespricht, kann, besonders bei den arteriosklerotischen Geistesstörungen, 
insofern eine große Bedeutung zukommen, als sie bei späteren strittigen 
gerichtlichen Angelegenheiten, besonders wenn der Betreffende inzwischen 
schon verstorben ist, bei Prüfung der hinterlassenen Schriftstücke oder 
Geschäftsbücher uns wichtige Aufschlüsse geben können. Abgesehen da¬ 
von, daß man die Leere und die Lückenhaftigkeit der Gedanken erkennen 
kann, finden sich vielfach Wiederholungen, Auslassungen oder Neubil¬ 
dungen von Worten oder Buchstaben, also ausgesprochene paragraphi¬ 
sche Störungen. Dazu gesellen sich die der Ataxie, namentlich die Un¬ 
regelmäßigkeiten in Größe und Richtung der einzelnen Buchstaben und 


*) Moeller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre gerichts¬ 
ärztliche Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, 3. Folge, Bd. 42, S. 290. 

*) Wernicke, Der aphasische Symptomenkomplex. Deutsche Klinik 
am Eingang des 20. Jahrh. 1906, Bd. 4, 1. Abt., S. 487. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 403 

Striche, die zittrige Unsicherheit mit schwankender Abweichung von der 
geraden Linie und die zunehmende Undeutlichkeit der Schriftzüge 
gegen den Schluß, was als Zeichen rascher Ermüdbarkeit gilt ( Güntz *)). 

Was nun die anatomischen Veränderungen betrifft, die bei den se¬ 
nilen psychischen Erkrankungen nach dem Tode wohl einmal zur nach¬ 
träglichen Beurteilung des Grades der geistigen Erkrankung von Wert 
sein können, so Anden wir bei den schwereren Fällen der Dementia se¬ 
nilis eine deutliche Verringerung des Hirngewichts. Allgemein wird 
sie auf ca. 100—200 g gegenüber dem Normalgewicht des Gehirns kräftiger, 
gesunder Personen angenommen. Fankhauser *) fand gegenüber den Ge¬ 
hirnen geistig gesunder alter Leute eine durchschnittliche Abnahme um 
64 g, bei Männern etwas mehr. Das Hirnvolumen nimmt ab, die Ven¬ 
trikel sind erweitert, die Rinde ist überall verschmälert, am meisten im 
Stirnhirn. Die weichen Hirnhäute sind verdickt und getrübt, die harte 
Hirnhaut ist stellenweise mit dem knöchernen Schädeldach verwachsen. 
Mikroskopisch Anden wir nach Campbell 3 4 ) und Simchotvic * z 1 ) die Ober¬ 
flächenschicht der Hirnrinde faserig und das Fasernetz so dicht und derbe 
wie bei manchen Fällen progressiver Paralyse. An der Oberfläche der 
Hirnrinde Anden sich zahlreiche Corpora amylacea, besonders zahlreich 
liegen sie an der äußeren Markschicht des Ammonshorns. Ferner ist das 
Vorkommen einer Anzahl von Spinnenzellen in der ersten Schicht ein 
fast charakteristisches Zeichen der senilen Demenz, besonders zahlreich 
Anden sie sich in den Windungstälern. Der Zelleib ist klein, die Fort¬ 
sätze sind zart. Campbell hebt hervor, daß diese Spinnenzellen sehr we¬ 
sentlich von den großen saftreichen Spinnenzellen abweichen, wie sie 
sich an der gleichen Stelle bei der Paralyse und dem Alkoholismus Anden. 
Die erste Zellage der Rinde ist gewöhnlich an Tiefe verringert. Eine 
ausgebreitete Degeneration der Ganglienzellen ist stets zu beobachten; 
man flndet Zellen in allen Stadien des Untergangs. Die typische Zellen¬ 
veränderung ist die pigmentartige Degeneration. Man kann Zellen Anden, 
deren Protoplasma völlig durch Pigment ersetzt ist, formlose Häufchen 
von Pigment, im Gewebe zerstreut, bezeichnen die letzten Reste der pig- 
mentär entarteten und zerfallenen Zellen. Eine Zunahme der Kerne der 
Neuroglia ist häuflg. 

Die perivaskulären Räume sind meist dilatiert bis zystisch erwei¬ 
tert und enthalten oft klumpiges Pigment, faserige und zellige Bestand¬ 
teile, Körnchenzellen und Detritus. Die Blutgefäße erscheinen oft an 
die Wand dieser Höhlung gedrängt. 


l ) Guentz, Der Geisteskranke in seinen Schriften. Leipzig 1861. 

*) Fankhauser zit. bei Kraepelin, Lehrb. d. Psych., I. Teil, S. 615. 

*) Campbell zit. bei Alzheimer, Neuere Arbeiten über die Dem. sen. 

4 ) Simchowicz , Histologische Studien über die senile Demenz. Nißl- 
Alzheimers histol. Arbeiten 1911, 4. Bd., S. 267. 


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Pieszezek. 


Bei der arteriosklerotischen Gehirndegeneration, bei der ebenfalls 
eine Gewichtsabnahme and Erweiterung der Ventrikel stattfindet, sind 
die Gefäßlücken allgemein erheblich verbreitert. In der nächsten Um¬ 
gebung der Gefäße ist schon makroskopisch an vielen Stellen der Rinde 
und des Markes die Hirnsubstanz hellgrau bis braunrot gefärbt und leicht 
eingesunken, besonders im Gebiete der Stammganglien und der inneren 
Kapsel, die Rinde ist blaßgrau verwaschen, wenig verschmälert. 

Mikroskopisch finden sich oft die dem Senium eigenen pigmen- 
tüsen Zellentartungen und Gefäßveränderungen, wenn auch nicht so 
hochgradig, überall verbreitet. Als Mittelpunkt der herdförmigen Ver¬ 
änderungen finden sich im Mark wie in der Rinde atheromatös entartete 
Gefäße, die oft vielfach geschlängelt in den weiten Gefäßlücken verlaufen, 
in welchen Körnchenzellen, lymphoide Elemente, scholliges und kri¬ 
stallinisches Blutpigment angehäuft sind. In der Umgebung finden sich 
erhebliche Verdichtungen der Glia und Spinnenzellenanhäufungen. In 
dem Gebiete solcher schwer erkrankten Gefäße läßt sich dann ein Aus¬ 
fall zahlreicher Ganglienzellen oder schwere Entartung derselben in Form 
der pigmentösen Degeneration, der Sklerose und Verkalkung nachweisen. 
Die Gliakerne erscheinen vermehrt, zahlreiche Spinnenzellen liegen in 
den Erkrankungsherden in der Rinde verbreitet. 

Nimmt die Gliawucherung an einzelnen Stellen der Rinde über¬ 
hand, so handelt es sich mehr um das Bild der mit Herderscheinungen 
verbundenen Alzheimerschen perivaskulären Gliose. Bei der Dementia 
apoplectica endlich handelt es sich ebenfalls um Veränderungen in der 
Hirnrinde und zwar auch in der nicht von der Blutung betroffenen He¬ 
misphäre, die denen bei der Dementia senilis außerordentlich ähnlich sind. 

Nachdem wir die mannigfaltigen klinischen Symptome der 
senilen psychischen Erkrankungen und die ihnen zugrunde lie¬ 
genden anatomisch-histologischen Veränderungen kennen gelernt 
haben, ist es von Interesse, sich mit der Frage zu beschäftigen, 
auf welche Art und in welchem Umfange die unter solchen Er¬ 
scheinungen erkrankten Greise mit dem Gericht in Konflikt geraten 
können. Die Möglichkeit einzelner Vergehen wurde schon bei der 
Schilderung der Symptome erwähnt. 

Da die Empfindungen und Gefühle eine Abschwächung, die Vor¬ 
stellungen und die Auffassungsgabe eine Verlangsamung erfahren, wird 
der Greis aus dem Gefühle der eigenen körperlichen und geistigen Hin¬ 
fälligkeit verstimmt, griesgrämig, kleinlich, zanksüchtig, während er 
schon sowieso zu Depressionszuständen neigt. Vor allem wird er auf 
ethischem Gebiete weniger widerstandsfähig. Greise, die als Männer immer 
den geraden Weg durchs Leben gegangen sind, finden an Ränkesucht 
und hinterlistigen Intrigen Gefallen. Vor allem ist auch die Willenskraft 
und die Kraft der beim normalen Menschen vorhandenen natürlichen 


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Die gericbt8ärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 406 

Hemmungen bedeutend herabgesetzt. Mit Kraus 1 ) kann man alle diese 
pathologischen Züge als stark ausgeprägte reizbare Schwäche zusammen¬ 
fassen, die den Greis dazu führen kann, zum Verbrecher zu werden. 

Da die Abstumpfung der ethischen und intellektuellen Gefühle und 
Vorstellungen ihn hindern, an geistigen Genüssen in bisheriger Weise 
teilzunehmen, so sind es die sinnlichen Genüsse als die gröberen, die für 
ihn noch am längsten Reiz besitzen. 

Deshalb sind es auch in erster Linie die Verbrechen gegen die 
Sittlichkeit (St.-G.-B. § 176, 3, seltener 5 183), die den Greis, und 
zwar den männlichen, strafbar werden lassen ( Wulffin *), Kaüfmcnn *)). 

Weitgehende Veränderungen des Charakters in ethischer und äs¬ 
thetischer Beziehung müssen vorausgegangen sein, wenn ein bis dahin 
unbescholtener Greis ein Sittlichkeitsverbrechen begeht, selbst wenn er 
sonst noch einen geordneten Eindruck macht. Bresler*) sagt: »Die sexu¬ 
elle Perversion und ethische Depravation kann jahrelang dem Verfall 
der Intelligenz vorausgehen.« 

Auch v. Krafft-Ebing*) vertritt diese Ansicht. 

Aschaffenburg• ) erklärt, ihm sei noch kein geistig Gesunder be¬ 
gegnet, der in einem Alter von über 70 Jahren ein Sittlichkeitsverbrechen 
begangen habe. 

Er fand ferner ? ) von 200 verurteilten Sittlichkeitsverbrechen 12 
an seniler Demenz Erkrankte. Er schließt daraus, daß es sich bei diesen 
Verbrechern mit seltenen Ausnahmen um eine krankhafte Erscheinung 
handelt, die, bevor es noch zu nachweisbaren intellektuellen und Ge¬ 
dächtnisstörungen kommt, zu Konflikten mit dem Strafgesetzbuch führt. 

Bonhoeffer •) •) fand eine Steigerung der Sittlichkeitsdelikte im 
Alter, unter 100 Sittlichkeitsverbrechern 10 an Arteriosklerose Leidende. 

Von zahlreichen Autoren, die sich mit den psychischen Erkrankun¬ 
gen im Senium und deren gerichtsärztlicher Bedeutung beschäftigt haben, 
ist einstimmig nachgewiesen worden, daß gewisse Arten von Verbrechen, 
wie die Sittlichkeitsverbrechen, im Greisenalter auffallend häufig be¬ 
gangen werden, zum mindesten nicht in dem Maße abnehmen wie bei 
anderen Deliktskategorien. 

‘) Kraus, zit. bei Wulffen, Psychologie des Verbrechens Bd. 2. 

*) Wulff en, Psychologie des Verbrechens Bd. 2. 

3 ) Kauffmann, Psychologie des Verbrechens. Berlin 1912. 

<) Bresler, Greisenalter und Kriminalität. Jurist.-psych. Grenz¬ 
fragen 1907, Bd. 5, H. 2/3. 

•) v. Krafft-Ebing, Lehrb. d. ger. Psychopathol. 1900, 3. Aufl. 

*) Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Heidelberg 

1903. 

T ) Derselbe, Mtschr. f. Krim.-Psychol., 2. Jahrg., S. 399. 

•) Bonhoeffer zit. bei Wulff en, Psychologie. Psych. d. Verbr. Bd. 2. 

•) Derselbe, Sittlichkeitsdelikte und Körperverletzung. Mtschr. f. 
Kriminalpsychol. II, S. 465. 

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Pieszczek, 


Während nach Aschaffenburg 1 ) die Zahl der schweren Diebstähle 
von dem Höhepunkt zwischen 18—21 Jahren in der Altersstufe über 
70 Jahren auf den 150. Teil zurückgeht, erreichen die Verurteilungen 
wegen Unzucht und Notzucht in diesem Alter den vierten Teil der Be¬ 
strafungen junger Männer im kräftigsten Mannesalter. 

Ähnliche Erfahrungen über die Häufigkeit der Sexualdelikte be¬ 
richten Kirn*) 3 ), Le grand du Saulle *), v. Krafft-Ebing *)•) und Kreu- 
ser'’). Leppmann *) erwähnt das Ergebnis einer französischen Statistik 
(Thoinot), daß bei Personen über 60 Jahren 212 kriminelle Sittlichkeits¬ 
verbrecher auf eine Million Gleichaltriger kommen, während für die Ge¬ 
samtheit der übrigen kriminell möglichen Altersstufen die Zahl nur 175 
beträgt. 

Ganz in Übereinstimmung mit Aschaffenburg kommt auch Bresler *) 
zu dem Ergebnis, daß bei Unzuchtvergehen die Verurteilungen nicht in 
der Weise abnehmen wie bei den anderen Deliktskategorien. 

Hübner ,0 ) entnimmt aus der Reichskriminalstatistik, Jahrgang 1905, 
daß für Männer im Alter von 60—70 Jahren der Durchschnitt der Be¬ 
teiligung an sämtlichen Verbrechen und Vergehen 1,9 % beträgt, für 
Unzucht und Notzucht dagegen 5,0 %, für Blutschande und Kuppelei 
2,6 %, für Erregung öffentlichen Ärgernisses 2,0 %. 

Nach Zingerle 11 ), der am Landgericht in Graz Überblick über ein 
großes Material hatte, machen die männlichen Verurteilungen über 60 
Jahre im Jahre 1907 9 % aller wegen Unzuchtverbrechen in den ver¬ 
schiedenen Altersklassen erfolgten Verurteilungen aus, und von allen ver¬ 
urteilten Männern über 60 Jahre sind 17,8 % Sittlichkeitsverbrecher. 


‘) Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Heidel¬ 
berg 1903. 

*) Kirn, Dementiasenilis. Handb. d. ger. Med. v. Maschka, 1882, 
Bd. 4, S. 364. 

3 ) Derselbe, Über die klin.-forens. Bedeutung des perversen Sexual¬ 
triebes. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 39, S. 216. 

4 ) Le grand du Saulle zit. bei Moeller, Les apoplectiques. Leur ötat 
mental, leur degrö de responsibilitö civile. Gaz. des höpit. 1881. 

°) v. Krafft-Ebing, Lehrb. d- ger. Psychologie, 1900, 3. Aufl. 

®) Derselbe, Psychopathie sexualis. 12. Aufl., S. 393. 

7 ) Kreuser, Geisteskrankheiten u. Verbrechen. Grenzfragen d. 
Nerven- u. Seelenlebens, 1907, H. 51, S. 35, 37. 

8 ) A. Leppmann, Greisenalter u. Kriminalität. Z. f. Psychothe¬ 
rapie u. med. PsychoL 1909, Bd. 1, H. 4, S. 212. 

*) Bresler, Greisenalter u. Kriminalität. Jur.-psych. Grenzfragen 

1907, Bd. 5, H. 2/3. 

,# ) Hübner, Lehrb. d. for. Psych. 1914. 

11 ) Zingerle, Über das Greisenalter in forens. Beziehung. Arch. f. 
Kriminalanthrop. Bd. 40. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 407 


Für 1900 sind die analogen Zahlen 7,6 und 16,1 %, für 1904 8,6 und 15,2 %. 
Dabei zeigt sich eine andere auffallende Tatsache, nämlich die Zunahme 
der nicht Vorbestraften im Greisenalter. Die Zunahme dieser unter den 
Verurteilten beginnt schon im Alter von 50—60 Jahren, und es wird ihre 
Zahl über 60 Jahre nahezu wieder so groß wie im Alter von 25—30 Jahren. 

Auch nach Bresler 1 ) steigt in der Tabelle über das Jahr 1907 die 
Zahl der Nichtvorbestraften von ihrem niederen Stand von 46 % im 
Alter von 30—40 Jahren allmählich auf 67 % im Alter von 70 Jahren 
und darüber. Feisenberger *) fand in der Statistik über das Jahr 1895 
sogar 73,2 %, Leppmann berechnete für das Jahr 1905 63,21 % Nicht- 
vorbestrafter. 

An der Vermehrung der Zahl der Nichtvorbestraften bei Greisen- 
verbrechen überhaupt hat sicherlich diese Deliktskategorie einen wesent¬ 
lichen Einfluß. Der Prozentsatz Nichtvorbestrafter unter den senilen 
SittlichkeitsVerbrechern ist besonders vermehrt. Auch Kirn hebt hervor, 
daß man gerade unter diesen vielfach Greise von unangetasteter Ver¬ 
gangenheit und gutem Leumund trifft. Unter 303 Fällen Aschaffenburgs 
im Alter von 70 Jahren und mehr waren 216 niemals vorbestraft. Über 
ähnliche Verhältnisse berichtet auch Bresler. 

Gerade in diesen Fällen weist das Ausschalten aller Lebenserfahrun¬ 
gen und das Sistiseren aller Hemmungen bei Leuten, welche bis in ihr 
hohes Alter niemals zu kriminellen Handlungen neigten, darauf hin, 
welche unheilvolle Rolle hierbei die seelische Veränderung spielt. 

Einen weiteren Hinweis darauf ergibt vielfach auch die Art der 
Ausführung, die oft einen Mangel an primitivster Vorsicht und Überle¬ 
gung offenbart, das Verhältnis zu äußeren Anlässen und die Motivierung. 
Es fehlt, wie Aschaffenburg hervorhebt, das Zielbewußtsein. Das ganze 
Handeln erklärt sich aus der infolge der senilen Demenz geschwächten 
Ethik, der Gedächtnisschwäche und nach v. Krafft-Ebing aus der infolge 
der pathologisch-anatomischen Veränderungen im Gehirn wieder er¬ 
wachten und abnorm starken Libido. 

Die Sittlichkeitsverbrechen werden meist so ausgeführt, daß der 
Greis die Mädchen unter 14 Jahren bei irgendeiner Gelegenheit unter 
Versprechung von Süßigkeiten, einer geringen Geldsumme oder einer 
anderen Gefälligkeit an sich lockt oder sich beim Spiel zu ihnen gesellt, 
sie liebkost, ihnen unter die Röcke greift und an ihren Geschlechtsteilen 
herumspielt, wohl auch den Finger in die Scheide einführt (§ 176, 3 St.- 
G.-B.). Bisweilen zieht er auch sein erigiertes Glied hervor (§ 83 Ex¬ 
hibition), läßt es von dem Mädchen betasten (Manustupration des Ver¬ 
führers) oder versucht auch mit dem Kinde beischlafähnliche Handlun¬ 
gen, zu einem richtig ausgeführten Koitus kommt es bei der geschwächten 
Potenz der Greise meist nicht. 


') Bresler, Geisteskrankheit u. Kriminalität. Jur.-psych. Grenzfragen. 
*) Feisenberger, Einfluß des Greisenalters auf die Kriminalität. 
Mitt. der internat. kriminal. Verg» ’ng 1900. 


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408 


Pieszczek, 


Über diesbezügliche Fälle haben u. a. berichtet Geill 1 ), Göring 2 ), 
Hübner 9 ), v. Kraffl-Ebing *), Leppmann ®), Sei ff er 6 ), Schmidtmann 7 ), 
Schuchardt *), Ungewitter *)» Wickel lü ). 

Ein Fall ist auch an der hiesigen Anstalt früher zur Begutachtung 
gekommen. Auch hat man Onanisierung, Flagellation der Opfer, auch 
homosexuelle Neigungen, manuelle Masturbation und Sodomie bei Grei¬ 
sen beobachtet. 

Unter dem weiblichen Geschlecht finden sich typische senile Sitt- 
lichkeitsVerbrecherinnen überhaupt nicht. 

Was die Motivierung der Tat anbetrifft, so wird meist der sexuelle 
Grund des Delikts geleugnet, oder es wird von den Greisen als Entschul¬ 
digung angegeben, daß sie infolge der Erregung nicht gewußt hätten, 
was sie täten, oder auch unter Einwirkung von Alkohol gestanden hätten 
oder von den Mädchen selbst dazu animiert wären, ja, sie gaben bis¬ 
weilen in naiver Weise an, sie wollten die Rechtschaffenheit der Mädchen 
einmal auf die Probe stellen, ob sie wirklich noch so unverdorben wären. 
Die unheilvolle Wirkung des Alkoholgenusses muß zugegeben werden, 
da einerseits im Alter die Neigung zu vermehrtem Alkoholgenuß sich 
einstellt, dieser aber andererseits schlechter vertragen wird und rascher 
zur Berauschung führt als früher. 

Die landläufige Erklärung, der Greis suche, da er mit seiner ge¬ 
schwächten Körperkraft den Widerstand Erwachsener nicht zu über¬ 
winden vermag, sich an Kindern zu vergreifen, hält Aschaffenburg nicht 
für die richtige, auch er ist mehr der Ansicht v. Krafft-Ebings, daß die 
Impotenz die Ursache sei, da der sexuellen Begierde nicht die Fähigkeit 
parallel gehe, nun auch den Beischlaf auszuüben. 


*) Geill, Mtschr. f. Krimin. -Psychol. 4. Jahrg., S. 350. 

*) Göring, Zur Begutachtung geisteskranker Sittlichkeitsverbrecher. 
Diss. Bonn 1908. Fall 83, 84. s 

3 ) Hübner, Lehrb. d. for. Psych. 1914. 

4 ) v. Krafft-Ebing, Lehrb. d. ger. Psychopath. 1900, 3. AufL Psycho- 
pathia sex. 12. Aufl. 

5 ) Leppmann, Die Sittlichkeitsverbrecher. Vjschr. f. ger. Med. 1905, 
3. Folge, 29. Bd., 40. Bd. 

6 ) Seiffer, Über Exhibitionismus. Arch. f. Psych. 1899, Bd. 31, 
S. 405. 

7 ) Schmidtmann, Handb. d. ger. Med. 1906, 9. Aufl. Dementia 
senilis S. 354. 

*) Schuchardt, Ztschr. f. Medizinalbeamte 1890, H. 6. 

*) Ungewitter, Sexuelle Verfehlungen im Greisenalter. Arch. f. 
Ivrim.-Anthropol. 1909, Bd. 32, S. 346. 

,0 ) Wickel, Sittlichkeitsverbrechen und Geisteskrankheit. Vjschr. f. 
ger. Med. 1903, 3. Folge, Bd. 26, S. 67. 


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Die gerichisärztliche Bedeutüag: d«r «ötßlen psychischen Erkrankungen, 409 

Biräkr■ '.^rselteiöidog- aufgecieekt, die in xlh^ni Zusammen - 

WlGh|ig!k<>ii. hjäJt. Är*vfcr ist littnilioh auf 
• llrund zu dem fleiMittat gofcffltrfriitüi, «iaö die Nfd- 

gurig alter MäiirivP. sieh nns jungen Frauen zu verheiraten, '.mit tiöh^ri-iu 
Alter Jahre# sdfolösseit S?hen Half. Mädchen unter 20 

Jahren »*• Alter von 40 bis 50 Jahren: 73 bis Hb. im Äffer von 50 ins 60 
Jahren: 33.6 'bis >tt. >w Alfer von 60 bis 70 Jahren: 269 t»ps .4K7 Männer, 
ich möchte diese Nachweise '"Btesters ade# mehr lijitersfreu h;'it tfiui mit 
Zingcrie und ahtdfvh der teppmanns cln n Auffassung nt»df»e persönlich'' 
Ansicht dahm Äußern. .Maß wir in dfrser'‘Tatsache wahr# hcinlich den 
SchltissOi »iw- m suchen 

.'die iö de« SttÜJfihkeif^varbroChön zutage- tretende VöW»‘b*y di* t*SJ«iifo, 
zu dem un».*.h«l*:Hg»?n yijik-rijhrteii Kinde, spezien Msddie/i. die Vieh nach 
v- ßeosfer Ach'iii .seit deä vierziger Jahre» verstärkt zir eriiehneh gibt, tyr 
derf Äbschiedsgruß äh die Jugehdjkra/t., ftir das fetzte; AnktamföArii arj 
das Irisch»* pulsiere mb* Leben; da* den* < *mse Gelbst, der. eine rnnrsche 
Kuine-darsielli. v-öUsfeasdlg zu entgleiiein droht •‘•Da er atts soridlerrwhhJe 
korperliieht/i rtiifkskhien viellach nicht mehr imstande ist. eine heue 
einem iusigey 

Durrchbrefhurig aller suiialCu und siüiicbeB ftchrmiketi; die Irisehen, von» 
Lcfet». noch nicht berührter) .'.Kinder au«. 4 Diesen Rf-gungvn ■kann d'v 
öreis ober um m eh»ic nachkowrorifc- als liei.vtzui agü Inder vedfaeh jungm 
/riilV entwickelte Mädchen von 7 -1* Jahren v;?is wis< bi/idv-tlW- Vvr 
traürt«&eh'gkfit, K»vifgi»rrdö, j&iröjfcDgfceft. »>hu .aiurli- feexueller B<?gehrl?r.h', 
keit ihm auf halbem. Wege ei:dgr:g»*f»komn.»en>A'o»*d-e ’; /. U: d«*r Reg.-l 
ist das das z»ir yerhaffdng ßthrt, rjicht d»^t‘c4|et mni |>s bßt *li$b .' 

aaedweiseh., m.U dßtbsclheti ndf-r puderet) Kw-bi': 

; üicrii wiederholt wurde. 

Für Hinc VerÜndprung“ der Tricl»richtü.ng «prnht nft»b 'Aingtrle a.ut h 
ferner di» 1 Eriahrnng. »laß; : df*t ;■ 1>VJ» wilunter auf KH.-ihen rüJvb.Mi 
könnt?, Wie auch Ltpptnafitt er,Wähnt Dieser hat «J»-<! V\\' 0 fW<|- der Trieh- 
riclitoftg darauf zurfekg'dlihrt 7 dabaü4 Mangel an Krö/t, neue l -haniasn-• 
Vorstellung* n zu hildeb, dit> v iedciV'rwaf.hti- Ge.-* hb».lif-dn> J /t» •!• n Ae 
fangen gtwhlwhOichrxi Fühkuj*!» zur kii*dhydtxr,p/*eh<c zuritckkchrf. t*e 
treten die treu feew^hrfch Ei«d» v u/jc>ean -ftie Objekte, ■ welche die erMeiT 
sexuellen Erfegitog»-« v-rsud.füK'ii, .miF er/j«4jt.**f J>v»itli«-hk*-#t «•»* **»•» *»«if. 
Einer R*d.zu»»g 1 «b- •'♦.:rgr»>.ucrf».- l*ro«tats» v v<*ri»»chcü’r A'Zldltaf de** 
Harn», ; dadurch h< diwgtert ftlu*- 

*lruck«chwr»<ikt<ogfV*, «>»; >i>* jZiP-%cr!/i s*|v 1 r*ju.h'‘ti tdf »Jic dutke Ubtdn 
mit Vtjjraftf.wörtftrh'h(, kann uh nur ht»> sehr onlurg^rdnctc- ||c- 
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i^yiRsrS öfS 






410 


Pieszczek, 


Der etwas krassen Anschauung von Kaufmann, Wulffen und 
Tardieu *), die die senilen Sittlichkeitsverbrecher als Wüstlinge hinstellen 
und von einer Art erotischen Deliriums und einer greisenhaften Schwä¬ 
chung sprechen, die in den erloschenen Geistern nichts anderes als aus¬ 
schweifende Leidenschaften am Leben läßt, kann ich nicht ganz bei¬ 
pflichten, obwohl sicher recht abstoßende Beispiele hierfür Vorkommen. 
Hierbei scheint mir mehr der strafrechtliche als der ärztlich-psychiatrische 
Standpunkt betont zu sein. 

Auch Kirn hält die Greise, die an Kindern Unzucht treiben, we¬ 
nigstens der Mehrzahl nach, nicht für sexuelle Wollüstlinge, die schon 
alles ausgekostet haben, sondern findet in ihnen in der Regel Leute, deren 
frühere sittliche Vergangenheit nicht angetastet werden kann und die — 
das sei besonders wichtig — häufig Männer seien, deren natürlicher Ge¬ 
schlechtstrieb seit Jahren, vielleicht schon seit Jahrzehnten geschwiegen 
hatte, die jetzt, wie man sagt, ins „gefährliche Alter“ geraten waren. 
Dafür findet man aber bei näherer Untersuchung die bereits erwähnten 
ethischen und moralischen Defekte bei psychischer Veränderung. Kirn 
selbst führt einige Fälle dafür an. 

Brandstiftung. — Das Vergehen der fahrlässigen Brandstiftung 
bei Personen über 60 Jahren ist recht häufig.und erklärlich durch die 
Fahrigkeit, Verwirrtheit und nächtliche Unruhe der senilen Personen. 

Zingerle berechnet für 1907 1,3 % für senile Männer, 1,4 % für 
senile Frauen, für 1906 1,2 % für senile Männer. 

Hübner 3,3 % für Männer, 6,0 % für Frauen. 

Die Fälle, in denen senil erkrankte Personen in die Anstalt gebracht 
werden, weil sie in fahrlässiger gefährlicher Weise mit Licht umgehen, 
sind gar nicht selten. 

Diebstahl. — Eine weitere Abart von Vergehen, die den Greisen 
zur Last gelegt werden, sind Diebstähle, weniger die schweren, mit Raf¬ 
finement, als die einfachen mit auffälliger Sorglosigkeit und Unvorsichtig¬ 
keit begangenen, bei denen ihnen oft ungeeignete wertlose Dinge mehr 
zufällig in die Hände geraten. 

Nach Zingerle beginnt die Zahl der Delikte schon im Alter von 
40 bis 50 Jahren abzunehmen und beträgt schließlich bei Männern über 
60 Jahren 1907 nunmehr noch den 13. Teil der Zahl der Diebstahlver¬ 
brechen im Alter von 30 bis 40 Jahren. Es finden sich unter den wegen 
Diebstahls verurteilten Verbrechern 1,2 % (1907), 0,9 % (1906), 1,3 % 
(1904) Greise über 60 Jahre. Absolut ist dagegen die Zahl der Verur¬ 
teilungen im Greisenalter immer noch größer als bei den Sittlichkeits¬ 
delikten. 25,9 % (1907), 25 % (1906), 24,8 % (1904) aller männlichen 
Greisenverbrechen gehören dem Diebstahl an. 


') Tardieu, Das Vergehen gegen die Sittlichkeit in staatsärztlicher 
Beziehung, ins Deutsche übersetzt von Theile, Weimar 1860. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 411 

Das konstatierte eigenartige Verhältnis zu den übrigen Altersklassen 
läßt erkennen, daß mit zunehmendem Alter bei Männern die Neigung 
zur Verübung von Diebstählen immer mehr abnimmt. 

Eine gleichmäßige Abnahme dieser Delikte tritt auch bei dem weib¬ 
lichen Geschlecht ein, das aber im allgemeinen mit niedrigeren Zahlen 
vertreten ist. 

Hübner berechnet bei Frauen über 60 Jahre für Diebstahl im Rück¬ 
fall 2,6 %. 

öffentliche Gewalttätigkeit und Beleidigung. — Bei den 
infolge gesteigerter Reizbarkeit und des Fehlens von Hemmungen ver¬ 
kommenden Fällen von Beleidigung und Gewalttätigkeit gegen Per¬ 
sonen, die eine Behörde vertreten, nimmt die Zahl von 30 bis 40 Jahren 
allmählich ab, aber nicht in dem starken Maße, wie es beim Diebstahl 
der Fall war. Sie machen 12,3 % (1907), 15,6 % (1906), 10,6 % (1904) 
aller Greisenverbrechen aus. 

Die Zahl der Nichtvorbestraften erreicht nahezu höhere Werte, 
als bei den Sittlichkeits verbrechen. 

Hübner gibt für Beleidigung bei Männern über 60 Jahren 3,9 %, 
bei Frauen 4,0 % gegenüber dem Durchschnitt von 1,9 % aller Ver¬ 
brechen von Personen über 60 Jahren an. 

Cramer 1 ) hat zahlreiche Fälle von Beleidigung festgestellt. Fälle 
von Majestätsbeleidigung, die meist unter Alkoholeinwirkung geschehen, 
sind verschwindend wenig, nach Puppe 1 ) vorwiegend bei Epileptikern 
und jugendlicheren Alkoholisten. 

Totschlag und schwere Körperverletzung. — Die Zahl der 
Verurteilten über 60 Jahre nimmt nach Zingerle etwas stärker ab als bei 
den vorigen Delikten, diese Delikte erfordern doch mehr Kraft und kör¬ 
perliche Rüstigkeit als die einfache öffentliche Gewalttätigkeit, und dar¬ 
aus erklärt sich ihr Seltenwerden. 

Diese Delikte bilden nach Zingerle 11,5 % aller männlichen Grei¬ 
senverbrechen 1907, 13.5 % 1906, 10,3 % 1904, werden also noch immer 
in einer bemerkenswerten Häufigkeit im Greisenalter begangen. 

Das weibliche Geschlecht ist bei denselben nach den absoluten 
Zahlen über 60 Jahre nur wenig vertreten. 

Unter den wegen schwerer Körperbeschädigung verurteilten Frauen 
ist aber ein größerer Prozentsatz von Frauen über 60 Jahre vertreten 
als unter den verurteilten Männern wegen dieser Delikte bestrafte Greise. 

Von den weiblichen Verurteilungen über 60 Jahren betragen die 
Verurteilungen wegen schwerer Körperbeschädigung und Totschlag 5,2 % 
1907, 6,1 % 1906, nach Hübner für schwere Körperverletzung durch¬ 
schnittlich 3 %. 


*) Cramer, Lehrb. d. ger. Psych., 4. Aufl., 1908. 

2 ) Puppe, Majestätsbeleidigung und Geistesstörung. Ärztl. Sach- 
verständigenztg. 1903, Nr. 12. 


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29* 

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412 


Piesxezek, 


Die Zahl der Nichtvorbestraften steigt bei diesem Verbrechen noch 
mehr als bei den früheren. 

Von hierher gehörigen Fallen möchte ich einige erwähnen. Ist auch 
bei allen nicht die Tat ausgeführt, so ist von der Bedrohung bis zur Voll¬ 
endung bei Kranken mit Wahnideen meist nur ein kleiner Schritt 

Ferriire ') berichtet von einem Apoplektiker, der Waffen in seinem 
Bett und im Garten verbarg, um sich seiner Verfolger zu erwehren, er 
bediente sich ihrer nur nicht 

Journiac *) erwähnt einen Apoplektiker, der nach einem Schlag¬ 
anfall die Zwangsidee bekam, er müsse seine Frau erdrosseln. 

Patschke*) erwähnt einen Kranken, der ebenfalls die Zwangsidee 
hatte, er müsse seine Angehörigen umbringen oder anderen Kranken 
irgendein Leid antun. Er bat deshalb um die kräftigsten Wärter zu seiner 
Bewachung. 

Ein Patient Möllers 4 ) hatte zu Hause seine Frau mißhandelt und 
mit dem Beile bedroht. 

Mendel 5 ) zitiert aus der französischen Literatur den Fall eines 
Apoplektikers, der drei Jahre nach dem Insult einen Mordversuch an 
9einem Vater machte. 

Kirn*) erzählt von einem Kranken, der nach einem Schlaganfall 
zunehmend geistesschwach wurde, sich dem Trünke ergab und mit seiner 
Frau in ständigem Unfrieden lebte, schließlich glaubte er, seine Frau stehe 
im Komplott mit den Kindern gegen ihn. Zwei Jahre nach dem Anfall 
kam ihm nachts der Gedanke, die Frau umzubringen, er schoß sie mor¬ 
gens, als sie seine Stube betrat, nieder. 

Despine 1 ) erzählt von einem 67 jährigen Greise, dessen Sexualität 
enorm gesteigert war, und der seine Tochter erstach, als er sie mit einem 
Liebhaber überraschte. Die Tat geschah nicht aus sittlicher Entrüstung, 


>) Ferriire zit. bei Möller, Contribution ä l’ötude de l’ötat mental 
chez les apoplectiques (Thöse de Paris 1899). 

*) Journiac zit. bei Möller nach Maradon de Montyel, Les syndromes 
episodiques chez les prödisposös vösaniques sous l’influence de l’apo- 
plexie cöröbrale. Gaz. des höp. 1892. 

3 ) Patschke, Über arteriosklerot. Psychosen in ger. Beziehung. 
Vjschr. f. ger. Med. 1915, Bd. 50, H. 2, S. 206. 

4 ) Möller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre ger. 
Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, Bd. 42, S. 290. 

i ) Mendel, Über psych. Störungen nach Hirnhämorrhagie. D. med. 
Wschr. 1882, S. 49. 

•) Kirn, Die einfachen Psychosen und die durch fortschreitende 
geistige Schwäche charakterisierten Seelenstörungen in forensischer Be¬ 
ziehung. Handb. f. ger. Med. von Maschka, 1882, Bd. 4, S. 364. 

’) Despine, Psychologie naturelle, Bd. 2, S. 598, in Handb. f. ger. 
Med. von Maschka Bd. 4, S. 374. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 413 

sondern aus Eifersucht (Meyer 1 )). Er weidete sich noch nachträglich 
an dem Anblick der Leiche, „es war doch ein schönes Weib, eine schöne 
Maitresse“. 

Naecke *) berichtet ebenfalls von einem senilen Manne, der seine 
Frau aus Eifersucht tötete. 

Boas 3 ): Ein 66 jähriger Mann erschlug im akuten Verwirrtheits¬ 
zustand seine Schwiegertochter. 

Einige ähnliche Fälle finden sich auch bei Bresler*). 

Buch 3 ): Ein 69jähriger Mann ermordete seine Frau nach voraus¬ 
gegangenem Streit unter dem Eindrücke von Sinnestäuschungen und 
Wahnideen. 

In akuten Erregungszuständen können solche Kranken zu Mördern 
ihrer liebsten Freunde und nächsten Verwandten werden. Das Opfer des 
Delikts ist meist die eigene Frau. Im allgemeinen kommen aber der¬ 
artig schwere Verbrechen bei senilen psychischen Erkrankungen wegen 
der mangelnden Entschlußfähigkeit und des schlaffen Affektes seltener 
vor, häufiger bei der epileptischen Geistesverwirrtheit. 

Das Verbrechen der boshaften Sachbeschädigung bei Personen 
über 60 Jahre nimmt nach Zingerle bei den Männern mehr ab als bei den 
Frauen, Hübner errechnet für letztere 2,6 % gegen den Durchschnitt 
von 1,9 %. 

Betrug macht nach Zingerle einen hohen Prozentsatz der Greisen- 
delikte aus, wenn man nicht allein Vergehen, die einer gewissen Über¬ 
legung bedürfen, dazu rechnet, sondern auch solche, für die momentan 
auftauchende Affekte maßgebend sind, oder durch erhebliche Gedächtnis¬ 
schwäche oder leichte Bestimmbarkeit verursacht werden, wie z. B. 
falsche Zeugenaussagen und Meineid. Sie machen für 1907 17,1 % aller 
senilen männlichen Verbrechen, 21,6 % aller senilen weiblichen Ver¬ 
brechen (1906 18,1% der männlichen, 24,6% der weiblichen) aus. 

Das Verbrechen der Veruntreuung ist als solches nicht häufig im 
Greisenalter, wahrscheinlich schon deshalb, weil nicht viele Greise mehr 
in verantwortlicher Weise mit Geld umzugehen haben. 


') Meyer, Beiträge zur Kenntnis des Eifersuchtswahns. Arch f. 
Psych. Bd. 46, S. 861. 

2 ) Naecke, Greisenalter und Verbrechen. Arch. f. Kriminalanthropol. 
1909, Bd. 43, S. 358. 

3 ) Boas, Forensisch-psychiatrische Kasuistik II. Arch. f. Kriminal¬ 
anthropol. 1910, Bd. 37, S. 19. 

4 ) Bresler, Geisteskrankheit und Kriminalität. Jur.-psych. Grenz¬ 
fragen. Bd. 5, H. 2, 3. 

5 ) Buch, Ein Beitrag zur Lehre der senilen Geistesstörungen und 
ihre forensische Bedeutung. Diss. Kiel 1908. 


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414 


Pieszczek, 


v. Krafft-Ebing 1 ) führt einen Steuerbeamten an, der unter be* 
sonderen Umständen Banknoten verwendet und in seiner Verwirrtheit 
vergessen hatte, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. 

Albrecht *) *) berichtet von einem 43- und einem 52-jährigen Steuer¬ 
beamten, die der Unterschlagung und unrichtiger Führung von Kon- 
trollisten angeklagt waren, und bei denen die Untersuchung eine begin* 
nende arteriosklerotische Gehirnerkrankung aufdeckte. 

Überblicken wir noch einmal die bei senilen geistigen Er¬ 
krankungen vorkommenden Verbrechen, so finden wir bei Männern 
am häufigsten vertreten die Sittlichkeitsverbrechen, die für sie als 
typisch bezeichnet werden müssen, darauf folgen mit einem ziemlich 
hohen Prozentsatz vor den anderen Brandstiftung, Betrug und Dieb¬ 
stahl. 

Bei den Frauen sind die häufigsten Delikte Diebstahl und 
Betrug, besonders das erste bildet einen viel größeren Prozentsatz 
aller Greisenverbrechen als bei den Männern. 

Bei allen Vergehen finden sich unter den Angeklagten eine 
große Anzahl Nichtvorbestrafter, die in ihrem ganzen Leben keine 
kriminellen Neigungen gezeigt haben und denen in dem be¬ 
treffenden Alter eine solche Entgleisung nicht ohne weiteres zu¬ 
zutrauen ist. Auch der Einwand, daß sie eventuell durch Not 
zum Diebstahl verleitet würden, muß nach Feisenberger 4 ) durch 
die Tatsache widerlegt werden, daß gerade die Diebstahldelikte 
im Verhältnis zu den früheren Lebensaltern stark abnehmen, daß 
bei diesen Delikten die Zahl der Nichtvorbestraften am gering¬ 
sten zunimmt, und daß Leute dieses Alters durch die moderne 
Invaliditäts- und Altersversicherung wenigstens vor der größten 
Not geschützt sind. Es muß also ein besonderes Etwas sein, das 
sie erst im späten Alter zu den Vergehen veranlaßt, nämlich die 
moralische Degeneration und geistige Erkrankung. 


*) v. Krafft-Ebing, Geistesschwäche eines wegen Kassadefekts in 
Untersuchung stehenden Steuerbeamten. Friedr. Blätter f. ger. Med. 
1878, S. 427. 

*) Albrecht, Ein forensischer Fall von arteriosklerotischer Geistes¬ 
störung. Ztschr. f. Medizinalbeamte 1904, 17. Jahrg., S. 683. 

*) Albrecht, Die arteriosklerotische Geistesstörung und ihre straf¬ 
rechtlichen Beziehungen. Vjschr. f. ger. Med. 1907, Bd. 33, S. 83. 

*) Feisenberger, Einfluß des Greisenalters auf die Kriminalität. 
Mitteilungen der internat. kriminal. Vereinigung 1900. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 415 


Nichts liegt in diesen Fällen näher, als die wichtige Frage 
nach der Zurechnungsfähigkeit der betreffenden Person. Liegt 
eine ausgesprochene senile Erkrankung vor, so ist der Schutz des 
§ 51 StGB, gegeben, sehr viel schwieriger kann aber die Sach¬ 
lage werden, wenn „die ethische Depravation lange dem Verfall 
der Intelligenz vorausgeht“ (Fischer 1 )), und es sind verschiedene 
Ansichten ausgesprochen worden, wie man sich in einem solchen 
Grenzfall zu der Beurteilung der Greisenverbrechen stellen, ob 
man nicht der allgemeinen senilen Involution durch eine mildere 
Auffassung, durch Anerkennung einer verminderten Zurechnungs¬ 
fähigkeit (. Jolly 2 ), Aschaffenburg 9 ), Kirn 1 ) 6 ), Mendel 9 ), Wulffen" 1 )) 
Rechnung tragen soll, wie man es bei der Beurteilung der Jugend¬ 
lichen unter 18 Jahren bereits getan hat. 

Bei den leichten Formen wird man, darin stimmen alle Au¬ 
toren überein, wenn nur eine geringe kaum merkliche Schwächung 
der intellektuellen Leistungsfähigkeit besteht, selbstverständlich 
auf Zurechnungsfähigkeit erkennen müssen, und es bleibt dem 
Richter überlassen, bei geäußertem Verdacht auf verminderte Zu¬ 
rechnungsfähigkeit mildernde Umstände zu berücksichtigen. Er 
wird hierbei bei einem bis dahin unbescholtenen Menschen das 
ganze Vorleben, in welchem Ansehen und in welchen sonstigen 
Verhältnissen er stand, zu berücksichtigen haben. 


') Jakob Fischer, Über die Sachverständigentätigkeit bei zweifel¬ 
haften Geisteszuständen. Psych.-neurol. Wschr. 1909/10, Nr. 22, S. 185. 

*) Jolly, Uber verminderte Zurechnungsfähigkeit. Allg. Z. f. Psych. 
Bd. 44, S. 461. 

3 ) Aschaffenburg, Verminderte Zurechnungsfähigkeit. D. med. 
Wschr. 1904, Nr. 31, S. 1121. 

*) Kirn, Über geminderte Zurechnungsfähigkeit. Vjschr. f. ger. 
Med. 1898, Bd. 16, S. 266. 

*) Ders., Die Psychosen in der Strafhaft. Allg. Z. f. Psych. Bd. 45, 
S. 85. 

6 ) Mendel, Die Zurechnungsfähigkeit. Klin. Jahrb. 1903, Bd. 11, 
S. 153. 

7 ) Wulffen, Internat, kriminal. Vereinigung, Bericht über die 9. 
Landesversammlung. Arch. f. Kriminalanthropol. Bd. 13, S. 212. 


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416 


Pieszczek, 


Die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit im 
Greisenalter fand eine eingehende Diskussion auf dem Kongreß der inter¬ 
nationalen kriminalistischen Vereinigung zu Budapest 1899 und als deren 
eifrigsten Verfechter A. Leppmann *) *). 

Die Frage ist nicht mehr neu, da schon andere frühere, teils aus¬ 
ländische Gesetze sie in positivem Sinne beantwortet haben und das 
Greisenalter allgemein als Milderungsgrund für Strafbarkeit und Straf¬ 
vollzug gelten lassen. So nennt nach Leppmann das Strafgesetzbuch für 
Mexiko als einen Milderungsumstand vierter Klasse neben der Minder¬ 
jährigkeit und Taubstummheit das Greisenalter, in Ungarn kann wegen 
hohen Alters statt auf Zuchthaus auf Kerker erkannt werden, in Bul¬ 
garien darf an Personen über 65 Jahren keine Todesstrafe vollstreckt 
werden. Auch ein altes hannoversches Gesetz vom Jahre 1840 bestimmte, 
daß hohes Alter nach zurückgelegtem 60. Jahre insofern mildernd wirkt, 
daß der zum Zuchthaus Verurteilte unbedingt mit schweren Arbeiten 
zu verschonen ist. 

Italien hat seit 1904 neue Bestimmungen über-die bedingte Verur¬ 
teilung. Sie dehnen die Höchstgrenze, bis zu der die Anwendung der 
bedingten Verurteilung gestattet ist, bei Greisen über 70 Jahre, ebenso 
wie bei Frauen und Jugendlichen, bis auf 12 Monate aus, während sonst 
bei erwachsenen Männern die Bestimmung nur bei Strafen bis zu 6 Monaten 
in Anwendung kommen kann. 

Cramer 3 ), Aschaffenburg und Spielmeyer 4 ) sind ebenfalls für eine 
solche Modifikation der Verurteilung eingetreten. 

Da es nun nach unserem zurzeit bestehenden Strafgesetzbuch 
eine verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht gibt, auch der Zeit¬ 
punkt, von dem an sie zu gelten hätte, sehr unbestimmt ist, da 
Greise von 70 Jahren geistig noch recht rege, andererseits solche 
von 60 Jahren geistig schon sehr hinfällig sein können, so neh¬ 
men die Autoren, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben: 


*) A. Leppmann, Greisenalter u. Kriminalität. Z. f. Psychotherap. 
u. mediz. Psychologie, 1909, Bd. 1, S. 212. 

*) A. Leppmann, Die ger. Psychiatrie in bezug auf die Strafgesetz¬ 
gebung, in: Festschr. für d. 25jähr. Jubiläum d. preuß.Medizinalbeamten¬ 
vereins. Berlin 1908. 

3 ) Cramer, Welche medizinischen Gesichtspunkte sprechen für die 
Einführung einer bedingten Strafaussetzung und Begnadigung? Mtschr. 
f. Kriminalpsych. Bd. 1, S. 341. 

*) Spielmeyer, Die Psychosen des Rückbildungs- u. Greisenalters. 
Aschaffenburga Handb. d. Psych., 5. Abt., 1912. 


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Die gerichtsirztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 417 


Leppmann, Salgo 1 * * ), Nieoladoni ®), Zingerle 8 ), Aschaffenburg 4 ), 
Kim 5 * ), Bresler 8 ), Ackermann 7 ), Leers 9 ) u. a. den Standpunkt 
ein, daß man wenigstens bei dem geringsten Zweifel an der gei¬ 
stigen Intaktheit, besonders bei Sittlichkeitsverbrechen und bei 
Greisen über 70 Jahre in jedem Falle eine eingehende psychia¬ 
trische Beobachtung fordern müsse. Aschaffenburg 9 ) beklagt sich 
mit Recht, daß von 80 Sittlichkeitsverbrechen nur 2 begutachtet 
wären. Hier scheint mir der Hebel anzusetzen zu sein, um mit 
Leichtigkeit über die Frage, wie man sich zu der Zurechnungs¬ 
fähigkeit der auf der Grenze von Gesundheit und Krankheit stehen¬ 
den Greise stellen soll, hinwegzukommen. Die Lösung liegt in 
der genauen psychiatrischen Untersuchung jedes einzelnen straf¬ 
fälligen Greises. Die Richter sind leider noch immer viel zu wenig 
dazu geneigt, mit den Psychiatern Hand in Hand zu arbeiten, 
und oft genug kommen noch Verurteilungen von greisen Sittlich¬ 
keitsverbrechern vor. Auch v. Krafft-Ebing 10 ) hatte bereits für 
ein innigeres Zusammenarbeiten von Richtern und Psychiatern 
plädiert, Leppmann empfahl, eventuell den Richtern diese Not¬ 
wendigkeit durch Ministerialverordnungen, ohne ihre freie Neigung 
zu beeinflussen, vorzuschreiben. Wenn von Angehörigen für 
Sicherungsmaßnahmen Sorge getroffen ist, kann es auch nicht 


1 ) Saig 6 , Mitteilungen der internat. kriminal Vereinigung 1900, Bd. 8. 

*) Nieoladoni, Einfluß des Greisenalters auf die Kriminalität. Ebenda 
1900, Bd. 8. 

a ) Zingerle, Über das Greisenalter in forens. Beziehung. Arch. f. 
Kriminalanthropol. Bd. 10. 

4 ) Aschaffenburg, Das Greisenalter in forens. Beziehung. Münch, 
med. Wschr. 1908, Nr. 38. 

5 ) Kirn, Die Psychosen in der Strafhaft. Allg. Ztschr. f. Psych. 
Bd. 45, S. 88. 

®) Bresler, Greisenalter u. Kriminalität. Jur.-psychiatr. Grenzfr. 
1907, Bd. 5, H. 2, 3. 

7 ) Ackermann, Geistesstörungen des Greisenalters mit Berücksichti¬ 
gung ihrer forens. Bedeutung. Arch. f. Kriminalanthr. Bd. 45. 

®) Leers, Forensische Bedeutung der senilen Involution. Arch. 
internat. de Mödicine Lögale 1911, Bd. 2, S. 145. 

*) Aschaffenburg, Beiträge zur Psychologie der Sittlichkeitsver¬ 
brecher. Neurol. Ztlbl. Bd. 21, S. 1081. 

10 ) v. Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis. 12. Aufl. 


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418 


Pieszczek, 


Zweck der Strafe sein, in jenem Alter noch eine moralische Besse¬ 
rung erzielen zn wollen, besonders da durch die Haft eine wesent¬ 
liche Verschlimmerung des krankhaften Prozesses herbeigeführt 
werden kann. 

Immerhin werden die Grenzfälle der senilen geistigen Er¬ 
krankungen nach erfolgter Verurteilung strafvollzugfähig sein, 
wobei jedoch die schon früher in dem alten hannoverschen Ge¬ 
setz erwähnten Erleichterungen angebracht sein dürften. Tritt 
dann in der Haft die Geisteskrankheit klar zutage, oder erleidet 
der Verurteilte einen Schlaganfall, so daß von der weiteren Voll¬ 
streckung der Strafe eine nahe Lebensgefahr zu besorgen ist, so 
ist nach § 487,1 StPrO. die Vollstreckung der Strafe aufzuschieben. 

Möglicherweise kann dann zur Rehabilitation des Verurteil¬ 
ten das Verfahren nach § 399, 5 StPrO. wieder aufgenommen 
und dieser freigesprochen werden. 

Zeugnisfähigkeit. — Kommt ein Greis einmal in die Lage, als 
Zeuge aufzutreten, so muß man, sollten sich bei ihm Zweifel an dem Voll¬ 
besitz seiner geistigen Kräfte bemerkbar machen, berücksichtigen, ob er 
den Sachverhalt ohne auffällige innere Widersprüche darstellen kann, 
oder ob sich bei ihm Anzeichen einer erheblichen Störung des Gedächt¬ 
nisses und der Merkfähigkeit wahrnehmen lassen (Cramer x ) *)). Im 
letzteren Falle wird man ihn nach § 56 St.-P.-O., sofern er von dem Wesen 
und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung hat, unbe¬ 
eidigt vernehmen, da er sonst in die unglückliche Lage, sich eines Mein¬ 
eides schuldig gemacht zu haben, geraten kann. Man wird bei Aussagen 
solcher Personen einen ähnlichen Maßstab anlegen müssen wie bei solchen 
von Kindern. 

Aschaffenburg 3 ) erwähnt, daß in den letzten Jahren vor 1908 die 
Zahl der wegen Verletzung der Eidespflicht bestraften Personen über 
70 Jahre sich stets um vier herum bewegt habe. 

Ein eigenes Kapitel für sich bildet die Zeugnisfähigkeit bei aphasi- 


J ) Cramer, Über Zeugnisfähigkeit. Allg. Ztschr. f. Psych. 1908, 
Bd. 65, S. 418. 

*) Cramer, Uber die Zeugnisfähigkeit bei Geisteskrankheit und bei 
Grenzzuständen. Aus „Beiträge zur Psychologie der Aussage“, Leipzig 
1903, H. 2. 

3 ) Aschaffenburg, Das Greisenalter in forensischer Beziehung. Münch, 
med. Wschr. 1908, Nr. 38. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 419 


sehen Störungen (Möller *), Patschke *)). Sind diese nicht sehr kom¬ 
pliziert und besteht nicht gleichzeitig stärkere Abnahme der Intelligenz, 
so können auch die abgerissenen Angaben eines Aphasischen für das 
Gericht von Wert sein. 

Nachdem wir die kriminelle Bedeutung der senilen geistigen Er¬ 
krankungen in bezug auf die relative Häufigkeit gewisser Arten von Ver¬ 
gehen, ihre Eigenart und die Art der Ausführung kennen gelernt haben, 
müssen wir noch die verschiedenen Berührungspunkte der erkrankten 
Greise mit dem Zivilrecht erörtern ( Moeli 3 )). In erster Linie handelt 
es sich hierbei um die 

Geschäfts-und Dispositionsfähigkeit, die von stets zuneh¬ 
mender Wichtigkeit ist und um so eher in Frage gestellt wird, je mehr die 
betreffende Person berufen war, an verantwortlicher und leitender Stelle 
besonders in großen geschäftlichen Unternehmungen zu stehen. 

In diesem Falle werden bisweilen schon die nervösen Anfangsymp¬ 
tome der psychischen Greisenkrankheiten, wie Kopfdruck, Schwindel¬ 
anfälle und Gedächtnisdefekte, verbunden mit allgemeiner Reizbarkeit 
und Energielosigkeit genügen, urn jene bedeutend herabzusetzen, ja auf¬ 
zuheben, so daß der § 104, 2 BGB. in Frage käme. 

Vielfach wird es sich darum handeln, nachträglich zu entscheiden, 
ob die von einem Greise getroffenen Abmachungen rechtsgültig waren, 
oder seine Handlungsweise bereits unter dem Eindrücke krankhafter 
Erscheinungen stand (Fischer*)). Charakteristisch sind in dieser Be¬ 
ziehung die Zustände von seniler Melancholie, wie sie z. B. von Gudden *> 
und Patschke •) angeführt sind. Die Kranken leben in andauernder leb¬ 
hafter Angst und innerer Unruhe, sehen alles in trübstem Licht, glauben 
alles rettungslos verloren und suchen, von solchen Wahnideen befangen, 
durch Verkauf ihres Besitztums zu retten, was möglich ist. Urteil und 
Kritik sind dabei vollständig aufgehoben. Sie befinden sich, obgleich 
sie energischem Einspruch gegenüber für kurze Zeit sich zusammenneh¬ 
men und einen leidlich geordneten Eindruck machen können, zur Zeit 
des Vertragsabschlusses in einem Zustande, der sie die Tragweite ihrer 


x ) Möller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre ge¬ 
richtsärztliche Bedeutung. Vjschr. f. ger. Med. 1911, Bd. 42, S. 290. 

a ) Patschke, Über arterioskl. Psychosen in ger. Beziehung. Vjschr. 
f. ger. Med. 1915, Bd. 50, S. 206. 

3 ) Moeli, Die Geisteskrankheiten in zivilrechtlicher Hinsicht. Klin. 
Jahrb. 1903, Bd. 11, S. 177. 

4 ) Jakob Fischer, Uber die Sachverständigentätigkeit bei zweifel¬ 
haften Geisteszuständen. Psych.-neurol. Wschr. 1909, 1910, Nr. 22, S. 185. 

*) Gudden, Einige Gutachten über bestrittene Vertragsfähigkeit bzw. 
Testierfähigkeit. Friedr. Bl. f. ger. Med. 63. Jahrg., S. 226. 

•) Patschke, Uber arterioskl. Psychosen in ger. Beziehung. Vjschr. 
f. ger. Med. 1915, Bd. 50, S. 206. 


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420 


Pieszczek, 


Handlungen nicht erkennen läßt. Hier wird § 105, 2 BOB. anzuwenden 
sein, wonach die Willenserklärung, die im Zustande der Bewußtlosigkeit 
oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird, 
nichtig ist. 

Bisweilen ist die Entscheidung in dieser Beziehung bei dem Wechsel 
der Krankheitserscheinungen sehr schwierig, und es bedarf oft umfang* 
reicher Erhebungen, besonders bei Leuten, mit denen der Betreffende 
zur fraglichen Zeit in häufigem Verkehr gestanden hat, um sich ein klares 
Bild von dem Sachverhalt zu verschaffen. 

Da nun die Zeugenaussagen, wenn außerdem längere schriftliche 
Auslassungen des Betreffenden nicht vorliegen, oft sehr skeptisch zu be¬ 
urteilen sind, rät Gramer '), wenn bei alten Leuten auch nur leiseste Zwei¬ 
fel bestehen, bei wichtigen Geschäftsabschlüssen Sachverständige zu¬ 
zuziehen, dies vor allem bei sehr hohem Alter nie zu versäumen. 

Die gleichen Nachforschungen müssen bei den nach Schlaganfällen 
auftretenden psychischen Störungen, besonders bei Beeinträchtigung der 
Intelligenz, angestellt werden. 

Für die aphasischen Störungen gilt das bei der Zeugnisfähigkeit Ge¬ 
sagte; ein wesentlicher geistiger Defekt braucht nicht gleichzeitig vor¬ 
handen zu sein. 

Köhler *) berichtet über einen Apoplektiker, welcher trotz erheblicher 
aphasischer Störungen z. B. seine Geldgeschäfte vollständig korrekt er¬ 
ledigte. Weiter wurden von Le grand du Saulle 3 ) und Burgl 4 ) Fälle mit¬ 
geteilt, in denen von den Angehörigen des Kranken bereits die Entmündi¬ 
gung beantragt war, die ärztlichen Sachverständigen aber zu der Ansicht 
kamen, daß die Geschäftsfähigkeit noch erhalten war. Hierbei handelte es 
sich um eine motorische Aphasie, die Kranken konnten nur einige Silben 
oder Worte sprechen, dagegen zeigten die intellektuellen Fähigkeiten keine 
wesentliche Störung, und außerdem war ein ausreichender Grad von 
Schreibfähigkeit mit der linken Hand zu konstatieren. 

Weiter ist es die leichte Bestimmbarkeit vieler Apoplektiker und 
Senilen, die in manchen Fällen, auch wenn die Intelligenz keine sehr 
erhebliche Einbuße zeigt, verhängnisvoll werden kann, wie es bei der 
senilen Melancholie schon hervorgehoben ist. Habgierige und gewissen¬ 
lose Menschen suchen in Erkenntnis der günstigen Situation den Kranken 
zu überreden, sein Eigentum zu einem lächerlich geringen Preis zu ver¬ 
kaufen oder zu verschenken. So kann es zu einer unsinnigen Verschwen- 


*) Cramer, Gerichtliche Psychiatrie. 4. Aufl., 1908. 

*) Köhler, Über die Dispositionsfähigkeit Aphasischer. Friedr. Bl. 
f. ger. Med. 1890, S. 324. 

:l ) Le grand du Saulle, Les apoplectiques, leur 6tat mental, leur degre 
de responsibilitö et leur capacitö civile. Gaz. des höpit. 1881. 

4 ) Burgl , Dispositionsfähigkeit bei Aphasie. Friedr. Bl. f. ger. Med. 
1899, S. 392. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 421 

düng, unüberlegten, unter dem Deckmantel der Frömmigkeit erfolgenden 
Schenkungen, Enterbung der nächsten Angehörigen zugunsten Fern¬ 
stehender kommen, in deren Händen der Kranke ein willenloses Werk¬ 
zeug ist. 

Diese Willenlosigkeit ist auch das Verhängnisvollste bei den unter 
einer gewissen Euphorie und heiteren Erregung ste.henden Greisen, bei 
denen noch kein wesentlicher Intelligenzdefekt vorhanden ist, und die 
bisweilen von beutelüsternen weiblichen Personen umgarnt und zur Ehe 
bestimmt werden. Nur zu spät tritt dann die Erkenntnis der Geistes¬ 
krankheit und mit ihr als Ernüchterung die schwere moralische und ma¬ 
terielle Schädigung der Kranken und ihrer Familien zutage. 

Es ist deshalb in allen Fällen, wo bei der Stellung der Kranken 
viel auf dem Spiele steht, dringend anzuraten, durch gesetzliche Ma߬ 
nahmen ihre Dispositionsfreiheit so früh wie möglich einzuschränken, 
wozu sich die Angehörigen erfahrunggemäß leider wenig bereit zeigen. 
Es muß allerdings auch zugegeben werden, daß es oft greise Personen gibt, 
die zwar eigentümlich genug sind, deren Zug ins Krankhafte aber den 
Richtern nicht so plausibel gemacht werden kann, daß es zur Entmündi¬ 
gung hinreicht (Berze 1 )). Ein solcher Fall scheint mir nach Möller der 
von Ferrikre *) beobachtete zu sein, wonach sich ein Apoplektiker aus 
rein egoistischen Gründen mit allen möglichen Mitteln der Heirat seiner 
Tochter widersetzte. 

Die noch erhaltenen äußeren gesellschaftlichen Umgangformen und 
eine gewisse Redseligkeit können bei einer offiziellen Gelegenheit, wie es 
ein Termin ist, oft über gewisse Defekte der Merkfähigkeit, des Gedächt¬ 
nisses und des Urteils hinwegtäuschen. 

In Betracht kommt die Pflegschaft und die Entmündigung. Die 
Pflegschaft nach § 1910, 2 BGB. als leichteste Form gesetzlicher Fürsorge 
für einzelne oder einen bestimmten Kreis der Angelegenheiten des Kran¬ 
ken, besonders im Beginn der Erkrankung, wenn man Grund zur Annahme 
hat, daß die Krankheit vorläufig nicht weiter fortschreiten wird, bei 
Apoplektikern nach dem ersten Schlaganfall, wenn außer den Erscheinun¬ 
gen des aphasischen Symptomenkomplexes (Stummheit) keine weiteren 
psychischen Erscheinungen vorhanden sind. Ist eine merkliche Ab¬ 
schwächung der intellektuellen Fähigkeiten eingetreten, so dürfte sich, je 
nach den Lebensverhältnissen des Kranken, nach § 6,1 BGB. die Ent¬ 
mündigung nur wegen Geistesschwäche empfehlen; sind noch ausge- 


>) Berze , Uber das Verhältnis des geistigen Inventars zur Zurech- 
nungs- und Geschäftsfähigkeit. Jur.-psych. Grenzfragen Bd. 6, 1908. 

2 ) Ferriire (nach Moeller), Contribution ä l’6tude*de l’Atat mental 
chez les apoplectiques. These de Paris 1899. 


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422 


Pieszczek, 


sprochene Wahnideen, Sinnestäuschungen mit Erregungszuständen vor¬ 
handen, so tritt die Entmündigung wegen Geisteskrankheit in ihre Rechte. 

Eherecht. Mit Bezugnahme auf den bei der Geschäftsfähigkeit 
angenommenen Fall, daß euphorische und sexuell erregte Greise von auf¬ 
dringlichen weiblichen Personen zur Ehe überredet werden, kann es Vor¬ 
kommen, daß die Greise unter Hintansetzung aller geheiligten Familien¬ 
bande die Ehescheidung von ihrer bisherigen Frau betreiben wollen, oder 
wenn sie alleinstehen, kurzerhand die ihnen aufgedrüngene Ehe eingehen. 
Im letzteren Fälle ist es möglich, die Gültigkeit der Ehe durch Nachweis 
der zur Zeit der Eheschließung bestehenden geistigen Erkrankung auf 
Grund des § 1325 BGB. nachträglich anzufechten. Danach ist eine Ehe 
nichtig, wenn einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung geschäfts¬ 
unfähig war. 

'Um die Geschäftsfähigkeit handelt es sich ebenfalls, wenn eine senil 
erkrankte Person kurz vor ihrem Tode durch Eingehen einer Ehe un¬ 
eheliche Kinder noch legitimieren will. 

Da wir mit Bresler gesehen haben, daß gerade ältere Männer mit 
Vorliebe junge Frauen heiraten, ist es auch möglich, daß die Frau nach 
§ 1333 BGB. wegen Irrtums über persönliche Eigenschaften des andern 
Ehegatten die Ehe anfleht, wobei neben etwaigen früher nicht bemerkten 
psychischen Symptomen das sexuelle Moment eine hervorragende Rolle 
seitens der jungen Frau spielen wird. 

Eine Scheidung der Ehe nach § 1569 BGB. wird bei einem ziemlich 
gleichaltrigen greisen Ehepaar sehr selten Vorkommen, nachdem es so 
lange Freude und Leid gemeinsam getragen hat. Auch sind in vielen 
Fällen die Bedingungen des § 1569 nicht ganz vorhanden, da immer wieder 
Besserungen im geistigen Befinden eintreten können, es müßte denn schon 
eine ziemlich vollständige Verblödung eingetreten sein. 

Bei Aphasischen können die Störungen, wenn auch selten, so hoch¬ 
gradig sein, daß infolge Mangels an Verständigung durch Sprache, Schrift 
oder Gebärde die geistige Gemeinschaft aufgehoben ist, allerdings müssen 
zu einer Ehescheidung die Symptome jahrelang unverändert bestanden 
haben ( Burgl 1 )). 

Testierfähigkeit. — Eine besondere Wichtigkeit erlangt wegen 
der daraus entstehenden Folgen die Frage der Testierfähigkeit bei den 
senilen psychischen Erkrankungen, besonders deshalb, weil heutzutage 
jeder sein Testament in seinem stillen Kämmerlein machen kann, ohne 
daß der krankhafte Geisteszustand, in dem er sich zur fraglichen Zeit 
befindet, einem andern aufzufallen braucht. Erfahrunggemäß gehört bei 
der in Laienkreisen noch immer vorhandenen großen Unkenntnis von 
abnormen geistigen Zuständen oft ein großes Maß dazu, damit diese be¬ 
sonders von denen, die mit der fraglichen Person oft Zusammenkommen, 

l ) Burgl, Geisteskrankheit als Ehescheidungsgrund. Friedr. Bl. f. 
ger. Med. 1900, S. 104. 

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Die. .geriehtsiir«4icft*- Bedeutimg 4er senilen psychischen Erkrankungen. 423 

erkanntwerden. f dhigkeU tum Testieren ist eine besondere Art der 

Oasühäftsfatvi^kri 

Nach' v. k'rofihßbwit 1 ) inus$»it anr 'PAtiigkeiE^in TeStarneyitzu^er- 
ruhten, i,iv.*i Bedingimgon 'vorhanden.sein; 

% Ddr'Testigrjsnite muß ün* Eedeufciing der teriiKm vor zun ahmenden 
leit?rlich^i Ddndlung In materieÜw und legaler Üezietiua/Ss de? 
der ycifi ifoiwVjfetiHi^ii*<n Verfügungen für sielt und die. Beteiligten • Mac/ I 

\utidJKtö't<ände sein, djest^ Willen Idar und deutiieh, aei ex Schrift- 
lieh oder vuüfidlieli. darzufmi. 

2. Diese WilleJisecklanjng muß eine freie sein, d, fi yuihemt durch. 
Bifii^hüc^deniTtgeni bi*0C?6n^wan^ f Venspiegettir)^ fescher^ '^ätsachfevt- 
'«dhrkraokhafby Stilen figen d^f'iieif^f'stätrgkeit (ffißttser und SchmolUr *.). 

Sobald <iih «ne di^er ^lugfeeiieJi mangelt, ist die Testierfähigkcti ' v ’ 
als picht vorn rinden aoziisoheo und gleichbedeutend 'mit der Geschäft-- 
urifälngfeoif mich •§§ 10», HKi BGB. .(SirmerUng *)# Marx*)). 

Fern er .ist auch se.hm« (Irr wegen Geistesschwache Entmündigte, 
beschrankt GffäehaiJsfdhigi, testierunfähig und kann nur .-in schon- vor 
der f»ntfnündiguhg errifddfMes uder. einzelne Teile desselben 

•widerrufen (§§ 2220. 2 und 22/>3).. 

Es« ist ober zo bedenken. -daß ein iohaltlich logisches Testament 
durchaus noch nicht muo #0?male Geistesverfassung des Testators .beweist, 
aödrersmta kann eine paradoxe, let zt willige Verfügung cbetiSoWimig die 
Gdsfe-uhfreiheit dre Testators verbürgen als bei öeiMesgi^omteu 'eine ’ 
verkehrte unblutige Idee, thun krumm hoc wesentlich ->u( die Art, wie 
sie gern hin l. ist., 'auf die Auslegung dessen, der sie kundgiht» und aut seine' 

: Motive nn» ä$v dns vielfach üutefef bleiben 

l asult. sleUt. die. 'Tehtigrfäbigkeit 

an und für sich .nicht in fragt* Sind besondere geistige BUmmgcn noch, 
nicht vorhanden, so sind Klagen, dos i'ivfameivf nnfachfet», abzu• 

A.d ;,.^tj»ör 

-. v weiteres 

i-au«,dasogeaannfce ljchfe 2^sefeeiirnuing 
kommen ( Will*. *i). »'. Kraft i-Ebm# erwiHmt einen Frd! von LivronJ ,/e 

'*) p. JCrnfti' JSt>ü(f!i Die' iw^itnlhaften Ghfeife^züst^fijiecVor 
rieht er. Erlangen 1 'G::. 

i ) Kfcp^er utid ScIuhhIUt, Tevtanna!•?.;•?uTtiung imd Tcsti*jrf3Wg 
keil. Jur.-psyclr Oronifrageu Bei 4, IV. •?, tl. 

J ) Stem<-riinz. -i Obergutöehten, .betreffend iVfdiurlUiugkejV Fried' 

El. 1- ,gvir. M*‘d. 5002, ‘<3. iyhrg,, S. i 

Afkriv ; 0ie gvaaiibiiÖrxlRxdte Begutachtung .der Testierfähigkeil. 

Munch rned- . W;wirr, 100d. A v'klg; 

, ' .A^tbe&Mt Otfiachign betr. den.Oeist^JS 2 uatand;-deS' ÖnU-;- '■; ' 

frinä-• -kv^feif?.>Äf«fesb-..TisDgirtafetgfeeif. Vjschr. t $&,. MiMv . ,- ' 

% < SvpplrJicft s r,7. 

Di S m^,; f Go gle -•■ 



424 


Pieszczek, 


Saulle 1 ), wo ein rechtsgültiges Testament zwischen zwei Anfällen rezidi¬ 
vierender Geistesstörung errichtet wurde. Jedenfalls müssen die psychi¬ 
schen Krankheitserscheinungen bei Apoplektikern schon von erheblicher 
Stärke und längerer Dauer sein, um die Testierfähigkeit zu einer be¬ 
stimmten Zeit mit Sicherheit ausschließen zu können. 

Sehr viel schwieriger kann die Entscheidung bei der schleichend 
einsetzenden moralischen Entartung der arteriosklerotischen und senilen 
Personen werden, bevor für den Laien etwas Abnormes im Verhalten der 
betreffenden zu bemerken ist ( Siemens *)). Auf die hierbei in Betracht 
kommenden klinischen Symptome bin ich schon früher zur Genüge ein¬ 
gegangen. 

Die Hauptäußerungen sind das Mißtrauen und die Bestimmbarkeit 
der Greise, so daß sie letztwillige Verfügungen treffen können, die oft den 
Willen eines andern dokumentieren, ja direkt nachschreiben, was ein 
anderer ihnen diktiert. 

v. Krafft-Ebing sagt treffend: „Bei Sinnen und Verstand sein ist nicht 
identisch mit dem Besitz der Vernunft und der freien Selbstbestimmungs¬ 
fähigkeit.“ Diese müssen aber von dem Testierenden unbedingt ge¬ 
fordert werden. 

Ich weise in dieser Beziehung auch auf die bei der Geschäftsfähigkeit 
angeführten Richtlinien hin. 

Es wird also zur Prüfung, ob jemand zu einer bestimmten Zeit testier¬ 
fähig war, nötig sein, sein ganzes Verhalten zu jener Zeit genauestens auf¬ 
zudecken, wobei man, da der Testator in den meisten Fällen schon ge¬ 
storben ist, auf verschiedene Hilfsmittel angewiesen ist. 

Unter Umständen kann man aus dem ganzen Inhalt des Testaments, 
seiner Begründung, aus dem Satzbau, der Orthographie (Auslassungen 
von Buchstaben und Silben), aus den Schriftzügen (größere Zittrigkeit, 
Abweichungen von der geraden Linie), einen, wenn auch etwas unsicheren 
Schluß auf den geistigen Zustand ziehen (Weygandt *)). 

Auch die Wahl der Schreibmaterialien, die äußere Ausstattung, Rand¬ 
bemerkungen, Korrekturen, Tintenflecke, Unsauberkeiten geben mitunter 
wichtige Anhaltpunkte, besonders dann, wenn Vergleiche mit Schrift¬ 
zügen aus gesunden Tagen möglich sind. In ähnlicher Weise sind auch 
sonst schriftliche Äußerungen der Verstorbenen zur Zeit der Testaments¬ 
errichtung (Briefe, Geschäftsbücher, Rechnungen) heranzuziehen. Weiter¬ 
hin sind es in der Hauptsache die Aussagen von Zeugen, auf Grund deren 
sich der -Sachverständige ein Urteil über den Geisteszustand des Testators 
bilden muß. Im algemeinen sind die Aussagen der Zeugen auf der inter- 


') Le grand du Saulle (zit. nach v. Krafft-Ebing), La folie. Paris 1864. 
*) Siemens, Streitige Geschäfts- und Testierfähigkeit. Vjschr. f. ger. 
Med. 1891. Bd. 1, S. 279. 

J ) Weygandt, Willensstörungen. Dittrichs Handb. der ärztl. Sach¬ 
verständigentätigkeit 1910, Bd. 8, S. 21 i. 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 425 


essierten Seite häufig parteiisch, auf der nicht interessierten Seite wegen 
Achtlosigkeit wenig zu verwerten. Am meisten Wert haben noch die von 
solchen Personen, mit denen der Testator nicht gerade täglich zusammen¬ 
gekommen ist, wie bei einer gelegentlichen Reise, einem Badeaufenthalt 
Bestimmte Angaben über Verwirrtheitszustände und Wahnideen zur 
fraglichen Zeit werden die Testierfähigkeit immer ausschließen. Oftmals 
kann es, worauf Schmoller l * ) hinweist, mit großen Schwierigkeiten ver¬ 
knüpft sein, ein Testament, trotzdem die psychiatrischen Sachverständi¬ 
gen sich mehr oder weniger bestimmt gegen das Vorhandensein der freien 
Willensbestimmung ausgesprochen haben, anzufechten, weil die Richter 
sich nicht völlig von der mangelnden Testierfähigkeit überzeugen konnten. 

Besondere Eigenarten bietet die Testierfähigkeit Aphasischer nach 
einer Apoplexie, worüber Schmoller eingehend berichtet hat. Vorbedin¬ 
gung ist natürlich, daß die geistigen Fähigkeiten genügend erhalten ge¬ 
blieben sind. Weiterhin muß der Aphasische imstande sein, den gesetz¬ 
lichen Formen zu genügen, indem er bei Verlust der Sprache entweder 
schriftlich (Böhm*), Köster 3 4 )), auch mit der linken Hand (Jolly*)), oder 
bei Agraphie und Alexie mündlich seinen letzten Willen kundgibt (§§ 2231,2 
und 2238,2 BGB.). Taubheit ist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch kein 
Hinderungsgrund. Aphasische, die gleichzeitig weder schreiben noch 
sprechen können, sind testierunfähig, da die Testamentserrichtung durch 
Zeichen oder Gebärdensprache unzulässig ist. 

Bei der seltenen kortikalen sensorischen Aphasie kann es zu so 
schweren Störungen kommen, daß der Kranke nicht schreiben und Ge¬ 
schriebenes nicht lesen kann. Eldfir *) hat auf die forensisch wichtige Tat¬ 
sache aufmerksam gemacht, daß^solche Kranke außer einigen Silben und 
Worten auch ihren Namen schreiben, ferner ihnen vorgelegte- Schrift¬ 
stücke automatisch abschreiben können, ohne Sinn und Bedeutung des 
Inhalts zu verstehen. Daß dadurch leicht eine Unterschiebung eines 
fremden Testaments Zustandekommen kann, ist klar. Pelman*) begut¬ 
achtete eine altersschwachsinnige, nahezu völlig taube und erblindete 
Person, die bei ihrer testamentarischen Verfügung das willenlose Werkzeug 
ihrer Umgebung gewesen war. 

l ) Kreuser und Schmoller, Testamentserrichtung und Testierfähig¬ 
keit. Jur.-psych. Grenzfragen Bd. 4, H. 7, 8, S. 22. 

*) Boehm, Friedr. Bl. f. ger. Med. 1901, S. 258. 

3 ) Koester, Über die Dispositionsfähigkeit Aphasischer. Friedr. Bl. 
f. ger. Med. 1890. 

4 ) Jolly, Über den Einfluß der Aphasie auf die Fähigkeit zur Testa¬ 
mentserrichtung. Arch. f. Psych. Bd. 13, S. 325. 

*) Eider (zit. nach Moeller), A discussion on aphasia in relation to 
testamentary capacity. Brit. med. Journ. 1898, S. 581. 

•) Pelman, Gerichtsärztliches Gutachten. Friedr. Bl. f. ger. Med. 
1885, S. 251. 


ZftltMhrift für Psychiitri«. 

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Pieszczek, 


Insofern in einem Fall ein Obduktionsbefund über die Leiche des 
Testators vorliegt, haben diesen die ärztlichen Sachverständigen selbstver¬ 
ständlich ganz besonders zu berücksichtigen. Alle, die sich mit dieser 
Frage beschäftigen, u. a. Ackermann 1 ), Hoche *), Hübner *), v. Krafft- 
Ebing*), Leers, 5 ) Moeli 6 ), Moeller 7 ), v. Monakow 8 ), Patschke *), Schla¬ 
ger 10 ), Schmidtmann 11 ), Zingerle 14 ), stimmen darin überein, daß der Ob¬ 
duktionsbefund für sich allein noch keine genügende Anhaltpunkte bietet, 
um die Frage mit Bestimmtheit beantworten zu können, in welchem Zu¬ 
stande sich der Testator zur Zeit der Abfassung eines Testaments 
befunden hat. 

Wie v. Krafft-Ebing ganz richtig bemerkt, kann bei klinisch sehr 
schweren Erscheinungen makroskopisch ein negativer Befund vorhanden 
sein und umgekehrt trotz bedeutender anatomischer Veränderungen eine 
erhebliche, d. h. rechtlich ins Gewicht fallende psychische Veränderung 
fehlen. Ein positiver Hirnbefund kann deshalb nur im Zusammenhänge 
mit andern Beweismomenten verwertet werden. Stützte man sich vor¬ 
wiegend auf den pathologisch-anatomischen Befund eines bei seniler 
geistiger Erkrankung, besonders nach Apoplexie Verstorbenen, so könnte 
man, wie v. Monakow w ) richtig sagt, nahezu alle Patienten mit fort 


*) Ackermann, Geistesstörungen des Greisenalters mit Berück¬ 
sichtigung ihrer forensischen Bedeutung. Arch. f. Kriminalanthropol. 
Bd. 45, S. 334. 

*) Hoche, Handb. d. ger. Psychiatrie. Berlin 1909. 

3 ) Hübner, Lehrb. der forens. Psychiatrie. 1914, S. 548. 

4 ) v. Krafft-Ebing, Gerichtl. Psychopathologie 1900. 

*) Leers, Zur forens. Bedeutung der senilen Involution. Arch. inter¬ 
nationales de Mödicine Lögale 1911, Bd. 2, S. 145. 

9 ) Moeli, Testierfähigkeit und Testamentsanfechtung. Dittrichs 
Handb. der ärztl. Sachverständigentätigkeit 1908, Bd. 9, S. 330. 

7 ) Moeller, Geistige Störungen nach Schlaganfällen und ihre gerichts- 
ärztl. Bedeutung. Vjschr.» f. ger. Med. 1911, S. 308. 

8 ) v. Monakow, in Meyer v. Schauensee, Uber die Bedeutung des 
anat.-pathol. Elements für die Diagnose der Geisteskrankheit, speziell mit 
Berücksichtigung auf die Handlungsfähigkeit der Apoplektiker. Mtschr. 
f. Kriminalpsychologie u. Strafrechtsref. 1915, 2. Jahrg., H. 7, S. 383. 

*) Patschke, Über arteriosklerotische Psychosen in ger. Beziehung. 
Vjschr. f. ger. Med. 1915, Bd. 50, H. 2, S. 200. 

10 ) Schlager, Psychiatr.-forens. Untersuchungen betr. sog. letzt¬ 
williger Anordnungen. Handb. d. ger. Med. von Maschka. 1882, Bd. 4, 
S. 119. 

11 ) Schmidtmann, Handb. d. ger. Med., 1900, S. 63. 

13 ) Zingerle, Uber das Greisenalter in forensischer Beziehung. Arch. 
f. Kriminalanthropol. Bd. 40. 

19 ) v. Monakow, in Meyer v. Schauensee, Uber die Bedeutung des 


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Die gerichtsärztliche Bedeutung der senilen psychischen Erkrankungen. 427 


geschrittener Sklerose der Hirnarterien, mit Hirnblutung usw., kurz alle 
Apoplektiker für geistig minderwertig, schwachsinnig und daher als der 
freien Willensbestimmung, der Testierfähigkeit beraubt erklären. Es 
bedarf für das Zustandekommen der Störungen des Intellekts noch anderer 
Momente als einer einfachen mechanischen Zirkulationsabsperrung oder 
eines örtlichen zerebralen Defekts. Es ist deshalb für die nachträgliche 
Beurteilung der früheren Testierfähigkeit eines verstorbenen Greises nicht 
allein von Bedeutung, multiple herdartige Veränderungen x ) im Gehirn, 
chronische Trübungen und Verdickungen der Hirnhäute, Atrophie der 
Hirnrinde, erhebliche Gewichtsverminderung oder mikroskopisch wichtige 
Veränderungen nachzuweisen, sondern in gerechter Würdigung aller Tat¬ 
sachen möglichst zu beweisen, daß diese organischen Veränderungen zu¬ 
sammen mit den klinischen Symptomen schon früher zur Zeit der Testa¬ 
mentserrichtung bestanden haben. Die Leichenbefunde sind dabei um so 
wichtiger, je kürzer der Zeitraum war, der zwischen der in Frage stehenden 
Handlung und dem Tode lag. Denselben Maßstab müssen wir bei der 
gerichtsärztlichen Beurteilung eines auf die Testamentserrichtung gefolgten 
Selbstmordes eines Senilen anlegen. Auch hier müssen alle erwähnten 
Faktoren in Betracht gezogen werden, denn nicht jeder Selbstmord beruht 
auf Geisteskrankheit, sondern kann auch Folge eines die freie Willens¬ 
bestimmung nicht an und für sich ausschließenden Affektes sein (v. Krafft- 
Ebing, Moeli). 

Blicken wir noch einmal anf die bei den senilen psychischen 
Erkrankungen möglichen Konflikte mit dem Straf- und 
Zivilrecht zurück, so sehen wir, daß eine ganz erhebliche Anzahl 
von Beziehungen Vorkommen können. Bei allen hat es sich 
durch die praktische Erfahrung erwiesen, daß die Ursache allein 
in der senilen Rückbildung, resp. in einem ausgesprochenen 
Übergang in geistige Krankheit zu suchen ist. Wenn heutzutage 
das Gesetz dem Greisenalter noch keine Ausnahmestellung ein¬ 
geräumt hat, so lassen sich doch durch ein intensiveres Zu¬ 
sammenarbeiten von Psychiatern und Richtern, durch häufigere 
Anwendung des § 81 StPrO., viele Schwierigkeiten bei der Be¬ 
urteilung überwinden und zum Heil der psychisch erkrankten 
Greise besseres gegenseitiges Verständnis und größere Anpassung 
der beiderseitigen verschiedenen Auffassungen erzielen. 


pathoL-anat. Elementes für die Diagnose der Geisteskrankheit, speziell 
mit Berücksichtigung auf die Handlungsfähigkeit der Apoplektiker. 
Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsreform 1915,2. Jahrg., H. 7, S. 383. 

*) Kehrer. Über Herderscheinungen und Geisteskrankheiten. Zschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1912, Bd. 5, S. 337. 


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Ein typischer Fall yon Querulantenwahnsinn x ). 

Von 

Oberlandesgerichtsrat Dr. Th. Kngelnuuui in München. 

Bei dem Oberlandesgericht München hat vor kurzem ein Ent¬ 
mündigungsprozeß sein vorläufiges Ende gefunden, der wohl als typi¬ 
scher Fall von Querulantenwahnsinn bezeichnet werden kann und 
schon hiewegen eine kurze aktenmäßige Darstellung verdienen 
dürfte 2 ). Lehrreich für den Juristen wie für den psychiatrischen Gut« 
achter ist daran insbesondere, wie sich das im § 6 Nr. 1 BGB. 
begründete Verhältnis der Geisteskrankheit zur Geistesschwäche in 
der praktischen Anwendung gestaltet, und wie das Gesetz dem von 
einem erfahrenen Psychiater beratenen Kichter ermöglicht, ohne Rück¬ 
sicht auf theoretische Begriffsbestimmungen die dem Bedürfnisse des 
Lebens entsprechende Entscheidung zu treffen. 

Jakob E., Hausbesitzer in V. (Niederbayern), ist als uneheliches 
Kind einer Häuslerin am 2. Juli 1858 geboren. Geisteskrankheiten sind 
in seiner Familie nicht beobachtet worden; auch er selbst ist, von gering¬ 
fügigen körperlichen Störungen abgesehen, immer gesund gewesen. Vom 
13. bis zum 19. Lebensjahre hat er sich als Hirtenbube seinen Lebens¬ 
unterhalt verdient. Beim Militär hat er nicht gedient, da er („wegen 
eines Gewächses“) als dauernd untauglich erklärt wurde. Mit 27 Jahren 

*) Literaturangaben über Querulantenwahnsinn z. B. bei Kraepelin , 
Psychiatrie, 7. Aufl., Leipzig 1904, Bd. 2, S. 612, Note *. Die juristische 
Seite der Frage wird meistens in den Kommentaren zu § 6 des Bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs behandelt. 

*) ,,Die Literatur über solche chronisch Paranoische ist zwar nicht 
klein, aber doch auch nicht groß genug, um die Mitteilung eines genau 
beobachteten Falles wertlos oder überflüssig zu machen, zumal wenn der¬ 
selbe Einblick tun läßt in die Art und Weise der räsonnierenden Wahn¬ 
bildung, deren Studium noch keineswegs abgeschlossen ist.“ ( H . Pfister t 
Über Paranoia chronica querulatoria, Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 59 [1902], 
S. 589 IT.) 

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Ein typischer Fall von Qnernlantenwahnsinn. 


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hat er sich verheiratet; aus seiner Ehe stammen 4 Kinder. Das vorhandene 
Anwesen wurde von der Frau in die Ehe eingebracht. Später hat er durch 
Sacktragen, Sandfahren, Kleesamen- und Brennholzverkauf etwa 1500 M. 
jährlich eingenommen und hiermit den Unterhalt für sich und seine Familie 
bestritten x ). 

Seine streitbare Natur trat zuerst bei einem Konflikt mit seinem 
Oheim hervor, der bei einem Erbschaftsfall die Mutter des E. angeblich 
benachteiligte. Wegen der von ihm hiewegen über den Oheim gebrauchten 
beleidigenden Äußerungen hat E. zwei geringfügige Geldstrafen erlitten. 

Den Ausgangspunkt aller späteren Ereignisse bildet eine Strafanzeige, 
die im Sommer 1905 von seinem Nachbar K. gegen den damals 47 Jahre 
alten E. erstattet wurde. E. wurde darnach beschuldigt, entgegen einer 
oberpolizeilichen Vorschrift seinen Abort am Tage geräumt zu haben. 
Er erhielt einen Strafbefehl über 5 M., gegen den er Einspruch einlegte. 
In der schöflengerichtlichen Verhandlung vom 1. August 1905 stellte E. 
die ihm zur Last gelegte strafbare Handlung in Abrede. K. als Zeuge 
bestätigte nach gesetzlicher Beeidigung, der Abort des E. sei an einem 
Tage im Juni 1905 zur Mittagzeit geräumt worden; wer den Abort geräumt 
habe, wisse er nicht. Auf Grund dieser Aussage wurde der Einspruch des 
E. verworfen, weil das Schöffengericht annahm, daß die Entleerung der 
Abortgrube am 8. Juni 1905 entweder durch E. selbst oder mit seinem 
Wissen und Willen von seinen Angehörigen vorgenommen worden sei. 

E. legte Berufung ein und brachte zur Hauptverhandlung vor dem 
Landgericht P. 3 Entlastungszeugen mit, nachdem ihm mitgeteilt worden 
war, daß deren Ladung von Amts wegen abgelehnt werde, daß es ihm aber 
freistehe, auf seine Kosten Zeugen unmittelbar zu laden oder selbst mit¬ 
zubringen. Durch Urteil des Landgerichts P. vom 23. September 1905 
wurde E. dem Antrag des Staatsanwalts entsprechend freigesprochen und 
die Kosten beider Instanzen der Staatskasse auferlegt. K. hatte vor dem 
Landgericht seine Aussage dahin eingeschränkt, daß er am 8. oder 9. Juni 
mittags auf dem Düngerhaufen des E. Stoffe bemerkt habe, die er für 
Menschenkot gehalten habe; daraus habe er geschlossen, daß der Abort 
des E. geräumt worden sei; das Entleeren der Grube selbst habe er nicht 
beobachtet. Da 2 Entlastungszeugen in glaubwürdiger Weise bestätigten, 
daß die Abortgrube des E. erst Ende Juni, und zwar bei Nacht, entleert 
worden sei, kam das Landgericht zu der Überzeugung, daß der Zeuge K. 
sich geirrt habe und seine Schlußfolgerung unrichtig gewesen sei. Dem 
Anträge des E., die ihm durch die Entschädigung der Entlastungszeugen 
entstandenen Auslagen von 23 M. auf die Staatskasse zu übernehmen, 
gab das Landgericht nicht statt, weil es seine Sache gewesen wäre, schon 
bei Erhebung des Einspruchs diese Zeugen zu benennen, wodurch das 
weitere Verfahren vermieden worden wäre; der Anregung des E., die 


*) Diese Angaben beruhen auf den von ihm selbst dem Gutachter 
gemachten Mitteilungen, an deren Richtigkeit zu zweifeln kein Anlaß 
vorliegt. 


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Engelmann, 


Kosten dem Anzeiger K. aufzuerlegen, wurde nicht entsprochen, weil nicht 
feststellbar sei, daß K. wider besseres Wissen oder grob fahrlässig gehandelt 
habe x ). 

Am 21. April 1907 befand sich E. in Gesellschaft eines gewissen Sch. 
in einer Wirtschaft. Auf die Bemerkung des Sch., es gäbe heutzutage 
schlechte Leute, die eine Schuld ableugnen und wohl auch abschwören, 
erwiderte E.: „Ja, da recken sie die Hand in die Höhe und sagen die Wahr¬ 
heit nicht.“ K., der zufällig in der Nähe saß, fragte, ob sich diese Äuße¬ 
rung auf ihn beziehe, worauf E. erwiderte: „Ja, das geht dich auch an, 
du bist auch draußen gewesen und hast die Hand in die Höhe gehoben 
und die Wahrheit nicht gesagt.“ Auf Vorhalt des K., ob er das sagen könne, 
fuhr E. fort: „Ja, das sage ich immer wieder, und am jüngsten Tag auch 
noch.“ 

K. erhob nunmehr Privatklage gegen E. wegen Beleidigung, die 
zunächst mit der Freisprechung des E. endigte. E. hatte erklärt, er habe 
mit seiner Äußerung nur sagen wollen, daß K. damals die Wahrheit nicht 
gesagt habe, einen Meineid habe er ihm nicht vorwerfen wollen. Das 
Schöffengericht nahm als erwiesen an, daß die seinerzeitige Angabe des K. 
über das Räumen der Abortgrube um die Mittagszeit objektiv unwahr 
gewesen sei; E. sei sich des ehrverletzenden Charakters seiner Äußerung 
nicht bewußt gewesen. Auf Berufung des K. wurde das schöffengericht¬ 
liche Urteil vom Landgericht P. am 31. Januar 1908 aufgehoben und E. 
wegen Beleidigung zur Geldstrafe von 30 M. und zur Kostentragung ver¬ 
urteilt. Nach der Anschauung des Landgerichts habe E. unzweifelhaft 
sagen wollen, daß K. wissentlich auf Eid die Unwahrheit gesagt, also einen 
Meineid geleistet habe; er habe dabei vorsätzlich und im Bewußtsein des 
ehrverletzenden Charakters seiner Äußerung gehandelt; der Schutz des 
§ 193 StGB. (Wahrung berechtigter Interessen) stehe ihm nicht zur Seite. 

Die Revision des E. wurde durch Urteil des Obersten Landesgerichts 
München vom 2. April 1908 als unbegründet verworfen, weil das land¬ 
gerichtliche Urteil keinen Rechtsirrtum ersehen lasse. 

Ein Gesuch des E. um Wiederaufnahme des Verfahrens blieb ohne 
Erfolg. 

Schon am 20. Juni 1907 hatte E. gegen K. Strafanzeige erstattet. 


x ) Vgl. Strafprozeßordnung § 499: „Dem freigesprochenen oder außer 
Verfolgung gesetzten Angeklagten sind nur solche Kosten aufzuerlegen, 
welche er durch eine schuldbare Versäumnis verursacht hat. 

Die dem Angeschuldigten erwachsenen notwendigen Auslagen 
können der Staatskasse auferlegt werden.“ 

§ 501 Abs. 1: „Ist ein.Verfahren durch eine wider besseres 

Wissen gemachte oder auf grober Fahrlässigkeit beruhende Anzeige ver¬ 
anlaßt worden, so kann das Gericht dem Anzeigenden, nachdem derselbe 
gehört worden, die der Staatskasse und dem Beschuldigten erwachsenen 
Kosten auferlegen.“ 


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Ein typischer Fall von QueralantenWahnsinn. 


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weil dieser bei der SchöiTengerichtsverhandlung vom 1. August 1905 einen 
Meineid geleistet habe. Der Staatsanwalt gab der Anzeige keine Folge: 
Dem K. könne weder Meineid noch fahrlässiger Falscheid zum Vorwurf 
gemacht werden, weil Leute seines Bildungsgrades sehr häufig ihre Wahr¬ 
nehmungen und die daraus gezogenen Schlüsse nicht auseinanderhalten 
könnten. Die von E. eingelegte Beschwerde wurde vom Oberstaatsanwalt 
abgewiesen. Das gleiche Schicksal hatten zahlreiche weitere Anzeigen, 
die E. in den folgenden Jahren bis 1914 an die Staatsanwaltschaft und 
Oberstaatsanwaltschaft richtete, um die strafrechtliche Verfolgung des K. 
wegen Meineids herbeizuführen. Bei diesen wiederholten Eingaben ließ 
es E. bei der bloßen Strafanzeige nicht bewenden, suchte vielmehr noch 
im Laufe des jeweiligen Verfahrens durch zahlreiche weitere Schriftstücke 
seine Behauptungen zu unterstützen; gegen jede obrigkeitliche Ver¬ 
fügung legte er alle zulässigen und unzulässigen Rechtsmittel ein. Seine 
frühere Angabe, K. habe die Unwahrheit angegeben, einen Meineid wolle 
er ihm aber nicht vorwerfen, verdichtet sich allmählich zu der immer 
aufs neue vorgebrachten Behauptung, K. habe wissentlich auf Eid gelogen; 
er, E., könne und dürfe sich nicht dabei beruhigen, zumal er durch die 
Handlungsweise des K. großen Schaden gehabt habe. Etwa vom Jahre 
1909 ab beschränkt sich E. nicht mehr auf die Angriffe gegen K., macht 
vielmehr in .öffentlichen Wirtschaften dem Landgericht P. den Vorwurf, 
daß es (in der Beleidigungssache) ein falsches Urteil gefällt habe, und dem 
Staatsanwalt, daß er gegen K. nicht vorgehe, obwohl er genügendes Beweis¬ 
material in Händen habe. Um jene Zeit wurde zum ersten Mal Anlaß ge¬ 
nommen, den E. amtsärztlich auf seinen Geisteszustand prüfen zu lassen. 
Das Gutachten des Landgerichtsarztes vom 2. Januar 1910 verneint mit 
Bestimmtheit die Zurechnungsfähigkeit des E. wegen Vorhandenseins 
von Größen- und Verfolgungswahnsinn, bezeichnet ihn als wahrscheinlich 
an Paranoia leidend, enthält sich aber hinsichtlich der Form seiner Geistes¬ 
krankheit einer bestimmten Stellungnahme. — 

Im Mai 1911 schickte E. an K. einen eingeschriebenen Brief, in 
welchem er ihm neuerdings seine „Eideslüge“ vorwarf und sich „mit Gruß 
ohne Achtung“ Unterzeichnete. Hiewegen und wegen der um die gleiche 
Zeit von E. im Wirtshaus gemachten Äußerungen, K. habe gelogen, ihm 
gehöre der Kopf abgehauen, erhob K. gegen E. neuerdings Beleidigungs¬ 
klage. Der gutachtlich gehörte Landgerichtsarzt äußerte sich dahin, daß 
E. unzweifelhaft an Querulantenwahnsinn leide. Im gleichen Sinne sprach 
sich ein weiterer Sachverständiger aus, worauf E. selbstverständlich frei¬ 
gesprochen wurde. 

Im Januar 1914 richtete E. unter dem Betreff „Notschrei um Er¬ 
langung eines gerechten Rechts für Wahrheit und Eigentum“ eine Ein¬ 
gabe an den Justizminister, worin er behauptet, durch wissentliches Ver¬ 
schulden von Gerichtsbeamten ungerecht verarmt zu sein; in verschiedenen 
Prozessen seien ihm die „Amtierenden“ aufsässig gewesen und hätten ihm 
sein Recht abgesprochen. Dem E. wurde bedeutet, daß ein Eingriff des 


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Engelmann, 


Justizministers in die Rechtsprechung ausgeschlossen sei; durch den Prä¬ 
sidenten des Landgerichts wurde ihm weiter mitgeteilt, daß zu einem 
Einschreiten im Wege der Dienstaufsicht kein Anlaß bestehe. 

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß E. seine Angelegen¬ 
heit auch einem Landtagsabgeordneten vorgetragen und sogar eine Ein¬ 
gabe an den Bischof von P. verfaßt hat, die er jedoch nicht absandte. 

Aus den von E. geführten Zivilprozessen sei folgendes hervor¬ 
gehoben: 

Am 14. Februar 1910 wurde E. beim Besuch eines Marktes von einem 
scheu gewordenen Pferde überrannt und am linken Fußgelenk verletzt. 
Seine Entschädigungsklage wurde in zwei Instanzen abgewiesen, weil dem 
Beklagten Fahrlässigkeit nicht nachgewiesen werden konnte und ein 
anderer gesetzlicher Haftungsgrund nicht vorlag. Die von E. damals er¬ 
hobenen Ansprüche hielten sich übrigens hinsichtlich ihrer Höhe in mäßi¬ 
gen, der Sachlage angemessenen Grenzen. 

Im Jahre 1911 wurde E. auf Zahlung von 921 M. Kaufpreis für ge¬ 
liefertes Holz verklagt, zahlte dann aber die Hauptsache; die Kostenfrage 
wurde durch Vergleich erledigt. 

Im gleichen Jahre klagte ein gewisser Johann W. gegen E. auf Zah¬ 
lung von 45 M. rückständigen Kaufpreises für geliefertes Heu. E. wandte 
ein, es sei nur ein Kaufpreis von 3,50 M., nicht, wie der Kläger behauptete, 
von 4 M. für den Zentner vereinbart gewesen. Die Ehefrau des Klägers, 
Therese W., mit der E. damals verhandelt hatte, bestätigte die gegenteilige 
Behauptung ihres Mannes und hielt diese Angabe unter Eid aufrecht. 
Das Amtsgericht verurteilte den E. zur Zahlung des eingeklagten Betrages; 
die Angabe eines beeidigten Zeugen, daß sich der Kläger mit einem Preise 
von 3,50 M. für den Zentner einverstanden erklärt habe, wurde als durch 
die Aussage des Sohnes des Klägers und eines weiteren Zeugen widerlegt 
erachtet. Die Berufung des E. wurde vom Landgericht zurückgewiesen. 
E. erstattete im Jahre 1912 gegen Frau Therese W. Strafanzeige wegen 
Meineids, jedoch ohne Erfolg, obwohl in diesem Verfahren ein weiterer 
Zeuge bestätigte, daß der Kläger W. sich (nachträglich) mit dem Kauf¬ 
preis von 3,50 M. für den Zentner einverstanden erklärt habe. Die Ein¬ 
stellungsverfügung des Staatsanwalts ist damit begründet, daß hierdurch 
die Unwahrheit der von Therese W. gemachten Angabe nicht dargetan 
werde. 

Im Sommer 1913 wurde E. auf Zahlung von 92 M. Kaufpreis für 
Holz verklagt, zahlte dann zwei Drittel des Betrages und wurde auf den 
Rest verurteilt, weil seine Behauptung, das Holz sei minderwertig gewesen, 
wegen der inzwischen verstrichenen Frist nicht mehr berücksichtigt 
werden könne. Gegen dieses Urteil hat E. Berufung nicht eingelegt. 

Im Herbst des gleichen Jahres wurde E. von einem Gastwirt auf 
Zahlung von 70 M. verklagt, weil er widerrechtlich Sand auf dessen Grund 
und Boden gelagert habe. E. bestritt, daß eine so hohe Entschädigung 


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Ein typischer Fall von Qoerolantenwahnsinn. 


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angemessen sei. Nach Vernehmung von Sachverständigen wurde E. zur 
Zahlung von 45 M. verurteilt. Auch gegen dieses Urteil hat er keine Be¬ 
rufung eingelegt. Auf Antrag des gleichen Klägers wurde E. verurteilt, 
sich jeder Einwirkung auf das dem Kläger gehörige Grundstück zu ent¬ 
halten und den dort abgelagerten Sand zu entfernen; E. war zu dieser Ver¬ 
handlung erschienen, stellte aber keinen Antrag, so daß Versäumnisurteil 
gegen ihn erlassen werden mußte. 

Ende 1913 erhob E. gegen die Distriktsgemeinde V. Klage auf Zahlung 
von 220 M. Schadenersatz auf Grund eines Kieslieferungsvertrags. Die 
Sache wurde außergerichtlich verglichen, wobei dem E. der größte Teil 
seiner Forderung zugebilligt wurde. Weitere Zivilprozesse des E. sind 
nicht bekannt. 


Anläßlich der wiederholten, von E. gegen die verschiedensten Behörden 
gerichteten schweren Beleidigungen hat im Februar 1914 der Staatsanwalt 
Antrag auf Entmündigung des E. wegen Geisteskrankheit gestellt. 
E. trat dem Antrag entgegen, da er vollkommen geistesgesund sei. Das 
Amtsgericht vernahm eine Reihe von Zeugen, deren Aussagen ausein¬ 
andergingen; während einige ihn für geisteskrank hielten, erklärten andere, 
E. pflege zwar in Wirtschaften über Gerichte und Advokaten zu schimpfen, 
zeige aber sonst keine Spur einer geistigen Erkrankung; er sei auch ein 
guter und fleißiger Geschäftsmann. Der Landgerichtsarzt und der Be¬ 
zirksarzt gaben ihr Gutachten dahin ab, daß E. unzweifelhaft an Queru¬ 
lantenwahnsinn leide und daher geisteskrank sei; eine Besserung seines 
Zustandes sei nicht zu erwarten, daher anzunehmen, daß E. nicht im¬ 
stande sei, seine Angelegenheiten in gehöriger Weise zu besorgen. Ein 
weiterer Sachverständiger bezeichnet den E. als das typische Bild eines 
Querulanten. Durch Beschluß des Amtsgerichts vom 7. Februar 1914 
wurde E. auf Grund dieser Gutachten wegen Geisteskrankheit entmündigt. 
Den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend wurde daraufhin Vormund¬ 
schaft über E. eingeleitet und ein Vormund für ihn bestellt. 

E. versuchte nunmehr die Aufhebung der Entmündigung herbei- 1 
zuführen. Auf seinen Antrag vernahm das Vormundschaftsgericht eine 
Reihe von Zeugen, die in der Tat bestätigten, an E. nichts Auffälliges 
wahrgenommen zu haben; er sei in seinen Geschäften und in seinem 
Privatleben stets wie ein gesunder Mensch aufgetreten; daß ihm im Falle K. 
Unrecht geschehen sei, werde auch von andern Personen angenommen; 
er habe seine Angelegenheiten stets klug und vernünftig erledigt und 
schimpfe auch nicht mehr wie Andere über Behörden und Gerichte (1). 
Insbesondere erklärte der Vormund, er könne sich von einer Geisteskrank¬ 
heit des E. nicht überzeugen; er getraue sich zu behaupten, E. sei so 
gescheit wie er (I). Am 3. März 1915 stellte E. persönlich den Antrag, 
die Entmündigung wieder aufzuheben, weil er nicht geisteskrank sei; der 
Antrag wurde ohne Vernehmung der von E. benannten Zeugen abgewiesen. 

Im Mai 1915 erhob der Vormund des E. gemäß § 679 der Zivilproze߬ 
ordnung Klage gegen den Staatsanwalt auf Wiederaufhebung der Ent- 


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Engelmann, 


mündigung. Auf Veranlassung des Gerichts gab der Leiter der Münchner 
Psychiatrischen Klinik, Professor Dr. Rüdin, ein ausführliches Gutachten 
ab, dessen wesentlicher Inhalt *) nachstehend wiedergegeben sei: 

E. wurde von dem Sachverständigen in der Klinik vom 25. bis 
30. April und vom 8. bis 12. Mai 1916 beobachtet. Er blieb darauf stehen, 
daß K. damals einen Meineid geschworen habe; er, E., könne sich nicht 
beruhigen, da K. ihm hierdurch einen großen, bisher noch nicht gutgemach¬ 
ten Schaden zugefügt habe und für seinen Meineid bestraft werden müsse. 
Daß er damals 23 M. Auslagen gehabt, K. dagegen nichts habe zahlen 
müssen, habe ihn außerordentlich erbittert und lasse ihn nicht ruhen. 
Wenn er seitdem dem K. wiederholt Meineid vorgeworfen habe, so sei er 
vollständig im Recht gewesen, denn was wahr sei, dürfe man doch sagen; 
er sei daher mit Unrecht wegen Beleidigung bestraft worden. K. habe 
damals keineswegs, wie der Staatsanwalt annahm, in gutem Glauben und 
aus Irrtum, sondern aus Bosheit gehandelt und genau gewußt, daß seine 
Anzeige falsch sei. Mit besonderer Erbitterung sprach E. von Rechts¬ 
anwalt L., dem damaligen Rechtsbeistand des K. Dieser habe es auch 
aufgebracht, daß man ihn nun für wahnsinnig erklären wolle. Den Ge¬ 
samtschaden, den er durch das ihm widerfahrene Unrecht erlitten, beziffert 
er auf mindestens 15 000 M., dabei rechnet er im Falle K. etwa 2000 M. 
für Anwalts- und Strafkosten, 16% Zins hieraus (I) für 7 Jahre, weitere 
5% Zins für Gewinnentgang auf 7 Jahre usw. 

In den Sachen K., D. und W. sei ihm schreiendes Unrecht widerfahren; 
alle diese Prozesse müßten wieder aufgenommen werden. Den Einwand, 
daß es doch richtiger gewesen wäre, sich mit dem freisprechenden Urteil 
des Landgerichts P. zufrieden zu geben, ließ E. nicht gelten; auch wenn 
er gewußt hätte, daß ihm der ganze Schaden entstehen werde, hätte er 
nicht locker gelassen, weil Recht Recht bleibe, und er als Ehrenmann nicht 
habe dulden können, daß er unschuldig Kosten habe und K. für seinen 
Meineid straflos bleibe. Daß er im Falle D. keine Entschädigung erhalten 
habe, könne er nicht verstehen; man habe ungerechterweise keinen einzigen 
seiner Zeugen vernommen. Daß Therese W. einen Meineid geleistet habe, 
behaupte er nach wie vor. Seine Entmündigung sei nicht gerechtfertigt; 
kein Mensch halte ihn für wahnsinnig. Eine Reihe von Personen billige 
seinen Kampf ums Recht durchaus, insbesondere sei man in W. allgemein 
der Anschauung, daß er recht habe. Wer sein Recht nicht verfechte, sei 
kein Mann. Er hätte sich vor seinen Angehörigen und vor seinen Mit¬ 
bürgern gar nicht mehr sehen lassen können, wenn er sein Recht nicht 
verfochten hätte. Auf Vorhalt, daß schon höchste Instanzen zu seinen 
Ungunsten entschieden hätten, wurde E. leidenschaftlich und rief: „Ich 
berufe mich auf den König, das Volk liebt den König; ein falsches Urteil 
ist eine Mißachtung gegen den König. Und das Reichsgericht will es auch 
nicht haben, daß ich mein Recht nicht kriege. Es gibt keine Gerechtigkeit.“ 


1 ) Auf Grund der mir von Herrn Prof. R. freundlichst erteilten 
Ermächtigung. 


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Ein typischer Fall von Qaerulantenwahnsinn. 


435 


Auf die Frage, warum gerade er immer Unrecht bekommen solle, wenn er 
recht habe, erwiderte er: „Auf mich sind sie schon gehässig, weil sie ge¬ 
glaubt haben, daß ich wahnsinnig bin. Wenn ich vom Landgericht P. 
nicht für wahnsinnig ausgegeben worden wäre, hätten sie mich auch in 
München nicht abgewiesen.“ Die Gerichte hätten einseitig geurteilt und 
ein falsches Urteil gefällt, obwohl sie wußten, daß er recht habe; auch der 
Staatsanwalt habe bewußt seine Pflicht verletzt. Daß die Gerichte unter 
einer Decke stecken, um ihn zu unterdrücken, glaube er bestimmt. 

Im übrigen war E. stets orientiert in jeder Beziehung, faßte gut 
auf, war aufmerksam, geordnet in seinem Benehmen; Gedächtnis und 
Merkfähigkeit waren ungestört. Die Urteilsbildung war gut, wo nicht 
seine Prozesse in Frage kamen; im Gedankenablauf war eine Ideenflucht 
nicht zu bemerken. Bei einem Gespräch nach einem Ausgang, bei dem er 
Bier getrunken hatte, war er merklich erregter, gesprächiger und heftiger. 
In körperlicher Hinsicht fand sich nichts Besonderes. 

Auf Grund dieses Befundes kommt der Sachverständige zu folgendem 
Gutachten: 

Die bei E. seit Jahren bestehende Idee rechtlicher Beeinträchtigung 
und gehässiger Unterdrückung habe ihren Ausgang von dem Fall K. 
genommen. Der Krankhaftigkeit dieser Geistesverfassung tue es keinen 
Abbruch, wenn E. wirklich bis zu einem gewissen Grade in seinem Recht 
verkürzt worden sein sollte oder doch zu der Auffassung gekommen sei, 
daß ihm Unrecht geschehen sei. 

Charakteristisch für die Krankhaftigkeit seiner Geistesverfassung sei 
die allmähliche Ausbreitung der Beeinträchtigungsideen auf immer weitere 
Personen, seine gänzliche Unbelehrbarkeit, vor allem aber die unerschütter¬ 
liche Wahnhaftigkeit seines Vorstellungskreises, daß überhaupt gewissenlos 
ist, wer ihm unrecht gibt, daß der Staatsanwalt seine Pflicht bewußt ver¬ 
absäumt, daß die Rechtsanwälte, die seiner Sache nicht zum Sieg ver¬ 
helfen, „Linksanwälte“ sind, daß die Gerichte schlechte Urteile fällen 
und einander helfen, ihn zu unterdrücken, daß ein Protokoll vernichtet 
worden sei, um die höheren Gerichte irrezuführen, daß W. und K. nur 
durch Mithilfe der Amtierenden ihn um sein Geld bringen und kränken. 

E. sei infolge seiner geistigen Anomalie unfähig, die Gesamtheit seiner 
Angelegenheiten vernünftig zu besorgen. Auf der andern Seite sei aber zu 
erwägen, daß E. orientiert und geordnet in seinem Benehmen ist, und daß 
seine geistigen Fähigkeiten, wo nicht sein Wahnsystem in Frage kommt, 
nicht gestört sind. Er sei auch als fleißiger, strebsamer Mann bekannt, 
der im Leben den besten Erfolg gehabt hätte, wenn er nicht durch seine 
geistige Erkrankung verhindert worden wäre, seine im übrigen guten 
Fähigkeiten voll auszunutzen. Er sei daher sehr wohl noch imstande, 
einfache Angelegenheiten mit der seinem Bildungsgrade angemessenen 
Umsicht zu besorgen; seine Fähigkeiten seien nicht so gering, daß er einem 
noch nicht 7 Jahre alten Kinde gleichzustellen sei; er sei also nicht als 
geisteskrank im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 BGB. zu bezeichnen. Wohl 
aber liege bei ihm Geistesschwä'' 1 vor, also ein Zustand, der ihn hinsicht- 


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Engelmann, 


lieh seiner Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen im Alter von 7 bis 21 
Jahren gleichstelle. Ein gewisses Recht der Initiative sei ihm nicht abzu- 
sprechen, nur bedürfe die Rechtswirksamkeit seiner Geschäfte der Er¬ 
gänzung und Entscheidung durch Vormund und Vormundschaftsgericht. 
Die Entmündigung des E. wegen Geistesschwäche sei unbedingt nötig, da 
er an Querulantenwahnsinn leide. Sie reiche aber, richtig gehandhabt. 
zu seinem Schutze vollständig aus. 

Das Landgericht vernahm noch den E. persönlich in Anwesenheit 
des Landgerichtsarztes und erließ am 14. September 1916 Urteil, daß die 
gegen E. ausgesprochene Entmündigung wegen Geisteskrankheit dahin 
eingeschränkt werde, daß sie nur noch wegen Geistesschwäche 
aufrechtzuerhalten sei l ). Die Gründe des Urteils schließen sich voll¬ 
kommen den Darlegungen des Rüdinschen Gutachtens an. Der Vormund 
des E. legte gegen dieses Urteil Berufung ein a ). Der dem E. beigeordnete 


l ) Daß trotz Antrag auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit die 
Entmündigung wegen Geistesschwäche ausgesprochen werden kann, wird 
nahezu allgemein anerkannt; s. Staudinger, Komm. z. BGB. 7./8. Aufl. 
Bern. D, 2 zu § 6; Planck, Komm. z. BGB. IV. Aufl. Bern. 6 zu § 6;Ennecce- 
rus, Lehrb. des bürgerlichen Rechts 1. Bd. 1. Abt., 6. Bearbeitung § 86 
Note 3; Stein, Komm. z. ZPO. 10. Aufl. Bern. II, 1 zu § 645, Urteil des 
Reichsger. vom 23. Okt. 1902 Gruchots Beiträge Bd. 47 S. 897 IT., Urteil 
d. OLG. Köln vom 17. März 1901 Rechtspr. d. OLG., Bd. 4, S. 5 IT. Da¬ 
gegen kann, wenn Antrag auf Entmündigung wegen Geistesschwäche 
gestellt ist, nicht auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit erkannt 
werden, s. Staudinger, Enneccerus und Stein a. a. O.; anderer Ansicht, wie 
es scheint, Urt. des Reichsger. vom 20. Nov. 1900 Jur. Wschr. 1900 S. 868. 

*) Als Beleg dafür, wie weit in derartigen Fällen die Anschauungen 
von Juristen und Psychiatern auseinandergehen können, sei die Akten¬ 
notiz erwähnt, mit welcher der Vormundschaftsrichter die Einlegung der 
Berufung zu rechtfertigen sucht. E. möge ein Querulant sein (heißt es 
hier), immerhin sei er von dieser Krankheit noch nicht so sehr ergriffen, 
daß er nicht einsähe, daß er auch einmal unrecht haben oder wenigstens 
Anlaß zum vergleichsweisen Nachgeben haben könne.. Man könne sogar 
sagen, daß E. ausschließlich im Bereich der drei Sachen K., V. und W. 
von seinen verkehrten Meinungen und Ansichten nicht abzubringen sei, 
„eine Schwäche, die er mit Hunderten und Aberhunderten von Leuten 
seines Bildungsgrades aus der hiesigen Gegend teilt“. Insbesondere sei 
es nicht zulässig, aus seinem Mißtrauen gegen die Anwälte und seinen 
Verdächtigungen der Behörden ohne weiteres Schlüsse gegen ihn zu ziehen. 
„Das tun hier in der Waldgegend gar viele, und zwar auch gewecktere und 
gebildetere Leute wie E. ist.“ Infolge der Weltfremdheit eines großen 
Teiles der Bevölkerung spuke in den Köpfen noch immer das Märchen von 
der Bestechlichkeit der Beamten durch Trinkgelder und ihrem Bestreben, 
sich gegenseitig selbst gegen Pflicht und Gewissen aus der Klemme zu 
helfen. (I) 


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Ein typischer Fall von Qnerulantenw ahnsinn - 


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Pilichtanwalt versäumte aber die gesetzliche Berufungsfrist, so daß das 
Rechtsmittel durch Urteil des Oberlandesgerichts München vom 29. De¬ 
zember 1916 als unzulässig, weil verspätet, zurückgewiesen werden mußte *). 

Es sei gestattet, an die vorstehende aktenmäßige Darstellung des 
Falls E. einige Bemerkungen allgemeiner Art zu knüpfen. 

Darüber, daß das Querulieren an sich kein Zeichen von Geistes¬ 
krankheit ist, daß es also auch geistesgesunde Querulanten gibt, 
herrscht bei Ärzten und wohl auch bei Juristen allgemeines Einver¬ 
ständnis l 2 ). Auch darüber besteht innerhalb der psychiatrischen 
Wissenschaft kaum eine Meinungsverschiedenheit, daß der echte 
Querulantenwahnsinn seinen Ausgang von einem bestimmten äußeren 
Anlaß nimmt, der natürlich nicht die Ursache der Krankheit ist, aber den 
Anstoß zu ihrer Entwicklung bildet, den schon vorhandenen Krank¬ 
heitskeim zur Keife, „den Stein ins Rollen bringt“ 3 ). Regelmäßig 
handelt es sich hierbei um einen Rechtsvorgang, bei welchem der 
Kranke Unrecht bekommt, sei es, daß er auf zivilrechtlichem Gebiete 
mit einer Klage abgewiesen oder entsprechend dem Antrag seines 
Gegners verurteilt oder wegen einer strafbaren Handlung zur Rechen¬ 
schaft gezogen wird 4 ). 

l ) Man kann sich unschwer vorstellen, wie diese bedauerliche Tat¬ 
sache auf den Geisteszustand des E. einwirken mag. In sachlicher Hin¬ 
sicht bedeutet die Fristversäumnis keinen wesentlichen Nachteil, da die 
Berufung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu einer Abänderung des 
landgerichtlichen Urteils geführt hätte und der Vormund des E. jederzeit 
eine neue Klage auf Aufhebung der Entmündigung stellen kann. 

*) Vgl. aus der psychiatrischen Literatur z. B. E. Hitzig, Über den 
Querulantenwahnsinn, Leipzig 1895, S. 9; A. Hoche, Handbuch der gericht¬ 
lichen Psychiatrie, Berlin 1901, S. 594; A. Cramer, Gerichtliche Psychiatrie, 
4. Aufl., Jena 1908, S. 304; K. Birnbaum, Der psychopathische Verbrecher, 
Berlin 1914, S. 266; E. Kraepelin, a. a. O. Bd. 2 S. 620. 

*) Hoche a. a. O. S. 596. 

4 ) Vgl. Cramer a. a. O. S. 305; Hoche a,a. O. S. 596; Birnbaum 
a. a. O. S. 268; Kraepelin a. a. O. S. 612 IT. Gerade hierdurch unter¬ 
scheidet sich der echte Querulant vom Pseudoquerulanten, der bei den 
verschiedensten Gelegenheiten Zank und Streit vom Zaune bricht ( Kraepe¬ 
lin S. 620, 836 IT.); beim Pseudoquerulanten fehlt „das subjektive Band, 
welches all die einzelnen Ereignisse zu einer zusammenhängenden Kette 
aneinanderschließt“ [Kraepelin S. 839). Die Polemik Birnbaums gegen 
Kraepelins Auffassung des Pseudoquerulanten scheint mir nicht über¬ 
zeugend. Über Pseudoquerulanten s. auch Cramer a. a. O. S. 311. Nicht 
zu verwechseln mit dem Querulanten und dem Pseudoquerulanten ist der 


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Engelmann, 


Bei aller Achtung vor der Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit 
unserer Richter kann ruhig zugegeben werden, daß in manchen dieser 
Fälle dem Unterliegenden wirklich vom objektiven Rechtsstandpunkt 
aus Unrecht geschehen ist; das kann insbesondere, ohne daß hiewegen 
ein Vorwurf gegen den Richter zu erheben wäre, infolge eines formeÜen 
Versäumnisses des Unterliegenden oder seines Vertreters oder infolge 
unwahrer Angaben von Zeugen der Fall sein. Viel häufiger freilich 
wird von objektivem Unrecht nicht gesprochen werden können. 
Immer aber empfindet der Kranke den ihm zugegangenen Nachteil 
als ein ihm widerfahrenes Unrecht. 

Daß man drohendes Unrecht abzuwehren, erlittenes Unrecht 
wieder gutzumachen sucht, ist ein in der menschlichen Natur begrün¬ 
detes Streben 1 ). Die Art und Weise, in welcher sich dieser Widerstand 
äußert, ist nach Wesensart und Temperament unendlich verschieden. 
Der Umstand allein, daß jemand auf vermeintlich erlittenes Unrecht 
außergewöhnlich stark reagiert, daß er den Kampf ums Recht leb¬ 
hafter, energischer, hartnäckiger führt als die Mehrzahl seiner Volks¬ 
genossen, bildet für das Vorhandensein von Querulantenwahnsinn 
noch keinerlei Anhaltspunkt 2 ). Erst die Art, wie dieser Kampf 
geführt wird, kann als Zeichen der drohenden oder schon eingetrete¬ 
nen Krankheit erachtet werden. Erschwert ist diese Erkenntnis natür¬ 
lich, wenn der objektive Beurteiler Anlaß hat, den dem Kranken wider¬ 
fahrenen Rechtsnachteil gleich diesem als ein ihm zugefügtes Unrecht 
anzusehen; denn naturgemäß führt diese Anschauung dazu, auch die 
in Wahrheit krankhaften Äußerungen des Kampfes als begreiflich und 


lediglich geistig minderwertige Prozeßkrämer, der aus Mangel an Ver¬ 
ständnis für Recht und Rechtsgang in einsichtloser Rechthaberei sein 
vermeintliches Recht mit den untauglichsten Mitteln verficht und mit 
seinen geringen Geisteskräften eine Belehrung über die wirkliche Rechts¬ 
lage nicht zu fassen vermag (Frese, Der Querulant und seine Entmündi¬ 
gung, Ztlbl. für freiw. Gerichtsbarkeit Bd. 11 S. 71). 

*) In seiner berühmten Abhandlung ,,Der Kampf ums Recht“ 
{6. Aufl. S. 19) bezeichnet R. v.Jhering den Widerstand gegen das Unrecht 
geradezu als Pflicht gegen sich selbst und gegen das Gemeinwesen. 

*) „Die Gewalt, mit der das Rechtsgefühl gegen eine ihm widerfahrene 
Verletzung tatsächlich reagiert, ist der Prüfstein seiner Gesundheit“ 
(R. v. Jhering a. a. O. S. 41). Daß ein empfindliches Rechtgefühl noch 
nicht krankhaft ist, betonen auch Roche a. a. O. S. 599, Kraepelin a. a. O. 
S. 613, 621. 


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Ein typischer Fall von Querulantenwahnsinn. 


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natfirlich hinzustellen. Hierdurch vor allem erklärt sich die tiefgehende 
Meinungsverschiedenheit, die in zahlreichen Fällen echten Querulanten¬ 
wahnsinns zwischen den Anschauungen der begutachtenden Ärzte und 
denen der Laien, auch wohl der urteilenden Juristen, zutage tritt. 

Gerade hiefür bildet auch der Fall E. ein lehrreiches Beispiel. Den 
Ausgangpunkt des von ihm geführten Kampfes ums Recht bildet unzweifel¬ 
haft die Strafanzeige des K. Daß K. vor dem Schöffengericht objektiv 
die Unwahrheit gesagt hat, ist gerichtlich festgestellt. Ob K. gutgläubig 
oder wider besseres Wissen jene Strafanzeige erstattete, kann selbstver¬ 
ständlich niemals mit Sicherheit festgestellt werden. Daher war der Staats¬ 
anwalt in vollem Recht, als er der Strafanzeige des E. gegen K. keine Folge 
gab. Aber anderseits ist es, zumal K. von einem Zeugen als unverträg¬ 
licher, böswilliger Nachbar geschildert wird, sehr wohl begreiflich, daß E. 
der Ansicht war, K. habe absichtlich, um ihm zu schaden, beim Schöffen¬ 
gericht auf Eid die Unwahrheit gesagt. War aber E. dieser Anschauung, 
so konnte er sich auch für berechtigt halten, dem I\. hierüber Vorhalt zu 
machen. Ob seine beleidigenden Äußerungen nicht den Schutz des § 193 
StGB, zu beanspruchen hatten, ist auch vom streng juristischen Stand¬ 
punkt aus nicht unzweifelhaft. Der dem E. trotz seiner Freisprechung 
erwachsene vermögensrechtliche Nachteil konnte immerhin von ihm als 
ein ihm widerfahrenes Unrecht aufgefaßt werden, wenn, wie er behauptet, 
der Gendarm ihm mitgeteilt hatte, im Falle der Freisprechung würden ihm 
auch die für seine Entlastungszeugen aufgewendeten Beträge ersetzt; 
mag sich der Gendarm auch nicht genau so ausgedrückt haben, so liegt 
doch die Möglichkeit nahe, daß E. dessen Äußerung in diesem Sinne ver¬ 
standen hat. 

Das Fazit dieser Gruppe von Ereignissen ist also folgendes: E., der 
unzweifelhaft unschuldig unter Anklage gestellt war, ist zwar freige¬ 
sprochen, hat aber durch das Gerichtsverfahren einen Schaden erlitten, 
dessen Ersatz er vergeblich begehrt; K., dessen eidliche Angaben fest¬ 
gestelltermaßen unrichtig waren, hat keine Strafe zu gewärtigen und 
erleidet auch keinerlei vermögensrechtlichen Nachteil. E., der ihm die 
Unwahrheit seiner Aussagen in einer dem Gesetz vielleicht nicht völlig 
entsprechenden Weise vorgehalten hat, ist wegen Beleidigung zu einer 
nicht unerheblichen Geldstrafe verurteilt worden und hat die beträcht¬ 
lichen Kosten dieses Verfahrens zu tragen. Nach einigen Jahren wird E. 
von einem scheu gewordenen Pferde verletzt; daß der Beklagte aus juristi¬ 
schen Gründen nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, vermag E. 
bei seinem geringen Bildungsgrade nicht einzusehen. Im Falle W. endlich 
unterliegt E. auf Grund der beeidigten Aussage der Ehefrau seines Geg¬ 
ners, obwohl’ mehrere Zeugen Angaben gemacht haben, die mit denen der 
Frau W. schwer, wenn überhaupt, in Einklang zu bringen sind. Die Ver¬ 
mutung, daß Frau W. zugunsten ihres Ehemanns die Unwahrheit gesagt 
hat, liegt gewiß nicht allzu fern. Daß E. sich in den Fällen K., V. und W. 
benachteiligt fühlt und die Überzeugung nicht los werden kann, daß ihm 


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Engelmann, 


Unrecht geschehen, erscheint recht wohl begreiflich, und dieser Umstand 
ist es sicherlich, der verschiedene Zeugen wie auch den Vormundschafts¬ 
richter an seiner geistigen Krankheit zweifeln läßt. Trotzdem ist mit 
aller Sicherheit anzunehmen, daß E. zurzeit und wohl schon seit mehreren 
Jahren an echtem Querulantenwahnsinn erkrankt ist. Das ergibt sich 
mit aller Bestimmtheit aus der Art, wie er seit Jahren gegen das ihm ver¬ 
meintlich widerfahrene Unrecht ankämpft. Während der Gesunde ein- 
sehen würde, daß K. möglicherweise gutgläubig die Anzeige erstattet hat, 
oder wenigstens, daß ihm eine strafrechtliche Verletzung seiner Eides¬ 
pflicht nicht nachgewiesen werden kann, scheitern solche Erwägungen an 
der völligen Unbelehrbarkeit des E.; während der Gesunde auch beim 
Richter Pflichtbewußtsein und Gewissenhaftigkeit als selbstverständlich 
voraussetzt, vergrößert bei dem geisteskranken E. jeder Beamte, der mit 
ihm zu tun hat, die Zahl seiner Gegner und Feinde; während der Gesunde, 
mag er noch so lebhaft auf Unrecht reagieren, bei endgültiger Erfolglosig¬ 
keit seiner Bemühungen einsieht, daß die Fortführung des Kampfes 
fruchtlos ist und ihn und die Seinigen der Gefahr völligen Ruins aussetzt, 
ist E. für derartige Betrachtungen unzugänglich; er würde, auch wenn er 
dieses Ende vorausgesehen hätte, doch nicht anders gehandelt haben. 

Daraus ergibt sich für den psychiatrischen Gutachter, daß, um 
den Kichter vom Vorhandensein des Querulantenwahnsinns zu über¬ 
zeugen, weder die Tatsache des Querulierens ausreicht, noch der Nach¬ 
weis, daß dem Querulierenden keinerlei Unrecht widerfahren ist; 
beweiskräftig kann vielmehr nur die Darlegung wirken, daß die 
Kampfesweise des Querulierenden einen sicheren Schluß auf das 
Vorliegen einer geistigen Erkrankung gestattet*). 

Zum Schluß noch einige Worte über die Bedeutung der Ent¬ 
mündigung von Querulanten. 

Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 BGB. kann entmündigt werden, wer infolge 
von Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht 
zu besorgen vermag. Voraussetzung der Entmündigung ist also das 
Vorliegen von Geisteskrankheit oder Geistesschwäche, außerdem aber 
die Unfähigkeit des Kranken zur Besorgung seiner Angelegenheiten. 

Über das Verhältnis der Geisteskrankheit zur Geistesschwäche hat 
infolge der ungenauen Ausdrucksweise des Gesetzes und der Unklarheit 
der gesetzgeberischen Vorarbeiten lange Zeit Meinungsverschiedenheit 
geherrscht. Nunmehr aber kann als herrschende Ansicht in Schrifttum 
und Rechtsprechung gelten, daß der Unterschied nicht auf einer Ver¬ 
schiedenheit der Krankheitsform beruht, sondern nur ein solcher dem 
Grade nach ist; Geisteskrankheit ist die schwerere, Geistesschwäche die 
leichtere Form der Erkrankung; gleichgültig ist für die Anwendbarkeit 
des § 6 nicht nur Grund und Art, sondern auch die psychiatrische Be- 


*) Vgl. Pfister a. a. O. S. 614 Note 2; Kraepelin a. a. O. S. 620. 


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Ein typischer Fall von Querulanten Wahnsinn. 


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Zeichnung der Krankheit; für die Frage, ob Entmündigung wegen Geistes¬ 
schwäche oder Geisteskrankheit einzutreten hat, ist lediglich entscheidend, 
ob die geistige Gesamtleistung des Kranken derjenigen eines Kindes unter 
7 Jahren oder darüber hinaus derjenigen eines Minderjährigen von 7 bis 
21 Jahren gleichzustellen ist *). Man muß also aus der Stärke der Wirkung 
auf die Stärke der Ursache schließen und nach diesem Maßstab bestimmen, 
ob das Denken, Wollen und Handeln des Kranken durch die Störung 
seiner Geisteskräfte derart regelwidrig beeinflußt wird, daß er entweder 
wie ein Kind gänzlich geschäftsunfähig oder nach Art eines Minderjährigen, 
der das 7. Lebensjahr vollendet hat, nur in beschränkter Weise geschäfts¬ 
fähig erscheint; im ersten Falle entspricht es der Absicht des Gesetzes, 
Entmündigung wegen Geisteskrankheit, im zweiten, sie wegen Geistes¬ 
schwäche eintreten zu lassen*). Daß dieses Verfahren unlogisch ist, indem 
aus den an den Entmündigungszustand geknüpften Rechtsfolgen (BGB. 
§§ 104 Nr. 3, 114, 106—113) erst die psychiatrischen Voraussetzungen 
und die Art der Entmündigung entnommen werden müssen, hebt z. B. 
F. Endemann 3 ) ausdrücklich hervor *). Darum darf, wie Endemann *) 
mit Recht erwähnt, das Gutachten des Psychiaters sich nicht mit der 
Feststellung der Gehirnerkrankung nach wissenschaftlich-psychiatrischen 
Grundsätzen begnügen, es muß vielmehr die Wirkung der Erkrankung 
abmessen nach den verschiedenen im BGB. aufgestellten Graden des 
Einflusses auf die Geschäftsfähigkeit •). 

Aber weder Geisteskrankheit noch Geistesschwäche berechtigt 
den Richter, die Entmündigung auszusprechen, wenn nicht als Folge 
der Erkrankung die Unfähigkeit zur Besorgung der eigenen 
Angelegenheiten feststellbar ist. Diese Unfähigkeit liegt, wie das 
Reichsgericht und ihm folgend die herrschende Lehre annimmt, nur 
dann vor, wenn der Kranke zur Besorgung seiner gesamten Ange- 


*) Vgl. Staudinger a. a. O. Bern. B, I, 4, a zu § 6; Planck a. a. O. 
Bern. 2, b zu § 6; Komm, von Reichsgerichtsräten, 2. Aufl., Bern. 2 zu § 6; 
Enneccerus a. a. O. § 86, I, 1. 

*) So das grundlegende Urteil des Reichsgerichts vom 13. Februar 
1902. Entscheidungen in Zivilsachen Bd. 50 S. 207. 

3 ) Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, 9. Aufl., Bd. 1 § 31 Note9. 

4 ) S. auch Endemann a. a. O. § 33 Note 6: „Psychiatrisch steht fest, 
daß die Geistesschwäche eine Art, und zwar gerade eine der schwereren 
Arten, der Gehirnerkrankungen ist. In diesem Sinne darf das BGB. 
nicht ausgelegt werden; es hüft vielmehr nichts, als daß der Ausdruck 
Geistesschwäche als laienhafte Umschreibung hingenommen und inhaltlich 
nach der mit der Entmündigung verbundenen schwächeren juristischen 
Wirkung abgeschätzt wird.“ 

*) a. a. O. § 31 Note 9. 

•) Wie dies das Rüdinsche Gutachten in vorbildlicher Weise tut. 


Zeiftaehrift für Psyohiatm. LXXITI. 5. 

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442 Engelmann, Ein typischer Fall von Qnerolantenwahnsinn. 


legenheiten außerstande ist, nicht dagegen, wenn er nur einzelne 
oder einen Kreis seiner Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag. 
Ist der Geisteskranke, wie dies namentlich bei Querulantenwahnsinn 
der Fall ist, von bestimmten Krankheitsvorstellungen beherrscht, so 
ist entscheidend, ob diese ihn derartig ausfüllen, daß sie auf sein 
Handeln überall Einfluß haben, und daß seine gesamten Lebensver¬ 
hältnisse mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen werden 1 ). 
Andrerseits freilich wird die Zulässigkeit der Entmündigung nicht 
dadurch ausgeschlossen, daß der Kranke die Fähigkeit behalten hat, 
auf einzelnen Lebensgebieten, insbesondere in seinen Berufs- und 
seinen Familienangelegenheiten, ein vernünftiges Verhalten zu be¬ 
tätigen, oder daß er zur Besorgung gewisser Angelegenheiten, sei es 
wegen ihrer Einfachheit, sei es wegen der erlangten Übung oder aus 
andern Gründen, befähigt geblieben ist 2 ). 

Legt man diese Hechtsauffassung zugrunde, so wird in der Mehr¬ 
zahl der Fälle die Entmündigung wegen Geistesschwäche als die 
für den geisteskranken Querulanten geeignetste Form rechtlichen 
Schutzes erscheinen 3 ). Mit Recht weist Prof. R. in seinem Gut¬ 
achten insbesondere darauf hin, daß bei dieser Form der Entmündi¬ 
gung durch die §§ 110,112,113 BGB. dem Kranken ein gewisses Maß 
von Bewegungsfreiheit gelassen werden kann, während anderseits 
die Mitwirkung des Vormunds und Vormundschaftsgerichts eine 
Schädigung des Kranken ausschließt oder wenigstens erheblich er¬ 
schwert. 

Zugegeben ist, daß unter Umständen auch beim Vorliegen von 
Querulantenwahnsinn kein Anlaß zur Entmündigung besteht, so 
z. B. bei ganz einfach gelagerten Erwerbs- und Vermögensverhält¬ 
nissen; doch werden solche Fälle seltene Ausnahmen bilden. 

*) Urteil des Reichsgerichts vom 30. Juni 1910 Warneyer Ergänzungs¬ 
band 1910 Nr. 310. 

*) Urteil des Reichsgerichts vom 28. Okt. 1907 und 4. Juli 1910, 
Warneyer Ergänzungsbd. 1908 Nr. 1,1910 Nr. 309. Nicht völlig zutreffend 
erklärt ein Urteil des OLG. Hamburg vom 1. AprU 1901 (Rechtspr. der 
Oberlandesgerichte Bd. 2 S. 447), wegen Querulantenwahnsinns dürfe 
die Entmündigung nur ausgesprochen werden, wenn dieser Wahn die 
Person „in allen ihren Lebensbetätigungen“ erfaßt hat. 

*) Ebenso Cramer a. a. O. S. 307; anderer Ansicht, wie es scheint, 
Frese a. a. O. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Über Tuberkulose in Irrenanstalten. *) 

Von 

Dr. H. Löw, Anstaltsarzt. 

Eine bekannte und auffällige Tatsache ist die Häufigkeit der 
Tuberkulose bei den Geisteskranken in den Irrenanstalten. Über die 
Ursache herrscht keineswegs Klarheit. Überfüllung oder mangelhafte 
hygienische Einrichtungen, zumal alter Anstalten, werden mit in 
erster Linie angeführt, Umstände, die bei der neuen, anerkannt 
musterhaft angelegten Anstalt Bedburg-Hau nicht in Betracht kom¬ 
men. Trotzdem ist hier die Tuberkulosehäufigkeit durchaus nicht 
geringer wie in alten Anstalten. Schon diese auffallende Tatsache 
rechtfertigt ein näheres Eingehen auf die Frage der Tuberkulose in 
der Anstalt. Vorteilhaft war, daß bei einer so großen Anstalt schon 
in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum genügend Fälle zur Ver¬ 
fügung standen, die in kleineren Anstalten erst im Verlauf einer Reihe 
von Jahren gewonnen werden können. Dadurch sind die äußeren Be¬ 
dingungen für das in Frage kommende Material ziemlich die gleichen. 2 ) 
Außerdem war ein großer Vorzug, daß man eine ganze Anzahl der 
Kranken und deren Verhalten noch selbst gekannt hatte. 

Im ganzen stützt sich die Arbeit auf ein Material von 536 Fällen. 
Von allen war der genaue Befund durch die Leichenöffnung, die in 
einheitlicher Form durch den Prosektor der Anstalt, Oberarzt Dr. 
Witte, vorgenommen war, festgestellt. 


M Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau, Direktor 
Sanitätsrat Dr. Flügge. 

*) Die durch den Krieg verursachten veränderten Lebensbedingun¬ 
gen kommen für die Zeit, die die Arbeit berücksichtigt, noch nicht in Frage. 

31* 


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Original fro-m 

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444 


Lö w. 


Zunächst soll näher auf die Dementia praecox eingegangen 
werden. Von dieser Krankheitsgruppe starben in der Berichtszeit 166 
Kranke, 82 Männer und 84 Frauen. An Tuberkulose waren von 
diesen gestorben 84. Bei weiteren 15 Kranken, die an andern Krank¬ 
heiten gestorben waren, fanden sich gleichfalls tuberkulöse Verände¬ 
rungen. 67 waren frei von Tuberkulose, d. h. an Tuberkulose starben 
50,6 v. H. 

Es fanden sich noch tuberkulöse Organbefunde in 9,03 v. H. 

Demnach lag Tuberkulose überhaupt in 59,63 v. H, vor. 

Zunächst muß noch gesagt werden, daß unter Dementia praecox 
eine im Entwicklungsalter einsetzende geistige Erkrankung verstanden 
wurde, die langsamer oder rascher unter den verschiedensten Zustands¬ 
bildern fortschreitend, zu einem mehr oder weniger hohen Grade geistiger 
• Schwäche führte. Unter der Untergruppe der Dementia paranoides 
wurden solche Fälle verstanden, die sich durch Wahnbildung unsinniger, 
zum Teil abenteuerlicher Art, meist verfolgenden Inhalts, auszeichneten 
und ebenfalls zu geistiger Schwäche führten. Zwischen Hebephrenie 
und Katatonie konnte, da es sich meist um schon längere Zeit bestehende 
Geisteskrankheit handelte, in der großen Mehrzahl der Fälle nicht unter¬ 
schieden werden. Sie wurden in den folgenden Zusammenstellungen der 
Einfachheit halber als „Dementia praecox“ bezeichnet. Die folgen¬ 
den Tafeln zeigen die Beteiligung der an Tuberkulose gestorbenen De¬ 
mentia praecox-Kranken und der Paranoiden auch hinsichtlich des 
Geschle htes. 


Geschlecht 

Dem. praecox 

Dem. paranoides 

Insgesamt 

Männei. 

32 

13 

45 

Frauen . 

36 

3 

39 

Insgesamt. 

68 

16 

84 


In gleicher Weise zeigt die folgende Tafel den Anteil dieser Kranken, 
die noch tuberkulöse Befunde boten. 


Geschlecht 

Dem. praecox 

Dem. paranoides 

Insgesamt 

Männer. 

5 

1 

6 

Frauen . 

! 

7 

2 

9 

Insgesamt. 

12 

3 

16 


Die nächste Tafel zeigt die tuberkulosefreien Kranken der Dementia 
praecox- und paranoides-Gruppe. 


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Original fro-m 

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Tuberkulose I I Tuberkulöse Organe I I Ohne Tubeikulose 



































446 


Lö w, 


Geschlecht 

Dem. Praecox 

Dem. Paranoides 

Insgesamt 

Männer. 

20 

11 

31 

Frauen . 

24 

12 

36 

Insgesamt. 

44 

28 

67 


Die Paranoiden waren mit 34,33%, also weniger an der Tuber¬ 
kulose beteiligt wie die übrigen Dementia praecox-Kranken mit 65,7%. 

Die Verteilung auf die einzelnen Altersstufen ergibt die Tafel auf 
S. 445. 

Von Wichtigkeit ist die Frage, ob die Kranken die Tuberkulose 
während oder bereits vor ihrem Anstaltsaufenthalt erworben haben. 
Nach Geist, Ganter, Oßwald, l ) gab die Entscheidung darüber die 
Dauer des Anstaltsaufenthaltes. Sie nahmen die Dauer der Tuber¬ 
kulose zu 3 Jahren an, ließen die Fälle mit 4 und 5 Jahren Anstaltsauf¬ 
enthalt als strittig außer Betracht und kamen so zu dem Ergebnis, daß 
die Hälfte der Kranken (Geist, Ganter) oder doch ein Drittel derselben 
(Oßwald ) die Tuberkulose in die Anstalt bereits mitgebracht 
hätten. Wenn man sich dem zunächst anschließt, so wären bei uns unge¬ 
fähr ein Viertel der an Tuberkulose Gestorbenen schon bei ihrem Eintritt 
in die Anstalt tuberkulös gewesen. Eine andere Frage ist es, ob man auf 
diese Weise zu einem der Wahrheit nahekommenden Ergebnisse kommt. 
Das Gegebenste wäre natürlich, die einzelnen Krankengeschichten hier 
bezüglich der Dauer der Tuberkulose zu Rate zu ziehen. Leider lassen 
diese einen aber in dieser Beziehung meist im Stiche. Ist es nämlich 
bei geistig Gesunden nicht immer leicht, den Beginn einer Tuberkulose 
zeitlich festzulegen, so um so mehr bei einem Geisteskranken, zumal 
einem der Dementia praecox-Gruppe, da bekanntlich die Kranken 
bei einer regelrechten Lungenuntersuchung sehr oft große Schwierig¬ 
keiten bereiten. Findet man dennoch den auf Tuberkulose bezüg¬ 
lichen Eintrag in der Krankengeschichte, so ist die Tuberkulose gewöhn¬ 
lich schon so weit vorgeschritten, daß sie von da ab als sehr rasch ver¬ 
laufend imponiert. Daraus würde folgen, daß Kranke selbst mit einem 
verhältnismäßig langen Anstaltsaufenthalt trotzdem schon vor Eintritt 
in die Anstalt sich hätten angesteckt haben können. Dies dürfte zumal 
für die gar nicht so selten von Drüsen ausgehende Tuberkulose gelten. 
Es wäre also ganz gut möglich, daß wir mit einem weit längeren Verlaufe 
der Tuberkulose zu rechnen haben, wie die Krankengeschichten glauben 
machen. Die Ansteckung selbst kann dann noch weit länger zurück¬ 
liegen. Sie muß nicht notwendig mit dem klinischen Auftreten der 
Tuberkulose übereinstimmen, sondern kann jahrelang vor demselben 

*) bei Ganter 1 


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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten. 


447 


stattgefunden haben. — Andrerseits können Kranke mit kurzer Dauer 
des Anstaltsaufenthaltes sich doch sehr wohl während des Anstalts- 
aufenthaltes angesteckt haben, zumal wenn sie aus irgendeinem Grunde 
körperlich weniger widerstandsfähig werden. Kurzum, es ist sehr schwer, 
nachträglich in dieser Beziehung einigermaßen klar zu sehen. 

Weiterhin wurde bei der Durchsicht der Krankengeschichten darauf 
geachtet, ob sich irgendwelche Anhaltspunkte von vornherein finden ließen, 
die als begünstigend für das spätere Auftreten der Tuberkulose in Frage 
kamen, und zwar vor allem auf tuberkulöse erbliche Belastung, frühere 
schwächende Krankheiten, schlechten Ernährungs- und Kräftezustand 
usw. Es fand sich nur sehr wenig; erbliche Belastung nur in 8, Trunksucht 
in 7 Fällen. 1 ) Von schwächenden früheren Krankheiten fand sich eben¬ 
falls nicht viel vor: Skrophulose 2mal, Rhachitis 2mal. Typhus und Lues 
je lmal, Diabetes lmal. Gleich bei der Aufnahme wurde festgestellt: 
„dürftig genährt“, „immer schwächlich“, „spät laufen gelernt“, „zum 
Skelett abgemagert“, „außerordentlich dürftig genährt“, „immer 
schwächlich“, „als Kind spät laufen gelernt“, „Verbildung des Brust¬ 
korbes“, „grazil, 44 kg Gewicht“, „dürftig genährt“, „mäßig genährt“, 
„klein und schwächlich“, „schlecht genährt“. Also recht wenig 1 

Damit ist aber die Rolle der Tuberkulose bei unseren Dementia 
praecox-Fällen noch nicht erschöpft. Bei weiteren 15 Leichenöffnungen 
von Kranken, die aus anderer Ursache gestorben waren, fanden sich mehr 
oder weniger starke, tuberkulöse Veränderungen. Es handelte sich um 
6 Männer und 9 Frauen. (S. die Zusammenstellung S. 445.) Aber 
nur in 3 Fällen war der tuberkulöse Prozeß derart, daß er, auch falls keine 
andere Krankheit dazugekommen wäre, wohl binnen kurzem zum Tode 
geführt hätte. Bei den übrigen 12 Fällen waren die tuberkulösen Ver¬ 
änderungen nur leichte, d. h. sie hätten zweifellos örtlich beschränkt oder 
auch ausheilen können. Uber die 3 schwer Tuberkulösen ist, unter Be¬ 
rücksichtigung der bei den an Tuberkulose Gestorbenen erwähnten Um¬ 
stände, folgendes zu sagen: 

Fall 1. Trunksucht; grazil, mäßig genährt, mutazistisch, Tiks, 
muß zum Essen angehalten werden. 

Fall 2. Bot nichts Besonderes. 


*) Bezüglich dieser Umstände ist man ja meist auf den vorge¬ 
schriebenen Fragebogen angewiesen. Es ist aber sehr wahrscheinlich, 
daß dieser hier oft genug versagt. Der denselben ausstellende Arzt ist ja 
meist von den Angaben der Angehörigen abhängig, die, zumal es sich in 
unseren Fällen meist um ungebildete Bevölkerungsschichten handelt, 
wohl selten geneigt oder geeignet sind, diesbezügliche genauere Angaben 
zu machen. Vielleicht wird auch von den Ausstellern der „Fragebogen“, 
da es sich ja um Geisteskranke handelt, weniger auf solche Umstände, wie 
Tuberkulose in der Familie, geachtet. 


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Original fro-m 

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Fäll Miitaxisfisch, katalept»sßh, uhrvdiüi#lbvStr>hkt aU«rhap«i i*» 
den Mnau. 

Fall J ; und .3 fallen-hfezöglivl) .*.*r Ohuit des AnsbähSanfe» 1 1 h «•♦ 1 1 - 
ulitt r die Rubrik :f jbis 5 Jahr»-, Falt1tfllwr 5 .Jahre '/avei liUen an «.hwr« 
;Lur»g"i‘nti!berk,ülospi .■ tfibttr m Lüü£€di* und Darrnfiiberkidnse. 

in der liilcenden Kurve -sollen nun 7.inid<-li<* einmal die au Tul»*»b- 
kuloso Gestorbenen und di" sdiwor tuberkulösen- f?r<ti£>iii!•>»•' j>rae. ox 
Kranken dem flest'-— Tui.«*rk«b>sprrete und te-irbt Tuho.rknub.e! -- jßffäjtöfi 
übergestellt werden,. 

Die meisten Todesfälle . bei den. setiwer. Tuberkulosen Isllen ,d-r. in 
die- frühen Altersstufe»' 2 (>—A 3 Jahre. 

f t-'b*?r die 12 Dementia praetb*' 

thK’bter TtiberkMlö^e &S 


JKranfeii »tiM 

*0 «agen: ^ 

'*3*. i- .Nichts- lihsurtdere^d t , 

Fall •%: Mütter. baberkufü*; selbst 
schlank, „ grazil. ,.. VVichaiten.: gehe m 1 nt, 
oft unrein. 

Faiht. NaiirtiriRsVhrXvejgerunjB’o/fnr, 
vsodaü .%iidt i n : et , ndiu‘üug uäüg ^ar. ■ . 

Fall ». Als Kind Drusen; mag-r, 
sehr dürtfi#' "e nährt. 

•Fall 5. KälstthiritM 
Btvffictypkiii.- oft unrein 

, FatF ‘ Naiiriini^sTidsTignrdiih; 
8ru;up?-iedn;d;rido* xn. Bett, bizarr. 

'•' / .'.--‘.F/d-./t'-'-r’ 

Fall ?v Brhlenht gewährt; Vgrr- 
hcirtirti, tedukhadu-v ?,ü Bett, bi/arre 
HaBttiig iahtTlaug. 

Fall -8v Mvittei' imf>Ungentuber.fcul-.ev-' #--U»rb> n selbst; idiev and 
Trunks*»; hl;. •srbun-.rh» <};. *■ nleeht genährt. 

Riehls Besonderes. \ ■ : / ' ’ ' '; 

Fall 1 ti.: -Stduvaehlii-b gesjienf.^ yr-rhalt<?n, schm ht ng,. 
S-itmuD-in d. n Mund, ?)ie Ohren usw. 

Fall )1. Verna» tilassiyt sieb völlig. i.T.u-.-i- nuU and unrein. 

Fall 12.. Vie|.!> 

Was die Dauer des ^nsialisaufoiitlialtes uugeht. so v.*irhi PaIM— . 
unter d Jahren tn A»>t»lt>'plhv- Sie hatten dti*> >ub;h de» ebe» .-r>v,iht.ift(> 
Autoren 'ihre 'fuberkul-v-:. H^ v.w Riidrili in die Anstalt envnthu.i , 
Fall ä und V InriU»«: eUit-ti .Vu-AalDuiideiHhtdf. va» | .(ajiren, bei SImm 1 * 
war*» at<hj fraglich kie A*?f witJtröttd i 

halte* ! ulH rkut'i». #■ Udrih:«. v. ai-i it , Pali T -t? de- über fi .labb> iii An 
st,d<spdeye ourefi hatten. db--. Tt;het-i; i.ie*e n? dei Avisfidt cr\v.«rl>en. 






•/V «• 

> jTnVMfcuioÄ*?r&<e ujirt 
S y* ( %J$n. tttttm’ktsiifre 





Uber Tuberkulose in Irrenanstalten. 


449 


Es bleiben noch kurz die Dementia praecox-Kranken zu be¬ 
sprechen, die frei von jeder Tuberkulose waren. Wie schon erwähnt, 
waren es 67, und zwar 31 Männer und 36 Frauen. Es war wichtig, auch 
hier den Anstaltsaufenthalt zu bestimmen, da man einwenden könnte, 
sie seien deshalb frei von Tuberkulose geblieben, weil sie nicht lange geaug 
in Anstaltspflege gewesen seien, wenn man annähme, daß die Verhältnisse 
in der Anstalt die Tuberkulose Begünstigten. Es ergab.sich nun: Unter 
3 Jahren waren in Anstaltspflege 13 Kranke, zwischen 3—5 Jahren 
12 Kranke, über 5 Jahre 42 Kranke, d. h. 62,68%, also genug Kranke 
waren hinreichend lange in Anstaltspflege, um diesen Einwand zu ent¬ 
kräften. Weiterhin fand sich tuberkulöse Belastung 3mal, Trunksucht 
ebenso oft, Typhus vor Aufnahme in die Anstalt lmal. Einer wurde bei 
der Aufnahme in die Anstalt als „schwächlich und kränklich“ bezeichnet. 
Unreinlichkeit, stuporöses Verhalten, Nahrungsverweigerung und ähn¬ 
liche Umstände, die gewöhnlich als nicht zu unterschätzende Hilfsursachen 
für das Entstehen der Tuberkulose bei den Dementia praecox-Kranken 
betönt werden, fanden sich unter diesen 67 tuberkulöse freien Fällen bei 
42 Kranken, d. h. bei 62,68%. 

Es bleibt zum Schlüsse noch übrig, die Todesursache für diese 
Kranken anzugeben. Die 15 Fälle, die noch tuberkulöse Organbefunde 
hatten, werden in der folgenden Zusammenstellung mit berücksichtigt. 


Es starben an: 

1. Herzkrankheiten. 12 Kranke, 

2. Lungenkrankheiten . 15 Kranke, 

3. Darmkrankheiten. 6 Kranke, 

4. bösartigen Geschwülsten. 6 Kranke, 

5. Infektionskrankheiten (pyämischen u.ä.) . 18 Kranke, 

6. Marasmus. 12 Kranke, 

7. Verschiedenem. 13 Kranke. 


Fassen wir das alles nochmals zusammen, so ist zu sagen.: Von 
unseren Dementia praecox-Kranken starben an Tuberkulose 
50,6%; außerdem fanden sich noch tuberkulöse Organveränderungen 
bei 9,03% Tuberkulose überhaupt, also bei 59,63%, und zwar lag 
bei 52,4% aller Dementia praecox-Kranken insgesamt schwere 
Tuberkulose vor. Die Tuberkulose war also äußerst häufig; die Hälfte 
der Dementia praecox-Kranken erlag ihr ohne weiteres. — Ganter 
fand in Saargemünd 45% tötliche Tuberkulose bei Dementia 
praecox, M. Schröder in Lauenburg sogar 67% tötliche Tuber¬ 
kulose bei insgesamt 200 schizophrenen Frauen. 

Was das Geschlecht angeht, so hatten 52,88% der Männer und 
47,12% der Frauen schwere tötliche Tuberkulose. Am häufigsten 
waren Lungen, Därme und Drüsen von der Tuberkulose ergriffen. 


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ürijir-af fon . 

••••' 'lyNtVERSrFf'.OF MI^HFGÄW 






übisr Tuberkulose in IrfenaostaJtf'D 


Die nebenstehende ZuBammeuiteiltiiig zeigt den Anteil sämt¬ 
licher tuberkulöser Organe bei den schwer Tuberkulösen. 

Was die Dauer des AiistÄltsanfeüthaHes Äögeht, so waren 58,50% 
aller tuberkulöses Dementia praeebkrKJnnfeeJi über ä Jahre in 
Anstaltsplfege gewesen, aber auch &i,68% der Tuberkvilosefreien, 
Von T^mstäßdsn, die als die Tuberkulose begünstigerid j» Frage 
kommen; fand sich nur sehr wenig in den Krank,enge«chtebten ange¬ 
geben. Bi« rnnt;45. Lebensjahre üljerwicgen die schwer Tuberkulösen 
ganz erheblk'b ariZähl gegen die leicht Tuberkülöseri und die Tuber- 
kulosefreien, vom 46. Lebensjahre ab war tlss IJöigekf-hrte der Fall. 
(Siehe Kurve S. 448!) 

Wenden wir uns zu einer weiten Krankbeitsgru pptt, saöttEp.ile^ ie 
mit Seelebetöirintg. Es »ml 7 Frauen. 

18: waren da^oh an Tnl)erknlose geetärben.-VUnd war nur Männer. 
7 weitere, ebenfalls mirMänster, hatten noch tuberkulöse.Organbefunde* 
41 Kranke warehDdte^^ wärSi Männer und 7 Frauen, d, h. 

an Tuberkuio&e starben — ...;l 27,27% 

tuberkulöse Orgaidtefirade haften noch...10,6 % 

Tuberkulose überhaupt also.... . .37,87%. 

In der.lolgfenderk Tafel sind unsere Fälle übersiehtlteh tta»*h Alter und 


ijtbiKi Intiia [ rwb#riuf#te 
-w :4ä,\ j s», ■ ■ Sä. 


Tut-.. ur^Ätt'k 








2üf-be$sgre»» \T*rau3chauiihhiing 4er Yefljiülidsswsbul ift nsßhfölgeh 
d*tr Kurve sämtliche Tuberkubsef rille «je« tuberkulöse frei»'ri Fällen geg< m 
iiiwjffjpjjteUt 


TuWkulÖHe 


TyberlittU»aefrei* 


Vorweg mut> genommen Werden, »laß.*•» sn I. io ulMl Fallet! ihm 
«•'•Imvrslu totliehe Tuberkulose tuuuioBe, *? daß die iv.m vv «»Kino tv»*il*>{•<•.. 
mit der der De me iit u«: praecox Aul & 448 vtu\gii« hen werden. kann • 
lin Gegensatz. :..ur Dementia prjiee.u.x. überwiegt die i’uberkuktsi' niir 
in »len frühen Alf grsstu fen 

keif - /1er Tuberkulosem-o-M in. vier Ailcrssfub - >»v—AO hegt 

Für di* das auch 

für die' Deinen Ua p'r*At*»/»>*• Gesagte. Der erste Anfang. derTuberkiiiose 
war aoel. Juer schwer ksi zu* teilen, so dati über die Dauer ihirselbixn ü*r»ig 
Sicheret gesagt werden Aüstüf bau fe hlhalb* 

angehU sit waren von den l$< Tuberkulosen ::> unter U Jahren in Aiistalte--* 
pfbp, • 'JaÄM'v- Uk über V.^tpbfJb • jjjjiHji» Canier »triff andern halte#*, 

db wrü&’-lTf'A % die Tjj^fit*rt£vjfostr ii(f de;r Aitöl 3 il,t.'eJ^nrb<iu, doch sielte hierüber 
dna iiei der. D ein « u 1 i a p rurvax Gesagte. 

M äo.c von Wichtigkeit/ att'cli bei den Epileptischen ncuhznsefmn, 
<<b sieb tMii.st;iJi<le fanden, die mit tlejn EntStcfieri der Tuberkulose in An- 
SHfHtneitliaiig gebracht werden Üttnut-eri; Hierüber Jkf folge rüles au sageh : 
Tuberkulose erbliche .Belastung war in keiiifni Falb* angegeben.: Für 
diese) i Puu kt* d ü rite ö brr eben falls das b i erüber bei der D e m e »jt t * a. p rÄft 
ecix Gesagte gelten. Wenn man anriimmt. «faß .Schwere uiidvlfäühgke«; 
der Anfälle sowie deren ^ütgmj der Tuberkobv Vorschub leisten so-muß 
gesagt worden. 'laß dieser Urnsland für unsere Iaber kühn.*» Epiicptilidr 
ilitraf. Alle litte» o» schweren. ^ahJrviciieri. »um Teil geftüurtpn An* 
fallen, off iahrelang’. 

Du v.unei) Sie; der Dementi» pruüi'»x*; die Häufigkeit der TufcPtv 
kulose in Zusnninu-nlmug gebrneht wird dii* dem Verhalten der Kranken 
ihrer tfnrf'ijiiiclrkeit;, - dem lialtiihdbsett 


im Bett: dem wldechlgn Atfneu 


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Ober Taberkalose in Irrenanstalten. 


453 


-üsw., so wurde bei der Durchsicht der Krankengeschichten auch bei den 
Epileptischen auf diese Umstände besonders geachtet. Denn schließ- 
lieh müssen diese auch für die Epileptiker gelten, die jahrelang bei 
schweren, regelmäßigen Anfällen oft tagelang mehr oder weniger benommen 
und dösig daliegen, unrein mit Entleerungen sind usf. Es fanden sich 
solche Umstände bei 8 der Tuberkulösen in ausgesprochener Form, aber 
auch bei 27 der 41 nicht tuberkulösen Epileptiker. 

Was weiterhin diese angeht, so waren 8 unter 5 Jahren in Anstalts¬ 
pflege, 11 zwischen 3—5 Jahren, 22 über 5 Jahre; 53,65% waren also 
lange genug in Anstaltspflege, um dort eine Tuberkulose erwerben zu 
können. Im übrigen handelte es sich auch hier fast ausschließlich um 
schwerste Epilepsien. Ein Kranker war erblich mit Tuberkulose be¬ 
lastet, ein anderer hatte eine tuberkulöse Tochter. 

Die folgende Tafel gibt Aufschluß über die befallenen tuberkulösen 
Organe und deren Zusammentreffen in den einzelnen Fällen. 



Die Todesursache der nicht der Tuberkulose direkt Erlegenen und der 
tuberkulosefreien epileptischen Kranken sind aus folgender Zusammen¬ 
stellung zu ersehen. 


Stellung zu ersehen. 

1. Hirnlähmung nach Anfällen. 25 

2. Marasmus . 6 

3. Lungenkrankheiten . 7 

4. Herzkrankheiten. 5 

5. Darmkrankheiten (Colitis diphtherica). 3 

6. Verschiedenes.. • 2 


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454 


Löw, 


Zusammenfassung: Die Tuberkulose ist bei unseren Epi¬ 
leptikern mit 37,87% sehr häufig. Sie trat jedesmal in schwerster 
Form auf. 


Hahn findet bei einem allerdings weit größeren Material nur 8,6% 
Tuberkulosesterblichkeit; allerdings gibt er noch leichte tuberkulöse 
Veränderungen in 34,3 % an, aber nur solche, die er als geheilt bezeichnet. 
Er sagt: „Der Prozentsatz der Todesfälle an Tuberkulose war hier nicht 
wesentlich höher als in der Gesamtbevölkerung Sachsens überhaupt, 
pflegte sie im Lande alljährlich doch mit etwa 8 % unter den Todesursachen 
vertreten zu sein. Von den hier Verstorbenen hatte keiner länger als 

3 Jahre in der Anstalt verweilt.Jedenfalls handelte es sich in allen 

diesen Fällen stets um schwerste Formen der Tuberkulose, um Formen, 
die allgemeine Emaziation zur Folge hatte.“ Er meint weiterhin, daß so 
günstige Zahlenverhältnisse bei den allerdings in der Literatur spärlichen 
Angaben im übrigen nirgends gefunden werden. Köhler in Hubertusburg 
fand 16,7 %, Habermaas in Stetten 10 %, Ganter in Saargemünd aber 21,8 %. 
Nach Fere (zitiert nach Hahn\) sollen Epileptiker oft von Phthise be¬ 
fallen werden. „Er hält es für möglich, daß die Epilepsie durch die 
zirkulatorischen, respiratorischen und nutritiven Störungen, vielleicht im 
Bunde mit der bestehenden kongenitalen Inferiorität, eine Disposition zur 
Phthise schafft, und daß die den nervösen Entladungen folgenden Altera¬ 
tionen des Blutes die Empfänglichkeit des Organismus für Krankheiten 
steigere.“ 

Bei unseren Fällen war, wie bei der Dementia praecox, am 
häufigsten Lungen- und Darmtuberkulose vertreten. Tuberkulöse 
erbliche Belastung war in keinem Falle angegeben. Umstände, von 
denen man annehmen könnte, daß sie die Tuberkulose begünstigten, 
wie Unreinlichkeit, schlechtes Atmen, schwere Benommenheitszustände 
usf., fanden sich bei den tuberkulösen Epileptikern eher seltener wie bei 
den nicht tuberkulösen. Das Todesalter war im Durchschnitt nicht 
wesentlich geringer wie das der nicht tuberkulösen Epileptiker. 

Über das Vorkommen der Tuberkulose bei der Paralyse ist 
folgendes zu sagen. Von insgesamt 115 Paralytischen — 85 Männern 
und 30 Frauen — waren 13 tuberkulös; 8 erlagen der Tuberkulose 
unmittelbar, 4 Männer und 4 Frauen; 5 weitere Kranke, 4 Männer 
und 1 Frau, hatten noch tuberkulöse Organbefunde, d. h. 


an Tuberkulose starben. 6,956% 

tuberkulöse Befunde hatten noch. 4,348% 

Demnach Tuberkulose überhaupt.11,304% 

tuberkulosefrei waren. 88,69% 


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Über Tuberkulose m Irrenanstalten 


Die Verteilung auf die einzelnen Altersstufe» «ach Geschlechtern 
zeigt folgende Tafel. 


Tufeer- 


Die Durchsicht der einzelnen Krankengeschichten der an Tuber* 
kujfwe Gestorbenen ergab tuberkulöse erbliche Belastmig nur in'einem 
FäÖ? (beide Elfern und 5 öeschwbierl). Andere Hillsiii-s;« heri für das 
Sntsfebeo der Tubcefailuse waren nicht zu finden. Von 5 Kranken war 
eigens bemerkt, daö sie leräfitg, '/muskulös, gut genährt waren; auch in 
ihrem psychische» Verhalten war keine Abweichung von i^.»w der andern. 
Paralytischen feslzusielJeo. 

Was; die Dauer der TuherkuloSe<n>gohh 0 war dieselbe in i. Falle 
t Jahr vor • Hem/Töäe hei den 

andern hatte die Tuberkulose eich nicht. besondersbemerkt:.»? gemacht. 
2 cier an d uberkidose Gesicvfhöiien, dh: nur 4 bzw- V Mmi.de ln der Anstalt; 
gewesen waren, hatten dieselbe Wcchl schvu enlierhnlhdcr Aast alt erworben, 
über b Jahr* war kein Tuberkulöser in der Af(£laft gewesen. 

• W«g nie- Art :icr Töberliuluse angeht, so ha) len : d - Lungen--, • Darm-, 
DriiSontybe.rkblbSg'y einer Lbfigentuberkuldse und fubefküldse ftipperifell- 
«fttittfidUüg tnit Krgüß.. Jiippeufeari.cs mH .SenliuiF)|gs|j^«eß, ^toßordem 

<ter Dunge» und 0h böi 810®«}^' 

Übe? .dib;:j;-;l^ir»jlylfaeli'?n.' die be) der Sektion noch tuberkulöse 
Organbeiamie Atdgtcbv ist zciAagcdi; Thberkrilcvstr .erbliche Bel^stdug war 
io keinem FäUe angegeben'; 1 Kranker wurde bei der Aufnahme als 
„schlank amt heieirhheti Eihe j^gc'rtdlifjg' Pjhjalytisehe w'ar seit 

2t. Jahren voiSf^ hdn.es, bracher kein Wort mehr hera us, litt an schwerem 


Go gle 










456 


Lö w, 


Druckbrande des Rückens, der Ellbogen, der Fingergelenke und der 
Fersen. Bei 1 Kranken war 9 Monate vor dem Tode eine Quecksilber- 
Tuberkulinkur gemacht worden. Die 5 Kranken starben bis auf einen 
Fall, der an Lungengangrän zugrunde ging, an Marasmus. Die Tuber¬ 
kulose, war in keinem Falle so stark, daß sie als Todesursache in Frage 
käme. Die Befunde waren im einzelnen: leichte Lungentuberkulose 2mal, 
Drüsentuberkulose lmal, leichte Darmtuberkulose lmal, alte tuberkulöse 
Spitzennarben lmal. 

102 Paralytische, 77 Männer und 25 Frauen-, waren frei von jeder 
Tuberkulose. 94 starben an paralytischem Marasmus oder Anfällen. 
Von den übrigen starben 2 an Lungengangrän, 1 an eitriger Rippenfell¬ 
entzündung mit Erguß, 1 an Blutung bei Magengeschwür, 2 an Typhus 
abdominalis, eine an Colitis diphtherica, 1 an Sepsis. 

Was die Dauer des Anstaltsaufenthaltes angeht, so waren im ganzen 
nur 7, und zwar nur Tuberkulosefreie über 5 Jahre, in der Anstalts¬ 
pflege. 

Eine Kurve, welche die schwer Tuberkulösen den leicht Tuberkulösen 
bzw. den Tuberkulosefreien gegenüberstellt, ergibt folgendes Bild. 

ZusammenfasBung: Bei einem 
Material von 115 Paralytischen betrug 
die Tuberkulosesterblichkeit 6,9%, leichte 
tuberkulöse Veränderungen als Neben¬ 
befund fanden sich in 4,34%. — Lungen- 
und Darmtuberkulose herrschten vor. 
Erbliche tuberkulöse Belastung fand 
sich nur lmal. Besondere Umstände, 
die mit dem Entstehen der Tuberkulose 
in Zusammenhang gebracht werden 
könnten, fanden sich bei den an Tuber¬ 
kulose Gestorbenen nicht. 

Ganter fand bei 299 Fällen eine Tuber¬ 
kulosesterblichkeit von 7,3 %, d. h. ungefähr 
das Gleiche wie bei uns, auf Ausheilung 
hindeutende Befunde in 4 %, wieder wie bei 
uns. Käs fand derartiges unter 830 Sek- 
tionen 126mal = 15,2 %. Ganter meint be? 

X TÄKSC trelTe ” d «« Tuberkulose: „Am günstigsten 
1 u. Tuberkulosetreie kommt die Paralyse weg. Brehm be¬ 
rechnet 6,3%, Heilbronner allerdings 
13,3%. Wir können aber der Ansicht Heilbronners , daß die Para¬ 
lyse zur Tuberkulose disponiere, nicht beistimmen.“ Dieser Ansicht 
Ganters können wir uns nur anschließen. H. Banse und H. Roderburg 


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3 

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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 









über Tuberkulose in Irrenanstalten. 


457 


geben bei 197 Paralysen 8,24% Tuberkulosesterblichkeit an. Von diesen 
Autoren wird die Ansicht ausgesprochen, daß die Paralyse der Tuber¬ 
kulose Vorschub leiste, da unter normalen Umständen die Aussicht der 
Paralytiker, im Alter von 30—40 Jahren an Tuberkulose zu sterben, 
auf Cornets Berechnungen bezogen, etwa 1,3—2,2% betragen müßte. 
Junius und Arndt geben 6,54% an. Witte (nicht veröffentlicht!) fand in 
Grafenberg bei 312 Paralysen 23 Tuberkulosetodesfälle, d. h. 7,37%. 
Kurzum, alle diese Autoren fanden, ausgenommen Heilbronner, kaum 
verschiedene Resultate. Dagegen findet Lucacs bei seinen Fällen in 58% 
tuberkulöse Veränderungen. Allerdings nimmt auch er jeden Fall ad¬ 
häsiver Pleuritis als tuberkulös an. Pilcz fand bei 896 Paralytikern eine 
Tuberkulosesterblichkeit von 10,38%, während sie bei andern Geistes¬ 
kranken der gleichen Altersstufen 25,9 % betrug; ausgeheilte Tuberkulose 
bei Paralyse in 7,39% gegen 1,79 % bei andern Geisteskranken. Kurzum, 
die Tuberkulose scheint bei der Paralyse seltener zu sein wie bei andern 
Geisteskrankheiten. 


In dem Zeitraum, der für diese Arbeit berücksichtigt wurde, 
starben 25 Kranke der manisch-depressiven Gruppe. Bei der 
Krankheitsbezeichnung: „Manisch-depressives Irresein“ wurde be¬ 
sonders vorsichtig verfahren, damit nicht Fälle unterliefen, die unter 
andere Krankheitsgruppen, zumal die Dementia praecox, gebracht 
werden mußten. Dies dürfte schon in der geringen Anzahl dex 
„Manisch-depressiven“ zum Ausdruck kommen. 

Von den 25 Kranken, 12 Männern und 13 Frauen, starben an 
Tuberkulose 8, und zwar 5 Männer und 3 Frauen, also 32%, Schröder 
fand in Lauenburg nur 10%. 

Die folgende Tafel gibt die Verteilung der Kranken nach Geschlech¬ 
tern auf die einzelnen Altersstufen. 


Altersstufen 

Tuberkulose 

Ohne Tuberkulose 

Gesamt Sa. 

cf 

1 $ 

Sa. 

cf 

$ 

Sa. 


36—40 

• 

• 

• 

1 

2 

3 

3 

41—45 


• 

• 

1 

i 

2 

2 

46—50 

1 

1 

2 

• 

3 

3 

5 

öl—55 

• 

• 

• 

1 

1 

2 

2 

56—60 

• 

1 

i 

1 

2 

3 

4 

61—65 

2 

• 

2 

1 

• 

1 

3 

66—70 

2 

• 

2 

2 

• 

2 

4 

71—75 

• 

i 

• 

• 

. I 

• 

• 

• 

76—80 

« 

1 

1 

• 

1 

1 

2 


5 

3 

8 

7 

10 

17 

25 


Zeitschrift fttr Psychiatrie. LXXITI. 5 . 32 


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458 


Lö w, 


Von den 8 Tuberkulösen waren 3 nur ganz kurze Zeit in Anstalts¬ 
pflege: 1, 3, 4 Monate, bei einem weiteren war die Tuberkulose bereits bei 
Aufnahme in die Anstalt wahrscheinlich, so daß 4 der Kranken die Tuber¬ 
kulose wohl sicher außerhalb der Anstalt erworben hatten. Was die 
geistige Erkrankung angeht, so litten 5 Kranke an Melancholie, 2 an 
Manie, bei einem wechselten manische und depressive Zustände. 
Über erbliche tuberkulöse Belastung fand sich nichts. Irgendwelche be¬ 
sondere Umstände, die durch die geistige Krankheit bedingt, mit dem Aus¬ 
bruch der Tuberkulose in Verbindung hätten gebracht werden können, 
fanden sich nur bei einem Melancholischen mit Selbstmordneigung, der 
Nahrung verweigerte, so daß Sonderernährung nötig war. Was die von 
der Tuberkulose ergriffenen Organe angeht, so lag einmal Knochentuber¬ 
kulose vor, und zwar Wirbelkaries mit Senkungsabszeß und Tuberkulose 
der Beckenknochen, lmal Lungen-Drüsentuberkulose, lmal Tuberkulose 
der Lungen, Därme und von Drüsen, lmal Tuberkulose der Lungen, 
des Bauchfells und von Drüsen, lmal Tuberkulose der Lungen, Därme, 
des Bauchfells, der Gebärmutter und Eileiter, 3mal Lungentuberkulose 
allein. 

Irgendwelche tuberkulöse Veränderungen bei den aus anderer Ur¬ 
sache gestorbenen übrigen 17 Kranken der manisch-depressiven 
Gruppe lagen nicht vor. Was deren Anstaltsaufenthalt angeht, so waren 
8 unter 3 Jahren, 2 waren 3—5 Jahre, 7 über 5 Jahre in Anstaltspflege 
gewesen. Bei diesen tuberkulosefreien Kranken war einmal erbliche 
tuberkulöse Belastung angegeben: beide Eltern waren an Tuberkulose 
gestorben. 6 waren nach ihrem psychischen Verhalten so, daß-dieses eine 
Tuberkulose hätte begünstigen können. Die Todesursachen der nicht 
tuberkulösen Manisch-depressiven waren: 


1. Herztod. 4 

2. Lungenkrankheiten . 6 

3. Sepsis. 2 

4. Retropharyngealabszeß. 1 

5. Marasmus . 1 

6. Typhus abdominalis. 1 

7. Karzinom. 2 


17 

Zusammenfassung: Der Prozentsatz der Tuberkulose bei den 
Manisch-depressiven war sehr hoch: 32%; indessen rechtfertigt 
das geringe Material keine weitgehenden Schlüsse. Die Hälfte der 
Kranken hatte die Tuberkulose wohl schon vor der Auf¬ 
nahme in Anstaltspflege erworben. Die Tuberkulose verlief 
jedesmal so schwer, daß sie Todesursache war. Dies kommt auch in 
der großen Zahl der befallenen Organe zum Ausdruck, bei denen 


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Uber Tuberkulose in Irrenanstalten. 


459 


wieder Lungen und Därme im Vordergrund standen. Nur einmal 
waren durch das Verhalten des Kranken die Tuberkulose begünsti¬ 
genden Momente vorhanden; bei den nicht Tuberkulösen fanden sich 
indessen auch solche in 6 von 17 Fällen. 

Wenden wir uns nun zu einer andern Krankheitsgruppe, zur 
Dementia senilis. Von ihr starben in der Berichtszeit 120 Kranke, 
62 Männer und 58 Frauen. Unter ihnen waren 12 Tuberkulöse. Bei 
10 Kranken lag schwere Tuberkulose vor, bei 2 leichte. 


Den Anteil der Geschlechter zeigt folgende Zusammenstellung: 


Geschlecht 

schwere 

Tuberkul. 

leichte 

Tuberkul. 

Tuberku¬ 

losefrei 

Gesamt 

Sa. 

Männer. 

7 

1 

64 

62 

Frauen . 

3 

1 

64 

■« 

68 

Insgesamt. 

10 

2 

108 

120 


Der Prozentsatz an Tuberkulose überhaupt ist also 10, an schwerer, 
tötlicher Tuberkulose 8,3. Von den schwer Tuberkulösen hatten einen 
Anstaltsaufenthalt unter 3 Jahren 5, 3—5 Jahre 4, über 5 Jahre 1. Be¬ 
sondere Erscheinungen hatte die Tuberkulose im allgemeinen nicht ge¬ 
macht, sie war durch das allgemeine Bild der Gebrechlichkeit verschleiert 
worden. Was die Art der Tuberkulose angeht, so lag 8mal Lungentuber¬ 
kulose allein vor, 2mal Miliartuberkulose der Lungen und zwar lmal mit 
Beteiligung der Milz und des Bauchfells, lmal mit Beteiligung von Drüsen, 
lmal bestand Lungentuberkulose und tuberkulös^ Brustfellentzündung 
mit Erguß, Darm- und Drüsentuberkulose, lmal Lungen- und Darm¬ 
tuberkulose. Die Tuberkulose war 9mal als unmittelbare Todesursache 
aufzufassen, lmal war diese Colitis diphtherica. In 2 Fällen war der bei 
der Leichenöffnung gefundene tuberkulöse Prozeß als leicht zu bezeichnen: 
bei einem 63jährigen Manne, der an Bronchopneumonie starb, fand sich 
eine leichte Lungentuberkulose, bei einer 76jährigen Frau, die an Maras¬ 
mus starb, Drüsentuberkulose und ein tuberkulöses Geschwür im lleum. 
Beide waren über 5 Jahre in Anstaltspflege gewesen. 

Über die nicht tuberkulösen Senilen ist kurz folgendes zu sagen. 
Die meisten starben an Altersmarasmus bzw. der Arteriosklerose oder 
ihren Folgen. Erwähnenswert ist nur folgendes. 6 starben an Karzinom, 
und zwar 4 an Karzinom des Magens — 3 Frauen und 1 Mann —; 1 Frau 
an Nierenkarzinom und 1 Frau an Uteruskarzinom. An eingeklemmtem 
Bruch starb 1 Kranker, an Darmverschlingung 1, an Colitis diphtherica 4, 
an Gesichtsrose 1, an Pyelonephritis 1. Nicht unerwähnt darf bleiben, 
daß sich bei 2 Kranken alte, sicher tuberkulöse Lungenspitzennarben 
fanden, also abgeheilte Tuberkulose. 

32* 


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UMIVERS1TY OF MICHIGAN 






460 


Löw, 


Zusammenfassung: Bei unseren Senilen spielt die Tuber¬ 
kulose eine recht geringe Rolle, da nur 10% der Gestorbenen tuber¬ 
kulös waren, und zwar nur 8,3% so schwer, daß Tuberkulose Todes¬ 
ursache war. Ganter gibt die Tuberkulose gleichfalls mit 8,3% an, 
M. Schröder findet 10% Tuberkulosesterblichkeit. — Klinisch hatte 
die Tuberkulose im allgemeinen Bilde des Marasmus keine auffällige 
Erscheinungen gemacht. Lungentuberkulose herrschte auch hier vor, 
während die Darmtuberkulose im Vergleich zu den andern Krank¬ 
heitsgruppen bedeutend zurücktrat. Bemerkenswert ist, daß gerade 
die meisten tuberkulösen Kranken nur kurze Zeit in Anstaltspflege 
gewesen waren. Der Anstaltsaufenthalt war: 3 Tage, 7 Monate je 
lmal, 1 Jahr 3mal, 4 Jahre 4mal, 12 Jahre, 13 Jahre, 16 Jahre je 
lmal. Was das Lebensalter der Tuberkulösen angeht, so starben in 
den Altersstufen: 


61—65 

66—70 

71—75 

76—80 

81—85 


5 Kranke 


12 Kranke. 


Der Rest der Tuberkulösen, die in der Berichtszeit starben, gehört 
Gruppen von Geisteskranken an, die nur wenig Kranke umfaßten. 
Es soll nur ganz kurz das Wesentlichste berichtet werden. 

Es handelt sich zunächst um angeborenen Schwachsinn. 


1) Schwere Tuberkulose. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstal ts- 
anfenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usf. 

Leichen¬ 

befund 

1 

? 

1 

44 

Jahre 

! 

j 

4 Monate 

j 

0 

Als Kind „Drüsen“. 
12 Schwanger¬ 
schaften in 20 
Jahren. Bei Auf¬ 
nahme sehr herun¬ 
ter, unrein, afi 
schlecht 

Lungen- 

Darm- 

Drfisentnber- 

knlose 


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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten. 


461 


2) Leichte Tuberkulose. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usf. 

Leichen¬ 

befund 

i 

S 

i 

64 

Jahre 

Jahre 

0 

1 


Leichte 
Lungentuber¬ 
kulose u. 
Drüsentuber¬ 
kulose 

2 

1 

<j 

42 

Jahre 

4 Jahre 

0 

Muß körperlich ge¬ 
regelt werden 

Leichte 

Lungentuber¬ 

kulose 


3) Tuberkulosefreie. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

> 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

1 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usw. 

Leichen¬ 
befund bezw. 
Todesursache. 

1 

<? 

28 

Jahre 

8 Jahre 

0 

— 

Typhus 

abdominalis 

2 

<* 

43 

Jahre 

12 Jahre 

0 

— 

Marasmus 

3 

? 

20 

Jahre 

2 Monate 

0 

Als Kind Rhachitis. 
Mit 10 Jahren 3 
Monate krank (Ty¬ 
phus!) In Anstalt 
Nahrungsver¬ 
weigerung 

Pleuritis 


Von 6 Schwachsinnigen waren also 3 tuberkulös, 1 Kranke starb 
an der Tuberkulose. Bei unseren paar Fällen kann man natürlich 
keinerlei Schlüsse ziehen. 

In der Literatur findet man meist die Angabe, daß bei angeborenem 
Schwachsinn Tuberkulose häufig sei, so bei Weygandt. Ganter findet 28 % 
Tuberkulosesterblichkeit bei Imbezillität. Wulff sogar 40%. Bolte nimmt 
an, daß die hereditäre Tuberkulose eine bedeutsame Rolle in der Ätiologie 
der Idioten spiele. Schott konnte in der Vorgeschichte von 942 Schwach¬ 
sinnigen Tuberkulose neben andern ätiologischen Momenten 
116mal, d. i. in 12,3%, als allein ursächliches Moment nur 25mal 
(2,6%) nachweisen (bei Weygandt\). 

Weiterhin fand sich Tuberkulose in folgenden Gruppen: 


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462 


Löw, 


Präseniles Irresein. 

1) Tuberkulose (schwere!). 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usw. 

Leichen¬ 

befund 

1 

3 

42 

i 

2 Jahre 

0 

. 

I 

Miliartuber¬ 
kulose d. 
Lungen m. 
Knötchenaus¬ 
saat ins Peri¬ 
toneum und 
Mesenterium 


2) Tuberkulosefreie. 


Nr. 

Ge- 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usw. 

Leichen¬ 
befund bzw. 
Todesursache 

1 

3 

42 

Jahre 

unter 

5 Jahren 

0 

j 

— 

Marasmus 

2 

$ 

66 

Jahre 

99 

0 i 

— 

Colitis 

diphterica 

3 

3 

52 

Jahre 

99 

0 

— 

Pneumonie 


Amentia. 


1) Tuberkulose (schwere!). 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usw. 

Leichen¬ 
befund bezw. 
Todesursache 

1 

? 

25 

Jahre 

1 Monat 

0 


Lungen- 

Darm- 

Drüsentuber¬ 

kulose 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Uber Tuberkulose in Irrenanstalten. 


463 


2) Tuberkulosefreie. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

1 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tnberkulose usw. 

Leichen¬ 
befund bezw. 
Todesursache 

1 

? 

41 

Jahre 

8 Tage 

° 

— 

Pneumonie 

2 

? 

34 

Jahre 

unter 

6 Jahren 

0 

— 

Pyelone¬ 

phritis 

3 

$ 

44 

Jahre 

ft 

0 

— 

Herz¬ 

schwäche 

4 

$ 

37 

Jahre 

ft 

0 

— 

Pyämie 


Erregung bei tuberkulöser Basilarmeningitis. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usw. 

Leichen¬ 

befund 

1 


20 

Jahre 

2 Tage 

0 


Meningitis 
basilaris tbc. 
Schwere 
Lungen- 
Darmtuber- 
kulose 


Huntingtonsche Chorea. 
1) Leichte Tuberkulose. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usw. 

Leichen¬ 

befund 

1 

? 

46 

Jahre 

1 Jahr 

0 


'Leichte 

Lungentuber¬ 

kulose 

Marasmus 


2) Tuberkulosefreie. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Tub. Be¬ 
lastung 

Hilfsmomente für 
Tuberkulose usw. 

Leichen¬ 
befund bezw. 
Todesursache 

1 

c? 

44 

Jahre 

über 

6 Jahre 

0 

— 

Marasmus 

2 

$ 

67 

Jahre 

unter 

6 Jahren 

0 


Colitis 

diphterica 


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464 


Löw , 


Der Vollständigkeit halber und weil es für die noch folgenden 
Ausführungen von Wichtigkeit ist, müssen noch die andern Kranken, 
die in der Berichtszeit starben, mit Geschlecht, Alter, Anstaltsaufent¬ 
halt und Todesursache angeführt, werden, obwohl sie alle keinerlei 
Tuberkulose hatten. Es waren folgende: 


Hirngeschwülste und ähnliches. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Krankheitsbezeichnung 

Todesursache 

1 

3 

31 J. 

unter & J. 

Tumor cerebri 


2 

3 

33 „ 

tt r* tt 

TT TT 


3 

6 

39 „ 

v tt n 

TT TT 

Tumortod 

4 

<J 

46 „ 

tt tt tt 

TT TT 


6 

$ 

46 ff 

tt tt » 

TT TT 


6 

3 

1 58 „ 

» TT TT 

Tumor hypophysis 



Zusammen 6 Hirn- usw. geschwülste, 5 Männer und 1 Frau. 


Alkoholische Geistesstörungen. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Krankheitsbezeichnung 

Todesursache 

1 

3 

37 J. 

unter 5 J. 

Alkohol. Geistesstörung 

Leberzirrhose 

2 

3 

48 * 

t* r r 

Korsakow 

Typhus abdominalis 

3 

3 

49 „ 

V TT n 

TT 

HerzlEhmung 

4 

3 

54 „ 

über ..„ 

Alkohol. Geistesstörung 

Marasmus 

5 

3 

65 „ 

TT TT TT 

Säuferhalluzinose 

Apoplexie 


Zusammen 5 Männer. 


Paranoia chronica. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Krankheitsbezeichnung 

Todesursache 

1 

3 

58 J. 

& Jahre 

Paranoia chronica 

Colitis diphterica 

2 

3 

68 J. 

über 5 J. 

TT TJ 

Marasmns 

3 

? 

79 J. 

TT TT TT 

TT TT 

Marasmus 


Zusammen 3 Paranoiakranke, 2 Mäuner und 1 Frau. 


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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten. 


465 


Degeneratives Irresein. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

Alter 

• 

Anstalts- 

anfenthalt 

Krankheitsbezeichnung 

Todesursache 

1 

cJ 

43 J. 

Ober 5 J. 

Degeneratives Irresein 

Marasmus 

2 

c? 

41 * 

unter 5 „ 

r 

Colitis diphterica 


Zusammen 2 Männer. 


Verschiedenes. 


Nr. 

Ge¬ 

schlecht 

! 

Alter 

; 

Anstalts¬ 

aufenthalt 

Krankheitsbezeichnung 

Todesursache 

1 

$ 

! 32 J. 

unter 5 J. 

Verwirrtheitszustand 

| Leptomeningitis pu- 
rulenta basilaris 

2 

? 

46 „ 

w ft r> 

Verwirrtheit bei Ca 

Ca Kachexie 

3 

| $ 

46 „ 

n n n 

Halluzinose 

Nephritis 

4 

3 

i 46 „ 

über „ „ 

HaUuzinose m. Demenz 

Cholämie 

5 

3 

47 - 

ft rt ft 

Chron. Paralyse des 
Gehirns 

Colitis diphterica 

6 

? 

j 

57 * 

unter „ „ 

Geistesstörung bei 
Urämie 

Urämie ' 

7 

$ 

64 „ 

1 

r ff ff 

Geistesstörung bei 
Chorea acuta 

Endocarditis 

8 

3 ; 

53 „ 

über r „ 

Demenz 

Herzlähmung 

9 

j 

i 

* 

0 l 

60 „ 

1 ft ff ff 

Psychose. Organischer 
Gehimbefund 

Bronchopneumie bei 
Marasmus 


Zusammen 9 Kranke, 4 Männer und 5 Frauen. 

Die kleineren Gruppen umfassen also 44 Kranke, 28 Männer und 
16 Frauen. Davon waren 7 tuberkulös. Schwere Tuberkulose hatten 
4 = 9,08%, leicht Tuberkulose 3 = 6,8%. 

Allgemeine Zusammenfassung. 

In der Zeit, die für diese Arbeit berücksichtigt wurde — Herbst 
1911 bis Frühjahr 1916 —, starben im ganzen 536 Kranke, 328 Männer 
imd 208 Frauen, bei denen durch die Leichenöffnung der Organbefund 
genau festgestellt wurde. Von ihnen waren 132 an Tuberkulose ge¬ 
storben, und zwar 82 Männer und 50 Frauen, d. s. im ganzen 25% 
Männer und 24,03% Frauen. Zum Vergleich folgt die Tafel Ganters. 


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Original fro-m 

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466 


Löw, 


Antor 

Anstalt 

j 

Zehranm 

i % der an Tnberkulose 
Gestorbenen 

Ganter 

Saargemünd 

1880-1904 

19,8 (16,4 M., 24,4 Fr.) 

Geist 

Zschadrass 1 

1894-1903 

10,5 ( 7,4 M., 13,6 Fr.) 

Oßwald 

Hofheim 

1877-1891 

25,1 (26,1 M., 23,9 Fr.) 

- 

Heppenheim , 

9 

22,4 (16,9 M., 28,2 Fr.) 


Gießen 

1896-1906 

6,6 ( 6,2 M m 7,1 Fr.) 

Zinn 

Eberswalde 

1877-1892 

15,6 (10,5 M., 24.8 Fr.) 

Heimann 

' d. prenß. Irren¬ 
anstalten 

1876-1897 

16,6 (14,4 JL, 20,4 Fr.) 

Löw 

Bedburg/Hau 

1911-1916 ! 

24,69 (24,6 M-, 24,6 Fr.) 


Auffallend ist, daß die Frauen anscheinend häufiger an Tuber¬ 
kulose leiden wie die Männer. Bei uns war das Verhältnis der Ge¬ 
schlechter zueinander ungefähr das gleiche. 

Im folgenden soll nebeneinandergestellt werden, wie der Prozent¬ 
satz der Sterblichkeit bei den einzelnen Krankheiten von verschiedenen 
Autoren angegeben wird. 


Dementia praecox: Schröder (Lauenburg). 67 % 

Löw (Bedburg-Hau). 50,6 % 

Ganter (Saargemünd).... 45 % 

Epilepsie: Löw( Bedburg-Hau). 27,18% 

Ganter (Saargemünd). 21,8 % 

Köhler (Hubertusburg). 16,7 % 

Habermaas (Stetten). 10,0 % 

Hahn (Hoch weit zehen). 8,6 % 

Paralyse: Heilbronner . 18,3 % 

Pilcz . 10,38% 

Banse und H. Roderburg (Lauenburg). 8,24% 

Witte (Grafenberg). 7,3 % 

Ganter (Saargemünd). 7,3 % 

Löw (Bedburg-Hau). 6,9 % 

Junius und Arndt . 6,54 % 

Brehm . 6,3 % 

Man.-depr. Irresein: Löw (Bedburg-Hau). 32,0 % 

Schröder (Lauenburg). 10,0 % 

Dementia senilis: Schröder (Lauenburg). 12,0 % 

Ganter (Saargemünd). 8,3 % 

Löw (Bedburg-Hau). 8,3 % 


Aus diesen Zusammenstellungen geht folgendes hervor: 


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Original fro-m 

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Über Toberkaios* iß Irrenanstalten. 467 

Über die Häufigkeit ^ bei der Heinenlia praecox 

herrscht EmtinünigkeiR ehe»«# Über .das. verhölthfeffl^ß^ geringe 
Auftreten iler Tuberkulose bei Paralyse* abgesehen von Heü- 
Immer uit4 IHkz: äaeh bet der Deinen tia senilts -spick dir Tuber¬ 
kulöse kemeailzu große Rolle. Anders bei der Epilepsie, Hier 
schwanken die Zahlen zwischen £?J,8% und bJS%. lum Teil mag eg 
an derYcrschiedengroßen Zähl der berüeksbdttig^fcen F&Ue3ie|eil Für 
das manisch-depressive Irresein dürfte das Material t wenigstens 
für Bedliürg*-Äaü, zu gering sein, so daß der Zufall ein» allzu große 
Rolle spielen kann. 1 ’■ 

Nun geben alle diese Zahlen nur die direkte Sterblichkeit. an 
Tuberkulose an.: Bie wahre Rolle der Tuberkulöse erkennt man erst, 
wenn man narHfurscht, wie viele Kpmfcit' an so schwerer Tuberkulose 
gelitten hatten, daß sie, auch falls «fe aselit. vorher an artdbTo.:Krank- 
heiten gestorlwat wären, derselben aller Voraussicht nach zum Opfer 
gefallen' - Bieae .-Taberhulose wurde in Infgendef ^fel als 

„schwere'' bezeichnet-, ihr wurde als „leichte Tuberkulose ' 
solche gegcnübergesrellt. die aller Voraussicht nach hätte äusheflea 
oder doch ^ httte beschränkt bleiben könne».V Auf <%§» Weise 
ändern sich die Verhältnisse noch gana wesentlich. ■ '•*.•. 


Bassöerhajtenp Ergebnis für Bedbürg-Tiau üf auf folgender 
Tafel iusaiftmcMigcstcl»-, 




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468 


Löw, 


Es wurden dann die Durchschnittsalter aller Kranken einer Gruppe, 
sowie jedesmal das Durchschnittsalter der schwer Tuberkulösen berech¬ 
net. Das Ergebnis war folgendes: 


Geisteskrankheit 

Gesamtdnrchschn. Alter 

Dnrchschn. Alter d. 
schwer Tuberkniösen 

Dementia praecox 

46,4 (Ganter 46,66) J. 

40,6 Jahre 

Epilepsie 

40,8 ( „ 

41,3 ) J. 

37,8 

r> 

Man. depr. Irresein 

66,8 

J. 

61 

r 

Paralyse 

44,8 ( „ 

45,6 ) J. 

41,76 

r> 

Dementia senüis 

71,5 ( „ 

67,06) J. 

68,9 

ff 

Rest 

46,6 

J. 

32,7 

ff 


Von großer Bedeutung ist auch die Frage, ob die Kranken die 
Tuberkulose in der Anstalt oder schon vor Eintritt in dieselbe er¬ 
worben haben. Dies, wie manche Autoren es machen, mit der Dauer 
des Anstaltaufenthaltes in Zusammenhang zu bringen, scheint mir 
nicht angängig (s. S. 446). Übrigens ist von Manchen darauf auf¬ 
merksam gemacht worden, daß sehr häufig die Zeit der tuberkulösen 
Ansteckung schon vor dem Eintritt in die Anstalt liegt. 

Wie erwähnt, berichtet dieses Ganter und Oßwald. Werner führt 
hierüber folgendes aus: „Über Tuberkulose bemerkt Eberswalde, daß bei 
weitem die Mehrzahl der an dieser Krankheit (Tuberkulose!) sterbenden 
Patienten schon infiziert eingeliefert wird, wie auch die an andern An¬ 
stalten durchgeführte Untersuchung mit der Pirjuetechen Reaktion be¬ 
weist.“ Deventer und Benders haben ebenfalls in dieser Richtung nach¬ 
geforscht, konnten allerdings nur in 16,33 % Tuberkulose bei der Aufnahme 
feststellen (bei 349 an Tuberkulose Gestorbenen in 57 Fällen). 

Weiterhin ist folgendes Allgemeine über die Ergebnisse des Nach- 
forschens über die Tuberkulose bei uns zu sagen. Dieselbe trat in der 
überwiegenden Mehrzahl der Fälle in schwerster Form auf. Während 
26,49% an „schwerer Tuberkulose“ gelitten hatten, hatten nur 4,1% « 

„leichte Tuberkulose“. Dem entsprach auch die große Anzahl der 
tuberkulösen Organe, wobei Lungen, Därme, Drüsen am häufigsten 
befallen waren. 

Das Nachforschen nach Umständen, die für den späteren Ausbruch 
der Tuberkulose hätten verantwortlich gemacht werden können, ergab 
sehr wenig Anhaltspunkte, wie im einzelnen bei der Besprechung der 
Tuberkulose bei den verschiedenen Geisteskrankheiten genau ausge¬ 
führt wurde. Auffällig ist, daß bei den 164 Tuberkulösen nur bei 


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Uber Tuberkulose in Irrenanstalten. 


469 


11 Kranken erbliche tuberkulöse Belastung verzeichnet war (doch 
siehe das darüber Gesagte S. 447!). 

Woher kommt nun die Häufigkeit der Tuberkulose bei den Geistes¬ 
kranken? Sie kann einmal an den Verhältnissen der Irrenanstalt 
liegen. Kraepelin erwähnt in diesem Zusammenhänge das kasemen- 
hafte Leben, die bestehende Überfüllung, die ausgiebige Gelegenheit 
zur Ansteckung neben andern Umständen. Weygandt betont ganz 
besonders die Verhältnisse in alten Irrenanstalten. 

In diesem Zusammenhänge dürften die folgenden Feststellungen 
von Interesse sein. Der Anstalt Bedburg-Hau wurden, als sie 
eröffnet wurde, von den übrigen rheinischen Anstalten, die zum Teil 
überfüllt waren, sehr viele Kranke zugeführt, die dort schon längere 
Zeit verpflegt worden waren. Es war nun wichtig, nachzusehen, ob die 
Tuberkulose bei den Kranken, die bereits in „alten“ Anstalten ge¬ 
wesen waren, häufiger war wie bei denen, die nur. hier in der neuen 
Anstalt gewesen waren. Es fand sich folgendes: 

Dementia praecox. 

Von 32 Kranken, die nur in Von 134 Kranken, die vorher 

Bedburg-Hau waren, waren noch in „alten“ Anstalten waren, 

waren 

tuberkulös . 21 = 65,62% tuberkulös. 78 = 58,20% 

tuberkulosefrei.. 11 = 34,37% tuberkulosefrei.. 56 = 41,79% 

Epilepsie. 

Von 10 Kranken, die nur in Von 56 Kranken, die vorher 

Bedburg-Hau waren, waren noch in „alten“ Anstalten waren, 

| waren 

tuberkulös. 5 = 50% tuberkulös. 20 = 35,70% 

tuberkulosefrei. 5 = 50% tuberkulosefrei.. 36 = 64,26% 

Paralyse. 

Von 77 Kranken, die nur in Von 38 Kranken, die vorher 

Bedburg-Hau waren, waren noch in „alten“ Anstalten waren, 

waren 

tuberkulös. 10 = 12,9 % tuberkulös. 3= 7,89% 

tuberkulosefrei.. 67 = 86,4 % tuberkulöse frei.. 35 = 92,05% 

Manisch-depressives Irresein. 

Von 13 Kranken, die nur in | Von 12 Kranken, die vorher 
Bedburg-Hau waren, waren j noch in „alten“ Anstalten waren, 

j waren 

tuberkulös. 4 = 30,76% ! tuberkulös. 4 = 33,32% 

tuberkulosefrei.. 9 = 69,21% tuberkulosefrei.. 8 = 66,64% 

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470 


Lö w. 


Dementia 

Von 78 Kranken, die nur in 
Bedburg-Hau waren, waren 

tuberkulös. 5 = 6,41 % 

tuberkulosefrei.. 73 = 93,58 % 


senilis. 

Von 42 Kranken, die vorher 
noch in „alten“ Anstalten waren, 
waren 

tuberkulös. 7 = 16,66% 

tuberkulosefrei.. 35 = 83,50 % 


Rest. 


Von 29 Kranken, die nur in 
Bedburg-Hau waren, waren 

tuberkulös. 5 = 17,24% 

tuberkulosefrei.. 24 = 82,75 % 


Von 15 Kranken, die vorher 
noch in „alten“ Anstalten waren, 
waren 

tuberkulös. 2 = 13,33% 

tuberkulosefrei.. 13 = 86,65 % 


Das Gesamtergebnis ist: 
von den 239 Kranken, die nur in Bedburg- 

Hau waren, waren. 50 tuberkulös = 20,9%, 

von den 297 Kranken, die noch in „alten“ 

Anstalten waren, waren. 114 tuberkulös = 38,3%. 

In der Tat überwiegt prozentualiter also die Tuberkulose bei den 
Kranken, die vorher in den „alten“ überfüllten Anstalten gewesen 
waren. Dies kann uns aber, da wir ja wissen, daß Umstande wie 
enges Zusammenleben usf. die Verbreitung der Tuberkulose fördern, 
ja auch nicht besonders wundern. Andererseits ist aber doch auf¬ 
fallend, daß der Tuberkuloseprozentsatz der Kranken, die nur in 
der neuen Anstalt Bedburg-Hau gewesen waren, die in hygienischer 
Beziehung, besonders auch was Belegzahl für die fragliche Zeit an¬ 
geht, die denkbar günstigsten Verhältnisse bietet, ebenfalls so auf¬ 
fallend hoch ist. Die Ursache für diese Tatsache kann aber 
nur bei den Geisteskranken selbst liegen. Es erscheint nicht 
ausgeschlossen, daß der Geisteskranke an sich viel mehr zur Tuberkulose 
neigt, womit sich ja auch der Umstand gut vereinigen ließe, daß doch 
wohl viele Kranke schon außerhalb der Anstalt tuberkulös geworden 
sind. Man kann sich ja ganz gut denken, daß Geisteskranke auch in 
körperlicher Hinsicht minderwertiger sind wie Geistesgesunde. 

In diesem Zusammenhänge dürfte folgendes aus einem Bericht von 
englischen Irrenanstalten vom Jahre 1906, das von Pandy berichtet wird, 
von Interesse sein: „So sterben in England außerhalb der Anstalt an 
Herzfehler auf 1000 Einwohner im Durchschnitt 2, von den Kranken in 
den Irrenanstalten 9 und 11, an Pneumonie stirbt von 1000 Männern 


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Über Tuberkulose in Irrenanstalten. 


471 


im Durchschnitt 1, von Geisteskranken in den Anstalten 7. An Lungen¬ 
schwindsucht sterben in England von 1000 Männern 2, von 1000 Frauen 
1,3, in den Irrenanstalten 16 bzw. 14. Auffallend groß ist der Unter¬ 
schied auch in der Mortalität der Nierenkranken. Draußen sterben an 

Nierenkrankheit von 1000 0,49, Geisteskranke in den Anstalten 4. 

Jedenfalls beweisen diese Zahlen, daß die Geisteskranken nicht nur mit 
krankem Gehirn, sondern zugleich mit kranken Herzen und Nieren in die 
Anstalten gelangen.“ M. Goldberger fand bei 825 Kranken der Buda- 
pester Klinik, bei denen die Vorgeschichte genau zu erforschen war, bei 
28 % Lungenschwindsucht als familiär belastendes Moment, bei 15,63 
war Lungenschwindsucht und Geisteskrankheit von Aszendenten vor¬ 
handen. Auch Mohr scheint der Ansicht zu sein, daß die erbliche tuber¬ 
kulöse Belastung eine ziemlich häufige bei Geisteskranken sei. Daß bei 
uns diese so wenig angegeben war, spricht nicht gegen ihr Vorhandensein, 
wie schon ausgeführt wurde. Shaw kommt auf Grund seiner vergleichen¬ 
den Untersuchungen über den tuberkulo-opsoninischen Index bei geistig 
Gesunden und Geisteskranken unter anderem zu dem Resultat, daß 
letztere eher der tuberkulösen Infektion ausgesetzt sind. Jedoch scheint 
ihm nach seinen Befunden der Aufenthalt in der Anstalt 
nicht besonders zur Erkrankung an Tuberkulose zu dis¬ 
ponieren. 

Auffällig ist nun, daß immer bestimmte Gruppen von Geistes¬ 
kranken besonders häufig an Tuberkulose leiden. So herrscht wohl 
Einstimmigkeit über das häufige Auftreten derselben bei der De¬ 
mentia praecox, während doch alle Kranken unter denselben Be¬ 
dingungen des Anstaltslebens stehen. Dieser Umstand ist so bemer¬ 
kenswert, daß genauer auf ihn eingegangen werden muß. Man kann 
nun sagen: Die Dementia praecox-Gruppe ist eben die häufigste Krank¬ 
heitsgruppe unter unseren Anstaltsinsassen. Wie verhält es sich 
damit bei uns? Darüber gibt folgende Aufstellung Aufschluß, die 
zeigt, wieviel Prozent aller Gestorbenen den einzelnen Krankheits¬ 


gruppen angehören: 

Dementia praecox. 30,97% 

Epilepsie. 12,31% 

Paralyse. 21,45% 

Manisch-depressives Irresein. 4,66% 

Dementia senilis. 22,38% 

Rest. 8,2 %. 


In der Tat überwiegen also prozentualiter die Dementia prae¬ 
cox-Kranken. Da die Epileptiker, Manisch-depressiven und der Rest 


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472 


Lö w, 


an Zahl gegen die Dementia praecox-Kranken bei uns erheblich zurück* 
treten, kann hier der Zufall eine größere Rolle spielen, was das Auf¬ 
treten der Tuberkulose angeht. Es müssen deshalb hier zum Vergleich 
Arbeiten mit einem größeren Material dieser Krankheitsgruppen 
herangezogen werden. Für die Epilepsie sei Hahn erwähnt, der bei 
544 gestorbenen Epileptikern nur 8,6% Tuberkulosesterblichkeit findet. 
„Spuren“ von Tuberkulose fand er allerdings noch in 34,3%, es han¬ 
delte sich aber um ausgeheilte Tuberkulose oder solche, die allem 
Anschein nach zur Heilung neigte. Habermaas fand bei 166 Todes¬ 
fällen bei Epilepsie 10% Tuberkulosesterblichkeit, Ammann findet bei 
einem Material von 2159 Todesfällen von Epileptikern die Lungen¬ 
tuberkulose selten. Ganter, der 21,8% Tuberkulosetodesfälle fand, 
hatte auch ein zu geringes Material, nur 19 Fälle! Literaturangaben 
über Tuberkulose bei einem größeren Material von Manisch- 
depressiven standen nicht zur Verfügung. 

Die Senilen und Paralytiker machen aber ebenfalls einen 
großen Prozentsatz unseres Materials aus, können also in dieser Be¬ 
ziehung mit der Dementia praecox wohl verglichen werden. Diese 
Gruppen haben nun erheblich weniger Tuberkulöse bei uns wie die 
Dementia praecox-Gruppe, wie wir gesehen haben. Es können aber 
auch hier Einwände gemacht werden. Betreffs der Senilen kann 
zunächst gesagt werden, daß sie sich bereits in einem Alter befänden, 
das nicht mehr besonders zur Tuberkulose neige. Nach der Tuber¬ 
kulosetafel von Com et ist aber die Tuberkulosesterblichkeit im 
höheren Alter noch eine sehr große. Auch v. Mehring betont, „daß 
im Greisenalter die Phtisis nicht so selten ist, wie man früher dachte“. 
Das höhere Alter dürfte demnach keine Gegenanzeige für Tuberkulose 
sein, eher könnte man den Einwand ins Feld führen, daß der Anstalts¬ 
aufenthalt der Senilen ein zu kurzer sei, wenn man nämlich an¬ 
nähme, daß die Länge des Anstaltsaufenthaltes die Tuberkulose be¬ 
günstigte. Dieser Umstand dürfte auch bei den Paralytikern an¬ 
geführt werden, während das Durchschnittsalter bei diesen wie auch 
bei den andern Krankheitsgruppen ungefähr das gleiche wie das der 
Dementia praecox-Kranken beim Tode ist. (S. Seite 468!) 

Es muß also<näher auf die Bedeutung der Länge des Anstalts¬ 
aufenthaltes für die Tuberkulose eingegangen werden. Zu dem 
Zwecke wurde genau festgestellt, wieviel Kranke der tuberkulösen 


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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten. 


473 


Kranken und der tuberkulosefreien Kranken jeder Krankheitsgruppe 
unter und über 5 Jahre in Anstaltspflege gewesen waren. Das Er¬ 
gebnis ist in folgendem zusammengestellt: 




Anstaltsaufenthalt 




unter 5 Jahren 


| über 5 Jahre 



Tuberkulöse 

Tuberkulose- 

freie 

Insge¬ 

samt 

Tuberkulöse 

Tuberkulose¬ 

freie 

Insge¬ 

samt 

Dem. praecox 

40 = 61,6 % 

26 = 38,4 % 

65 

59 = 58,4 % 

42 = 41,6 % 

101 

Epilepsie . . . 

9 = 32,1 % 

19 = 67,8 % 

28 

16 = 42,09% 

22 = 57,88% 

38 

Paralyse . . . 
Man. depress. 

13 = 12,03% 

95 = 87,96% 

108 

0 = 0 % 

7 = 100 % 

7 

Irresein. . . 

6 = 37,6 % 

10 = 62,6 % 

16 

2 = 22,2 % 

7 = 77,7 % 

9 

Dem. senilis . 

9= 9,36% 

87 = 90,56% 

96 

3 = 12,49% , 

21 = 87,48% 

24 

Rest. 

6=19,3 % 

26 = 80,6 % 

31 

1= 7,69% i 

12 = 92,28% 

13 


Nimmt man also die Krankheitsgruppen einzeln für sich, so ist 
zwar gerade bei den Senilen, wie auch bei den Epileptikern, die Tuber¬ 
kulose prozentualiter häufiger bei den Kranken mit über 5 Jahren, 
also bei längerem Anstaltsaufenthalt, dagegen nicht bei allen übrigen 
einzelnen Krankheitsgruppen, insbesondere auch nicht bei den De¬ 
mentia praecox-Kranken, so daß man wohl sagen darf, daß bei uns 
die Länge des Anstaltsaufenthaltes bei den einzelnen 
Krankheitsgruppen die Tuberkulose wohl nicht begün¬ 
stigte. Aus all dem ist dann auch wohl der Schluß berechtigt, daß 
die Tuberkulose zweifellos bei den Dementia praecox- 
Kranken an sich ganz besonders häufig ist. 

Es fragt sich nun, wie das so überaus häufige Auftreten der Tuber¬ 
kulose bei der Dementia praecox erklärt werden kann. 

Kraepelin sagt von der katatonen Gruppe: „.weit häufiger 

ist jedoch die Entwicklung der Tuberkulose bei den regungslos daliegenden, 
nur sehr oberflächlich atmenden und schwer zu pflegenden Kranken. Die 
Sterblichkeit wird auf diese Weise gerade für die verblödeten Endzustände 
der Katatonie eine verhältnismäßig große.“ Schröder macht hauptsächlich 
„die unhygienische Lebensweise“ der Schizophrenen für die außerordent¬ 
liche Empfänglichkeit für Tuberkulose verantwortlich. Manche Autoren 
nehmen indessen ganz andere Zusammenhänge zwischen der Dementia 
praecox und der Tuberkulose an. Davon soll noch die Rede sein. Ganter , 
dem auch auffällt, daß eine ganze Anzahl der Kranken die Tuberkulose 
wohl schon in die Anstalt mitgebracht hat, meint: „Wenn aber Hagen 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 5. 33 


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474 


Löv. 


und Snell aus ihrer Statistik auch den Schluß ziehen zu dürfen glauben, 
daß die Geisteskrankheit das Primäre, die Lungenschwindsucht das Se¬ 
kundäre sei, so gilt das wohl für die in der Anstalt erworbene Tuberkulose, 
braucht es aber nicht für die von außen mitgebrachte Tuberkulose." 

Jedenfalls findet man meist die Ansicht, daß das Entstehen der 
Tuberkulose in erster Linie auf das Verhalten der Dementia prae¬ 
cox-Kranken zurüekzuführen sei, auf ihr Dahindösen im Bett und 
auf der Abteilung, die Unreinlichkeit, das schlechte Atmen, das Un¬ 
verständnis für jede hygienische Maßnahme usf. Nun muß man doch 
sagen, daß all diese Umstände mehr oder weniger auch für andere 
Geisteskranke zutreffen, die aber viel weniger von der Tuberkulose 
betroffen werden. Es sei besonders an Epileptiker 1 ) und Para¬ 
lytiker erinnert. Bei diesen Krankheitsgruppen findet man nun 
doch eine große Anzahl recht hilfloser Kranken, die, ähnlich den De¬ 
mentia praecox-Kranken, in verzogener Lage, schlecht atmend, 
unrein, für jede körperliche Fürsorge verständnislos auf der Siechen¬ 
abteilung lange genug vegetieren, um eine Tuberkulose zu blühendem 
Aufgehen anzuregen, und trotzdem nicht die starke Häufigkeit an 
Tuberkulose, wie sie bei der Dementia praecox überall gefunden 
wird. Wendet man für die Paralytiker ein, die für die Tuber¬ 
kulose Empfänglichen seien, da ja die Kranken in verhältnismäßig 
spätem Lebensalter in Anstaltspflege gelangen, schon bevor sie an¬ 
staltspflegebedürftiggeworden seien, der Tuberkulose erlegen, was übri¬ 
gens noch zu beweisen wäre, so würde das eben heißen, daß all die oben 
erwähnten Umstände des Dahinvegetierens usf. demnach nicht die 
Hauptrolle bei der Entstehung der Tuberkulose spielen, da ja der 
anstaltspflegebedürftig werdende Best verhältnismäßig gefeit gegen 
die Tuberkulose bleibt. Der Einwand, daß die Paralytiker nicht 
lange genug in der Anstalt blieben, um tuberkulös zu werden, scheint 
dadurch hinfällig zu werden, daß, wie schon oben ausgeführt wurde, 
die Länge des Anstaltsaufenthaltes keine allzu große Bolle bezüglich 
der Tuberkulose zu spielen scheint. Im übrigen findet sich unter 

*) Wenn bei unserem Material die Epileptiker ebenfalls recht stark 
an Tuberkulose leiden, so kann es daran liegen, daß uns zu wenig Fälle 
zur Verfügung standen, mithin der Zufall eine zu große Rolle spielen 
konnte. Jedenfalls wird bei einem größeren Material fast allgemein, 
wie schon früher erwähnt, der Tuberkuloseprozentsatz erheblich geringer 
angegeben. 


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den Dementia praecox-Kranken doch eine genügend große Zahl, 
die nicht ständig unter der Bettdecke liegt usf., sondern bei der Feld¬ 
arbeit oder sonst im Anstaltsbetriebe tätig ist und dann doch ihre 
Tuberkulose bekommt, während wieder andere Dementia praecox- 
Kranke trotz jahrelangen Liegens auf der Abteilung, trotz größter 
Unsauberkeit usf. gänzlich frei von jeder Tuberkulose bleiben. Da 
gerade diese Umstände besonderes Interesse erweckten, wurde ganz 
besonders hierauf geachtet, indem sämtliche in Frage kommenden 
Krankengeschichten auf all diese Umstände hin ganz genau durch¬ 
gesehen wurden. Es zeigte sich dabei folgendes: Von den schwer 
tuberkulösen Dementia praecox-Kranken fanden sich die eben 
erwähnten Umstände in ausgesprochener Form bei rund 50%, in¬ 
dessen bei den tuberkulosefreien Kranken bei sogar etwas über 60%. 
Um zu zeigen, was alles unter diesem „Verhalten“ verstanden wurde, 
sollen einige Auszüge aus Krankengeschichten folgen. Es handelt 
sich umDementiapraeco x-Kranke mit längerem Anstaltsaufent¬ 
halt, die trotz ausgesprochen sehr gesundheitswidrigen Verhaltens frei 
von jeder Tuberkulose bleiben, wie die Leichenöffnung ergab. 

Fall 1. M. Franz, ledig, geb. 26. 3. 1868. Anstaltspflege seit dem 
19. Lebensjahre. Gestorben mit 44 Jahren, 24 y 2 Jahre in Anstaltspflege. 

Düren: 1898. Januar: Mittelgroß, mäßig genährt, mangelhaft 
entwickelt, bleiches Aussehen. — Größenideen: Fürstensohn. Arbeitet in 
Tischlerwerkstatt. — Oktober: Selbstmordversuch. 

Alexianer-Anstalt Aachen: 1890—1911. 

Düren: 1911. Völlig verblödet, unreinlich, mutistisch, grimassiert, 
steht stundenlang in einer Ecke. Blaß und mager. — Wird gefüttert, 
völlig hilflos, hockt zusammengekrümmt da, spricht nicht. — Ständig 
abgeführt. Essen eingegeben. Völlig blöde, grimassiert unablässig, kneift 
die Augen zu oder rollt die Augäpfel extrem nach oben. Bleibt vor dem 
Bett stehen, ohne sich hinzulegen; liegt zusammengekrümmt da. — 
Fortwährend in derselben Haltung, angehobener Kopf. Völlig stumm, 
rührt sich nicht, nimmt aber Nahrung. Reinlich. — Mutistisch, negati- 
vistisch, grimassiert. 

Cöln-Lindenthal. Dezember 1911: Tag und Nacht unrein mit 
Urin, ißt sehr schlecht. — Nimmt nur Diät. Stets unrein, ganz stumm; 
43 kg Gewicht. 

1912: Ständig unrein, auch mit Kot. — Immer unrein. — Völlig 
stumm. 

Bedburg-Hau: 1912. Mai: Sehr hinfällig, oft Ohnmächten. Ißt 
sehr wenig. — 26. 5. 12 gestorben an Marasmus. 

Sektionsbefund: 0 Tuberkulose. 

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Fall 2: R., Luise, geb. 12. 9. 1848. Von Februar 1878 bis April 
1913, d. s. 35 Jahre, in Anstaltspflege. 

Grafenberg 1876: Stumpf, elendes Aussehen. Oft längere, ver¬ 
worrene Reden. Klagsam. Bett. 

Departementalanstalt Düsseldorf. 1896: Verblödet, apa¬ 
thisch, redet sinnlos. Hie und da etwas Hausarbeit. 

1899: Oft erregt, greift an. 

1902: Ganz stumpf, apathisch, mutistisch. 

1904: Stumpf in Ecke, ab und zu ängstliche Laute. 

1905: Ganz mutistisch, vegetiert dahin. 

1906: Immer stumpf in Ecke, negativistisch. 

1908: Desgleichen. 

1909: Stumpf, kataton, dement. 

1910: Mutistisch, völlig apathisch. 

Bedburg-Hau: 1911 und 1912: Stumpf, apathisch, mutistisch; 
dauernd zu Bett, unsicher auf den Beinen, döst vor sich hin, sehr hilfs¬ 
bedürftig. 

1913: Erysipel des rechten Unterschenkels, Fieber: 38,5°, Puls sehr 
schlecht. 9. April: 39°, 11. April: 37°, starke Schwäche. — 15. 4. 13 ge¬ 
storben an Wundrose. 

Sektionsbefund: 0 Tuberkulose. 

Fall 3. V., Karl. Von 1896—1913, d. s. 17 Jahre, in Anstalts¬ 

pflege, vom 48.—65. Lebensjahre. 

Departementalanstalt Düsseldorf 1896: Stumm, indifferent, 
aggressiv. 

1901: Vegetiert stumpf dahin, unrein. 

1902: Vollkommen verblödet, unsauber, hat jedes Gefühl für Pflege 
des Körpers verloren, bedarf stets Aufsicht. 

1905: Trotz aller Bemühung nicht rein zu halten. Stumpf, obszön 
schimpfend. 

1906: Hockt stumpf in Ecke, sehr unsauber, antwortet inäquat, 
desorientiert. 

1910: Sehr unsauber, ethisch verblödet, matschtim Klosett herum. 

Bedburg-Hau: Dezember 1911: Sitzt untätig da, unsauber. 
Schmiert im Klosett herum. Höchst unsauber. 

1913: Stumpf, steckt alles Mögliche in die Kleider, beschmiert die 
Wände mit Kot. — 1913, September: Ikterus, Fieber, windet sich vor 
Leibschmerzen. 11. 9. 13 gestorben. 

Peritonitis purulenta. 0 Tuberkulose. 

Fall 4. H., Berta, von 1908—1913 Anstaltspflege, d. s. 5 Jahre, 

vom 42.—47. Lebensjahre. 

Bonn: 1908: 4. Aufnahme (frühere Krankenblätter nicht zur Ver¬ 
fügung!) Genügend ernährt. Liegt stumpf da, antwortet nicht. Stereo¬ 
typien. — Katatones Verhalten. — Stereotypien, schimpft gelegentlich 


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auf „Spitzbuben vor der Tür“. Unorientiert. Andeutung von Kata¬ 
lepsie. — Eigenartige Tiks, verkriecht sich in Ecken und hockt am Boden. 

1911: Hockt stetsauf derselben Stelle am Boden. 

Bedburg-Hau: 1912: Stumpf, ablehnend, blöde vor sich hin¬ 
summend, ohne Beschäftigung, sitzt da und flicht an ihren Zöpfen. Nachts 
oft schlaflos und unrein. — Oktober: Urin reichlich Eiweiß. Lazarett 1 
Blasengegend sehr druckempfindlich. Stumpf, ablehnend unter der Bett¬ 
decke. — November desgl. Wälzt sich im Bett herum. — Dezember: Un¬ 
zugänglich, wühlt im Bett, unrein mit Entleerungen. 

1913: Februar: Oft unrein. — Juni: Mutistisch, sehr unsauber. — 
September: Ständig bis oben naß, beschmutzt Fußboden mit Kot. — Ok¬ 
tober: Durchfälle, körperlich sehr zurück. — November: Schreit den 
ganzen Tag. — Schlechte Herztätigkeit. 10. November: Sehr matt und 
hinfällig, geht dauernd zurück. — 14. 11. 13 gestorben: Herzschwäche. 

Sektionsbefund: Eitrige Cystitis infolge durch Harnröhre ein¬ 
geführten Fremdkörper, durchgebrochene eitrige Brustfellentzündung. 
0 Tuberkulose! 

Fall 5. E., Hermann, geb. 9. 2. 1879. Anstaltsaufenthalt: Fe¬ 

bruar 1910 bis Juli 1914, vom 31.—35 y 2 . Lebensjahre. 

Vorgeschichte: 0 erbliche Belastung; 5 Jahre glücklich verhei¬ 
ratet, keine Kinder. Fleißiger Arbeiter. — Zuerst April 1909 erkrankt. 

Tannenhof, 1909 Ende September bis Anfang November. 

Zu Hause Verschlimmerung, spricht nicht. Ißt nur auf Zureden. 
Teilnahmlos zu Bett. Selbstmordgedanken. 

Johannistal bei Süchteln: Februar 1910, nennt sich „Teufel“. 
Kräftig gebaut, mittlerer Ernährungszustand, blaß. — 23. Februar: Liegt 
immer halb sitzend mit erhobenem Kopf, sehr gehemmt. Zum Essen 
muß er angehalten werden. — März desgl. Still und stumm, angehobener 
Kopf, oder mit Bettdecke bedeckt. — April: Besuch der Schwester, nicht 
zu bewegen, sich derselben zuzuwenden, mit ihr zu sprechen. — Mai: 
Besserung, hilft bei Hausarbeit. — Juni: Besuch .der Ehefrau, sprach 
nichts. — Juli: Wieder zu Bett, Kopf verhüllt oder angehoben. 

1911: Januar: Halbe Tage auf, geht nicht in den Garten. Etwas 
Hausarbeit, geht aber vornübergebeugt wie ein alter Mann. — September: 
Stark gehemmt, negativistisch. — Oktober bis Dezember: Unverändert. 

Bedburg-Hau: 1911: Zusammengekrümmt zu Bett, teilnahmlos, 
manchmal plötzlich erregt, dann wieder regungslos zu Bett. 

1912: Januar: Das Gleiche; starres Gesicht, gehemmt, negativistisch. 
Oktober: Plötzlich erregt, griff Pfleger an und zertrümmert eine Fenster¬ 
scheibe. — Neigt dazu, mit den Zähnen Bettdecke zu fassen und zu zer¬ 
kauen. Stundenweise Packung. 

1913: Blickt starr und stumm vor sich hin. Widerstrebt, wenn man 
Kopf herunterlegen will. —August: Schlug sich eine Wunde am Kopf. 
Kopf ganz auf Bettstelle geneigt. Spricht kein Wort. Trinkt gelegentlich 


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aus Klosettbecken. Ißt genügend. — November: Starr, wächserne Bieg¬ 
samkeit. 

1914: Starr zu Bett, ab und zu schlecht essend. Kataton. — April: 
Erbrechen, Dämpfung im rechten Hypochondrion.—Mai: Im letzten Monat 
3,5 kg abgenommen, 48,5 kg Gewicht. Magert zusehends ab. Immer starr 
katatone Haltung, hält Brötchen stundenlang im Munde. Ißt wenig. — 
15. Juli: Gestern Abend Temperatursteigerung. Heute pulslos, soporös> 
trotz Kampfer. Gestorben: Marasmus. 

Sektionsbesfund: 0 Tuberkulose. 

Fall 6. K., Heinrich, Schlosser, geb. 6. 11. 1875. 

Vorgeschichte: 1900 oder 1901 Kopftrauma: Schlag auf den 
Kopf. 1904 Tripper und Lues. 1904 wegen Körperverletzung und Dieb¬ 
stahl 3 Jahre Zuchthaus. 

Nach 2 Jahren 3 Monaten geistig erkrankt, Irrenabteilung Münster, 
von da nach Marsberg: Geheilt entlassen. 

Dann wegen Münzvergehens im Gefängnis Duisburg, von dort 
Grafenberg. 16. 11. 07: Grübelte viel, hypochondrische Wahnvor¬ 
stellungen: Eiter im Leib, Angst; gemütliche Stumpfheit und Affekt- 
losigkeit. 

1908: Entwichen. 

1909 im Mai wieder eingewiesen: Liegt regungslos auf einem Wagen, 
völlig stumm und ohne Lebenszeichen. Glieder schlaff. — Sondenernäh¬ 
rung seit 30. 5. 09. Wie leblos. — 7. 8. Ißt spontan, spricht leise, unver¬ 
ständlich. Sehr gehemmt, öffnet Buch nicht zum Lesen. — 17. 9. 09: 
Wieder mutistisch, ganz stuporös. Liegt zusammengekauert, unter Bett¬ 
decke vergraben, mit geschlossenen Augen. — Anfang November: Spur 
regsamer. 15. 11. 09: Wieder stuporös. So bis Oktober 1910 (1 Jahr)!. 

14. 10. 1910: Spricht.wieder seit gestern: „man suche ihn zu ver¬ 
nichten“. — 24. 10. 10: Gibt nur die nötigste Auskunft. Liegt ruhig wie 
früher unter der Decke, Gesicht nach der Wand. — 31. 12. 10: Spricht 
wieder kein Wort, tief unter der Bettdecke. Machte auf dem Wege zum 
Abort schlapp, seit 3 Tagen ohne Nahrung genommen zu haben. 

4. 1. 1911: Ißt wieder besser, aber mutistisch und teilnahmlos. — 
22. 1. 11: Seit 3 Tagen wieder nichts genommen, unrein, völlig stumpf. 
Sondenernährung 1 — März: Dauernd stuporös. Sondel Ophthalmo¬ 
reaktion 0. — April: Ganz unverändert. — Oktober: Dauernd Sondel 

10. 10. 1911. Bedburg-Hau: Völlig stuporös. Sondel 

1912: Ganz wie zuletzt in Grafenberg geschildert: völlig stuporös, 
wie leblos daliegend, muß regelmäßig ausgehoben werden, reagiert auf 
nichts; regelmäßig Sonde, niemals selbst etwas nehmend. 

1913: Immer der gleiche Stupor, Sonde immerwährend! 

1914: März: Unverändert das gleiche Bild. Sondel Hat noch nie 
hier ein Wort gesprochen, liegt stets wie eine Leiche da. — April: Knie 
S.-R. + + , Klonus angedeutet. Babinski 0 , Oppenheim 0 . Bauchdecken- 


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reflex +, r. = 1. Pupillen: Lichtreflex prompt. Lungen: soweit prüfbar, 
o. B. Leidlicher Ernährungszustand. 

1915: Keinerlei Änderung. Immer Sondel 

1916: Immer das Gleiche. — Juli: Wiederholt Durchfälle. 31. Juli: 
gestorben, sprach kurz vor dem Tode plötzlich (nach fast 6 Jahren!) mit 
gebrochener Stimme, verlangt nach Wasser. 

Die Sektion ergab keinerlei Tuberkulose. 

Beim Durchlesen derartiger Krankengeschichten kann man sich 
doch sicherlich nicht des Eindrucks erwehren, daß Kranke mit solchem 
Verhalten allen Grund haben müßten, eine Tuberkulose zu blühendem 
Aufgehen zu veranlassen. Trotzdem keine Spur einer solchen! 

Ähnlich war es bei den Epileptikern. Die Durchsicht der 
Krankenblätter ergab bei den Tuberkulösen ein Verhalten, das nach 
der allgemeinen Ansicht mit dem Entstehen der Tuberkulose in Zu¬ 
sammenhanghätte gebracht werden können in 32% der Fälle; aber auch 
bei den tuberkulosefreien Fällen fand sich derartiges in sogar über 
60% der Fälle. Es sollen nur ganz kurz einige Notizen aus Kranken¬ 
geschichten solcher tuberkulosefreien Epileptiker angeführt werden, 
um zu zeigen, was unter den Kranken mit solchem „Verhalten“ 
gemeint wurde. 

Fall 1. Anstaltspflege vom 27.—35. Lebensjahre. Seit 18. Lebens¬ 
jahre Epilepsie, wöchentlich 1 Anfall. Seit 24. Lebensjahre ca. 3 Anfälle 
wöchentlich. Geisteskrank seit 27. Lebensjahre: Wutanfälle, Verfolgungs¬ 
wahn, hört Stimmen. Nach vielen Anfällen ganz verwirrt. 

Johannistal 1910: Dauernd viele Anfälle, Bett. Stumpf, teil- 
nahmlos daliegend. — Immer viele Anfälle, stumpf, wird dabei immer 
hinfälliger. — Wie ein Automat! — Zusammengekrümmt im Bett ver¬ 
graben. Ewig unter der Bettdecke! — Anfälle bis 20 im Monat. 

Bedburg-Hau: Stumpf zu Bett. Plötzlich sehr verfallen. — Ge¬ 
storben im Anfall. 

Fall 2. R. Epileptisch seit 22. Lebensjahre. Anstaltspflege seit 
29. Lebensjahre (Trauma!). Viele Anfälle, wechselnde Stimmung. — 
Stumpf zu Bett, unrein. — Unrein. 

Bedburg-Hau: Stumpf zu Bett, unrein, reagiert auf nichts, viele 
Anfälle. Gestorben im Status epilepticus mit 48 Jahren. 

Fall 3. K. Seit 13. Lebensjahre Epileptiker. Seit 21. Lebensjahre 
in Anstalten. Anfangs in Gärtnerei tätig. — Seit 34. Lebensjahr mehr 
Anfälle, meist benommen zu Bett. — Verwirrt in Siechenwachsaal. — 
Vorwiegend benommen. Bis 20 Anfälle. — Nur selten kurze Zeit auf, 
meist stumpf im Bett. — Gestorben im Status epilepticus (20 Anfälle!) 
mit 45 Jahren. 


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Fall 4. — F. Seit 17- Lebensjahre Epileptiker. P. Manchmal 
4 Wochen anfallfrei, dann 10—12 Anfälle an einem Tage. 

Seit 23. Lebensjahre bis zum 42. Lebensjahre in Anstalt. 
— Spricht von selbst nichts. Nicht zur Arbeit zu bewegen. — Stumpf und 
unorientiert. — Abstiniert. Sonde! — Ißt wieder allein. — Ab und zu 
durcheinander. Liegt mit gespanntem Gesichtsausdruck zu Bett, macht 
Zitterbewegungen mit Armen und Beinen. — Liegt viel unter der Bett¬ 
decke — abstiniert fast 8 Tage. — Milch und etwas Suppe. — Ißt 
regelmäßig. — Sitzt viel im Bett, macht stundenlang Schaukelbewegun¬ 
gen. — Abstiniert einige Tage. Fütterung mißlingt, Nähreinlauf. 

Bedburg-Hau: Immer viele Anfälle mit anschließender Verwirrt¬ 
heit. — Ende Juni 1912: 14 Tage nicht gegessen Sonde! — Oft Anfälle, 
gelegentlich mehrere Tage benommen zu Bett, oft unrein. — Ab und zu 
tagelang stuporös zu Bett, ißt dabei schlecht. — Gestorben im Status 
epilepticus. 

Epileptische Kranke derart dürften sich m. E. im wesentlichen 
nicht von Dementia praecox-Kranken mit stuporösem usf. Ver¬ 
halten unterscheiden. Und, wie gesagt, findet man derartiges bei über 
60% der Epileptiker, die trotzdem keine Spur einer Tuberkulose 
bei der Sektion zeigten. Bei der Durchsicht der Krankenblätter der 
Paralytiker bot fast jede zweite Krankengeschichte derartiges. 

Jedenfalls muß man aber, wenn man hört, daß solches Verhalten 
jahrelang bei einer sehr großen Anzahl Dementia praecox-Kranken 
und Epileptiker vorkommt, ohne daß sich eine Tuberkulose ein- 
stellt, doch sagen, daß solche Umstände nicht als wesentlichste 
Momente für das Entstehen der Tuberkulose zu gelten haben. Daß 
die Dementia praecox-Kranken so sehr der Tuberkulose zum 
Opfer fallen, hat sicherlich tiefere Gründe; welcher Art diese sind, ist 
natürlich eine andere Frage. Jedenfalls scheinen besondere Zusammen¬ 
hänge zwischen der Dementia praecox und Tuberkulose, auch 
unabhängig von dem erwähnten Verhalten der Kranken, zu bestehen. 

Wie schon erwähnt, gehen manche Autoren in dieser Hinsicht so 
weit, daß sie eine sehr enge Verbindung von Tuberkulose und De¬ 
mentia praecox annehmen. Alfesewsky „nimmt eine tuberkulöse 
Ätiologie für manche Fälle von Katatonie an.“ — Soutzo jun. und 
P. Dimitre8co, „Dämence pröcoce et tuberculose“, fanden folgendes: „Ab¬ 
gesehen von der Häufigkeit der Tuberkulose in Anstalten, die die Fälle 
mit Dementia praecox wie alle andern beteiligt, scheint zwischen 
dieser Psychose und der Tuberkulose ein Zusammenhang zu bestehen, 
der aber über eine zufällige Koinzidenz hinausgehen würde. Um über die 
relative Häufigkeit der Tuberkulose bei den verschiedenen Formen der 


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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten. 


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Geisteskrankheiten Aufschluß zu erhalten, haben sich die Verfasser der 
klinischen Untersuchung der Tuberkulininjektion und der Ophthalmo¬ 
reaktion bedient. Bei 87 Kranken mit Ausschluß der Dementia prae¬ 
cox wurde 26mal ein positiver, 23mal ein fraglicher, 40mal ein negativer 
Befund erhoben. Hingegen waren die Zahlen bei 63 Kranken mit De¬ 
mentia praecox 42, bzw. 4 und 17, d. h. über 3%. Welcher Art die 
Bedingungen sind, die zu einer solchen Frequenz der Tuberkulose bei den 
Frühdementen führen, läßt sich nicht sagen. Es scheint aber, daß die Ver¬ 
gesellschaftung der Infektion und der Psychose in einem schweren Auf¬ 
treten der letzteren ihren Ausdruck findet, was die Verfasser auf das 
Hinzutreten der Wirkung der bakteriellen Toxine auf das Zentralnerven¬ 
system zu dem organischen Prozeß der Dementia praecox beziehen.“ — 
In einem Referat von Erwin Stransky über eine Arbeit von Dide wird 
bezüglich der Dementia praecox gesagt: „Auffällig fand er auch, 
gleich früheren Beobachtern, Tuberkulose; er ist nicht geneigt, diese 
Koinzidenz auf bloß äußere Momente zurückzuführen.“ 

Am zweithäufigsten war die Tuberkulose bei uns bei den Manisch- 
Depressiven. Da aber nur wenig Fälle zur Verfügung standen, 
kann hier der Zufall eine Rolle spielen. 

Sehr häufig ist die Tuberkulose bei uns auch bei den Epilepti¬ 
kern. Aber auch hier gilt dasselbe, wie das bei den Manisch- 
Depressiven Gesagte. Jedenfalls fanden Autoren mit größerem 
Material — Hahn, Habermaas u. a. — die Tuberkulose seltener. 

Sehr gering ist die Rolle, die die Tuberkulose bei unseren Senilen 
spielt. Daß das höhere Lebensalter durchaus kein Hindernis für das 
Entstehen der Tuberkulose bildet, ist schon erwähnt (Cornet , v. Meh¬ 
ring). Auch andere Autoren mit genügend großem Material haben 
dasselbe gefunden ( Ganter , Schröder). 

Auch bei den Paralytikern war bei uns wie auch bei andern 
die Tuberkulose selten. 

Der Rest der zur Sektion Gekommenen hat nur wenig Tuber¬ 
kulose. Irgendwelche Schlüsse für die einzelnen Gruppen betreffs 
der Tuberkulose zu ziehen, ist bei den wenigen Fällen natürlich nicht 
angängig. Nur als Ganzes genommen ist es auffällig, daß sich bei 
44 Kranken nur 7mal Tuberkulose fand bei einem Gesamtdurchschnitts¬ 
alter, das dem der Dementia praecox ungefähr gleichkam. 

Zum Schluß noch einige Bemerkungen über die klinische Seite. 

Allgemein ist zu sagen, daß die Erscheinungen der Tuberkulose 
meist wenig im allgemeinen Krankheitsbilde in den Vordergrund 
treten. Sehr auffällig ist, was auch Mohr erwähnt, wie selten die 


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Kranken husten. Die recht häufige Danntuberkulose führt allerdings 
meist zu Durchfällen bei unseren Kranken. Körperliche Beschwerden 
werden äußerst selten vorgebracht. Da es sich doch meist um mehr 
oder weniger Verblödete oder Gehemmte handelt, ist das nicht beson¬ 
ders auffällig, vielleicht liegt es auch an der allgemeinen Indolenz 
Geisteskranker und ihrem ganzen passiven Verhalten. Schlechtes 
Aussehen der Kranken oder Gewichtsabnahme allein kann auch nicht 
immer einen Fingerzeig geben. Beides kommt oft genug bei Geistes¬ 
kranken auch aus andern Gründen vor, da ja doch alle mehr oder 
weniger auch körperlich geschwächte Menschen sind. Schwankungen 
im Körpergewicht auch ohne Tuberkulose sind gerade bei Dementia 
praecox-Kranken, zumal Katatonikern, etwas Häufiges. Das 
beste Erkennungsmittel für die Tuberkulose ist das regelmäßige Messen 
der Körperwärme. Praktisch kommt für die Tuberkulose, wie aus 
allen Arbeiten hervorgeht, doch nur die Dementia praecox* und 
vielleicht die Epilepsie-Gruppe in Frage. Da fast die Hälfte der 
Dementia praecox-Kranken an Tuberkulose stirbt, muß man 
jeden auf der Siechenabteilung liegenden Kranken dieser Gruppe als 
im höchsten Grade der Tuberkulose verdächtig von vornherein an- 
sehen und ihn, sobald die regelrechte Körperwärme nur für kurze Zeit 
überschritten wird, absondem. Vielleicht gelingt es dann wenigstens, 
die Tuberkulose bei einer größeren Zahl Kranker anderer Krank¬ 
heitsgruppen zu verhindern. Scharf widersprechen muß man m. EL 
dem Vorschläge M. Schröders, den einzelnen tuberkulösen Dementia 
praecox-Kranken, um ihn selbst eventuell von seiner Tuberkulose 
zu heilen, möglichst in seine Familie zurückzubringen. 

Fassen wir das Ergebnis der Arbeit zusammen, so ist zu sagen: 

Die Tuberkulose ist in der Irrenanstalt außerordentlich häufig. 
Daß das Anstaltsleben bzw. die der Irrenanstalt eigenen Verhält¬ 
nisse dafür hauptsächlich verantwortlich zu machen sind, scheint 
für unsere Verhältnisse nicht zuzutreffen. Es müßten dann, da 
doch für alle Geisteskranken dieselben Verhältnisse vorliegen, auch 
die Geisteskranken aller Krankheitsgruppen in gleicher Weise 
zahlenmäßig von der Tuberkulose befallen werden; in der Tat 
steuern aber zu der Tuberkulose in ganz unverhältnismäßiger Weise 
die Dementia praecox-Kranken bei Zwischen dieser Krank¬ 
heit und der Tuberkulose scheinen gewisse Beziehungen zu be- 


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Ober Tuberkulose in Irrenanstalten. 


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stehen, die wir vor der Hand noch nicht kennen. Das durch die 
Geisteskrankheit dieser Gruppe veranlaßte unsinnige, unzweckmäßige 
Verhalten der Kranken, das meist und hauptsächlich für das Ent¬ 
stehen und weitere Umsichgreifen der Tuberkulose verantwortlich 
gemacht wird, scheint entschieden in seiner Bedeutung überschätzt 
zu werden, da ähnliche Umstände mindestens ebenso häufig einmal 
bei den nicht tuberkulösen Dementia praecox-Kranken, dann 
auch bei andern Geisteskrankheitsgruppen Vorkommen, die trotzdem 
verhältnismäßig gefeit gegen Tuberkulose sind. Die Dementia 
praecox-Kranken sind, ebenso wie anscheinend die Epileptiker 
zum Teil, von vornherein und ohne weiteres als im höchsten Grade 
als der Tuberkulose verdächtig anzusehen. Mangels klinischer Er¬ 
scheinungen der Tuberkulose sind diese Kranken, wenigstens unbe¬ 
dingt die bettlägerigen, regelmäßig zu messen und sobald, wenn auch 
für kurze Zeit die Körperwärme nur in etwa fieberhaft erhöht ist, 
rechtzeitig von den andern Kranken abzusondern. 


Literatur. 

1. Ganter, R., über die Todesursachen und andere pathologisch-ana¬ 

tomische Befunde bei Geisteskranken. Allg. Ztschr. f. Psych. 
1909, 66. Bd. 

2. Schröder , M., Todesursachen schizophrener Frauen. Ztschr. f. d. ges. 

Neurol. u. Psych. 1914, 25. Bd. 

3. Hahn, R., Über die Sterblichkeit, die Todesursachen und die Sektions¬ 

befunde bei Epileptikern. Allg. Ztschr. f. Psych. 1912, 69. Bd. 

4. Käs, Statistische Beobachtungen über Ausbruch, Verlauf, Dauer und 

Ausgang der allgemeinen Paralyse nebst eingehender Berück¬ 
sichtigung der ..Befunde an der Leiche. Allg. Ztschr. f. Psych. 
1895, 51. Bd. 

5. Heilbronner, Über Krankheitsdauer und Todesursachen bei progres¬ 

siver Paralyse. Allg. Ztschr. f. Psych. 1895, 51. Bd. 

6. Brehm, Über die Todesfälle und Sektionsbefunde der Züricher kanto¬ 

nalen Irrenheilanstalt Burghölzli. Allg. Ztschr. f. Psych., 54. Bd. 

7. Banse und H. Roderburg, Bemerkungen über die progressive Paralyse 

mit besonderer Berücksichtigung der Halluzinationen. Ztschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1914, 25. Bd. 

8. Junius und Arndt, Beiträge zur Statistik der progressiven Paralyse. 

Arch. f. Psych. 1908, 44. Bd. 

9. Lucacs, Zur Pathologie der progressiven Paralyse (Klinikai füzetek 

1904, Bd. 12). Neurol. Ztlbl. 1905, S. 1061, Referat: Hudo- 
vernig-Budapest. 


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Lö w. 


10. Pilcz , Beiträge zur Lehre von der progressiven Paralyse. Jahrb. f. 

Psychiatrie u. Neurol. XXV, 1904, S. 97. Autoreferat: 
Neurol.Ztlbl. 1905, S. 78. 

11. Weygandt, Der Seelenzustand der Tuberkulösen. Med. Klin. 1912, 

Nr. 3 u. 4. 

12. Wulff, Bemerkungen über das Vorkommen von Tuberkulose in den 

Idiotenanstalten. Allg. Ztschr. f. Psych. 1893, 49. Bd., S. 529. 

13. Bolte, Les troubles psychiques des tuberculeux, Toulouse 1910. 

Ref.: .4Mers-München, Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1910 
(Referate). 

14. Werner, G., Über die Fortschritte des Irrenwesens. IV. Bericht. 

Halle a. S., Karl Marhold, 1912. 

15. Deventer und Benders, Psych. en neurol. Bladen 1899. 

16. Kraepelin, Psychiatrie, II. Bd. Leipzig, Joh. Ambrosius Barth, 1910. 

17. Pandy, Die Irrenfürsorge in Europa. Deutsche Ausgabe, durchge¬ 

sehen von Dr. H. Engelken jun., 3. Ausgabe. Berlin, Georg 
Reimer. 1908. 

18. Shaw, The liability ofthe insane to tuberculo-infektion as demonstrated 

by an examination of the tuberculo-opsonic index (Journal of 
mental Science 1907, Ref.: E. Meyer, Königsberg). Neurol. 
Ztlbl. 1908, S. 371. 

19. Habermaas, Über die Prognose der Epilepsie. Allg. Ztschr. f. Psych. 

1901, 58. Bd. 

20. Ammann, R., Die Erkrankung und Sterblichkeit an Epilepsie in der 

Schweiz, mit besonderer Berücksichtigung von 2159 Todes¬ 
fällen an Epilepsie. Basel 1913, bei Benno Schwabe. 

21. Flügge, C., Handbuch der Hygiene, 7. Aufl. 1912, Verlag von Veit 

& Co., Leipzig. 

22. v. Mehring, Lehrbuch der inneren Medizin, 6. Aufl. Gustav Fischer, 

Jena 1909. 

23. Soutzo jun. et P. Dimitresco : Dömence pröcoce et tuberculose, Annales 

mödico-psychologiques 68, 380, 1910. Ref.: R. Allere, München, 
Zschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1911, II .Bd., Referate S.721. 

24. Dide, La dömence pröcoce est un syndrome toxiinfectieux subaigu ou 

chronique. (Revue neurol. 1905, Nr. 7.) Ref.: E. Stransky, 
Neurol. Ztlbl. 1903, S. 819. 

25. Mohr, Über Infektionskrankheiten in Anstalten für Geisteskranke. 

Verhdlgn. der 84. ordentl. Vers, des psych. Vereins der Rhein¬ 
provinz am 14. 11. 1908 in Bonn. AUg. Ztschr. f. Psych. 1909, 
66. Bd., S. 192. 

26. Goldberger, M., Die Rolle der Lungenschwindsucht bei Geisteskrank¬ 

heiten (Eime — äs ideghorten 1907, Nr. 4). Ref.: Hudooernig- 
Budapest. Neurol. Ztlbl. 1908, S. 371. 


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Kleinere Mitteilungen 


Selbstmordversuch und Krankenkassenleistung. — Die 
Frage, ob ein Selbstmörder nach mißglücktem Selbstmordversuch An¬ 
spruch auf Gewährung von Krankengeldern hat, hatte das Preußische 
Oberverwaltungsgericht seinerzeit bejaht, indem es davon ausging, daß 
unter vorsätzlich „absichtlich“ zu verstehen sei, und deshalb die „Absicht“ 
des Versicherten darauf gerichtet sein müsse, sich die die Arbeitsunfähig¬ 
keit bedingende Krankheit zuzuziehen, wenn § 192, 2 der Reichsversiche¬ 
rungsordnung Platz greifen solle. („Die Kasse kann Mitgliedern das 
Krankengeld versagen, wenn sie sich eine Krankheit vorsätzlich zugezogen 
haben.“) Dies sei bei einem Selbstmordversuche nur dann der Fall, wenn 
der Versicherte gewußt habe oder habe wissen müssen, daß das von ihm 
zur Herbeiführung des Todes gewählte Mittel nicht unmittelbar den Tod, 
sondern überhaupt oder zunächst eine Erkrankung zur Folge haben würde. 
Abgesehen hiervon beabsichtige der Selbstmörder nur seinen Tod, nicht 
aber seine Erkrankung herbeizuführen. Im Gegensatz hierzu entschied 
das Reichsversicherungsamt, daß gemäß § 192, 2 der Reichsversicherungs¬ 
ordnung in einem solchen Falle der Verletzte gegen die Kasse keine An¬ 
sprüche erheben kann, und zwar aus folgenden Gründen: „Absicht“ be¬ 
deutet die Richtung des Willens auf ein bestimmtes Ziel, welches erreicht 
werden soll. Sie geht somit weiter als der „Vorsatz“, der auch diejenigen 
Tatumstände und Ereignisse umfaßt, die der Täter zwar nicht als sein 
Endziel beabsichtigt, wohl aber zur Erreichung des von ihm beabsichtigten 
Erfolges in seinen Willens- und Vorstellungsbereich mit aufgenommen hat. 
Der Selbstmörder weiß und hält sich vor Augen, daß er, um sein Vorhaben 
zu erreichen, die Unversehrtheit seines Körpers angreifen muß. Wer sich 
selbst töten will, hat mit Notwendigkeit auch den Vorsatz, sich körperlich 
zu verletzen. Deshalb hat er auch eine gegebenenfalls nur teilweise Zer¬ 
störung oder Beschädigung des Körpers in seine Vorstellung aufgenommen 
und gewollt, wenngleich der vorgestellte Haupterfolg, die völlige Zer¬ 
störung der körperlichen Unversehrtheit und die dadurch bedingte Ver¬ 
nichtung des Lebens, nicht eingetreten ist. Aus diesen Erwägungen wird 
man von dem Selbstmörder sagen können, daß er stets die Verletzung 
seines Körpers beabsichtigt, jene also „vorsätzlich“ vorgenommen hat. 


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486 


Kleinere Mitteilungen. 


Wird er durch die Verletzung krank, so liegt eine vorsätzliche Körper¬ 
verletzung vor, als deren Folge Krankheit eintritt. Das muß zur An¬ 
wendung des § 192 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung genügen. 
(ÄrztL Vereinsblatt vom 17. 2. 1917.) 

Vorstehende Entscheidung des Reichsversicherungsamtes gibt zu 
Bedenken Anlaß, da sie in ihrer allgemeinen Fassung dem psychologischen 
Vorgang nicht entspricht und ihm selbst dann nicht gerecht wird, wenn 
dem Selbstmordversuch eine so gründliche und allseitige Überlegung 
voranging, wie sie die Entscheidung voraussetzt. Der Selbstmörder hat 
gewiß auch den Vorsatz, sich körperlich zu verletzen, aber er hat keines¬ 
wegs mit Notwendigkeit „auch eine gegebenenfalls nur teilweise Zer¬ 
störung oder Beschädigung des Körpers in seine Vorstellung aufgenommen 
und gewollt“. Dies dürfte nur für die Fälle zutrefTen, die das Preußische 
Oberverwaltungsgericht mit den Worten ausscheidet: „Wenn der Ver¬ 
sicherte gewußt habe oder habe wissen müssen, daß das von ihm zur 
Herbeiführung des Todes gewählte Mittel nicht unmittelbar den Tod, 
sondern überhaupt oder zunächst eine Erkrankung zur Folge haben 
würde.“ In allen andern Fällen kann davon nicht die Rede sein, daß der 
Selbstmörder — immer vorausgesetzt, daß er ernsthaft den Selbstmord 
wollte — auch die bei ungeschickter oder sonst vereitelter Ausführung 
eintretende Krankheit in seinen Willen aufgenommen habe. Die körper¬ 
liche Verletzung gilt ihm als Mittel zum Tode, nicht zur Krankheit, und 
sein Wollen geht nicht auf diese. Fraglich und nur im Einzelfall zu ent¬ 
scheiden bleibt daher bloß, ob er die „gegebenenfalls nur teilweise Zer¬ 
störung oder Beschädigung seines Körpers in seine Vorstellung aufge¬ 
nommen hat“, aber auch dies nur dann, wenn hier mit der „Vorstellung“ 
nicht der „Vorsatz“ gemeint ist. Denn diese Vorstellung veranlaßt den 
ernsthaften Selbstmörder höchstens, seinen Vorsatz so abzuändern, daß 
ihm eine „nur teilweise Zerstörung oder Beschädigung des Körpers“ aus¬ 
geschlossen scheint; es handelt sich somit um eine Abwehr, um eine dem 
Vorsatz entgegenlaufende und nur in diesem Sinne von ihm berücksich¬ 
tigte Vorstellung. Gelingt ihm die Absicht nicht, „wird er durch die Ver¬ 
letzung krank, so liegt“ zwar „eine vorsätzliche Körperverletzung vor, 
als deren Folge Krankheit eintritt“, aber diese Folge ist nicht bloß unge¬ 
wollt, sondern liegt auch außerhalb des Vorsatzes und steht sogar im 
Widerspruch mit ihm. Jene Vorstellung genügt daher nicht zur Anwen¬ 
dung des § 192 Nr. 2 RVO. Der Schlußsatz der Entscheidung („das 
muß ... genügen“) scheint auch anzudeuten, daß der Verf. sich der Be¬ 
weiskraft seiner Ausführungen nicht ganz sicher fühlte. Um aber nicht 
leichtsinnig und einseitig über eine Rechtsfrage zu urteilen, bat ich einen 
befreundeten Juristen um Mitteilung seiner Ansicht über obige Entschei¬ 
dung und erhielt folgende Antwort: 

„Der hier wiedergegebene Auszug der Entscheidung des Reichsver¬ 
sicherungsamtes — die mir in Tatbestand und Gründen nicht wörtlich 


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Kleinere Mitteilungen. 


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vorliegt — enthalt unzutreffende Verallgemeinerungen und Schlüsse, mit 
denen man sich nicht einverstanden erklären kann. „Die Kasse kann 
Mitgliedern das Krankengeld versagen, wenn sie sich eine Krankheit vor¬ 
sätzlich zugezogen haben.“ Eine Krankheit, nicht eine Körperverletzung. 
Die Körperverletzung, die der Selbstmörder sich beibringt, ist keine 
Krankheit, sondern es kann nur aus ihr der Zustand einer Krankheit ent¬ 
stehen. Das erkennt die Entscheidung am Schlüsse an. Der Vorsatz des 
Selbstmörders geht — vielleicht — zunächst auf eine Körperverletzung. 
Das ist aber nicht nur eine Eigentümlichkeit des Selbstmörders. Wer sich die 
Hühneraugen ungeschickt schneidet, wer in die eigene Tötung einwilligt 
(§216 RStGB.), wer sich mit seiner Zustimmung operieren läßt, bringt 
sich vorsätzlich mit eigener Hand oder durch fremde Hilfe eine Körper¬ 
verletzung bei. Trotzdem wird das RVA. nicht demjenigen das Kranken¬ 
geld aus § 192 * RVO. entziehen wollen, der sich bei ungeschickter Selbst¬ 
behandlung eine Blutvergiftung zuzieht, weil er, um zur Heilung zu ge¬ 
langen, die Körperverletzung „zur Erreichung des von ihm beabsichtigten 
Erfolges in seinen Willens- und Vorstellungsbereich mit aufgenommen 
hat“. Es kann auch nicht entgegengehalten werden, daß der Heilzweck 
dem Selbstmordzweck entgegengesetzt sei. Einmal ist der Selbstmord 
zweifellos die radikalste Beendigung jedes Leidens, sodann aber ist gerade 
nach RVA. der Eintritt der Krankheit infolge der Körperverletzung ohne 
Rücksicht auf den Beweggrund zu betrachten. Die falschen Folgerungen, 
die sich aus der allgemeinen Begründung des RVA. mit Notwendigkeit 
ergeben, beruhen auf einer falschen Auslegung des Begriffes des 
Vorsatzes. Vorsatz ist das Bewußtsein der Kausalität der 
Handlung. Wer trotz dieses Bewußtseins, daß sein Verhalten einen 
bestimmten Erfolg haben werde, welcher zum Tatbestand einer zivil¬ 
oder strafrechtlichen Bestimmung gehört, tätig wird oder untätig bleibt, 
handelt vorsätzlich. In diesem Sinne hat auch das Pr. Oberverwaltungs¬ 
gericht an Stelle des „vorsätzlich“ „absichtlich“ verstanden. Der Vor¬ 
satz des Selbstmörders umfaßt den Willen zur Körperverletzung mit dem 
Bewußtsein, daß die Körperverletzung zum Tode führt. Hat er dies Be¬ 
wußtsein nicht, so scheidet der Tatbestand als der eines nicht ernstlich 
gemeinten Selbstmordversuchs aus der Erörterung aus. Das Bewußtsein, 
daß die Körperverletzung zum Selbstmorde kausal wirkt, schließt aber 
das Bewußtsein aus, daß sie nicht hierzu, sondern zu einer Krankheit 
kausal wirkt, denn der ernstliche Wille zum Tode wird entweder das Be¬ 
wußtsein des möglichen Eintritts der Krankheit gar nicht aufkommen 
lassen oder die subjektive Überzeugung des Selbstmörders festigen, daß 
ihm so etwas gar nicht passieren könne. Einer besonderen Feststellung 
würde es von Fall zu Fall bedürfen, daß der Täter sich des möglichen Ein¬ 
tritts der Krankheit bei Mißlingen des Selbstmordes bewußt gewesen sei 
und diesen Eintritt auch für diesen Fall gewollt haben würde 
(dolus eventualis). Diese Fälle dürften ganz außerordentlich selten sein. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Nicht ausreichend ist die Feststellung, daß der Selbstmörder an den 
möglichen Eintritt der Krankheit gedacht hat oder gar habe denken 
müssen. Denn im ersteren Falle stand neben der Vorstellung das Bewußt¬ 
sein, diese Möglichkeit durch das beabsichtigte Handeln zu verhindern. 
Erlahmt im entscheidenden Moment die Willenskraft und steht nun das 
entstehende Leiden in dem Bewußtsein des Täters, so kann ihm dieser 
Dolus superveniens nicht schaden. Der zweite Fall würde klar nur den 
Begriff der Fahrlässigkeit erfüllen, durchaus gleichstehend mit dem*, 
der sich bei Selbstbehandlung vorsätzlich verletzt, aber durch Unvor¬ 
sichtigkeit krank macht. 

Eine besondere Bewertung verdienen die Fälle, in denen unschlüssige 
oder irgendwelche besonderen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen 
Folgen fürchtende Personen (Versicherungsbedingungen, Ruf der Familie) 
erst allmählich durch Herbeiführung eines längeren Siechtums ein unge¬ 
wolltes Ende Vortäuschen wollen. Bei ihnen ist der Vorsatz nicht nur 
auf eine Körperverletzung, sondern auf den Eintritt der Krankheit ge¬ 
richtet. Das Motiv ist gleichgültig, wie es bei jeder Idealkonkurrenz un¬ 
erheblich ist. Es sind die Fälle, von denen das Pr. Oberverwaltungsgericht 
sagt, der Versicherte habe gewußt („wissen müssen“ ist m. E., wie bereits 
gesagt, unzutreffend), daß das gewählte Mittel zunächst keine Erkran¬ 
kung zur Folge haben werde. Auf sie trifft § 192 * RVO. zweifellos zu. 
Ich bitte aber, hierzu in Gegensatz zu stellen die Ansicht des RVA., 
nach der z. B. ein Hysteriker, der die Pistole auf sich abdrückt, einen 
Versager erlebt und hierbei einen schweren Nervenschock mit dauernden 
Folgen bekommt, sich „vorsätzlich eine Krankheit beibringt“ weil er die 
Pistole vorsätzlich abgedrückt hat, und nach der Herr v. Rothsattel ( Frey¬ 
tag, Soll und Haben) durch seinen mißglückten Selbstmordversuch sich 
vorsätzlich des Augenlichts beraubt hat. 

Die Rechtsprechung hat sich über ähnliche Fälle schon häufig ge¬ 
äußert. Der Stoff ist mir hier im Felde nicht zugänglich. Ich erinnere 
nur an Baumgarten (Lehre vom Versuch der Verbrechen. Stuttgart, 1888) 
zu § 216 RStGB.: „Der Vorsatz ist ausschließlich auf Tötung, nicht alterna¬ 
tiv auf Verletzung gerichtet“, und an Olshausen, der diese Ansicht mit der 
herrschenden Lehre durchaus billigt. Ferner weise ich hin auf die herr¬ 
schende Lehre und Rechtsprechung zu § 81 MStGB. und § 142 RStGB 
(Selbstverstümmelung). Es ist bisher noch niemandem eingefallen, den 
Selbstmordversuch, der eine Selbstverstümmelung zur Folge hat, als 
vorsätzliche Selbstverstümmelung zu bestrafen. „Selbstmordversuch 
schließt Vorsatz der Selbstverstümmelung aus“ ( Dietz , Taschenbuch des 
Mil.-Rechts für Kriegszeiten, 2. Auf!., Rastatt 1913, S. 268; derselbe, 
MStR. 1916 S. 120; Romen-Rissom, MStGB., 2. Auf]. 1916, S. 323, Note2 
zu § 81). Die bei Dietz .Taschenbuch S. 268 mitgeteilte Allerh. Kabinetts¬ 
order aus 1911 sagt daher auch: „Versuch des Selbstmordes ist nicht 
strafbar, ist auch kein Bruch des Fahneneides. Er kann kein ehren- 


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Kleinere -Mitteilungen 


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Redaktion dieser Zeitschrift. mit ge wirkt hat. 


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diss<;rlat>on handelt^-yon 4rtri'hnl. e:d;»!.Vo ( »he mh A ;»i>r. r«r>« >m Julius- 
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burga »ach den von P*t<n<k,-r, f -r nufj§«s|.<?lU«m Grundsätzen. Petten/tofer 

Zwtj.eUri« füi V5.r-hii.t1r.*. UCXHt. 4 ,. ,,, 






490 


Kleinere Mitteilungen. 


selbst bezeichnete die Dissertation als mustergültig. Nach seiner Ap¬ 
probation wurde Grashey Assistenzarzt bei Rinecker in der Irrenabteilung 
des Juliusspitals. Zu seiner Fortbildung besuchte er auch die Klinik 
Meynerts in Wien. Sodann wurde er Hilfsarzt und später Oberarzt an 
der Kreisirrenanstalt zu Werneck, die damals unter der Leitung Bernhard 
Guddens stand. Später wurde Grashey Direktor der niederbayerischen 
Kreisirrenanstalt zu Deggendorf. Nach Rineckers Tode wurde er 1884 
als Professor der Psychiatrie und Oberarzt am Juliusspital nach Würz¬ 
burg berufen. Im Juni 1886 wurde er beauftragt, bei der Begutachtung 
des unglücklichen Königs Ludwig II. mitzuwirken. Die Tätigkeit der 
hierzu berufenen Sachverständigen, den weiteren Verlauf der Angelegen¬ 
heit und das tragische Ende des Königs und Guddens hat Grashey selbst 
im Archiv für Psychiatrie (Bd. 17, H. 3) ausführlich beschrieben. Als 
Nachfolger Guddens wurde Grashey nach München berufen. Er wirkte 
dort als Professor der Psychiatrie an der Kreisirrenanstalt, zugleich auch als 
Arzt des Königs Otto, bis er 1897 als Nachfolger Kerschensteiners als Vor¬ 
stand des Medizinalwesens in das Ministerium berufen wurde. Im Jahre 
1909 ging er in Pension, und im Frühjahr 1914 legte er auch sein Amt 
als Arzt des Königs nieder. 

Sowohl in der Forschung wie im Unterrichte strebte Grashey stets 
nach dem höchsten Grade von Klarheit. Am liebsten arbeitete er in physi¬ 
kalischen Experimenten. Darauf beruhen seine ausgedehnten Unter¬ 
suchungen über die Bewegung von Flüssigkeiten in Röhren, dann in elasti¬ 
schen Röhren, und die Anwendung der Ergebnisse auf die Bewegung 
des Blutes in der Schädel- und Rückgratshöhle. Verwandt damit sind die 
sphygmographischen Untersuchungen des Pulses bei Geisteskranken 
(Arch. f. Psych. Bd. 13). Auf einem andern Gebiete lag die 1884 erfolgte 
Veröffentlichung über Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmung 
(Arch. Bd. 16); auch hier bewährt er eine große Klarheit und Schärfe der 
Untersuchung. Ein großes Verdienst erwarb sich Grashey durch die 
Herausgabe der gesammelten und hinterlassenen Abhandlungen Bernhard 
v. Guddens mit 41 Kupfertafeln (Wiesbaden, Bergmann, 1889). 

Im klinischen Unterrichte liebte Grashey es, nicht eine Fülle von 
Material vorzuführen, sondern er behandelte einen einzelnen Fall so 
gründlich, daß jedem Zuhörer ein klares Krankheitsbild mit allen Einzel¬ 
heiten vor die Augen gestellt wurde. Es war eine Freude, zu beobachten, 
wie er oft einen jungen Praktikanten aus verworrenen, unklaren An¬ 
schauungen langsam und stetig fortführte bis zu einem klaren Verständnis 
des Krankheitsfalles. 

So hat Grashey sowohl durch seine Forschung wie durch seinen 
Unterricht viel dazu beigetragen, Licht über die psychischen Krank¬ 
heiten zu verbreiten. Seine Fachgenossen und besonders seine Schüler, 
werden ihm ein dankbares Andenken bewahren. 

O. Lüneburg. 


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Kleinere Mitteilangen. 


491 


Der Vorstand des Deutschen Vereins für Psychiatrie hat 
beschlossen, für Ende April 1918 zu einer Versammlung in Würzburg 
einzuladen, die vorläufig als außerordentliche in Aussicht genommen ist. 
Geschäftliche Angelegenheiten sollen, soweit irgend angängig, für die 
nächstfolgende Versammlung zurückgestellt werden. Doch besteht die 
Absicht, eine Änderung des § 7 Absatz 4 der Satzung für eine spätere 
Beschlußfassung vorzubereiten in der Richtung, daß durch eine Begren¬ 
zung der Amtsdauer der Vorstandmitglieder ein häufigerer Wechsel in 
der Zusammensetzung des Vorstandes erreicht wird. Als einziger Gegen¬ 
stand der Berichte ist vorgesehen: Folgen der Hirnverletzungen 
und ihre Behandlung, und zwar hat Fors/er-Berlin die Einführung 
in die allgemeine Pathologie, Kleist- Rostock in die Lokalisation, Reichardt- 
Würzburg in die Hirnschwellung und Goldstein- Frankfurt a. M. in die 
Behandlung und Fürsorge übernommen. Da eine eingehende Besprechung 
erwünscht und zu erwarten ist, dürfte für besondere Vorträge die Zeit 
mangeln. 


I^ersonalnachrichten. 

Dr. Karl Knorr, San.-Rat, bisher Dir. in Teupitz, ist Direktor der Landes¬ 
anstalt Neuruppin, 

Dr. Hugo Wörnlein , Oberarzt in Sorau, Direktor der Landesanstalt 
Teupitz, 

Dr. Friedrich Ostmann und 

Dr. Straub in Neustadt (Holstein), sowie 

Dr. Lothar Summier in Colditz, sind Oberärzte geworden. 

Dr. Erich Noack, Oberarzt, wurde von Teupitz nach Neuruppin ver¬ 
setzt. 

Dr. Theodor Ziehen, Geh. Med.-Rat, der seit 1912 nach Niederlegung seiner 
Berliner Professur in Wiesbaden psychologischen und erkenntnis¬ 
theoretischen Studien lebt, hat einen Ruf als o. Prof, der Philo¬ 
sophie nach Halle erhalten und angenommen. 

Dr. Georg Ilberg, Obermedizinalrat, Dir. d. Sonnensteins, ist zum Geh. 
Medizinalrat, 

Dr. Paul Nitsche, stellvertr. Dir. d. Sonnensteins, 

Dr. Otto Arnemann, Oberarzt in Hubertusburg, und 

Dr. Paul Nerlich, Oberarzt in Großschweidnitz, sind zu Medizinalräten, 

Dr. Leonhard Rosen, Oberarzt in Görden, 

Dr. Wilhelm Richsuin, Oberarzt in Neuruppin, 

Dr. Hugo Wörnlein, Oberarzt in Sorau, 

Dr. Friedrich Reich, Oberarzt in Buch, 

Dr. Karl Westphal, Oberarzt in Wuhlgarten, 

Dr. Hans Havemann, Oberarzt in Tapiau, 

Dr. Ernst Winckler, Oberarzt in Bethel bei Bielefeld, 


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492 


Kleinere Mitteilungen. 


Dr. Wendelin Herwig, leit. Arzt der Idiotenanstalt in Niedermarsberg, 

Dr. Gustav Brunner, leitender Arzt der Privatanstalt Neuemühle bei Cassel, 
und 

Dr. Peter Neu, Oberarzt in Galkhausen, zu Sanitatsräten, 

Dr. Josef Berze, Dir. d. Landesanstalt Klosterneuburg, und 
Dr. Josef Quirchtmayer, Dir. d. Landesanstalt Gugging, zu Regierungs¬ 
räten ernannt worden. 

Dr. Franz Viedenz, Oberarzt in Eberswalde, hat das Eiserne Kreuz 
1. Kl., 

Dr. Ernst Böck, Dir. d. Landesanstalt Troppau, den Orden der Eisernen 
Krone 3. Kl., 

Dr. Adolf Friedländer, Prof. u. Hofrat, Dir. d. Privatanstalt Hohe Mark, 
das Mecklenburgische Kriegskreuz und das österr. Ehren¬ 
zeichen 2. Kl. vom Roten Kreuz mit der Kriegsdekoration, 
Dr. Friedrich Vocke, Obermed.-Rat, Dir. von EglQng, den Verdienstorden 
vom hl. Michael 3 Kl., 

Dr. Franz Sendtner u. Dr. Wilhelm Körte, Oberärzte in Eglfing, den Ver¬ 
dienstorden vom hl. Michael 4. Kl., 

Dr. Paul Bentsch, Oberarzt auf dem Sonnenstein, und 
Dr. Gustav A. Hecker, San.-Rat, dir. Arzt der städtischen Heilanstalt 
Dresden, das Ritterkreuz 1. Kl. des Albrechtordens erhalten. 
Dr. Georg Pförringer, Abt.-Arzt an der staatl. Anstalt Friedrichsberg in 
Hamburg ist am 24. April an schwerer Cerebrospinalerkrankung, 
Dr. Albert Eulenburg, Geh. Med.-Rat und ao. Prof, in Berlin, nach mehr¬ 
monatigem Krankenlager, 76 Jahre all, am 3. Juli, 

Dr. Adolf Stoltenhoff, Geh. San.-Rat, Dir. der Prov.-Anstalt Kortau bei 
Allenstein, am 7. Juli gestorben. 

Dr. Eberhard Rauch, Oberarzt in Landsberg, Inhaber des Eisernen Kreuzes 
1. Kl., ist im April bei einem Sturmangriff im Westen, 

Dr. Otto Ranke, ao. Prof, in Heidelberg, ist als Bataillonsarzt auf dem 
Felde der Ehre gefallen. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung 

Kurlands. 


Von 

Dr. Harald Siebert, Nervenarzt und leit. Arzt der psychiatr. Abteilung 
am Stadtkrankenhause in Libau. 

Einleitung. — Das innige und enge Zusammenleben vieler 
Völkerschaften bezw. Rassen auf einem verhältnismäßig begrenzten 
Territorium bringt es unwillkürlich mit sich, daß man den individu¬ 
ellen Eigenschaften einer jeden solchen Menschengruppe besondere 
Aufmerksamkeit schenkt. Von diesem Gesichtspunkte aus haben sich 
sowohl eine anthropologisch-morphologische Betrachtungsweise, als 
auch eine soziologisch-ökonomische, eine sprachliche und noch vielo 
andere entwickelt. Naturgemäß kann auch der Arzt, welcher in 
einem solchen I^ande seine Tätigkeit ausiibt und durch seinen Beob¬ 
achtungskreis Personen der verschiedensten Völkerschaften ziehen 
sieht, auf dem Gebiet der Krankheitslehre vergleichende Untersuchun¬ 
gen anstellen. Hierbei darf sich jedoch niemand die großen objek¬ 
tiven und subjektiven Schwierigkeiten verhehlen, welche eine solcho 
Betrachtungsweise leicht zu einer überaus fehlerhaften machen können. 
Da stellt z. B. eine Volksart gewissermaßen die Oberschicht der Ge¬ 
sellschaft dar, welche durch größere Bildung und ihren Wohlstand 
vor einer anderen den Vorzug vom rein sozialen Standpunkt aus be¬ 
sitzt, während jene vielleicht wiederum lediglich die Arbeiterschaft 
oder die Bauernschaft repräsentiert. Andererseits ist es unvermeidlich, 
daß in Ländern mit gemischten Nationalitäten sich neben den allge¬ 
mein bekannten wirtschaftlichen Kämpfen denselben teils subordi¬ 
nierte, teils koordinierte rein nationale Streitigkeiten abspielen. Daß 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 6. 35 


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UNIVERStTY OF MICHIGßfl 



494 


Siebert, 


bei solchen Momenten leider nur zu häufig rein soziale Auswüchse 
und Schattenseiten aus Gründen mangelhafter Kritik fälschlicher¬ 
weise als nationale Eigentümlichkeiten der einen oder der anderen 
Volksart angebrochen werden, ist eine Tatsache, welche nur zu oft 
einen stark die Beobachtung trübenden Einfluß ausübt, sie verdient 
aber immerhin hervorgehoben zu werden, da man ein präzises Maß 
in der Beurteilung dieser Fragen nicht anlegen kann und die subjek¬ 
tive Auffassungsgrenze wohl vielfach in den weitesten Graden einer 
Schwankung unterworfen sein dürfte. Trotz aller solcher Bedenken 
bleibt sicherlich eine ganze Reihe von Eigenschaften bestehen, welche 
der einen oder der anderen Rasse oder Nationalität als spezi¬ 
fisch zugesprochen werden muß, und gerade auf diesem Gebiet erschei¬ 
nen die psychisch-nervösen Krankheiten insofern ein recht dankbares 
Objekt darzustellen, als durch die Beschäftigung mit ihnen und die 
Erkenntnis der einzelnen Fälle gerade das Studium des Charakters 
und der Persönlichkeit gefördert wird. Als selbstverständlich muß 
natürlich auch nur das objektivste Urteil des Arztes in Frage kommen, 
doch spielt der Arzt bei all diesen die einzelnen Menschenarten trennen¬ 
den Fragen sicherlich eine mehr vermittelnde und ausgleichende, 
als gerade entzweiende Rolle. 

Ich habe bereits früher darauf hingewiesen 1 ), daß ich mich in syste¬ 
matischer Weise mit der vergleichenden Betrachtung psycho-neuroti- 
scher Zustände der einzelnen Nationalitäten beschäftige, welche Kurland 
(und Litauen) bewohnen und dadurch in großer Anzahl in meinen Be¬ 
obachtungskreis gelangen, glaubte jedoch noch einige Jahre darüber ver¬ 
streichen lassen zu sollen, ehe ich an die Zusammenstellung der Arbeit schritt, 
um das Material noch größer und vielseitiger zu gestalten, aber auch um 
eventuelle vorgefaßte Meinungen, die einer strengen Kritik nicht stand¬ 
halten, abzustreifen. Ob ich nuh auch in meinen Ansichten einen rich¬ 
tigen Weg gehe und das Wesentliche vom Unwesentlichen herauszu¬ 
schälen vermocht habe, wage ich nicht zu untersuchen. — Eine andere 
Frage, die vielleicht auch gestellt werden könnte, wäre die, welchen 
Zweck solche Betrachtungen an und für sich besitzen, und welches wissen¬ 
schaftliche Interesse sie wohl beanspruchen dürften. Hierin glaube ich 
nun einen solchen eventuellen Einwand dahin beantworten zu können, 
daß gerade der Weltkrieg die einzelnen Völkerschaften einander doch 


x ) H. Siebert, Einige Bemerkungen über die allgemeinen Neurosen. 
Mtschr. f. Psych. XXXV, H. 4, S. 395. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 495 


insofern genähert hat, daß ganze Länder mit ihrer Einwohnerschaft, 
weiche bis dahin oft kaum dem Namen nach bekannt waren, jetzt von 
einem anderen, viel weiteren Gesichtspunkt aus angesehen werden. 
Bei meinen Ausführungen beabsichtigte ich eigentlich die Gesamtbevölke¬ 
rung der Ostseeprovinzen dem Versuch einer vergleichenden Analyse in bezug 
auf ihre psychisch-nervösen Störungen hin zu unterziehen, ich muß darin 
aber hinsichtlich der Esten Abstand nehmen. Obgleich ich im Laufe 
von drei Jahren als Arzt der Livländischen Heil- und Pflegeanstalt 
„Stackein“ hinlänglich Zeit und Gelegenheit fand, die Eigenheiten der 
psychisch-nervösen Krankheiten bei den Esten zu studieren und die¬ 
selben mit denjenigen der Deutschen, Letten und Russen zu vergleichen, 
muß ich jetzt doch davon Abstand nehmen, da ich durch den Krieg der 
Möglichkeit beraubt bin, in den Besitz des gesamten Slackelnschen Ma¬ 
terials zu gelangen. So sollen denn diese Ausführungen sich lediglich 
mit Vergleichen an Deutschen, Letten, Litauern, Juden und Russen 
beschäftigen; die anderen Völkerschaften, welche Kurland bewohnen, 
kommen ihrer geringen Zahl wegen überhaupt nicht in Frage. 

Es sollen in erster Linie betrachtet werden die manischen und 
melancholischen Psychosen, die Dementia praecox, die Epilepsie, die 
angeborenen Schwachsinnformen und die allgemeinen Neurosen in 
ihren schwersten Formen, soweit sie dann eben Objekte der Psychiatrie 
werden, als endogene Störungen psychischen Geschehens, die 
progressive Paralyse und die alkoholischen Seelenstörungen — als 
exogene Formen des Irreseins. Diese erst zu schildernden Krankheits¬ 
zustände sind sämtlich Objekte der Anstaltspsychiatrie gewesen. In 
zweiter Linie werden summarisch die allgemeinen Neurosen degenera- 
tiven Charakters der Besprechung unterzogen werden, welche meist 
in ambulanter Beobachtung untersucht wurden. Die Gesamtzeit für 
die Entstehung der Auffassung umfaßt neun Jahre. — Es dürfte nun 
noch an dieser Stelle erwähnt werden, daß das Material der Ostseepro¬ 
vinzen an psychischen und nervösen Krankheiten in qualitativer Hin¬ 
sicht ein immerhin reiches sein muß — vielleicht gerade durch den 
bunten ‘Wechesl der Nationalitäten —, sind doch gerade hierzulande 
in früherer und jetziger Zeit viele einschlägige Arbeiten auf diesem 
Gebiet entstanden. Ich erwähne die psychiatrischen Schriften von 
Tüing , Mercklin, A. Behr und J. Schröder, ferner die Abhandlungen 
von C. Dehio, Val. Holst, Unverricht, Sokolowsky, meinem Vater C. 
Siebert, Ed. Schwarz u. a. auf dem Gebiet der allgemeinen Neurosen, 
welche zum Teil in der deutschen Petersburger medizinischen Zeit- 

Bö* 

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496 


Siebert, 


schrift, zum Teil in den deutschen fachärztlichen Blättern veröffentlicht 
worden sind. 

In den Ausführungen, die weiter unten folgen sollen, wird es in 
jeder Hinsicht vermieden werden, Zustandsbilder zu schildern, welche 
in irgendeiner Weise durch den Krieg hervorgerufen worden sind, 
hierauf ist grundsätzlich Verzicht geleistet worden. Ferner muß be¬ 
rücksichtigt werden, daß alle zahlenmäßig oder prozentuell ausge¬ 
drückten Daten sich auf die Zeit vor dem Kriege beziehen. 

Allgemeine Vorbemerkungen. — Im wesentlichen kommt 
das Material der Stadt Libau in Betracht, deren Einwohnerzahl vor dem 
Kriege nahe an 100 000 betrug; nach oberflächlicher Schätzung waren 
davon 38 000 Letten, 20 000 Litauer, 15 000 Juden, 12 000 Deutsche 
und 8000 Russen, der Rest wurde von den verschiedenartigsten Völker¬ 
schaften gebildet. Neben den aus diesen Einwohnergruppen sich zu¬ 
sammensetzenden Objekten gelangten in früherer Zeit noch viele psychisch - 
nervöse Affektionen aus Westkurland und Litauen, speziell dem nörd¬ 
lichen Teil desselben, zur Beobachtung, sowie die in den Sommermonaten 
in reichlicher Anzahl das Seebad aufsuchenden Kranken. Die Grundlage 
für die Bildung der vergleichenden Auffassung wurde durch das vor¬ 
handene klinische Material aus der psychiatrischen Abteilung des Städti¬ 
schen Krankenhauses und der Nervenabteilung einer Privatklinik einer¬ 
seits, durch Sprechstundentätigkeit und poliklinische Beobachtung an¬ 
dererseits gebildet. Die aus diesen Erfahrungen heraus gewonnenen 
Resultate sind dann später gesichtet worden, um den Versuch einer theo¬ 
retischen Darstellung vorzunehmen. Am eindruckvollsten erscheint es 
jedenfalls, wenn man im engen Nebeneinanderleben oder Nebeneinander¬ 
liegen die einzelnen Nationalitäten in klinischer Behandlung studieren 
kann; durch einen solchen Betrachtungsmodus wird unzweifelhaft die 
Gesamtauffassung am meisten gefördert, während eine poliklinische 
Kenntnis der Zustandsbilder hinsichtlich der nationalen Vergleiche für 
individuelle Momente die beste Aussicht gewährt. — Der Mangel an 
Anstalten für Psychischkranke, speziell in Kurland 1 ), bringt es ferner 
mit sich, daß der Arzt in die Lage gesetzt wird, den Verlauf von Psy¬ 
chosen auch außerhalb der Anstalt zu beobachten, also oft gewisser¬ 
maßen Kunstprodukte einer unzweckmäßigen Behandlung und Pflege 
zu Gesicht bekommt, wie solches in Westeuropa wohl kaum mehr der 
Fall sein dürfte. Dieser Umstand bedingt es wiederum, daß man einzelne 
familiäre und nationale Eigenschaften der Angehörigen der Kranken 
aufs beste kennenlernen kann. Ob in den hier erwähnten Länderbezirken 


*) //. Sichert , Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 72. II. 4 u. 5. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 497 

mehr psychisch-nervöse Störungen Vorkommen als in anderen Ländern, 
wird überhaupt nicht beantwortet werden können, neben der an sich 
sehr schwer diskutierbaren Frage dürften vor allen Dingen die äußerst 
mangelhaften Statistiken den Ausschlag geben. — 

Die deutsche Bevölkerung bildet in Kurland (sowie auch in 
Liv- und Estland) gesellschaftlich die Oberschicht; aus deutschen 
Elementen setzen sich zusammen die Großgrundbesitzer, welche zum 
größten Teil dem Landadel angehören, die studierten Berufsschichten in 
Stadt und Land, die Großkaufmannschaft, die leitenden und mittleren 
Stellungen in der Industrie, das Handwerk, das Gewerbe und die kleinen 
nicht genau präzisierbaren Beschäftigungszweige. Seit etwa zehn Jahren 
kamen dazu noch mehrere Tausend deutscher Ackerbauern, sogenannte 
Kolonisten, die aus den inneren Gouvernements des russischen Reiches 
nach Kurland übersiedelten, wo sie teils als Ackerbauern, teils als kleine 
Grundbesitzer sich ansiedelten. 

Die Letten stellen allgemein die Bauernschaft des Landes 
dar. Fast der ganze Kleingrundbesitz Kurlands befindet sich im Besitz 
der Letten. In den Städten bilden sie numerisch den größten Teil der 
Bevölkerung, so daß sie bereits in vielen kleinen Ortschaften politisch 
die führende Rolle spielten. Auch ein Teil der studierten Berufe rekrutiert 
sich aus den Letten, ferner der Kleinhandel, das Handwerk und das Gros 
des Fabrikarbeitertums. 

Bei den Juden müssen einige Momente besonders berücksichtigt 
werden; während in Kurland die jüdischen Elemente meist eingesessene 
Kaufmanns- und Handwerkerfamilien darstellen, die über bedingt gute 
Schulbildung verfügen und aus ihrer Mitte eine ganze Reihe den gelehrten 
Berufen sich widmender Persönlichkeiten hervorgehen lassen, bilden die 
litauischen Juden ein kulturell weit niedriger stehendes Element, so 
daß Analphabeten z. B. unter ihnen nicht selten sind. 

Bei den Litauern überwiegt der Kleinhandel und das Fabrik- 
arbeitertum in der Stadt, das Bauerntum auf dem Lande. In akademi¬ 
schen Berufen sah Kurland wenig Litauer, während gerade in den erst 
hervorgehobenen Professionen ein starker Zuwachs dieser Volksart inner¬ 
halb der letzten zehn Jahre in unserem Lande nachzuweisen war. 

Die Russen, ihrer Herkunft nach an sich weit abgelegen, kamen 
meist nur als fremde Elemente ins Land; die höheren Beamtenkreise 
setzten sich fast ausschließlich aus Russen zusammen, dabei war ein stetes 
Kommen und Gehen die Regel. Gericht, Lehrstellen, Zoll, Post, Bahn¬ 
wesen usw. wurden in leitenden und subalternen Stellen von Russen ver¬ 
sehen, daneben waren die Russen in einigen Tausend Personen als so¬ 
genannte Schwarzarbeiter, d. h. als Arbeiter für die gröbsten, keine Detail¬ 
kenntnisse erheischenden Dinge in Kurland vertreten. 


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Siebert, 


498 


Nicht jeder Leser wird sich bei Erwähnung dieser fünf Volksarten 
über die gegenseitigen Beziehungen zueinander vom rein rassischen 
Standpunkt aus klar sein, so daß hierin doch kurze erläuternde Bemer¬ 
kungen als erwünscht erscheinen dürften. Wenn über die Volksart der 
Deutschen und Juden weiter keine Erklärungen notwendig sind, so er¬ 
fordern doch die drei anderen Varietäten eine wesentlichere Betrachtung. 
Ratzel l ) erwähnt, wenn von Völkerunterschieden unseres Erdteils die 
Rede ist, Germanen, Slawen und Romanen, wobei die Wissenschaft 
in letzter Zeit- in Europa eine vierte über den Nationalitätsunterschieden 
stehende Gemeinschaft gebildet hat, die der Völker der finnischen 
Familie. Dieser Gruppe ural-altaischer Völker gehören auch die Esten 
an, welche als finnisch-ugrischen Ursprungs bezeichnet werden müssen 
und den Magyaren anscheinend verwandt sind. Sie bewohnen Estland 
und Nordlivland. Sie finden hier, wie bereits oben erwähnt wurde, als 
Volksstamm in der vergleichenden Betrachtung keine Berücksichtigung; ich 
hebe diese Volksart nur deshalb hervor, weil sie vielfach mit den Letten 
und Litauern gemeiniglich verwechselt und identifiziert wird. Lasse 
ich hierin einem der erprobtesten Kenner baltischer Art und baltischer 
Rassen- und Kulturverhältnisse, S. Broedrich 2 ), das Wort, so erfahren 
wir: „Esten sowie Letten und Litauer sind nicht Slawen, sondern erstere 
wahrscheinlich von germanischer Urbevölkerung schon mit germanischem 
Blute erfüllt, so daß die spätere außerordentlich starke Blutmischung 
mit Schweden und Deutschen nicht mehr viel zu dem blonden, blauäugigen 
Typus des hochgewachsenen Volkes beigetragen hat; die lettisch¬ 
litauische Rasse ist wesensgleich mit der ausgestorbenen preußischen 
Urbevölkerung, ein indogermanischer Stamm, das Bindeglied zwischen 
Germanen und Slawen, mehr germanisch als slawisch. Diese Wesens¬ 
verwandtschaft wäre nicht zu erklären, wenn Deutsche und Letten ver¬ 
schiedenen Rassen angehörten, denn jede Rasse besitzt ihr eigentüm¬ 
liches Gefühls- und Empfindungsleben, in das einzudringen dem An¬ 
gehörigen einer fremden Rasse gar nicht oder doch nur höchst unvoll¬ 
kommen möglich ist. Nach Virchows Ansicht sind die lettischen Schädel 
am ehesten den Schädeln eines deutschen Reihengräberfeldes zu ver¬ 
gleichen.“ Erwähnt sei noch an dieser Stelle, daß O. Waeber*) in sei er 
Arbeit an einem großen lebenden Lettenmaterial die längliche Kopfform 
dieser Volksart nachwies. — Bezüglich der Russen muß darauf hinge¬ 
wiesen werden, daß dieser Begriff mehr ein politischer als ein rein völki¬ 
scher ist. Abgesehen von der klar hervortretenden Dreiteilung in Groß-, 
Klein- und Weißrussen, bei der die Wesensverschiedenheit jeder ein- 


M Ratzel, Völkerkunde. III. Leipzig. Bibliographisches Institut. 
2 ) G. Broedrich , Das neue Ostland. Charlottenburg 1916. 

*) O Waeber, Beiträge zur Anthropologie der Letten. Diss. Dorpat 1879. 


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Die Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 499 

zclnen Art klar auf der Hand liegt, muß noch mit der starken Vermischung 
dieser Völker mit Mongolen und Turkvölkern gerechnet werden, wo¬ 
durch die Gesamtauffassung über das Russentum als Volksart natur¬ 
gemäß einen viel komplizierteren Charakter annimmt. 

Wenn auch keine genauen Zahlenreihen zur Verfügung stehen, 
welche über die Einwohnerschaft Kurlands genauen Aufschluß geben — 
die letzte Volkszählung war im Jahre 1897 vorgenommen worden —, 
so sollen doch die zu Gebote vorliegenden Ziffern Erwähnung finden 1 ). 
Demnach waren in Kurland ansässig: 51 017 (7,75 %) Deutsche; 505 994 
(75,07 %) Letten; 38 276 (5,68 %) Russen; 36 219 (5,37 %) Litauer 
(und Polen); 37 689 (5,59 %) Juden; 4839 (0,72 %) andere Nationali¬ 
täten — in Summa 674 034 Köpfe. In der Zwischenzeit dürfte sich durch 
Zuzug der deutschen Kolonistenbauern und der litauischen Fabrik¬ 
arbeiter (letztere wohl nach Libau) das Zahlenverhältnis doch in mancher 
Hinsicht verschoben haben, nähere Daten hierüber fehlen jedoch zurzeit 
überhaupt. 


Psychische Störungen — Objekte der Anstaltsbehandlung. 

Obgleich ich der psychiatrischen Abteilung in Libau erst 
4*4 Jahre vorstehe, habe ich das Material derselben auch 
aus einer früheren Zeit in der Weise statistisch zu verwerten gesucht, 
indem ich zwei Zeitabschnitte, und zwar die Jahre 1905 bis 1909 und 
1910 bis 1914 einschließlich, derart in Frage gebracht habe, daß die 
Summe der jeweiligen innerhalb der entsprechenden fünf Jahre in 
die Abteilung aufgenommenen und behandelten Kranken wechselseitig 
in bezug auf Krankheitsform und Nationalität zergliedert wurde. Von 
der Darstellung der absoluten Zahlen habe ich Abstand genommen 
und der Übersicht halber lediglich die abgerundeten Vomhundert- 
ziffern mit ihren Dezimalteilen angeführt. Wenn auch eine solche 
Methode vom strengen Standpunkt der Genauigkeit aus durchaus 
anfechtbar erscheint, so beweist doch einerseits das recht offensichtliche 
Übereinstimmen der wichtigsten Krankheitsformen in beiden Zeit¬ 
abschnitten, daß diese Auffassung jedenfalls dem Kern der Sache 
nicht fern liegt, andererseits hätte die Arbeit sonst einen unerwünschten 
und unbeabsichtigten Umfang erhalten; auch eine getrennte Betrach¬ 
tung der Geschlechter ist aus letzterem Grunde unterblieben. 


*) Baltische Bürgerkunde. Riga 1908. 


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500 


Siebert, 


Die weiter folgenden vier Tabellen geben die Übersicht über Krank¬ 
heitsformen und Nationalitäten der in die psychiatrische Abteilung 
aufgenommenen Störungen; die exogenen einfachen Seelenstörun¬ 
gen, die Fieberdelirien und Intoxikationen sind von der Gesamtzahl 
der Krankenaufnahmen gestrichen worden. 

In den Jahren 1905 bis 1909 einschließlich wurden aufge¬ 
nommen 770 Personen. 


Von den 


(Tabelle I.) 



Deut¬ 

schen 

0/ 

/o 

Juden 

o r 
/o 

Letten 

% 

Li¬ 

tauern 

% 

Russen 

o r 

/o 

litten an: 

Manie . 

8,0 

26,0 

2,6 

5,0 

5,0 

Melancholie. 

3,0 

8,0 

9,5 

3,2 

3,2 

Dementia praecox. 

34,2 

46,0 

49,1 

47,0 

47,0 

Paralysis progressiva. 

20,0 

10,3 

14,1 

13,5 

13,5 

Delirium tremens. 

21,5 

3,0 

15,6 

10,5 

10,5 

Epilepsie. 

8,0 

— 

3,8 

7,0 

7,0 

allgemeinen Neurosen. 

5,3 

1,7 

4,6 

12,0 

12,0 

angeborenem Schwachsinn. 

— 

5,0 

0,7 

1,8 

1,8 

Summa 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100.0 


Andererseits waren von den an 


(Tabelle II.) 



Manie 

o r 

/O 

Melan¬ 

cholie 

o r 

/o 

De¬ 

mentia 

praecox 

0/ 

/o 

Paraly- 
sis pro¬ 
gressiva 

% 

Delirium 

tremens 

0/ 

/o 

Epi¬ 

lepsie 

o r 
/o 

allge¬ 

meinen 

Neu¬ 

rosen 

0/ 

/o 

ange¬ 

borenem 

Schwach¬ 

sinn 

% 

leidenden Kran¬ 
ken ihrer Natio¬ 
nalität nach: 

Deutsche .... 

20,6 

9,0 

10,4 

24,0 

25,0 

35,0 

18,0 


Juden . 

51,2 

21,0 

16,6 

10,0 

4,0 

— 

4,0 

60,0 

Letten. 

13,7 

52,0 

50,3 

38,0 

41,0 

35,0 

32,0 

20,0 

Litauer. 

10,2 

9,0 

17,5 

14,0 

10,0 

23,0 

32,0 

20,0 

Russen. 

4,3 

9,0 

5,2 j 

14,0 

20,0 

7,0 

14,0 

— 

Summa 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 501 


In den Jahren 1910 bis 1914 einschließlich wurden auf ge¬ 
nommen 886 Personen. 

Von den 


(Tabelle III.) 



Deut- ! 
Hohen 1 

o/ ; 
/o 1 

! 

Juden 

0 / 

1 /o 

Letten 

% 

Li- 

tauern 

% 

Rossen 

% 

itten an: 

Manie. 

8,0 

46,0 

4,0 

6,7 

5,0 

Melancholie. 

2,0 


9,5 

4,0 

2,2 

Dementia praecox. 

34,0 

40,0 

42,5 

41,8 

24,4 

Paralysis progressiva. 

21,5 

7,8 

6,0 

8,1 

21,6 

Delirium tremens. 

26,5 

— 

26,0 

20,4 

41,4 

Epilepsie. 

4,0 

3,8 

8,0 

1,8 

2,2 

allgemeinen Neurosen. 

4,0 

2,4 

2,0 

17,2 

3,2 

angeborenem Schwachsinn. 


— 

2,0 

— 

— 

Summa 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 


Von den an 


(Tabelle IV.) 



Manie 

Melan¬ 

cholie 

De¬ 

mentia 

praecox 

Paraly¬ 
sis pro- 
gTessiva 

1 Delirinm 
tremens 

1 Epi- 
| lepsie 

allge¬ 

meinen 

Neu¬ 

rosen 

ange¬ 

borenem 

Schwach¬ 

sinn 


0/ 

/o 

0/ 

/o 

0/ 

/o 

% 

o r 

/o 

1 0/ 

! /n 

% 

0/ 

/o 

leidenden Kran¬ 
ken waren ihrer 
Nationalität nach: 


i 

i 

i 

i 


l 

i 

! 

i 

1 




Deutsche .... 

13,0 

4,0 

13,0 

34,0 

19,0 

12,0 

13,0 

— 

Juden . 

52,1 

— 

j 20,0 

8,0 

— 

8,0 

8,0 

— 

Letten. 

17,6 

79,5 

i 44,0 

26,0 

49,0 

70,0 

13,0 

100,0 

Litauer . 

10,9 

12,5 

17,0 

12,0 

14,5 

5,0 

60,0 

— 

Russen. 

6,4 

4,0 

6,0 

20,0 

17,5 

5,0 

6,0 

— 

Summa 

100,0 

100,0 

100‘0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 


a) Manie und Melancholie. Die affektiven Seelenstörungen 
werden hier grundsätzlich nach der Komponente gesondert betrachtet, 
unter welcher sie in klinischer Beobachtung waren; auf diese Weise 
konnte in der tabellarischen Zusammenstellung eine Person z. B. zwei¬ 
mal unter der Krankheitsrubrik Manie und einmal unter Melancholie 
registriert werden. Bei Durchsicht der Tabellen nehmen die Juden 


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502 


Sichert, 


unter allen maniakalischen Kranken weitaues die erste Stelle ein, indem 
über die Hälfte aller dieser Psychosen auf die erwähnte Rasse entfällt; 
in dem Zeitabschnitt 1910 bis 1914 erweist sich die Manie überhaupt 
als die absolut häufigste psychische Affektion der Juden, während 
bei den anderen Nationalitäten keine besonders auffallenden Schwan¬ 
kungen im zahlenmäßigen Verhältnis zur Beobachtung gelangen. Die 
Manie der jüdischen Rasse äußert sich anscheinend in schwererer 
Ideenflucht, als bei den übrigen Völkerschaften, während der heitere 
Affekt gegenüber dem erstgenannten Symptom stark in den Hinter¬ 
grund tritt. Von sonstigen auffälligen Symptomen sei nur noch die 
groteske Schamlosigkeit fast aller maniakalischen litauischen 
weiblichen Kranken hervorgehoben, welche sogar unter dem 
Pflegepersonal als sprichwörtlich gilt. Es liegt hier ja naturgemäß 
eine Nivellierung der normalerweise überwertigen Vorstellungen 
im Sinne Wernicke s vor, wie sie ja schließlich bei allen Geistesstörungen 
und bei der Manie besonders zur Beobachtung kommt, doch scheint 
hierin vielleicht doch mehr als lediglich ein zufälliges Ereignis zu 
stecken. Die Dauer des Krankheitsprozesses erwies sich als überaus 
schwankend, worin jedenfalls weder ein nationales, noch ein soziales 
Moment von irgendeinem Einfluß zu sein schien. Auch die manischen 
Erkrankungen der Deutschen, Letten und Russen verliefen teils in 
typischer, teils in atypischer Form, wiesen aber untereinander keine 
beachtenswerten Differenzen auf. 

Gehen wir zum direkten klinischen Gegensatz der Manie, zur 
Melancholie über, so überrascht sofort bei Ansicht der Tabellen III und 
IV das Fehlen jeder melancholischen Störung bei den Juden, sowie 
auf allen Tabellen der niedrige Prozentsatz bei den Deutschen. Diese 
Tatsache darf inde nicht als schlagender Beweis angesehen werden, 
sondern erklärt sich aus dem Umstande, daß gerade bei anscheinend 
leichteren depressiven Zuständen die Altgehörigen der wohlhabenderen 
Gesellschaftsschichten den Versuch einer häuslichen Behandlung 
anstrengen oder aber Sanatorien zur Behandlung der erkrankten Fa¬ 
milienglieder heranziehen, von der Voraussetzung ausgehend oder sie gar 
auf fälschlichen Erfahrungen früherer Zeiten basierend, daß der Auf¬ 
enthalt in einer öffentlichen oder geschlossenen Anstalt rein psycholo¬ 
gisch die Krankheit verschlimmern könne. Während bei der Erregung 
und der Schwatzhaftigkeit manischer Kranker solche Bedenken den 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 503 


Angehörigen weniger kommen, da die Anwesenheit solcher Personen 
im Hause unbedingt sehr störend empfunden werden muß, halten gerade 
ruhige Depressionen nicht selten den Entschluß zur Anstaltsver¬ 
bringung zurück. Neben all dem bleibt bei den Letten numerisch 
das weitaus größte Übergewicht bezüglich der melancholischen 
Störungen bestehen; innerhalb dieser Volksart hält sich die Zahl 
in der Vomhundertberechnung so ziemlich auf der gleichen Höhe. Die 
lettischen Melancholien sind scheinbar schwer, von starkem traurigem 
Affekt begleitet; die Angst tritt jedenfalls gegenüber dem traurigen 
Affekt wesentlich in den Hintergrund. Meist sind es von Hause aus 
begabte, aber durchaus depressiv veranlagte, vielfach konstitutionell 
verstimmte Persönlichkeiten, bei welchen die schwere melancholische 
Phase dann lediglich die Exazerbation vorbestehender krankhafter 
Momente darstellt, bei anderen setzt die Psychose wiederum gänzlich 
unvermittelt ein. Selbstmordneigung ist bei den Letten stark, 
nicht selten erfährt man von ehemaligen geheilten Kranken, daß sie 
nach Jahren oder Monaten plötzlich sich das Leben genommen. Die 
Deutschen und Juden zeigen in den affektiven Depressions¬ 
stadien diese Neigung weniger, bei den Russen und Litauern 
scheint sie sehr gering vorhanden zu sein. Dagegen haben diese 
Nationalitäten keineswegs überwiegend den traurigen Affekt im Ver¬ 
lauf ihrer melancholischen Störungen aufzuweisen, der Affekt der 
Angst bildet, sei es im Gemisch, sei es in selbständiger Form, ein ebenso 
häufiges Symptom der melancholischen Verstimmung. Neben den 
rein affektiven Seiten, also den Grundkomponenten, müssen noch 
die somatopsychisehen Störungen Erwähnung finden, welchen die 
Letten in ihren melancholischen Zuständen in stärkstem Maße unter¬ 
worfen sind. Es erscheint mir unzweifelhaft, daß sie den schweren 
Körperwahnvorstellungen ausgiebiger unterliegen, als die anderen 
beobachteten Kranken, deren abnorme melancholische Ideenkom¬ 
plexereichlich soviel auf allopsychischen Störungen beruhen. Diese 
Erscheinung dürfte darin zu suchen sein, daß bei der lettischen Nation 
überhaupt ein starker hypochondrischer Einschlag sich zeigt, worauf 
noch weiter unten eingegangen werden wird; entsteht nun auf der 
endogenen Grundlage eine melancholische Störung, so entwickelt sich 
eben aus der primären hypochondrischen Auffassung die melancho¬ 
lische Körperwahnvorstellung in ihrer schwersten Form. 


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504 


Siebert, 


In bezug auf eine vergleichende Betrachtung kann nur noch er¬ 
wähnt werden, daß ich Dipsomanien als Symptom der Melancholie 
ausschließlich bei Deutschen und Russen beobachtet habe. Da jedoch 
solch eine klinische Erscheinung immerhin zu den Seltenheiten gerech¬ 
net werden muß, soll dieselbe lediglich zur Registrierung der Tatsache 
herangezogen werden. Hereditäre Momente konnten bei den affektiven 
Seelenstörungen lediglich in einzelnen Fällen, zudem nur bei Deutschen 
und Juden, erbracht werden. 

b) Dementia praecox. Im Gegensatz zu den affektiven Er¬ 
krankungen, bei welchem eigentlich nur geringe rassenindividuelle 
Momente zur Beobachtung gelangten, bietet die Gruppe der Demen¬ 
tia praecox doch eine Reihe vom vergleichend-nationalen Standpunkt 
aus sehr beachtungswerter Tatsachen dar. Fast bei allen Volksarten 
bildet dieser Vorgang die prozentuell am stärksten vertretene Zahl, 
lediglich in der Zeit 1910 bis 1914 überwiegt bei den Juden die Manie 
und bei den Russen das alkoholische Delirium; absolut gerechnet, 
stellt das Jugendirresein, wie dieses auch zu erwarten sein 
muß, den weitaus größten Prozentsatz an seelischen Störungen 
dar. Den einzelnen Nationalitäten nach geordnet, sieht man 
deutlich an der Hand der Tabellen, daß eine Gesetzmäßigkeit 
bei der Anordnung in übereinstimmendster Weise vorhanden ist. Man 
kann fast sagen, daß die Aufnahmeziffer durchaus der Bevölkerungs¬ 
zahl entspricht, denn bei kaum einer einzigen anderen Krankheits- 
rubrik läßt sich ein solch deutlich ausgesprochenes Verhältnis nach- 
weisen. Entsprechend ihrer absolut größten Einwohnerzahl, haben 
die Letten die erste Stelle. Bei ständigem Zuzug vom Lande 
zu einem Industriezentrum erlebt man es nicht selten, daß ehemalige 
Landlcute während der Pubertät zur Stadt ziehen, sich hier der Fabrik¬ 
oder Schwarzarbeit widmen und dann psychisch erkranken, auch 
läßt es sich feststellen, daß viele der Erkrankten als Kinder oder zu 
Beginn der Pubertät zur Stadt gezogen sind, wo sie dann plötzlich 
aus dem ruhigen Landleben in die unhygienischen städtischen Ver¬ 
hältnisse versetzt wurden und sich genötigt sahen, eine ihnen bis dahin 
ungewohnte und anfangs das körperliche und vielleicht auch das geistige 
Vermögen weit übersteigende Arbeit zu leisten. Ich glaube nun keines¬ 
wegs, daß in dem gelegentlichen Nichtübereinstimmen von Können 
und Anforderung eine Ursache für das Entstehen einer Defektpsychose 


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Die Psychosen und LNearasen bei der Bevölkerung Kurlands, öOö 

g« «tichötr wäre, lebbetrachte dio-sm Kiänkiitfitjssu^tMödß als 
«ndtigäne ' C eh1 r n&ff ek t iv>nc- n, will mich aber auch keineswegs 
der» Momenten als sogenannten Ifilf^frikt^reö verschließen. 

Auffallend' ist mir. in bezug auf die Lelien das ;$pätc ‘ 

KiüSfctzeh de) Ui liranknrig: die .«leisten iMbniugt*« ■■gelangen wohl 
zwischen dein -22, und .30. Lebensjahre zum A»iKbnu*fa und sind fast 
alle durpli starke* ilorvortrefe« imtatonimlmr ifrsrhrnuHStrii chara-b- 

terisiett. Meist, ergibt die Vorgeschichte keine Atdudtpunkte, die 
für eine Heredität <idef eine wirklich exogene Crsayhe Sprechern die 
Krankiieit sotzt hi der Kegel afoii:, seltener subaUnt ein,? ffci dem 
sch an etwas VofgeniekbiM Aller Uiif# der Arbeiter sei) »ft der ♦. 

Afköbotisniu* entschieden etm* bagihistig^mle Holle zu spielen,. .Die 
Walmbiidring tritt, bei den Letten axis» hebumd 'in 'geringerem Maße 
auf, als hei d<m anderen Völkerschaften; kihgegcü lassen sieh in den 
Füllen seht l$>hÄft<et naeliwelsen. Infolge 

Lberwiegens katatoniKchrr Symptome tritt- -öfter. Mutismus md. der 
.na.turgen.uffj die Uniecssmhibvgefi .'sehr ersehwert. Unter den Letten 
habe ich gerade die ; d^werstibi ;akut atisbreehende« katut einen iÄryb.;ü'L 

in denen sie überaus aerstöruii^- 
süchtig emdbeUeb und in ivu&nrst gcd&brLieher •Weise gewalttätig 
wurden, dabefofi gerade gegen eigene Fawbengliedo» Ks. dlirl'te wohl 
anzuflehffk?! sein, da 15' diese: Krsehdttuitg ein: !V"(h*lii bdiler- 
haften Umganges mit der im Beginn der pm-hw-hgi) Urknsniomg 
stehenden Uersonlh likeil ist. .indes habe Uh solche Zid-hmle hei let¬ 
tischen Kranken aller fieseUsctedts-, und Vörtuiigehslilft^rn heohr .u. 
achtet.; Pas- Enrirejtnltat. der Prozesse Ist'-'llher.atlS'.-W^Hfilnd,,' virffaieli 
blöder sehehibaretÖi^esuhg-lfk viel e werdbnyU ; ; 

b e d i n gi arbftit sf »hi tu tec/tz andau Irrt der Äkoasmen. und leben iineh 
viele ,bdire als Versorger der Uanabmi in ihrer HämdhTikeii. Jt. Bthi, 
der ein au Tausenden zahletides Material von Psychosen nti Leiten 
studiert liat; teilte Ifdd rmtj dab gr urfter der lettischen ländlichen 
Bevölkerung kaum rein nmmsvlie Psychosen beobachtet, in kürzerer 
ntler längerer %oit sieh »iik dem pset^hirfliftistheB.- jßildö 

ein Verbiödungsprozeß,. dem kamtrme '• Symptome oder, sonstige 

■ cbmalUoristiselm Züge sL-h zugosdLXn. 

Anders ist es fjei dm?. Juden; bei den Fällen von Ibmeidia prae- 
wok läßt siyh in '. w*ynft ' . 


Co gle 




506 


Si e be rt. 


direkt hereditäres Auftreten von Geistesstörungen nachweisen. Die 
Rüdimchen Theorien über Vererbung und Neuentstehung der Dementia 
praecox an der Hand meines Materials zu prüfen war mir leider nicht 
möglich, die Schwierigkeit besteht auch ferner darin, daß unter den 
Juden in Kurland und besonders in Litauen, trotz des tiefen Bildungs¬ 
standes, die Frage der Erblichkeit und der Familiarität der Psychosen 
— vielleicht durch praktisches persönliches Beobachten — so bekannt 
ist, daß sie auch dem Arzt gern das Bestehen solcher Störungen in 
der eigenen Familie verschweigen. Gerade bei Töchtern der niedersten 
Bevölkerungsschichten wird das Bekanntwerden einer vorübergehen- 
• den Geistesstörung meist als Gefahr von dem Gesichtspunkte aus 
angesehen, daß ein Mann sich zur Heirat mit einer Person, deren 
Familie zu Geisteskrankheiten neigt, kaum entschließen würde. Hin¬ 
gegen erhält man aber zuweilen objektive Angaben von Bekannten 
oder seitwärts stehenden Verwandten, wodurch gelegentlich ein gutes 
Errichten von eventuellen Krankheitsstammbäumen ermöglicht wird, 
doch ist das immerhin nur für eine ganz kleine Zahl von Fällen von 
Belang. — Während ich bei den Letten nicht selten während des 
Dienstjahres nach Absolvierung des Gymnasiums, auch gar nach 
abgeschlossenem Universitätsstudium die Psychose ganz unvermittelt 
ausbrechen sah, läßt sich bei den Juden meist schon vor der 
Pubertät eine gewisse Disharmonie im psychischen Ge¬ 
schehen nachweisen. Oft sind es gerade Musterschüler, die plötzlich 
versagen, dann wieder Kinder, die mit 12 oder 13 Jahren musikalische 
Meisterstücke darbieten, auffallend gut Schach spielen, schwere Lek¬ 
türe treiben, überraschend leicht die verschiedensten Sprachen er¬ 
lernen und anderes mehr. Auch sexuelle Frühreife läßt sich beob¬ 
achten. [Nach meinen Erfahrungen beginnt die Pubertät fast regel¬ 
mäßig um etwa 1 bis iy 2 Jahre früher bei den Juden, als bei den 
Deutschen und Russen, um 2—3 Jahre früher, als bei den Letten und 
Litauern.] Zwischen dem 18. und 20. Jahre, meist während der 
Schulzeit oder zu Beginn des Studiums bezw. der Lehrlingsperiode, 
setzt dann die Psychose ein. Man kann oft finden, daß gerade der Mi¬ 
lieuwechsel die Störung deklariert, nicht aber, wie die Angehörigen 
gemeiniglich angeben, hervorbringt. In den Schulen wird so manche 
bereits krankhafte Gepflogenheit noch lange nicht als pathologisch 
angesprochen, zumal wenn die Leistungen nicht irgend hinter dem 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 507 


Gewöhnlichen Zurückbleiben. Die meisten der Störungen beginnen 
dann den Angehörigen durch lebhafte Wahnbildung als krankhaft auf¬ 
zufallen. Von diesem Stadium ab nimmt die Krankheit der Kegel 
nach einen rapiden Verlauf und führt in kurzer Zeit unter 
Zerfall der geistigen Persönlichkeit zur schweren Ver¬ 
blödung, die gewöhnlich infolge unsozialen Wesens, Unruhe und 
Unlenksamkeit zu dauerndem Anstaltsaufenthalt führt. Sehr selten 
sah ich eine Dementia praecox bei jüdischen Kranken sich so weit 
bessern, daß eine Beschäftigung, wenn auch in verringertem Umfange, 
wieder aufgenommen werden konnte. Auch schubweiser Verlauf, 
gelegentlich unter dem Bilde einer affektiven Psychose, läßt sich 
beobachten. Die voll entwickelte Psychose verläuft ohne irgendeine 
charakteristische Schattierung, es sei nur nochmals auf das stets früh¬ 
zeitige Einsetzen der Störung und die sonderbaren, oft einsei¬ 
tigen, hervorragenden Eigenschaften solcher Kranker im 
Vorstadium des Leidens hingewiesen. 

Die Dementia praecox der Deutschen ergibt auch in etwa 25% 
hereditäre Belastung. Mehr als bei den Letten und Juden findet sich 
bei den Eltern Konsanguinität; erwähnt sei noch, daß sich häufig 
Alkoholismus des Vaters nachweisen läßt. Der Beginn der Krankheit 
war an meinem Material durchaus mehr schleichend und vom Nor¬ 
malen zum Pathologischen fließend, wie bei den erst angeführten 
Volksarten. Die Kranken scheinen längs am mehr und mehr intellek¬ 
tuell zu versagen, auch fällt ihre Gemütsstumpfheit vielfach auf. 
Das Altersoptimum liegt zwischen 16 und 24 Jahren. Heilung mit 
Defekt erfolgt ungleich häufiger, als bei den Juden, in Parallele 
zu letzteren ist schubweiser Verlauf nicht selten. 

Bei den Litauern sah ich meist ein jähes Verlaufen der Psy¬ 
chose, welche ungemein viele Symptome hysterif ormen C harak- 
ters bei dieser Volksart darbietet, so daß für die anfängliche Diagnosen¬ 
stellung große Schwierigkeiten entstehen können. So habe ich aus¬ 
gesprochene Tics convulsifs, vorübergehende Hemi- und Paraplegien, 
Gefühlsstörungen, Krampfzustände usw. in großer Anzahl beobachtet, 
während selbst bei den allgemein zu motorischen Reiz- und Ausfalls¬ 
erscheinungen neigenden Juden solche Scheinsymptome nur als sel¬ 
tenes, immerhin auffälliges Ereignis zu Gesicht kommen. Die Er¬ 
krankung setzt bei den Litauern eigentlich in jedem in Frage kommen- 


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508 


Siebert, 


den Alter ein, die Verblödung ist später tief, Heilung mit Defekt 
selten. Die Hereditätsfrage kann überhaupt nicht angeschnitten 
werden. 

Die Psychose der Guppe des Jugendirreseins bietet bei den Russen 
nichts sie wesentlich von den Verlaufsarten und -formen bei den an¬ 
deren Nationalitäten Unterscheidendes dar; man kann jedenfalls keine 
besonders charakteristischen Merkmale feststellen. Belastende Mo¬ 
mente lassen sich gelegentlich durch Alkoholismus des Vaters und 
Hysterie der Mutter erbringen, ob sie wirklich als die effektiven Ur¬ 
sachen angesprochen werden dürfen, bleibe offen. Recht oft besteht 
im Beginn der Psychose bei den Russen Selbstmordneigung, der 
dann meist eine wahnhafte, eventuell durch Sinnestäuschungen ge¬ 
nährte, pseudodepressive Idee zugrunde liegt. Ich habe eine große 
Reihe von Selbstmorden gerade unter jugendlichen Russen beobachtet, 
bei welchen sich eine Dementia praecox zu entwickeln begann, wo die 
Kranken gegen ärztlichen Rat in ihrer Häuslichkeit gelassen wurden. 
Es besteht in diesem Punkt eine sonderliche Gegensätzlich¬ 
keit zwischen affektiven und intellektuellen Seelenstö¬ 
rungen, indem die erwähnte Neigung sich, nächst den Russen, am häu¬ 
figsten bei den Juden findet, während ich sie bei Deutschen, Letten 
und Litauern sehr selten nachweisen konnte. 

Solch ein wechselndes Vorkommen der Dementia praecox in bezug 
auf Rasse und Nationalität spielt jedenfalls sicher bei vielen Völker¬ 
schaften eine beachtenswerte Rolle. So betont Ziehen x ) das wesent¬ 
lich häufigere Vorkommen der Dementia hebephrenica in Holland, 
als in Thüringen. — Daß gerade unter denDeutschen und Letten 
die Dementia praecox in einem ansehnlichen Prozentsatz eine bedingte 
Arbeitsfähigkeit im Endstadium hinterläßt, dürfte zweifellos bei 
Errichtung moderner Heil- und Pflegeanstalten mit aus¬ 
gedehntem Arbeitsbetrieb gute Erfolge in der Beschäftigungs¬ 
therapie zeitigen, andererseits wäre rein soziologisch dieses Moment 
nutzbringend zu verwerten. Ich möchte nur flüchtig auf das glänzende 
Ergebnis der ersten größeren Versuche dieses Stils von A. Behr in 
Stackein hinweisen. 

c) Progressive Paralyse. — Spricht man von dem Vor- 


x ) Ziehen, Psychiatrie, 1911, S. 822. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 509 

kommen dieser Krankheit bei den einzelnen Völkerschaften, so werden 
sofort die vielen verschiedenen Theorien lebendig, welche sich mit 
der näheren und allgemeinen Entstehungsursache des Leidens befassen; 
sind doch gerade in bezug auf die so wohl charakterisierte Gehirn-und 
Seelenstörung überaus viele vergleichende Betrachtungen angestellt 
worden, bald zwischen einzelnen europäischen Völkern und Bassen, 
bald zwischen weißen und farbigen. Bald hören wir die Zivilisation 
als grundlegendes Moment angeben, bald werden mehr neurotrope 
Spirochätenstämme beschuldigt. Klarheit herrscht jedenfalls in 
dieser Frage keineswegs. Westhoff hat die Ansicht vertreten, daß 
die Paralyse eine Rassenkrankheit sei, die vorzugweise die höheren, 
speziell die germanische Basse, befällt, und erklärt erst durch die Ver¬ 
mischung der jüdischen mit einer anderen — namentlich der ger¬ 
manischen — Rasse die Erkrankung der Juden an Paralyse. Sichel x ) 
vermißt nach Durchsicht seines Frankfurter Materials jede Unter¬ 
lage für die Annahme einer Bassendisposition. Durch Rassenmischung 
glaubt auch Barnes a ) die Häufigkeit der Negerparalysen in der Jetzt¬ 
zeit erklären zu können, während vor etwa einem halben Jahrhundert 
der Vollblutneger so gut wie immun gegen Paralyse war. Man muß 
sich auch in bezug auf die Paralyse in Kurland darüber klar sein, daß 
jedenfalls unter der Landbevölkerung einerseits die Lues als Ursache 
und andererseits auch die Paralyse als Folgekrankheit derselben eine 
verhältnismäßig geringe Rolle spielen. Beide Krankheiten kommen 
ja unter den Landbewohnern vor, spielen jedoch gegenüber den Zahlen 
in der Stadt eine kaum beachtenswerte Rolle. A. Behr 8 ) hat unter 
der lettischen und estnischen Bauernbevölkerung, welche in der großen 
von ihm geleiteten Landesanstalt Aufnahme fanden, progressive 
Paralyse fast ausschließlich bei Personen feststellen können, welche 
eigentlich „Städter“ waren, die nur nominell als Steuerzahler zu den 
Landgemeinden gehörten. Unter den deutschen (Kolonisten), let¬ 
tischen und litauischen Ackerbauern habe ich auch nur ganz ver¬ 
einzelt eine progressive Paralyse beobachten können, die Zahl der- 

x ) Sichel, Die progressive Paralyse bei den Juden. Arch. f. Psycli. 
Bd. 52, 1913. 

*) Barnes, zit. nach Neurol. Ztlbl. 1914, Nr. 1, Referate. 

8 ) Behr, Bericht über die Livländische Landes-Heil- und Pflegc- 
anstalt Stackein. 1907—1910 und 1911—1913. 

Zeitschrift für Psychiatrie LXXIII. 6. 36 

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510 


Siebert. 


selben ist jedenfalls so gering, daß sie unberücksichtigt gelassen werden 
kann. Die in der psychiatrischen Abteilung behandelten Fälle bilden 
also ein ausschließlich städtisches Material. Den weitaus größten 
Prozentsatz an Paralysen stellen die Deutschen; nicht nur, daß in 
den Jahren 1910 bis 1914 die Deutschen mit 34% aller paralytischen 
Störungen vertreten sind, auch über 20% aller Psychosen bei Deut¬ 
schen wurden in zehn Jahren von dieser Krankheit gebildet. Unter 
den Letten ist die Zahl der Paralysen verhältnismäßig gering, zudem 
noch in den letzten fünf Beobachtungsjahren zurückgegangen, ab¬ 
solut gerechnet nehmen sie hingegen in der zweiten Periode den nach 
den Deutschen folgenden Platz ein, in der ersten überwiegt ihre Zahl. 
Ich glaube nun doch hierin ein wenigstens zeitweises rassenindividu¬ 
elles Moment erblicken zu dürfen. Während in den höheren Gesell¬ 
schaftsschichten die Paralyse sowohl bei Deutschen und Letten an¬ 
scheinend im gleichen Umfang, wohl lediglich in Abhängigkeit von 
den erforderlichen exogenen Momenten, vorkommt, ist das Leiden bei 
dem Mittelstände, den besser situierten Handwerkern, Händlern, 
kleinen Unternehmern usw. unter den Letten vermutlich geringer ver¬ 
breitet, als unter den entsprechenden deutschen Kreisen. Obwohl 
man über die richtige Auffassung so mancher Rassenaßektion sich 
gelegentlich Zweifel vorlegen muß, erscheint mir diese letzte Beob¬ 
achtung doch ganz unanfechtbar dazustehen. Ich muß dabei den 
alten, neuerdings wiederum betonten Begrifi der Zivilisation 1 ) 
hervorkehren und ihn als Erklärung für diese Erscheinung anzuwenden 
versuchen. Die Deutschen haben oft in sechs und mehr Generationen 
in der Stadt gelebt, besitzen vielfach von ihren Voreltern ererbte, meist 
materiell sichergestellte Geschäftsbetriebe, so daß sie bei relativ ge¬ 
ringerer Arbeit ein breiteres und auch weniger arbeitsvolles Leben 
führen können, als die Letten; daß diese Lebensverhältnisse leicht 
ausschweifendere und in mancher Beziehung unhygienischere Da¬ 
seinsbedingungen hervorzurufen imstande sind, läßt sich leicht er¬ 
klären und kann vom unbefangenen Beobachter nicht übersehen 
werden. Ich spreche in diesem Sinne von einem zeitweisen rassenin¬ 
dividuellen Moment, denn, während die lettische Nation die bürger¬ 
lichen Berufe, wie die Deutschen, zurzeit in der ersten, höchstens in der 


*) B. v. Krafft-Ebing , Lehrbuch der Psychiatrie 1903, S. 138. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 511 


zweiten Generation ausübt, haben die deutschen Landesbewohner be¬ 
reits, wie oben erwähnt, seit Menschenaltern die gleichen Existenz¬ 
verhältnisse aufzuweisen gehabt. Daneben dürften noch Alkoholis¬ 
mus und Konsanguinität der Eltern, eventuelle erbliche Belastung 
und anderes mehr der Erwähnung wert sein, alles Momente, welche 
bei den Deutschen, in ungleich größerem Maße anzutreffen sind, als 
bei den Letten, bei welchen wohl in ein bis zwei Generationen die 
gleichen Schädlichkeiten in Frage kommen werden. Es erscheint mir 
selbstverständlich, es sei denn, daß unsere Therapie inzwischen noch 
unbekannte Fortschritte machen sollte, daß dann auch bei den Letten 
die Zunahme der paralytischen Seelenstörungen sich in einer solchen 
Weise vollziehen wird, daß die zeitweisen völkischen Differenzen in 
diesem Punkt sich ausgleichen. Auch Ziehen x ) hebt neben der Lues 
die betonten und andere Ursachen mehr für die Entstehung der Para¬ 
lyse hervor. Für die völkischen Unterschiede im Auftreten der Para¬ 
lyse kann ich mich nicht diesen hervorgehobenen Tatsachen als Fragen 
von Bedeutung verschließen. Der Lues allein dürften Deutsche und 
Letten wohl in gleicher Weise ausgesetzt gewesen sein, und in der Be¬ 
handlung des venerischen Leidens wird man wohl kaum beträchtliche 
Unterschiede nachweisen können. Ich habe in anderen Arbeiten 
schon mehrfach meinen diesbezüglichen Standpunkt präzisiert 2 ), 
daß trotz aller Forschungsresultate, welche unseren diagnostischen 
Apparat bis aufs einzelste vervollkommnet und den Zusammenhang 
zwischen Lues und Paralyse einwandfrei bewiesen haben, ein unbe¬ 
kanntes endogenes Etwas die Entwickelung dieses zurzeit 
jedenfalls unheilbaren Hirn- und Seelenleidens mitbedingt. Der Ver¬ 
lauf der Krankheit bietet nichts Charakteristisches bei diesen beiden, 
am meisten unter allen erwähnten Völkerschaften zu Vergleichen 
in bezug auf Paralyse auffordernden Nationalitäten dar. 

Bei den Juden ist die Paralyse keine häufige Erkrankung; ob 
das an regionären Erkrankungen liegt, ob mehr die früheren Heiraten 
gerade unter den unbemittelten und ungebildeten Schichten der jü- 

- *) Ziehen, Psychiatrie S. 755. 

2 ) H. Siebert, Beiträge zur Pathologie der Pupillenbewegung. Würz¬ 
burg 1912. Über progressive Paralyse. Petersb. med. Ztschr. 1914, H. 2. 
Zur Klinik der Geschwisterpsychosen anscheinend exogenen Ursprunges. 
Mtschr. f. Psych. XLII, H. 1. 1917. 

36* 

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512 


Siebert, 


di sehen Rasse häufige luische Infektionen ausschließen, kann ich 
keineswegs entscheiden. Die für die Letten als stichhaltig herange¬ 
zogenen Gründe haben selbstredend für die Juden keine Bedeutung.. 
Hervorgehoben sei der meist schnelle Verlauf bei der Paralyse der Ju¬ 
den. Bei den Russen hat die Krankheit einen ähnlichen Charakter 
wie bei den Deutschen, sowohl was das etwaige Zahlenverhältnis, 
als auch die gesellschaftliche Prädisposition anbelangt. 

Ein Altersoptimum läßt sich bei keiner Volksart nachweisen, die 
Krankheit scheint bei jeder einzelnen in den gewöhnlichen Lebens¬ 
abschnitten zum Ausbruch zu kommen, die spätesten Paralysen habe 
ich allerdings bei Letten gesehen, indem solche noch nach dem 
70. Jahre zu wiederholten Malen von mir beobachtet wurden, wobei 
dann reflektorische Pupillenstarre, Sprachstörung und der positive 
Ausfall der vier Reaktionen die Diagnose gegenüber der senilen Demenz 
sicherstellten. Während ich bei den sogenannten einfachen Geistes¬ 
störungen keine wesentliche Scheidung der Geschlechter in der 
Betrachtungsweise vorgenommen habe, muß ich bezüglich der Para¬ 
lyse auf das Verhältnis der Erkrankung bei den einzelnen Geschlechtern 
hinweisen. Ziehen erwähnt ältere Statistiken, laut welchen die Para¬ 
lyse sieben bis achtmal häufiger bei Männern, als bei Frauen auf- 
treten soll, glaubt jedoch, daß sich nach neueren Statistiken das Ver¬ 
hältnis mehr ausgeglichen habe, ja daß für gewisse Länder es sich 
auf 3:1 stellte. Die Beobachtungen von Sichel ergeben bezüglich 
seines jüdischen Materials ein Verhältnis 13:1. Die meisten Frauen¬ 
paralysen kamen in meinem Beobachtungskreis unter den Litauern 
vor; aus der Zahl der in meiner Abteilung verpflegten paralytischen 
Litauer war mehr als die Hälfte weiblich. Dieses wäre 
einerseits durch die große Anzahl der litauischen Prostituierten zu 
erklären, andererseits ist es bekannt, daß die Litauerinnen über¬ 
haupt starke erotische Züge aufweisen und sich, ohne direkt der Prosti¬ 
tution zu verfallen, lebhaft sexuell betätigen, sei es vor der Ehe, sei 
es außerhalb derselben. Daß hierdurch der syphilitischen Infek¬ 
tion Tür und Tor offen steht, ist verständlich und wird wohl aueh 
den wesentlichsten Grund für die Häufigkeit der Paralyse abgeben. 
Nächst den Litauern kommen hier die Frauenparalysen bei den 
Juden in Betracht. Auf fünf männliche konnte je eine weibliche 
Paralyse im Laufe von zehn Jahren nachgewiesen werden, ein jedenfalls 


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Die Psychosen nnd Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 513 


wesentlich ungünstigeres Verhältnis, als es sich Sichel darbot. Auch un¬ 
ter einem Teil der Jüdinnen, speziell den niedersten Schichten, ist die 
Prostitution bezw. die freie Liebe sehr verbreitet, und müssen diese 
Faktoren auch hier als Erklärung herangezogen werden. Bei den 
Russen ist das Verhältnis 8:1, den Letten 10:1, den Deutschen 12:1. 
Sicherlich rekrutiert sich der geringste Prozentsatz der Prostituierten 
hierzulande aus den Deutschen, auch die Russen kamen nicht we¬ 
sentlich in Frage; die Letten geben gewiß absolut die größte Zahl, 
relativ jedoch ungleich weniger als die Litauer und Juden. Immer¬ 
hin sprechen diese zahlenmäßigen Anordnungen einstweilen in dem 
Sinne, daß die Russinnen, Lettinnen und die deutschen Frauen, sei 
es aus inneren, sei es aus äußeren Gründen, weniger der paralytischen 
Affektion unterworfen sind, als die Litauerinnen und Jüdinnen. 

d) Alkoholismus. —Die Lage Kurlands in 56° bis 58° nördlicher 
Breite, sowie ferner das russische Branntweinmonopol haben es mit 
sich gebracht, daß eine offensichtliche Zunahme des Alkoholkonsums 
von Jahr zu Jahr zu verzeichnen war. Als Objekt der Psychiatrie 
kam dabei fast ausschließlich das Delirium tremens zur Beobachtung, 
die Korsakowsche Störung habe ich unter den Anstaltsinsassen nur 
einzelne wenige Male zu Gesicht bekommen. Es ist mir darin eine son¬ 
derliche Gegensätzlichkeit aufgefallen, daß unter den niederen Ge¬ 
sellschaftsschichten das Delirium tremens ungleich häufiger, 
die Polyneuritis alcoholica mit oder ohne amnestisches Irresein 
sichtlich weniger zur Entwicklung gelangt, als bei den höheren 
Schichten, welche darin ein geradezu umgekehrtes Verhalten zeigen. 
Diese Erscheinung läßt sich hier bei allen Volksarten beobachten 
und scheint eigentlich nur einen rein sozial-hygienischen Faktor zu 
repräsentieren. Die Erklärung wäre wohl darin zu suchen, daß 
die wohlsituierteren Klassen Schnaps sicherlich nicht in den un¬ 
sinnigen Quantitäten vertilgen, wie der einfache Mann, andererseits 
gerade die ersteren meist wohl eine kräftigere und rationellere Kost 
verwenden, als letztere, worin auch ein der Entwicklung des Zitter¬ 
deliriums vorbeugendes Moment zu suchen wäre 1 ). Die Zahl der Deli¬ 
rien hat in den Jahren 1910-14 zugenommen, jedenfalls sprechen die Ta¬ 
bellen I und III in klarster Weise zugunsten dieser Tatsache, indem bei 

*) P. Schröder, Intoxikationspsychosen. 

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514 


Sieber t. 


allen Völkerschaften sich der Prozentsatz der registrierten alkoholischen 
Delirien gehoben hat, bloß bei den Juden ist in dem Zeitraum nicht ein 
einziger Fall yorgekommen. 1905-09 bildeten die Juden 4% aller 
Delirien; es handelte sich dabei ausschließlich um jüdische Prostituierte, 
bei welchen sich, sei es in der Haft, sei es post trauma oder durch irgend¬ 
ein anderes auslösenden Moment, das Delirium entwickelte und zur 
Verbringung in die psychiatrische Abteilung führte. Allgemein 
trinken die Juden ungleich weniger als die christlichen Bewohner 
Kurlands; auch in den gleichen Berufen, bei welchen das Trinken ge- 
gewissermaßen einen professionellen Charakter 1 ) trägt und 
sich so ziemlich in analoger Form bei den anderen Nationalitäten findet, 
wird es bei den Juden meist vermißt. Trinkt aber ein Jude einmal 
Alkohol in regelmäßiger Weise, so gilt es als Regel, daß er enorme 
Quantitäten vertilgt; meist handelt es sich dann um einen chronischen 
Schnapsmißbrauch. Betrunkene Juden sind auch eine Seltenheit; 
dieselben schweren Schnapstrinker nehmen im Laufe des Tages vom 
frühen Morgen an Branntwein zu sich, verfallen jedoch nicht dem 
Delirium tremens, obgleich ich Personen beobachtet habe, welche 
bis über 1 Liter Schnaps täglich tranken und diesen Abusus innerhalb 
von mehr als 20 Jahren fortsetzten; Myokarditis, schwere toxische 
Arteriosklerose mit hoher Blutdrucksteigerung und Polyneuritis traten 
als Folge solcher chronischen Giftzufuhr auf, jedoch kein Delirium. 
Ein Teil derselben Momente, welche eine eventuelle Disposition für 
die Entwicklung der Paralyse aufzugeben scheinen, spielt auch be¬ 
dingt für die Entwickelung des chronischen Alkoholismus eine Rolle, 
nur dürften für das Zustandekommen des Delirium tremens keineswegs 
im allgemeinen so viele Faktoren notwendig sein, da es sich um einen 
rein toxischen Prozeß handelt. So sehen wir auch diese Gehirnaffek¬ 
tion unter Deutschen, Letten, Litauern und Russen in derselben 
Weise auftreten, nur schwankend in der Relation und gelegentlich 
in scheinbarer Abhängigkeit von den Berufen. Es handelt sich bei 
diesen Kranken um Gastwirte, Schankkellner, Restaurantmusikanteu, 
kleine Beamte (besonders solche, welche an der Branntweinversteue¬ 
rung tätig waren), Fleischer(!), Viehhändler(!). Diese Berufe werden 


l ) F. Appel, Über die Entstehungsursachen des chronischen AI- 
koholismus. Inaug.-Diss. Würzburg 1911. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 515 


von allen vier erwähnten Volksarten ausgeübt und gestatten daher 
eine vergleichende Betrachtung ohne grobe Fehlerquellen. Delirien 
bei Frauen sind in den Jahren 1910 bis 14 nicht beobachtet worden. 
Zweifellos entspricht wiederum der hohe Prozentsatz an Letten der 
numerisch größten Zahl derselben. Was die Russen anbelangt, so dürfte 
ihre Erkrankungsziffer sicherlich größer sein, als das Material mir dieses 
aufweist, denn die in den einzelnen Bahn- und Baubetrieben erkrank¬ 
ten Arbeiter, welche fast ausschließlich Russen waren, werden in eige¬ 
nen Krankenhäusern behandelt. Psychosen konnten eigentlich in 
dieselben nicht aufgenommen werden, während alkoholische Delirien, 
in Anbetracht des kurzdauernden Verlaufs der Störung, in Isolier¬ 
zellen behandelt wurden. Über die Zahl solcher Erkrankungen bei 
dieser Gruppe von Menschen habe ich leider, trotz aller Bemühungen, 
keine Aufschlüsse erhalten können; da aber die Summe solcher Fälle 
nicht gering war, dürfte sich das Verhältnis anderer Völkerschaften 
in bezug auf die Russen noch verschieben; beachtenswert erscheint 
jedenfalls auf Tabelle III der hohe Satz von über 40%. — Bei Kriegs¬ 
ausbruch erließ die russische Regierung ein strenges Alkoholverbot 
und schloß alle Branntwein Verkaufsstellen. Wenn auch dieses Verbot 
in weitestgehendem Maß übertreten wurde, so waren die Preise für 
Schnaps und ähnliche Getränke doch so enorm gestiegen, daß ein 
andauerndes Trinken, wie es bei dem billigen Branntwein möglich war, 
kaum von irgendeiner Gesellschaftsschicht geübt werden konnte. So 
lange die eventuellen Vorräte ausreichten, fanden noch Aufnahmen 
von Delirien statt, seit Oktober 1914 nicht mehr. Neben der Schwie¬ 
rigkeit in der Alkoholbeschaffung kommt aber auch noch der Umstand 
in Frage, daß gerade dasjenige Menschenmaterial, bei welchem sich im 
wesentlichsten das Delirium tremens antreffen ließ, zum größten Teil 
von der russischen Regierung in den Heeresdienst einberufen worden 
war. Seit Oktober 1914 habe ich in 2 1 /, Jahren bloß zwei Fälle von De¬ 
liriums tremens zur Aufnahme bekommen, einen Arbeiter aas einem 
Schnapsdepot, welcher bereits vor fünf Jahren wegen dieser Störung 
in der Abteilung interniert war, und der vor Ausbruch der Störung 
wegen Entwendung von Schnaps in Gefängnishaft sich befand, woselbst 
am dritten Tage ein typisches Delirium ausbrach, und ein Gastwirt, 
bei dem das Delirium im Verlauf einer septischen Endokarditis sich 
einstellte. An sich bietet der klinische Verlauf des Delirs keinerlei 


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Sichert, 


Unterschiede bei der einen oder anderen Volksart dar, die Schwere 
des Krankheitsverlaufs scheint ausschließlich von der Intensität 
der Vergiftung oder von der jeweiligen Konstitution abhängig 
zu sein. 

Ätherismus ist hier häufiger nur bei Litauern beob¬ 
achtet worden. Unter den Letten wird Äther selten mißbraucht, ebenso 
nicht bei den Deutschen und Russen. Gelegentliches Vorkommen bei 
ihnen spricht nur im Sinne einer persönlichen Erkrankung. [Ich 
will nur darauf hinweisen, daß im Norden Livlands, in der Gegend 
der Stadt Werro, der Ätherismus gewissermaßen als Volksseuche be¬ 
trachtet werden mußte. Speziell ein estnischer Volksstamm, die Setu- 
kesen, war dem Ätherismus in hohem Maße verfallen. Wegen Mangels 
an zuständiger Literatur bin ich eben nicht in der Lage, die erschreckend 
hohen Quanten zahlenmäßig auszudrücken, welche, auf dem Wege 
des Schmuggels ins Land geschafft, von der Bevölkerung aufgekauft 
und konsumiert werden. Der psychische und somatische Verfall bei 
chronischem Ätherismus ist, wie ich mich überzeugen konnte, ungleich 
schwerer, als beim Alkoholismus]. Bei den Litauern sind es haupt¬ 
sächlich Frauen, welche dieses Narkotikum der Fettreihe verwenden, 
der Abusus scheint sich bei ihnen hauptsächlich auf dem Boden der 
Hysterie, jedenfalls stets auf Grund einer schweren degenerativen An¬ 
lage zu entwickeln. Ich habe in Beobachtung sechs Litauerinnen und 
zwei Litauer gehabt. Vier Frauen habe ich in ihren Schicksalen ver¬ 
folgen können, die anderen Kranken sind aus meinem Beobachtungs¬ 
kreis entschwunden. Zwei Frauen waren jung der Prostitution ver¬ 
fallen, drei andere boten charakteristische hysterische Züge dar, des¬ 
gleichen der eine Mann; eine Frau und ein Mann waren nach an¬ 
amnestischen Angaben leicht debil. Bei den Kranken hatte ein während 
mehrerer Wochen fortgesetzter Äthermißbrauch zu schweren allge¬ 
meinen Erregungszuständen geführt, welche nach kurzer Anstaltsbe¬ 
handlung abklangen. Die eine Frau hat sich bereits viermal in An¬ 
staltsbehandlung befunden, jetzt ist sie total verblödet, lebt bei ihren 
Angehörigen, hat seit drei Jahren keinen Äther mehr erhalten, scheint 
ihn auch nicht zn vermissen. Die drei anderen Frauen sind seit 3 bezw. 
4 Jahren anscheinend (?) nicht wieder in Ätherabusus verfallen, 
sie würden in letzter Zeit wohl auch kaum Äther erhalten können. 
Alle drei sind arbeits- und erwerbsfähig, die eine in der erwähnten 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 517 


Weise leicht schwachsinnig, die beiden anderen offenbaren nach wie 
vor die Anzeichen ihrer schweren Psycho-Neurose. 

e) Epilepsie. — Über das Vorkommen bezw. die Häufigkeit 
dieser Störung bei den Völkerschaften Kurlands läßt sich nichts Be¬ 
stimmtes angeben. Die aus den Tabellen hervorgehende statistische 
Betrachtung hat wohl reichlich evidente Fehlerquellen aufzuweisen, 
muß man sich doch hierbei stets Vorhalten, daß Epileptiker zu Objekten 
der Anstaltspsychiatrie wohl meist nur in schweren Erregungs- und 
Dämmerzuständen werden, oder aber nach langem Leiden im Zu¬ 
stande vorgeschrittener Verblödung. Während die übrigen Seelen¬ 
störungen, weiche hier rubriziert sind, für die summarische Betrach¬ 
tung von Völker- und Rassenpsychosen sich unbesehens eignen, 
darf der zahlenmäßigen Darstellung epileptischer Affektionen 
keinerlei wesentliche Bedeutung zugesprochen werden. Ziehe ich 
noch mein recht großes Material an epileptischen Störungen, welche 
ich in der Sprechstunde behandelt, hinzu, so ergeben sich jedenfalls 
ganz andere Zahlenverhältnisse, besonders muß der hohe Prozentsatz 
der Letten mit 70% in Tabelle IV stark herabgesetzt werden. Im all¬ 
gemeinen fand ich eigentlich nichts, was in bezug auf Epilepsie bei 
einer oder der anderen Volksart besonders charakteristisch gewesen 
wäre. Auch die Hereditätsfrage konnte in keiner Weise mit irgend¬ 
einem befruchtenden Resultat angeschnitten werden, teils war dem 
niedrigen Bildungsgrade der Kranken und ihrer Angehörigen zufolge 
die Angelegenheit nicht diskutabel, teils fehlten eben alle entsprechen¬ 
den Momente in der Vorgeschichte. Über die Beziehungen des Al¬ 
kohols zur Entstehung der Epilepsie konnte ich nichts ermitteln, und 
einwandfreie Lues bei syphilitischer hereditärer Epilepsiegenese fand 
ich einmal durch serologische Untersuchung bestätigt 1 ). 

f) Allgemeine Neurosen. — Wenngleich die Betrachtung 
über die allgemeinen Neurosen im zweiten Teil dieser Arbeit erfolgen 
soll, so kann ich nicht umhin, diejenigen Psycho-Neurosen, welche 
in einem psychiatrischen Institut Aufnahme finden, gesondert von 
denjenigen durchzusprechen, welche in der freien Praxis zur Beob¬ 
achtung gelangen. Es ist selbstverständlich, daß nur die schwersten 


*) H. Sieben , Erfahrungen mit der WaR. in der neurologischen 
Praxis. Dtsch. med. Wschr. 1917, Nr. 17. 


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518 


Siebert, 


und allerinsuggestibelsten Formen in die Lage kommen werden, in 
einer geschlossenen Anstalt behandelt zu werden. In den Tabellen 
bemerkt man hier gleich das zahlenmäßige Überwiegen der Litauer. 
Diese Volksart neigt ganz besonders stark zu den für die Neurosen 
charakteristischen Erregungszuständen. Bei aller Reserve, welche 
man auch hinsichtlich der Verallgemeinerung des Hysteriebegriffs 
hegen muß, können diese Zustände nur in eine solche Kategorie ein¬ 
gereiht werden. Auch schwere psychogene Krampfzuständc, Pseudo¬ 
chorea und andere Krankheitsbilder lassen sich in elementarster Form 
bei den Litauern beobachten und bedingen eine zeitweise Anstalts¬ 
verbringung. In einigen Tagen kann dann, der Regel nach, bei Wie¬ 
derherstellung des psychischen Gleichgewichtes die Entlassung erfol¬ 
gen. Die Affekte scheinen bei den Kranken dabei eine große Rolle zu 
spielen, ihr labiles Verhalten überträgt sich wie ein Blitz auf körper¬ 
liche Zustände. Es wurde bereits in den Beobachtungsresultaten an 
der Dementia praecox der Litauer darauf hingewiesen, daß diese 
Volksart besonders im Beginn des Jugendirreseins oft hysteriforme 
Züge darbietet, so daß nur ein genaues Zusehen, vielfach aber erst 
der weitere Verlauf der Störung imstande ist, die Diagnose nach der 
einen oder der anderen Richtung hin zu erhärten. Selbstverständlich 
ist bei den hier in Frage kommenden Zuständen die Betrachtung ein¬ 
wandfrei in dem Sinne abgeschlossen worden, daß es sich um regel¬ 
rechte Psycho-Ncurosen und nicht um einen zerebralen Abbauprozeß 
handelte. Die Entwicklung einzelner Paroxysmen wird durch den 
Mißbrauch, sei es auch nur gelegentlicherweise, jeder Art Täuschen¬ 
der Genußmittel hervorgerufen. Ich will dabei keineswegs von einer 
alkohologenen Hysterie im Sinne Charcots sprechen, sondern nur eine 
Beobachtung erwähnen, welche sich hier öfters anstellen läßt, und zwar 
daß die hierzu disponierten Individuen in ganz unberechenbarer Weise 
auf diese zerebralen Gifte reagieren. Auf das Vorkommen des Ätheris¬ 
mus bei Hysterie wies ich schon hin. Es gilt unter den Litauern 
als Heilmittel, bei Einsetzen nervöser Reizzustände sofort mehrere 
Tropfen Aether sulfuricus in Wasser zu verabfolgen, was auch in der 
Tat meist von promptem Erfolge begleitet ist, besonders wenn noch 
keine Gewöhnung vorliegt. Dieser Umstand erklärt auch die große 
Verwendung der ätherischen Baldriantropfen durch die Litauer. 
Die Affinität des Äthers zum Zentralnervensystem erklärt aber auch, 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 519 

daß ein einmaliger Mißbrauch, statt lediglich motorische Zentren zu 
beruhigen, koordinierende und hemmende Zentren lähmen und da¬ 
durch zu schwersten Erregungen führen kann. Auch der Effekt der 
durch Äther hervorgerufenon Beruhigung kann infolge der Gewöh¬ 
nung verhängnisvoll werden, so daß es sich bei diesen Dingen um einen 
unentwirrbaren Circulus vitiosus zwischen Noxe und neurotischer 
Konstitution handelt. Neben den durch diese äußeren Schädlich¬ 
keiten bedingten Krankheitsfällen bleibt der größte Teil der beob¬ 
achteten Störungen doch als lediglich endogene Affektion zurück, 
an der Tatsache muß jedoch festgehalten werden, daß unter den 
Litauern, mehr noch als bei der jüdischen Rasse, hysterische bezw. 
hysteriforme Paroxysmen schwersten Charakters beobachtet werden, 
welche zur Verbringung in die geschlossene Anstalt nötigen. 

Bei den sonstigen Völkerschaften waren die allgemeinen Neurosen 
meist mehr von „neurasthenischem“ Charakter, teils waren es quä¬ 
lende Zwangsvorstellungen, teils somatopsychische Empfindungen, 
die bei Kranken, wo fast alle Heilversuche fehlgeschlagen waren, den 
Anlaß zum freiwilligen Aufsuchen der Anstalt gaben. Auch bei solchen 
Zuständen war es dringend erforderlich, eine strenge Abgrenzung 
dieser Störungen gegenüber den paranoischen Erkrankungen oder 
melancholischen bezw. zirkulären Prozessen durchzuführen. In der 
freiwilligen Meldung zur Aufnahme kann man ja vielfach, aber lange 
nicht stets, eine Erscheinung suchen, welche mehr für eine eingewur¬ 
zelte, wenn auch schwere, Neurose spricht, doch gibt es unzweifelhaft 
auch Psychosen vom oben erwähnten Charakter, bei welchen die Patien¬ 
ten einebeträchtliche Krankheitseinsicht aufweisen und die Absichtihre s 
Anstaltseintritts reichlich motivieren können. Die schwersten neur- 
asthenischen Formen boten unter den einzelnen Völkerschaften die 
Letten, nächst ihnen die Deutschen, dar. Diese beiden Nationalitäten 
geben aber dann meist sehr schwer zu behandelnde, in der Prognose 
ungünstig zu beurteilende Patienten ab. Die Juden stellen fast aus¬ 
schließlich hysterische Psychosen zur Beobachtung, jedoch, wie schon 
hervorgehoben, nicht so schwerer Art, wie die Litauer. Auf 
die Russen wird weiter unten noch eingegangen werden. 

g) Angeborener Schwachsinn. — Hier läßt sich aus den 
Aufnahmeziffern gar kein Schluß auf das Vorkommen oder die spezi¬ 
elle Eigenart dieser Krankheit ziehen. Die Jahre 1910 bis 14 zeigen 


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Siebert. 


nur Aufnahmen von Letten. Meist waren es polizeilich eingelieferte 
Idioten oder zur Begutachtung überwiesene leichte Schwachsinns- 
formen. Da überhaupt keine Statitik über die Zustände angeborenen 
Geistesdefektes in Kurland vorliegt, kann man sich auch sonst keine 
Vorstellung über das Verhältnis dieser Störungen innerhalb der ein¬ 
zelnen Volksarten machen. Auch die private Praxis ergibt kaum 
irgendwelche Aufschlüsse, da die wohlhabenderen Kreise meist solche 
Angehörige einer entsprechenden Anstalt überweisen, die weniger 
bemittelten hingegen, speziell die arbeitenden Klassen, bei festge¬ 
stelltem Schwachsinn, besonders der geringsten Andeutung einer un¬ 
sozialen Form desselben, meist solche Kranke gegen ein geringes 
Kostgeld auf dem Lande verpflegen lassen, ein Modus, der sehr ver¬ 
breitet und leider fast stets als überaus ungenügend und schädlich 
bezeichnet werden muß. — 

Hiermit sollen die vergleichenden Betrachtungen über Psychosen 
abgeschlossen werden, dabei will ich nochmals hervorheben, daß, ab¬ 
gesehen von anderen einschränkenden Gründen, auch mein statistisches 
Material zu gering ist, um als bindende Tatsache die niedergelegten 
Auffassungen bestätigen zu können; hebt doch auch Kraepelin 1 ) die 
Schwierigkeit in der Beurteilung vom Einfluß der Volksart auf die 
Entwicklung geistiger Erkrankungen mit Nachdruck hervor. Wenn 
ich doch, neben dem rein sachlichen, das statistische Material heran¬ 
gezogen habe, sogeschah es vom Standpunkt aus, daß die psychiatrische 
Abteilung hierselbst fast das einzige Institut sein dürfte, welches alle 
Volksarten Kurlands in buntem Gemisch durch sich ziehen sieht. Die 
großen Anstalten Livlands und Estlands werden bald nicht in der Lage 
sein, Letten, bald Juden oder Litauer beobachten zu können, während 
in Libau speziell und in Kurland überhaupt gerade ein Nebeneinander¬ 
leben der Völkerschaften in ausgesprochener Weise zutage tritt. 

Da mit Ausnahme der Litauer, welche jedenfalls in Kurland 
mehr den niedersten Volksschichten angehören, bei allen Völkerschaften 
sich Unterschiede des Kultur- und Bildungsniveaus nachweisen lassen, 
ist es ja verständlich, daß sich in diesem Punkt wiederum ein Unter¬ 
schied zwischen den einzelnen Schichten bemerkbar machen muß. Ich 
habe darin mehr oder weniger aus meinem Material eine Bestätigung 


x ) Kräpelin, Psychiatrie I, 1910, S. 152. 


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Oie Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 521 

der von Stern 1 ) niedergelegten Ansichten ersehen können: mit Zu¬ 
nahme des Kulturkreises Zunahme der funktionellen (affektiven) See- 
lenstörangen und der progressiven Paralyse, dagegen ein Zurücktreten 
der Dementia praecox; die gleichzeitig vom Autor erwähnte Abnahme 
der Epilepsie und Imbezillität habe ich aus oben angeführten Gründen 
an meinen Kranken nicht verfolgen können. In bezug auf Alkohol 
glaube ich schließen zu können, daß sozial höher stehende Elemente 
mehr polyneuritische Störungen erwerben, die niedriger stehenden 
mehr das Delirium tremens. 

Die Neurosen. 

In dieser Hälfte der Abhandlung soll über die allgemeinen Neu¬ 
rosen in vergleichender Form berichtet werden, jedoch wird auf die 
Registrierung einzelner Volksarten bezw. der entsprechenden Krank- 
heitsbitder auf einzelnen Tabellen verzichtet. Es steht mir zu dem 
genannten Zweck ein Gesamtmaterial von etwa 3500 Personen zur 
Verfügung, welche von mir zum größten Teil ambulant, zum gering¬ 
sten klinisch behandelt worden sind. Diese Zahl dürfte groß genug sein, 
um sich ein Bild für eine vergleichende Neurosenlehre der einzelnen 
Nationalitäten zu machen. Auch die in bezug auf Neurosen darzulegen¬ 
den Ansichten können keineswegs Anspruch auf Allgemeingültigkeit 
erheben, sie stellen lediglich das Produkt einer eingehend vorgenom¬ 
menen Betrachtungsweise dar. Ich schicke gleich voraus, daß ich nach 
Möglichkeit Begriffe, wie Neurasthenie und Hysterie, in meiner neuro¬ 
logischen Auffassung vermeide, da dieselben vielfach keineswegs die 
Gesamtstörung der nervösen Funktion umfassen und nur die 
Charakteristik einzelner Krankheitsepisoden darstellen können, ja 
daß ferner alle diese Zustände sich so weit miteinander vermischen 
und verquicken, daß es dem Belieben des einen oder anderen Dia¬ 
gnosestellers anheimgestellt werden kann, welche Krankheitsbezeich¬ 
nung er bevorzugt. Ich habe es versucht, nach Möglichkeit die ein¬ 
zelnen Zustände in ihren Grundkomponenten zu analysieren und 
dementsprechend den Krankheitsverlauf genau zu verfolgen. Auf 
eine Diagnosestellung an sich legte ich weniger Wert. Gerade hin¬ 
sichtlich der Hysterie dürfte es Vorkommen, daß dieser Begriff, als 

1 ) Stern, Kulturkreis nnd Form der geistigen Erkrankung. Hoches 
Sammlung zwangt. Abh. 1912, H. 2. 


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Siebert, 


nosologische Einheit, allgemein doch in zu weitem Umfange Verwen¬ 
dung findet; nur zu oft verleiten einzelne für Hysterie charakteristische 
Symptome schon zur Auffassung, daß eine solche Störung vorliege. 
Dieses erscheint mir jedenfalls insofern ungerechtfertigt, als eine ge¬ 
sonderte Krankheitsform — Hysterie — stets eine weitgehende quali¬ 
tative Störung der psychisch-nervösen Funktionen darstellt und 
labile, leicht erweckbare Affekte und eine Alteration des Vorstellungs¬ 
lebens voraussetzt. Ein Teil der bei diesem Leiden anzutreffenden 
Zeichen, seien sie somatischer Art, Sensibilitätsstörungen, Globus 
usw., oder psychischer, wie Zwangsvorstellungen, Weinkrämpfe und 
anderes mehr, lassen sich bei vielen anderen Formen der Neurosen 
beobachten, ohne daß die betreffenden Objekte auch gleichzeitig an 
der schweren endogenen Disharmonie des Nerven- und Geisteslebens 
zu leiden hätten. Gelegentliche hysteriforme (sit venia verbo) Er¬ 
scheinungen dürften sich in der Tat auch bei manchen Personen beob¬ 
achten lassen, wenn sie unerwartet von einem schweren äußeren Er¬ 
eignis überrascht werden; in solchen Fällen bestände die Berechtigung, 
den Zustand mit Psychogenie zu bezeichnen, die Voraussetzung er¬ 
scheint dabei dann aber auch, daß sich die einen solchen 
Kurzschluß hervorrufenden Momente von selbst in kürzester Zeit 
lösen, vom Kranken als etwas Fremdes, bei klarer Einsicht leicht Be¬ 
seitigendes empfunden und beurteilt werden. Bei regelrechter Hysterie 
liegen die Verhältnisse anders, viel komplizierter, jedenfalls nicht in 
allem präzise definierbar. Über die Hysteriefrage ist oft und andau¬ 
ernd diskutiert worden, wobei man den Eindruck hat, daß die meisten 
dasselbe meinen, nur anderes dabei sagen. Auf alle Fälle muß ich, 
lediglich auf eigenen Beobachtungsresultaten fußend, meinen Stand¬ 
punkt dahin aussprechen, daß die Hysterie, als eigenartiges Verhalten 
des Geisteslebens, eine endogene funktionelle Störung darstellt, daß 
das stärkere und wechselnde Hervortreten einzelner, für die Störung 
charakteristischer Erscheinungen meist, jedoch nicht immer, psycho¬ 
gener Natur ist, daß aber andererseits gewisse, unseren medizinischen 
Beobachtungen zugängliche Vorgänge, welche den hysterischen ho¬ 
molog sind, bei vielen Personen auf rein psychogenem Wege auf treten 
können, ohne daß man aus denselben einen Schluß auf eine hysterische 
Konstitution ziehen dürfte: die meisten hysterischen Störun¬ 
gen sind psychogen bedingt, aber weit weniger psycho- 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 523 

gene Störungen sind hysterisch. Wenn man auch bei genauem 
Zusehen und bei sorgfältiger Betrachtung des Gegenstandes immer 
gewisse nervöse Zustände beobachten wird, bei welchen eine äußere 
Ursache einzig und allein den Grund für die Entstehung der Störung 
darbietet, so muß man doch an der Tatsache festhalten, daß weitaus 
der größte Teil dieser krankhaften Äußerungen aus inneren Gründen 
hervorgeht. 

Interessant vom vergleichenden völkischen Standpunkt aus er¬ 
scheint es nun zu sein, wie überaus wechselnd die einzelnen Volksarten 
oft bei der gleichen inneren Anlage auf gewisse gleiche äußere Vor- 
komnisse reagieren. Die Frage der Neurosen gestaltet sich vielleicht 
noch schwieriger als die der Psychosen bei der vergleichenden Be¬ 
trachtungsweise, da letztere doch mehr oder weniger glatt umrissene 
Bilder darstellen; diu Neurosen hingegen nehmen in dieser Hinsicht 
eine ganz andere Stelle ein, indem sie einerseits bald qualitativ, bald 
quantitativ zum normalen, physiologischen Geschehen hinneigen, nur 
verschärfte oder bizarr entartete normalpsychologische Züge aufwei¬ 
sen, während andererseits die Züge der meisten Neurosen eine innige 
Verwandtschaft und Hinneigung sowohl zu einzelnen Symptomen 
affektiver Seelenstörungen, als auch zu den Frühstadien gewisser 
intellektueller und der seltenen paranoischen Erkrankungen besitzen. 
Obwohl hierdurch eine Schwierigkeit in vergrößertem Umfange für 
die richtige Beurteilung entsteht, gewährt dieser Umstand doch wieder¬ 
um die Möglichkeit, sich tiefer mit dem Charakter und speziellen völ¬ 
kischen Eigenschaften zu beschäftigen. — 

Weitaus am häufigsten erscheinen die nervösen Stö¬ 
rungen bei den Juden. Je tiefer und unentwickelter der Kreis, 
ist, aus dem der betreffende Kranke hervorgeht, um so vielgestaltiger 
und mannigfaltiger projiziert sich die Krankheit nach außen, dabei 
läßt die Intensität der äußeren, rein körperlichen Erscheinungen 
keineswegs einen Schluß zu auf eine gleichzeitige analog starke Affek¬ 
tion der Grundstörung des psychisch-nervösen Geschehens. Bei den 
Juden kann in der Neurosenlehre eine auffallende Gegensätzlichkeit 
der Geschlechter im Verhältnis zum Kultur- und Bildungskreis nach¬ 
gewiesen werden: bei den gebildeten Schichten überwiegen 
die nervösen Störungen der Frauen, bei den niederen 
Schichten die der Männer. Allgemein sieht man, wie diese 


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Siebert, 


Rasse zu nervösen Störungen neigt, wenn man oft ganze Familien 
von fünf und mehr Personen zur Beobachtung bekommt, bei welchen 
ziemlich gleichartige nervöse Zustände sich bemerkbar machen. Räumt 
man auch den suggestiven Einflüssen eine Rölle ein, indem die Toch¬ 
ter von der Mutter, der Bruder von der Schwester und ähnlich weiter 
ein nervöses Symptom nach dem anderen gewissermaßen durch in¬ 
nigen Konnex ererbt oder übernimmt, so muß doch immerhin für den 
grandiosen Umfang, den diese Krankheiten besitzen, eine besonders 
auffällige Disposition vorhanden sein. Warum die Juden gerade 
häufiger zu schweren Neurosen neigen, als andere Volksarten, wird 
wohl kaum jemand in vollkommen befriedigender Weise beantworten 
können, daß diese Tatsache als solche aber einwandfrei dasteht, wird 
ein jeder Arzt, welcher in einem Lande seine Tätigkeit ausübt, wo 
neben anderer Bevölkerung auch Juden in größerer Zahl wohnen, 
ohne Bedenken bestätigen müssen. In bezug auf die Hysterie, welche 
doch vielleicht als eine der schwersten funktionellen Erkrankungen 
des Nervensystems angesprochen werden muß, hebt Oppenheim J ) 
hervor, womit er das stete Vorkommen der Erblichkeit dieses Leidens 
(Charcot) ablehnt, daß heftige Gemütserschütterungen eine Hysterie 
unmittelbar hervorzurufen imstande sind, meist jedoch sind es länger 
anhaltende, wiederholentliche schmerzliche Aufregungen und weit 
mehr die Schmerzen, die der Mensch dem Menschen, als die, welche 
das Schicksal ihm bereitet. Durch die psychischen Traumen erklärt 
Oppenheim es auch in erster Linie, daß die jüdische Rasse in so 
hervorragendem Maße von den Neurosen und besonders von der Hy¬ 
sterie heimgesucht wird, doch mögen auch andere Momente, wie 
die Häufigkeit der Verwandtenehen, die mangelhafte Ausbildung 
der Körperkräfte, die durch die erschwerten Daseinsbedingungen 
gezeitigte Erwerbssucht und anderes mehr im Spiele sein. 

Bei aller Vielgestaltigkeit der Neurosen der jüdischen Rasse 
muß die große Suggestibilität beachtet werden, welche, wenn auch 
nur in bezug auf einzelne auffällige Symptome, wohl fast bei den 
meisten Kranken in stärkerem oder schwächerem Grade beobachtet 
wird. Dieser Umstand erklärt es auch, daß so viele Ärzte, welche den 
nötigen psychlogischen Scharfblick besitzen, so überraschend schnelle 


x ) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten Bd. 2, 1908, S. 1200. 


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Die Psychosen nnd Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 525 


und durchschlagende Augenblickserfolge in der Behandlung von 
Neurosen bei Juden erzielen. So umgehend die Suggcstibilität aber 
Heilerfolge zeitigt, so plötzlich kann aber auch dank derselben an¬ 
dererseits wiederum irgendein komplizierendes Moment neue Erschei¬ 
nungen einer Störung heraufzaubern. Diese labilen Konstitutionen 
sind eigentlich stets im Wechsel zwischen der manifesten psycho- 
neurotischen Dysfunktion und scheinbarer Gesundheit. Dem beob¬ 
achtenden Auge präsentieren sich die krankhaften Zustände als Läh¬ 
mungen, Gefühlsstörungen, isolierte und universelle Krämpfe, Zittern, 
ferner von seiten innerer Organe als Sekretionsanomalien, perverse 
Atmimgs- und Schluckbewegungen, Reiz- und Ausfallszustände des 
Magendarmkanals, wie Aufstoßen, Brechen, Darmatonie usw. All 
dieses erläutert, wie überaus vielseitig das gesamte Nervensystem 
solcher Kranken dabei alteriert ist, daß die zerebrospinalen, vom 
Willen abhängigen, sowohl wie die vagosympathischen, vielfach von 
den Gemütsbewegungen getriebenen und überhaupt die vegetativen 
Nervenfunktionen in gleicher Weise an den geschilderten Affektionen 
beteiligt sein können. Bei keiner einzigen anderen zum Vergleich 
herangezogenen Volksart findet man eine solche vielseitige Störung 
der Sekretion und Vasomotion, wie bei den Juden. Während sonst 
solche Störungen meist mehr als Anomalien einzelner Personen von 
rein individuellem Charakter auftreten, bilden sie bei der jüdischen 
Rasse ein verhältnismäßig häufiges Vorkommnis. Die von mir be¬ 
obachteten Angio-und Trophoneurosen von mehr oder weniger schwe¬ 
rem Charakter betrafen fast ausschließlich Juden. Unter angestellten 
Beobachtungen über das flüchtige, akute Hautödem x ) fand ich eine 
einzige solche Affektion bei einem Deutschen, wobei immerhin als Neben¬ 
ursache exogene Schädlichkeiten mitspielten, alle anderen Kranken wa¬ 
ren Juden, bei denen nur der endogene Faktor, die Instabilität des vege¬ 
tativen Nervensystems, in Frage kam. Auf Grund der auffälligen 
Erscheinungen, die bei der geschilderten Rasse zutage treten, müssen 
wir mit Reichardt 2 ) zwei Typen von Menschen unterscheiden, welche 
oft als „hysterisch“ bezeichnet werden: „erstens solche, bei denen 
lediglich eine primäre reine psychische Abnormität vorliegt, und die 
vegetativen Funktionen im wesentlichen normal funktionieren; und 

») Siebert, Neurol. Ztlbl. 1917, H. 1. 

*) Reichardt, H. 8 der Arbeiten aus d. Psych. Klin. zu Würzburg, S. 105. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. 6. 37 

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526 


Sichert, 


zweitens Patienten, bei denen die vegetativen Organe bezw. deren 
nervöse Zentren selbst in einer zum Teil sehr starken Weise erkrankt sind, 
so daß diese Erkrankung die Hauptquelle für die subjektiven, vielfach 
als hysterisch angesehenen Klagen bilden kann. Daß derartige Wesen 
so häufig, außer ihren vegetativen Störungen, auch psychisch-nervöse 
Anomalien aufweisen, dies kann mehr oder weniger Zufall sein; es 
kommt allerdings auch ein innerer Zusammenhang zwischen den 
Symptomen, die sich auf dem Gebiet der Psyche, und denen, 
die sich auf dem Gebiet des autonomen bezw. sympathischen Sy¬ 
stems äußern, als möglich in Betracht“. Ich muß annehmen an der 
Hand der ganz besonders oft zu beobachtenden Schwankungen im 
Tonus der Gefäßinnervation, in der Turgeszenz des Gesichtes, der 
Regulation gewisser Organfunktionen usw., daß viele, jedoch nicht 
alle, Beschwerden von Kranken, welche an einer komplizierten allge¬ 
meinen Neurose leiden, nicht hypochondrisch eingebildet oder auto¬ 
suggeriert oder halluziniert sind, sondern in reell begründeter Weise be¬ 
stehen. Auffallend erscheint hierin ein Umstand zu sein, daß die Kinder 
aus Mischehen zwischen Juden und Deutschen vielfach sehr ausge¬ 
sprochene neurotische Störungen aufzuweisen pflegen, ja ich habe Fälle 
beobachtet, wo der jüdische Einschlag aus der ersten Generation sich bei 
der dritten Geschlechtsfolge in Form chrakteristischer schwerer angio- 
und trophoneurotischer Störungen äußert. 

Oben deutete ich bereits an, daß die Schwierigkeit groß ist, bei 
gewissen Krankheitsprozessen Unterschiede zwischen hysterischen und 
neurasthenischen Formen zu ziehen, besonders da eine ganze Reihe 
von Erscheinungen sich untereinander mischt, doch bleibt jedenfalls 
die Tatsache feststehend, daß bei den Juden die Neurosen einen mehr 
somatischen bezw. somato-psychischen Charakter besitzen, als bei den 
anderen Volksarten Kurlands. Es entsteht eben anscheinend durch 
die Labilität und Instabilität der Organ-, Bewegungs- und Empfin- 
dungsfunktionen in rückwirkender Weise leicht das psychische Korre¬ 
lat dazu, während primär eingewurzelte psychische Vorstellungen 
bei den Juden weit weniger anzutreffen sind, als bei den unten zu be¬ 
schreibenden Nationalitäten. Es erscheint daher auch leicht verständ¬ 
lich, wenn Herz-, Magen- und andere Neurosen infolge der durch die 
Dysfunktion bedingten Sensationen entsprechende Körpervorstel¬ 
lungen wachrufen. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 527 

Nächst den Juden lassen sich die Neurosen ähnlicher Art, 
wie die oben geschilderten Typen, am häufigsten bei den Li- 
•tauern beobachten. Es wurde schon hervorgehoben, daß nicht 
selten gerade die Litauer im Beginn von Verblödungsprozessen aus¬ 
gesprochen hysteriforme Erscheinungen beobachten lassen, bis dann 
schließlich der weitereVerlauf erst die Erankheitvollkommendeklariert; 
-bei voll entwickeltem Prozeß schwinden übrigens meist wieder die der 
Neurose homologen körperlichen Reiz- und Ausfallserscheinungen. 
Wenn auch die Tropho- und Angioneurosen bei den Litauern lange 
nicht in dem Maße zutage treten, als bei den Juden, und dagegen mehr 
Krämpfe bezw. Lähmungen der willkürlich innervierten Muskulatur 
und Sensibilitätsstörungen der Hautdecken oder tiefer gelegenen Ge- 
websschichten sich bemerkbar machen, so ist der rein psychische 
Faktor bei ihren Störungen mehr ausgesprochen, als bei den Juden. 
Es überwiegen auch die somatopsychischen Vorstellungen, welche 
• vielfach sich bis zu schweren hypochondrischen Denkstörungen steigern 
können, doch auch auf anderen Komponenten des Geisteslebens macht 
sich die nervöse Affektion reichlich bemerkbar. So sind Zwangsvor¬ 
stellungen bei den Litauern nicht ungewöhnlich, auch allerhand Pho¬ 
bien gehören zu den nicht selten auftretenden Bestandteilen der 
nervösen Erkrankungen. Besonders lebhaft sind die sexuellen Be¬ 
schwerden der phantastischsten und sensationellsten Art. Während bei 
den Juden die Vita sexualis entweder eine Steigerung oder meist jedoch 
eine Abschwächung der Funktion im Verlauf der neurotischen Störung 
erleidet, entwickeln sich bei den Litauern seltener regelrechte Verände¬ 
rungen des Geschlechtslebens an sich, als vielmehr die sonderbarsten 
Empfindungen in bezug auf die Genitalorgane, wie das Gefühl des 
Schrumpfens, der Schwellung usw. Ob diese Beschwerden nun rein 
hypochondrisch halluziniert sind oder aber wirklich eine reale Grund¬ 
lage besitzen, läßt sich der Regel nach nicht entscheiden. — Im Gegen¬ 
satz zu den Juden sind die Litauer weit weniger suggestibel, 
man muß in der größten Anzahl von Krankheitsfällen es beobachten, 
wie die Macht der Vorstellung sich nicht durch die sogenannte ra¬ 
tionelle Psychotherapie oder in Wachsuggestion beseitigen läßt; die 
Autosuggestion bezw. das psychogene Moment spielen bei den psy¬ 
chischen Anomalien der neuropathischen Litauer keine irgend nennens¬ 
werte Rolle. Die Krankheit verläuft, soweit sie in Heilung ausklingt 

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528 


Siebert. 


oder ihre manifesten Anzeichen verliert, nach inneren Gesetzen und ist 
eigentlich von therapeutischen Maßnahmen nicht abhängig. Die 
schweren Störungen körperlicher Natu/, seien sie nun Reiz- oder Aus¬ 
fallserscheinungen, trotzen desgleichen, wenn auch nicht so intensiv 
und erfolglos, wie die psychischen, den kurativen Einflüssen. Eine 
hysterische Lähmung ist z. B. bei dieser Volksart ein schwieriges Be¬ 
handlungsobjekt, welches wesentlich ungünstiger in der Prognose zu be¬ 
werten ist, als die meisten gleichwertigen Störungen bei anderen Völker¬ 
schaften. Diese Krankheitszustände treten dabei gleich intensiv bei 
Männern und Frauen auf, und die Behandlung bietet keine wesent¬ 
lichen Unterschiede beim einen oder anderen Geschlecht dar. Daß al¬ 
koholische Exzesse oft hysteriforme Erscheinungen, in der Regel leb¬ 
hafte allgemeine Erregungszustände und Krampfanfälle, hervorrufen, 
wurde bereits oben erwähnt, es betraf die erste Schilderung der schwer¬ 
sten Formen, welche meist solche Kranke zu zeitweisen Objekten der 
Psychiatrie macht, während die leichteren Formen meist in der Häus¬ 
lichkeit, oft auch ohne ärztliche Hilfe, vorübergehen. Fan gewisser 
Hang zum Mystischen, zum Geheimnisvollen veranlaßt die Litauer 
vielfach, nicht den Arzt aufzusuchen, sondern sich— besonders bei 
psychisch-nervösen Leiden — von Homöopathen, allerhand Kur¬ 
pfuschern, sogenannten „Bläsern“, usw. behandeln zu lassen. Die 
geringe Suggestibilität dieser Volksart läßt aber auch diese Behand¬ 
lungsmethoden gewöhnlich, trotzdes Glaubens an dieselben, vollkommen 
versagen. Dieser Hang zu solcher Art Therapie findet sich in fast 
gleichem Maße mehr oder weniger bei allen Schichten des Volkes, so 
daß neben allerhand rein propagandistischen rein äußeren Momenten 
ohne Zweifel ein gewisses inneres Streben nach etwas Außergewöhn¬ 
lichem vorausgesetzt werden darf. 

Was die Russen anbelangt, so weist diese Volksart unzweifel¬ 
haft in bezug auf die Neurosen weit mehr verwandte Züge mit den 
Juden und Litauern auf, als beispielsweise mit den unten zu er¬ 
wähnenden Deutschen und Letten. Die Russen sind sehr suggestibel, 
entbehren dabei aber durchaus des Hanges zur nichtärztlichen Be¬ 
handlung und stellen dadurch für den Arzt ein immerhin leichter zu 
behandelndes Objekt dar, da sie der wissenschaftlichen Medizin ein 
vollkommenes Vertrauen entgegenbringen. Allgemein überwiegen 
bei den Russen die psychischen Anomalien der Neurosen, die körper- 


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Die Psychosen and Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 529 


liehen sind der Regel nach Reizerscheinungen; ich habe funktionelle 
greifbare Ausfallssymptome bei ihnen eigentlich nie beobachten können. 
Die psychischen Störungen sind in so gewaltigem Grade abhängig 
von den Affekten, daß der mit diesen Erscheinungen nicht vertraute 
Beobachter gar zu leicht geneigt sein kann, an irgendeine in der Ent¬ 
wickelung begriffene Psychose zu denken. In gewissen Fällen ent¬ 
wickeln sich in kurzer Zeit wahnhafte Beeinträchtigungs- und Ver¬ 
folgungsideen bezw. andere schwere psychische Anomalien, die je¬ 
doch keineswegs zu einer dauernden Geistesstörung oder einem Ver¬ 
blödungsprozeß führen, sondern oft unter dem Einfluß ärztlicher Be¬ 
handlung ihrem Ende zuneigen. Viele solcher Zustände lassen sich 
angeblich durch Hypnose gut beeinflussen, ich persönlich besitze auf 
diesem Gebiet keine Erfahrung, um über die Wirksamkeit derselben 
urteilen zu können. Die verhältnismäßig häufige Verwendung der 
Hypnose seitens der russischen Ärzte spricht ja doch eigentlich in 
dem Sinne, daß dieselben bei ihren Volksgenossen günstige Objekte 
für diese Art der Therapie finden. Daß es sich dabei immer um die 
Beseitigung eines Symptoms handelt und nicht um die Heilung des 
Krankheitsprozesses, ist selbstverständlich. Zwangsvorstellungen, 
Befürchtungen, überhaupt neurasthenische und hypochondrische 
Symptomenkomplexe haben bei den Russen lange nicht so stabile 
Formen, als bei vielen anderen Volksarten, obgleich sie meist endogener 
Natur sind. Diese Erscheinungen tragen bei ihnen einen mehr peri¬ 
odischen Charakter, wo zu gewissen Zeiten die Beschwerden in den 
Vordergrund treten, um dann wieder zu schwinden. Der endogene Fak¬ 
tor läßt sich jedenfalls in reichlicher Anzahl durch gleichzeitiges Vor¬ 
handensein neurotischer Störungen bei den Erzeugern als sicher be¬ 
legen; daß daneben der ständige Einfluß einer solchen Umgebung 
seine Schädigung auf eine disponierte Persönlichkeit ausüben muß, 
läßt sich nur zu oft in deutlichster Weise beobachten. Die Suggestibilität 
der Russen, nebst der leicht auslösbarenAffekterregbarkeit derselben 
bedingen durch innigen Konnex auf dem Gebiet des Nerven- und 
Seelenlebens lebhafte Entladungen bei einer größeren Anzahl von 
Menschen. Diese Paroxysmen sind psychogen entstanden, finden 
aber für ihre Entwickelung einen stets reifen Boden. Ich habe bei 
ganzen Gruppen die sensationellsten hypochondrischen Vorstellungen 
durch irgendeinen einschlägigen Fall oder gar eine aufgebauschte 


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630 


S i e b e r t, 


Erzählung entstehen gesehen, war in der Lage, gewaltige Affektschwan- 
kungen nach der positiven Seite und nach der negativen hin zu beob¬ 
achten, ohne daß sich solche Vorstellungen bei den Objekten lange 
zu halten vermögen. „Die suggestive Vorstellung erregt nicht nur 
direkt eine subjektive Überzeugung, sondern sie ist lebhaft sinnlicher, 
anschaulicher Art, sie entsteht ohne Reflexion und ist geeignet, in 
andere, ohne jede logische Begründung, eingepflanzt zu werden (zum 
Unterschiede von der Überredung), und sie erzeugt weiter einen starken 
Impuls zur Aktivität.“ Diese Worte Friedmanns x ) haben unzweifel¬ 
haft die Möglichkeit vollkommenster Anwendbarkeit in bezug auf 
die stets labile Affekterregbarkeit der Russen. Man muß ferner strikt 
daran festhalten, daß, wenn wir für vieles Pathologische im psychisch¬ 
nervösen Geschehen exogene, rein psychisch bedingte Entstehungs¬ 
ursachen verantwortlich machen können — wie oben bereits erwähnt 
wurde —, die Reaktion der russischen Volksart auf äußere 
Einflüsse eine stärkere ist, daß sie auch da stürmisch auf- 
treten kann, wo bei anderen Volksarten überhaupt keine beachtens¬ 
werte Erwiderung einsetzt, daß aber deswegen keinesfalls von einer 
Exogenese der allgemeinen Neurosen bei den Russen die Rede sein 
soll, dieselben weisen selbstverständlich die gleichen Krankheitsfor¬ 
men auf, wie jede andere Volksart. 

Wesentlich anders als bei den Juden, Litauern 
und Russen liegen die Verhältnisse bei den Deutschen 
und Letten. Es ist für mich in derZeit, wo ich diesbezügliche Beob¬ 
achtungen angestellt habe, als ziemlich klar anzusehen, daß die 
Formen, in denen sich die Störungen des nervösen Geschehens zeigen, 
bei Letten und Deutschen keineswegs in einer solch differenten Art 
verlaufen, wie bei den andern Volksarten. Während die rein körper¬ 
lichen Anzeichen oder Begleitsymptome der allgemeinen Neurosen 
bei diesen beiden zuletzt erwähnten Nationalitäten sichtlich weniger 
hervortreten, als bei den anderen, lassen sich gerade die rein psychischen 
Anomalien, die Denkstörungen und abnormen Vorstellungen, am 
wesentlichsten beobachten, zudem ist entschieden eine sehr ausge¬ 
sprochene Stabilität der krankhaften Verstellungen bei den Letten 
und Deutschen nachweisbar. Selten sind rein psychogene Störungen, 

*) Friedmann , Wahnideen im Völkerleben. Wiesbaden 1901. S. 205. 

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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 531 


die zu voll entwickelten neurotischen Symptomenkomplexen führen. 
So oft gerade unter der Landbevölkerung der Schreck — das doch 
entschieden häufigste psychogene Moment — als auslösende Ursache 
für die Entstehung von Psychosen angesehen wird, so wenig Berech¬ 
tigung konnte ich diesem Faktor für die Entstehung der Neurosen 
bei diesen beiden Nationalitäten, sowohl den Landbewohnern als 
auch den Städtern, beimessen. Es scheint jedenfalls, als ob diese 
Volksarten sichtlich viel geringer mit vom Gewöhnlichen abweichen¬ 
den Vorstellungen und Innervationstörungen auf äußere Eindrücke 
reagieren, als die anderen um sie herum wohnenden Völkerschaften. 
Ich habe es wohl gesehen, daß z. B. die Nachricht von einem schweren 
Eisenbahnunfall bei einer anscheinend nicht hysterischen Frau let¬ 
tischer Nationalität, die ihren Mann im betreffenden Zuge wußte, eine 
linksseitige Bewegungs- und Empfindungslähmung hervorrief, die 
prompt in einigen Tagen sich zurückbildete, auch Explosionen und 
andere Ereignisse waren gelegentlich imstande, Beiz- und Ausfalls¬ 
erscheinungen auf psychogenem Wege zu bedingen, allgemein muß 
ich aber, auf meinen Beobachtungen fußend, immer wieder auf die 
relative Widerstandsfähigkeit des Nervensystems dieser beiden Volks¬ 
arten gegenüber den anderen hinweisen. Bei den an Neurosen kran¬ 
kenden Deutschen und Letten ist der degenerative Charakter sehr stark 
ausgesprochen. Es läßt sich bei weitaus der größten Zahl nachweisen, 
daß hierbei ein ererbtes bezw. familiäres Leiden im Spiele ist. Die 
schwersten hypochondrischen Zustände, welche bleibend das psychische 
Geschehen begleiten, lassen sich gerade bei den Deutschen und mehr 
noch bei den Letten beobachten, sowohl bei der Stadt-, als auch bei 
der Landbevölkerung. Bei der Betrachtung der allgemeinen Neu¬ 
rosen, soweit sie eben ein Objekt der Anstaltspsychiatrie wurden, hob 
ich bereits hervor, daß die Aufnahme von Letten und Deutschen 
meist bei schweren Formen von neurasthenisch-hypochondrischem 
Typus erfolgte, also ein direkter Gegensatz zu den übrigen Nationali¬ 
täten bestand, bei welchen mehr die hysterischen bezw. rein psycho¬ 
genen Störungen zur Beobachtung gelangten. Neben der sichtlich 
degenerativen Anlage, welche die den allgemeinen Neurosen eigenen 
psychischen Anomalien bedingt, spielt bei der lettischen Volksart eine 
vielfach zu Grübeleien über die Umgebung und über das eigene Ich 
hinneigende Denkrichtung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Da ß 


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532 


Siebert, 


dieses Moment eine angeborene hypochondrische Anlage wesentlich 
fördern und vertiefen muß, erscheint als selbstverständlich, der Kranke 
kommt nie von seinen Gedanken, gegebenen Falles von seinen somato- 
psychischen Vorstellungen los. Tatsächlich läßt sich eine Periodizität 
im Verlauf solcher Neurosen relativ selten bei den Letten beobachten. 
Die negative Komponente zieht sich wie ein roter Faden durch das 
Leben des betreffenden Menschen, nur ein leichtes An- und Abschwellen 
der krankhaften Erscheinungen tritt gelegentlich zutage, nie ein 
vollkommenes Schwinden derselben. Dabei muß stets auf das Vor¬ 
kommen im wahren Sinne des Wortes eingebildeter Krankheitsvor¬ 
stellungen aufmerksam gemacht werden, wie solche nur zu leicht bei 
ungebildeten Personen durch unzweckmäßige Lektüre entstehenkönnen. 
Gerade unter der lettischen Bevölkerung habe ich dieses in großem 
Maßstabe beobachten können. Auch ohne das Vorhandensein von 
ausgesprochenen nervösen Störungen und dazu disponierenden Mo¬ 
menten bildet gerade das Lesen solcher Abhandlungen oft eine Quelle 
von Vorstellungen, die nicht so leicht den ärztlichen suggestiven Ein¬ 
flüssen weichen. Wenn ich mich so ausdrücken darf, scheint jeden¬ 
falls das somatopsychische Moment bei den psychisch¬ 
nervösen Affektionen der Letten durchaus im Vorder¬ 
gründe zu stehen. Ich habe dieses reichlich bei allen Kultur- und 
Gesellschaftsschichten verfolgen können, die Landbevölkerung ist 
keineswegs mehr davon verschont, als die Bürgerschaft und die Ar¬ 
beiter der Städte. Der Unterschied ist dabei lediglich quantitativer 
Art, nicht qualitativer. Im gewöhnlichen Leben mit unserer Alltags- 
psycholögie ist oft ein fließender Übergang von normalen Empfin¬ 
dungen zu krankhaften wahrzunehmen. „Die Organempfindungen 
werden umgeformt, und unter dem Einflüsse einer krankhaften kom¬ 
binatorischen, phantatischen Gehirntätigkeit entwickelt sich der Irr¬ 
tum des Hypochonders zum Irrsinn des Paranoischen. Die gleichen 
seelischen Vorgänge sind in beiden Fällen in unserem Bewußtsein 
tätig, aber die eigenartige persönliche Veranlagung schafft hier den 
Hypochonder, dort den Paranoischen“ ( A.Behr ) 1 ). Das individuelle 
Abwägen und Abschätzen einzelner somatopsychischer Beschwerden 


x ) A. Behr, Über den Glauben an die Besessenheit. Allg. Ztschr. 
f. l’sych. Bd. 63, H. 1. 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 533 


muß daher stets mit sehr viel Reserve und dem Versuch näheren Ver¬ 
ständnisses geübt werden, indem z. B. die allgemein primitiveren Be¬ 
schwerden der Landbauem gelegentlich einen solchen phantastischen 
Charakter annehmen können, daß man bei einem Städter schon mit 
einer paranoischen Organ-Wahnidee rechnen müßte. Jedenfalls ist 
dieses Gebiet durchaus in der Hinsicht so beachtenswert und lehrreich, 
daß man sich stets im äußersten Grenzgebiet zwischen Psychose und 
Neurose weiß. 

Die Deutschen zeigen gleichfalls wenig ausgesprochene An¬ 
zeichen der Neurosen auf körperlichem Gebiet. Lähmungen 
psychogener Natur sind selten, Tics, Klonismen gleichwie Sensibili¬ 
tätsstörungen lassen sich eher nachweisen. Die Erblichkeit im Sinne 
psychisch nervöser Erkrankung der Eltern, sogar der Voreltern kann 
unverkennbar bei den meisten schweren Neurosen beobachtet werden, 
daneben kommen vielfach auch andere disponierende Momente bei 
den deutschen Neurotikern in Frage, wie häufigere Konsanguinität 
der Eltern und anderes mehr. Alkohologene hysteriforme Krank¬ 
heitserscheinungen, welche bei fortgesetzter Abstinenz schwanden 
und nicht mehr manifest wurden, habe ich auch bei Deutschen, beson¬ 
ders bei Frauen beobachtet, wesentlich mehr als bei den Letten. Die 
weitaus häufigste Form der von mir bei den Deutschen feststell¬ 
baren nervösen Störungen war ein allgemeines Insuffizienzge¬ 
fühl von stark neurasthenischem Charakter; der endogene 
Faktor ist bei diesen Affektionen unschwer festzustellen, in dem Sinne 
spricht .auch die auffallend geringe Suggestibilität der Deutschen. Die 
deutschen Landbauern zeigen sichtlich geringere phantastische Beschwer¬ 
den—meist zwar auch somatopsychischer Art—, als ihre entsprechen¬ 
den nervenkranken Nachbarn lettischer Nationalität. Stabile Zwangs¬ 
vorstellungen habe ich am häufigsten unter deutschen Patienten zu 
beobachten gehabt. — 

Geschlechtliche Iusuffizienz ist, wie überhaupt die Kri¬ 
terien der sexuellen Neurosen, am häufigsten bei den Juden 
und Rus sen, nächst denselben bei den Deutschen zu beobachten. Ge¬ 
schlechtliche Perversitäten, soweit es sich nicht um schwere, meist von 
Idioten oder Imbezillen ausgeführte Delikte handelt, habe ich recht 
wenig als Objekt neurologischer Behandlung oder Begutachtung gehabt. 
Das Material dieser Abnormitäten war so gering, daß es für die Frage 


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534 


Siebert, 


einer vergleichenden Betrachtung völlig bedeutungslos ist, es handelt 
sich dann jedenfalls um Juden und Deutsche, wobei sich ein stark 
degenerativer Einschlag deutlich nachweisen läßt. — In letzter Reihe 
will ich noch einige Bemerkungen über die hysterischen Dämmer¬ 
zustände anknüpfen, deren ich eine größere Anzahl beobachten 
konnte, und die gerichtsärztliche Beurteilung, welche mir oblag. Zur 
Annahme solcher Zustände habe ich mich in forensischen Fragen, 
als auch in rein ärztlicher Auffassung, sehr schwer und nur bei sorg¬ 
fältig erhobener Vorgeschichte entschlossen. Oben wurde bereits 
auf die große Zahl schwerer Hysterien bei den Litauern hingewiesen, 
und gerade bei dieser Volksart habe ich die Dämmerzustände oft ge¬ 
sehen. Von anhaltenden Dämmerzuständen wurden in meinem Be¬ 
obachtungskreis am meisten befallen Russen und Juden. Angenom¬ 
men wurden solche Störungen nur dort, wo vorher längere Zeit hin¬ 
durch, meist jahrelang, anderweitige hysterische Symptome bestanden, 
bis dann eine Affekterregung einen Dämmerzustand hervorrief. 
Bei einer deutschen Patientin habe ich regelmäßig sich wiederholende 
einwandfreie hysterische Dämmerzustände beobachtet, und zweimal 
konnte ich solche bei lettischen Frauen, sowie einmal bei einem let¬ 
tischen Mann feststellen, sonst betrafen diese Störungen ausschließlich 
die übrigen Volksarten. — 

Ergebnis des zweiten Teils: 

Berücksichtigt man die große Frage des Einflusses, welche der 
jeweilige Bildungsgrad, die mateiielle Lage, die Art der Beschäfti¬ 
gung nebst den entsprechenden nutzbringenden hygienischen Ein¬ 
richtungen (bezw. dem Fehlen solcher) und überhaupt der gesamte 
Kulturzustand einer ganzen Volksart auf die Entstehung oder die 
Verhütung von psychisch-nervösen Erkrankungen auszuüben imstande 
sind, so muß man immer wieder von neuem sich die Tatsache Vorhalten, 
daß gewisse Störungen bezw. Reaktionsformen des Nervensystems 
nicht Volkskrankheiten im eigentlichen Sinne des Wortes sind, sondern 
nur gewisse soziale Unterschiede darstellen. Immerhin bleiben, auch 
bei der allerkritischsten Betrachtungsweise, noch viele wohlcharak¬ 
terisierte Erscheinungen, als eigenartige rassen- und volksindividu- 
elle Symptome, bei den einzelnen Neurosen übrig. Diese Unterschiede 
sind auch sichtlich krasser, als bei den Psychosen, und wenn ich alles 
zusammenfassc, scheint es mir doch festzustehen, daß bei den Juden, 


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Die Psychosen und Neurosen bei der Bevölkerung Kurlands. 535 


den Litauern und Bussen die Disposition zu nervösen Störungen 
durch äußere Einflüsse leicht psychogene Reaktionsformen hervorruft, 
welche dann meist in auffälliger Weise sich in somatisch greifbarer 
Art nach außen hin dem Blick des Beobachters darbieten, — am 
wenigsten scheinen die Russen diese Erscheinungen aufzuweisen —, 
während die Deutschen und Letten mehr in psychischer Hinsicht Ano¬ 
malien des psychisch-nervösen Geschehens zeigen, indes die körper¬ 
lichen Projektionssymptome des psychischen anormalen Lebens 
sich weniger, als bei den oben erwähnten Volksarten, auf die Organ¬ 
funktionen — Bewegung, Empfindung und Sekretion — übertragen. 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkunst! erin. 

Von 

Dr. Rudolf Ganter, Wormditt. 

Die Patientin ist jetzt 24 Jahre alt. Mit 12 Jahren kam sie in 
die Anstalt. Zu Hause hatte sie die Schule vom 6. Jahre ab besucht, 
hier ging sie noch 2 Jahre in die Anstaltschule. Sie war eine der besten 
Schülerinnen, was bei uns allerdings nicht viel besagen will Immerhin 
beantwortete sie gelegentlich Fragen aus dem kleinen, und soweit 
mitunter darüber hinübergegriffen wurde, auch aus dem großen Ein¬ 
maleins mit großer Raschheit. Damit hatte es dann sein Bewenden. 
Einmal aber, als ich zufällig — es war im Sommer 1916 — beim Rund¬ 
gang einige Rechenaufgaben stellte, kam auch unsere Kranke heran, 
hörte lächelnd zu und löste sie fix, wenn die andern versagten. Dem 
fügte sie dann noch die Aufforderung bei: Sie können noch weiter 
fragenl Ich tat es, und damit war die Kranke als Rechenkünstlerin 
entdeckt. 12 Jahre hat’s hierzu gebraucht. 

Zunächst wollen wir die Kranke vorstellen: 

Helene B. wurde am 6. November 1893 in Danzig geboren. Der 
Vater, Steinschläger, trank, litt an Krämpfen im linken Bein und starb 
mit 41 Jahren an Lungenschwindsucht. Eine Schwester des Vaters wurde 
von ,,Wutkrämpfen“ befallen. Die Mutter lebt und ist gesund. Die Kranke 
ist das älteste Kind. Sonst machte die Mutter noch folgende Geburten 
durch: 1. ein Junge, Zangengeburt, kam tot zur Welt; 2. ein Mädchen, 
21 Jahre alt, gesund. Lernte gut in der Schule; 3. Mädchen, Totgeburt.; 

4. Mädchen, Totgeburt. Die Mutier hat ein enges Becken, worauf wohl 
diese Störungen beruhen. Dafür sprechen auch die Geburtstörungen 
aus einer zweiten Ehe, aus der von fünf Geburten nur drei durchkamen: 
1. Mädchen, Spontangeburt, gesund; 2. Kranioklasie; 3. Junge, Spon¬ 
tangeburt, ein Jahr alt an Masern gestorben; 4. Geburt von sieben Mo¬ 
naten (häufige Blutungen der Mutter), lebte nur eine halbe Stunde; 

5. Junge, gesund. 

Von Kinderkrankheiten hat Patientin nach dem ärztlichen Zeugnis 
die Masern durchgemacht. Sie bekam schon als kleines Kind Zuckungen 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


537 


in der linken Hand und im rechten Fuß. Sie besuchte die Volksschule 
mit Erfolg, zeigte sich gelehrig, schnell fassend, von gutem Gedächtnis. 
Nach ihrer eigenen Angabe mußte sie die unterste Klasse wiederholen. 
Von Charakter lebhaft, zänkisch, bösartig. Die Anfälle (die wohl auf 
die früheste Kindheit zurückgehen: Zuckungen) traten unregelmäßig bei 
Tag und bei Nacht, zuweilen täglich auf. Vor dem Anfall wurde es ihr 
schlecht, mit einem Schrei fiel sie hin, war bewußtlos und steif, nachher 
kurze Zeit benommen. Körperlich gesund, etwas schwerhörig. Ohne 
Erfolg ärztlich behandelt. Die Kranke wurde am 12. Oktober 1905 in 
die hiesige Anstalt aufgenommen. 

Derzeitiger körperlicher Befund: Größe 145 cm, Gewicht in den 
letzten Jahren 42—44 kg, bei der Aufnahme 133 cm und 31 kg. Die 
Kranke ist also in den 12 Jahren nur um 12 cm gewachsen, ihr 
Gewicht um etwa 12 kg gestiegen. Sie ist ziemlich klein, schmächtig 
gebaut und steht ihrer körperlichen Entwicklung nach auf der Stufe 
eines etwa 16 jährigen Mädchens. Kopfumfang 52 cm; Nase - Hinter¬ 
hauptshöcker (Bandmaß) : 30cm, (Zirkelmaß): 16,8 cm; Ohr - Ohr (Band¬ 
maß): 29 cm (größteBreite, Zirkelmaß): 13cm; Breite der Stirn 12cm, 
Höhe 6 cm; Nasenwurzel - Kinn 12 cm. Rechte Kopfhälfte etwas kleiner, 
Gesicht etwas schmal. Die Crista frontalis über der äußeren Orbital¬ 
gegend tritt beiderseits ziemlich vor 1 ). Die Scheitelhöcker wölben sich 
leicht kugelig vor. Die Hinterscheitelgegend nach der Hinterhaupts¬ 
schuppe zu schief abfallend. Schlitzaugen mäßigen Grades. Gaumen 
ziemlich eng, hoch. Zahnbildung ohne Besonderheit, untere Schneide¬ 
zähne eben abgeschliffen (hinter den oberen stehend). Größe des rechten 
Ohres 7 x 3,5 cm, des linken 6x3 cm. Auf dem linken Ohr verschwindet 
die Helix von der Mitte ab. Ohrläppchen angewachsen. Leichte, nach 
rechts konvexe Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule. Eine Folge dieser 
Verbiegung mag sein, daß die Kranke den Kopf immer steif nach links 
geneigt hält, eine Erscheinung übrigens, die mir seinerzeit auch bei ihrer 
rechten Schwester aufftel. Die Kranke ist linkshändig. Sie macht Hand¬ 
arbeiten links, schreibt aber und ißt rechts. Menses mit 13 Jahren, an¬ 
fangs unregelmäßig, später regelmäßig 2 ). Kniereflex links + -f, rechts + . 
Fuß-, Bauchreflex +. Berührungs- und Schmerzempfindung +. Pu¬ 
pillenreaktion + . 

Was die epileptischen Anfälle betrifft, so treten diese in typischer 

2 ) Trotz mehrmaliger Betrachtung bin ich nicht um diese Stirnecke 
herumgekommen und weiß jetzt noch nicht, ob sie dasselbe bedeutet 
wie die berühmte Mathematikerstirnecke von Möbius. 

2 ) Seit Februar 1916 ausgeblieben. Dieselbe Erscheinung machte 
sich auch bei andern Kranken geltend als Folge der Kriegsernährung. 
Auch in der Praxis draußen wurde diese Kriegsamenorrhöe beobachtet 
[Schweitzer, Kriegsamenorrhöe. Münch, med. Wschr. Nr. 1917, 17, und 
Gräfe, über Kriegsamenorrhöe. Ebenda Nr. 18). 


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Ganter, 


schwerer Weise auf mit tonisch-klonischen Krämpfen und darauffolgender 
Benommenheit. Daneben kommen auch solche leichterer Art vor, indem 
die Kranke hinsinkt, etwas vor sich hin murmelt, speichelt und dann 
noch kurze Zeit herumtorkelt. Keine Aura. Über die Zahl der Anfälle 
im Laufe der Jahre, die leichteren sind eingeklammert, gibt folgende 
Zusammenstellung Auskunft: 

1906 : 24 (104). 4.0—6.0 Brom. Pausen von 8—10 Tagen, auch kürzer, 

dann meist 3—4 Tage hintereinander Anfälle. 

1907 : 15 (77). 4.0 Br. Pausen wie oben. Fünf Monate nur leichtere 

Anfälle, dann auch wieder schwerere. 

1908 : 33 (53). 3.0 Br. Einen Monat ganz frei, einen Monat beurlaubt, 

sonst unverändert. 

1909 : 62 (95). 3.0 Br. Pausen etwas kürzer. Anfälle meist an 3—4 

Tagen hintereinander. 

1910 : 62 (52). 2.0 Br. Im Oktober keinen Anfall, sonst gleich. 

1911 : 55 (37). 2.0 Br. Einen Monat beurlaubt, sonst gleich. 

1912 : 59 (98). Vier Monate ohne Br., fünf Monate 2.0 Br., ohne großen 

Unterschied; drei Monate Zimmtsäurebr. ohne Wirkung. 
1913:26 (41). Die ersten drei Monate 2.0'Br.: 20 (29), die anderen 
neun Monate salzarme Kost und 2 Sedobrol.: 6 (9). 
Vier Monate ganz frei, wovon zwei hintereinander, 
sonst nur zwei bis drei Anfälle im Monat auf einmal, 
im Dezember ein leichterer Anfall. 

1914 : 14 (57). Bei salzarmer Kost und 2 Sedobrol die ersten acht Mo¬ 

natei (27), wovon einen Monat ganz frei. Bei 1 Sedobrol 
die letzten vier Monate 13 (30)*). 

1915 : 62 (50). Salzarme Kost und Sedobrol ab wegen großer Reiz¬ 

barkeit und Zanksucht. Dafür 3.0 Br. Nun wieder 
der alte Zustand. Größere und kleinere Pausen wech¬ 
seln ab. Die Zahl der hintereinander auftretenden An¬ 
fälle nimmt etwas zu. 

1916 : 41 (37). 2.0 Brom. Meist 3 Wochen Pause, dann an 4 Tagen 

hintereinander Anfälle. 

Was das sonstige Verhalten unserer Kranken betrifft, so zeigte sie 
von jeher ein eigensinniges, störrisches, zanksüchtiges Wesen. In den 
ersten Jahren ihres Aufenthaltes nahm dieses oft recht widerwärtige For¬ 
men an: sie strampelte, warf sich auf den Boden, heulte anhaltend. 
Eine Zeitlang hatte sie die Gewohnheit, wenn ihr etwas Unangenehmes 
widerfuhr, den Mund aufzusperren, nach Luft zu schnappen, den Kopf 
dabei nach links drehend. Das hat sich, wie gesagt, in den letzten Jahren 

*) Über die Wirkung dieser Behandlungsmethode s. unsere Abhand¬ 
lung: Über die Behandlung der Epilepsie mit salzarmer Kost und Sedo¬ 
brol, und Sedobrol und Luminal. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1916, Bd. 40. 

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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


639 


mehr gelegt, nur ihr Grundcharakter hat sich natürlich nicht verändert. 
Mit den andern Kranken kann sie nicht zur Arbeit geschickt werden, 
da sie sofort sich zu zanken anfängt. Sie hält sich auch selbst gern für 
sich, hat sie doch schon als Kind nicht am Spiel der andern teilgenommen. 
Jetzt ist sie am zufriedensten, wenn sie bei ihrer Strickerei sitzt. 

Wie aus der obigen Zusammenstellung hervorgeht, zeigen die An¬ 
fälle ein mehr serienweises Auftreten. Vor und zwischen den Anfällen 
ist die Kranke mißgestimmt und klagt über allerlei Schmerzen, ist die 
Anfallperiode zu Ende, macht sich bei ihr einige Tage eine große Ge¬ 
schwätzigkeit geltend. Aber auch ihre sonstige Redeweise hat manches 
Auffällige, ist umständlich, abschweifend, Worte am Anfang des Satzes 
werden am Schlüsse in etwas anderer Umstellung wiederholt, wie wir 
das weiterhin am besten an einer ihrem Briefe entnommenen Stelle zeigen 
werden. Eines ihrer Lieblingsflickworte ist „gerade so“. Nebenbei be¬ 
merkt, habe ich diese Redeweise noch bei einem Epileptiker beobachtet, 
der nach jedem zweiten oder dritten Worte „vielmehr“ sagt, wobei er sich 
gewöhnlich noch mit der rechten Hand über den Hinterkopf fährt: eine 
Art psychischen Tics. 

Rechenprüfung. — Bei der Rechenprüfung ging ich so vor, daß 
ich der Kranken die Aufgabe vorsagte und sie nachsprechen ließ. Bei 
den mehrstelligen Zahlen ging das einige Male hin und her. Saß die Auf¬ 
gabe aber einmal fest, so wurde kein Wort mehr zwischen uns gesprochen. 
Patientin hatte nur das Ergebnis anzugeben und mir im Anschluß daran 
die Art ihres Kopfrechnens zu diktieren. 

A. Vervielfältigung. Aufgabe 1.,45 X 37 = 1650, in V 2 Minute. 
[Falsch!] Nein 1665, in y 2 Minute. Sie rechnete: 2 x 45 = 90; 90 x 37 
= 3330; davon nehme ich die Hälfte = 1665. 

Aufgabe 2. 62 x 84 = 5208, in 2 Minuten: „80 x 62 = 4960, 
4 x 62 = 248. Nun zähle ich zu 4960 die 248 dazu: 960 + 40 = 1000, 
4000 + 1000 = 5000; von 248 muß ich die 40 wieder abziehen = 208, 
5000 + 208 = 5208.“ 

Aufgabe 3. 53 X 67 = 3551, in 1 >4 Minuten. „Von 67 bis 70 fehlen 3, 
3 X 53 = 159, 70 X 53 = 3710. Nun muß ich von 3710 die 159 wieder 
abziehen: 3710 — 110 = 3600, nun noch 49 abziehen: 3600 —49 = 
3551.“ 

Die Art, wie die Patientin hier abzieht, ist so charakteristisch und 
grundlegend für ihr ganzes Vorgehen, daß ich jetzt schon darauf hin- 
weisen möchte, bei den größeren Aufgaben wird das noch viel deutscher 
zutage treten. Sie rechnet nämlich ganz so, als hätte sie die Tafel vor 
sich: 9 von 0 geht nicht, weil doch 9 mehr ist. Dann muß ich einen Punkt 
machen. Das sollte 10 bedeuten, 9 von 10=1. Dann k von 9 = 5. Dann 
noch 5 und 3 anschreiben. Dann ist es gerade 3551. 

Nicht weniger bezeichnend ist die große Umständlichkeit, mit der 
sie zu Werke geht. 


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540 


Ganter, 


Aufgabe 4. 743 X 34 = 214 262, in 6 Minuten. [Falsch!] = 25 262, 
in 11 Minuten. „60 x 743 = 44 580, davon die Hälfte = 22 290, 4 x 743 
= 2972, 2290 + 2972 = 90 + 72 == 162, 1 im Kopfe behalten, 62 an- 
schreiben, 22 + 29 = 51 + 1 = 52; die 52 muß ich vor die 62 setzen 
= 5262, nun noch 2 davor = 25 262.“ 

Man sieht, Patientin erleichtert sich die Rechnung keineswegs. 
Statt 60 x 743 und von der Summe dann die Hälfte zu nehmen, hätte 
sie doch viel einfacher 30 x 743 rechnen können. Aber bei ihrem außer* 
ordentlichen Zahlengedächtnis spielt das keine Rolle. 

Aufgabe 5. 874 x 53 = 46 322, in 2 y 2 Minuten. „5 x 74 = 370, 
70 anschreiben, 3 im Kopf behalten; 5 x 8 = 40 + 3 = 43. Die werden 
vor die 7 geschrieben = 43 700 (noch eine 0, weil es 50 x 74 heißen muß). 
3 x 874 =: 3 x 74 = 222, 22 anschreiben, 2 im Kopfe behalten; 3x8 
= 24 + 2 = 26; die 26 vor die 22 = 2622; 3700 + 2622 = 37 + 26 
= 63 und 22 = 6322, nun noch 4 vorsetzen = 46 322.“ 

Aufgabe 6. 468 x 322 = 151 096, in 7 Minuten. [Falsch!) = 151 096, 
in 8 Minuten. [Falsch!] = 150 696, in 2% Minuten. „300 x 468 = 3 x 
468. 468 x 3 = 1404 (rechnet wie auf der Tafel); 300 x 468 = 140 400; 

22 X 468 = 468 
X 2 

936, noch einmal 936 darunter setzen: 

936 

10 296 

140 400 + 10 296 = 150 696 “ 

Aufgabe 7. 876 x 532 = 466 032, in 10 Minuten. „876 x 5 = 
4380, = 438 000, 876 x 3 = 2628, = 26 280 (so angeschrieben wie sie 
rechnet). 438 000 + 26 280 (unter die drei Nullen schreibe ich 280 und 
die 26 unter die 38) = 464 280, 876 X 2 = 1752, 4280 + 1752 

(80 + 32 = 132, 32 anschreiben, 1 im Kopf behalten usw.). Nun noch 
46 vorsetzen = 466 032.“ 

Aufgabe 8. 4362 x 6871 = 2 MU1. 68 Hundert 71 302, in 18 Mi¬ 
nuten. [Falsch!] = 26 Mill. 8 Hundert 71 302, in 5 Minuten. [Falsch!] 
= 2 Mill. 96 Hundert 71 302, in 1 Stunde. [Falsch!] Das richtige Ergeb¬ 
nis lautet: 29 971 302. Man sieht, die fünf letzten Stellen sind richtig, 
mit den andern konnte Patientin nicht zurechtkommen. Die Zahlen 
verwirren sich offenbar in ihrem Kopf. Der Hauptgrund hierfür liegt 
darin, daß sie eine achtstellige Zahl überhaupt nicht richtig lesen konnte. 
Ich ließ sie nun die Aufgabe schriftlich machen. Jetzt brachte sie die 
richtige Lösung heraus, las aber: 2 Mill. 99 Hundert 71 302. Nachdem 
ich ihr auf der Tafel klargemacht hatte, wie eine derartige Zahl zu lesen 
ist, gab ich ihr nach einigen Tagen eine neue Aufgabe, die sie nun richtig 
löste: 

Aufgabe 9. 6324 X 2175 = 13 754 700, in 35 Minuten: 6324 x 5 = 
31 620, 6324 x 7 = 44 268. Nun zählte sie die beiden Summen zusam- 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


541 


men, wobei sie besonders bemerkte, daß 68 unter die 62 komme und nicht 
etwa unter die 20: 31 620 4- 442 68 = 474 300, 6324 x 21 = 6324 x 2 
= 126 480, 6324 X 1 = 6324, 126 480 + 6324 = 132 804, 474 300 + 
132 804 = 13 754 700. Auch hier bemerkt sie wieder, daß 804 unter die 
743 zu setzen ist. Man sieht also auch hier, daß Patientin genau so rech¬ 
net wie auf der Tafel. Erst vervielfältigt sie mit 5, dann mit 7; nun zählt 
sie zur Erleichterung ihres Gedächtnisses die beiden Zahlenreihen zu¬ 
sammen. Dann vervielfältigt sie mit 21 und berechnet die Gesamtsumme. 
Sie weiß auch, wie beim Zusammenzählen die Zahlenreihen richtig unter¬ 
einander zu setzen sind, genau so wie es auf der Tafel gemacht wird. 

Aufgabe 10. 8256 x 6932 = 57 230 592, in 38 Minuten: 8256 x 32 
= 8256 X 2 = 2 x 56 = 112, 12 anschreiben, 1 im Kopfe behalten, 
2 x 82 = 164 + 1 = 165, die Nummer kommt vor die 12 = 16 512; 
8256 x 3 = 24 768 (wie oben gerechnet); 16 512 + 24 768 = 264 192; 
8256 x 69 = 569 664 (wie oben zerlegt); 264 192 + 569 664 = 57230 592. 

Aufgabe 11. 5 288 316 x 76 = 401 912 016, in 45 Minuten; Erst 

vervielfältigte sie mit 6, dann mit 7 und zählte die Summe zusammen: 
5 288 316 x 6, wobei sie die unterklammerten Zahlen zusammennimmt, 
anschreibt, im Kopfe behält und zur folgenden Summe zuzählt, wie wir 
es ja schon kennen. Merkwürdig ist, daß sie hier die Summe wieder nicht 
richtig las. Sie diktierte nämlich: 40 Mill. 1 Hundert 912 Tausend und 
die Null mit den 16. 

B. Teilung. Da ich im Anschluß an die Vervielfältigungsaufgaben 
die Patientin habe auch die Probe machen lassen, konnten jetzt gleich 
größere Aufgaben gegeben werden. Auch beim Teilen verfährt Patientin 
genau so, als rechnete sie auf der Tafel. 

Aufgabe 1. 21 298 : 463 = 64, in 5 Minuten. [Falsch!] = 46, in 

Yt Minute (sie habe sich versprochen). 

21298 : 463 = 46 
1852 
2778 
2778 

Aufgabe 2. 4 057 416 : 792 = 5123, in 17 Minuten. 

Aufgabe 3. 94 669 902 : 3467 = 27 306, in 18 Minuten. 

94 669 902 : 3467 = 27306 
69 34 

25 329 
24 269 

1 0609 
1 0401 

20802 
20802 

Sie rechnet: 2 x 67 = 134, 34 anschreiben, 1 behalten; 

Zeit schrift für Psychiatrie. LXXIII. 6. 

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2 x 34 = 68, 
38 


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542 


Ganter, 


+ 1 = 69; 34 kommt unter die 66, 69 unter die 94; 34 von 66 bleibt 
32 usw. Nun habe ich 25 329 durch 3 467 zu teilen usw. 69 von 29 kann 
ich nicht, ich entlehne 1; 69 von 129 bleibt 60; nun habe ich noch 242 
von 252 abzuziehen, bleibt 10. Hat Patientin also eine fünfstellige Zahl 
abzuziehen, so nimmt sie erst zwei und dann drei Stellen. Hat sie ab¬ 
gezogen, so holt sie sich die nächste Zahl herunter, also z. B. 9, und rech¬ 
net dann: also muß ich 10 609 : 3467 teilen usw. 

Aufgabe 4. 190 595 328 : 4928 = 3976, in 65 Minuten. [Falsch!] 

= 38 676, in 20 Minuten. 

C. Zusammenzählung. 318 + 427 + 538 + 712 + 901 + 289 = 

3887, in 14 Minuten. [Falsch!] 3185, in 2 Minuten. Patientin prägt sich 
die Zahlen so ein: die erste Zahl heißt 318, die zweite 427 usw. Das 
erste Mal, erklärte sie mir, habe sie von oben angefangen zusammen¬ 
zuzählen, als ich sagte: Falsch! von unten. Sie rechnete: 289 + 901 = 
89 + 1 = 90, 2 + 9 = 11, die 11 vor 90 anschreiben = 1190; 1190 4- 
712 = 190 + 712 = 902, die 1 davorsetzen = 1902; 1902 + 538 = 

38 + 2 = 40, 40 anschreiben; 19 + 5 = 24, 24 vor die 40 setzen = 
2440 usw. Patientin zählt also jeweils die folgende Zahl zu der vorher 
erhaltenen Summe hinzu. 

D. Abziehung. Aufgabe 1. 63 527 636 — 20 244 123 = 43 283 313, 
in 4 Minuten. [Falsch!] 43 283 613, in 2 Minuten. [Falsch!] 43 283 613, 
in 4 Minuten. [Falschl] 43 283 513, in 1 Minute. Sie rechnet in bekann¬ 
ter Weise: 36 — 23 = 13, 6 — 1 = 5. Die 5 kommt vor die 13 = 513; 24 
— 44 geht nicht, 1 entlehnen, ich muß einen Punkt an die 5 machen; 
127 —44 = 83; nun schreibe ich 83 vor die 513; nun muß ich 2 von 5 
abziehen, aber ich habe 1 geborgt, also muß ich 2 von 4 abziehen = 2. 
Die 2 kommt vor die 8; nun 63 — 20 = 43. Die 43 kommt vor die 2, 
also bekomme ich 43 283 513. Das Rechnen geht also gerade wie auf 
der Tafel und in der Umständlichkeit des Schulrechnens vor sich. 

Aufgabe 2. 568 221 103 — 369 783 827 = 198 437 276, in 18 Mi¬ 

nuten. Patientin zog erst 827 von 1103 ab, dann 83 von 120, 7 von 11 
und zuletzt 369 von 567. 

Erinnerungsvermögen für Zahlen. — Bei den Aufgaben 
45 x 37, 62 x 84, 53 x 87 dauerte das Rechnen und Erklären eine 
Stunde. Nach dieser Stunde konnte Patientin alle drei Aufgaben und 
ihr Ergebnis wiederholen. Ebenso nach 24 Stunden (16. 6. 16). Jetzt 
wurde die Aufgabe 743 x 34 gestellt. Nach drei Tagen (19. 6. 16) wußte 
sie die Aufgabe noch, auch die ersten drei Aufgaben brachte sie noch zu¬ 
sammen, wenn auch erst nach langem Nachdenken. Am 24. 6. 16, also 
fünf Tage nach dem letzten Rechnen, wußte sie noch die ersten drei Auf¬ 
gaben, die vom 16. 6. hatte sie dagegen vergessen. Von den beiden Auf¬ 
gaben vom 19. 6.: 874 : 53 und 468 x 322 hatte sie die erste vergessen, 
von der zweiten sagte sie 768 statt 468, sonst war die Wiederholung rich¬ 
tig. 26. 6. 16: Von den ersten drei Aufgaben wußte sie noch 45 x 37, 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


643 


62 x 84, von dieser aber nicht mehr das Ergebnis. Die dritte Aufgabe 
hatte sie ganz vergessen. Ebenso hatte sie die Aufgaben vom 16. und 
19. 6. vergessen. Die Aufgabe vom 24. 6.: 21 298 : 463 aber wußte sie 
noch. Hier ist es natürlich nicht ausgeschlossen, daß sie sich die letzte 
Aufgabe auf der Abteilung öfters in Erinnerung gerufen hat. 18. 7. 17: 
Patientin wußte noch die Aufgabe vom 5. 7. 16: 876 x 532 = 466 032. 
Sie gab zu, daß sie heute über die Aufgabe nachgedacht habe. Immerhin 
ist zu beachten, daß in dem 13 tägigen prüfungslosen Zwischenraum an 
-drei Tagen hintereinander drei größere und drei kleinere Anfälle aufge- 
treten waren. 31. 8. 16: Nach einer einstündigen Prüfung über Schul¬ 
kenntnisse wußte Patientin die gestrige Aufgabe noch richtig anzugeben: 

63 527 636 — 20 244 123 = 43 283 513. 9.9.16: Sie erinnerte sich noch, abge¬ 
sehen von einem kleinen Fehler, an die Aufgabe vom 5. 9. 16: 568 221 103 
— 369 783 827 = 168 437 276. Der Fehler bestand darin, daß sie 473 
statt 437 angab. Wohlgemerkt, gestern hatte ich sie angewandte Auf¬ 
gaben rechnen lassen. 13. 11. 16: Nachdem sie 8256 x 6932 gerechnet 
hatte, frug ich sie nach der Aufgabe vom 8. 11. 16. Sie wußte noch: 
6324 x 2175 = 13 Millionen 700. Das übrige hatte sie vergessen. 

Aus der Erinnerungsprüfung geht hervor, daß Patientin auch hierin 
Außerordentliches leistet. Die ersten drei Aufgaben hafteten besonders 
lange, wohl weil sie die Prüfung einleitend den nachhaltigsten Eindruck 
auf Patientin gemacht hatten. Größere Aufgaben fangen mit fünf Tagen 
an zu verblassen. Gewiß wird Patientin, sobald sie einmal bemerkt hatte, 
daß ich ihr Erinnerungsvermögen prüfen wollte, sich die Aufgaben zwischen¬ 
durch ins Gedächtnis gerufen haben. Diesen Umstand suchte ich aber 
dadurch möglichst auszugleichen, daß ich sie erst wieder neue Aufgaben 
rechnen ließ, bevor ich am Schlüsse derselben oder auch erst am fol¬ 
genden Tage wieder auf die alte Aufgabe zurückkam. 

Vergleich mit der Rechnungsart anderer Rechenkünstler- 
Wisel hat den Fall einer Rechenkünstlerin veröffentlicht 1 ). Zum Ver¬ 
gleich habe ich unserer Kranken dieselben Aufgaben wie Wizel der seinigen 
gestellt. Einige Beispiele daraus mögen genügen: 


Vervielfältigung: 

W.s Kranke: 

unsere Kranke: 

56 X 56 = 3136, 

in 1 

Sekunde, 

in 

30 Sekunden 

99 X 99 = 9801, 

„ 2 

>> 

:i 

3 „ 

87 X 87 = 7569, 

„ 6 

91 

11 

2 Minuten 

64 X 64 = 4096, 

? 

19 

99 

1 Vz „ 

77 x 77 = 5929, 

H 

11 

11 

45 Sekunden. 


Wizel gab erst Aufgaben mit gleichnamigen Zahlen, dann mit ungleich¬ 
namigen : 


*) Wizel, Ein Fall von phänomenalem Rechentalent bei einer Im¬ 
bezillen. Archiv f. Psychiatrie 1904, 38, S. 123. 

38* 


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544 


Ganter, 



W.s Kranke: 

unsere Kranke 

16 X 37 = 592, 

sofort, 

in 

1 Min. 

28 X 14 = 392, 

in 4 Sek., 

»> 

10 Sek. 

39 X 15 = 585, 

„ 8 „ 

/> 

15 

56 X 18 = 1008, 

„ 11 „ 


30 „ 

48 X17 = 816, 

„ 12 „ 

n 

30 „ 


Teilung: 

FF.s Kranke: unsere Kranke: 

576 :16 = 36, sofort, in 15 Sek. 

336:16 = 21, „ „ 2 „ 

225 :15 = 15, „ „ 10 „ 

Beim Zusammenzählen und Abziehen versagte W.s Kranke vollständig. 
Was nun die Art der Ausführung anbelangt, so zerlegte WCs Kranke die 
Zahlen in Faktoren. W. fragte z. B., wie sie 36 x 36 = 1296 gerechnet 
habe. Sie sagte nur 81 x 16, worauf W. annimmt, daß die Zerlegung so 
war: 36 x 36 = 4x9x4x9 = 16 x 81 = 1296. Wie rechnete unsere 
Kranke? 36x 3 = 108 + 0 = 1080; 36 x 6 = 216; 1080 + 216 =1296. 
Also ganz wie auf der Tafel, die Zahlen untereinander geschrieben: 36 

X 3 

Was das Verfahren des Rechenkünstlers Inaudi betrifft, fand ich 
in der Abhandlung von Wizel eine Aufgabe, wie sie Inaudi zerlegte: 
325 X 638 = 207 350. Er rechnete so: 

300 X 600 = 180 000 300 X 8 = 2 400 

25 X 600 = 15 000 25 X 30 = 750 

300 X 30 = 9 000 25 X 8 = 200 

207 350. 

Unsere Kranke löste diese Aufgabe in 17 Minuten in ihrer bekannten Weise: 
600 x 325 = 325 x 6 (untereinander geschrieben und gerechnet wie auf 
der Tafel) = 1950 + 00; 40 x 325 = 325 x 4 = 1300 + 0. Da sie 
mit 40 statt mit 38 vervielfältigt hatte, zog sie 2 x 325 von 13 000 
ab = 12 350. 195 000 + 12 350 = 207 350. Ein anderer Rechenkünstler, 
Mondeux, zerlegte nach Wizel in folgender Weise: 2435 x 3648 = 24(00) x 
36(00), 24(00) x 48, 35 x 36(00), 35 x 48. Einige Bemerkungen hierzu 
wollen wir für die Zusammenfassung aufsparen. 

Intelligenzprüfung. — Das Bild, das wir bisher von unserer 
Kranken gewonnen haben, wäre unvollständig, wenn wir uns nicht auch 
von ihrem gesamten geistigen Besitzstand, ihren geistigen Fähigkeiten 
überhaupt Kenntnis verschaffen wollten. Hierzu dienen die verschiedenen 
Methoden der Intelligenzprüfung. Den Übergang sollen angewandte 
Rechenaufgaben bilden, die nicht mehr bloß ein mechanisches Rechnen, 
sondern auch Nachdenken, Überlegen, Schließen verlangen. Viel ist es 
freilich nicht, was wir der Kranken vorlegen können. Maße und Gewichte 
kennt sie nicht. Ob sie das, wie sie behauptet, in der Schule nicht gehabt 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 545 

habe, oder es vergessen hat, mag dahingestellt bleiben. Ich entnahm die 
Aufgaben einem Rechenheft, das im 2. Volksschuljahr gebraucht wird 1 ). 
Auch hier sagte ich ihr die Aufgabe vor, die sie im Kopfe lösen mußte. 

1. 133 Pferde brauchen in 30 Tagen 9975 kg Heu. Wieviel macht 
das auf einen Tag? — 332, Rest 15. 

2. Ein Heuvorrat reicht für eine Kuh 6 Monate. Wieviel Monate 
reichen damit 2 Kühe? — 3 Monate. 

3. Wieviel Stunden hat der Januar? — 744. 

4. Wieviel Dreimarkstücke bekommt man für 9 Zehnmarkscheine ? — 
Sie rät herum, löst die Aufgabe auch nicht, als ich sie über die Geldsorten 
belehrt hatte. 

5. 6 Arbeiter pflastern eine Straße in 12 Tagen, wie lange braucht 
1 Arbeiter? — Rät herum, sagt 2 Tage. Dann: Er muß arbeiten, bis er 
Geld kriegt. Jeder muß so lange arbeiten, bis er stirbt. Nach einigen 
Tagen komme ich wieder auf diese Aufgabe zurück und bemerke, daß 1 
Arbeiter doch 6mal so lange arbeiten müsse, worauf sie antwortet: 6 Tage. 

6. Welche Zahl ist um 3500 größer als 2500 ? — Die 500, wo hinter 
die 2000 gerade ist, ist größer. 

7. Zieht man von einer gewissen Zahl 2400 ab, so erhält man 7600. 
Wie heißt die Zahl? — Dann sind es gerade 10 000 gewesen. 

8. Ein Haufen Weizen wog 76 Pfund, ein Haufen Roggen 72 Pfund. 
Um wieviel war der Roggen leichter als der Weizen? — 4 Pfund. 

9. Wie lange reicht ein Pferd mit 550 1 Hafer, wenn es täglich 11 1 
erhält? — 50 Tage. 

10. Ein Vater ist 41 Jahre alt. Er sagt an seinem Geburtstage zu 
seinem Sohne: „Heute bin ich gerade 4mal so alt wie du.“ Wie alt war 
der Sohn? — 164 Jahre alt. 4x1 = 4 und 4 x 4 = 16. Ich dachte 
4 x 41 zu nehmen. 

11. Ein Mann rauchte täglich 6 Zigarren zu je 7 Pf. Wieviel Mark 
kosteten ihm die Zigarren im Jahre? — 153 M. 30 Pf. 

12. Wieviel Dreimarkstücke gibt es für einen Hundertmarkschein ? — 
9 M., denn 3 x 3 M. sind 9 M. Von den 10 M. bleibt 1 M. übrig. (Hast 
du schon einen Hundertmarkschein gesehen?) — Das sind 10 M. 

Von den 12 Aufgaben brachte Patientin 5 nicht heraus. Charak¬ 
teristisch für ihr Rechnen war, daß sie ohne viel Nachdenken immer nur 
vervielfältigen und teilen wollte, so daß es besonders anfangs Mühe machte, 
sie an der Kandare zu halten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Aufgabe 10. 
Hier berechnete sie für den Sohn, dessen Vater 41 Jahre alt ist, ein Alter 
von 164 Jahren! Bei manchen Aufgaben (4, 5) verliert sie sich in ein 
ödes Geschwätz. Aufgabe 2 ist vielleicht ein Zufallstreffer, besonders da 
sie die ähnliche Aufgabe 5 nicht zu lösen vermochte. Alles in allem ge- 


*) Büttners Rechenhefte, Ausgabe C, H. 2. 


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546 


Ganter, 


nommen, zeigt es sich, daß unsere Patientin um so eher versagt, je mehr 
Nachdenken eine Aufgabe verlangt. Wir wollen weiter sehen. 

Fragen aus der Bibel. Da die Bibel in der Schule eingehend 
behandelt und in den Predigten immer wieder darauf zurückgegriffen 
wird, eignen sich Fragen hieraus gut sowohl zur Prüfung von Schulkennt¬ 
nissen als auch zur Verstandesprüfung. Mit geschichtlichen und geo¬ 
graphischen Fragen ist man meist bald zu Ende. 

Was war vor 1917 Jahren? — Da war die Erschaffung der Welt, 
Gott war allein auf der Welt. 

Wann wurde J. Chr. geboren? — Am 24. Dezember, am Anfangs 
der Welt. Das 1. Jahr nach der Welterschaffung kam J. Chr. auf die Welt. 

Was war denn vorher? — Vorher war gar nichts. 

Wann haben Adam und Eva gelebt? — Keine Antwort. * 

Wer kam nach Adam? — Eva, dann Kain, Abel, dann Abraham 
mit den Israeliten. 

Wann wurde J. Chr. geboren? — Wie die 12 Monate zu Ende waren. 
(Sie denkt offenbar an Weihnachten.) 

Wann wurde J. Chr. geboren in Beziehung auf Adam? — J. Chr. 
war vor Adam und Eva geboren. 

Kennst du die Arche Noah? — Das habe ich gehört, aber vergessen. 

Wer hat die Arche gebaut? — Simon. 

Warum hat er eine Arche gebaut ? — Damit daß daraus eine Kirche 
gebaut werde. 

Hast du etwas von Moses gehört?— Ja, Moses hatte die Kirche 
aus der Arche gebaut. 

Die Zehn Gebote, die Sakramente, die üblichen Gebete kann sie gut 
aufsagen. 

Fragen über Zeitereignisse. Warum ist dieser Krieg ent¬ 
standen ? — Wenn einer sich wollte zum 1. Gott hingegeben haben. 

Warum kamen die Russen? — Um die Menschen von Ostpreußen 
totzuschießen. 

Wer hat denn die Russen geschickt? — Der 1. Gott, denk ich auch, 
der 1. Gott hat es dem Kaiser angegeben, und dann hat er die Russen ge¬ 
schickt. 

Welcher Kaiser ist das? — Ich denke der Kaiser von Berlin, denn 
von andern kenne ich keinen Kaiser. Der 1. Gott hat doch angegeben, 
daß erst der Kaiser sollte zu hören kriegen, wie es sollte sich darauf be¬ 
denken können, wie es mit dem Kriege zu bestehen hatte sich. Ob es sollte 
geschehen werden oder gar nicht. 

Witzmethode (nach Vf.) 1 ). Schneider: „Jetzt ist der Kerl über alle 

1 ) Cimbal hat diese Methoden zusammengestellt in seinem Taschenbuch 
zur Untersuchung nervöser und psychischer Krankheiten. Berlin 1913. 
Ferner Gregor, Leitfaden der experimentellen Psychopathologie. Berlin 1910. 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


547 


Berge, ohne mir den Anzug bezahlt zu haben. Wenn ich das gewußt hätte, 
hätte ich 20 M. mehr gerechnet.“ — Da hat der wohl was haben wollen. 

Sprichwörtermethode (nach Finkh). Der Krug geht so lange 
zum Brunnen, bis erbricht.—Wer der Krug möchte sein, das weiß ich nicht. 
Ich denke, es ist wohl der Tod. 

Satzbildung (nach Maßeion). Vogel — Nest — Baum. — Der 
Vogel hat ein Nest am Baum. Wasser — Berg — Tal. — Manches 
Wasser liegt zwischen Berg und Tal. 

Ergänzungsmethode (nach Ebbinghaus). (Die eingeklammerten 
Silben und Worte sind von der Kranken ergänzt.) 

Da kam ei(ne) arme Wit(we) aus (Danzig) Nachbar (hieß), der 
mein Va(ter) in bes(sere zu die) Zeiten eini(ges) (ge)tan hatte. Die bat 
mei(ne) Mutter, (gut) zu stehen und mit (ihres) in die Hüt(te) zu gehen. 
Sie wollte (es) los [statt les] mit ihr tei(len), sag(te) sie, was sie (in) ih(re) 
Armut hät(te). 

Unterschiedsfragen. Unterschied zwischen Treppe und Leiter? 
— Für jeden Menschen braucht man die Treppe. Die Leiter brauchen die 
Maurer, auch der Schornsteinfeger. 

Zwischen Geiz und Spaisamkeit? — Geizig ist man, wenn eins von 
meinen Geschwistern bitten kommt, und man würde ihm nichts geben. 

. Sparsamkeit, das ist so wie dem Nächsten zur Freude zu bringen. 

Zwischen Borgen und Schenken? — Richtige, wenn auch umständ¬ 
liche Erklärung. 

Fragen über Ursache und Wirkung. Warum ist es tags hell 
und nachts dunkel? — Die Tage sind zur Arbeit von morgens bis abends, 
wo es hell ist. Die Nächte sind dazu wie auszuruhen. Warum bleibt die 
Uhr stehen ? — Weil die Uhr sollte aufgezogen werden. 

Verblüffungsfragen. Was ist schwerer, ein Pfund Blei oder ein 
Pfund Federn ? — Sie sagt natürlich ein Pfund Blei. 

Auf derlei Fragen ist übrigens nichts zu geben, da auch bessere 
Leute darauf hereinfallen. 

Erklärung eines Gedichtes. Pat. sollte ein einfaches Gedicht 
durchlesen und es erklären. (Kurzer Inhalt: Ein Greis schleppt wankend 
eine schwere Bürde einen Waldweg hinan, ein Knabe springt ihm bei und 
hilft ihm die Bürde tragen.) — Ein Waldweg wankt ihn an, und sauer wird 
ein armer Mann. Das stand so darin geschrieben auch. Sowie das Ganze 
habe ich mir nicht durchgelesen von oben an. 

Briefstellen. Als Probe für die umständliche, teilweise wunder¬ 
liche Ausdrucksweise und verzwickte Satzbildung der Pat. möge eine 
Stelle aus einem ihrer Briefe dienen: 

Liebe Mutter wenn ich jetzt sollte auch was von mir zu euch wirklich 
sagen da frage ich euch wie es mit euch zu Mute geht. Denn es geht mir ganz 
gut im Leben, u. die liebe Mutter ich wünsche auch Hans von meinen 


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548 


Ganter, 


Herzen wenn er sollte im Monate April auf diesem Jahr anfang zu Unter¬ 
richt gemacht haben wie so bis jetzt er würde noch immer gehen müssen, 
dann wünsche ich ihm, das er sollte mit diese schönste Freuden so wie 
auf diesem Monat im September zu diese Woche auf diesen Feiertag 1 oder 
auf dem Sonntag das allerschönste Sakramente des Altares wie schön er 
mit den Freuden er es empfangen sollte wünschte ich es ihm auch von 
meinen ganzen Herzen zu die Gesund und zu die Freundlichkeit ich es ihm. 

Prüfung von Gedächtnis und Merkfähigkeit. — Im An¬ 
schluß an die Intelligenzprüfung mögen auch diese beiden Fähigkeiten 
eine kurze Würdigung erfahren. Der Vergleich ist besonders wichtig mit 
Rücksicht auf das Zahlengedächtnis.' 

Ich gab der Pat. ein Gedicht zum Auswendiglernen auf: Der Tag 
des braven Kindes. Es wird darin das Aufstehen, Beten, in die Schule 
gehen, kurz das ganze Tagewerk eines Kindes in einfachen Versen be¬ 
schrieben. Das Gedicht umfaßte 10 Strophen zu je 4 Zeilen. 

Pat. lernte von vormittags bis abends mit Unterbrechungen, zu¬ 
sammen etwa 5 Stunden. Am folgenden Tage sagte sie es auf, wobei ich 
zweimal nachhelfen mußte. Nach weiteren 3 Tagen, wobei an einem 
Tage noch gerechnet worden war, mußte ich ihr beim Hersagen zehnmal 
nachhelfen. 

Die Intelligenzprüfung ergibt, daß Pat. auf diesem Gebiete so gut 
wie versagt. Einfache angewandte Aufgaben löst sie noch, wenn auch ein 
Zufallstreffer darunter sein mag. Bei "nur einigermaßen Nachdenken 
verlangenden Aufgaben kommt sie nicht zum Ziele. Aus der Bibel haften 
in ihrem Gedächtnis noch verschiedene Tatsachen, aber alles geht ihr bunt 
durcheinander im Kopfe herum. Es ist nicht die geringste Fähigkeit, 
die Tatsachen logisch miteinander zu verknüpfen, vorhanden. Auch die 
Zeitereignisse sind ihr ein Buch mit 7 Siegeln. Sie befindet sich zwar ja 
nicht auf der geistreichsten Abteilung, trotzdem hätte man etwas mehr 
Wissen erwartet für die Zeit, da die Russen die Anstalt mit Granaten be¬ 
dachten. Aber das hat weiter keinen Eindruck auf sie gemacht. Mit 
Witzen und Sprichwörtern weiß sie nichts anzufangen. Von einem dem 
kindlichen Verständnis angepaßten Gedichte vermag sie nicht einmal 
den Inhalt, geschweige denn die Nutzanwendung anzugeben. Dabei 
kommt es weniger darauf an, daß sie keine Antwort weiß, als darauf, 
wie sie antwortet: meist der reinste Wortsalat. Am besten gelingen ihr 
noch die Unterschiedsfragen, die Satzbildung und die Wortergänzung, 
letztere freilich nur da, wo die zu ergänzende Silbe einem sozusagen auf 
der Zunge liegt. Charakteristisch sind ihre Briefe: dieser Haufen Worte, 
diese umständliche, weitschweifige, verschrobene, Worte zu Ende des 
Satzes wiederholende Ausdrucksweise, aus der man nur mit Mühe heraus¬ 
bringt, was sie eigentlich sagen will: das ist typisch epileptisch. 

Gedächtnis und Merkfähigkeit der Pat. für andere Dinge als Zahlen 
bleiben unter dem Durchschnitt. Es kostet ihr ziemliche Anstrengung, 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


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bis sie ein einfaches Gedicht auswendig kann. Auch entschwindet es 
ziemlich bald wieder ihrem Gedächtnis. 

Für die Schwerbeweglichkeit und mangelnde Lernfähigkeit ihres Geistes 
mag folgendes Beispiel dienen: Nachdem Patientin etwa fünf Monate nicht 
mehr gerechnet l\atte, gab ich ihr folgende Aufgabe: 4897 x 9320. Sie 
löste sie richtig: 45 640 040, diktierte aber wieder trotz aller früheren Be¬ 
lehrung: 45 Millionen 6 Hundert mit 40 Tausend, darauf die 40. 

Zusammenfassung. — Vergegenwärtigen wir uns noch ein¬ 
mal die Rechenkunst unserer Patientin, so finden wir folgendes: Sie 
vervielfältigt: 

eine 2stellige Zahl mit einer 2stelligen in \ —1^ Minuten, 


n 

o 

77 

7? 

71 

77 

& 

71 

11 

—*2* 

77 1 

r> 

3 

r> 

77 

77 

11 

3 

17 

11 

18 

„ (dann in 10), 

7? 

4 

71 

71 

77 

17 

4 

71 

71 

35 

11 1 

71 

7 

77 

77 

71 

71 

2 

71 

77 

45 

71 1 


Sie teilt eine östellige Zahl durch eine 3stellige in 5£ Minuten, 
eine 7stellige Zahl durch eine 3stellige in 17 Minuten. Sie zählt 6 
3stellige Zahlen in 16 Minuten zusammen. Sie zieht eine 8stellige 
Zahl von einer 8stelligen in 11 (18) Minuten ab. 

Vergleichen wir mit der Rechenkunst unserer Kranken den Fall 
Wizels, so zeigt sich, daß die Leistungsfähigkeit seiner Kranken weit 
hinter der der unsrigen zurückbleibt. Wohl vervielfältigt sie 
2stellige Zahlen, besonders wenn sie gleichnamig sind, rascher als 
unsere Kranke (in 3—12 Sekunden), mitunter so rasch, daß Wizel 
selbst glaubt, sie habe das Ergebnis schon fertig im Kopfe. Sie kann 
auch noch eine 3stellige Zahl mit einer einstelligen vervielfältigen. 
Damit aber ist ihre Fähigkeit zu Ende. Teilen geht schlecht, Zusammen¬ 
zählen und Abziehen kann sie überhaupt nicht. Demgemäß ist ihr 
Rechentalent gegenüber dem unserer Kranken recht beschränkt. 
Damit wollen wir aber ihre Fähigkeit nicht gering einschätzen, beson¬ 
ders da es sich um eine verblödete Kranke handelt*, aus deren geistigen 
Trümmern ein immerhin bedeutendes Rechentalent hervorragt. Der 
Fall gehört übrigens nicht, wie Wizel meint, zur Imbezillität, sondern 
zum sogenannten sekundären Blödsinn. Die Kranke entwickelte sich 
bis zum 7. Jahre normal, erst an einen Typhus schloß sich die Ver¬ 
blödung an. Ihr Rechentalent muß natürlich angeboren gewesen sein, 
und ich nehme an, daß sie sich zu einer großen Rechenkünstlerin 


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Ganter, 


entwickelt haben würde, wenn nicht die Krankheit alles bis auf einen 
allerdings noch recht bedeutenden Best zerstört hätte. 

In der Literatur sind noch verschiedene Fälle auffälliger Gedächtne- 
leistungen bei Schwachsinnigen veröffentlicht worden, so von Berkhan *). 
van der Kolk und Jansens *). Der Imbezille von Berkhan vervielfältigte 
bis zu 4stelligen Zahlen. Doch scheint er lange nicht das geleistet zu 
haben wie unsere Kranke. Die Gedächtnisleistungen der meisten der von 
den Autoren angeführten oder geschilderten Schwachsinnigen liegen auf 
einem andern, wenn auch benachbarten Gebiet: ungewöhnliches Gedächt¬ 
nis für Kalenderdaten und Namen oder fremdsprachliche Worte. Allen 
diesen Gedächtniskünstlern eigentümlich aber ist, wodurch sie eben be¬ 
sonders auffallen, der Gegensatz der einseitig entwickelten Fähigkeit und 
der mangelhaft oder gar nicht entwickelten Geisteskräfte auf andern Ge¬ 
bieten. Auch unsere Kranke muß ja auf Grund der Intelligenzprüfung 
als schwachsinnig bezeichnet werden, wenn sie auch da, soweit eine Beur¬ 
teilung nach den Angaben der mir vorliegenden Literatur möglich ist, 
immerhin noch höher steht als ihre Kollegen. Daß man aber nicht gerade 
schwachsinnig sein muß, um ein auffallendes Gedächtnis zu besitzen, zeigt 
mir der Fall eines von Hansjakob erwähnten Pfarrers*). 

Wir haben oben schon bemerkt, daß es sich bei der Rechenkunst 
und dem Gedächtnis für Kalenderdaten, Namen und dergleichen um 
benachbarte Gebiete, also nicht um ein einheitliches Gebiet handelt. 
In der Tat gibt es Fälle von Schwachsinnigen mit einem hervorragen¬ 
den Gedächtnis für Kalenderdaten, die auf dem Gebiete des Rechnens 
gar nichts leisten, z. B. der Fall van der Kolks , der nicht einmal 2x3 
ausrechnen konnte. Unsere Kranke dagegen hat weder Interesse 
noch Verständnis für Kalenderdaten gezeigt. 

Wenn wir uns umsehen wollen, mit wem sich die Rechenkunst 
unserer Kranken vergleichen läßt, so müssen wir schon über die rein 


*) Berkhan , Uber talentierte Schwachsinnige. Ztschr. für die Erfor¬ 
schung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns 1912, Bd. 5. 

*) Van der Kolk und Jansens, Außergewöhnliche Hypermnesie für 
Kalenderdaten bei einem niedrigstehenden Imbezillen. Allg. Ztschr. f. 
Psych. 1905, Bd. 62 S. 347. 

*) Hansjakob, Verlassene Wege. Stuttgart 1902. H. erzählt (S. 276): 
Der Pfarrer Strahl ist ein merkwürdiger Zahlenkünstler. Er kann von 
jedem Kalenderdatum sagen, auf welchen Wochentag dasselbe fiel, auch 
in vergangenen Jahrhunderten, und zwar sofort oder nach kürzestem Be¬ 
sinnen. Er sagte mir auch, daß seine Kunst weniger auf Berechnung als 
auf innerer Anschauung beruhe, d. h. er sehe den Kalender des betreffen¬ 
den Jahres gleichsam vor seinem geistigen Auge aufgeschlagen. 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


551 


psychiatrischen Fälle hinausgehen. Es ist kein Zweifel, daß sie den 
großen Rechenkünstlern überhaupt zuzuzählen ist, also einem Dase, 
Inaudi, Diamandi, die im vorigen Jahrhundert lebten. Der Piemontese 
Inaudi und der Grieche Diamandi haben ihren Schilderer in Bine t 
gefunden 1 ). Da ich das Buch Binela nicht kenne, sondern nur aus 
zweiter Quelle schöpfe, so kann ich auch nicht angeben, welches die 
Höchstleistungen dieser Rechenkünstler waren. Ich habe nur gelesen, 
daß Inaudi am Ende seiner Rechnungen 300 Ziffern, die von verschiede¬ 
nen Aufgaben stammten, wiederholen konnte, daß Dase 2 Zahlen, 
jede von 20 Ziffern, in 6 Minuten, von 40 Ziffern in 40 Minuten, von 
100 Ziffern in 8 3 / 4 Stunden miteinander vervielfältigte 2 ). Soweit 
hat es allerdings unsere Kranke nicht gebracht. Wenn ich sie trotzdem 
zu den ersten Rechenkünstlern rechne, so geschieht das aus folgenden 
Gründen; Die großen Rechenkünstler üben sich ständig, sie gehen 
ganz in ihren Zahlen auf, sie haben für nichts anderes Interesse. Durch 
diese stete Übung sammeln sie ein fertiges Zahlenmaterial in ihrem 
Kopfe an und kommen auf allerlei Kunstgriffe, die ihnen das Arbeiten 
mit großen Zahlen außerordentlich erleichtern. Und unsere Kranke ? 
Sie hat sich, abgesehen von der auf etwa 6 Monate sich erstreckenden 
Prüfung, nie mit Zahlen beschäftigt. Selbst in der Schule war nie 
eine besondere Vorliebe für Zahlen an ihr aufgefallen, abgesehen 
davon, daß sie eben besser im Kopf rechnen konnte als die andern. 
Und so war es die ganze Reihe von Jahren, seit ich die Patientin kenne, 
bis ich sie durch einen Zufall entdeckte. Und jetzt, nachdem die Rechen¬ 
prüfung vorüber und ich mich nicht mehr mit ihr beschäftige, ist sie 
wiederum die alte, die strickt, gelegentlich sich zankt, ihre Anfälle 
bekommt und mitunter einmal den Wunsch äußert, einen Brief zu 
schreiben. Wie groß muß demnach ihr Zahlengedächtnis sein, wenn 
sie, durch die Prüfung plötzlich aus ihrem täglichen Einerlei aufge¬ 
rüttelt, mit derartigen Zahlenreihen arbeiten kann, wie sie solche in der 
Schule kaum auf der Tafel hat rechnen müssen. Dabei bedient sie 
sich keinerlei Kunstgriffe; sie rechnet einfach schlechtweg wie auf der 
Tafel. Nach alledem glauben wir nicht zu viel gesagt zu haben, wenn 


Binet, Psychologie des grands calculateurs et joueurs d’6checs. 
Paris 1894. 

*) Ahrens, Rechenkünstler. Die Naturwissenschaften. 1914, 2. Jg, 


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552 


Ganter, 


wir unsere Kranke in eine Linie mit den großen Rechenkünstlern 
stellen. 

Wir haben erwähnt, daß unsere Patientin nie eine besondere 
Vorliebe für Zahlen an den Tag gelegt hat. Das will aber nicht heißen, 
daß sie über das Rechnen keine Freude empfunden hätte. Wie die 
Ausübung jedes Talentes Vergnügen bereitet, so ging auch unsere 
Patientin bereitwillig an ihre Aufgabe heran und strahlte vor Ver¬ 
gnügen, wenn sie sie richtig gelöst hatte, und ebenso freudig teilte sie 
es ihrer Umgebung mit. Anders dagegen war ihr Verhalten, wenn ich 
mit der Intelligenzprüfung kam. Da wurde ihr Gesicht immer länger, 
mißmutiger, verdrießlicher, und schließlich schützte sie Kopfweh vor, 
um der ihr unangenehmen Sache zu entgehen. 

Noch ein wichtiger Umstand — und dieser stempelt unseren Fall 
zu einem bis jetzt einzig in r der Literatur dastehenden — darf bei der 
Beurteilung unserer Kranken nicht außer acht gelassen werden; sie 
leidet seit früher Jugend an typischen, etwa alle 3 Wochen mehrmals 
hintereinander auftretenden epileptischen Anfällen. Wir wissen, wie 
sehr epileptische Anfälle gerade die Gedächtniskraft zu schädigen 
pflegen, dem Zahlengedächtnis unserer Kranken aber haben sie nichts 
anhaben können. Dies ist ein Beweis dafür, wie tief die Anlage für 
das Zahlengedächtnis im Gehirn unserer Kranken verankert «ein muß. 
Des weiteren dürfte wohl dieser Umstand dafür sprechen, daß das 
Zahlengedächtnis an eine bestimmte Stelle im Gehirn gebunden ist. 

In Hinsicht auf die Epilepsie steht, wie gesagt, unsere Kranke 
einzig da, den Schwachsinn (vollständiger Mangel der Fähigkeit zum 
Urteilen und Schließen) teilt sie mit andern Rechenkünstlern. In 
welcher Beziehung steht nun hier die Epilepsie zum Schwachsinn? 
Am wahrscheinlichsten ist mir, daß beide auf eine gemeinsame Grund¬ 
ursache zurückzuführen sind. Die degenerative Anlage spielt wohl 
die Hauptrolle. Patientin ist durch die Trunksucht des Vaters und 
durch die Zufälle von dessen Schwester erblich belastet, weist eine 
Reihe Degenerationszeichen auf, ist in der ganzen Entwicklung zurück¬ 
geblieben. Ob sonst eine Schädigung des Gehirns stattgefunden haben 
mag ? Patientin ist linkshändig, die Sehnenreflexe links sind dauernd 
gesteigert. 

Einen derartig degenerativen Boden scheint Krafft-Ebing für das 
Rechentalent der Schwachsinnigen geradezu vorauszusetzen. Das 


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Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 


553 


geht wohl zu weit, aber einverstanden kann man sich mit ihm er¬ 
klären, wenn er in dem Zahlengedächtnis etwas Instinktives sieht, 
was übrigens von jedem Talent gilt. Für das Instinktive sprechen 
auch die von Binet erwähnten Fälle, wo diese Fähigkeit in einem ver¬ 
blüffend frühen Alter sich äußerte. Mit derselben Gewandtheit, mit 
der das eben dem Ei entschlüpfte Hühnchen sofort Körner aufpickt, 
vermag der Rechenkünstler mit den ihm gebotenen Zahlen zu arbeiten. 
Die Übung braucht dabei, wie in unserem Falle, nur eine geringe Rolle 
zu spielen, wo sie aber stattfindet, befähigt sie den Rechenkünstler zu 
fabelhaften Leistungen. Wenn Binet meint, die Rechenkünstler ver¬ 
lieren ihre Fähigkeit, wenn sie nicht ständig üben, so widerspricht dem 
unser Fall. Auch Inaudi hat nur in gewissem Sinne recht, wenn er 
von sich selbst sagt, er verliere viel von seiner Rechenfähigkeit, wenn 
er einen Monat in Büchern studiere. Er verliert wohl die auf den 
Kunstgriffen beruhende Schnelligkeit des Rechnens, nicht aber das 
Rechentalent selbst. Das gilt ja überhaupt von jedem angebore¬ 
nen Talent. 

Binet und Charcot haben untersucht, in welcher Weise die Zahlen 
bei den Rechenkünstlern haften. Jnaudi eignete sich die Zahlen am 
besten durchs Gehör an, Diamandi durch den Gesichtssinn. Berkhans 
Fall rechnete kleinere Zahlen nach dem Gehör, größere nach Gesichts¬ 
eindrücken. Was unsere Patientin betrifft, so habe ich ihr die Auf¬ 
gaben immer nur vorgesagt, die sie dann nachsprach, bis sie sie richtig 
wiedergab. Jetzt saß sie da, den Kopf leicht zur Seite gewandt, in 
die Ferne blickend und flüsternd. Erklärte sie mir dann zuletzt ihre 
Rechnungsweise, so machte sie bisweilen eine ausfahrende Bewegung 
mit dem linken Arm, als ziehe sie einen Strich unter die Zahlen, die sie 
zusammenzählte oder abzog. Dies ganze Verhalten spricht dafür, 
daß Patientin mit dem Gehörs- und dem Gesichtssinn, mit dem 
motorischen Apparat der Sprachwerkzeuge und des Armes (Schreib¬ 
bewegungen) arbeitete, also mit allen den Sinnesorganen, den Wegen, 
auf denen beim Lernen die Eindrücke dem Gehirn übermittelt 
werden. Sie rechnet ja auch ganz wie auf der Tafel. 

Noch ein Wort über die ästhetische und nützliche Seite dieser 
Rechenkunst. Vergnügen an seiner Kunst hat wohl nur der Rechen¬ 
künstler selbst, der Zuhörer nur so lange, als die erste Verblüffung 
dauert. Ich für meinen Teil könnte wenigstens nicht behaupten, daß 


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554 Ganter, Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 

ich den umständlichen Auseinandersetzungen unserer Patientin mit 
besonderem ästhetischen Vergnügen gefolgt wäre. Die Rechenkunst 
ist eben ganz im Gegensatz zur musikalischen, zeichnerischen, male¬ 
rischen Kunst eine stiefmütterliche, trockene Kunst. Und bringt sie 
etwa Nutzen ? Ist sie dem Besitzer irgendwie förderlich ? Abgesehen 
davon, daß die öffentlich auf tretenden Rechenkünstler sich durch 
ihre Kunst eine gewisse Einnahmequelle verschaffen, wüßte ich nicht, 
wie. Und auch die großen Mathematiker, die wie Gauß, Euler u. a. 
zugleich große Rechenkünstler waren, haben von dieser Kunst keine 
wesentliche Förderung erfahren. Man rechnet eben trotz alledem 
ebenso schnell und dabei viel sicherer auf dem Papier. 

Und unsere Patientin ? Die Kunst geht nun einmal nach Brot. 
Umsonst wollte sie ihr Licht auch nicht leuchten lassen, aber sie ver¬ 
langte recht bescheiden nur Süßigkeiten, das erste und wohl auch 
das letzte Honorar, das sie für ihre Kunst bekommen hat. 

Mag der ästhetische Genuß, der materielle Nutzen wegfallen, 
eines bleibt: das Interesse der Wissenschaft. Wie jede Naturerschei¬ 
nung ist auch das außerordentliche Zahlengedächtnis, die Rechen¬ 
kunst, um ihrer selbst willen Gegenstand der Wissenschaft und der 
eingehendsten Untersuchung wert. 


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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse 
mit besonderer Berücksichtigung der Augen¬ 
symptome 1 ). 

Von F. Hassels. 

Den ersten Fall juveniler Paralyse beschrieb 1877 Clousion. 
Drei Jahre später veröffentlichte Mendel einen ebensolchen Fall, 
den er allerdings weiterer Bestätigung für bedürftig erklärte. 1892 
machte Gudden eine Zusammenstellung von 20 Fällen, die meist der 
englischen und französischen Literatur entnommen waren. Hierauf 
erfolgte im Jahre 1896 die epochemachende Arbeit Alzheimers , in 
der 38 Fälle zusammengestellt waren unter Hinzufügung dreier eige¬ 
ner Beobachtungen. Weitere kasuistische Beiträge und Zusammen¬ 
stellungen folgten, so daß 1912 die Zahl der bis dahin veröffentlichten 
Fälle schon 270 überstieg. 

Diese ständige Zunahme ist nicht etwa durch ein gesteigertes 
Vorkommen von juveniler Paralyse, sondern durch die bahnbrechen¬ 
den Arbeiten von Nissl und Alzheimer bedingt, die auf histologischem 
Gebiete eine schärfere Diagnostik ermöglichten. Hinzu kam ferner 
die Entdeckung von der Vermehrung des Zell- und Eiweißgehaltes 
im Liquor, sowie die Wassermannsche Reaktion, deren Bedeutung 
für die Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit noch durch das 
Auswertungsverfahren Hauptmanns an Wert gewann. 

Als Ursache der juvenilen Paralyse wird wohl jetzt allgemein die 
Lues angesehen, und zwar meist die Lues hereditaria. Es wird dabei 
unter juveniler Paralyse einzig und allein die Paralyse des Jugend¬ 
alters verstanden, d. h. des ersten und zweiten Dezenniums. 

Es ist die Forderung aufgestellt worden, nur die Paralyse, deren 


*) Aus der psychiatrischen Klinik der Universität zu Frankfurt a. M. 
Direktor: Geh.-Rat Prof. Dr. Sioli. 


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556 


Hussels, 


Ätiologie die Lues hereditaria ist, als juvenile zu bezeichnen, alle andern 
Formen der der Erwachsenen gleichzustellen. Eine Infektion nach der 
Geburt etwa durch die Amme oder, wie Hoffmann Fälle beschreibt, durch 
Kontaktinfektion mit kranken Kindern, würde also eine Paralyse in letzte¬ 
rem Sinne, d. h. der Paralyse der Erwachsenen gleichzustellende ergeben, 
wenn sie auch im juvenilen Alter zum Ausbruch kommt. Die Unter¬ 
scheidung nach dem Zeitpunkt der Infektion (intrauterin oder nach der 
Geburt erworben) stößt praktisch auf große Schwierigkeiten, und es 
empfiehlt sich daher, alle in den beiden ersten Dezennien beginnenden 
Paralysen als juvenil zu bezeichnen. Auch sind Fälle von Paralysen im 
4.—5. Dezennium beschrieben, denen angeblich eine Lues hereditaria zu¬ 
grunde liegen sollte. So berichtet v. Höslin über eine 52jährige Virgo 
intacta mit unverletztem Hymen, die mit tabischen Symptomen er¬ 
krankte und positiven Wassermann im Blut aufwies. Der Vater war mit 
36 Jahren an Paralyse gestorben, und die Mutter der Patientin hatte vor 
dieser Geburt 3 Aborte gehabt; ein späteres Kind starb mit 7 Jahren an 
Krämpfen. Es bleibt dabei immer noch die Möglichkeit eines latent 
gebliebenen bzw. nicht erkannten Primäraffektes übrig, der im späteren 
Leben erworben ist, und man kann in derartigen Fällen niemals mit Sicher¬ 
heit behaupten, daß die hereditäre Lues die in späteren Jahren auftretende 
Paralyse verursacht hat. Einmal müßte festgestellt werden, daß tat¬ 
sächlich eine hereditäre Lues bestanden hat, dann aber auch eine In¬ 
fektion im späteren Alter (man muß auch an nicht erkannte, besonders 
extragenitale Infektionen denken) unbedingt ausgeschlossen werden; ja, 
man muß mit der Möglichkeit rechnen, daß eine kongenitale Lues zur 
Ausheilung gelangt ist und bei demselben Individuum eine Reinfektion 
eingetreten ist, die dann zur Paralyse geführt hat. Die Entscheidung ist 
namentlich für alle Fälle schwierig, die an der Altersgrenze der juvenilen 
Paralyse liegen, die ihr Maximum nach Alzheimers Statistik im 15.—16. 
Lebensjahre hat. Da die Inkubationszeit beim Erwachsenen 10—15 Jahre 
vom Primäraffekt an gerechnet bis zum Ausbruch der Paralyse dauert, 
so hätten wir das Maximum im 35.—45. Jahre zu erwarten. Das 15.—35. 
Lebensjahr müßte dann beinahe frei sein. Eine Paralyse während dieses 
Alters könnte dann auf einer Lues hereditaria beruhen, die relativ spät 
zur Paralyse geführt hat. Weiter ist dabei die Tatsache zu berücksichtigen, 
daß die Paralyse nicht in jedem Falle 10—15 Jahre nach der Infektion 
beginnt, sondern auch schon früher einsetzen kann. So wäre der Fall 
denkbar, daß eine Infektion mit 12 Jahren erfolgt, die bereits mit 17 Jahren 
zur Paralyse führt; indes wäre dies ein Ausnahmefall, da so kurze Zwischen¬ 
räume zwischen Infektion und Ausbruch der Paralyse nur sehr selten Vor¬ 
kommen. Indes beschreibt Marchand einen Fall, wo 2 Jahre nach dem 
Primäraffekt eine Paralyse, Nonne einen Fall, wo schon 1V» Jahre post 
infectionem die ersten tabischen Symptome, ferner einen andern Fall, 
wo durch Verletzung mit einer Nadel unter Überspringen der Initialsklerose 


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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 


557 


nach 2 Monaten Roseolen und Schleimhautpapeln auftraten, denen nach 
3 Jahren die ersten Tabessymptome folgten. 

Wenn wir auch eine Reihe Merkmale bei der juvenilen Paralyse 
haben, die der der Erwachsenen nicht oder nur in beschränkter An¬ 
zahl oder in geringerer Stärke zukommen, und auf die später noch 
näher eingegangen werden soll, so sind wir vorläufig doch noch nicht 
imstande, aus dem klinischen Bilde zu unterscheiden, ob die Para¬ 
lyse auf hereditärer oder etwas später erworbener Syphilis beruht. 
Natürlich wird der Einfluß der Lues auf den Organismus ein ver¬ 
schiedener sein, je nachdem die Infektion während des fötalen Le¬ 
bens in den ersten Lebensjahren oder erst später erfolgt ist. Während 
in einem Falle die Lues auf einen noch in der Entwickelung begriffe¬ 
nen und leichter zu beeinflussenden Körper einwirkt, findet sie im 
Alter den fertig entwickelten Organismus vor. Nun führt nicht jede 
Lues hereditaria zur Paralyse, ebenso wie die Paralyse nicht jedem 
Primäraffekt der Erwachsenen folgt. Mattauschek und Pücz , 
die das Schicksal von 4134 an Syphilis erkrankten österreichischen 
Offizieren verfolgten, stellten an Hand der Akten fest, daß bis 1. Ja¬ 
nuar 1912 113 an Tabes, 132 an Lues cerebrospinalis und 198 an 
Paralyse erkrankt waren, d. h. ungefähr 9,3 % an Paralyse und Tabes 
und ungefähr 3,3 % an Lues cerebrospinalis. Einzelne Momente, die 
man beim Erwachsenen als Hilfsursachen herangezogen hat, fallen 
bei der juvenilen Paralyse von selbst weg, so Alkoholismus, sexuelle 
Exzesse, geistige und körperliche Überanstrengungen. Das Trauma 
spielt auch hier eine ganz untergeordnete Rolle und kommt höchstens 
als auslösendes Moment in Frage, wenn es nicht gar sekundär durch 
die bis dahin der Umgebung nicht aufgefallene Unsicherheit bedingt 
ist oder gar der erste paralytische Anfall war. Es bleiben die Heredität 
und die Disposition übrig, und man kann bei dieser Frage all das 
Für und Wider anführen, wie es bei der Paralyse der Erwachsenen 
geschehen ist. 

Während Fournier sagt, daß neuropathische Belastung gar keine 
Rolle spielt — er selbst fand in 112 Fällen nur 2mal nervöse Belastung, 
trotzdem er ausdrücklich danach gesucht hatte —, sind ändere Autoren 
der Ansicht, daß hereditäre Belastung und Disposition des Nervensystems 
für die Entstehung der Paralyse bei Syphilitikern ausschlaggebend sei. 
Auch bei der juvenilen Paralyse können wir zur Frage der Disposition 
eine Kombination verschiedener ätiologischer Momente: psychopathische 
Zeitschrift für Psjohlstrie. LXXIII. 6. 39 


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558 


Hassels. 


Belastung, Polatorium der Eltern, schlechte soziale Verhältnisse — an- 
nehrnen, ohne jedoch damit etwas zu erklären. Besonders daß man 
nicht selten dieselbe Erkrankung bei Eltern und Kindern antrifTt, hat 
man als Beweis der hereditären Anlage angeführt. Diese Tatsache könnte 
man auf zweierlei Weise erklären, einmal durch Vererbung der Disposition, 
zweitens durch die Existenz eines besonderen Luesstammes (Lues ner¬ 
vosa;, der häutiger zur Paralyse bzw. Tabes führt, über einen derartigen 
Pall wird weiter unten berichtet werden. 

Der Gedanke, die Paralyse als metasyphilitische Erkrankung de- 
Gehirns aufzufassen, etwa ähnlich der postdiphtherischen Lähmung, allein 
bedingt durch Toxine, die das Nervensystem elektiv schädigen, ist hin¬ 
fällig geworden, seitdem Noguchi als erster Treponemen im Paralytiker¬ 
gehirn nachwies. Förster und Toniacewsky gelang es danach, im Hirn- 
punktat lebender Paralytiker in 44% Treponemen nachzuweisen. Ferner 
konnte A. Marie und Levadili aus dem Blut eines Paralytikers einen 
Treponemenstamm auf Kaninchenhoden züchten; auch Marinesco be¬ 
richtet über Erzeugung einer Skrotum-Initialsklerose am Kaninchenhoden 
infolge von Injektionen von Liquor cerebrospinalis eines Kranken mit 
juveniler Paralyse nach Lues hereditaria, der positiven Wassermann 
im Blut und Liquor aufwies; auch das nach Neißer und Pollak gewonnene 
Hirnpunktat zeigte bewegliche Treponemen. Levaditi fand ferner, daß 
das Virus des von ihm gezüchteten Stammes von dem Truffischen Virus 
sich durch die längere Inkubationszeit, durch die geringere Heilungstendenz 
des Primäraffektes und die Nichtpathogenität für Allen unterschied; beson¬ 
ders wichtig ist, daß ein mit Virus Truffl genesenes Tier mit diesem Paralyse¬ 
stamm reinfiziert werden konnte, während es sonst immun blieb. Wenn aus 
diesen Versuchen Levaditis fast mit Notwendigkeit das Postulat eines besonde¬ 
ren Stammes von Treponemen hervorgeht, so war diese Annahme auch durch 
klinische Tatsachen anscheinendgestützt. 1903 machte Brosius die „aufsehen¬ 
erregende“ Mitteilung, daß von 7 im März 1891 vermittelst einer Glas¬ 
pfeife angesteckten Männern 4 an Tabes bzw. Paralyse erkrankt waren, 
einer freigeblieben war, während die andern sich der Beobachtung entzogen. 
Der Versuch, bei mehreren Paralysen den gleichen Ausgangspunkt zurück¬ 
konstruieren zu wollen, stößt natürlich auf ungeheure Schwierigkeiten 
und ist bei positivem Ausfall immer nur bedingt zu verwerten; auch Nonne 
konnte 3 Freunde beobachten, die bei derselben Puella kodiert hatten, 
und wovon der eine später tabisch, die beiden andern paralytisch wurden. 
Erb und Mörchen beschrieben ähnliche Fälle, woraus hervorzugehen scheint, 
daß einige bestimmte Giftquellen besonders deletür für das Nervensystem 
sind. Andrerseits beobachtete aber Nonne verschiedene Familienmitglieder, 
die sich an verschiedenen Quellen syphilitisch infizierten und trotzdem alle 
organisch nervenkrank wurden, eine Tatsache, die wieder für Disposition 
und Heredität spräche. Wichtig erscheint auch die von verschiedenen Be¬ 
obachtern gemachte Angabe eines leichteren Verlaufs der Syphilis, wenn sie 


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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 559 

später zur Paralyse führt, wie denn auch umgekehrt die Lues maligna mit 
schweren tertiären Haut- und Knochenerkrankungen einen Schutz gegen 
spätere Tabes und Paralyse gewährt. Daher finden wir auch beim Para¬ 
lytiker so selten Residuen einer stattgehabten Lues. Besonders tritt dieser 
leichtere Verlauf bei der konjugalen Paralyse in Erscheinung. Hauptmann 
fand einen positiven Wassermann bei Leuten, deren Ehehälften an organischer 
Syphilis erkrankt waren, häufig, ohne daß Infektion bekannt war, auch 
ohne daß je verdächtige Symptome bestanden hatten. In fast 100 % 
verlief die Syphilis bei der infizierten Ehehälfte latent, wenn der infizierende 
Teil an Syphilis cerebrospinalis erkrankt war, während, wenn der infizie¬ 
rende Teil organisch gesund war, in über 50 % auch eine Infektion bekannt 
war und Haut- und Schleimhauteffloreszenzen auftraten. Auch Nonne 
kommt zu dem Ergebnis, daß die sekundäre Infektion meist latent er¬ 
folgte, wenn der primär erkrankte Gatte syphilogen nervenkrank war. 
Hatte der primär infizierte Gatte kein Nervenleiden, so verlief sie sehr 
häufig mit manifesten Erscheinungen. Hauptmann glaubt, daß die Passage 
durch das Zentralnervensystem die Treponemen derart artverschieden, 
d. h. abgeschwächt, gemacht habe, daß sie nicht mehr imstande sind, bei 
dem infizierten Teile primäre und sekundäre Schleimhauteffloreszenzen 
hervorzurufen. Gegen eine solche Erklärung lassen sich jedoch Bedenken 
erheben. Namentlich schwebt die Annahme vollkommen in der Luft, 
daß die Treponemen, die bei dem andern Teile zur Infektion führen, bereits 
eine Passage durch das Nervensystem durchgemacht haben. Es ist doch 
viel naheliegender, daß die zur Paralyse führenden Stämme von Haus aus, 
was primäre und sekundäre Effloreszenzen anbetrifft, schwächer sind, daß 
sie aber sehr wohl imstande sind, die schwere Erkrankung des physiologisch 
weniger widerstandfähigen Nervensystems hervorzurufen. 

Obzwar die juvenile Paralyse eine keineswegs seltene 
Erkrankung ist, so lehrt doch die Erfahrung, daß die Kenntnis der¬ 
selben immer noch nicht Allgemeingut der Ärzte geworden ist. Ju¬ 
venile Paralysen werden sehr häufig mit der Idiotie verwechselt, und 
selbst dann, wenn die syphilitische Grundlage des Leidens erkannt 
ist, wird die Krankheit als Schwachsinn bei Lues oder als Lues cere- 
bri diagnostiziert. Dies rührt zum Teil sicher daher, daß die bekannten 
Symptome bei der Paralyse der Erwachsenen — Neigung zu Größen¬ 
ideen usw. — bei der Eigenart des kindlichen Seelenlebens nicht 
oder nur andeutungsweise beobachtet werden und die Paralyse der 
Kinder meist unter dem farblosen Bilde der einfach fortschreitenden 
Demenz verläuft. Die^ Forderung, bei jedem plötzlichen Zurück¬ 
bleiben der Kinder in der Schule eine genaue Untersuchung auf Para¬ 
lyse vorzunehmen, ist deshalb sehr berechtigt. Trotz diesem auf 

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Hussels, 


den ersten Blick ganz anderen Verlauf der juvenilen Paralyse bestehen 
weder klinisch noch anatomisch durchgreifende Unterschiede; nur 
einzelne Abweichungen im oben angeführten Verlauf und zahlen¬ 
mäßiges Überwiegen des einen oder anderen Symptoms berechtigen, 
die juvenile Form von dem ungeheuer vielseitigen Bilde der Para¬ 
lyse der Erwachsenen zu trennen. Neben dieser einfach progressiven 
Verlaufsform treffen wir selten Bemissionen an, auch sehen wir kaum 
Neigungen zu manischen, depressiven oder katatonischen Zuständen. 
Größenideen hat man lange Zeit überhaupt bestritten; zweifellos 
kommen sie aber vor, nur tragen sie, wie oben schon angedeutet 
wurde, ein der Entwicklung der kindlichen Psyche entsprechendes 
Gepräge. Zeitlich dauert die Erkrankung etwa doppelt so lange wie 
beim Erwachsenen. Während infolge der größeren Möglichkeit des 
Mannes, sich luisch zu infizieren, auch die Paralyse beim männlichen 
Erwachsenen zwei- bis fünfmal die der Frau übersteigt, so finden 
wir bei der juvenilen Paralyse beide Geschlechter annähernd gleich 
beteiligt. Was die Anfälle anbetrifft, so überwiegen sie bei der juve¬ 
nilen Paralyse an Zahl, hinterlassen aber keine Lähmungserscheinun¬ 
gen ; hingegen sind die Spasmen und Kontrakturen beim erwachsenen 
Paralytiker selten von der Häufigkeit und Stärke wie bei der juvenilen 
Paralyse. Ein Hauptunterschied ist jedoch durch das Einsetzen der 
Krankheit in der Pubertät bedingt, wodurch es zum Stillstand der 
körperlichen und geistigen Entwicklung kommt, woraus denn auch 
der infantile Habitus und der Mangel der sekundären Geschlechts¬ 
charaktere resultiert. Auch Entwicklungsstörungen, die wir nicht 
ganz so selten finden, können wir auf das frühe Einsetzen der Lues 
zurückführen. So beobachtete Stöcker in einem Falle einen völligen 
Balkenmangel; andere Autoren berichten über Anomalien des Zen¬ 
tralkanals. Vielleicht sind auch die doppelkemigen Purkinjeschen 
Zellen als Zeichen einer angeborenen Minderwertigkeit und Anlage 
zu psychischen Erkrankungen aufzutassen. Da sie aber auch beim 
erwachsenen Paralytiker und Nichtparalytiker gefunden werden, 
sind sie nicht, wie man früher annahm, für die juvenile Paralyse 
charakteristisch. Doch findet man sie im Gehirn von juveniler Para¬ 
lyse fast stets und in großer Zahl. Stein fand zweikernige Ganglien¬ 
zellen bei 84 % von erwachsenen Paralytikern (19 Fälle), bei 100 % 
von juvenilen Paralytikern (6 Fälle), bei 63 % Dementia praecox 


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J 



Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 


561 


(8 Fälle), bei 100% Hirntumor (3 Fälle) und bei 67 % Idiotie 
(3 Fälle). 

Ursprünglich hat Sträußler , dem wir die Entdeckung der zweikerni¬ 
gen Ganglienzellen bei der juvenilen Paralyse verdanken, die Vermutung 
ausgesprochen, daß auf diesen Befund hin es möglich sein könnte, die auf 
hereditärer Lues beruhende Paralyse von der durch erworbene Lues be¬ 
dingten Paralyse zu unterscheiden. In gleichem Sinne hat sich Lafora 
geäußert. Daß die zweikernigen Ganglienzellen nicht in direktem Zu¬ 
sammenhang mit fötaler Lues stehen, hat Ranke bewiesen, der zweikernige 
Ganglienzellen bei luischen Kindern und Föten stets vermißt hat. Na¬ 
mentlich aber ein weiterer Befund Alzheimers , der bei einem paralytischen 
Arzt, über dessen im dritten Dezennium erworbene Syphilis die genauesten 
Angaben von den behandelnden Ärzten zu erhalten waren, und in dessen 
Hirn reichlich doppelkernige Purkinjesche Ganglienzellen vorhanden 
waren, beweist deutlich, daß diese Zellen auch bei Paralyse nach erworbe¬ 
ner Lues Vorkommen können. Mit Recht sagt deshalb Alzheimer, daß 
mit diesem Befunde die Lehre Sträußlers von der Spätparalyse ihre sicherste 
Stütze verliert. 

Die systematischen Untersuchungen Steins ergaben, daß die 
doppelkemigen Ganglienzellen bei Normalen zu fehlen scheinen, 
dagegen bei Psychosen häufig sind. Stein schließt sich auf Grund 
des Befundes von doppelkernigen Ganglienzellen bei Hirntumoren, 
die ihrerseits auf einer zur Entwicklung gekommenen Anomalie der 
Anlage von Zellen entstanden sind, ferner, daß er abnorm gelagerte 
Purkinje-Zellen beobachtete, die relativ häufiger Doppelkernigkeit 
zeigten, der Ansicht Rankes an, wonach die doppelkernigen Zellen 
angeboren sind und als Ausdruck einer abnormen Anlage aufzufassen 
sind. 

Im übrigen aber ist der anatomische Befund der typisch para¬ 
lytische, nur daß, worauf Alzheimer zuerst hinwies, die stärksten 
Veränderungen sich an den Stammganglien im Gegensatz zum Be¬ 
funde bei erwachsenen Paralytikern vorfinden. Ein weiterer Unter¬ 
schied liegt in der relativ häufigen Optikusatrophie und dem häufigen 
positiven Babinski bei der juvenilen Paralyse. 

Stöcker fand in 6 Fällen von 18 teils partielle, teils totale Optikus¬ 
atrophie, also in 33 % der Fälle, während Gudden sie bei Erwachsenen nur 
in 4,9%, Mendel in 12% beobachtete. Bei den beobachteten 18 Fällen 
fand Stöcker 12mal Anisokorie, also in 67%, während Weiler in seinem 
eigenen Material, worunter alle Formen der Paralyse gerechnet werden 
müssen, 42% konstatierte. Das Endergebnis der Untersuchungen Stöckers, 
mit dem Weilers verglichen, war nach seinen Angaben folgendes: 

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562 


Hassels, 



Weiler : 

Stöcker: 

Mydriasis. 

21 , 6 % 

79 °/ 

reflektorische Pupillenstarre 

57% 

17% 

totale Starre. 

34% 

67% 

keine Veränderungen. 

9% 

11 %. 


Ein ätiologischer Zusammenhang zwischen Mydriasis und Optikusatrophie 
war nicht vorhanden, denn in 6 Fällen von Stöcker war Mydriasis ohne 
Optikusveränderungen; ja, der einzig beobachtete Fall von Myosis hatte 
Augenhintergrundsveränderungen aufzuweisen. 

Stöcker hat in seinem Ergebnis darauf hingewiesen, daß also 
bei der juvenilen Paralyse Mydriasis und totale Starre überwiegt, 
während die reflektorische Starre beim Erwachsenen das Übergewicht 
hat. Ein ähnliches Überwiegen der absoluten Starre über die reflek¬ 
torische finden wir auch bei Hirnlues. 

Ich möchte nun dazu übergehen, die vier von mir beobachteten 
Fälle hier anzuführen: 

Artur R., geboren am 10. I. 1910. Anamnese der Mutter: Der Vater 
war vor etwa 9 Jahren in der Anstalt wegen epileptischer Anfälle, sonst 
sind keine Nervenkrankheiten in der Familie bekannt. Der Pat. ist das 
erste lebende Kind. Vorher hatte die Mutter eine Fehlgeburt. Außer ihm 
ist noch ein 5jähriger Bruder da, der bisher gesund ist. Der Vater hatte 
sich früher luisch infiziert, jedoch können keinerlei Anhaltpunkte über die 
Zeit gegeben werden. Die Geburt des Pat. verlief normal, jedoch trat im 
ersten Lebensjahr ein Ausschlag auf, der sich angeblich über den ganzen 
Körper erstreckte; hinzu trat eine Augenentzündung. Der Pat. wurde 
darauf mit Quecksilbereinreibungen behandelt. Erst im 3. Lebensjahre 
lernte er laufen, blieb auch sonst in allen Fähigkeiten sehr zurück und 
kam deshalb 1912 ins Siechenhaus. Der Pat. trug immer ein aufgeregtes 
Wesen zur Schau. Aufnahmebefund am 28. 3. 12 unter der Diagnose: 
Hydrocephalus chronicus: Schlechter Ernährungszustand, großer Kopf- I 
umfang, steile Stirn, Epiphysen-Verdickung von Radius und Ulna; rachiti- 1 
scher Rosenkranz und Säbelscheidenverkrümmung geringen Grades der i 
Tibia. Pat. kann nicht allein stehen, wohl selbständig von der liegenden 
in die sitzende Haltung übergehen. Der Leib ist trommelförmig aufge¬ 
trieben, der Leberrand überragt 2 Fingerbreit den rechten Rippenbogen 
in der Mamillarlinie. Patellarreflexe gut auslösbar. Achillessehnenreflex 
und Babinski o. B. Der Pat. sieht und hört gut. Nach Aussage des be¬ 
handelnden Arztes setzt sich der Sprachschatz nur aus wenigen Worten, 
wie Tante Julie, Uhr usw., zusammen. Die Nahrungsaufnahme geschieht 
ohne Unsauberkeit. Da der Wassermann im Blute positiv ist, werden 
zwei Schmierkuren gemacht. In der Zwischenzeit hat sich das Kind 
gut entwickelt, besonders der Knochenbau und die Muskulatur haben 


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Beiträge zur Kenntnis der jnvenilen Paralyse usw. 


563 


gute Fortschritte gemacht. Der Pat. kann jetzt gehen, der Gang ist aber 
auffallend watschelnd und geschieht unter Nachschleppen des rechten 
Beines. Starke motorische Unruhe der Hände, insbesondere, wenn der 
Kleine erregt spricht. Er führt dabei immer Drehbewegungen an beiden 
Handgelenken aus. Die Intelligenz ist annähernd dem Alter entsprechend. 
Er spricht sehr viel unaufgefordert, ist schlecht zu fixieren und wird un¬ 
willig, wenn seine Wünsche nicht sofort erfüllt werden. Die körperliche 
Entwicklung schreitet gut fort, jedoch fängt die geistige Entwicklung an, 
krankhaft zu werden. In unbewachten Augenblicken schlägt und speit 
er seine Mitpatienten an und zerrt ihnen die Decke weg. Vorhaltungen 
beachtet er nicht. Der Tremor der Hände besteht unverändert fort. 
Werden seine Wünsche nicht erfüllt, so fängt er jetzt an zu weinen. Was 
das Gemüt anbetrifTt, so macht er einen stumpfen Eindruck, nur Musik 
wirkt stark auf ihn ein; so bleiben auch Melodien und Lieder in seinem 
Gedächtnis in großer Zahl haften, während sonstige Bemühungen, ihm 
etwas beizubringen, dauernd fehlschlagen. 

I. 7. 15 Pat. ist äußerst unruhig geworden und stört seine Mit¬ 
patienten durch aufgefangene gemeine Worte. Wassermann im Blut erneut 
positiv, infolgedessen wird eine weitere Schmierkur eingeleitet. 

17. 10. 16. Der Junge ist groß und kräftig, er spricht von sich nur 
iu der dritten Person, ist sehr ideenflüehtig; außer einer großen Zahl von 
Liedern und Melodien, die er richtig nachsingt, konnte ihm bisher nichts 
weiter beigebracht werden. Er hat keinen Sinn für Erzählungen und Mär¬ 
chen; er versteht sie nicht und behält sie auch nicht. 

II. 11. 16. Gesteigerte Patellarreflexe, mittelweite, träge reagie¬ 
rende Pupillen, normale Fußsohlenreflexe, kein Klonus, das laute Ver¬ 
halten des Pat. hat sich derart gesteigert, daß er am 20. 11. 16 in die 
Psychiatrische Klinik eingeliefert werden mußte. 

Aufnahmebefund am 20. 11 16 in der Psychiatrischen Klinik; Pat. 
ruft dauernd: „Gib mal die Uhr her.“ Als ihm Schlüssel gezeigt werden, 
ruft er: „Gib mir die Schlüssel.“ Stuhl und Tisch bezeichnet er richtig, 
ebenso ein Handtuch. Als er einen Wasserkrahn benennen soll, ruft er 
mehrmals: „Laß mal laufen“; als die Lampe angedreht wird, ruft er mehr¬ 
mals: „Mal Licht machen.“ Er steckt sehr häufig die Finger in den Mund. 

20. 1. 16: [Wie heißt du?] „Gib mal die Uhr her, auch mal knallen 
weil ich so bei bin.“ [Wie alt bist du?] „7 Jahre.“ [Was ist das?] 
„Ring.“ (Richtig.) „Uhr.“ (Richtig.) „Handschuhe.“ (Richtig.) 
„Schirm.“ (Richtig.) „Spiegel“ (Richtig.) „Gib mir die Uhr her.“ [Wo 
ist deine Mutter?] (Wiederholt die Frage.) [Wo ist dein Vater?] „Die 
Uhr her.“ Während der Untersuchung hat er Urin unter sich gehen 
lassen; er wiederholt dauernd: „Gib mal die Uhr her.“ 

Ernährungszustand schlecht. Der kleine Gesichtsschädel wird von 
dem umfangreichen Hirnschädel weit überragt, besonders die Tubera 
frontalia springen stark vor. Von überstandener Rachitis ist nichts mehr 


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564 


Hussels, 


nachweisbar, außer einer mittelstarken Kyphose, kombiniert mit rechts¬ 
seitiger Brust- und Lendenwirbelskoliose geringen Grades. Die Pupillen 
sind weit und lichtstarr. Auf psychische Reize und Schmerz reagieren 
sie ebenfalls nicht. Die Zähne stehen unregelmäßig und schief, sind schlecht 
und fehlen zum Teil. Die rechte Nasolabialfalte ist etwas undeutlicher 
ausgeprägt als die linke, die Lippen sind dick gewulstet, stark gerötet, 
die Zunge ist verdickt und stark gefurcht, sie wird gerade herausgestreckt 
und zittert. Die Ohren sind groß, stark abstehend, das Ohrläppchen ist 
schlecht entwickelt. Beiderseits mittelstarker, grobschlägiger Tremor der 
Hände. Die Patellarreflexe sind lebhaft, links Andeutung von Fußklonus, 
auf Nadelstiche reagiert er mit starken Abwehrbewegungen; der Gang ist 
etwas wankend, sonst ohne Störung. Der Pat. ist sehr unrein, schreit 
viel und stört die andern durch sein lautes Wesen. Die Untersuchung 
des Augenhintergrundes ergibt beiderseits atrophische Papillen mit ver¬ 
waschenen Grenzen und ziemlich scharf umschriebenen chorioiditischen 
Herden. Die Gefäße sind im ganzen etwas verengt. 

Liquorbefund: Wassermann positiv 0,2, Nonne Phase I positiv, 
starke Pleozytose. 

Während seines Aufenthaltes ist der Pat. dauernd unrein, zeigt ein 
lautes Wesen, verläßt oft nachts das Bett und weint zuweilen. Sein 
Körpergewicht zeigt keine Schwankungen. 

Es handelt sich bei dem Patienten um einen Fall von juveniler 
Paralyse, der recht frühzeitig zum Ausbruch gekommen ist. Die 
syphilitische Infektion stammt von den Eltern. Die Diagnose stützt 
sich im vorliegenden Falle hauptsächlich auf den körperlichen Be¬ 
fund: absolute Pupillenstarre, Reflexsteigerung, ferner auf die posi¬ 
tiven Ergebnisse der Blut- und Liquoruntersuchungen. Das psychi¬ 
sche Bild erhält dadurch ein eigenartiges Gepräge, daß die Erkrankung 
sehr frühzeitig zu einer Hemmung der geistigen Entwicklung geführt 
hat. Bei einer Vernachlässigung der körperlichen Symptome könnte 
man den vorliegenden Fall als Idiotie bei Hydrocephalus auffassen. 
Gegen derartige Auffassung spricht jedoch der progressive Charakter 
der psychischen und körperlichen Symptome. Gegen das Vorliegen 
einer andersartigen syphilitischen Hirnerkrankung spricht namentlich 
das Fehlen von Herdsymptomen und anderen Erscheinungen, die 
auf gummöse oder endarteriitische Prozesse zurückzuführen wären. 
Auch daß die eingeleitete Behandlung das Fortschreiten der Krank¬ 
heit nicht aufzuhalten vermochte, spräche im Zweifelsfalle gegen 
einen andersartigen syphilitischen Prozeß. 

Anna T., geb. am 30. 7. 1904. Anamnese des Vaters 29. 10. 13: 


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665 


Die Mutter ist angeblich an einem Unterleibsleiden gestorben; eine Stief¬ 
schwester ist gesund. Keine Frühgeburt. Ein jüngerer Bruder starb an¬ 
geblich an einem Magen- und Darmkatarrh. Die Geburt der Pat. verlief 
normal, sie hatte keinerlei Zeichen einer angeborenen Lues. Im ersten 
Schuljahre kam sie nicht mit und klagte immer darüber, daß sie die Buch¬ 
staben verwechsle; ebenso fiel ihr das Rechnen schwer; infolgedessen blieb 
sie sitzen. Vom 3. Schuljahr an kam sie in die Hilfsschule, wo sie gut 
mitkam. Eines Tages lief sie dem Militär nach, wurde von der Polizei 
aufgegriffen, weil sie sich in der Stadt verirrt hatte. Ihre Lehrerin stellte 
ihr folgendes Zeugnis aus: „Die Schülerin A.T. treibt sich mit Vorliebe 
auf der Straße umher. Sie war immer zerstreut und flatterhaft.“ Im 
Hause hatte sie sich jedoch immer gern beschäftigt, sie war stets anhäng¬ 
lich, nie eigensinnig, weinte nie ohne Ursache, hatte nie Anfälle. Die 
Prüfung nach Binet erfüllte sie ungefähr wie ein Kind, das im 7. Lebens¬ 
jahre steht. 

[Wie heißt du?] (Der Name wird richtig angegeben.) — [Wie alt 
bist du?] 9 Jahre. — [Wann geboren?] Das weiß ich nicht, im Novem¬ 
ber glaube ich. — [Zähle die Monate auf!] April, Mai, Juli, August, Sep¬ 
tember, Dezember. (Die Wochentage werden richtig aufgezählt.) — 
[3X3?] 9. — [5 X 5?] 15! — [9 — 3?] 6. — [9 + 5?] 10! 

Am 6. 11. 13 wird sie gebessert entlassen. 

Anamnese der Stiefmutter am 25. 2. 15: Der Vater soll einen un¬ 
soliden Lebenswandel geführt haben und stark dem Trünke ergeben sein. 
Ein Bruder der Pat. soll in den ersten Lebensmonaten gestorben sein. 
Die Stiefmutter selbst hat mit dem Vater ein gesundes, 5jähriges Mädchen. 
Eine Fehlgeburt hat sie nicht durchgemacht. Sie kennt Pat. 4 Jahre und 
gibt an, sie sei immer nervös gewesen, habe in der Schule nie etwas be¬ 
halten. Gehen und Sauberkeit hätte sie rechtzeitig gelernt. Seit 3 Jahren 
seien ihr an der Pat. Störungen der Sprache aufgefallen, und zwar sprach 
sie zeitweise ganz flott, dann wieder schwerfällig und mußte sich besinnen, 
um die Worte zu finden. Hinzu trat im letzten Jahre ein Undeutlich¬ 
werden der Sprache; auch klagte Pat. vor einem Jahre schon über Seh¬ 
störungen und ist seit einem Monat völlig erblindet. Im letzten Sommer 
hat sie mehrfach Ohnmachtanfälle gehabt; wirkliche Krämpfe und Läh¬ 
mungserscheinungen sind bei ihr nicht beobachtet worden, auch sei keine 
Unsicherheit im Gehen aufgefallen; wohl sei in den letzten Wochen ein 
zunehmendes Zittern eingetreten, in den letzten Tagen so stark, daß sie 
keine Tasse mehr festhalten konnte; Unsauberkeit ist nie bemerkt worden. 
Seit mehreren Wochen hat sie zunehmende Angstzustände, ,,es kommen 
Buben, die sie hauen wollten“. Auch schrie sie manchmal laut auf; nachts 
schlief sie meist ruhig, jedoch war das Einschlafen erschwert. Im Hause 
hat sie sich bis zuletzt mit Stricken beschäftigt und wollte immer putzen. 
Vor einigen Jahren soll sie Neigung zur Onanie gezeigt haben, die aber 
jetzt nicht mehr bemerkt wurde. In letzter Zeit ist es vorgekommen. 


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566 


Hussels, 


daß sie vollständig ohne Grund mit Gegenständen auf ihre Stiefschwester 
einschlug. 

Status psychicus 25. 2. 15: [Wie alt bist du?] 10 Jahre. — [Wann 
bist du geboren ?] Weiß net! — [In welchem Jahre ?] Ich weiß es auch 

net, aber mei Mama weiß es. — [Wo bist du hier?] Hier bei Frau. 

(zeigt auf die Pflegerin). — [Wie heißt die Frau?] Ich weiß net! — [Wer 
bin ich?] Das weiß ich auch net! (Spontan:) Ich bin Kind, der Herr 
Dokter im Marienkrankenhaus sagte, meine Augen würden wieder gut 
werden. — [Welche Schule hast du besucht ?] Hallgartenschule! — [Du 
hast Angst vor Buben gehabt?] Ja, ja, wenn ich vorbeiging, haben sie 
das Bein hingestellt, daß ich gefallen bin. — [a, m, 1, tz.] a, p, das. 
kann ich net! — [2 + 2?] 4. — [5 + 6?] Das weiß ich net! 

Status somaticus: Pupillen weit, beiderseits lichtstarr, Facialis sym¬ 
metrisch, die Zunge wird gerade herausgestreckt, zittert stark; die Pa- 
tellarreflexe sind beiderseits sehr lebhaft, kein Babinski, Achillessehnen¬ 
reflexe ohne Befund. Deutliches Silbenstolpern, Gang unsicher auch bei 
Führung (wegen Blindheit). 

24. 7. 15. Die Kranke ist sehr vergnügt, als sie hereingetragen wird; 
sie lacht und ruft laut: „Herr Doktor, hier bin ich.“ Sie wird hingesetzt, 
das Gesicht ist zu Boden gerichtet, sie spielt unruhig mit den Händen. 
Beide Bulbi bewegen sich ruckartig, andauernd in horizontaler Richtung. 
Beide Lider bewegen sich auf und ab. Spontan: „Heute geht’s besser, 
heute kommt die Mama, ich habe noch ein Schwesterchen.“ 

[Wie alt bist du?] 7 Jahre, 7 Jahre. (Sie scharrt dabei mit den 
Füßen.) — [Wie heißt denn dein Schwesterchen?] Hildegard, Hilde¬ 
gard! (Sie versucht zu buchstabieren, wobei sie aber nur einige Buch¬ 
staben sinnlos zusammenfügt.) Sie ist in die Schule gegangen, die ist 
gemeldet. — [Wie heißt du denn?] Anna. Ich bin 11 Jahre alt, 11 Jahre 
altbinich. — [Wann bist du denn geboren?] Ich weiß net, als hat meine erste 
Mama, meinrichtigMama (traurig und mit weinerlicher Stimme) Schmerzen 
gehabt, ist tot, die Engel — Himmel — ich hab noch einen Papa, ich bin’s 
erste Kind, das erst’ Mädel bin ich. Hildegard g a a d. Die Mama kommt 
jeden Sonntag, jeden jeden Sonntag, die Mama ist gut, heute ist Mitt¬ 
woch, von 3—6 gibt’s Mittagessen, heute kommt die Mama wiederl — 
[Weißt du, wo du bist ?] In Irrenanstalt, der Onkel hat mich geschlagen 
mit dem Hackbeil, die Hand, das hat geblutet, Marienkrankenhaus. — 
[Weshalb hat er dich geschlagen ?] Der Onkel könnt’ nicht dazu, (weiner¬ 
lich) die Sehnen sind genäht, die Hand war ganz verbunden gewesen — 
wieder geheilt, die Hand ist wieder ganz zu (scharrt fortwährend mit den 
Füßen, den Kopf weit nach vorn gebeugt). — [Wie lange bist du hier?] 
Weihnachten, Ostern, die Schwester ist heimgekommen und hat mich 
mitgenommen im Bett drin. (Sie wiederholt dasselbe einige Male.) — 
[Schläfst du gut?] Ja, im Bett abends schlafe ichl — [Weshalb bist du 
hier?] Weil ich blind bin, die Schwester ist heim und hat mich mitge¬ 
nommen — als kleines Kind hab ich Handarbeit! — [2 x 2?] 2 x 2 


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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 567 

ist 4! — [Wieviel?] 51 Handarbeit!—[Hast du kein Rechnen gehabt?] 
O ja, und Singen, ich gehe auch heute noch in die Schule! — [Gehst du 
gern in die Schule ?] O ja, in die Schwarzbergschule, ich bin nicht dumm, 
gescheit bin ich, Handarbeiten hab’ ich gemacht, ich hab’ einen Wasch¬ 
lappen gemacht, Stricken hab’ ich gelernt! — [2 + 2?] Ich weiß nicht. — 
[Zählen:] 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, . . . 11, 12, ... 21, 23. — [Buchsta¬ 
biere deinen Namen:] I—s—n—i—s—s. — [Vornamen:] Anini! — 
[Buchstabiere Karl:] K—u—r. — [Wie sieht Schnee aus?] Weiß! — 
[Wie sehen Kohlen aus?] Schwarz! — [Veilchen?] Blau! — [Was ist 
der Unterschied von Katze und Hund?] (Lacht.) Eine Katze, ich 
hab’ schon eine Katze, eine Katze gesehen, die Schwester hat einen Hund 
gehabt! — [Weißt du, was ein Fuchs ist ?] Das ist ein Hund, ein Fuchsl — 
[Was ist ein Rabe?] Ein Klapperstorch bringt die Kinder! — [Was ist 
ein Löwe?] Die Knöpfe an Ihrem Hemd. Ich mache mein Nachthemd 
zu! — [Was ist das (Schlüssel)?] Schlüssel! — [Was ist das (Uhr)?] 
Uhr. (Lacht und freut sich.) — [1, 2, 4.] 1, 2, 3, 4. — [1, 2, 4, 6.] 

1, 2, 3, 4, 5, 6. — [Darf man lügen?] Nein, nein! — [Weshalb nicht?] 
Wer Wahrheit sagt, der kommt Engel — wird Engel. ... Wer lügt, der 
kommt in die Hölle, da wird man verbrannt. Ich hab’ immer die Wahrheit 
gesagt, ein Engel werd’ ich. Die Mama und die Hildegard wird auch ein 
Engel. (Die Stimme*ist traurig und zittert, sie wiederholt den letzten 
Satz.) — [Darf man stehlen?] Nein, ich hab’ immer die Wahrheit 
gesagt. (Sie wiederholt obige Antwort.) Das dauert lange, bis man tot 
ist. — [Weshalb darf man nicht stehlen?] Das darf man nicht! (Sie 
wiederholt, daß sie immer die Wahrheit gesagt habe, die Hände und Finger 
sind andauernd in Bewegung. Sie hört plötzlich das Surren der ange¬ 
drehten Zentralheizung:) Das ist ein Zeppelin, nicht wahr, Herr Doktor? 

Status somaticus: Ernährungszustand schlecht. Der Schädel ist 
symmetrisch, ohne Narben, nicht klopfempfindlich; die Pupi len sind 
weit und entrundet; sie sind starr auf Lichteinfall und Konvergenzreaktion, 
auch reagieren sie nicht auf psychische und Schmerzreize. Die Bulbi- 
bewegung ist frei, es besteht starker, horizontaler Nystagmus. Ein dicht 
vor die Augen gehaltenes Licht vermag sie als hell zu unterscheiden. Der 
Augenhintergrund zeigt beiderseits Optikusatrophie. Die Peripherie ist 
normal. Die Gefäße sind deutlich verengt. Die Zunge wird gerade heraus¬ 
gestreckt und zittert stark. Die Sprache zeigt deutliches Silbenstolpern, 
ist etwas näselnd und verwaschen. Die einzelnen Laute werden unscharf 
verbunden, ab und zu werden Silben ausgelassen. Kein Tremor der Hände. 
Patellarreflexe sind beiderseits sehr lebhaft. Patellar- und Fußklonus sind 
rechts und links leicht auslösbar. Am ganzen Körper scheint Hyper¬ 
sensibilität zu bestehen. Kein Babinski. 

5. 9. 15. Die Kranke ist sehr erregt, näßt öfters das Bett, zuweilen 
schreit sie mitten im Schlaf auf: „Ich werde verbrannt!“ Nachts schläft 
sie oft schlecht und spricht laut vor sich hin. 


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568 


Hassels. 


2. 12. 15. Das laute Verhalten hat sich nicht geändert, sie ver¬ 
unreinigt öfters das Bett. 

2. 6. 16. Das erregte Verhalten dauert an. Zuzeiten schimpft 
sie in gemeiner Weise, sie beruhigt sich aber wieder bei Nahrungsaufnahme. 
Die Verunreinigungen sind dieselben. Es haben sich starke Spasmen 
entwickelt. 

Nonne positiv, Phase I; Wassermann im Blut und Liquor positiv; 
Pleozytose. 

Die Erkrankung trat zum ersten Male bei Pat. in Erscheinung, 
als sie in die Schule kam. Charakteristisch ist, außer daß ihr das 
Lernen schwer fiel, das Verwechseln der Buchstaben. Gerade die 
letztere Erscheinung deutet darauf hin, daß ihre schlechten Leistungen 
in der Schule nicht Folge einer angeborenen geistigen Schwäche, 
sondern der paralytischen Erkrankung sind. Dafür spricht auch die 
progressive Verschlechterung ihrer Leistungen. Hinzu kommen ge¬ 
wisse Störungen, wie wir sie beim Beginn der Paralyse beim Erwach¬ 
senen beobachten: planloses Fortlaufen, Reizbarkeit, Labilität der 
Stimmung, Neigung zu Gewalttätigkeiten (gnpidloses Schlagen der 
Schwester), auch Angstzustände und ängstliche Befürchtungen (Angst 
vor Buben, die sie hauen wollten), ebenso wie die Störungen des 
Schlafes. Auch scheint es, als ob die Steigerung der geschlechtlichen 
Erregbarkeit, die zur Onanie geführt hat, auf die sich entwickelnde 
Gehirnerkrankung zurückzuführen sei. Wir können diesem Symptom 
keinerlei diagnostische Bedeutung beimessen, da bei schwachsinnigen 
und psychopathischen Kindern bekanntlich eine mitunter hohe Grade 
erreichende Masturbation nicht selten beobachtet wird. Dagegen 
finden wir in unserem Falle alle Zeichen der Sprachstörung, wie sie 
für den Erwachsenen charakteristisch sind. Auffallend ist ihr Rede¬ 
drang, der deutliche Ideenflucht aufweist; auch könnte man einige 
Antworten als Andeutung von Größenideen auffassen (z. B. daß sie 
sehr gut rechnen kann). Ein gewisses Krankheitsbewußtsein ist er 
halten, auch sind die Erinnerungen, die immer wieder in ihren zu¬ 
sammenhanglosen Reden auftauchen, durchaus richtig (z. B. die 
Verletzung durch das Beil und die durchgemachte Operation). Die 
Optikusatrophie setzte sehr frühzeitig ein und erreichte einen sehr 
hohen Grad, so daß das Kind jetzt geradezu amaurotisch ist; dies 
kam der Kranken selbst zum Bewußtsein. Auch der positive Befund 
im Blut und Liquor ebenso wie die Pleozytose sichern die Diagnose. 


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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 569 

Außerdem bestehen weite und vollkommen starre Pupillen. Die 
Sehnenreflexe sind sämtlich hochgradig gesteigert, und mit der Re¬ 
flexsteigerung gehen starke Spasmen und Kontrakturen einher. 

Johann V., geboren am 25. 7. 03. Anamnese der Mutter: Der Vater 
ist gesund und steht seit dem 6. Mobilmachungstage ira Felde, sie selbst 
war einmal in einer Lungenheilanstalt. Ihre beiden ersten Kinder (Zwil¬ 
linge) starben 4 Wochen alt an Krämpfen. Pat. selbst ist das Zweitälteste 
Kind, die drei übrigen Geschwister von ihm sind angeblich gesund. Die 
6jährige Schwester hat jedoch eine Sattelnase und Rhagaden um den 
Mund, während die beiden andern Geschwister, ohne luische Stigmata 
zu haben, positiven Wassermann im Blut aufweisen. Uber eine luische In¬ 
fektion ihres Mannes oder von sich selbst weiß die Mutter nichts zu berichten. 
Die Geburt des Pat- verlief normal; er lernte mit 2 Jahren laufen un<k 
sprechen und litt im 2., 6. und 7. Jahre an Krämpfen (epileptische An¬ 
fälle); er wurde dabei zyanotisch und hatte Schaum vor dem Munde. 
Körperlich blieb er immer etwas zurück. Im ersten Schuljahre lernte er 
gut, seit dem 7. Lebensjahre finden wir jedoch einen auffallenden Rück¬ 
gang der geistigen Fähigkeiten, er lernte immer schwerer, wurde sehr 
reizbar und warf riiit dem Messer, wenn er geärgert wurde. Seit 2 Jahren 
hat sich die Sprache immer mehr verschlechtert. Zeitweise war er sehr 
ausgelassen, näßte des öfteren das Bett. Seine Lehrerin klagt darüber, 
daß er schlecht hörte und undeutlich spräche: „Im Schriftlichen fehlt 
ihm jedes Wortbild, namentlich ist er im Rechnen ganz unbefähigt. Wird 
er gereizt, so wehrt er sich wütend mit Treten und Steinewerfen; er trägt 
ein rabiates Wesen zur Schau und hat häufig Wutanfälle, wobei er seine 
Umgebung beißt.“ Seine Leistungen waren derartig, daß er in den beiden 
ersten Schuljahren überall genügend hatte, im Schuljahr 1912/13 meist 
mangelhaft und 1913/14 alles mangelhaft und sehr oft ungenügend. . 

Status psychicus: Der Kranke sitzt ruhig da, sieht im Zimmer umher> 
der Gesichtsausdruck ist stumpf. 

[Wie heißt du?] (Kaum zu verstehen:) Johann. — [Wie alt bist 
du?] 13. — [Wann geboren?] (Zeigt mit den Fingern 5 und weiter:) 
Juli. — [Welches Jahr?] (Keine Antwort.) — [Was haben wir jetzt 
für ein Jahr?] 1915. — [Wie lange bist du hier?] Seit 6 Wochen. — 
[In welche Klasse bist du gegangen?] (Zeigt 4.) — [Hast du in der 
Schule etwas gekonnt?] Sehr viell — [2 x 2?J (Verzieht das Gesicht, 
lacht.) 6! — [2 + 2?] 4, darauf 61 — [2 + 3?] 5. — [2 + 4?] 81 — 
[4 — 2?] 2. — [8 — 2?] 7! (Die Wochentage werden richtig aufge¬ 

zählt.) — [Umgekehrt aufzählen.] (Keine Antwort.) — [Was ist das 
(Schlüssel)?] Schlüssel. (Wiederholt es mehrmals.) — [Was ist das 
(Uhr)?] Uhr. — [Wozu ist der Schlüssel da?] Zum Schließen. — 
[Wie heißt unser Kaiser ?] Kaiser Wilhelm II. — [Wie heißt diese Stadt ?] 
Frankfurt. — [An welchem Fluß?] Am Main. — [Wo fließt der Main 


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Hassels, 


hin?] Ins Meer. — [Wieviel Zentimeter hat ein Meter?] 100 Meter. — 
[Wieviel Zentimeter?] 100 Meter! — [Wann ist Weihnachten?] Voriges 
Jahr! — [Im Januar?] Ja! — [Was für ein Unterschied zwischen Katze 
und Hund ?] Ein Hund ist groß! — [Teich und Fluß ?] Teich ist größer! 
— [Darf man lügen?] (Schüttelt mit dem Kopfe.) — [Weshalb nicht?] 
(Nach wiederholtem Fragen:) Weil man in die Hölle kommt. (Pat. soll 
die Fabel vom Fuchs und Raben nacherzählen, er wiederholt nur die 
letzten Sätze, läßt Worte aus, lacht und räkelt sich auf dem Stuhl.) — 
[Wie sieht der Schnee aus?] Grau! — [Kohlen?] Schwarz. — [1, 5, 
7, 2, 9?] 1, 7, 2, 9. — [2, 8, 6, 3, 5, 7?] 2, 6. (Sieht’seine Nägel 
an.) — [Monate aufzählen. Januar, weiter?] Januar, ... April, ... 
Oktober, ... — [Was ist das (eine vorgelegte Kirche) ?] Ein Turm. — 
[Was ist das (Kanone)?] (Sofort:) Kanone. — [Buchstabiere deinen 
Warnen.] F—e—t—a—e—t—e—1—e. (Er schreibt ihn richtig auf.) 

Status somaticus: Pat. ist in seiner körperlichen Entwicklung stark 
zurückgeblieben. Der Ernährungszustand ist gut; die Haut ist auf dein 
ganzen Körper etwas geschrumpft, trocken und schuppt leicht (Ichthyosis); 
Pubertätszeichen fehlen. Das Gesicht ist dick und unförmig. Es besteht 
die Andeutung einer Sattelnase, die Zähne sind unregelmäßig gestellt und 
schlecht entwickelt. Kein Hutchinson- Typ. Um den Mund befinden sich 
Rhagaden. Die Lidränder sind geschwollen und ekzematös. Die linke 
Nasolabialfalte ist deutlicher ausgeprägt als rechts, und es wird beim 
Lachen der linke Mundwinkel etwas höher als auf der rechten Seite ge¬ 
zogen; auch bleibt der rechte Mundwinkel beim Sprechen etwas zurück. 
Die Zunge ist wenig belegt, sie wird gerade herausgestreckt und zeigt 
feine Zuckungen. Die Augenbewegungen sind frei, der Augenhintergrund 
ist ohne Befund. Die Pupillen sind beiderseits weit, gleich, etwas entrundet 
und reagieren weder auf Lichteinfall noch auf Konvergenz; sie sind voll¬ 
kommen starr. Die Patellarreflexe sind beiderseits sehr lebhaft; bisweilen 
gelingt es, einen kurzdauernden Fußklonus zu erzeugen. Die Periost- 
Sehnen- und Bauchdeckenreflexe sind ebenfalls lebhaft. Der Babinskische 
Reflex ist links schwach positiv. Die Sprache ist sehr verwaschen, häufig 
stolpernd. Nonne positiv bei Phase I; Wassermann bei Blut und Liquor 
positiv (0,2); Pleozytose. 

Von besonderem Interesse ist es, daß dem Ausbruch der Para¬ 
lyse Krämpfe vorangingen. Bekanntlich sind Krämpfe schon in 
erster Kindheit häufig bei Epileptikern; es kommt jedoch vor, daß 
solche bloß den Ausdruck einer spasmophilen Diathese darstellen 
und als Zeichen einer konstitutionellen Minderwertigkeit des Zentral¬ 
nervensystems zu betrachten sind, ohne daß es dabei zur Epilepsie 
kommt, ln diesem Falle sind sie wohl anders zu beurteilen, da sie 
nicht nur in den ersten Lebensjahren, sondern auch später auftraten. 


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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 


571 


Wir werden wohl nicht fehlgehen, sie mit der Syphilis in Zusammen¬ 
hang zu bringen und als Vorläufer der Paralyse anzusehen. In die 
Augen fallend ist das Zurückbleiben der körperlichen Entwicklung; 
der Patient zeigt nicht die geringsten Merkmale der Pubertät. Dies 
beobachtet man häufig bei der juvenilen Paralyse, aber auch ebenso 
bei hereditär luischen Kindern, die nicht paralytisch werden. Es ist 
daher wohl nur die Syphilis als solche für die Hemmung der Ent¬ 
wicklung verantwortlich zu machen. Im vorliegenden Falle geht 
aus der Vorgeschichte klar hervor, daß die Paralyse zu einem ganz 
bestimmten Zeitpunkte einsetzte. Während die Leistungen in den 
ersten beiden Schuljahren genügend waren, waren sie im folgenden 
durchweg mangelhaft und im nächsten Jahre sogar unter mangelhaft; 
es trat dann ein allgemeiner Rückgang der geistigen Fälligkeiten ein. 
Wir sehen also, daß in diesem Punkte die juvenile Paralyse sich nicht 
von der der Erwachsenen unterscheidet, und es ist wohl gerade auf 
den ziemlich plötzlichen Beginn der Erkrankung in einem bestimmten 
Lebensalter das Hauptgewicht bei der Diagnosestellung zu legen. 
Die Möglichkeit einer angeborenen Entwicklungshemmung braucht 
nicht erörtert zu werden. Auch für eine tertiär luische Erkrankung 
spricht nichts; insbesondere fehlen Herdsymptome. Die Charakte¬ 
ristika der Paralyse sind in vorliegendem Falle durchaus typisch. 
Wir finden außer einem Fehlen der Pupillenreaktion und Steigerung 
der Reflexe namentlich eine ausgesprochene Sprachstörung. Von 
besonderem Interesse erscheint die Beobachtung, daß der Kranke 
im Beginn einen Erregungszustand mit heiterer Stimmung zeigte; 
auch die Wutausbrüche, die mitunter zu Gewalttätigkeiten führten, 
sind Erscheinungen, die bei der Paralyse der Erwachsenen wohl 
bekannt sind, freilich auch bei anderen Formen geistiger Störung 
Vorkommen. Auch der Blut- und Liquorbefund war in diesem, Falle 
durchaus typisch für Paralyse. 

Charlotte V., geh. 15. 12. 06. Anamnese der Mutter am 17. 2. 17 
(ilie Angaben der Mutter entstammen einer Zeit, wo sie noch nicht typisch 
alteriert war). Die Mutter selbst klagt darüber, daß sie leicht nervös sei, 
ebenso wie ihr Mann. Potus ist nicht in der Familie. Außer der Pat. 
ist noch eine ältere und jüngere Schwester vorhanden, die beide gesund 
sind. Vor der Geburt ihrer jetzigen Kinder hat die Mutter im 8. Monat 
einen Mißfall gehabt. Vor 19 Jahren hat sie ein Geschwür an den Ge¬ 
schlechtsteilen gehabt. Ausschlag hat sie aber nicht bemerkt; behandelt 

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Hussels. 


wurde eie damals nicht. Vor 2 Jahren wurde bei der Mutter das Blut 
untersucht und die Mutter einer Quecksilberkur wegen positiven Wassermann 
unterzogen. Die Geburt des Kindes selbst verlief normal. Pat. war ein 
gesundes, kräftiges Mädchen, hatte nie einen Ausschlag; dagegen litt sie 
bis zum 5. Monat an einem Darmkatarrh, entwickelte sich aber darnach 
sehr gut. Krämpfe sind nie zur Beobachtung gekommen. Mit 13 Monaten 
lernte sie laufen und sprechen, mit 5 Jahren hatte sie einen heftigen 
Keuchhusten, der y 2 Jahr dauerte. Darnach bemerkte die Mutter, daß 
das Kind nicht mehr so laufen konnte wie früher; dann verschlechterte 
sich auch die Sprache; das Kind wurde von Tag zu Tag nervöser und 
aufgeregter; alles, was ihr in die Hände kam, zerriß sie. Kurze Zeit besuchte 
sie die Schule, sie konnte aber nur % Jahr dort bleiben, weil sie den Unter¬ 
richt dauernd störte. Sie sprang auf und lärmte. Ihr etwas beizubringen, 
war unmöglich, für nichts hatte sie Verständnis. Zuletzt besuchte sie 
den Kindergarten, aber auch von dort wurde sie heimgeschickt. Von der 
Zeit an war sie dauernd zu Hause, und die Mutter ließ sie den ganzen Tag 
über zu Bett. Nachts war sie häufig sehr ängstlich, schrie laut auf; das 
Bett näßte sie sehr selten, ebenso litt sie nie an Krämpfen. 

Als sie hereingetragen wird, ruft sie: ,,Mein Bettchen, mein Bett¬ 
chen.“ [Wie heißt du?] Mein Bettchen, mein Bettchen. (Aus einem 
ihr vorgehaltenen Buche reißt sie ein Blatt heraus.) O mein Bettchen, 
mein Bettchen. Papier arbeiten, nicht baden. — [Wo ist dein Vater?] 

.— [Wo ist deine Mutter?] Da ist sie. Keller, Keller, Mutter ist 

heim. — [Wie heißt du?] Lieber, lieb, mein Bettchen! — [Zeig’ mal 
deinen Mund.] (Zeigt ihn mit beiden Händen und ebenfalls die Zunge.) — 
[Zeig’ mal deine Nase.] (Zeigt die Zunge, jedoch nicht unartig.) — [Zeig’ 
mal deine Augen.] (Zeigt die Zähne.) — [Womit kannst du sehen?] 

Die Mutter auch!.— [Nachsagen: Die Kuh gibt uns die Milch.] 

Mein Dok .. . (spricht unverständliches Zeug, klatscht in die Hände und 
schlägt auf die Wärterin). 

Der Ernährungszustand ist gut. Beim spontanen Gehen, welches 
sehr mühsam erfolgt, wird das rechte Hüftgelenk geschont. Der Gang 
ist spastisch. Die Bewegungen an den Armen sind passiv und aktiv frei. 
Es scheint am ganzen Körper Hypersensibilität zu bestehen. Die Patellar- 
rellexe sind sehr lebhaft. Die rechte Pupille ist weiter als die linke, beide 
sind sehr weit und reagieren weder auf Lichteinfall noch auf Konvergenz. 
Der Augenhintergrund ist ohne Befund. Die Zunge wird gerade heraus¬ 
gestreckt und zittert nicht. Der Puls ist weich und regelmäßig, 120 Schläge 
in der Minute. 

Nonne positiv, Phase I; Wassermann im Blut und Liquor positiv, 
Phase 2; Pleozytose. 

15. 3. 17: Pat. hat oft Anfälle, sie schreit und schnalzt sehr laut mit 
der Zunge. Nachts schläft sie meist sehr gut und näßt oft das Bett. Sie 
ist unsauber und nimmt in letzter Zeit sehr wenig Nahrung zu sich. 


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Beiträge zur Kenntnis der jnvenilen Paralyse usw. 


573 


April 1917: Die Pat. ist durchweg sehr unruhig, will öfters das Bett 
verlassen. Sie hat manchmal am Tage 5 Anfälle hintereinander, die durch¬ 
schnittlich 2—3 Minuten dauern, meis.t jedoch täglich nur 1—2 Anfälle. 

Die Mutter, Frieda V., geboren am 6. 2. f875. Anamnese des 
Mannes: Seit 15 Jahren ist sie mit ihm verheiratet. Aus der Ehe stammen 
4 Kinder, von denen die andern 3 gesund sind. Vorher hat die Frau 3 Tot¬ 
geburten gehabt. Die Pat. ist schon seit 5—6 Jahren auffallend nervös, 
ihr Vater starb mit 89 Jahren, ihre Mutter lebt noch. In der Familie sind 
keinerlei Nervenkrankheiten nachzuweisen. Seit % Jahre ist ihm an der 
Pat. aufgefallen, daß sie schlecht ißt, nachts sehr unruhig sich im Bett 
umherwirft und an Gedächtnisschwäche leidet. Auch steht sie manchmal 
ganz traumverloren da. Der Ehemann weiß nichts von einem Primär- 
affekt. Er hat selbst eine undeutliche Sprache, die aber wohl damit zu¬ 
sammenhängt, daß er ein künstliches, schlecht sitzendes Gebiß trägt. Er 
rechnet schlecht, die Pupillen sind weit, different und reagieren träge. 
Die Patellarreflexe sind beiderseits lebhaft. Die Zunge ist belegt, weicht 
etwas nach links ab und zittert stark. Sehr starke Arteriosklerose der 
Radialarterie. Bei ihm ist: Nonne negativ, Wassermann im Blut und 
Liquor negativ; keine Zellvermehrung. 

Status psychicus der Mutter. 20. 3.17: [Wie alt sind Sie?] 42 Jahre. 
— [Wann geboren?] 6. 2.1875. — [Seit wann verheiratet ?] Seit 1901. — 
[Wieviel Kinder haben Sie?] Vieri — [Sind alle gesund?] Die Lotte 
ist ja hier; ich habe eine mit 10, eine mit 12 und eine mit 7 Jahren. — 
[Mißfall gehabt?] Zweimal. — [Sind Sie geschlechtskrank gewesen?] 
Ja, mit 20 Jahren. — [Von Ihrem Manne?] Nein, von meinem Ver¬ 
lobten. — [Ist es geheilt worden?] Ja. — [Was ist dagegen getan 
worden ?] Mit Salbe eingerieben. — [Wie oft ?] Ich weiß nicht mehr. — 
[Sind Sie sonst gesund gewesen?] Ja. — [Warum sind Sie hier?] Ich 
bekomme immer so Schwindelanfälle, und dann weiß ich nicht, wo ich 
bin. — [Fallen Sie dabei hin?] Ja, zweimal habe ich so ein Zusammen¬ 
fahren beim Schlafen gehabt, das hängt wohl mit dem Blut zusammen. — 
[Haben Sie auch das Bewußtsein verloren ?] Ja. — [Viel Kopfschmerzen ?] 
Ja. — [Nachts schlimmer?] Nein, im Gegenteil. — [Ist das Gedächtnis 
schlechter geworden?] Ja, vollständig, ich vergesse alles. — [Welches 
Datum?] Ich weiß nicht. — [Welches Jahr?] 1917. — [Welcher 
Monat?] März. — [Anfang oder Ende?] Ende. — [Wo sind Sie hier?] 
Im Irrenhaus?. — [Haben Sie zu Hause Ihren Haushalt verrichtet] Zu¬ 
letzt konnte ich nicht mehr putzen. — [Wie war denn das Tdben 
zu Hause ?] Es kamen so Anfälle, daß ich so aufgeregt war und alles klein 
schlagen mußte. — [Wie sind die Verhältnisse zu Hause?] Sehr unge¬ 
nügend. — [Vermögend?] Gar nicht. — [Wie ist Ihre Stimmung?] 
Ich bin völlig gefühllos geworden. — [Nicht besonders freudig?] Nein, 
im Gegenteil, ich leide an Weinkrämpfen. — [8x9?] 72. — [7 X 17?] 
1091 — [Hauptstadt von Bayern?] München. — [Hauptstadt von 


Zeitschrift für Psyohiatrie. LXXII1. 6. 

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Original from 

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674 


Hassel», 


Baden?] Karlsruhe. — [Ein Gedicht von Schiller?] Die Glocke. — 
{Unterschied von Fluß und Teich ?J Teich ist ein stilles Gewässer, n r>. • 
der Fluß fließt. — [Unterschied zwischen Irrtum und Luge?] Das i*r 
entgegengesetzt. — [Ist es dasselbe?] Nein, verschieden. — [8. 5. >. 
9, 6?] 8, 5, 3, 9, 6. — [1, 7, 4, 1, 2, 9?] 1, 7, 4, 8, 9! — [Sprich¬ 

wort erklären: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?] Gewöhnlich 
nennt man es, wenn Vater und Sohn die gleichen Eigenschaften haben. — 
[Wann ist Christus geboren?] Weiß nicht. — [Welches Jahr ist jetzt ?' 
1917 nach Christus. — [Wann ist er also geboren?]' Im Jahre 1. 

Status somaticus: Mittelgroße, gut genährte Frau mit etwas ange¬ 
wachsenen Ohrläppchen, hoher, steiler Gaumen; die Gesichtszüge haben 
etwas maskenartig Starres. Die rechte Nasolabialfalte ist etwas mehr 
verstrichen als die linke. Zähnezeigen, Pfeifen, Stirnrunzeln ohne Befund. 
Die linke Pupille ist etwas weiter als die rechte. Beide Pupillen sind weit, 
reagieren nicht auf Lichteinfall und Konvergenz. Der Puls ist regel¬ 
mäßig, gleichmäßig und voll. Die Frequenz beträgt 92. Die Bauch¬ 
decken sind schlaff. Die Bauchdeckenreflexe sind nicht auslösbar. Die 
Patellar- und Achillessehnenreflexe sind auch nach Jendrassik nicht aus¬ 
lösbar. Kein Babinski. Bei Prüfung des /?omi«vgschen Symptoms gleich¬ 
mäßiges Schwanken nach allen Seiten. Die Empfindung am ganzen 
Körper ist gleichmäßig etwas herabgesetzt. 

Nonne Phase I, positiv; Wassermann im Blut und Liquor positiv 
(0,2); Pleozytose. 

Ich habe in diesem Falle die Erkrankung der Mutter kurz wieder¬ 
gegeben, weil dieselbe bei der gleichzeitigen Erkrankung des Kindes 
nicht ohne Interesse zu sein scheint. Es handelt sich bei der Mutter 
zweifellos um eine Paralyse. Dies ergibt sich nicht bloß aus dem 
positiven Ausfall der Blut- und Liquorreaktion, sondern auch aus 
den typischen paralytischen Symptomen auf geistigem und körper¬ 
lichem Gebiete. Bei dem Kinde finden wir ebenfalls die typischen 
Symptome einer Paralyse: Pupillenstarre, Sprachstörungen, Reflex¬ 
steigerungen sowie eine allmählich fortschreitende Demenz, begleitet 
von zeitweisen Erregungszuständen. Auch der Blut- und Liquor¬ 
befund ist der der Paralyse. Wir haben also in vorliegendem Falle 
zwei Erkrankungen an Paralyse, die derselben Infektionsquelle ent¬ 
stammen. Es ist von Interesse, daß die Erkrankung bei dem Kinde 
etwas früher zum Ausbruch kam als bei der Mutter, deren Infektion 
doch schon etwa 20 Jahre zurückliegt, während bei dem Kinde die 
Erkrankiuig erst mit dem 5. Lebensjahre einsetzte. Wir haben dabei 
den Beginn der Erkrankung der Muttor nach den auffallenden psychi¬ 
schen Symptomen angesetzt, trotzdem bereits vor dem Ausbruch der 


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Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 


575 


Psychose bei der Mutter Pupillenstörungen festgestellt waren. Es 
wäre namentlich vom wissenschaftlichen Standpunkte exakter, den 
Beginn der Paralyse bei der Mutter schon in den Zeitpunkt der Ent¬ 
stehung der Pupillenstörungen zu verlegen, aber da sich natürlich 
dieser Zeitpunkt in unserem, wie überhaupt in den meisten Fällen 
schwer feststellen läßt, da wir andererseits wissen, daß Pupillen¬ 
störungen nicht nur dem Ausbruch einer Tabes oder Paralyse jahre¬ 
lang vorausgehen können, sondern auch unter Umständen das ein¬ 
zige Symptom einer überstandenen Lues sein können, ohne daß sich 
später ein syphilogenes Nervenleiden entwickelt, so werden allgemein 
die ersten psychischen Störungen als Beginn angenommen oder auch 
die für Paralyse pathognomonischen körperlichen Symptome, z. B. 
Sprachstörungen. Was den Vater anbetrifft, so war die Sprach¬ 
störung nicht typisch paralytisch, sie war wohl verwaschen, aber es 
fehlte das Silbenstolpern, so daß wir sehr wohl das schlecht sitzende 
Gebiß als Ursache dafür anschuldigen können; auch war keinerlei 
psychische Alteration vorhanden, die die Diagnose einer Paralyse 
rechtfertigte. Auch die Steigerung der Reflexe kann Folge des sehr 
herabgekommenen Ernährungszustandes sein, vielleicht auch mit der 
Arteriosklerose in Zusammenhang stehen. Jedenfalls hat die Unter¬ 
suchung von Blut und Liquor keine Anhaltpunkte für bestehende 
oder im Anzug befindliche Paralyse ergeben. 

Wenn ich auch nur ein verhältnismäßig kleines Material zur 
Frage der juvenilen Paralyse beizubringen vermag, so zeigen doch 
alle Fälle in übereinstimmender Weise einige Symptome, die bei der 
Paralyse der Erwachsenen seltener Vorkommen. Es geht natürlich 
nicht an, aus vier Fällen ein prozentuales Verhältnis aufstellen zu 
wollen, vielleicht kann ich sie in die Befunde Stöckers einreihen. 
Auch bei unseren Fällen bestand überall absolute Pupillenstarre, d. h. 
os fehlten 1. die direkte und indirekte Lichtreaktion und 2. die Kon¬ 
vergenzreaktion. Ferner war in allen vier Fällen Mydriasis vorhan¬ 
den. Diese Pupillensymptome scheinen in der Tat wichtige Zeichen 
der juvenilen Paralyse zu sein und haben als solche früher keine ge¬ 
nügende Beachtung gefunden; und doch sind diese Symptome nicht 
bloß vom theoretischen Standpunkt aus interessant, weil sie mög¬ 
licherweise einem stärkeren Befallensein des Hirnstammes von dem 
paralytischen Prozesse bei der juvenilen Paralyse entsprechen, son- 

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576 


H uss eis, 


dem sie sind auch praktisch wichtige Zeichen. Es sei jedoch erwähnt, 
daß die Anschauung Stöckers, die den Sitz der absoluten Pupillen¬ 
starre in den Hirnstamni verlegt, nicht von allen Autoren geteilt 
wird, namentlich Wübrand, Sänger und Nonne vertreten den Stand¬ 
punkt, daß die absolute Pupillenstanre nicht in einer Sphinkterkern¬ 
läsion zu suchen ist, die man im frontalen Polteil des lateralen Haupt¬ 
teils des Okulomotoriuskerns angenommen hat, sondern im N. oculo- 
motorius selbst sitze, während Marina dieselbe Störung in das Gang¬ 
lion ciliare lokalisiert. Ich selbst bin nicht in der Lage, Material für 
die strittige Frage beizubringen, und will mich auf eine Diskussion 
nicht einlassen, sondern bloß der Tatsache Rechnung tragen und das 
Hauptgewicht auf die praktische Bedeutung dieser Erscheinung für 
die Diagnostik legen. Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß Alz¬ 
heimer im Hirnstamm bei der juvenilen Paralyse bloß eine stärkere 
Ausprägung von paralytischen Veränderungen festgestcllt hat, und 
daß in diesem Falle nicht etwa (was bei der Paralyse auch gelegentlich 
vorkommt) eine Kombination von paralytischen mit tertiär-luischen 
Veränderungen vorliegt. Bekanntlich hat namentlich Sträußler auf 
das Vorkommen von miliaren Gummen, sowie auch endarteriitischen 
Prozessen bei klinisch und anatomisch einwandfreien Paralysen hin¬ 
gewiesen. Außer diesen intrazerebralen Läsionen kann die absolute 
Starre aber auch Folge einer Rindenreizung sein, da bekanntlich fast 
alle Krampfzustände der Pupille im Gegensatz zu den Lähmungen 
kortikal bedingt sind. Bei Erwachsenen tritt die absolute Pupillen¬ 
starre sehr in den Hintergrund. Uthofl fand unter 300 Beobachtungen, 
von denen 71 % Pupillenstarre zeigten, nur in 16 % absolute Starre 
und in 55 % isolierte reflektorische Starre. Hingegen ist die absolute 
Pupillenstarre, teils isoliert, teils in Verbindung mit Lähmungen 
der äußeren vom Okulomotorius versorgten Augenmuskeln, häufig ein 
Symptom tertiär luischer Gehirnerkrankung, abgesehen natürlich von 
den Fällen, wo ein anderes Leiden, multiple Sklerose, Hirntumor 
oder andere basale Prozesse vorliegen. Wenn man auch niemals die 
Differentialdiagnose zwischen Paralyse und Hirnsyphilis auf Grund 
einzelner Symptome stellen darf, so sind doch absolute und reflektori¬ 
sche Starre diagnostisch nicht gleichwertig. Wenn gleichzeitig andere 
Hirnnervenlähmungen oder zerebrale Herdsymptome vorhanden sind, 
so spricht dies für das Bestehen einer tertiär syphilitischen Gehirn- 


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Beiträge znr Kenntnis der juvenilen Paralyse usw. 


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Erkrankung; in Fällen, wo bloß absolute Pupillenstarre nachweisbar 
ist und aus den übrigen Symptomen keine Schlüsse in bezug auf die 
Differentialdiagnose gestellt werden können, kommt ihr keinerlei Be¬ 
deutung zu. Bei Erwachsenen wird man in derartigen Fällen immer 
an die Möglichkeit einer Lues cerebri denken müssen, und die einge¬ 
schlagene Therapie wird in den meisten Fällen unsere Vermutung 
bestätigen. Bei der juvenilen Paralyse kommt jedoch die absolute 
Pupillenstarre so häufig vor, daß dieser Erscheinung niemals der 
geringste differentialdiagnostische Wert für eine etwa bestehende Lues 
cerebri beizumessen ist. Wir haben eingangs erwähnt, daß die juvenile 
Paralyse nicht selten als Lues cerebri diagnostiziert wird, und es scheint, 
daß dieses eigenartige Verhalten der Pupillen zu dieser Fehldiagnose 
geführt hat. Auffallend ist jedoch die Tatsache, daß der paralytische 
Prozeß bei der juvenilen Paralyse bloß die Funktion der inneren 
Augenmuskeln zu schädigen scheint, während er die Funktion der 
äußeren intakt läßt, denn wir fanden in unseren Fällen, soweit sich 
das feststellen ließ, keine Ptosis in der Anamnese und auch keine 
jetzt bestehenden Störungen der äußeren Augenmuskulatur. Diese 
Feststellung hat natürlich nur bedingten Wert, da man berücksichti¬ 
gen muß, daß bei den meist erheblich dementen juvenilen Paralysen 
eine genaue Untersuchung z. B. auf Doppelbilder unmöglich ist. Bei 
den von Stöcker beobachteten 18 Fällen finden wir nur in einem Falle 
über diesen Punkt eine Angabe; es heißt dort: ,,In einem Falle war die 
Prüfung auf Konvergenzreaktion nicht möglich wegen des Strabismus 
divergens.“ Demnach scheinen bei den anderen Fällen irgendwelche 
Lähmungen der äußeren Augenmuskulatur nicht vorhanden gewesen zu 
sein; und in diesem Falle wird es sich wohl um konkomittierenden 
und nicht paralytischen Strabismus gehandelt haben, da Stöcker 
nichts über Lähmungen berichtet. Was die Optikusatrophie der Er¬ 
wachsenen anbetrifft, so ist sie meist ein Frühsymptom der Tabes 
resp. Taboparalyse. Bei der juvenilen Paralyse ist sie jedoch nicht 
mit Hinterstrang-, sondern mit Seitenstrangsymptomen (Spasmen) 
verbunden. Auch in unseren Fällen finden wir zweimal solche Augen¬ 
hintergrundstörungen vor. Die damit verbundene Mydriasis ist auch 
hier nicht etwa durch fortschreitende Atrophie des Sehnerven be¬ 
dingt, denn die beiden anderen Fälle ergaben auch Mydriasis, ohne 
daß irgend etwas an dem Augenhintergrund hätte nachgewiesen werden 


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Hassels, 


könfien. Worauf die Häufigkeit der Optikusatrophie gerade bei der 
juvenilen Pafalyse beruht, ist mangels einer genauen Kenntnis über 
den Entstehungsmechanismus, insbesondere den Angriffspunkt der 
Atrophie, nicht zu entscheiden. Die Untersuchungen Stargafds bei 
Optikusatrophie der Erwachsenen haben gelehrt, daß sich bei Optikus¬ 
atrophie im Optikus selbst entzündliche Veränderungen, z. B. Plasma¬ 
zelleninfiltrationen, vorfinden, yielleicht können uns genaue ana¬ 
tomische Untersuchungen der Sehbahnen bei der juvenilen Paralyse 
einmal bessere Aufschlüsse über die Entstehung der Sehnervenatrophie 
nicht bloß bei der juvenilen Paralyse, sondern auch der tabischen 
Optikusatrophie überhaupt geben. 


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Kleinere Mitteilungen. 

Provinzialheilanstalt Suttrop. — Infolge der bisherigen Be¬ 
zeichnung der Anstalt sind bei den Ämtern Warstein und Altenrüthen 
fortgesetzt dadurch Weiterungen entstanden, daß amtliche, die Ein¬ 
gesessenen der Anstalt, namentlich die zahlreich hier befindlichen Heeres¬ 
pflichtigen betreffende Schriftstücke an das Amt in Warstein gerichtet 
worden sind, während das Amt in Altenrüthen zuständig ist. Zur Be¬ 
seitigung dieser Unzuträglichkeiten hat der Herr Landeshauptmann der 
Provinz Westfalen bestimmt, daß die Provinzialheilanstalt Warstein 
zukünftig die Bezeichnung „Provinzialheilanstalt Suttrop, Post Warstein“ 
führt. 


Zur Erinnerung an Carl Pelman. — Seinem Freunde Heinrich 
Schule ist Carl Pelman rasch in die Ewigkeit gefolgt. Eine unter recht 
bedrohlichen Erscheinungen einsetzende Influenza-Pneumonie schien bei 
dem bisher leidlich Rüstigen noch einen günstigen Verlauf nehmen zu 
wollen, bis eine plötzlich eintretende Herzschwäche nach nicht acht¬ 
tägigem Krankenlager seinem Leben in der Frühe des 21. Dezember 
1916 ein rasches Ende setzte. Die jetzigen Ernährungsschwierigkeiten 
waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Es machte ihm zwar 
Freude, daß er an Körpergewicht ordentlich abnahm, daß er nach Jahr¬ 
zehnten endlich mal wieder unter 200 Pfund anlangte; doch fühlte er 
schon längere Zeit eine große Müdigkeit und zunehmende Schläfrigkeit; 
längeres Lesen, zeitlebens seine Lieblingsbeschäftigung, strengte ihn an, 
ebenso längere Unterhaltung. Auch hat er den Anfang 1916 erfolgten 
Tod seiner Schwester Marie, die seit Jahren den Haushalt mit ihm teilte, 
nicht überwinden können. Ihr Verlust und der Tod einer Reihe ihm 
besondersNahestehender machten auch, daß er sich vereinsamt vorkam, 
so daß seine Äußerung bei Schülcs Tode, daß er selbst nun auch bald 
Abschied nehmen würde, ihm von Herzen zu kommen schien. Sein Tod 
war denn auch ein leichter, der Schluß eines im ganzen harmonisch ab¬ 
gelaufenen Menschenlebens. 

Pelman, der am 28. Januar 1838 in Bonn geboren war, hat ein Alter 
von nahezu 79 Jahren erreicht. Als er die Leitung der Provinzial-Heil- 
anstalt in Bonn niederlegte, im Jahre 1904, stand er im 67. Lebensjahre. 
Die allgemeinen Daten seines Lebens sind damals mitgeteilt worden 
(Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie 1902, S. 919). Der Schritt aus dem ihm so 


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Kleinere Mitteilungen. 


lieben Anstaltsbetrieb in den Ruhestand ist ihm recht schwer geworden, 
wenn auch der Entschluß dazu schon seit Jahren in ihm gereift und an¬ 
deren mitgeteilt war. Pelman hatte vielfach gesehen, daß alte Beamten 
aus Mangel an Selbsterkenntnis oft nicht den richtigen Zeitpunkt er¬ 
fassen, den Abschied zu nehmen, und äußerte wohl auch mal die Be¬ 
fürchtung, daß man ihm den Wink geben könnte, vom Schauplatz seiner 
Tätigkeit abzutreten; — geglaubt hat er dies sicher selbst nicht. An Ver¬ 
suchen, seine erprobte Kraft noch länger der Provinz zu erhalten, hat 
es ja auch nicht gefehlt. Pelman war beim Abgang auch körperlich und 
geistig noch recht rüstig. Die Anstalt hätte er gut noch einige Jahre lei¬ 
ten können. Anders stand er aber der psychiatrischen Klinik gegenüber. 
Im vertrauten Kreise machte er kein Hehl daraus, daß er es für nötig 
hielt, die Professur für Psychiatrie einer jüngeren Kraft zu überlassen» 
die von der Pike auf gedient hätte und besser imstande wäre, den großen 
Fortschritten, welche das psychiatrische Wissen seit den letzten Jahr¬ 
zehnten gemacht, zu folgen und daran mitzuarbeiten. Dazu war vor allem 
der Bau einer psychiatrischen Klinik nötig, und solchen Aufgaben wußte 
sich Pelman nicht gewachsen. Er hat sein Wissen und Können nie über¬ 
schätzt. Zur Übernahme der Professur in Bonn 1889, als Nachfolger von 
Werner Nasse, hatte er sich nur unter großem Widerstreben und auf 
hartnäckiges Drängen von Friedrich Althoff bereden lassen. Er wäre 
lieber in Grafenberg geblieben und hätte die nach seinem Geschmack 
eingerichtete Anstalt bis an sein Lebensende geleitet, zumal er im nahen 
Düsseldorf den angenehmsten Verkehr, namentlich in Künstlerkreisen, 
hatte und seine konsultative Praxis eine ausgedehnte und entsprechend 
der Bevölkerung eine recht einträgliche war. Erst nach mehrtägigen Ver¬ 
handlungen in Berlin gab Pelman damals nach und schilderte später sehr 
lebendig, wie Althoff ihn schließlich in einen großen Saal des Ministeriums 
über Mittag eingesperrt und so durch Hunger mürbe gemacht habe! Man' 
darf wohl ruhig sagen, daß Pelman am Abhalten der Klinik nie den rechten 
Geschmack fand. Er war selbst ein guter Psychologe, hatte volles Ver¬ 
ständnis für die Psyche des Menschen in gesunden und kranken Tagen, 
Verstandes meisterhaft, wahrheitsgetreu und plastisch zu schildern, dabei 
war er ein guter Redner, den nichts aus dem Gleichgewicht bringen konnte, 
der es auch verstand, seine reiche Lebenserfahrung und namentlich seine 
große Literaturkenntnis geschickt in seinem Unterricht zur Geltung zu 
bringen für einen guten Lehrer der medizinischen Jugend hat er sich 
nie gehalten. Ich glaube ihm nicht unrecht zu tun, wenn ich sage, daß 
es ihm in den letzten Jahren lästig war, die Klinik abzuhalten. Unan¬ 
genehm war ihm auch das Examinieren, namentlich als er gezwungen 
war, vorübergehend dabei innere Medizin zu prüfen. Vor dem ersten 
Examen erfaßte ihn damals im Hinblick auf sein eigenes Wissen ein ge¬ 
wisses Fieber, so daß er die Vermutung aussprach, die Examinanden 
würden Mitleid mit dem Examinator haben, wenn sie wüßten, welch große 


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Kleiner« Mitteilungen. 


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Angst er selbst hätte! — Anders war es mit seinen Vorlesungen für alle 
Fakultäten, die er einmal wöchentlich abhielt. Hier war er in seinem Fahr¬ 
wasser, hier konnte er aus seinem reichen Allgemeinwissen schöpfen, so 
viel er wollte, hier durfte er Kritik üben an Hoch und Niedrig, hier konnte 
er vor allem seinen Humor sprudeln lassen. .Seine Kritik war übrigens 
nie bösartig, verletzend. Während es Pelman auch nicht schwer wurde, 
die Besucher seiner Klinik bis zum Semesterschluß zusammenzuhalten, 
wurde es uns immer schwieriger, für das Publikum, das längere Zeit wohl 
das meist besuchte Kolleg der Bonner Universität war, die nötigen Räume 
in der Anstalt zu finden. Wenn dann zum Schluß dreihundert und mehr 
Hörer in der üblichen Weise dem beliebten Lehrer ihren Beifall durch 
Trampeln zu erkennen gaben, war für uns in den unteren Räumen Ar¬ 
beitenden die Befürchtung nicht unberechtigt, daß die Decke mal nach¬ 
geben würde. War es doch nicht unbekannt, daß beim Bau der Anstalt 
in den sogenannten Gründerjahren die Bauleiter erst in zweiter Linie 
auf Solidität und Festigkeit der Bauten gesehen hatten. Da es übrigens 
in heißen Sommertagen wiederholt bei den Zuhörern zu Schwäche- resp. 
Ohnmachtsanfällen gekommen war, wurde bei den Vorlesungen eine 
Sanitätswache in der Nähe bereitgestellt. — 

Wie seine Studenten, so wußte Pelman überhaupt die Menschen 
zu nehmen; es war ihm ein leichtes, mit Hoch und Niedrig, Arm und 
Reich, mit allen Berufsarten zu verkehren und zu verhandeln. An Ge¬ 
legenheit dazu hat es ihm nie gefehlt. Seine Stellung in Grafenberg 
und Bonn verschaffte ihm Bekanntschaften in reichem Maße. Grafenberg 
war damals die einzige größere Irrenanstalt am Niederrhein; Pelman s 
Ruf sorgte dafür, daß auch die besseren Klassen immer voll besetzt waren. 
War er doch lange Zeit der meistbeschäftigte Psychiater der Rheinprovinz. 
Auch nach außen wurde sein Rat bis in allerhöchste Kreisein Anspruch 
genommen. Und dies nicht nur in rein psychiatrischen Angelegenheiten. 
Pelman war ungemein praktisch veranlagt und ein ausgezeichneter Or¬ 
ganisator. Als solchen suchte man ihn auch nach einer der Hansestädte 
als Verwaltungsdirektor der Krankenanstalten zu ziehen.- Das wußte 
auch Friedrich Althoff, mit dem er von seiner Bonner Studienzeit her 
bekannt und befreundet war, als er ihn 1871 von Siegburg fortholte 
und ihm die Irrenanstalt Stephansfeld anvertraute. Die Überleitung 
der großen elsässischen Anstalt aus französischen in deutsche Verhält¬ 
nisse hat Pelman viel Arbeit gekostet, aber auch viel Freude bereitet. 
Althoff hat damals Pelmans Rat und Hilfe auch in anderen, nicht psy¬ 
chiatrischen Fragen öfters in Anspruch genommen, und ihre häufigen Zu¬ 
sammenkünfte im Hotel Ville de Paris in Straßburg waren nicht nur kuli¬ 
narischen Zwecken gewidmet. Das Vertrauensverhältnis zwischen beiden 
Männern hat denn auch bis zu Althoffs Tod fortbestanden, sie besuchten 
wohl nie Berlin oder Bonn, ohne Gelegenheit gefunden zu haben, sich 
wiederzusehen. — 


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Kleinere Mitteilungen. 


Daß Pelman nach Erledigung seiner Aufgabe in Stephansfeld 1876 
die Leitung der Anstalt Düsseldorf-Grafenberg übernahm, lag einmal in 
seiner Liebe zur Heimat und Heimatprovinz — er war mit Leib und Seele 
Rheinländer —, dann aber auch reizte es ihn, die noch im Bau begriffene 
rheinische Anstalt ganz naph seinem Geschmack einzurichten. Das ist 
ihm denn auch reichlich gelungen. Daß er dabei nicht alle seine Wün¬ 
sche und Pläne erfüllt sehen würde, wußte er im voraus. Dankbar hat 
übrigens Pelman später immer anerkannt, daß er bei seiner Vorgesetzten 
Behörde doch meistens Verständnis und Entgegenkommen für seine 
Absichten und Pläne gefunden hätte. Er wußte freilich auch seine Vor¬ 
gesetzte Behörde richtig zu nehmen! 

Die Liebe zum Rhein war es auch in erster Linie, die Pelman weitere 
Berufungen und ehrenvolle Anerbieten nach außen ablehnen ließ. 
Am schwersten scheint es ihm geworden zu sein, einen Ruf nach Süd¬ 
amerika, den er als junger Psychiater bereits erhielt, nicht Folge zu leisten. 
Er hätte dort seine vielseitigen Sprachkenntnisse verwerten und erweitern 
können. Denn er war ein Polyglotte; er beherrschte mündlich und schrift¬ 
lich die italienische, französische und englische Sprache, war in der Lite¬ 
ratur dieser Länder wie in der deutschen bis auf die Neuzeit zu Hause. 
Er besaß eine große Bibliothek, die er gern anderen zugänglich machte. 
Auch im Lateinischen war er noch recht bewandert. In der Unterhaltung 
liebte er es, seine Literaturkenntnis zum besten zu geben. Sich mit 
Gleichgebildeten zu unterhalten, war ihm ein Hochgenuß. Mit zu den 
schönsten Tagen seines Lebens rechnete er daher eine Woche, die es ihm 
vor Jahren vergönnt gewesen war im nahen Verkehr mit einer literarisch 
hochgebildeten und selbst schaffenden rheinischen Fürstentochter zu 
verleben. Unter dem blauen Himmel des Südens und unter blühenden 
Magnolien wandernd und sitzend maßen beide stundenlang ihre Lite¬ 
raturkenntnisse, und Pelman konnte nachher berichten, wie er in mancher 
Hinsicht der Fürstin übergewesen war. Dieser Umstand scheint übrigens 
der Kranken — Pelman war in erster Linie als Arzt hinzugerufen — das 
richtige Vertrauen zu Pelman gegeben und somit ihre Heilung in die 
richtigen Wege geleitet zu haben. Der Eindruck, den er hinterließ, war 
ein derartiger, daß die Genesene später das Verlangen hatte, ihn ihrer 
königlichen Schwester vorzustellen. Der Aufforderung, im nahe gelegenen 
rheinischen Nizza zur Audienz zu erscheinen, wollte Pelman erst nicht 
Folge leisten; der Männerstolz vor Königsthronen bäumte sich in ihm. 
Schließlich beruhigte er diesen damit, daß er selbst Tag und Stunde 
seines Besuches bestimmte! Er hat es denn auch nie bereut, einen Nach¬ 
mittag mit dem feingebildeten Schwesternpaar verlebt zu haben. — 

Pelman mußte Eindruck machen; schon sein Äußeres hatte etwas 
Imponierendes. Der mächtige Schädel mit der hohen Stirn ruhte auf 
einem massiven Körper; der lange weiße Bart gab ihm etwas Patriar¬ 
chalisches. Prächtig stand ihm der akademische Senatorenmantel, in 


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Kleinere Mitteilungen. 


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dem er sich übrigens auch für die Bonner Anstalt malen ließ. Gelegent¬ 
lich eines längeren Aufenthaltes in Neapel verfolgte ihn auf der Via'Ca- 
racciolo tagelang ein Italiener, der dann bei Pelmans Frage sich als scul- 
tore vorstellte und den bello Tedesco bat, ihn aushauen zu dürfen, es 
geschähe nur der Kunst wegen. Pelman konnte nicht nein sagen. Die 
Büste wurde wirklich gut, doch kam Pelman die Kunst auf 1200 Lire 
zu stehen! —; 

Zu seinem Äußeren paßte seine olympische Ruhe, die ich übrigens 
schon vor 35 Jahren an ihm bewunderte; schon damals machte er einen 
völlig abgeklärten Eindruck. Ungeduldig sah man ihn nie, nervös konnte 
er nicht werden. Willig hörte er die monotonsten Lamentationen, die 
langweiligsten Expektorationen an. Heftig konnte er nicht werden. 
Auch hatte er ein goldenes Herz. Niemand klopfte wohl vergebens bei 
ihm an. Dabei gaben ihm seine ausgedehnten Verbindungen reichlich 
Gelegenheit, Anderen zu helfen. Er war auch in materieller Hinsicht 
nicht geizig. Auch konnte er es im Betteln mit dem besten Bettelmönch 
aufnehmen; milde Beiträge für seine Anstalt fielen ihm in Menge und 
in jeder Art zu. Auch manche Kriminellen hat er wieder auf die Beine 
gebracht. Noch 14 Tage bevor er sich legte, korrespondierte er mit einem 
berühmten Kriminalisten in Berlin in Sachen eines Mannes, der vor Jahren 
seine Geliebte ermordet hatte, aber noch in Strafvollzug war und die Ab¬ 
sicht hatte, sich jetzt durch den Krieg zu rehabilitieren. 

Seine ganze Persönlichkeit war wie geschaffen zum praktischen 
Irrenarzt und Anstaltsleiter. Die Morgenrunde mit ihm zu machen war 
ein Genuß. Er nahm jeden Kranken individuell, bot jedem sein Ohr. 
Die Kranken vergötterten ihn teilweise. Er war für sie „der alte Kaiser“ 
oder der Kaiser Barbarossa, die Paralytiker überhäuften ihn mit Gold 
und Edelsteinen. Auch den Portierposten an einem Brothelhouse, das 
eine Prostituierte für einige tausend Mädchen in London-Ostend erbauen 
wollte, mußte er über sich ergehen lassen. Er erreichte auch meist bei 
den Kranken, was er wollte. Doch nahm er es auch nicht übel, wenn 
es ihm einmal nicht gelang, seiner Persönlichkeit zum Siege zu verhelfen. 
So erzählte er mit gutem Humor, wie er vor Jahren im Winterschnee 
über die Alpen reiste, um ein mittelalterliches Fräulein im Salonwagen 
aus einem Hotel in Oberitalien nach einem deutschen Krankenhaus über¬ 
zuführen. Es gelang ihm nicht, dagegen folgte die Widerspenstige nach 
einigen Tagen dem Hotelkellner in einem Coupö niederer Güte nach hier. 

Seinen Untergebenen und Mitarbeitern war er bis zuletzt ein an¬ 
genehmer Chef. Wie er ein Frühaufsteher war — er erschien im Sommer 
und Winter morgens 7% Uhr in der Anstalt —, und wie er jede Arbeit 
nach Möglichkeit sofort erledigte, so verlangte er auch von seinen Ärzten 
Pünktlichkeit im Dienst und volle Hingabe an den einmal gewählten Be¬ 
ruf. Dabei kehlte er eigentlich den Vorgesetzten niemals heraus; mußte 
er mal tadeln, so geschah es in schonender, väterlicher Weise. Hatte man 


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Kleinere Mttteikmgeo. 


ein Anliegen, so war es das Gegebene, zuerst zu ihm zu gehen, denn er 
nahm auch persönlichen Anteil an dem Ergehen seiner Mitarbeiter. I n 
Krankheitsfällen war es ihm Bedürfnis, täglich nach einem zu sehen, 
ein Erfrischungsmittel zu bringen und dgl. — 

Er pflegte auch sonst die Geselligkeit. Bei seinen Einladungen zum 
Essen liebte er es, besondere Leckerbissen, meist exotischer Art, vor¬ 
zuführen. Er war ein Feinschmecker, Gourmet, nicht Gourmand, auf 
die Menge gab er nichts. Es war bekannt, daß er die Zubereitung des 
Mahles selbst überwachte, daß er Seite und Paragraphen des Kochbuches 
vorschrieb. Er besaß auch eine große Sammlung von Kochbüchern; 
gute Freunde, die seine Liebhaberei kannten, beschenkten ihn damit. 
Gelegentlich teilte er mir mit, daß er das Hundert solcher Bücher jetzt 
voll habe. Gern sprach er auch über seine Erlebnisse kulinarischer Art 
in fremden Ländern. Er vertrat den richtigen Standpunkt, daß man nur 
dann ein Volk richtig kennt, wenn man weiß, wie es sich nährt. Daß Pel¬ 
man auch ein guter Weinkenner war, brauche ich nicht zu sagen; er war 
geborener Rheinländer und hatte die nötige Zunge. Aber auch im Trinken 
war Pelman nicht unmäßig. Daß man ihn gelegentlich in einer Bierzeitung, 
nicht in Bonn, als den alten Zecher Nestor bezeichnet hatte, hat ihn 
lange geärgert. Verließ man dann zu später Stunde das gastliche Haus, 
so konnte man im Zweifel sein, ob die materiellen oder die geistigen Ge¬ 
nüsse des Abends höher zu werten seien. Denn nach dem eigentlichen 
Mahl, beim Glase Bowle, Kardinal oder dgl., war es Pelman, der am run¬ 
den Tische im bequemen Lehnsessel sitzend die ganze Tafelrunde unter¬ 
hielt. Da hörte man immer wieder gern, wie es im alten Bonn zur Zeit, 
als die Weingärten noch an den Toren der Stadt begannen, aussah und 
zuging, da erfuhr man, wie der erste Ausschank von Bier die Stadtbe¬ 
wohner in zwei feindliche Lager schied, wie Pelmans Vater wochenlang 
den Sohn wie Luft behandelte, weil er einen Abend in einer Bierkneipe 
zugebracht hatte, und dgl. Dann gab Pelman seine Erlebnisse in Sieg¬ 
burg, Stephansfeld, Grafenberg zum besten, schilderte in drastischer 
Weise, wie eigentlich die jungen Psychiater in Siegburg die Stadtgewalt 
in Händen hatten, wenn sie auch nicht mal über einen eigenen Haus¬ 
schlüssel verfügten und oft genug beim nächtlichen Nachhausekommen 
beim Übersteigen des Anstaltstores an den Stacheln hängen blieben, 
so daß z. B. ein später recht berühmt gewordener Berliner Kollege am 
anderen Morgen in Pelmans Beinkleidern dem hohen Chef seine Auf¬ 
wartung machen mußte. Denn Siegburg war in damaliger Zeit das Mekka 
der Psychiatrie. In Stephansfeld hat Pelman offenbar sehr glückliche 
Tage verlebt, namentlich im Beisammensein mit Krafft-Ebing. — War 
Pelman sehr animiert, so erzählte er auch aus seiner Manöverzeit ä la 
Hackländer oder Kossak; dann erweckte er auch Zweifel in einem, ob 
die Historiographen nicht unrecht tun, wenn sie die Erstürmung der Düp- 
peler Schanzen nur allein Helmut v. Moltke, Papa Wrangel und dem Prin- 


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jAN 



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zen Friedrich Karl als Plus buchen. Dann kam man aus dem Lachen 
nicht heraus. Pelman blieb bei seinen Mitteilungen aber immer diskret, 
brauchte nie ein verletzendes Wort. Er war ein Feind jeden Klatsches 
und namentlich jeder Zote. 

Auch wäre das Bild von Pelman nicht wahrheitsgetreu, wollte man 
ihn beurteilen allein nach dem, wie er sich gab in der Öffentlichkeit und 
in größerem Kreise, wo er nicht merken ließ, welch reiches Gemütsleben 
in ihm steckte, wie er sich für Natur und Kunst begeistern konnte. Traf 
man ihn allein und bei Stimmung, so konnte er geradezu schwärmen in 
Erinnerungsbildern, dann fühlte man, daß er neben seinem Schönheits¬ 
sinn auch ein recht empfängliches Herz hatte; es hat offenbar Zeiten 
und Gegenden gegeben, wo er sich in eine Art Schönheitstrunkenheit 
versetzt sah. So hatte es ihm in jungen Jahren Schottland angetan, später 
der Süden, Florenz, Pisa, Capri, Sorrent, namentlich Taormina. Bei 
der Kunst war es ebenso. Wie konnte er sich bis zuletzt noch begeistern 
für die Stanzen Raffaels und seine Loggien! Den Eindruck, den vor 50 
Jahren die Peterskirche, San Paolo fuori le mure u. a. auf ihn gemacht 
hatten, merkte man jetzt noch in ihm. Bei solchen Schilderungen schlug 
übrigens auch eine religiöse Saite in ihm an. Zustatten kam dabei Pelman 
sein vorzügliches Gedächtnis. In Geschichte, Kunst, Literatur war er 
überall zu Hause. Namen von Kranken zu behalten wurde ihm schwerer. 
Auch Sachen, die ihn weniger interessierten, vergaß er leicht. So war 
es auffallend und sprach zugleich für seine Stellung zu Orden und Ehren¬ 
zeichen, daß er vor nicht langer Zeit mich bat, Nachforschungen anzu¬ 
stellen, ob es wirklich wahr sei, daß man in einer gewissen rheinischen 
Großstadt einer Straße seinen Namen gegeben hatte. Das war wirklich 
der Fall und bereits vor über 20 Jahren geschehen. Daß man ihn seiner¬ 
zeit nicht um Erlaubnis gebeten haben soll, ist kaum zu glauben. 

Pelman hatte nach Abgabe der Professur und Anstaltsleitung seine 
Tätigkeit im Medizinalkollegium der Rheinprovinz auf Bitten seines Nach¬ 
folgers noch einige Zeit beibehalten, bis ihm das Beiwohnen längerer 
Gerichtssitzungen zu schwer wurde; dann gab er das Amt an Thomsen 
ab, um auch diesen noch zu überleben. Den Vorsitz im Psychiatrischen 
Verein der Rheinprovinz hat er auf unser Drängen bis zu seinem Tode 
beibehalten. Er hatte den Verein 1867 mitgegründet, seit 1889, seit dem 
Tode von Werner Nasse, führte er den Vorsitz. Er verstand es prächtig, 
eine Versammlung zu leiten; mochten auch die Wogen der Debatte noch 
so hoch schlagen, die Ruhe verlor er nie, und meisterhaft verstand er es, 
bei den peinlichsten Situationen einen befriedigenden Ausweg zu linden. 
Zur allseitigen Freude konnte er auch noch der so wohlgelungenen Kriegs¬ 
sitzung im Juni 1916 präsidieren. Der Verein wird dem alten Vorsitzen¬ 
den noch lange nachtrauern. 

Pelman hatte keine Feinde. Die Schar seiner Verehrer und nament¬ 
lich Verehrerinnen war groß. Wie es ihm an Orden und Ehrenzeichen 


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nicht gefehlt hat, so überschütteten ihn seine Freunde bis in die letzten 
Lebenstage mit Zeichen der Liebe. Oft wurde es ihm freilich lästig. So 
mußte er z. B. darüber klagen, daß eine Verehrerin ihn hoch zu Roß mit 
seinem Morgentrunk vom Balkon ins Zimmer trieb, daß eine andere 
ihm auch in fernen Hotels Blumen auf das Nachttischchen zu zaubern 
wußte. Daß eine andere ihn, noch in späten Jahren, zu einem trauten 
Stelldichein zur Mitternachtsmette in eine russische Kapelle einlud, hat 
ihn höchlichst amüsiert, Gebrauch hat er davon nicht gemacht. Nicht 
verraten habe ich ihm, daß eine weitere Freundin mir Mitteilung machte, 
sobald die Harnanalyse, die sie in fremden Hotels mit Hilfe des Zimmer¬ 
mädchens fertig brachte, ungünstig ausgefallen war. 

Pelman ist unbeweibt geblieben. Er stammte aus kleinbürgerlichem 
Kreise und hatte zahlreiche Geschwister, die er alle überlebt hat. Er 
hatte das Glück, seine Mutter bis zu ihrem 98. Lebensjahre in voller gei¬ 
stiger Frische zu behalten. Rührend war es anzusehen, wenn der große 
Mann der kleinen Frau — sie war halb so lang und nicht ein viertel so 
schwer als er — im wohlgepflegten Garten seine Schätze zeigte; denn 
er war auch ein großer Gartenkünstler. 

Carl Pelman ist auf dem stimmungsvollen Alten Friedhof in Bonn 
beigesetzt worden. Die Ruhestätte so mancher berühmter Menschen 
lockt alljährlich eine große Anzahl Besucher dahin — auch Pelmans Grab 
wird noch längere Zeit das Ziel vieler sein, die nicht aus Neugier, sondern 
aus anderen Gefühlen kommen; denn hilfreich war der jetzt hier Ruhende, 
edel und gut. 

Pelman hat die Ruhe seines Alters dazu benutzt, die Vorlesungen, 
die er während seiner akademischen Tätigkeit publice gehalten hat, in 
erweiterter Form für ein größeres Publikum bei Friedrich Cohen in Bonn 
herauszugeben. Diese „Psychischen Grenzzustände“ haben auch, wie zu 
erwarten war und wie sie verdienen, viel Anklang gefunden, so daß be¬ 
reits mehrere Auflagen nötig wurden; es sind wahre Kabinettstücke 
darunter. Sie geben Zeugnis von dem großen Wissen des Autors auf allen 
möglichen Gebieten, namentlich Geschichte und Literatur. Sie geben 
auch Zeugnis von der eleganten Schreibweise Pelmans. So ist seinen aka¬ 
demischen Vorlesungen ein bleibender Wert gesichert. 

Auch die „Erinnerungen eines alten Irrenarztes“, ebenfalls bei 
Friedrich Cohen erschienen, werden ihren Wert behalten, namentlich 
für alle, die sich mit der Geschichte der Psychiatrie beschäftigen. Es 
hat übrigens lange gedauert, ehe Pelman sich zur Niederschrift entschlos¬ 
sen hat. Von vielen Seiten ist er dazu gedrängt worden. Schließlich 
hat wohl Hans Laekrs Wunsch in dieser Zeitschrift (Band 67, S. 491) 
gelegentlich seines 50jährigen Doktorjubiläums das Eis gebrochen. Wer 
die Erinnerungen liest, wird zugeben, daß es ein Verlust gewesen wäre, 
wenn Pelman sie mit ins Grab genommen hätte. Manche seiner Freunde 
bedauern übrigens, daß er nicht mehr von seinen Erlebnissen uns mit- 


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geteilt hat. Vermutlich hat seine rigorose Ansicht in betreff Diskretion 
ihn abgehalten. 

Im übrigen war Pelman zeitlebens sehr viel literarisch tätig. Er 
war bis zuletzt unter den Herausgebern dieser Zeitschrift, jahrelang der 
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, damals 
herausgegeben von Hermann Ebbinghaus und Arthur König. Für die 
Real-Enzyklopädie der gesamten Heilkunde {Albert Eulenburg) und 
die Deutsche Klinik am Eingänge des XX. Jahrhunderts (o. Leyden und 
Klemperer) hat er verschiedene Artikel geschrieben. Die Generalregister 
der grünen Hefte zeugen von seiner fleißigen Mitarbeit. Unzählige Re¬ 
ferate stammen von ihm, auch in der Tagespresse nahm er oft zu aktu¬ 
ellen Fragen das Wort. Eine einigermaßen vollständige Aufzählung von 
Pelmans Arbeiten würde hier zu weit führen, doch gebe ich hier noch eine 
kleine Zusammenstellung von einem seiner Freunde, die zwar nur eine 
Reihe von Jahren umfaßt und auch nicht den Anspruch macht, voll¬ 
ständig zu sein, die aber doch zeigt, wie sehr man sich um Pelmans 
Mitarbeit bemühte und wie vielseitig er auch literarisch tätig war. 

Gutachten behufs Aufhebung einer Entmündigung. Irrenfreund (Bro- 
sius), 39. Jahrg., Nr. 5 und 6. 1897. 

Über die Entwickelung der Psychiatrie. Prag. Med. Wochenschrift 
XXIII. 44—45. 1898. 

Gutachten über den Gemütszustand der Margarethe E. Irrenfreund, 
39. Jahrg., Nr. 9—10. 1898. 

Uber die Einrichtung von Sanatorien für Nervenkranke. Zentralbl. f. 

allg. Gesundheitspflege, 19. Bd., S. 441. 1900. 

Dasselbe: Zeitschrift für Krankenpflege, 1901, Nr. 1. 

Uber die Notwendigkeit der Gründung von Trinkerheilstätten. Alko¬ 
holismus, II. Bd., S. I. 1901. 

Material zu § 1569 B. G. B. Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift Nr. 411. 
S. 409. 1902. 

Uber verminderte Zurechnungsfähigkeit. 75. Jahresbericht der Rhein. 

Westfäl. Gefängnisgesellschaft. 1902. 

Strafrecht und verminderte Zurechnungsfähigkeit. Polit.-Anthropol. 
Revue. April 1903. 

Über Fanatismus, Geistesstörung und Verbrechen. Deutsche Revue, 
XXXI, S. 160. 1906. 

Zäsarenwahnsinn. Deutsche Revue, XXXIII, S. 86. 1907. 

Swedenborg — ein Verrückter? Psychische Studien, Heft 5. 1912. 

_ Umpfenbach-Bonn. 

Direktor Dr. Leopold Oster- Konstanz f- — Am 13. Januar 
1917 verschied nach eben überstandener schwerer Erkrankung (einer 
Lungenentzündung nach Influenza) plötzlich an einem Anfalle von Herz¬ 
schwäche der erste Direktor der neuen Heil- und Pflegeanstalt bei Kon¬ 
stanz, Medizinalrat Dr. Oster im Alter von 53 Jahren. 


Zeitschrift für Psychiatrie. LXXITI. fl. 


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Mit ihm sind innerhalb wenig mehr als zwei Jahren drei badiscl 
Anstaltsdirektoren ins Grab gesunken: Franz Fischer in Pforzheir 
Heinrich Schule in Illenau und nun der jüngste von uns, Leopold Oste 
der Direktor zugleich der jüngsten der badischen Anstalten. Alle dr 
verstorbenen Direktoren sind hervorgegangen aus der Illenauer Psj 
chiaterschule, als deren Lehrmeister mit den Begründern Roller un 
Hergt vor allem Heinrich Schule selbst zu nennen ist; Franz Fischer un 
Oster bezeichneten sich mit Stolz als seine Schüler, und Oster hat übe 
25 Jahre unter seiner Leitung gewirkt. 

Leopold Oster ist geboren am 31. Oktober 1863 in Rastat 
als Sohn eines gesuchten praktischen Arztes. Während seii 
Vater früh starb, überlebt die Mutter, jetzt eine über 82 jäh 
rige rüstige und ehrwürdige Matrone, nun ihren jüngsten Sohn 
Nach Vollendung des medizinischen Studiums in Straßburg, Heidelberg 
und Freiburg trat Oster bald nach dem Examen, am 9. Juli 1887 in Illenau 
als Hilfsarzt ein, wo damals der erste Nachfolger Rollers, Geh. Rat Dr. 
Hergt, das Zepter führte, während Geh. Hofrat Dr. Schäle noch zweiter 
Arzt war. Unter Hergt, diesem weisen und milden Herrscher, diesem 
großen psychiatrischen Praktiker und Therapeuten, der so ganz in seinem 
Berufe aufging, daß er weder tägliche Erholung noch Jahresurlaub kannte 
und zu jeder Tages- und Nachtstunde für seine Kranken erreichbar war, 
machte Oster seine ersten psychiatrischen Studien; er hätte keinen besse¬ 
ren Lehrer finden können als diesen Meister in der klinischen Unter¬ 
suchung, Beobachtung und Behandlung. Die feinsinnige, eindringliche 
und doch schonende Art der Erforschung der menschlichen Seele und 
ihrer Irrgänge, die alle Möglichkeiten erschöpfende und durchdenkende 
Feststellung des Heilplans, das liebevolle Sichversenken und Mitgehen 
mit dem Kranken durch seinen Leidensgang und damit auch zugleich 
die Macht der seelischen Einwirkung war Hergis eigentliche Domäne. 
Unter seiner Hand wurde manche Untersuchungs- und Behandlungs¬ 
methode ausgebildet und geübt, lange bevor sie in der Literatur beschrie¬ 
ben wurde; ich nenne hier nur die Kunst der Wachsuggestion und die 
Methode des Abreagierens, womit die Illenauer Ärzte von jeher ver¬ 
traut waren. Auch der Nachfolger Hergts, der dritte Direktor Illenaus, 
Heinrich Schäle hat diese Größe der Hergtschen menschlichen und ärzt¬ 
lichen Persönlichkeit stets voll auf sich wirken lassen und sie ehenso an¬ 
erkannt wie die wiederum anders geartete machtvolle Natur Rollers, 
des Erbauers und Begründers von Illenau, des großen Organisators des 
ganzen badischen Irrenwesens. 

Oster hat diesen Zusammenhang mit Hergt, dem er sich innerlich 
verwandt fühlen mochte, gern betont und hat ihm ein dankbares An¬ 
denken bewahrt wie nicht minder seinem zweiten großen klinischen 
Lehrmeister Schäle, der ira Jahre 1890 nach Hergts Tod als genius rector 
unter uns trat. In solcher Schule reifte Oster zum tüchtigen Psychiater 


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und erfahrenen Abteilungsarzte heran. Eine ausgesprochene Befähigung 
zu diesem Berufe war ihm unverkennbar eigen. Er vereinigte in sich 
unbedingte ärztliche Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit bis ins kleinste 
mit einem förmlichen Drang, sich bei jedem einzelnen Kranken in alle 
Beziehungen und Seiten seiner Gesamtpersönlichkeit zu vertiefen, sich 
die ursächlichen Zusammenhänge der krankhaften Veränderung auf 
Grund eingehender und umfassender Erforschung aller Faktoren klar zu 
machen und darauf seine ärztlichen Anordnungen und die psychische 
Beeinflussung aufzubauen. Er hielt sich dabei frei von theoretischen 
oder spekulativen Deduktionen, blieb in allem auf dem Boden 
der Wirklichkeit und war nicht zum wenigsten darum ein stets verlä߬ 
licher Arzt, dem die Fürsorge für seine Kranken zudem als innerste Her¬ 
zenssache galt. Dazu kam ein offener natürlicher Sinn für das Praktische 
und die Überzeugung von der Notwendigkeit der realen Grundlagen 
auch für alle höheren menschlichen Ziele. Ein wirklich liebevolles Ein- 
und Aufgehen in der Verfolgung dieser Beziehungen adelte sein Streben. 
Diese Eigenschaften in ihrer gesunden Vereinigung kamen Oster sehr 
zustatten nicht nur in der sorgfältigen Einzelbehandlung, sondern auch 
in der Gesamtführung seiner Abteilungen, die stets in peinlicher Ord¬ 
nung waren — er sah alles —, wie auch in der Ausbildung und Anlei¬ 
tung des Personals, das ihm in gleichem Maße Belehrung und Unter¬ 
stützung verdankte. 

Die Illenauer Lehrzeit Osters waren schöne Jahre gemeinsamen 
Strebens mit Gleichgesinnten, von denen ich an älteren die Namen Franz 
Fischer, Stark, Seldner, Länderer, Dietz, die alle bereits dahingeschieden 
sind, und von Lebenden außer mir selbst noch Colla, Horstmann, Thoma 
und Hegar nenne. Es waren schöne Jahre in der von einer gottbegnadeten 
Natur umgebenen Illenau, Jahre ernster aber freudig getaner ärztlicher 
Arbeit unter der begeisternden Führung Heinrich Schüles. Den Kranken, 
ihrer klinischen Erforschung und Behandlung, der sorgfältigen Nieder¬ 
legung der Beobachtungen in den Krankengeschichten, der wissenschaft¬ 
lichen Besprechung und Bearbeitung des Materials in den gemeinsamen 
Referaten und Konferenzen galt unser ganzes Streben. Für die Kranken 
hatte man immer Zeit, viel Zeit. Stundenlang ließ sich der Arzt auf jeder 
seiner Abteilungen nieder, setzte sich ans Bett oder in den Tagsaal unter 
seine Kranken, am liebsten und längsten bei den Unruhigen; man be¬ 
lauschte jede Einzelheit, machte frisch seine Aufzeichnungen, kurz be¬ 
schäftigte sich aufs eingehendste mit jedem einzelnen. Das gab dem 
Arzte, weil er den Kranken und sie ihm innerlich näher und näher traten, 
ihn als Vertrauten betrachteten, auch die Macht der Einwirkung auf 
Willen und Gemüt und erleichterte aufs natürlichste, weil beiden kaum 
bewußt, die Leitung des Pflegebefohlenen. Es führte aber auch den Arzt 
immer wieder zu eigenem Nachdenken über die Besonderheit des ein¬ 
zelnen Kranken, wobei jeder Fall ein „interessanter“ blieb, und regte 


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Kleinere Mitteilungen. 


ihn infolge seiner innerlichen Beteiligung zu immer neuen Heilbestrebun¬ 
gen an. So verstanden wir die klinische Psychiatrie in der Ausübung. 

Nach getaner Arbeit kam aber auch gemütvolle Geselligkeit bei uns 
zu ihrem Rechte unter dem Zeichen befreienden Humors, worin gerade 
Oster ein treffsicherer, doch nie verletzender Schütze war, und echter 
Männerfreundschaft, die fürs Leben galt und alle Proben bestand. 

Vom jüngsten Hilfsarzte rückte Oster im Laufe der Jahre zum 
selbständigen Abteilungsarzte zunächst der Pflegeabteilung, dann der 
Heilabteilung der Männer und schließlich der Heilabteilung der Frauen 
auf, wurde etatmäßiger Anstaltsarzt, Oberarzt, Medizinalrat und war 
als zweiter Arzt lange Jahre der Vertreter des Direktors, womit bei den 
besonderen Verhältnissen der Illenau eine erhöhte Geschäftslast und Ver¬ 
antwortlichkeit einhergeht. An vielen wichtigen Vorlagen an die Re¬ 
gierung war er beteiligt, wobei ihn sowohl eingehende Sachkenntnis und 
reiche Erfahrung wie auch eine ausgesprochene Fühlung für das jeweils 
Erreichbare auszeichnete. Eine andere wichtige Seite des Osterschen 
Wirkens ist seine Sachverständigentätigkeit. Es wird wenig Ärzte geben, 
die eine solche Fülle von großenteils sehr schwierigen gerichtlichen Gut¬ 
achten bewältigt haben. Auch hierin kamen seine Vorzüge: Sachlich¬ 
keit, Gründlichkeit, allseitige Beleuchtung und Durchdringung des Stoffs, 
ruhiges objektives Urteil voll zur Geltung. 

Literarisch ist Oster nicht hervorgetreten; das war ein Betätigungs¬ 
zweig, der ihm nicht lag. Er widmete sich lieber seinen Abteilungen. 
Es ist aber schade, daß so sein reiches Wissen, sein reifes Urteil und seine 
praktische Erfahrung sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht wie in allen 
psychiatrischen Tagesfragen für weitere Kreise verloren ging. Wer sich 
mit ihm darüber aussprechen konnte, der ging nie ohne Gewinn von ihm. 

Im Juli 1912 konnte Oster sein 25jähriges Dienstjubiläum als An¬ 
staltsarzt in Illenau feiern und durfte dabei die große Anhänglichkeit 
seiner Kranken und der vielen unter seiner Hand Gesundgewordenen, 
die Wertschätzung seines Direktors und seiner Kollegen sowie aller, die 
ihm beruflich oder persönlich nähergetreten waren, entgegennehmen. 

Bald sollte an ihn aber der Ruf zu einer höheren Aufgabe an lei- 
tender Stelle ergehen. Sofort nach der Inangriffnahme der Heil- und 
Pflegeanstalt Wiesloch hatte die Regierung auch das Projekt der zweiten 
neuen Heil- und Pflegeanstalt für Baden, der bei Konstanz, aufgenommen 
und auf dem schönen Bauplatze am Untersee gegenüber der Insel Rei¬ 
chenau, in einer landschaftlich ausgezeichneten Lage zur Ausführung ge¬ 
bracht. Es war gleichfalls eine moderne Anstalt im Pavillonsystem, bei 
deren Erstellung die an der Wieslocher Anstalt gemachten Erfahrungen 
in Bau und Einrichtung berücksichtigt werden konnten. Zum Direktor 
dieses großen Werks der Irrenfürsorge wurde von der Regierung im Au¬ 
gust 1912 Medizinalrat Dr. Oster berufen. Die Wahl hätte keinen Wür¬ 
digeren treffen können. Er widmete sich seiner Anstalt denn auch mit 


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der ganzen ihm eigenen unermüdlichen Sorgfalt, Umsicht und Tatkraft, 
wie sie allerdings ein bei der Eröffnung im Anfangsstadium befindliches, 
stalt nicht kennt, sind hier zu überwinden. Oster richtete die Anstalt 
auf Grund seiner reichen praktischen Erfahrungen, die er durch gründ¬ 
liche Besichtigung einer Reihe von neuen Anstalten ergänzt hatte, voll¬ 
ständig ein. Gegen den Herbst 1913 waren alle Vorbereitungen so weit 
gediehen, daß man an die Inbetriebnahme gehen konnte. Am 11. Oktober 
1913 fand eine Besichtigung der neuen Anlage durch die Spitzen der Be¬ 
hörden, die drei Herren Minister des Innern, der Finanzen und des Kul¬ 
tus und Unterrichts und andere hohe Beamte des Landes und aus dem 
nahen Konstanz statt, die mit einer festlichen Zusammenkunft im präch¬ 
tigen Raume des Festsaals der neuen Anstalt endete, wobei des gelunge¬ 
nen Werkes und der hauptsächlichsten Mitarbeiter gedacht wurde. Da¬ 
mit war die Anstalt eröffnet. Die folgenden Jahre waren arbeitsreich 
und mühevoll, sollte doch die neue Anstalt mit Beschleunigung ausge¬ 
baut werden, um der Not in der Landesirrenfürsorge nach Möglichkeit 
zu steuern. Eine außerordentlich rege Tätigkeit auf allen Gebieten, so¬ 
wohl im Anstaltsbetriebe wie auch bei der Beratung und der Fortführung 
des Neubaus mußte vom Anstaltsleiter entfaltet werden. Ein neuer Pa¬ 
villon nach dem andern erstand; für alle mußte die innere Einrichtung, 
die feste und die bewegliche, beschafft werden, wobei die neuesten Er¬ 
fahrungen benutzt wurden. Dazu kam die organisatorische Arbeit bei 
der Neuformung des ganzen Betriebs, der Einführung des Personals, 
der Heranbildung vieler jungen ungeübten Kräfte, der Erziehung aller 
zum gemeinsamen Werke in einheitlichem Geiste, wobei Oster die unüber¬ 
treffliche Illenauer Tradition als Vorbild diente, gut gemengt mit dem, 
was eigene Erfahrung und Erkenntnis in langen Jahren in ihm gereift 
hatte. Unermüdlich und begeistert ging Oster in dieser ihn voll befriedi¬ 
genden Arbeit auf. Dazu besorgte er vielfach Abteilungsdienst oder hielt 
regelmäßige und häufige Visiten ab, sowohl auf den Krankenabteilungen 
wie auch in den anderen Anstaltsbetrieben. 

Mitten in diese wichtige Zeit des Aufbaus und der Neugestaltung 
griff dann als unerbittliches Hemmnis für alle Bauarbeiten, aber auch 
für die innere Festigung des neuen Unternehmens der Weltkrieg mit sei¬ 
ner gewaltsamen Umstürzung aller menschlichen Verhältnisse ein. Es 
war Oster die größte Sorge seines Lebens, daß dadurch so ziemlich alles 
liegen bleiben mußte, wie es war. Aber auch so bewährte er sich als der 
ruhige und besonnene Anstaltsleiter. Er nahm noch ein Vereinslazarett 
für Verwundete in seine Anstalt auf, dem er selbst größte Sorgfalt wid¬ 
mete; er sprang für einen zur Fahne einberufenen Kollegen selbst viel¬ 
fach als Abteilungsarzt ein. Er schuf, ungeachtet der großen Schwierig¬ 
keiten, die Kriegswirtschaft seiner Anstalt in geradezu vorbildlicher 
Weise um, wobei er die soziale Fürsorge für seine Beamtenschaft nicht 
Vergaß. 


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von Jahr zu Jahr im Ausbau anwachsendes Unternehmen auch durch¬ 
aus erforderte. Viele Schwierigkeiten, die der Betrieb einer fertigen An- 

Möglicherweise hatte Oster dabei seiner Kraft zuviel zugemutet; 
wenigstens datiert aus dieser Zeit ein Rückgang seiner Konstitution, 
zumal er sich nie geschont, keinen Urlaub sich gegönnt, sondern sich mit 
eiserner Energie immer voll eingesetzt hatte. 

Er war eben ein Mann der Pflicht, die, wie es sein soll, als ein inne¬ 
rer Drang, der die höchsten Anforderungen an sich selber stellt, sein 
ganzes Wirken leitete. So hat er als ein tüchtiger Mensch, als vorbild¬ 
licher Arzt, als ein allem und jedem gerechter Vorgesetzter, als pflicht¬ 
treuer Beamter und Staatsbürger, als ein aufrechter, ganzer deutscher 
Mann, ein untadeliger Charakter von unbedingter Wahrhaftigkeit und 
Zuverlässigkeit seine Erdenaufgabe aufgefaßt und sein Leben restlos 
damit erfüllt, bis zum Tode seinem geliebten und schönen Amte als Arzt 
und Menschenfreund getreu. Max Fischer- Wiesloch. 


Personalnachrichten, 

Dr. Alfons Schaefer, Dir. des Genesungshauses zu Roda, wurde zum 
Geh. Medizinalrat, 

Dr. August Homburger, Priv.-Doz. in Heidelberg, zum ao. Professor, 

Dr. Otfried Förster, Priv.-Doz. in Breslau, zum ord. Honorarprofessor 
ernannt. 

Dr. Hans Willige, Priv.-Doz. in Halle, wurde der Titel Professor verliehen. 

Freiherr Dr. Karl von Blomberg, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Kosten, 
ist zum Ehrenritter des Johanniterordens ernannt worden. 

Dr. Karl Blümcke, z. Z. in englischer Gefangenschaft, und 

Dr. Karl Volland, beide Oberärzte in Bethel b. Bielefeld, haben das 
Eiserne Kreuz 1. Kl., 

Dr. Hubert Schnitzer, leit. Arzt d. Kückenmühler Anstalten in Stettin, und 

Dr. Emil Schröder, Arzt in Weißenau, das Eiserne Kreuz 2. Kl., Dr. 
Schröder außerdem das Ritterkreuz 1. Kl. des Württ. Frie¬ 
drichsordens mit Schwertern, 

Dr. Alfons Schaefer in Roda das Fürstlich Reußische Ehrenkreuz 
3. Kl. mit Krone, und 

Dr. Erwin Friedei, Oberarzt des Genesungshauses in Roda, die Herzog 
Ernst-Medaille erhalten. 


Druckfehler. 

Im Bericht über die Münchener Versammlung ist S. 171 dieses 
Bandes statt GoMstein-Frankfurt a. M. zu setzen: Goldstein -Halle a. S. 

Ferner soll es in den Kleineren Mitteilungen des 5. Heftes S. 488, 
Z. 20 heißen: „daß das gewählte Mittel zunächst eine (statt: keine) Er¬ 
krankung zur Folge haben werde“. 


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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 

FÜR 

PSYCHIATRIE 

UND 

PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN 

HERAUSGEGEBEN VON 

DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 

UNTER DER MITREDAKTION VON 
BONHOEFFER und KREUSER 

BERLIN WINNENTAL 

DURCH 

HANSLAEHR 

SCHWEIZERHOF 

DREIUNDSIEBZIGSTER BAND 
I. LITERATURHEFT 



BERLIN 

W. 10. GENTHINERSTRASSE 38 

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 

1917 



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BERICHT 

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1. Neurosen und Schilddrüsen-£rkrankungen. 

Ref.: E. Schütte-Liineburg. 

1. Albrecht, H., Zur Ätiologie der Chorea gravidarum. Ztschr. 

f. Geburtsh. u. Gynäkol. Bd. 76, H. 3. 

2. Älter , W. (Lindenhaus), Epilepsie und Kochsalz. Psych.- 

neurol. Wschr. Nr. 1 u. 2. 

3. Aschaffenburg , O., Die Wandlungen des Neurastheniebegriffs. 

Festschr. zur Feier des lOjähr. Bestehens der Kölner 
Akademie. Bonn. 44 S. 

4. Bär, Artur , Beiträge zur Ätiologie und Symptomatologie der 

Chorea minor. Inaug.-Diss. Kiel. 

5. Balp, S. (Bergamo), Considerazioni sull' endemia tiroidea. 

Rivista speriment. di freniatria Yol. 41, p. 201—206. 

6. Barahov (Sophia), Beitrag zur Therapie der Epilepsie. (Vortr. 

a. d. Kongreß bulgar. Ärzte zu Sophia 1914.) Lijeö. Vijecn. 
Vol. 36, S. 509. (S. 24*.) 

7. Berger , H. Trauma und Psychose mit besonderer Berück¬ 

sichtigung der Unfallbegutachtung. Berlin, Jul. Springer. 
208 S. 6,80 M. (S. 20*.) 

8. Bielschowky , Max (Berlin), Epilepsie u. Gliomatose. Journ. 

f. Psych. u. Neurol. Bd. 21, Erg.-H. 2. 

9. Bikeles und Zbyszewski (Lemberg), Experimentelle Rindenepi¬ 

lepsie und Schlafmittel. Pflügers Arch. Bd. 158, H. 3—5. 

10. Binswanger, 0 . (Jena), Hystero-somatische Krankheitserschei¬ 

nungen bei der Kriegshysterie. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 
Bd. 38, H. 1—2, S. 1. (S. 26*.) 

11. Birnbaum, K. (Berlin-Buch), Kriegsneurosen und Psychosen 

auf Grund der gegenwärtigen Kriegsbeobachtungen. Sammel¬ 
bericht. Erste Zusammenstellung vom Kriegsbeginn bis 
Mitte März 1915. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Ref. 

Zeitschrift fOr Psychiatrie. LXI1II. Lit. a 


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2* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


u. Erg.-Bd. 11, H. 5, S. 321. Zweite Zusammenstellung von 
Mitte März bis Mitte Angast. Dieselbe Ztschr. Bd. 12, H. 1. 
S. 1. 

12. Bittorf, A. (Leipzig), Zar Behandlung der nach Granatexplo¬ 

sion auftretenden Neurosen. Mflnch. med. Wschr. Nr. 30. 
S. 1029. (S. 28*.) 

13. Bleuler, E. (Zürich), Referat über: Vogt, H., Epilepsie, in 

Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie, Spez.-T. Abt. I. 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Ref. u. Erg.-Bd. 11, H. 4. 
S. 303. 

14. Bolten, C. G. (Haag), Die Erklärung der Erscheinungen der 

Epilepsie. D. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 53, H. 1—2. 

15. Bolten, C. G. (Haag), Researches on the pathogenesis of ge¬ 

nuine epilepsy. Epilepsia Vol. 5, Nr. 5. 

16. Bolten, C. G. (Haag), Das Westphalsche Symptom ein Stigma 

degenerationis bei der Hysterie. Ned. Tijdschr. v. Geneesk 
Vol. 59 (I), p. 1793. 

17. Bonhoeffer, K. (Berlin), Erfahrungen über Epilepsie und Ver¬ 

wandtes im Feldzüge. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 38. 
H. 1—2, S. 61. (S. 23*.) 

18. Bonhoeffer, K. (Berlin), Die Differentialdiagnose der Hysterie 

und psychopathischen Konstitution gegenüber der Hebe- 
phrenie im Felde. Med. Klin. Nr. 32, S. 877. (S. 27*.) 

19. Brinkhaus, Carl, Zur Symptomatologie der Hysterie, an¬ 

schließend an einen Fall von hysterischem Schluckkrampf 
Inaug.-Diss. Kiel. 

20. Browning, William (New York), The etiology of stammering. 

and methods for its treatment. „Neurograph“ Vol. 1, Nr. 4 
(Thymu8-stammer number). Brooklin-New York, Alb. T 
Huntington. Leipzig, Th. Stauffer, 335 p. (S. 22*.) 

21. Brünger, H. (Blankenhain), Über Operationstod bei Thyreoi¬ 

ditis chronica. (Gleichzeitig ein Beitrag zu den Bezie¬ 
hungen zwischen Basedowerkrankungen und Thyreoiditis.) 
Mitt. a. d. Grenzgeb. der Med. u. Chirurg. Bd. 28, H. 2. 

22. Bruhn, Wolfgang, Kasuistischer Beitrag zur Lehre von der 

Chorea Huntington. Inaug.-Diss. Kiel. (S. 25*.) 


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1 



Schütte, Nenrosen and Schilddrüsenerkrankangen. 


3* 


23. Bruns, L. (Hannover), Kriegsneurologische Beobachtungen und 

Betrachtungen. Neurolog. Zentralbl. Nr. 1, S. 12. (S. 17*.) 

24. Bryant, John (Boston), The use of calcium in the treatment 

of epilepsy. Boston med. and surg. journ. Vol. 173, p. 547. 

25. Bull , P, und Harbitz , Francis (Christiania), Ein Fall von 

Osteomalazie (mit einer Geschwulst der Glandula para- 
thyreoidea). Norsk Magaz. for Lägevidensk. 

26. Bunnemann , G. (Ballenstedt), Zur traumatischen Neurose im 

Kriege. Neurol. Zentralbl. Nr. 23, S. 888. (S. 17*.) 

27. Cardauns , Franz , Über die Behandlung der traumatischen 

4 Epilepsie mit besonderer Berücksichtigung chirurgischer 
Eingriffe. Inaug.-Diss. Bonn. 

28. Caro , Bedeutung und Verbreitung der Thyreose im Heere. 

D. med. Wschr. Nr. 34. 

29. Christoffel , H., Ein seltener Fall von Kommotionsneurose. 

Korresp.-Bl. f. Schweizer Ärzte. Jahrg. 46, S. 493. 

30. Clark , Pierce , Some psychologic studies on the nature and 

pathogenesis of epilepsy. (Rep. New York Soc. 1. XH. 14.) 
Journ. of nerv, and mental dis. Vol. 42, p. 243. 

31. Collins , Joseph , und Marks , K., Hormone therapy in so-called 

nervons diseases (Rep. 41 th annual meeting of the Ame¬ 
rican Neurology Ass.) American Journ. of mental dis. Vol. 
42, Nr. 10, p. 686. 

32. Cumeo, G. (Genua), Ricerche biochimiche sulla funzione ureo- 

pojetica e sulle alterazioni della composizione del sangue 
nelT epilessia. Riv. speriment. di freniatria Vol. 40, fase. 4 
(S. 24*.) 

33. Curschmann , H. (Mainz), Über einige seltene Formen der 

Migräne. D. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 54, H. 2 u. 3. 

34. Davidian, Bagop (Washington), Athetosis. (Review of the 

literature with clinical report of a case.) Alienist and 
neurolog. Vol. 36, Nr. 3, p. 269. 

35. Donath , J. (Budapest), Beiträge zu den Kriegsverletzungen 

und Erkrankungen des Nervensystems. Wiener klin. 
Wschr. Nr. 28. 

35 a. Donath , «7., Behandlung der Trigeminusneuralgien mit Alko- 

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4* 


Bericht Uber die psychiatrische Literatur 1916. 


holinjektionen. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 
XXIX H. 1, S. 1. (S. 21*.) 

36. Dost. M. (Sonnenstein), Beitrag znr pathologischen Anatomie 

der Huntington&chen Chorea. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. 
Psych. Orig.-Bd. 29, H. 3 u. 4, S. 272. (S. 25*.) 

37. Dürrbeck , Paul , Ein Fall von Akromegalie. Inaug.-Diss. 

Manchen. 

38. Edsall, D. L., and Me ans, J. H., Observations of a case of 

family periodic paralysis. American Journ. of med. Sciences. 
No. of Aug. 

39. Engelen , P. (Düsseldorf), Beurteilung der Persuasion. (Unter 

Bezugnahme auf die Kriegsneurosen und Unfallneurosen.) 
Ärztl. Sachverständ.-Ztg. Nr. 14 u. 15. (S. 28*.) 

40. Engelen , P. (Düsseldorf), Untersuchungsschema für Unfall¬ 

neurosen. Arztl. Sachverständ.-Ztg. Nr. 18. 

41. Engelhard , C. Fr. (Utrecht), Eine Familie mit hereditärem 

Nystagmus. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig.-Bd. 28, 
H. 4-5, S. 319. (S. 26*.) 

42. Engelhorn , Ernst (Jena), Zur Behandlung der Ausfallserschei¬ 

nungen. Münch, med. Wschr. Nr. 45, S. 1527. (S. 21*.) 

43. Falta , W. (Wien), Fall von Akromegalie mit Hypertrichose. 

(Ges. f. innere Med. u. Kinderheilk. Wien, Sitzg. v. 11. H. 
15. — Mitteilg. der Gesellsch. Bd. 14, S. 19.) Ref. Bauer: 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Ref.- u. Erg.-Bd. 11, H. 
7, S. 591. 

44. Frey , Rudolph , Beitrag zur Kenntnis der traumatischen Epi¬ 

lepsie infolge einer Kephalohydrocele spuria traumatica. 
Inaug.-Diss. München. 

45. Friedmann, M. (Mannheim), Zur Auffassung der gehäuften 

kleinen Anfälle. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 38, H. 1/2, 
S. 76. (S. 22*.) 

46. Fritze, Erich , Beitrag zur Symptomatologie der Chorea chro¬ 

nica progressiva (Huntingtonsche Chorea). Inaug.-Diss. 
Kiel. (S. 25*.) 

47. Fröschels, E. (Wien), Über die Beziehungen der Sprachheil¬ 

kunde zur übrigen Medizin. Wiener med. Wschr. Nr. 47. 
(S. 21*.) 


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Schütte, Neorosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


5* 


48. Fröschels, E. (Wien), Stottern und Nystagmus. Mtschr. f. 

Ohrenheilk. u. Laryngo-Rhinologie Nr. 2 u. 3. (S. 21*.) 

49. Fröschels, E. (Wien), Eine sprachärztliche Kriegsabteilung* 

Med. Klin. Nr. 50, S. 1377. (S. 22*.) 

50. Fürth, C. (Wien), Ein Beitrag zur Klinik und Therapie der 

Akromegalie. Med. Klin. Nr. 49, S. 1347. (S. 31*.) 
öl. Gabel, Max, Zur Pathogenität der Flagellanten. Inaug.-Diss. 
Tübingen. 

52. Gaupp. E. (Tübingen), Hysterie und Kriegsdienst. Münch. 

med. Wschr. Nr. 11, S. 361 (S. 27*.) 

53. Gaupp, E. (Tübingen). Ungewöhnliche Form der Hysterie bei 

Soldaten. (Med.-naturwissenschaftl. V. Tübingen, Sitzg. v. 
23. VI. 15.) Ref.: Münch, med. Wschr. Nr. 33, S. 1119, r. 

54. Godefroy, J. C. L., Beitrag zur differentiellen Diagnostik 

zwischen Epilepsie und Hysterie. Psych. u. neurolog. 

Bladen. Vol. 19, p. 285. 

55. Godefroy, J. C. L., Untersuchungen über die Aufmerksam¬ 

keitsbestimmung bei Gesunden und Geisteskranken. (Bei¬ 
trag zur experimentell-psychologischen differentiellen Dia¬ 
gnostik zwischen Epilepsie und Hysterie.) Inaug.-Diss. 
Groningen. Ref.: Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Ref.- 
u. Erg.-Bd. 11, H. 9, S. 710. 

56. Götz, Bemdt, Ein Fall von Adipositas dolorosa (Demmsche 

Krankheit). Inaug.-Diss. Berlin. 

57. Gordon, Alfred (Philadelphia, Pa.), Epileptic dementia. 

American Journ. of insanity. Vol. 71, Nr. 3, p. 489. 

58. Graul, G. (Neuenahr), Uber Neurasthenia cordis. D. med. 

Wschr. Nr. 22, S. 645. 

59. v. Haberei *, H., Kasuistisches zur Frage therapeutischer Mi߬ 

erfolge bei Morbus Basedowii. Wiener Klin. Wschr. Nr. 1 
u. 2. 

60. Hart, C. (Berlin), Über die Basedoiv sehe Krankheit. Med. 

Klin. Nr. 14, S. 388. 

61. Hart, C. (Berlin), Thymusstudien. V. Thymusbefunde bei My¬ 

asthenia gravis pseudoparalytica. Virchows Archiv. Bd. 
220, H. 2. 

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6* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


62. Hebold, Otto (Berlin), Der Tod infolge epileptischen Anfalls. 

Arch. f. Psych. Bd. 55, H. 3, S. «59. (S. 23*) 

63. Heinrichs, Carl Ludwig, Chorea rainor und Psychose. Inaug.- 

Diss. Kiel. (S. 25*.) 

64. v. Hippel, E. (Halle a. S.), Ungewöhnliche Homhauterkran- 

knngen bei Chorea minor untersucht mit der A. R. Graefes 
Arch. Bd. 90. 

65. Hoche, A. (Freiburg i. B.), Uber Hysterie. (Vortr. Wander- 

vers. Südwestd. Neurologen u. Irrenärzte, Baden-Baden 
20/30. V. 15.) Ref.: Neurolog. Zentralbl. Nr. 23, S. 919. 
(S. 27*.) 

66. Hoppe-Segler, G. (Kiel), Uber die Beziehung des Diabetes 

insipidus zur Hypophyse und seine Behandlung mit Hypo¬ 
physenextrakt. Münch, med. Wschr. Nr. 48, S. 1633. 
(S. 30*.) 

67. Horn, P. (Bonn), Uber Schreckneurosen in klinischer und 

unfallrechtlicher Beziehung. D. Ztschr. f. Nervenheilk. 
Bd. 53, H. 5, S. 333. (S. 19*.) 

68. Horn, P. (Bonn), Zur Heilbarkeit der Schreckneurosen nach 

Abfindung. Ztschr. f. Bahn- u. Bahnkassenärzte Nr. 9. 
(S. 19*.) 

69. Horn, P. (Bonn), Über die Prognose der Unfallneurosen. Fort¬ 

schritte der Med. Jahrg. 33. (S. 18*.) 

70. Horn, Paul (Bonn), Zur Begutachtung nervöser Unfallfolgen. 

Münch, med. Wschr. Nr. 51, S. 1745. (S. 19*.) 

71. Horn, P. (Bonn), Zur Nutzbarmachung erhaltener und wieder¬ 

gewonnener Arbeitskraft bei Unfallneurosen. Ärztl. Sach- 
verständ.-Ztg. Nr. 22, 23 u. 24. (S. 18*.) 

72. Jackson, J. Allen (Philadelphia), A report of the clinical and 

pathological findings in a case of hystero-epilepsia and 
hystero-epileptoid. Alienist and neurolog. Vol. 36, Nr. 3» 
p. 231. 

73. Jettineck (Wien), Militärärztliche Konstatierung der Epilepsie. 

Wiener Klin. Wschr. Nr. 38. 

74. Jentsch, Ernst, Dia Schreckneurose Claude Lorrains. Psych.- 

neurol. Wschr. Nr. 39/40, S. 227. 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


7* 


5. Juliusburger, 0, (Berlin), Zur Kenntnis der Kriegsneurosen. 

Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 38, H. 5, S. 305. (S. 18*.) 
’6. Kahane, M. (Wien). Uher Hyperthyreoidismus vom Stand¬ 
punkt der Kriegsmedizin. Wiener Klin. Wschr. Nr. 6. 
r 7. Karehnke, Bruno, Die Therapie der Basedowschen Krankheit 
in der Kgl. med. Klinik in Kiel. Inaug.-Diss. Kiel. 

78. Kellner (Hamburg-Alsterdorf), Der Wert der Flechsiyschen 

Opium-Brombehandlung bei der Epilepsie. Münch, med. 
Wschr. Nr. 17, S. 578. (S. 24*.) 

79. Kemp, H. W., The relation of pituary disturbances to para- 

noidal trends. Journ. of the American med. ass. Vol. 64, 
Nr. 8. 

80. Kienboeck, Bob. (Wien), Reizwirkung bei Röntgenbehandlung 

von Struma und Basedowscher Krankheit. Fortschr. d. 
Röntgenstrahl. Bd. 22, H. 6. 

81. Klose 1 H., Über Thymusoperationen und deren Folgen für 

den Organismus. Therap. Mtshefte Bd. 29, S. 6. 

82. Koplik , Henry (New York), The etiological relationship of 

syphilis to chorea of Sydenham. Arch. of ped. Vol. 23, 
p. 561. 

83. v. Korczynski , L. B. (Serajewo), Beitrag zur Klinik infantiler 

Hypothyreose. Med. Klin. Nr. 31 u. 32, S. 856 u. 888. 
(S. 30*.) 

84. Kramer, F. (Berlin), Paralysis agitans-ähnliche Erkrankungen. 

(Kasuistische Mitteil. a. d. Kgl. Psychiatr. u. Nervenklinik 
der Charitö, IV.) Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 38, H. 3, 
S. 179. 

85. Kraus , W. M.. Cerebral adipositas with hypertrichosis, a new 

syndröme. American Journ. of med. Science. Vol. 518, 
p. 737. 

86. Kühl , Christian , Uber Chorea minor mit Psychose. Inaug.- 

Diss. Kiel. (S. 25*.) 

87. Laehr , Hans (Schweizerhof), Ein Fall von Unfallneurose. 
# Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 72, H. 2, S. 134. 

88. Langelaan , J. W., Ein Patient mit vermutlicher Vergrößerung 

der Glandula pinealis. Psych. u. neurolog. Bladen Vol. 19, 
p. 292. 


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8* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


89. Lepage, G., De la mort chez les chor&ques pendant la gros¬ 

sesse. Annales de Gynöcol. et d’Obst6tr. Yol. 40. 

90. Leva, J. (Straßburg i. E.), Über familiäre Akromegalie. Med. 

Klin. Nr. 46, S. 1266. (S. 31*.) 

91. Lewandowsky, M. (Berlin), Erfahrungen über die Behandlung 

nervenverletzter und nervenkranker Soldaten, D. med. 
Wschr. Nr. 52, S. 1565. 

92. Löwenstein, Kurt (Berlin), Vaccineurinbehandlung der Neuritis. 

Therapie der Gegenw. H. 9, Sonderdr. S. 1—11. (S. 17*.) 

93. L'öwy , Julius (Prag), Noktambulismus. Zentralbl. f. innere 

Med. Nr. 20. 

94. Makuen , G. H. (Philadelphia), Psychology of stammering. 

New York med. Joum. Nr. of July 17th. 

95. Marburg , 0. (Wien), Pathogenese der Paralysis agitans. (Ver¬ 

ein f. Psych. u. Neurol., Sitzg. v. 15. XII. 1914.) Ref.: 
Wiener med. Wschr. Jahrg. 65, S. 672. 

96. Marcus, Henry (Stockholm), Epilepsie mit Geruchsaura. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig.-Bd. 30. H. 2/3, 
S. 118. 

97. Marx, B. (Berlin), Ein Simulationsfall von Gesichtsulkus bei 

einer Hysterischen. Dermatol. Wschr. Bd. 61, S. 883. 

98. Merhaut, K., Die Resultate operativer Behandlung Basedow¬ 

scher Krankheit. VSstniko sjez. öesk. 16k. ann. 1915. 
S. 530. 

99. Meyer , Carl (Kiel), Epilepsie und Schwangerschaft. Inaug.- 

Diss. Kiel. u. Arch. f. Psych. Bd. 55, H. 2, S. 597. (S. 23*.) 

100. Meyer, E. (Königsberg), Bemerkungen zu der Differential¬ 

diagnose der psychogenen Reaktionen mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der im Kriege beobachteten psychischen Störun¬ 
gen. Arch. f. Psych. Bd. 56, H. 1, S. 244. 

101. Meyer , E. (Königsberg), a) Pseudologia phantastica bei 

einem Psychopathen mit psychogenen Anfällen, b) Psycho¬ 
gene Gangstörung, c) Psychogene Lähmung des Beins, 
d) Psychogener Krampf. (Verein f. wissenschaftl. Heilkunde, 
Königsberg, Sitzg. v. 22. II. 15.) Ref.: D. med. Wschr. 
Nr. 28, S. 842. 

102. Meyei', E., (Königsberg), Funktionelle Nervenstörungen bei 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 9* 

Kriegsteilnehmern, nebst Bemerkungen zur traumatischen 
Neurose. D. med. Wschr. Nr. 51, S. 1509. 

103. Meyer, Hugo , Ein Fall von Akromegalie mit Hypophysen¬ 

zyste. Inaug.-Diss. Greifswald u. Mtschr. f. Psych. u. 
Neurol Bd. 37, Nr. 4, S. 228. 

104. Michels, Gustav , Zur Lehre von der Chorea hysterica. 

Inaug.-Diss. Kiel. (S. 25*.) 

105. Mingazzini, G. (Rom), Über einen parkinsonähnlichen Sym- 

ptomenkomplex. Klinische und pathologisch-anatomische 
Studie. Arch. f. Psych. Bd. 55, H. 2, S. 532. 

106. Möckel, Wilhelm , Epilepsie und Dauerresultat. Inaug.-Diss. 

Heidelberg. 

107. Mohr, Fr., (Koblenz), Zur Entstehung, Vorhersage und Be¬ 

handlung nervöser und depressiver Zustandsbilder bei 
Kriegsteilnehmern. Med. Klin. Nr. 22, S. 607. 

108. Xeißer, E., Uber Migräno-Epilepsie. (Wissenschaftl. Ver¬ 

einigung d. Ärzte Stettins, Sitzg. v. 8. XII. 14.) Ref.: Berl. 
Klin. Wschr. Nr. 15, S. 389. 

109. Neuber, Karl Ernst, Uber Neurosen nach elektrischen Un¬ 

fällen. Inaug.-Diss. 1914 Kiel u. Arch. f. Psych. Bd. 54, 
H. 3, S. 949. 

110. Neutra, Wilh. (Baden b. Wien), Zwei Fälle von hysterischer 

Astasie-Abasie. (K. K. Ges. d. Ärzte, Wien, Sitzg. v. 
12. UI. 15.) Ref.: Psychol.-neurol. Wschr. Nr. 3u. 4, S. 20. 

111. Nonne, M. (Hamburg), Vortrag über „grande hystßrie“ bei 

Kriegsteilnehmern. (Ärztl. V. Hamburg, Sitzg. v. 23. H. 15.) 
Eigenbericht: Neurolog. Zentralbl. Nr. 11, S. 408. (S. 26*.) 

112. Nonne, M. (Hamburg), Zur therapeutischen Verwertung der 

Hypnose bei Fällen von Kriegshysterie. (Ärztl. V. Hamburg. 
Sitzg. v. 2. Nov. 15.) Eigenbericht: Münchener med. 
Wschr. Nr. 46, S. 1578. Original-Veröffentl.: Med. Klin. Nr. 
51 u. 52, S. 1391 u. 1418. (S. 28*.) 

113. Nonne, M. (Hamburg), Traumatische Neurose als Folge¬ 

erscheinung von Kriegsbeschädigten. (Vers. Südwestd. 
Psychiater u. Neurolog., Baden-Baden, Sitzg. v. 29. 5. 15.) 
Eigenbericht: Psych.-neurolog. Wschr. Nr. 33 u. 34, S. 191. 

114. Nonne, M. (Hamburg), Soll man wieder „traumatische Neu- 


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10* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


rose“ bei Kriegsverletzten diagnostizieren? Med. Klin. Sr 
31, S. 849. (Vergl. Oppenheim, dieselbe Zeitschr. Nr. 33. 
• Schlußbemerkung Nonne : Nr. 34, S. 948.) (S. 16*.) 

115. Nonne, M. (Hamburg), Uber Polyneuritis gemischter Nerven 

bei neurasthenischen Kriegsteilnehmern. D. Zeitschr. f 
Nervenheilk. Bd. 53, S. 464. 

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I 



Schütte, Neurosen und Schilddriisenerkrankungen. 11* 

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12* 


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154. Schoondermark, Anna, Luminalbehandlung der Epilepsie 

Tijdschr. v. Geneesk. Vol. 59 (II), S. 2482. 

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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungeu. 


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Vol. 77, Nr. 17. 


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181. Witte, August (Wehnen), Zur Symptomatologie und Therapie 

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182. Witzei, 0. (Düsseldorf), Die Enzephalolyse bei traumatischer 

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Schütte, Neurosen und Schilddrusenerkrankungen. 


15 * 


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leptischen Blutbildes. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 
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A. Neurosen. 

Der Krieg hat hier ein sehr reiches Beobachtungsmaterial geliefert 
und besonders die Gelegenheit gegeben, ganz „reine“ Fälle zu untersuchen, 
deren Ätiologie von vornherein klar war. Besonders war es möglich, eine 
Zahl von Beobachtungen auszusondern, deren Form den traumatischen Neu¬ 
rosen entsprach. So ist denn der alte Streit über das Wesen dieser Er¬ 
krankung wieder aufgenommen. 

Oppenheim (118) betont ausdrücklich, daß er für eine „traumatische 
Kriegsneurose“ nicht eingetreten ist. Zur Vermeidung von falschen Deu¬ 
tungen legt er noch einmal seinen Standpunkt klar und führt aus, daß unter 
den Neurosen traumatischer Natur die Neurasthenie eine große Rolle spielt, 
zum großen Teil in Verbindung mit Hysterie. Viele Symptomenkomplexe 
passen aber in diesen Rahmen nicht recht hinein, wie z. B. der Tic, die ver¬ 
schiedenen Formen des Zitterns und namentlich die Crampi musculorum. 
Diese Phänomene sind nur verständlich, wenn man die von Oppenheim auf¬ 
gestellte Erschütterungstheorie zu Hilfe nimmt, nach welcher sowohl das zentral 
wie das peripher angreifende Trauma nicht anatomische, aber doch physi¬ 
kalische Veränderungen hervorruft Es entsteht dann eine Betriebsstörung 
im Mechanismus der zentralen Innervation, die ihren Ausdruck findet 1. in 
der falschen Verteilung der motorischen Impulse, 2. in der Hypoinnervation 
und 8. in der Hyperinnervation der Muskeln derart, daß an die Stelle der 
einfachen Muskelkontraktion der Tremor und die tonische oder die spastische 
Muskelaktion, der Crampus, tritt Den höchsten Grad dieser Anomalie 
bildet die Lähmung. Verf. hat sich mehr und mehr von der Richtigkeit 
dieser Auffassung überzeugt Der von seinen Gegnern geschaffene Begriff der 
Rentenhysterie würde sich nur aufrechterhalten lassen unter Voraussetzung 
der psychischen, der ideogenen Entstehung aller Erscheinungen mit der so 
bequemen Verschiebbarkeit der Grenze zwischen Hysterie und Simulation 
Von letzterer sowie von Mangel an Energie, die Krankheit zu überwinden, 
hat Oppenheim bei den Kriegsteilnehmern nicht viel gesehen. Er hebt noch 
besonders hervor, daß er nicht etwa nur Berliner Material, sondern Soldaten 
aus allen Gegenden des Reiches in Behandlung hat, und daß er auch eine 
etwaige psychische Beeinflussung nicht beobachtet hat- 


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16 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


In einer weiteren Veröffentlichung kündigt Oppenheim (119) eine später 
erscheinende Monographie über Neurosen nach Kriegsverletzungen an. Er 
hat das Gebiet in fünf Gruppen eingeteilt: I. traumatische Hysterie, 
II. traumatische Neurasthenie, III. Hysteroneurasthenie, IV. traumatische 
Neurose im engeren Sinne, V. Kombination von organischen Erkrankungen 
des Nervensystems mit Neurosen traumatischen Ursprungs. Abteilung 
III und IV umfassen die traumatische Neurose im engeren Sinne. Verf. 
betont besonders, daß die psychogene resp. ideogene Entstehung der Sym¬ 
ptome, der „traumatischen Hysterie“, nur eine geringe Rolle spielt Die Krank¬ 
heitsbilder sind fast durchweg das Ergebnis einer psychischen und physischen 
Erschütterung; auch durch Reizzustände in der Peripherie ausgelöste reflek¬ 
torische Zustände kommen sehr in Betracht. Bei den als Akinesia amnestica 
und Reflexlähmung bezeichneten Lähmungszuständen hat sich eine starke 
Bevorzugung der linken Seite herausgestellt, eine Tatsache, die ebensowenig 
mit der Annahme einer ideogenen Entstehung in Einklang zu bringen ist 
wie die Beobachtung, daß am Bein die Lähmung so gut wie immer distal- 
wärts zunimmt und am längsten in den Fußmuskeln persistiert. 

Weiter berichtet Oppenheim (120) über seine Kriegserfahrungen, die in 
mancher Hinsicht bisher nicht bekannte Tatsachen zutage gefördert haben. 
So ist bei den Kriegsverletzungen des Gehirns die große Seltenheit der 
Spätabszesse aufgefallen; die Kenntnis der Symptomatologie der Hirnschüsse 
konnte erheblich erweitert werden. Bei den Schüssen, die das Rückenmark 
verletzt hatten, wurde als häufigste Folge eine umschriebene Nekrose be¬ 
obachtet; ferner ist das Vorkommen disseminierter Herderkrankungen festge¬ 
stellt, auch in seltenen Fällen Broten-Sfquardsche Lähmung mit homolate¬ 
raler Anästhesie. Die Verwundungen des peripheren Nervensystems haben 
die Bestätigung der Stoffel sehen Lehre von den gesonderten Bahnen im 
Nerven gebracht, besonders beim Ischiadikus ist dies sehr hervorgetreten. 
Auch das Verhalten der elektrischen Erregbarkeit bei peripherischer Nerven¬ 
lähmung gab Veranlassung zu neuen Beobachtungen, ebenso eine Reihe von 
Begleiterscheinungen der traumatischen Neuritis. Der Verf. betont auch hier 
seine Überzeugung bezüglich der Entstehung der Neurosen und führt weiter 
aus, daß organische und funktionelle Nervenkrankheiten auffallend häufig mitein¬ 
ander verknüpft sind. Unter den Symptomen der traumatischen Neurasthenie 
nennt er die Neigung zu leichten Temperatursteigerungen, Symptome von 
Hyperthyreoidismus, Akinesia amnestica und Reflexlähmung. Die enorme 
Bevorzugung der linken Körperhälfte ist wohl auf die Unterwertigkeit der 
rechten Hirnhemisphäre zurückzuführen. 

Einen anderen Standpunkt in der Auffassung der traumatischen Neu¬ 
rosen vertritt Nonne (114). Er fand unter 66 Fällen funktioneller Er¬ 
krankungen des Nervensystems bei Kriegsverletzten nur sechsmal das Krank¬ 
heitsbild, das man früher als „traumatische Neurose“ bezeichnet». Am 
häufigsten unter den Neurosen war die Hysterie, dann die Neurasthenie, 
konstitutionelle Nervosität und die Erschöpfungsneurose. Die häufigste Ur- 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


17* 


sache der Neurosen nach Trauma im Kriege sind Granatexplosionen, wobei 
der psychische Schock die größte Rolle spielt. Durch geeignete suggestive 
Therapie kann man oft plötzliche Heilung erzielen, es spricht dies gegen 
die Annahme anatomischer Veränderungen. Die Prognose der Neurosen ist 
an sich günstig. Der Name „traumatische Neurose“ ist zu vermeiden, weil 
sich mit ihm häufig der Begriff der Unheilbarkeit verknüpft und es auch 
eine durch Trauma bedingte charakteristische, spezifische Neurose nicht gibt. 

Auch Bunnetnann (26) ist nicht geneigt, die Symptome der traumati¬ 
schen Neurose durch physikalische Folgen der Erschütterung im Sinne 
Oppenheims zu erklären, und führt eine Reihe von Gründen gegen diese 
Theorie an. 

Oppenheim (121) bringt einige Beiträge zur falschen Innervation (In¬ 
nervationsentgleisung); er versteht darunter die Erscheinung, daß der Ver¬ 
letzte die Bewegungsenergie auf andere Muskeln ablenkt oder die Antago¬ 
nisten kontrahiert. Besonders häufig hat er diese Erscheinung bei Schu߬ 
verletzungen des N. accessorius gesehen, ferner mehrfach bei Beschädigung 
des Ischiadikus sowie bei nicht organisch bedingter Paraplegie oder Mono¬ 
plegie des Beines meist infolge von Granatexplosionen. In den letzteren 
Fällen betraf die Lähmung immer am stärksten und längsten die Fu߬ 
muskeln ; wenn die Patienten schließlich den Fuß strecken konnten, geschah 
dies nur unter gleichzeitiger Kontraktion des Quadrizeps. 

Bruns (23) hat bei Kriegsverletzten vielfach Verletzungen der peri¬ 
pheren Nerven gesehen. Aufgefallen ist ihm die rasche Herabsetzung der 
galvanischen Erregbarkeit, die Beobachtung Oppenheims des späten Eintretens 
der Zuckungsträgheit hat er noch nicht gemacht. Heftige Schmerzen spre¬ 
chen nach Ansicht des Verf. für partielle Läsion oder echte infektiöse Neu¬ 
ritis. Auffallend waren noch die Schlafstörungen und das starke Schwitzen 
der Verletzten. Bruns rät bei starken Schmerzen zu baldiger Operation, 
in einigen Fällen half die Neurolyse, in anderen nicht. Wärme wurde meist 
wohltuend empfunden, vermehrte aber bis weilen auch die Schmerzen. 

Oppenheim (122) hat öfter bei Soldaten den von ihm als Myotono- 
clonia trepidans bezeichneten Symptomenkomplex beobachtet. Die moto¬ 
rische Störung bestand aus einer Neigung zu tonischer Muskelanspannung 
oder Crampus, zu klonischen Zuckungen und zu Zittern, ln der Ruhe fehlten 
diese Erscheinungen meist, es genügte schon die Bewegungsiutension, um 
sie auszulösen. Oppenheim sah das Leiden am häufigsten bei Männern im 
Anschluß an Verletzungen auftreten, und zwar im Geleite der Hysteroneur- 
asthenie und Neurose, nur ausnahmsweise bildet sie das einzige Krankheits¬ 
symptom. Es ist anzunehmen, daß die neuropathische Diathese das Zu¬ 
standekommen des Syndroms begünstigt, und daß es in erster Linie durch 
psychischen und physischen Schock hervorgerufen wird. Es kann sich dabei 
nur um feinste Schädigungen.des zentralen Innervationsmechanismus handeln. 
Die Möglichkeit eines muskulären Ursprungs muß verneint werden. 

Löwenstein (92) hat bei einer größeren Anzahl von Patienten mit 

Zeitschrift für Psychatrie. LXXIII. Lit. b 


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18 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Schußverletzungen peripherer Nerven und bei Polyneuritiden die Schmerzen 
durch Injektionen von Vakzineurin gebessert und zum Teil auch völlig ge¬ 
heilt. Vakzineurin ist eine Mischung von Antolysaten des Bacillus prodigiosns 
und des Staphylokokkus und wird dreimal wöchentlich in steigender Dosis mit 
V#o ccm beginnend intramuskulär eingespritzt. Nachteilige Folgen wurden 
nicht bemerkt. 

Riebeth (141) hält eine zweimonatliche Behandlnngsdauer der Kriegs¬ 
neurastheniker im Lazarett für ausreichend, damit nicht Dauerinsassen ge¬ 
züchtet werden. Die Rückverweisung zur Trappe als garnisondienst- oder 
arbeitsverwendungsfähig ist stets im Auge zu behalten. Als bestes Mittel 
zur Vermeidung der Schädlichkeiten des Rentenkampfes sieht Verf. die ein¬ 
malige Abfindung an, trotzdem auch diese nicht frei von Nachteilen ist. 
Sehr wichtig ist noch ein möglichst großes Entgegenkommen der Arbeitgeber 
und Arbeitsvermittlungsstellen, wobei die Ärtzte in ausgedehntester Weise 
mitwirken müssen. 

Juliusburger (75) bringt die Krankengeschichten dreier Individuen mit 
ausgesprochen infantilen Zügen und psycho-sexueller Indifferenziertheit, bei 
denen ein stark femininer Einschlag im Seelenleben und den körperlichen 
Ausdrucksbewegungen unverkennbar war. Ist die feminine Veranlagung 
erheblich, so hat es keinen Zweck, die Patienten dem Heeresdienst wieder 
zuzuführen, in den angeführten Fällen hatten sich die Kranken als dienst¬ 
untauglich erwiesen. 

Horn (71) tritt für die einmalige Kapitalabfindung bei Unfallneurosen 
ein, wenn es sich um Haftpflicht handelt. Bei Neurosen nach gewerblichen 
Unfällen soll man ebenfalls vom Abfindungsverfahren möglichst Gebrauch 
machen. Vollrente ist nur ausnahmsweise angebracht, meist werden sich 
Renten von 30—60%. die allmählich zu entziehen sind, empfehlen. Berufs¬ 
wechsel ist meist nicht notwendig, die Errichtung staatlicher Arbeitsnach¬ 
weisstellen für beschränkt Erwerbsfähige ist notwendig. Verf. schlägt vor, 
daß die Kapitalabfindung bei gewerblichen Arbeitern schon bei Teilrenten bis 
33%% ermöglicht wird; in Haftpflichtfällen mnß der § 843,3 BGB. dahin 
abgeändert werden, daß auch auf alleinigen Antrag des Haftpflichtigen hin 
Kapitalabfindung statt Rente zugesprochen werden kann. 

In einer weiteren Veröffentlichung betont Horn (69), daß der weitere 
Verlauf der Unfallneurosen fast ausschießlich von der Handhabung des Ent- 
schädignngsverfahrens abhängt. Von 136 abgefundenen nervösen Erkran¬ 
kungen nach Eisenbahnunfällen waren schon wenige Jahre später geheilt im 
sozialen Sinne 70%, wesentlich gebessert 16%, unverändert ll,8 # /c ver¬ 
schlechtert 2,2%. Unter 31 Fällen desselben Materials, die Rente erhielten, 
war nur zweimal eine derartige Besserung festzustellen, daß Rentenver- 
minderang statttinden konnte. Komplikationen mit organischen Krankheiten 
verschlechtern natürlich die Prognose. Den Namen „traumatische Neurose* 
will der Verf. fallen lassen, da mit ihm der Begriff der Unheilbarkeit vielfach 
verbunden wird. 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


19 * 


Derselbe Verf. (70) schätzt die partielle Simulation bei Unfallneurosen 
auf mindestens */» aller Fälle, während totale Simulation sehr selten ist 
Die durch unberechtigten Rentenkampf entstandenen nervösen Beschwerden 
sind sowohl bei Privatpersonen als unfallversicherten Arbeitern nicht als 
Unfallfolgen anzuerkennen. Die günstigsten Heilungsaussichten bieten die 
Schreckneurosen, die in mittelschweren Fällen meist spätestens nach zwei 
Jahren völlige Wiederherstellung erwarten lassen; auch die nach Rommotion 
und sonstiger lokaler Läsion entstandenen Neurosen heilen gewöhnlich nach 
einigen Jahren aus. 

In einer weiteren Arbeit hat Horn (67) die Schreckneurosen aus dem 
Gebiet ber Unfallneurosen in klinischer und nnfaUrechtlicher Beziehung ab¬ 
zugrenzen versucht, wozu ihm ein Material von 100 „reinen“ Fällen zur 
Verfügung stand. Er betont, daß auf psychischem Gebiete besonders die 
Erscheinungen der akuten Verwirrtheit hervortreten, daß aber auch in soma¬ 
tischer Beziehung ein charakteristischer Symptomenkomplex besteht, der in erster 
Linie das Herz und die Blutgefäße betrifft. Die große Mehrzahl der Kranken 
besteht aus schon vorher nicht intakten, zum mindesten stark disponier¬ 
ten Individuen. Die Auslösung resp. Verschlimmerung von Diabetes melli¬ 
tus, insipidus, M. Basedowii und anderen organischen Erkrankungen durch 
Schreck erfolgt durch das vegetative Nervensystem. Verf. weist abermals 
auf den großen Wert der Kapitalabfindung hin; die Regelung der Entschädi¬ 
gungsansprüche ist ausschlaggebend für die Prognose. 

Horn (68) betrachtet die Schreckneurosen als scharf umschriebene 
Gruppe der Unfallneurosen. Neben den psychischen Erscheinungen treten 
besonders kardiovaskuläre Symptome hervor. Die Heilungsaussichten sind 
bei einmaliger Abfindung günstig, selbst in anfangs sehr schwer erscheinenden 
Fällen. Die Zuerkennung einer zeitlich begrenzten, fallenden Rente ist 
lediglich als Notbehelf anzusehen. 

Weber (176) betont, daß die Unfallneurosen in erster Linie psychogen 
bedingt sind, und warnt dringend davor, bei der ersten Untersuchung und 
Begutachtung Krankheitsvorstellungen zu erwecken und die Aufnahme eines 
genauen Nervenstatus zu versäumen. Er führt eine Beobachtung an, in 
welcher erst durch das Eingreifen des Arztes aus einem harmlosen Vorfall 
ein Unfall wurde. Die Gewährung einer Rente wurde dann für die Frau 
die Veranlassung, eine spätere Verletzung entsprechend auszunutzen und einen 
dritten Unfall anscheinend zu erfinden. Erst die Anstaltsbeobachtung ergab das 
Fehlen aller schädlichen Folgen. 

Rumpf (146) hat die Frage der nervösen Erkrankungen nach Unfällen 
einer Prüfung unterzogen. Die Untersuchung der Spätfolgen von 90 Schädel¬ 
brüchen zeigte neben Ausfallserscheinungen und außer der nicht seltenen 
Epilepsie vorwiegend Kopfschmerzen, Schwindel, Abnahme des Gedächtnisses 
und der Merkfähigkeit, Intoleranz gegen Alkohol, Aufregungszustände, Charak¬ 
terveränderung und Erhöhung des Druckes der Lumbalfiüssigkeit. Ferner 
wurde in 173 Fallen der Verlauf nervöser Erkrankungen nach Eisenbahn- 

b* 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Unfällen geprüft. Es ließ sich hier ein Krankheitsbild abtrennen, das einen 
im wesentlichen vasomotorischen Symptomenkomplex zeigt und besser als 
Schreckneurose wie als Hysterie zu bezeichnen ist. Wesentlich verschieden 
davon sind die nervösen Störungen nach Kopftraumen mit zerebralen Er¬ 
scheinungen. Nach allgemeinen Erschütterungen treten wieder ausgesprochen 
neurasthenische Symptome auf. Wirken mehrere ätiologische Momente 
ein, so werden die Krankheitsbilder wesentlich komplizierter. Geheilt waren 
68% der Fälle, gebessert 13,3, unverändert 28%, verschlimmert 2,7% 
Dagegen waren, wenn man nur die Fälle berücksichtigte, die im ersten Jahre 
dnrch Kapital definitiv abgefunden waren, 81,6% geheilt, 8,6% gebessert; 
es ist also bei dieser Kategorie die Prognose sehr günstig. Bei den durch 
Eisenbahnunfälle hervorgerufenen funktionellen Erkrankungen des Nerven¬ 
systems ist also eine baldige Kapitalabfindung sehr erwünscht, bei der 
Arbeiterversicherung dagegen überwiegen Krankheitsbilder, bei denen lokale 
Verletzungen zu den Störungen des Nervensystems hinzukommen, so daß 
hier die Möglichkeit der einmaligen Entschädigung jedenfalls stark einge¬ 
schränkt erscheint, da die Prognose erheblich verschlechtert wird. Völlige 
Simulation wurde nur in 1-2% der genau verfolgten 173 Fälle gefunden. 

Berger (7) stellt hauptsächlich auf Grund zahlreicher eigener Beobach¬ 
tungen die Beziehungen zwischen Trauma, namentlich vom Standpunkt des 
Betriebsunfalls, und nachfolgender geistiger Erkrankung übersichtlich zu¬ 
sammen. Indem er zuerst die gesetzlichen Bestimmungen und den Begriff 
des Unfalls bespricht, weist er auch darauf hin, daß auch die außerge¬ 
wöhnliche Anstrengung bei einer Arbeit einen Unfall im gesetzlichen Sinne 
darstellen kann. Sehr ausführlich wird die Hirnerschütterung in ihren 
klinischen und anatomischen Erscheinungen besprochen; dabei wird bemerkt, 
daß die Symptome einer Hirnerschütterung für die Beurteilung der Folge¬ 
erscheinungen nicht von ausschlaggebender Bedeutung sind, weil schwere 
Hirnverletzungen und darauf zurückzuführende Erkrankungen Vorkommen, 
ohne daß Kommotionssymptome zu beobachten waren. Im einzelnen werden 
dann als organische Psychosen besprochen die Kommotionspsychose, die 
traumatische Demenz, ferner die Epilepsie, wobei eine traumatische Epilepsie 
und eine Reflexepilepsie von der traumatisch ausgelösten genuinen Epilepsie 
getrennt wird, dann alkoholische Psychosen, Paralyse, arteriosklerotische 
und senile Psychose und Dementia praecox; immer wird dabei auf die Kenn¬ 
zeichen hingewiesen, die das Trauma als Ursache für die psychische Er¬ 
krankung anzusprechen gestatten; diese Kennzeichen entsprechen den 
auch von anderen Autoren angenommenen Gesichtspunkten. Ähnlich werden 
die nach Unfall auftretenden funktionellen Psychosen besprochen und ihre 
Differentialdiagnose gegen reine Neurose eingehend gewürdigt. Die Arbeit 
mit vielen lehrreichen Einzelbeobachtungen ist gerade jetzt aktuell, wo nns 
der Krieg so häufig vor die Beurteilung traumatischer Folgezustände auf 
psychischem Gebiet stellt. (Weber- Chemnitz.) 

Rhein (139) beschreibt eine Reihe von Fällen mit allgemeiner Neur- 


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Schütte, Nenrosen und Schilddrüsenerkrankungen. 21* 

asthenie, in denen Schmerzen in der Schulter und im Arm auftraten, ver¬ 
bunden mit Adhäsionen im Gelenk, dazu gesellte sich Schwäche in den Arm¬ 
muskeln. Meist war nur eine Seite befallen, selten beide. Verf. glaubt, daß 
es sich um eine Entzündung im Plexus brachialis handelt, und schlägt den 
Namen „Arthritic neuritis“ vor. Die Behandlung besteht neben allgemeinen 
Maßnahmen in Anwendung von Elektrizität, Massage und Gelenkbewegungen. 
Die Prognose ist meist günstig. 

EngeUiom (42) hat die klimakteriellen Beschwerden, unter denen 
nervöse Störungen von seiten des Herzens und der Gefäße eine große Rolle 
spielen, durch ein- oder mehrmalige Blutentziehung von 100 ccm sehr günstig 
beeinflußt. Anch bei den durch Dysfunktion des Ovars bedingten nervösen 
Erscheinungen der Entwicklungsjahre hat ein Aderlaß gute Erfolge erzielt. 

Die Behandlung der Trigeminusneuralgien mit Alkoholinjektionen wird 
von Donath (35 a) sehr empfohlen. Er hat von 16 Kranken 11 geheilt und 
4 gebessert; nur in einem Fall mußte die Behandlung des 66jährigen, an 
Arteriosklerose und Myodegeneratio cordis leidenden Patienten anfgegeben 
werden. Verf. ist der Ansicht, daß das Gebiet der blutigen Resektionen des 
Trigeminus durch die Alkoholinjektionen erheblich eingeschränkt werden wird. 

Bohrer (145) bringt die Krankengeschichte eines 27 jährigen Arztes, 
der an Hemicrania ophthalmica litt. Er nimmt an, daß sich der Vorgang in 
der Rindenregion des Sehapparates abspielt, wahrscheinlich entsteht er durch 
eine Störung des Zellchemismus, hervorgerufen durch einen toxischen Stoff. 
Verf. faßt die Hemikranie als eine Krankheit auf, die entsteht durch das 
Zusammenwirken einer Disposition des Organismus und einer toxischen Noxe 
und unter anaphylaktischen Erscheinungen verläuft. 

Frö8chel8 (48) wendet sich gegen die Anschauung von Kußmaul und 
Gutzmann , daß das Stottern ein Krampf sei. Er führt aus, daß bei dieser 
Sprachstörung keine Krämpfe vorliegen, sondern abnorme Bewegungen, welche 
aus willkürlichen Bewegungen hervorgegangen sind und auch immer in 
einem gewissen Zusammenhang mit dem Willen stehen. 

Die Beziehungen der Sprachheilkunde zur übrigen Medizin erörtert 
Frösche!* (47). Er nennt hier die funktionellen Atemstörungen beim Stottern, 
bei verschiedenen Stimmkrankheiten und bei Taubstummen und bringt 
interessante Atemkurven. Ferner bespricht er das Stammeln, die Hörstummen 
und organische Erkrankungen des Zentralnervensystems mit Sprachstörungen. 
Auch in der Stomatologie spielt die Sprachheilkunde eine Rolle, so bei 
Behandlung des Lispelns der Über- und Unterbeißer und bei der Obturatoren¬ 
therapie der Uranoschismen. Postoperative Aphasien werden ebenfalls 
sprachärztlich beeinflußt, ferner bringt die Ohrenheilkunde allerlei Beziehun¬ 
gen, ebenso die Erkrankungen der Nase. Dankbar ist die Aufgabe, die 
Laryngektomierten in der Erzeugung der Pharynxstimme zu unterrichten. 
Schließlich hebt der Verf. noch hervor, daß blind geborene Kinder eine 
verzögerte Sprachentwicklung zeigen, ein Beweis, daß auch das Auge hier 
eine Rolle spielt. 


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22* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

Eine sprachärztliche Kriegsabteilung, über die Fröachds (49) berichtet, 
ist von dem Wiener Militärkommando eingerichtet. Die Resultate sind sehr 
erfreulich. Erwähnt soll hier nor werden, daß bei den Stotterern fast durch* 
weg als Ursache das Niedergedrücktwerden durch den Luftdruck eines ex* 
plodierenden Schrapnells angegeben wird, in einzelnen Fällen Verschüttet¬ 
werden mit Erde. Die Behandlung dieser Kriegsstotterer ist äußerst mühe¬ 
voll. Auch bei hysterischen Aphonien, organischer Stimmbandlähmung und 
Gaumenlähmung sind die Erfolge gut 

Die Untersuchungen an 25 stotternden Individuen führten Browning (20) 
zu dem Ergebnis, daß regelmäßig eine Vergrößerung oder Persistenz der 
Thymus vorliegt Eine weitere Rolle spielen Zirkulationsstörungen, die etwa 
in der Hälfte der Fälle vorhanden waren. Auch rhachitische Veränderungen 
fanden sich häufig. Vergrößerung der Thyreoidea fand sich häufiger bei Mäd¬ 
chen als bei Knaben. Die Tatsache, daß Mädchen weniger oft stottern als 
Knaben, erklärt Verf. damit, daß bei ersteren die thymo-lymphatische Kon¬ 
stitution seltener ist, auch die kostale Atmung spielt eine Rolle. Heredität 
ist weniger für das Stottern selbst nachweisbar als für die Neigung zu einer 
Hyperplasie der Thymus. 


B. Epilepsie. 

Obersteiner (116) betont, daß auch bei den sog. exogenen Nervenkrank¬ 
heiten ein endogeuer Faktor, und zwar die Anlage, eine große Rolle spielen 
kann. Eine angeborene Anlage ist besonders bei Tabes nachgewiesen, wird 
auch wohl mit Recht bei der multiplen Sklerose vorausgesetzt, wenn hier 
auch vielleicht nur eine Disposition vorhanden ist. Für die echte Syringo¬ 
myelie sind entwicklungsgeschichtliche Anomalien festgestellt, die vielleicht 
auch für die meisten eigentlichen Gliome gelten. Ebenso wie jetzt schon 
bei der juvenilen Form wird sich auch für die Paralyse der Erwachsenen 
eine spezifische Anlage nachweisen lassen. Ferner finden sich bei Dementia 
praecox, der genuinen Epilepsie und auch bei vielen Hirntumoren kongenitale 
Abweichungen, ferner bei hereditärer Ataxie, amaurotischer Idiotie, Kern¬ 
aplasie, Pseudosklerose und TPtfconscher Krankheit. 

Friedmann (45) faßt das in den „gehäuften kleinen Anfällen“ sich 
äußernde Leiden zunächst nur als einen Symptomenkomplex auf. Bisweilen 
stellen sich nach längerer oder kürzerer Zeit doch echte epileptische Krämpfe 
und epileptische Degeneration ein, oder es sind lange andauernde Konvulsionen 
in der ersten Kindheit vorausgegangen, oder es findet sich noch eine für die 
Spasmophilie typische elektrische Oberregbarkeit. Eine dritte Form der „ge¬ 
häuften kleinen Anfälle“ gehört der Hysterie an. Dagegen ist das primäre 
narkoleptische petit mal ein ganz selbständiges Leiden, das stets denselben 
Anfallstypus darbietet, in welchem allein der Ausfall der höheren Denk- und 
Willensfunktion sich bekundet. Gewöhnlich ist es nur von einer Aufwärts¬ 
drehung der Augen und leichtem Lidflattem begleitet, nicht selten auch von 
einer Schwäche der Arme und Beine. Wahrscheinlich handelt es sich hier 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


23 * 


um eine eigenartige Gestaltung der Gehirnmüdigkeit, welche zu plötzlichem 
vorübergehenden Versagen der geistigen Funktionen führt Die Prognose 
ist gut 

Nach Redlich (137) gehört die Mehrzahl der bisher als Narkolepsie be¬ 
schriebenen Fälle in andere Kategorien. Er selbst hat nnr einen Fall be¬ 
obachtet, auf den alle Charaktere der von Gtlineau beschriebenen Narko- 
epilepsie paßten. Es handelte sich um einen 19jährigen Mann, Sohn eines 
Trinkers, der mehrfach am Tage bei der Arbeit, beim Gehen, meist aber bei 
ruhigem Sitzen Schlafanfälle bekam, die von einigen Minuten bis zu mehreren 
Stunden dauerten. Nur selten konnte der Patient das Schlafbedürfnis unter¬ 
drücken, durch Anrufen und Rütteln konnte er geweckt werden. Gemütsbe¬ 
wegungen hatten keinen Einfluß auf die Häufigkeit der Anfälle. Beim Lachen 
hatte der Kranke das Gefühl, als müsse er zusammensinken, und knickte in 
den Knien ein. Epileptische und hysterische Symptome fehlten. Es handelt 
sich nach Ansicht des Verf. um ein gesteigertes Schlafbedürfnis, das sich in 
einer pathologischen Form äußert. 

Zimmermann (186) konnte in den anfallsfreien Zeiten bei Epileptikern 
keine Veränderung des Blutbildes finden. Vor dem Anfall machte sich eine 
starke Vermehrung der weißen Blutkörperchen bemerkbar. Regelmäßig ver¬ 
mehrt waren die Lymphozyten, vielfach auch die mononukleären; die eosino¬ 
philen dagegen gingen zurück. Im Anfall selbst kam es zu einem mäßigen 
Rückgang der neutrophilen Leukozyten, die Steigerung der Lymphozyten hielt 
an. Nach 1—2 Tagen glich das Blutbild sich wieder aus. 

Unter 33 epileptischen Soldaten, die Bonhoeffer (17) untersuchte, waren 
bei 20 die Anfälle schon vor dem Feldzuge aufgetreten, bei 10 anderen hat¬ 
ten sichere epileptische Anzeichen schon vor der aktiven Dienstzeit bestanden. 
Bei den im Feldzug zum erstenmal beobachteten Anfällen ließ sich stets eine 
Disposition nachweisen. Es wurde kein sicherer Fall gefunden, bei dem aus¬ 
schließlich die Kriegsereignisse als Ursache der Epilepsie in Betracht ge¬ 
kommen wären, ausgenommen die Epilepsie nach Schädeltraumen. Andererseits 
war aber nicht zu verkennen, daß Gemütsbewegungen und Überanstrengungen 
die Anfälle auslösten. Neben den epileptischen fanden sich Anfälle bei Indi¬ 
viduen mit labilem Vasomotorium. Diese haben die Neigung, psychogen 
auslösbar zu werden, ohne daß sich sonst ein hysterischer Habitus entwickelt. 

Die Beziehungen von Epilepsie und Schwangerschaft behandelt die 
Dissertation von Meyer (99). Er bringt vier einschlägige Beobachtungen, in 
einer derselben war die Epilepsie zum erstenmal während des Puerperiums 
auf getreten, in einem zweiten Falle erst während der Schwangerschaft. Bei 
einer anderen Frau war ein günstiger Einfluß der Gravidität auf die Epilepsie 
unverkennbar. 

Hebold (62) hat an einem großen Material untersucht, auf welche Art 
der Tod der Epileptiker eintritt. Nur in wenigen Fällen fanden sich keine 
äußeren Ursachen, so daß hier nur die Annahme eines Herzschlags übrig 
blieb. Bei weitem am häufigsten kamen Unfälle in Betracht; im Endzustände 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


des Anfalles, dem Zustande der Bewußtseinsstörung kann der Tod durch 
Selbstmord herbeigeführt werden. Nach dem Anfall kann der Tod durch 
Folgen der Verletzungen eintreten; so wird das seltene Vorkommen eines 
Balkenrisses angeführt. 

Die Untersuchungen Cuneos (32) richten sich auf das Verhalten des 
Stickstoffs und des Blutes bei Epileptikern. Er faßt die Ergebnisse seiner 
biochemischen Untersuchungen in folgenden 4 Leitsätzen zusammen. 1. Die 
Analyse des in der Zeit des Anfalles produzierten Harns ergibt, daß die 
Harnstoff bildende Funktion sich in normaler Weise vollzieht und daß kein 
Anzeichen ammoniakalischer Autoinfektion vorhanden ist. 2. In der Anfall¬ 
periode macht sich eine starke Neigung zur Azidität bemerkbar oder auch 
eine starke Bildung organischer Säuren, die, wenn sie als Ammoniumsalze 
infolge des Fehlens von Natrium- und Kaliumverbindungen ausgeschieden 
werden, eine außerordentliche Menge von Ammoniak im Harn erzeugen, je¬ 
doch ohne daß die Harnstoffproduktion beeinträchtigt wird. 3. Gesteigerte Stick¬ 
stoffzufuhr hat beim Epileptiker eine namhafte Vermehrung des Stickstoffge¬ 
haltes der Fäzes zur Folge; diese Tatsache läßt auf eine Störung in der 
Funktion der intestinalen Resorption schließen. 4. In dem sofort nach dem 
Anfall entnommenen Blute ist eine Substanz nachweisbar, die alle Eigen¬ 
schaften der Albumosen besitzt, sich aber in der anfallsfreien Zeit nicht findet. 
Verf. glaubt, daß man auf Grund dieser Ergebnisse in der Erforschung der 
Pathogenese der Epilepsie weiter kommen kann, vorläufig genügen sie aller¬ 
dings nicht zur Aufklärung dieses schwierigen Gebietes. 

Kellner (78) hat mit der Flechsigschen Opium-Brom-Rur unleugbar 
gute Resultate erzielt. Unter 260 Kranken konnte er niemals eine dauernde 
Schädigung durch diese Behandlung feststellen, dagegen konnte er in 20—25% 
der Fälle Besserung und Heilung erzielen. Verf. gibt im Laufe von 60 Tagen 
Opiumdosen, die von 3 mal täglich 0,05 Extr. Opii beginnend bis 3 mal täglich 
0,29 Extr. Opii ansteigen. Dann folgt die Bromdarreichung, anfangs 5, dann 
6 und 7 g, die dauernd genommen werden, falls der Kranke es verträgt 
Die allgemeinen diätetischen Vorschriften sind selbstverständlich zeitlebens 
von dem Epileptiker innezuhalten. 

Barakov (H) beschäftigt sich zuerst mit den bisherigen Erfolgen ver¬ 
schiedener Therapiearten bei der Epilepsie und bespricht dann eingehend seine 
eigene Methode, die Borsäure-Epilepsiebehandlung. Er ordiniert am Beginn 
der Krankheit in wässeriger Lösung 2 g Borsäure pro die (morgens und abends 
je 1 g), nach 2 Tagen gibt er 3 g pro die, nach weiteren 3 Tagen 4'/2 g pro 
die und nach weiteren 10 Tagen 6 g, auf welcher Dosis er etwa 14 Tage 
verbleibt. Auf diese Art und Weise will er in etwa 75% seiner Fälle gute 
Resultate beobachtet haben. Bei jugendlichen Patienten erzielte er entweder 
eine wesentliche Besserung des Zustandes, Verminderung der Anfällezahl oder 
vollständige Heilung, bei veralteten Fällen war aber die Therapie machtlos. 
Andere Medikamente gibt er gleichzeitig nicht; salzarme Kost. 

( Jar. StucMfk.) 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


25 * 


Zur Behandlung „traumatischer Epilepsie“ nach Hirnschußverletzung 
empfiehlt Spielmeyer (160) systematische Kühlungen der Hirnoberfläche; er 
wurde zu dieser Behandlung durch die Versnche des Physiologen Trendelen¬ 
burg angeregt. Er erzielte mehrfach gute Erfolge bei Verletzten mit Schädel - 
knochendefekt, der die Kühlung vermittelst Eisbeutels und kalter Umschläge 
gut ermöglichte. Zugleich macht Verf. auf die von Trendelenburg angegebene 
Unterschneidung der Hirnrinde aufmerksam, die namentlich bei traumatischer 
Epilepsie mit Lähmungserscheinungen monoplegischer und hemiplegischer Art 
nach gröberen Hirnschädigungen angewandt zu werden verdient. 

C. Chorea und andere motorische Neurosen. 

Swift (167) bringt eine kurze Anleitung, um die Stimmveränderung bei 
Choreatischen zu prüfen. Er empfiehlt, ein langgezogenes „a“ aussprechen 
zu lassen und auf die Veränderungen in der Höhe und Intensität des Vokals 
zu achten, die durch choreatische Kontraktionen erhöht werden. 

Dost (36) konnte das Gehirn einer an Huntingtonscher Chorea ver¬ 
storbenen Patientin genau untersuchen. Es wog nur 810 g, zeigte aber keine 
sicheren Anzeichen einer Entwicklungsstörung. Es fand sich eine Pachymenin- 
gitis haemorrhagica, deren Zusammenhang mit einem Unfall, den die Kranke 
kurz vor Auftreten der ersten choreatischen Symptome erlitten hatte, nicht 
angenommen werden konnte. Mikroskopisch erscheinen die Tangential- und 
Supraradiärfasern mäßig gelichtet, ferner waren die Ganglienzellen der ge¬ 
samten Hirnrinde, des Thalamus, Streifenhügels, Nucl. ruber, Nucl. dentatus, 
weniger der Kleinhirnrinde und des Rückenmarkes erkrankt. Meist lag eine 
Schwellung des Zelleibes mit Zerfall der Nißl-Granula und Ansammlung von 
Pigment vor, Schrumpfung der Zellen wurde weniger beobachtet. Die Fibrillen 
waren vielfach staubförmig zerfallen. Die Glia war mäßig gewuchert; in 
den Lymphscheiden der Gefäße und in den Zellen der Gefäßwand lag viel 
Pigment. Arteriosklerose fehlte. Der Befund ist mit großer Wahrschein¬ 
lichkeit auf die Chorea Huntington zu beziehen. Das Gehirn war angeboren 
minderwertig. 

Bruhn (22) bringt in seiner Inaugural-Dissertation die Beschreibung 
eines Falles von Huntingtonscher Chorea, der nichts Besonderes bietet. Zwei 
weitere Beobachtungen dieser Krankheit sind in der Dissertation von Fritze 
(46) veröffentlicht. 

Die Dissertation von Heinrichs (63) bringt zwei Fälle von Chorea minor 
mit Psychose. Dasselbe Thema behandelt Kühl (86), der mit Salvarsan- 
injektionen keinen nennenswerten Erfolg erzielen konnte. Bei dem von ihm 
beobachteten jungen Mädchen hatten die Zuckungen ihren Höhepunkt am Ende 
der 3. Woche erreicht, die psychischen Erscheinungen dagegen erst in der 
6. Woche. Nach 4 Monaten war völlige Heilung eingetreten. 

Michels (104) beschreibt in seiner Dissertation einen Fall von Chorea 
hysterica bei einem 14 jährigen Knaben, der nach fast zweimonatlicher Be¬ 
handlung geheilt wurde. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


Engelhard (41) konnte unter 212 Personen aus einer Familie, die über 
5 Generationen verteilt waren, 20 mit Nystagmus behaftete nachweisen, und 
zwar 19 Männer und 1 Frau. Der Nystagmus war konstant begleitet von einem 
gewissen Grad von Pigmentarmut im Fundus oculi und von einem schlechten 
Visus, der teilweise auf einer leichten Atrophie des Optikus zu beruhen schien. Der 
Vererbungstypus war derart, daß ein kranker Mann nur selten direkt, wohl 
aber über eine gesunde Tochter die Abweichung vererbte, daß ein gesunder 
Mann gesunde Nachkommenschaft hatte, daß jedoch das Fehlen des Nystag¬ 
mus bei einer Frau das Nichtvorhandensein der Anomalie bei ihrer Nachkom¬ 
menschaft nicht garantierte. 


D. Hysterie. 

Die Kriegshysterien werden von Binewanger (10) eingeteilt in zwei 
Hauptgruppen, nämlich erstens die Fälle, in denen schon vor Ausbruch des 
Krieges konstitutionelle hysteropathische Veranlagung bestand, und zweitens 
in solche, bei denen jede derartige konstitutionelle Erkrankung auszuschließen 
war. Beobachtungen der letzteren Art sind bei weitem am häufigsten. Die 
hystero-soraatischen Krankheitsbilder entwickeln sich entweder unmittelbar im 
Anschluß an psychisch erschütternde, mechanisch oder toxisch schädigende 
Ereignisse ,oder sie traten erst nach einem Inkubationsstadium zutage. Die 
hystero-somatischen Symptome sind bei beiden Kategorien nicht verschieden, 
vorwiegend sind die verschiedenen Tremorarten bis zum Schüttelkrampf, die 
Dysbasien und Astasien, monoplegische resp. monoparetische und hemipare- 
tische Erscheinungen mit Kontraktur oder leichteren spastischen Zuständen 
und endlich die Störungen der Hautempfindung und der Schmerzgefühlsreaktion. 
Bei der Entstehung der spezifisch hysterischen Merkmale spielt der psychische 
Faktor die Hauptrolle, doch bleibt der Mechanismus der psychischen Vorgänge 
selbst völlig ungeklärt. Die Behandlung besteht in Anwendung der Verbal¬ 
suggestionen unter Zuhilfenahme physikalischer arzneilicher Mittel; dazu kommt 
eine ausgedehnte Beschäftigungstherapie. Die Erfolge sind gut, als besonders 
hartnäckig haben sich aber die hysterischen Sprach- und Phonationsstörungen 
erwiesen. 

Nonne (111) hat zwar viele Neurosen und schwere Hysterien bei Sol¬ 
daten gesehen, schließt daraus jedoch keineswegs auf eine größere Verbreitung 
und betont, daß viele der schwersten Verletzungen fast durchweg ohne Neu¬ 
rosereaktion ertragen werden. Fälle von grande hysterie sah er unter den 
verschiedensten Bildern, wie Mutismus, Stottern, isolierte klonische Krämpfe 
einzelner Muskeln als Monoplegien verschiedener Extremitäten usw. Besonders 
häufig waren Fälle von Abasie. Auch sah Verf. nicht selten, daß hysterische 
Symptome organisch bedingten Krankheitsbildern superponiert waren. Bei 
einer großen Reihe von Fällen konnte durch Suggestion in Hypnose über¬ 
raschend schnelle, sog. „Wunderheilung“ erzielt werden. So war bei einem 
Kranken mit klonischen Zuckungen der Gesichtsmuskeln und voller Astasie 
und Abasie nach 3 Sitzungen ein Verschwinden der Krankheitszeichen bewirkt. 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


27 * 


Hoche (65) hat zu seiner Freude feststellen können, daß die schon früher 
von ihm bestrittene Lehre von der Dekadenz unseres Volkes durch den Krieg 
widerlegt ist. Weiter betont er, daß die Luxussanatorien sich geleert haben 
and daß viele neurasthenische Individuen überraschende Leistungen im Felde 
vollbracht haben. Auch die psychoanalytische Literatur ist zurückgegangen. 
Hocke ist der Ansicht, daß jeder Kriegsteilnehmer bei entsprechenden Erleb¬ 
nissen hysterisch werden kann. Die meisten Fälle von Kriegshysterie sind 
psychogen entstanden, teils in dem Sinne des Bestimmtseins durch entspre¬ 
chende Vorstellungen, teils durch Auslösung auf affektivem Wege. Inter¬ 
essanter aber sind die Fälle, bei denen z. B. eine Granatexplosion unmittelbare 
Bewußtlosigkeit zur Folge hat, nach deren Verschwinden der Patient mit 
einer Reihe hysterischer Ausfalls- oder Reizerscheinungen erwacht, also eine 
psychische Einwirkung als vermittelndes Zwischenglied nicht in Frage kommt. 
Es muß also diese Störung sowohl von der psychischen wie von der materiellen 
Seite her ausgelöst werden können. 

Gaupp (52) hat die Beobachtung gemacht, daß seit etwa Dezember 1914 
die Zahl der nervenkranken Soldaten gewachsen ist, bei denen heftiger 
Schreck nach Granatkontusion als hauptsächliche Ursache angegeben wird. 
Diese und andere nervöse Zustände, besonders aber die hysterischen, heilen 
nach den Erfahrungen des Verf. oft nicht eher, als bis der Patient die Ge¬ 
wißheit hat, daß er nicht mehr zur Front zurückzukehren braucht. So be¬ 
trübend diese Tatsache auch ist, so tut mau doch am besten, den Kranken 
nachzugeben, da sie als minderwertiges Material doch nichts nützen und später 
nur hohe Renten beanspruchen. Eine zweite Gruppe besteht aus älteren 
Männern, die bald nach der Einziehung hysterische Symptome bekommen, 
ln vielen Fällen wird es auch hier nützlich sein, nach einer passenden anderen 
Verwendung solcher Mannschaften zu suchen, ein militärisches Arbeitsnach¬ 
weisamt bei jedem Armeekorps würde dieser Forderung wohl am besten ge¬ 
recht werden können. 

Auf die Wichtigkeit der Differentialdiagnose zwischen Hysterie und psycho¬ 
pathischer Konstitution gegenüber der Hebephrenie im Felde macht Bonhoeffer 
(18) aufmerksam. Besonders groß sind die Schwierigkeiten bei Fällen von 
hysterischer Pseudodemenz und Ganserschem Dämmerzustand. Verf. führt 
mehrere Beispiele an, bei denen die Symptome zu Anfang noch wenig aus¬ 
geprägt waren. Stets lag der springende Punkt der Differentialdiagnose im 
Verhalten der Affektreaktion und der damit im engsten Zusammenhänge 
stehenden geistigen Aktivität. Man ist bei der Beurteilung vorläufig auf das 
psychische Bild angewiesen, da objektive Maßstäbe für das Verhalten der 
Affektivität wie die Messung des Pupillarspiels gerade in der Zeit der be¬ 
ginnenden Erkrankung oft versagen. 

Nach dem Vorgang von Siemerling unb Stern bezeichnet Bnecke (133) 
als „Situationspsychosen“ Zustände, die durch äußere Umstände und die 
damit zusammenhängenden psychischen Eindrücke hervorgerufen und durch 
einen Wechsel der äußeren Situation beseitigt oder verändert werden. Dazn 


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28 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


gehören namentlich ein Teil der durch den Einfluß der Haft entstehenden 
akuten Geistesstörungen, und man hat die Beeinflußbarkeit dieser Psychosen 
durch äußere Momente, z. B. durch die Verbringung des Kranken aus der 
Haft in eine Krankenanstalt vielfach als Beweis für die hysterische Natur 
dieser Krankheitszustände angesehen. R. zeigt aber an einigen Beispielen, 
daß auch akute Krankheitszustände, die nach dem weiteren Verlauf sicher 
der Dementia praecox zugerechnet werden müssen, einer ähnlichen Beeinflu߬ 
barkeit zugängig sind; man muß deshalb auch mit katatonen Situations¬ 
psychosen rechnen und immer wieder versuchen, aus der Symptomatologie 
Gesichtspunkte für die differentialdiagnostische Abgrenzung zu gewinnen. 

(TVeter-Chemnitz.) 

Nonne (112) hat mit der Hypnose bei Kriegshysterie sehr gute Erfolge 
erzielt und empfiehlt diese Behandlung als geradezu spezifisch. In 63 Fällen 
konnte er nur einmal eine partielle Schnellheilung spontan und nur fünfmal 
eine solche durch Wachsuggestion hervorrufen, in 28 Fällen dagegen erzielte 
er eine Schnellheilung durch hypnotische Suggestion, ln allen diesen Fällen 
war die Hypnose tief, auch in den 23 Beobachtungen von allmählicher Heilung. 
Die häufigste Ursache der Entstehung der hysterischen Symptomenkomplexe 
waren Granatkatastrophen. Neuropathische Belastung und nervöse Anteze- 
dentien im Vorleben waren -nur zehnmal nachzuweisen. Die Hypnose gelang 
auch bei Soldaten mit normalem Nervensystem, Städter und Landbewohner 
unterschieden sich nicht. Unter den Fällen von Schnellheilung war die Ent¬ 
stehung des Symptomenkomplexes mit einer Ausnahme stets akut gewesen, 
war die Krankheit allmählich entstanden, so ging auch die Heilung nur all¬ 
mählich vor sich. In Fällen von motorischer Lähmung war eine Störung der 
Sensibilität fast ausnahmslos vorhanden, sie entsprach fast immer der funk¬ 
tionellen Einheit der Extremitäten, d. h. sie schnitt gliedweise ab. Vasomo¬ 
torische Störungen waren auffallend häufig, sie heilten in den meisten Fällen 
spontan und schnell. Auffallend war es, wie leicht die tiefste Hypnose bei 
vielen Kranken gelang. 

Engelen (39) ist ein Anhänger des PersuasionsVerfahrens bei Psycho- 
neurosen. Er führt aus, daß bei dieser Behandlungsweise die Suggestion eine 
große Rolle spielt. Daneben soll man aber nicht auf die körperliche Therapie 
verzichten. Bei Unfall- und Kriegsneurosen ist weitgehende Aufklärung des 
Kranken notwendig; die Belehrung erfolgt am besten in der von Dubois aus¬ 
gearbeiteten Gesprächsweise. 

Bei den Kranken mit nervösen Störungen durch Granatexplosionen handelt 
es sich nach Bittorf (12) fast ausnahmslos um hysterische Krankheitsbilder, 
die durch psychischen Schock und mechanische Momente (Luftdruck) hervor¬ 
gerufen sind. Die Behandlung muß in erster Linie psychotherapeutisch sein, 
der Grundton der psychischen Beeinflussung soll ernst, selbst streng sein, um 
das Pflichtgefühl, den Willen zur Gesundheit zu wecken. Dazu müssen sug¬ 
gestive Maßnahmen wie die Anwendung des elektrischen Stromes kommen. 
Die Resultate dieser Behandlung sind sehr gut. Die Kranken sollen nach der 
Heilung möglichst bald der Truppe zugeführt werden. 


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Schütte, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 


29 * 


Witte (181) beschreibt einen Fall von Hysterie bei einem 39 jährigen 
Militärkrankenwärter. Die Krankheit schwand rasch bei Ruhe, körperlicher 
Erholung und psychischer Beeinflussung. Verf. macht den Vorschlag, derartige 
Kranke möglichst bald aus den Lazaretten zu entfernen und geeigneten An¬ 
stalten zuzuführen. 

Die Dissertation von Vogt (172) bringt die Beschreibung einer hysterischen 
Frau, die während eines Verwirrtheitszustandes unter dem Einfluß von ehe¬ 
lichen Streitigkeiten und Alkoholgenuß eine Brandstiftung begangen hatte. 
Es konnte ihr der Schutz des § öl zugebilligt werden. 

Schilling (150) konnte bei einer 40 jährigen, leicht hysterischen Frau 
ein Maiskorn aus dem linken unteren Nasenflügel entfernen, das angeblich 
dort 8 Jahre gesessen hatte. Näheres konnte nicht ermittelt werden. 

E. Basedow and Erkrankungen anderer endokriner 

Drüsen. 

Oswald (125) hat festgestellt, daß die für Jod überempfindlichen Men¬ 
schen ausnahmslos ein geschädigtes Nervensystem haben. Bei solchen Indi¬ 
viduen ist auch Kokainempfindlichkeit sehr häufig vorhanden. In der Aszendenz 
der Jodempfindlichen kommen oft Stoffwechselkrankheiten vor, namentlich 
Diabetes; diese Tatsache deutet schon auf einen genetischen Zusammenhang 
hin zwischen Störungen des Stoffwechsels und Schädigungen des Nervensystems. 
Auch für die Konstitutionskrankheiten würden diese Beziehungen Geltung 
haben. 

In einer zweiten Arbeit wendet sich Osxcald (126) gegen den Begriff 
„metabolisiertes Jod“ und setzt auseinander, daß es sich doch nur um das 
Jodthyreoglobulin handelt. Das Fehlen von Jodthyreoglobulin ist die Ursache 
des Myxödems und Kretinismus. Beim primären Basedow ist das Nerven¬ 
system von vornherein ansprechbarer, eine Folge der verstärkten Innervation 
der Drüse ist die Überflutung des Kreislaufes mit Jodthyreoglobulin. Beim 
sekundären Basedow erfolgt eine chronische Reizwirkung seitens des anhaltend 
mehr produzierten Sekretes, welches mit der Zeit das Nervensystem ansprech¬ 
barer macht. Verf. konnte nachweisen, daß das Jodthyreoglobulin eine ex¬ 
quisit Nerventonus erhöhende Substanz ist, es erhöht die Ansprechbarkeit des 
vegetativen wie des animalen Nervensystems. So erklären sich die Symptome 
bei Fortfall der Schilddrüsenfunktion, der träge Stoffwechsel, die trockene 
Haut, die geistige Apathie usw., anderseits aber auch die Bilder des Hyper- 
thyreoidismus und des Basedow mit dem gesteigerten Stoffwechsel, der An¬ 
sprechbarkeit des Nervensystems usw. 

Derselbe Verfasser (127) geht bei seiner Besprechung der Theorie des 
Basedow vom Hyperthyreoidismus aus. Er weist nach, daß die gegen Schild¬ 
drüsensubstanz empfindlichen Menschen regelmäßig zu den Neuropathischen 
im weitesten Sinne des Wortes gehören, und schließt daraus, das man auch 
für den typischen Basedow einen im Nervensystem gelegenen Faktor annehmen 
muß. Auch die klinische Beobachtung bestätigt diese Tatsache. Das Struma 


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30 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


kommt dann als sekundäres Symptom hinzu. Es ist nachweisbar, daß die 
Schilddrüse unter dem Einfluß nervöser Momente ihr Volumen vermehren kann, 
besonders bei vaskulären Strumen. Die Drüse wird bei stärkeren Reizen 
mehr Sekret abgeben, so daß der Nerventonus erhöht wird, der seinerseits 
dann wieder die Schilddrüse anregt. Bei dem sog. sekundären Basedow spielt 
dagegen die Schilddrüse die primäre Rolle, indem sie längere Zeit nerven- 
tonuserhöhende Substanzen abgibt. 

Anknüpfend an zwei Fälle von Morbus Basedowii bespricht Ortner (123) 
die Symptome dieser Erkrankung. Er betont, daß jedes Augensymptom fehlen 
kann, nur das Glanzauge hat er niemals vermißt. An dem Zustandekommen 
der Basedow-Erkrankung nimmt auch die Thymus Anteil, ferner möglicher¬ 
weise auch noch die Nebennieren und das Ovarium. Verf. hebt hervor, daß 
im initialen Stadium durchaus nicht immer Tachykardie zu finden ist, vielmehr 
Labilität und Irregularität der Herzaktion auffällig ist. Bradykardie ist eben¬ 
falls beobachtet. Auch die Abmagerung ist nicht immer vorhanden. Ferner 
kommen subfebrile sowie erhöhte Temperaturen vor. Bezüglich der Lungen¬ 
tuberkulose bei Basedow erwähnt Verf., daß sie nur selten vorkommt und 
einen gutartigen Charakter trägt, falls es sich nicht um einen hochgradig ent¬ 
kräfteten Kranken handelt. 

v. Korczynsh (83) beschreibt einen Fall von infantiler Hypothyreose bei 
einem 15 jährigen Mädchen, das körperlich und geistig zurückgeblieben war. 
Die Haut war in den oberen Schichten trocken, in den unteren Lagen derb, 
ferner leicht frierend. Im Blute waren die neutrophilen Zellen stark zurück¬ 
gegangen, die mononukleären Leukozyten vermehrt, auch kamen relativ reich¬ 
liche Knochenmarkzellen vor. Die eosinophilen Leukozyten waren stark 
vermehrt, die roten Blutkörperchen an Zahl fast normal, der Hämoglobin- 
gehalt sehr niedrig. Wassermann positiv. Eine antiluetische Kur verbunden 
mit Darreichung von Tbyreoidin brachte sehr guten Erfolg. Hereditäre Lues 
kann also sehr wohl als Ursache für infantile Hypothyreose in Frage kommen. 

Stiefler (164) beschreibt einen Fall von Myotonia congenita mit my¬ 
atrophischen und myasthenischen Erscheinungen. Trotzdem das Leiden bereits 
ausgebildet war, wurde der Kranke doch zum Militär eingezogen, versagte 
aber natürlich rasch. Die Myotonie betraf die gesamten willkürlichen Mus¬ 
keln. Exzidierte Stückchen zeigten mikroskopisch eine enorme Verbreiterung 
der Muskelfasern, Vergrößerung und Vermehrung der Sarkolemmkerne und 
Verbreiterung der Bindegewebssepten. Die Atrophie beschränkte sich auf die 
kleinen Handmuskeln und hatte keinen degenerativen Charakter. Dazu kamen 
myasthenische Erscheinungen. In pathogenetischer Hinsicht bietet das gemein¬ 
same Vorkommen von Myotonie und Myasthenie insofern ein Interesse, als 
beide Krankheiten als parathyreogene aufgefaßt werden. 

Hoppe-Seyler (66) konnte in einem Falle von Diabetes insipidus durch 
subkutane Injektionen von Pituitrin erhebliche Besserung erzielen. Rinder¬ 
hypophyse, Thyreoidin und Pituglandol versagten, ebenso Pituitrin per os. 
Zweifellos lag eine Störung in der Hypophyse vor; der Diabetes insipidus 
ist als Ausdruck einer ungenügenden Funktion der Hypophyse anzusehen. 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 


31 * 


Rhein (138) gibt eine Übersicht über die bei Erkrankung der Hypophyse 
aultretenden Symptome. Erhöhte Tätigkeit der Hypophyse bringt Riesenwuchs 
und Akromegalie hervor, herabgesetzte Funktion dagegen Fettsucht, Entwick¬ 
lungsstörungen und sexuellen Infantilismus. 

Fürth (50) hat eine Akromegalie zehn Jahre hindurch behandelt. Gegen 
die bestehenden Sehstörungen war anfangs Jodnatrium sehr wirksam, später 
versagte es. In der letzten Zeit der Behandlung erschien es aber wieder 
wirksam. Vertragen wurden sehr hohe Dosen bis 14 g pro die. Es bestand 
zweifellos ein Tumor der Hypophyse. Zuletzt blieben die Sehstörungen sta¬ 
tionär, wobei vielleicht der Umstand mitwirkte, daß die Patientin inzwischen 
in das klimakterielle Alter gelangt war. 

Leva (90) hat zwei Fälle von Akromegalie beobachtet. Die Mütter der 
Patienten waren Schwestern, aber auch sonst bestanden noch enge verwandt¬ 
schaftliche Beziehungen. Bei beiden Kranken fehlten Himdrucksymptome ; 
dagegen bestanden eigentümliche Hautveränderungen. In einem Falle konnte 
die Sektion gemacht werden; die Hypophyse war hier eher atrophisch als 
vergrößert, es konnte mikroskopisch nur eine Vermehrung der eosinophilen 
Zellen nachgewiesen werden. Riesenwuchs fehlte. Verf. nimmt an, daß hier 
eine in der Konstitution gegebene und durch Konsanguinität vielleicht kumu¬ 
lierte neuropathische Anlage zur Entwicklung der Akromegalie geführt hat. 


2. Gerichtliche Psychopathologie. 

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Sitzg. v. 23. H. 15.) Eigenbericht: Neurol. Zentralbl. Nr. 
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915- 


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92. Türkei, Siegfried, Die Zurechnungsfähigkeit. Leipzig u. Wien, 

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93. Türkei, S., Ein interessanter Fall von Schlaftrunkenheit. H. 

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94. Valtorta, Dario (Como), In causa di furto qualificato: duptice 

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95. Vogt , Adolf.\ Uber hysterische Psychosen und ihre forensische 

Beurteilung. Inaug.-Diss. Kiel. 

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trischen und Nervenklinik zu Kiel in den Jahren 1901— 
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98. Weber, L. W., Wundinfektion als Unfall und progressive 

Paralyse. Ärztl. Sachverst.-Ztg. Nr. 13. (S. 43*.) 

99. Welsch, Ein Fall von Diebstahl aus Gegenstandsfetischismus. 

Groß’ Archiv Bd. 62, H. 2/3. (S. 43*.) 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 39* 

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102. Weyert (Posen), Militär-psychiatrische Beobachtungen und 

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Nerven- u. Geisteskrankh. Bd. 11, H. 2/4. Halle, C. 
Marhold. 145 S. — 3,60 M. (S. 44*.) 

103. Weygandt, W. (Hamburg), Psychische Störungen bei Solda¬ 

ten. (Ärztl. V. Hamburg, Sitzg. v. 12. I. 15.) Ref.: D. 
med. Wschr. Nr. 23, S. 694. 

104. Weygandt , W. (Hamburg), Kriegspsychiatrische Begutach¬ 

tungen. München, med. Wschr. Nr. 37, S. 1257, desgl. 
Vortrag Wandervers. südwestd. Neurolog. u. Irrenärzte, 
Baden-Baden, 22723. Mai 1915. Eigenbericht: Psych.-neu- 
rol-Wschr. Nr. 37/38, S. 216. 

105. Williams, Tarn A. (Washington, D. C.), The prevention of 

suicide. American joum. of insanity Vol. 71, Nr. 3, p. 559. 

I. 

L. W. Weber (97) betont mit Recht, daß der psychiatrische Gutachter 
im allgemeinen in seinen Äußerungen nicht über sein Fachgebiet hinaus¬ 
gehen soll, daß es aber doch gelegentlich erwünscht sein kann, daß er sich 
auch dann über die Psyche eines Prozeßbeteiligten äußert, wenn es sich nicht 
um Fragen aus der Psychiatrie, sondern aus der Psychologie handelt. Er 
muß dabei nur hervorheben, daß seine Ausführungen sich nicht auf seine 
Fachkunde, sondern auf seine allgemeinärztliche Erfahrung stützen. Es 
empfiehlt sich nicht, die Beantwortung derartiger Fragen abzulehnen, wenn 
sie gelegentlich vom Gericht gestellt werden. Damit würde man nur dem 
psychologischen Kurpfuschertum, wie es jetzt auf dem Boden der Freudschen 
Schule üppig wuchert, in die Hände arbeiten, und weder dem Richter noch 
dem Arzt oder der Rechtsfindung wäre damit gedient. An einem Beispiel 
von sexueller Anschuldigung eines Dienstmädchens gegen ihren Dienstherrn 
zeigt er dann in mustergültiger Weise, wie der Arzt, speziell als Psychiater, 
sich über die Zeugeneigenschaften normaler Menschen äußern kann, ohne die 
seiner Gutachtertätigkeit gezogenen Grenzen zu verletzen. Schlicht und klar 
setzt er dem Gericht auseinander, welche Momente die Zeugenaussagen der 
Altersklasse beeinflussen können, welcher die Zengin angehörte, und welche 


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40* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


Umstände in dem besonderen, ihm vorgelegten Falle ihn als Mensch und Arzt 
bestimmen mußten, die Glaubwürdigkeit der Zeugin in Zweifel zu ziehen. 

Heilung (39.) bekämpft die Ansicht des Reichsgerichts, daß ein Ge¬ 
schworenenurteil auch dann nicht anfechtbar wäre, wenn einer der Ge¬ 
schworenen während der Verhandlung nachweislich geschlafen hätte. Es ge¬ 
nügte nicht, daß der Richter anwesend sei, er müßte sich auch in einem 
Geisteszustände befinden, der ihm gestatte, mit voller Aufmerksamkeit 
der Verhandlung zu folgen. Demnach sei auch ein geisteskranker Richter 
abzulehnen und ein Gericht nicht als vollbesetzt anzusehen, wenn einer der 
Richter bewußtlos oder in seiner Geistestätigkeit so gestört sei, daß er der 
Verhandlung nicht folgen könnte. 

Der Begriff, die Ursache und die verschiedenen Arten der Gern ein - 
gefährlichkeit werden von Göring (35) in einer gründlichen Arbeit er¬ 
läutert und die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung nach dem geltenden und 
künftigen Recht erörtert. Das komplizierte Thema, welches dem Gerichtsarzt 
oft große Schwierigkeiten in der praktischen Tätigkeit macht, wird vom 
juristischen und medizinischen Standpunkte aus eingehend untersucht, an der 
Hand praktischer Beispiele werden dem Leser die verschiedenen Arten der 
Gemeingefährlichkeit — auch der geistesgesunden Verbrecher — vor Augen 
geführt und zum Schluß werden die verschiedenen Maßnahmen zur Behandlung 
und Bekämpfung der Gemeingefährlichkeit aufgeführt und auf ihre Wirksamkeit 
untersucht. Ein sehr fleißiges und für den Praktiker und Wissenschaftler 
gleich lehrreiches Werkchen. 

Ein anderes wichtiges Problem, das der Zurechnungsfähigkeit 
behandelt Türkei (92), der schon mehrfach in Arbeiten darüber hervorgetreten 
ist. In drei Kapiteln beschäftigt er sich mit den medizinischen, strafrechtlichen 
und philosophischen Problemen der Zurechnungsfähigkeit im allgemeinen, 
ferner mit der geschichtlichen Darstellung der die Zurechnungsfähigkeit 
regelnden Bestimmungen der österreichischen Strafgesetzgebung und kritisiert 
im letzten hauptsächlich die Zurechnungsfähigkeit der Paranoiker. 

Die gerichtsärztliche Bedeutung der arteriosklerotischen Psy¬ 
chosen, deren Klinik in den letzten Jahren so erheblich gefördert ist, bespricht 
Patschke (71) in einer kurzen Arbeit Geschäftsfähigkeit, Entmündigung und 
Testierfähigkeit der Arteriosklerotiker, ihr Eherecht, ihre Verantwortlichkeit 
in Haftpflicht- und Unfallprozessen wird eingehend geschildert und ebenso 
der Einfluß dieser Krankheitsform auf die Zurechnungs-, Zeugnis-, Verhand- 
ungs- und Strafvollzugsfähigkeit. 

Meyer von Sehauensee (64) macht an der Hand eines v. Monakotcscheo- 
Gutachtens wiederum darauf aufmerksam, daß die Tatsache eines Schlag¬ 
anfalles nicht genügt, die Handlungsfähigkeit eines Apoplektikers in 
Frage zu ziehen. 

Eine große Zahl von Simulanten geistiger Gebrechen schildert Mönke- 
möller (67) in seiner bekannten, frischen, humorvollen Art. Auf Einzelheiten 
der wichtigen, umfangreichen Arbeit einzugehen, verbietet leider der Raum. 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 


41* 


Jeder Gerichtsarzt sollte sie aber eingehend studieren, denn die vielen Beispiele 
sind für die Praxis von großem Wert. 

Straßmann (88) schildert einen der nicht seltenen Fälle, in denen ein 
Schwerverletzter (Schädelbruch nach Sturz vom Rade) vom Arzt der Unfall¬ 
station als Betrunkener behandelt war. Gegen den Arzt wurden Schaden¬ 
ersatzansprüche geltend gemacht. Str. kommt zu dem Gutachten, daß das 
Verhalten des Arztes nicht korrekt gewesen, aber angesichts der Schwere 
der Verletzung auch ohne Einfluß anf den bald erfolgten Tod des Verletzten 
geblieben wäre. 

Prasses (74) Dissertation aus der Kieler Klinik hat einen Fall von alko¬ 
holischem Eifersuchtswahn als Grundlage. Es handelt sich um einen 
trunksüchtigen Weichensteller, der seine Frau erschießen wollte. Alkoholische 
Demenz lag nicht vor, pathologischer Rausch und eigentliche krankhafte 
Wahnbildung auch nicht. Die Eifersucht war nur die Folge moralischer 
Degeneration. Das Gutachten konnte demnach sich nicht für die Anwendung 
des § öl aussprechen. 

Kalmus (46) schildert den Fall eines geisteskranken Dokumenten- 
fälschers (Paranoikers), dessen Krankheit erst sehr spät erkannt wurde. 

Thumm (89) bringt ein Gutachten über eine etwas psychopathische 
14 jährige, welche mehrfach Diebstähle und zuletzt 2 Brandstiftungen 
aus Heimweh begangen hatte. Das Gutachten lautete: zurechnungsfähig 
im Sinne des § 61, aber ohne Einsicht im Sinne des § 56 St.-G.-B. Freispruch. 

Möring (68) schildert 2 Fälle von Familienmord und 2 Fälle von mili¬ 
tärischen Vergehen (Fahnenflucht, Entziehung vom Dienst) infolge transi¬ 
torischer Depressionszustände bei Entarteten, Neurasthenischen, Imbezillen 
und echter Melancholie. 

Heilung (38) macht darauf aufmerksam, daß die moderne Aussage- 
Psychologie nur die wissenschaftliche Grundlage für Erfahrungen und 
Kenntnisse auf diesem Gebiete geliefert hat, welche schon lange bekannt und 
nur in Vergessenheit geraten waren. 

Für das Kapitel von der Zeugenaussage ist auch die meisterhafte 
Darstellung der sexuellen Falschbeschuldigungen der Hyste¬ 
rischen durch Karl Birnbaum (6) besonders lehrreich. Er setzt zunächst 
auseinander, daß die Gedankenverbindung: sexuelle Falschbeschuldigung — 
Hysterie ihren Grund in der pathologischen Wesensart der Hysterischen hat, 
namentlich in der Labilität ihres Vorstellungslebens und phantastischen 
Erregbarkeit sowie der Egozentrizität. Zwei verschiedene Grundlagen gibt 
es für diese hysterischen Falschbezichtigungen, bei den einen ist der hyste¬ 
rische Charakter der Grund- und Dauerzustand, welcher die Basis für die 
geistigen Prozesse abgibt, bei den anderen sind es psychotische Ausnahme¬ 
zustände, also vorübergehende krankhafte Episoden. Außerdem gibt es noch 
Obergangsformen, welche zwischen beiden die Mitte halten. Neben den 
hysterischen Momenten spielen noch disponierende Faktoren beim Zustande¬ 
kommen der sexuellen Falschbeschuldigungen eine Rolle, welche nicht 


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42* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

krankhaft sind, z. B. die weibliche Geschlechtsartung, das jugendliche und be¬ 
sonders das Pubertätsalter. Die soziale Bedeutung der Falschbeschuldigungen 
der Hysterischen und die Aufgaben, welche der Kriminalpsychologie pnd 
Kriminalistik durch sie erwachsen, sind recht bedeutend, und dem Gutachter 
können bedeutende Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Geisteszustandes 
der Täterinnen, denn um solche handelt es sich fast ausschließlich, entstehen. 
Den selteneren Selbstbezichtigungen liegen dieselben krankhaften Motive zu¬ 
grunde, wie den gegen andere vorgebrachten. 

Die -Bür^erschen (13) Arbeiten aus dem Gebiete der gerichtlichen und 
versicherungsrechtlichen Medizin bringen zahlreiche interessante Einzelfälle, 
z. T. mit Rechtsprechung aus den verschiedensten Gebieten der Medizin. 

II. 

Eine sehr wichtige Zusammenstellung von Urteilen der höheren Gerichte 
über die Rechtsgültigkeit der Strafunterbrechung beim Verfall eines 
Strafgefangenen in Geisteskrankheit bringt Rixen (79), dessen vorjährige Ab¬ 
handlung über das gleiche Thema im vorigen Bericht besprochen ist. Er 
zeigt, daß die Rechtsprechung der Gerichte in diesem Punkte keineswegs 
einheitlich ist. Sicher ist, daß ohne ausdrückliche Verfügung derjenigen 
Staatsanwaltschaft, der die Strafvollstreckung obliegt, keine Unterbrechung 
der Strafe stattfinden kann. 

Többen (91) ist im Gegensatz zu Wilmanna der Ansicht, daß eine 
individualisierende Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen im 
Strafvollzüge sehr wohl möglich sei, auch ohne durchgreifende Änderung 
der geltenden Bestimmungen über den Strafvollzug. 

Moeli (65) bespricht eine neue Entscheidung des Oberverwaltungs¬ 
gerichtes (Entscb. 65. 261ff. vom 29. 9. 13), nach welcher die Entlassung 
der polizeilich in Irrenanstalten eingewiesenen Kranken nicht von der 
Entscheidung des Landesdirektoriums, sondern von der Entschließung der 
einweisenden Polizeibehörde abhängig ist. 

Tintemann (90) gibt einen interessanten Überblick über die ersten 
5 Jahre des Bestehens des Provinzialverwahrungshauses zu Göttingen. 
Das Haus, nach einfachem klaren Grundriß und sehr fest erbaut, hat sich 
durchaus bewährt, nur einige schallsichere Einzelzimmer wären bei einem 
Neubau noch einzubauen. Bei der Aufnahme neuer Kranken muß man streng 
daran festhalten, daß nur insoziale Geisteskranke, und zwar solche, welche 
bewußt unsoziale Handlungen begehen, aufgenommen werden. Die kriminelle 
Vergangenheit spielt daneben nicht die Hauptrolle. 20% der Insassen waren 
nicht vorbestraft, 12% waren in Fürsorgeerziehung gewesen, 27 waren Zucht¬ 
häusler und 23o/ 0 Vagabunden. Unter den Krankheitsformen nehmen para¬ 
noide und Haftpsychosen sowie der Schwachsinn die vorderste Stelle ein. 
Von 54 Kranken, welche in den 5 Jahren entlassen wurden, haben sich 10 
in der Freiheit gehalten, alle übrigen sind wieder in Strafanstalten oder 
Irrenhäusern gestrandet. 


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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie. 


43* 


III. 

Ein interessanter, nicht krimineller Fall von Bewußtseinsstörung 
infolge Schlaftrunkenheit wird von Türkei (93) berichtet. Ein Rechts¬ 
anwalt befand sich mit seiner Frau auf der Hochzeitsreise. Die Frau verließ 
am Morgen zeitig das Bett und das Zimmer. Der Anwalt erwachte von dem 
Geräusch und versperrte, ohne die Situation zu erkennen, die Tür. Als seine 
Frau zurückkam und klopfte, öffnete er die Tür, ließ die Frau aber nicht 
herein, sondern sprach längere Zeit mit ihr als einer Fremden. Erst als die 
Frau erschreckt äußerte, er sei wohl verrückt geworden, kam er zum Bewußtsein. 
Der Mann war alkoholabstinent und hatte nie solche Anfälle gehabt. 

Boas (7) kritisiert einige Fälle von Warenhausdiebinnen der Litte- 
ratur, und Welsch (99) bringt einen Fall sexueller Erregung an Frauen Unter¬ 
hosen, welche zum Diebstahl geführt hat. 

Heilung (37) gibt einen älteren Fall von Totschlag aus Aberglauben 
wieder und knüpft daran die berechtigte Forderung, daß ein noch so felsen¬ 
fester Aberglaube kein Ausschließungsgrund im Sinne des § 61 ist. Dazu ist 
unbedingt der Nachweis erforderlich, daß der Täter zur Zeit der Tat geistes¬ 
krank war. 

Marcuses (60) Arbeit über den Inzest bringt eine umfassende Wieder¬ 
gabe aller geschichtlichen und rassehygienischen Untersuchungen über die 
Blutschande, die krankhaften und sozialen Ursachen dieses Verbrechens und 
die Strafgesetzgebung darüber. 

IV. 

Engelen (22) beklagt die Tatsache, daß die ärztlichen Gutachten, 
namentlich die über traumatischeNeurosen, sehr oft jeden oder wenig¬ 
stens jeden brauchbaren objektiven Untersuchungsbefund vermissen 
lassen. Die Entwickelung des Leidens, Verschlimmerungen und Besserungen 
lassen sich dann später nicht mehr feststellen. Er hält die Einführung eines 
Untersuchungsschemas für Unfallneurosen, am besten für alle Unfallbegut¬ 
achtungen durch die Versicherungsgesellschaften, Berufsgenossenschaften und 
Behörden für notwendig. Er hat ein Schema entworfen, das Richard Schoetz 
verlegt. Weitere Arbeiten von Engelen und Rangette (23) (24) (25) beschäf¬ 
tigen sich mit der experimentalpsychologischen Untersuchung von Unfallver¬ 
letzten, Rentensüchtigen und Simulanten und ihre Methodik. Die Untersuchungs- 
ergebnisse sind nach Engelen beachtenswert und zuverlässig. 

L. W. Weber (98) nahm in einem Falle von Paralyse nach Wund¬ 
infektion an der Hand einen Zusammenhang zwischen Paralyse und der 
als Unfall anerkannten Infektion in dem Sinne an, daß die Paralyse bei dem 
zweifellos syphilitischen Manne (Wassermann +, Optikusatrophie, Chorio¬ 
retinitis) durch die Infektion im Verlauf beschleunigt sei. Den Anteil des 
Unfalls an der Verschlimmerung schätzte er auf 10°/ 0 . 

Paul Horn (41), als Verfasser zahlreicher guter Arbeiten aus der Unfall¬ 
heilkunde und Versicherungsmedizin bekannt, hat ein kleines Werk über die 
neuere Rechtsprechung bei Unfallneurosen erscheinen lassen, von 


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44* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


dem er hofft, daß es eine bestehende Lücke ausfüllen und manche Unklar¬ 
heiten beseitigen wird. Es ist zweifellos, daß es für den Kranken besser 
ist, wenn der Arzt, der ihn behandelt, mit der Rechtsprechung der Gerichte 
vertraut ist und ihn von vornherein über die Aussichten seiner Schadener¬ 
satzansprüche richtig informiert, als wenn er in ihm durch zu weites Ent¬ 
gegenkommen unbegründete Befürchtungs- und Begehrungsvorstellungen 
erweckt. Diese Aufgabe, den Arzt gewissenhaft zu informieren, erfüllt das 
kleine Schriftchen bei seiner nachahmenswerten Kürze in vollem Umfange. 
Horn erörtert zunächst die Heilungsaussichten und die Frage der Simulation 
bei den nervösen Erkrankungen Rentenbegehrender, dann die Bestimmungen 
des Keichshaftpflichtgesetzes und der gewerblichen Unfallversicherung und 
die Stellungnahme des Reichsgerichts und anderer Gerichte zu dieser Gesetz¬ 
gebung in bestimmten Fällen. Besonders gut ist die Darstellung der Sinnes¬ 
änderung dieser Gerichte in ihrer neueren Spruchpraxis den älteren Entschei¬ 
dungen gegenüber, welche wohl im wesentlichen auf die zahlreichen, guten, 
ärztlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Versicherungsmedizin zurückzuführen 
ist. Sie haben die ganze Unfallbegutachtung auf eine festere Basis-gestellt 
und verhindern, daß wie früher der Haftpflichtige den Unfallansprüchen der 
Verletzten machtlos ausgeliefert wird. Hier sei auch noch auf eine zweite 
Arbeit von Horn (43) verwiesen, welche in sehr gründlicher und klarer Form 
den Zusammenhang von Nervenleiden nach Unfällen und Arteriosklerose 
behandelt. 

Einen anderen sehr interessanten und auch durch den Sektionsbefund 
erhärteten Fall von Arteriosklerose der Gehirngefäße nach Schädel¬ 
trauma beschreibt Geipel (34). Ein Werkmeister, der als 36 jähriger Mann 
einen Schädelbruch mit Gehirnerschütterung erlitten hatte, starb 9 Jahre später 
an Gehirnerweichung infolge Thrombose der rechten Arteria fossae Sylvii. 
Bei der Sektion fanden sich alte, auf den Unfall direkt zurückzuführende 
Veränderungen am Schädel, den Hirnhäuten und am Gehirn und daneben 
jüngere: Thrombose und Aneurysmabildung. Außer diesen Gefäßverände¬ 
rungen an der Stelle der Verletzung fanden sich am Gefäßsystem keine 
arteriosklerotischen Erkrankungen. Zusammenhang zwischen Tod und Unfall 
wurde angenommen. Interessant ist besonders die lokalisierte Erkrankung 
der Gefäße an der durch den Unfall verletzten Stelle des Schädels und seines 
Inhalts und die Entwickelung des Leidens in fast 10 Jahren. 

V. 

Naturgemäß hat auch im Berichtsjahre die Beschäftigung der Ärzte mit 
der Militärpsychiatrie angehalten. Es liegen zahlreiche gute Arbeiten 
darüber vor. Eine eingehende und trotz der Kleinheit des Materials 
(106 Kranke) sehr beachtenswerte Arbeit bringt Weyert (102) in Marholds 
zwanglosen Abhandlungen. Es sind Beobachtungen aus der Friedenszeit, die 
in der Beobachtungsstation zu Posen gemacht sind. Alle Krankheitsformen 
werden in ihren Beziehungen zum Militärdienst eingehend geschildert. Joüy 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


45* 


44) behandelt die Frage der Dienstfähigkeit nnd der Rentenfrage bei nerven- 
tranken Soldaten, insbesondere bei verwundeten Feldzngsteilnehmem, und 
TZastan (47) berichtet über forensisch-psychiatrische Beobachtungen an 
V21 Angehörigen des Feldheeres. 


3. Funktionelle Psychosen. 

Ref. Umpfenbach-Bonn. 


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46* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


Geisteskranken. Psychiatr.-Neurolog. Wschr. Jahrg. 17. 
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


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146. Thode, Günth r, Uber die im Gefolge der perniziösen An¬ 

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Reuther und Reichard. 216 S. (S. 63*.) 

a) Manisch-depressives Irresein. 

Brown (19) hat 8 Fälle zusammengestellt von manisch-depressivem 
Irresein, in denen nach langem Bestehen des Leidens Genesung nicht eintrat, 
sondern sich ein chronischer Zustand und allgemeine Degeneration einstellte. 

Nach Serejskis (130) Beobachtungen in der Münchener Psychiatrischen 
Klinik eignet sich das Diogenal unter anderem auch für leichtere Fälle von 
Manie und Melancholie, namentlich für letztere. 

Singer (132) beschreibt unter Anlehnung an Kraepelin einige Misch¬ 
zustände und atypische Fälle von manisch-depressivem Irresein; sie sind 
aufzufassen als affektive Schwankungen, bedingt durch die individuelle Ver¬ 
anlagung der betreffenden Kranken. 

b) Paranoia. 

Birnbaum (11) will den Versuch machen, gegenüber den so verschieden 
gerichteten neueren Tendenzen in der Paranoiafrage wieder einen festeren 
Standpunkt durch Anknüpfung an frühere Traditionen und erneute Hinein- 
stellung der Wahnbildung in den Mittelpunkt des Krankheittypus zu gewinnen. 
Er kommt bei seinen Betrachtungen zu folgendem Ergebnis: Die Bedenken, 
die sich gegen die bisher aufgestellten Kennzeichen der Paranoia (besonderer 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 57* 

Verlauf, Ausgang, Auslösungsart usw.) erheben lassen, legen es nahe, von 
diesen abzusehen und nach neueren pathognostischen Momenten zu suchen. 
Hierfür erscheint am geeignetsten der eigenartige paranoische Wahnmecha¬ 
nismus, der besondere paranoische Wahntyp. Als Paranoiagruppe lassen sich 
demgemäß solche Krankheitsfälle zusammenfassen, bei denen es auf einem pa¬ 
thologisch vorbereiteten Boden von bestimmter pathologischer Eigenart (Ver¬ 
schiebung der seelischen Gleichgewichtsverhältnisse) zu einseitig fixierter Ge¬ 
fühlsbetonung und damit zu ständiger Heraushebung und inhaltlicher Ver¬ 
fälschung gewisser Vorstellungskreise kommt, jede weitere logische und asso¬ 
ziative Gedankenarbeit nun im Sinne und zugunsten dieser einseitig herausge¬ 
hobenen Fehlanschauungen erfolgt und so mit psychologischer Folgerichtigkeit 
sich immer weitergehende Urteilsfälschungen entwickeln, ohne daß der Krank¬ 
heitsprozeß während seines ganzen Verlaufs durch Elemente beeinträchtigt 
würde, die seiner eigenartigen Grundlage und seinen Mechanismen wesens¬ 
fremd sind. 

Ein bestimmter Verlauf und Ausgang liegt nicht im Wesen dieser Krank¬ 
heitsform, ebensowenig wie eine bestimmte degenerative Grundige und das 
Bestehen oder Fehlen eines auslösenden psychischen Faktors zu den unbe¬ 
dingten Voraussetzungen der Erkrankungen gehören. Gewisse Differenzen be¬ 
züglich der allgemeinen Grundlage und des äußeren Anstoßes kommen im 
Rahmen dieser Krankheitsgruppe vor, ebenso wie solche bezüglich des Ver¬ 
laufs und Ausgangs. Ihm wäre durch weitere Untergruppierungen und Varie¬ 
tätenaufstellung Rechnung zu tragen. 

Eüath (33) behielt bei 3620 Aufnahmen, wenn er alle Fälle, welche 
einer anderen Grundkrankheit angehörten, wegließ, nur 14 Fälle mit paranoi¬ 
schem Charakter, die teils zur Paranoia Kraepelins (1 Fall), teils zum Queru¬ 
lantenwahn (4 Fälle) und zur Paraphrenia systematica (9 Fälle) eingeteilt 
wurden. Bei 6 der Paraphrenien entstanden die Wahnvorstellungen auf hallu¬ 
zinatorischer Basis, bei 3 nahmen dieselben einen kombinatorischen Anfang. 
Diese beiden Abarten der Paraphrenia, die nicht in Verblödung verfielen, bilden 
die Gruppe der Paraphrenia systematica ohne Ausgang in Schwachsinn. Die 
Fälle von senilem Verfolgungswahn, welche der Paraphrenia systematica ähnlich 
sehen, aber in Schwachsinn übergehen, bilden eine besondere Art der senilen 
Demenz, während die Fälle, dei denen Verstimmungen eine große Rolle spielen 
und die Wahnideen zeitweise schwinden, zum manisch-depressiven Irresein 
gehören. E. macht den Vorschlag, daß man zu den nicht verblödenden para¬ 
noiden Erkrankungen nebst den Querulantenwahn und der Kraepelinschsn 
Paranoia auch die nicht zu Schwachsinn führenden Fälle von Paraphrenia 
systematica rechnet, und die Paranoia Kraepelins mit der systematischen 
Paraphrenie ohne Verblödung als Paranoia im weiteren Sinne zusammenfaßt. 

Heveroch (56) kommt, von seinem in einigen früheren, bereits refe¬ 
rierten Arbeiten definierten und analysierten Begriffe ausgehend, zu folgender 
Auffassung der Paranoia: Die Paranoia ist eine Form der Ichtumsstörung, 
die darin besteht, daß : 1. in das Bewußtsein des Pat. Gedankeninhalte ein- 


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58* Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 

treten, die in einem bestimmten Verhältnis zu der Person des Pat. stehen, 
einmal als Gedanken, ein andermal als Wahrnehmungen (Halluzinationen); 2. 
dem Pat. das Bewußtsein der die Gedankeninhalte ins Bewußtsein bringenden 
Tätigkeit bezw. der Taten des Pat. fehlt; 3. von diesen Inhalten und ihren 
Erläuterungen der Pat. unwiderlegbar überzeugt ist. — Es ist also dem Verf. 
die Paranoia eine von den drei Ichtumserkrankungen im breiteren Sinne des 
Wortes; bei ihr treten diese Störungen im positiven, bei den Obsessionen 
und der Psychasthenie resp. Ichtumsstörungen s. s. im negativen Sinne auf. 

Jar. Stuchlüc. 

Hirschfeld (58) bespricht hier auch den Eifersuchts-, Beziehungs- nnd 
Verfolgungswahn des sexuellen Hypochonders. 

c) Dementia praecox. 

Bonhoe/fer (14) zeigt an einigen Beispielen, wie schwer es unter Um¬ 
ständen ist, die richtige Differentialdiagnose zu stellen bei Beginn der Er¬ 
krankung, wo grobe hebephrenische Wahnbildungen, ausgesprochen schizo¬ 
phrene Zerfahrenheit, grobe katatonische Symptome noch fehlen. Der sprin¬ 
gende Punkt der Diagnose ist dann im Verhalten der Affektreaktion und der 
damit im engsten Zusammenhang stehenden geistigen Aktivität gelegen. Ob¬ 
jektive Maßstäbe für das Verhalten der letzteren wären von großer Wichtigkeit. 
Die bisher bekannten Methoden versagen im Beginn der Erkrankung. 

Breigers (17) Beobachtungen betreffen etwa 100 Kranke vom Haus 
Schönow, welche sich im Frühstadium der Erkrankungen befanden. Er urteilt 
selbst über seine Ergebnisse, daß einer näheren Betrachtung nur wert sind 
die Pupillenstörungen, das Verhalten der Reflexe, der Sensibilität sowie die 
vasomotorischen Störungen (Algesie) auf der einen und die motorischen Stö¬ 
rungen auf der anderen Seite. Die Diagnose ermöglichte in allen Fällen 
eigentlich einzig und allein der charakteristische psychische Defekt. Die be¬ 
obachteten körperlichen Symptome sind Begleiterscheinungen des jeweilig 
bestehenden psychischen Zustandes. Bei einer Lebhaftigkeit der assoziativen 
Tätigkeit und bei einer Reichhaltigkeit an Affekten und Vorstellungen waren 
auch auf körperlichem Gebiete gesteigerte Reaktionen wahrnehmbar. Das um¬ 
gekehrte Verhalten war bei einer Armut des affektiven und intellektuellen 
Geschehens nachweisbar. Eine Verringerung respektive ein Fehlen der Psycho- 
reflexe an den Pupillen scheint im Frühstadium der Erkrankung sehr selten 
beobachtet zu werden. Dann hat dieses Symptom differentialdiagnostische 
Bedeutung. 

Förster und Schlesinger (39) haben gefunden, daß die physiologische 
Pupillenunruhe sowie die auf sensible, sensorische und psychische Reize er¬ 
folgende Pupillenerweiterung eine Folge ständiger kleiner Schwankungen der 
Akkommodation eventuell auch der Lichtintensität ist. Der Patient ändert 
seine Akkommodationseinstellung. Ihr Fehlen bei der Dementia praecox 
erklärt sich leicht durch die geringe psychische Regsamkeit der Kranken, die 
sich durch unbedeutende äußere Reize wenig oder gar nicht ablenken lassen. 


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Um pienhwcftFunktioneJte Psychosen. 59* 

Hriupimann i'hä). ging von diu Tatsache aus. daß Hypersekretion der 
Schilddrüse eint* Verzögerung. der BWgerinnnung zur Folge hat, dagegen 
HyposekretiUn eine ÜcschlMlmgnng. Nach der von Schnitze (Miiueh. Media. 
Wochenschrift ifHl5) angvgebnuon Methode wurden .101 Fälle nntersuyhl: Die. 
OerailHtngSüeitoti hei Normalen liegen zwischen 7V* und 9 Minuten. Bei 
Katatonie *««! es o 1 /*—7*}.,, Dagegen zeigen Hol«e(«)irotite. Manie und Paraly'w? 
nur wenig; KeschleUmgntjg; tdfo arideren trofeTsuelfhtfi' K^ankligUgb, auch.. 
Dementia paranoides, tagen obethÄfb der Nhiriualjinie . ifnr Katatonie (nM 
in etwa anch Hcbrephremet jmjtpliigft dnrih das kohsiäatg Torhomni^ft eihbt 
beschleunigten Hlutgerifiiiung, Es muß also eine. Äudenbig der iHutntsaniinett 
Setzung ei »getreten sein, die? auf Hypoituifciitm der Scbiiddriisic sdilieStn 
140t- V- 'WgitrfMi 'UntetVhcilupgeti mh^en nt^ iißigep, ob mit ^d^ung dos 
KtHokheit^ldUb-s auch die Binrgeriivrtiiftgsae-it .sielt ändert. Fine Oberem-* 
stipiutitög «.wischen Schwere ries s-istjoimn und IB>i!£tvrinnu«gSEeil har 
11. nicht geftuidc». ii. vm|thb‘d t Versuch..- mit Jndötityru. hei Katatonk' an 
«schon,:. ‘ '• ' • - • C’;, V \ • /. . 

.Kvwgrf [12) föhn ms riet .Ufuui'■ v.uji 8 K; •■utkctigt'r'clueiitoii aus. daß 
die Farriphrenia systenjatica xüid expansiv« ^appeUm aus, deut Verbände tnit 
der Paraphreni:» jdiantastjca aüsziisrbeidHii sind Ob du» Ibuuphreuia coitkhu- 
latoria su den erstgenannten Psydtostm engen* Heiiehirngen. lud, ersuhe.mt 
ihm sehr jweiteJhaft. Die Falle v.»p Faraphfunta phantastiea gehören sicher 
2 ur Demeptia paranoides ; ;V£a?- Kmfytiim- Faraphreni« systenuiticÄ rtpd ex-, 
jiänsiya anbetrifft, so gehöreti ilieiie beiden Psychosen su denen« dWintdgy 
/Literatur seit Jahren als Paranoia .. beschriebet» werden. Letztere stellt eine 
psychische Erkrankung von dori&aite g»inhe)til|6|i<bn ^fgpiäge ddt. stroUg ge* 
schiede«, von lidö ui.Didektüosität endenden der Douientia 

jiafaueides, orbebjich näher dein Ift&Mto'. wh 

dem isie, eine nahe Verwandtschaft der G ?u ndlage verbindet 

Die jmranoithihun Erkrankuogon in ibm-kfasAhiw^rl'^^tphFenicaF.su nennen, 
.liegt- mn.su isefifgeF Grund;y^rjg^ al# Scitivpfet cilPsÄ«;» Begriffs 

unter demselben psychopath*; re- KnwtiUidc hioeinhogriffiin sind, die zweifellos 

pickt dazu geh^lrgti. Öb tuyh 

{onpgt'r: ,dVc heutzutage tn detider Reinßritis. praecox gewtfrifen 
werden, in yfohlcharakfftftstgirtg E^ä.yriyprie>p wird durchführen fassen. soll 
liaMflßösteJlt bltubeu, wenngleich , wenig Aussicht dafür zu besieheu scheint. 

Kt'imiMf'h dbtjb;>xs{0r iUatdSf»^ 

■drin Fiilleu. die er «ja Bfiraphteoicrt i*u Siniie AVocpeL/y* t«u»fadt ; . kein 'Mevkftteil 
' im. Verhalten des fmylleki* zu {ipdeu zei Vvi«*lo> ;rie yfondsiitaiivh von den 
anderen ditwikchen jJril’i&OidbÄ Erkrankungen der Dententia präget»* unter¬ 
scheidet. Jittdcxn liehe«li^ieh ia. hUwi Fällen *ejKer j%a|thdehhsN' : w^$ ..itaek 
letzt, teils io friilicicn Pnasep ^yniolvirn- dftr.. ; |.kßili% : n.fia' 
x-i.ie.iooe. Aasdeiionud .not Yfhai* ... h.-m. K, sdieiut die Poraphreiüfe 

nur ('iit^ttstaudstdid e»ne> pr''t;akn'U«ü ; -;viuzopluerienl Rrki>nkin)g zu keto. 
in der tii Enu'bei.uoögur- \rn<> getPiUliFiny» upd/^Btens^^^jiibtjfi/'Ybii/.^npn'- 
'■•. • »Mrten ... 

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60* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Längs (78) Assoziationsversuche müssen im Original nachgelesen werden. 
Er kommt zu folgenden Resultaten: Der Dementia praecox-Kranke hat die 
geringste mittlere Abweichung von allen Familienmitgliedern. Wenn der 
Kranke Verfolgungsideen bekommt, so werden jene Mitglieder der Familie 
als Verfolger gewählt, mit denen er die größte Übereinstimmung im Reaktions¬ 
typus hat. 

Neubürger (99) fand, daß bei reichlich 80% aller untersuchten Kata- 
toniker und Hebephrenen gar keine oder nur geringe Blutdrucksteigerung bei 
Adrenalin eintrat. 

Schultz (125) kommt zu folgenden Ergebnissen. Reine Fälle von Neurosen 
und „funktionellen" Psychosen, außer Dementia praecox, zeigen keine Adrena- 
lin-Mydriasis. Bei Dementia praecox findet sich in etwa 50% sehr deutliche, 
etwa 15% fragliche, etwa 15% negative Adrenalin-Mydriasis. Etwa 16% 
zeigen auf Adrenalin-Instillation Pupillen Verengerung: „paradoxe Reaktion", be¬ 
sonders bei vorher mäßig weiten Pupillen. Es besteht keine eindeutige Be¬ 
ziehung der Adrenalin-Mydriasis zu symptomatischen Bildern und zum Verlaufe 
der Dementia praecox; oft hält die Mydriasis auffallend lang (tagelang) an. 
Die einseitige Prüfung auf Adrenalin-Mydriasis, unter Kontrolle der anderen 
Pupille und in technisch einwandfreier Weise ausgeführt, ist eine einfache, 
gefahrlose klinische Methode, die anscheinend praktisch von Interesse ist. 
Das Blutserum Dementia-praecox-Kranker zeigt im Laewen-Trendelenburgscheu 
Präparate auffallend niedrige Werte (Hypadrenalinämie). Der Liquor cerebro¬ 
spinalis von organischen Hirnaffektionen und „funktionellen Psychosen" (De¬ 
mentia praecox, Manie) enthält unabhängig vom Eiweißgehalt erhebliche Mengen 
gefäßverengernder Substanzen im Laewen-Trendelenburgschen Versuche (Hypo¬ 
physe?). Die neueren somatischen Befunde bei Dementia praecox weisen 
übereinstimmend dieser Krankheitsgruppe eine Sonderstellung gegenüber rein 
funktioneller Psychosen an; zu einer einheitlichen Theorie genügen sie nicht. 
Versuche zur Darstellung einer Cuti-Reaktion bei Dementia praecox sind 
bisher erfolglos geblieben. 

Sokolow (135) hat an 2 Fällen von Dementia praecox und 2 Fällen von 
Schizophrenie Versuche mit der Stimmgabel und mit kalorischen und galva¬ 
nischen Reizen angestellt. Er fand, daß die Auslösung von Gehörshalluzi¬ 
nationen durch periphere Reize kein seltenes Vorkommnis ist. Hier berichtet 
er ausführlich über einen Fall von Schizophrenie. Akustische Reize sind mehr 
geeignet zur Auslösung von Gehörshalluzinationen. Zwischen Tonhöhe der 
Reize und Tonhöhe der akustischen Halluzinationen besteht eine gesetzmäßige 
Abhängigkeit. Die Tonhöhe der Halluzinationen ist um so höher, je höher 
die Tonhöhe des dargebrachten Reizes ist, und umgekehrt. Der Rhythmus 
der Halluzinationen entspricht dem Rhythmus des Reizes. Die Farbenskala 
der halluzinierten Gegenstände ist unabhängig von der Tonskala der auslö¬ 
senden Stimmgabel. Die Auslösung der Gehörshalluzination durch elektrische 
Reize ist von der Art des Stromes unabhängig. Zwischen der Intensität des 
elektrischen Stromes und der Tonhöhe der halluzinierten Worte besteht keine 
Abhängigkeit. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


61* 


Van der Scheer (121) hat die Versuche von Schultz wiederholt. Nach 
Schultz soll Adrenalineinträuflung in den Konjunktivalsack des Auges bei 
einer großen Zahl von Schizophrenen eine Veränderung der Pupillenweite 
hervorrufen. Nach v. d. Scheer hat die Prüfung auf Adrenalinmydriasis für 
die Diagnose der Dementia praecox vorläufig keinen praktischen Wert. Seine 
Resultate sind: Die Anisokorie kommt bei normalen Menschen viel öfters vor, 
als bisher angenommen wurde, v. d. Scheer fand in 40% Pupillendifferenz. 
Er fand bei gesunden Menschen in 34,5% der Fälle Adrenalinmydriasis. In 
einzelnen Fällen kommt Adrenalinmyosis vor. Die Adrenalinmydriasis tritt 
bei verschiedenen Psychosen etwas häufiger auf als bei Normalen. Sie ist 
einzelne Male sehr stark und dauert lange, namentlich bei der Katatonie und 
bei der Epilepsie. Der Adrenalinmydriasis kommt daher als differentielles 
Diagnostikum funktioneller oder organischer Psychosen bislang keine praktische 
Bedeutung zu. 

Widmann (155) hat die Schädel von 39 Kranken der Gießener Klinik 
und der Landesheilanstalt Goddelau auf Abnormitäten und Degenerationszeichen 
untersucht, soweit es in vivo möglich ist. Es handelt sich dabei um 30 Fälle 
reiner Dementia praecox (in der hebephrenen, katatonen, paranoiden Form), 
und um 9, bei denen die Doppeldiagnose Dementia praecox mit angeborener 
Minderwertigkeit durch genaue klinische Untersuchunegen klargestellt war. — 
W. schließt, daß wir bei Dementia praecox eine auffallende Summation von 
Deformitäten in zumeist ausgeprägtem Grade beim einzelnen Individuum finden. 

d. Sonstiges. 

Donath (29) bemerkt zunächst, daß es noch nicht erwiesen ist, daß das 
Zentrum der Schreibbewegungsvorstellungen sich ausschließlich in der zweiten 
linken Stimwindung befindet. Fälle von Agraphie bei Hysterie findet man in 
der Literatur; Agraphie infolge von Zwangsvorstellungen (Anankasmus) fand D. 
bisher nicht beschrieben. — Im Fall von D., der eine 49 jährige Frau betrifft, be¬ 
stand keine Spur von Sprachstörung, keine Apraxie, es wurde aber, nach einer 
heftigen Gemütsbewegung, literale und verbale Paragraphie beobachtet für 
Spontan-, Diktat- und Nachschreiben, weniger bei Zahlenreihen und nicht beim 
Zeichnen. Alexie bestand nicht. — Nach dem für organische Läsionen geltenden 
Aphasieschema war erhalten das auditive und visuelle Erinnerungsbild des Wortes 
und von den motorischen Erinnerungsbildern das artikulatorische, nicht aber das 
graphische Erinnerungsbild. Wie D. ausführt, handelt es sich in seinem Fall 
um eine anankastische Paragraphie, zu welcher eine Emotion und die damit 
einhergehende mangelhafte Konzentration der Aufmerksamkeit auf den Schreib- 
akt den Anstoß gibt. Die rein funktionelle Störung ging in nicht langer Zeit 
in Heilung über. Hysterie war auszuschließen. 

Friedlaender (42) kommt zu folgenden Schlüssen: Morphium-Skopolamin 
in einer Dosis von 0,015 bis 0,03 Morphium und 0,0005 bis 0,001 Skopolamin 
ist das wirksamste und relativ ungefährlichste Mittel zu rascher Koupierung 
schwerer Erregungs- und Angstzustände. Trivalin und Trivalin-Hyoszin sind 


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62* 


Bericht öber die psychiatrische Literatur 1915. 


in der Wirkung in solchen Fällen absolut unzuverlässig und außerdem schon 
in mäßigen Dosen nicht ungefährlich. Morphium und Skopolamin werden am 
besten, in öOproz. Alkohol gelöst, intramuskulär injiziert, da diese Lösungen 
absolut steril, lange haltbar sind und der Alkohol gleichzeitig günstig auf die 
Herztätigkeit wirkt. In manchen Fällen ist außerdem eine gleichzeitige 
Kampfer-Injektion zu empfehlen. 

Jolly (64) bringt nach einem literarischen Oberblick eine Reihe von sehr 
interessanten kasuistischen Beiträgen. Er beginnt mit Fällen, in denen die 
Psychose vor Eintritt der ersten Menses auftrat, einen an vierwöchentlichen 
Termin gebundenen Verlauf zeigte und mit Eintritt der ersten Menses meist 
zur Heilung kam. Dann folgen Fälle, in denen die Psychose im Zusammen¬ 
hang mit. der ersten Menses auftritt, — Fälle, in denen sie im Zusammen¬ 
hang mit späterer Menses auftritt und bei mehrmaligem Auftreten einen 
menstruellen Typus zeigt, — in der Menopause auftretende Fälle; den Schluß 
macht die sog. epochale Menstruationspsychose. — Eine eigene Menstruations¬ 
psychose als klinische Einheit gibt es nicht. Auch die als sog. epochale 
Menstruationspsychose beschriebenen Beobachtungen können als besondere 
Form nicht anerkannt werden. 

Weiterhin beschäftigt sich JoUy mit dem Einfluß der Psychosen auf die 
Menstruation. Nach einem literarischen Überblick gibt er eigene Unter¬ 
suchungen. Die Arbeit eignet sich leider nicht zu einem kurzen Referat. 

Kufe (76) berichtet ausführlich über einen Fall von Zystizerken-Menin- 
gitis inkl. Sektionsbefund und erwähnt kurz weitere Fälle seiner Beobachtung. 
Aus allen seinen Fällen entnimmt er die Tatsache, daß die Krankheitssymptome 
bei der Zystizerkenkrankheit des Gehirns viel weniger von den Zystizerken 
als solchen, als vielmehr von den sekundären Veränderungen, der chronischen 
Meningitis, dem Hydrocephalus internus, der Endarteriitis deformans und den 
degenerativen Veränderungen des nervösen Parenchyms abhängen, daß in den 
Fällen von ausgeprägten stabilen psychischen Störungen sich wohl stets als 
Substrat diffuse Veränderungen der grauen Rinde nachweisen lassen. 

Meyer (92) fand, daß die krankhafte einseitige Betonung des Ich-Kom- 
plexes, wie wir sie als ein Merkmal tiefgreifender geistiger Störung finden, 
eine wesentliche Einwirkung des Krieges, beziehungsweise des Kriegsausbruchs, 
auf bestehende Psychosen verhindert. Auch an den von Tapiau übernom¬ 
menen Kranken zeigte sich, daß trotz direkter schwerer Einwirkung des Krieges 
eine Beeinflussung bestehender Psychosen durch den Krieg oder Kriegsausbruch 
nicht erfolgt war. 

Patschke (104) bringt zunächst eine Schilderung, was wir heute unter 
arteriosklerotischen Psychosen verstehen können, ihre Ätiologie, anatomische 
Grundlage, der klinische Verlauf und ihre Abgrenzungsmöglichkeiten gegen 
ähnliche Bilder, wie man sie bei Paralyse, Dementia senilis u. a. findet. Dann 
spricht er über die gerichtliche Bedeutung der genannten Psychosen. 

Nach Raecke (110) muß man unterscheiden eine hysterische und eine 
katatonische Situationspsychose. Im Verlauf einer Dementia praecox können 


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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 


63* 


wie bei der Hysterie exquisit psychogen entstandene Symptomenkomplexe aul¬ 
treten, die allein durch die Situationen geschaffen fand erhalten zu sein 
scheinen und demgemäß mit derselben zunächst verschwinden. Da die somit 
differentialdiagnostische Abgrenzung allein nach dem Verlauf lange Zeit auf 
Schwierigkeiten stoßen kann, sollte man wieder mehr bestrebt sein, durch 
Vertiefung unserer Kenntnis von der Symptomatologie des Zustandsbildes 
weiterzukommen. Die zu allgemein gehaltene „Degenerationspsychose“ für 
psychogene Hafterkrankungen ist unzweckmäßig, weil sie den möglichen Ver¬ 
schiedenheiten der klinischen Bilder ungenügend Rechnung trägt. 

Sittig (133) berichtet über einen sehr interessanten Fall, wo neben dem 
typischen Bild der eklamptischen Psychose beobachtet wurde, daß die Kranke 
sich längere Zeit nicht an Örtlichkeiten erinnern konnte, auch nach der Ge¬ 
nesung; sie konnte den Weg von der Klinik nach Hause nicht wiederfinden. 
Die örtliche Orientierung mußte durch neue Erfahrung wieder erlernt werden. 
Auch litt die Kranke vorübergehend an Amaurose. Zwischen Orientierungs¬ 
störung und Amaurose muß ein Zusammenhang bestehen, es handelt sich um 
in den beiden Hinterhauptslappen lokalisierte Veränderungen, dadurch wurde 
auch die optische Halluzination des Falles verursacht. 

Wasner (150) veröffentlicht hier 13 Fälle von Propfpsychosen aus den 
Kückenmühlenschen Anstalten, und zwar 10 Fälle von Dementia praecox, 2 
vom manisch depressivem Irresein, 1 periodische Manie. Das Vorherrschen 
der Dementia praecox dürfte für eine Verstärkung der Prädisposition zu Er¬ 
krankung an Dementia praecox durch den angeborenen Schwachsinn sprechen. 
Ein besonders schwerer Verlauf der Dementia praecox bei Schwachsinnigen 
ist nicht festzustellen. Die stupuröse Form der Dementia praecox herrschte vor. 

Von Ziehen s Krankheiten des Kindesalters hegt jetzt (159) die erste 
Hälfte des Werkes vor. Sie handelt von den Defektpsychosen, den ange¬ 
borenen und den erworbenen. Unter letzteren wird auch die Dementia hebe- 
phrenica und praecox der Kinder besprochen. 


4. Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 

Ref.: Sch ob-Dresden. 

1. E. Barth, Untersuchungen an weiblichen Fürsorgezöglingen. 

Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. XXX. (S. 70*.) 

2. Beehmann, Precocious maturity in girls with report of a case. 

Arch. of ped. vol 32. 

3. BerJcley, The psychoses of the high imbecile. American journ. 

of insanity vol. 72. 

4. Bloch, Uber Wiederholung der Binet-Simonschen Intelligenz¬ 

prüfung an denselben schwachsinnigen Kindern nach Ab- 


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64* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


lauf eines Jahres. Zeitschr. f. d. gesamt. Neurol. u. Psy- 
chiatr. Bd.‘ 28. S. (69*.) 

5. v. Bokay, Beiträge zur Pathologie u. Therapie des chronischen 

hydrocephalus internus. Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 81. 

6. Bolk, Uber die verschiedene Arten von Schädelmißbildungen 

beim Menschen. Nederl. Tijdschr. v. geneeskd. Bd. 59. 

7. Büttner , Fürsorge für Schwachbegabte Kinder auf dem Lande. 

Zeitschr. f. d. Erforschung u. Behandlung des jugendl. 
Schwachsinns Bd. 8. 

8. Eliassow, Erbliche Belastung u. Entwicklung von Hilfsschul- 

kindem. Arch. f. Psychiatr. Bd. 56. (S. 67*.) 

9. Flesch , Uber den Blutzuckergehalt bei Morbus Basedowii u- 

über thyreogene Hyperglykämie. Inaug.-Diss. Heidelberg. 

10. Hartwich, Uber die verschiedenen Arten des Zwergwuchses. 

Inaug.-Diss. Würzburg. 

11. Herrmann , A case of amaurotic family idiocy. Arch. of ped. 

vol. 32. 

12. Higier , Ein Fall von angeborener Akromegalie mit Imbezilli¬ 

tät u. sogenannter Cutis laxa. Annalen der Warschauer 
ärztlichen Gesellschaft, CXI, 1915. 

13. v. Hovorka, Welche Ursachen des kindlichen Schwachsinns 

ergibt die Anamnese? Zeitschr. f. die Erforschung u. Be¬ 
handlung des jugendlichen Schwachsinns, Bd. 8. (S. 68*.) 

14. Hultgreen , Studien über die Häufigkeit der mongoloiden Idiotie 

in den schwedischen Anstalten für Schwachsinnige und 
über die Ätiologie dieser Krankheit. Nord. med. Arch. 
mediz. Abt., 1914/15, H. 1 u. 2. 

15. Karstens. Ein Fall von Pseudohermaphroditismus masculinus 

externus. Inaug.-Diss. Königsberg. 

16. Keyser, Unusual case of infantile cerebral hemiplegia. Americ. 

journ. of ment, diseases 42. 

17. Koch, Die gegenwärtigen Anschauungen über den Infantilis¬ 

mus. Frankf. Zeitschr. f. Pathologie. Bd. 16. (S. 69*.) 

18. Kraus , Rosenbusch u. Maggio. Kropf, Kretinismus und die 

Krankheit von Chagas. Wien. klin. Wschr. Nr. 35. 

19. Lomer, Uber graphologische Kennzeichen des Schwachsinns. 

Arch. f. Psychiatr. 58. Bd. 


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Schob, Idiotie. Imbezillität. Debilität, Psychopathie. 


f>5* 

20. Mönkemöllcr , Bericht an das Landesdirektorimn der Provinz 

Hannover über die Ergebnisse der psychiatrisch-neurolo¬ 
gischen Untersuchung der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge 
der Provinz. Zeitschr. f. d. Erf. u. Beh. des jugendl. 
Schwachs. Bd. 8, H. 1. 

21. de Mouchy. Ein Fall von Infantilisnius mit Osteoinalacie. 

Nederl. Tijdschr. v. Geneeskd. Bd. 59. 

22. Muschalik. Augenerscheinungen hei Idiotie. Wiener klin. 

Rundschau Nr. 87-42. 

28. Neurath, Ein Fall von familiärer amaurotischer Idiotie. Wie¬ 
ner klin. Wschr. Jahrg. 28. 

24. Quadri , Klinischer Beitrag zur Kenntnis des Infantilismus. 

Deutsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 117. 

25. Rhein, Insanity in children. Americ. journ. of insanitv Bd. 71. 

26. Rothmanu. Über familiäres Vorkommen von Friedreichscher 

Ataxie. Myxödem und Zwergwuchs. Berl. klin. Wschr. Nr. 2. 

27. Rothmann, Zwangsbewegungen des Kindesalters. Berl. klin. 

Wschr. Nr. 28. 

28. Schilling, Der Stand der sozial-hygienischen Fürsorge für psy¬ 

chopathische Kinder. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Mediz. u. 
öffentl. Sanitätswesen. H. 1. 

29. Schnitzer, Uber Einrichtungen für schwer erziehbare Fürsorge¬ 

zöglinge. Zeitschr. für die Erforschung u. Behandlung des 
jugendl. Schwachsinns Bd. 8. 

80. Stier, Abgrenzung des Begriffes des neuropathischen Kindes. 

Deutsch, med. Wschr. Nr. 27. (S. 70*.) 

81. ran den Velden. Zur Lehre vom Infantilismus. Zeitschr. 

für Geburtshilfe und Gynäkologie Bd. 54. 

82. de Vries, Beschreibung eines Anencephalen. Psych. en neu- 

rolog. Bladen Bd. 19. 

88. Welt-Kakels, Pathological findings in a case of amaurotic idiocy. 
Proceed of the New York pathol. Soc. Bd. 15. 

84. Werner, Uber einen seltenen Fall von Zwergwuchs. Arch. 

f. Gynäkol. Bd. 104. 

85. Weygandt, Idiotie und Imbezillität. Die Gruppe der Defekt¬ 

zustände des Kindesalters. Handbuch der Psychiatrie, her- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXIII. Lik e 

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66* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


ausgegeben von Aschaffenhnrg. Speziell. Teil, 2. Abt., 2. 
Hälfte. Leipzig und Wien, F. Deutickc. (S. 67*.) 

36. Wildmann, Psychoscs of the feeble-minded. Journ. of the 

nerv, and mental diseases. Bd. 42. 

37. Ziehen , Die Geisteskrankheiten des Kindesalters einschließlich 

des Schwachsinns und der psychopathischen Konstitution. 
I. Hälfte. Berlin, Reuther und Reichard. (S. 66*.) 

Die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Gebiete des jugend¬ 
lichen Schwachsinns ist während des Krieges naturgemäß geringer geworden. 
Um so erfreulicher ist es, daß während dieser Zeit in Deutschland zwei 
Werke erscheinen konnten, die entschieden von großer Bedeutung sind. 

An erster Stelle ist hier Ziehens Buch „Die Geisteskrankheiten des Kindes¬ 
alters“ (37) zu nennen, von dem der erste Teil zum Referat vorliegt. Wie der 
Verfasser selbst hervorhebt, ist das Buch aus Abhandlungen hervorgegangen, 
die vor mehr als einem Jahrzehnt, für Ärzte und Erzieher bestimmt, ver¬ 
öffentlicht wurden. Durch ausgedehnte Berücksichtigung der inzwischen erfolg¬ 
ten Neuerscheinungen, durch systematische Zusammenfassung des gesamten 
Stoffes ist aus den losen Abhandlungen ein geschlossenes Ganzes entstanden, 
dessen Studium für Ärzte und Erzieher ganz besonders zur Einführung in das 
Verständnis der kindlichen Geistesstörung willkommen und nötig ist. 

Bei der Einteilung der kindlichen Psychosen folgt Ziehen demselben 
Prinzip, das er bei seinem Lehrbuch der Psychiatrie angewandt hat; er 
scheidet sie in Psychosen mit Intelligenzdefekt oder Defektpsychosen und 
Psychosen ohne Intelligenzdefekt. 

Der erste Teil behandelt die Defektpsychosen, die in angeborene und er¬ 
worbene Defektpsychosen (erworbenen Schwachsinn) gesondert werden. Zn 
den angeborenen Defektpsychosen rechnet der Verf. auch die erworbenen 
Defektpsychosen der ersten Kinderjahre im Hinblick auf die große Überein¬ 
stimmung der Symptome. Alle angeborenen Defektpsychosen können anch 
unter dem Namen der Imbezillität zusammengefaßt werden. Die ersten Ka¬ 
pitel befassen sich mit Häufigkeit und Ursachen des Schwachsinns. Ziehen 
unterscheidet neuropathische, toxische und infektiöse erbliche Belastung (here¬ 
ditäre Faktoren) und erworbene Ursachen (fötale Ernährungsstörungen, Früh¬ 
geburt, traumatische Schädigungen, postfötale Ernährungsstörungen und Ver¬ 
giftungen, Störungen der inneren Sekretion usw.). Im Zusammenhang damit 
wird ein Überblick über die wesentlichsten Ergebnisse der pathologischen 
Befunde gegeben; im allgemeinen wird aber die pathologische Anatomie nur 
im notwendigsten Umfange berücksichtigt. 

Nunmehr folgt der bedeutsamste Teil des Werkes, die Darstellung der 
psychischen Symptome des Schwachsinns, insbesondere die Schilderung des 
Intelligenzdefektes. Die einzelnen Kapitel sind in einer geradezu klassisch 
klaren Sprache abgefaßt; trotz gedrängter Kürze ist der Stoff erschöpfend 
behandelt; dabei bietet die Lektüre nicht nor Belehrung und Genuß, sondern 


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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 67* 

gleichzeitig noch eine Fülle von Anregungen für die Inangriffnahme und das 
Studium bisher ungelöster Fragen. 

Als nächster Teil schließt sich eine übersichtliche Besprechung der 
wesentlichsten körperlichen Begleiterscheinungen des jugendlichen Schwach¬ 
sinns an, von denen nur die verschiedenen Arten der Krampfanfälle ( Jackson - 
sehe Anfälle, epileptische Anfälle, eklamptische Anfälle) etwas ausführlicher 
abgehandelt werden. 

Die einzelnen Unterformen des Schwachsinns werden dem Zweck des 
Buches entsprechend relativ kurz abgehandelt Ziehen lehnt'die Anerkennung 
des moralischen Schwachsinns als einer besonderen Unterform ab; er schlägt 
dafür — wenigstens für eine Reihe von Fällen — die Bezeichnung Debilität 
mit vorzugsweise ethischem Defekt vor. Weitere Kapitel gelten der Erkennung, 
den Heilungs- und Besserungsaussichten, der Behandlung der Imbezillität. Am 
Schluß gibt Ziehen noch einen Prüfungsbogen zur Untersuchung der Intelligenz 
wobei die Binetsche Methode ablehnend besprochen wird. 

Im zweiten>Abschnitt des ersten Teiles beschäftigt sich Ziehen mit den 
erworbenen Defektpychosen; er versteht darunter diejenigen mit einem In¬ 
telligenzdefekt verbundenen Psychosen, welche nach dem 4. Lebensjahr, also 
qaeh Vollendung des groben Hirnwachstums, sich entwickeln. Er weist darauf 
hin, daß es eine große Zahl solcher erworbener Psychosen gibt, bespricht 
aber nur folgende 6 spezielle Formen: Dementia paralytica, Dem. bei Herd¬ 
erkrankungen, Dem. epileptica, Dem. toxica (Dem. alcoholica) und Dem. hebe- 
phrenica mit ihren verschiedenen Unterformen. 

Das zweite zusammenfassende Werk stammt von Weygandt (35). Seine 
Arbeit ist in allererster Linie für Ärzte bestimmt. Im Gegensatz zu Ziehen 
behandelt Weygandt , durch dessen Arbeiten ja die Kenntnis der klinischen 
Sqnderbilder ganz besonders mit gefördert worden ist, die klinische Einteilung 
und die klinischen Einzelgruppen in ausführlicher Weise. 30 klinische Grup¬ 
pen werden aufgestellt. Weygandt ist sich der großen Schwierigkeiten einer 
Klassifikation der einzelnen Schwachsinnsznstände bewußt; er weist selbst 
darauf hin, daß ein „einzelnes, vollständig durchgreifendes, streng wissenschaft¬ 
liches Einteilungsprinzip“ noch nicht vorhanden ist — und der Leser wird 
auch im einzelnen an der Gruppierung dies und jenes aussetzen, so erscheint 
zum Beispiel nicht recht ersichtlich, warum eine tatsächlich endogene Form, 
wie zum Beispiel der Schwachsinn bei Friedreichschcr Ataxie, nicht bei der 
endogenen Gruppe abgehandelt wird, man wird fragen können, warum nicht 
auch die traumatische Idiotie Anspruch auf Bildung einer besonderen Gruppe 
haben soll. Im großen und ganzen aber kann man den Einteilungsversuch 
Weygandts wohl anerkennen. Erst nach der Schilderung der klinischen Sonder¬ 
gruppen gibt Weygandt eine zusammenfassende Darstellung der körperlichen 
und psychischen Allgemeinsymptorae und der Diagnose des jugendlichen 
Schwachsinns. Eine übersichtliche Besprechung der Behandlung der jugend¬ 
lichen Defektzustände bildet den Schluß des reichhaltigen Werkes. 

Die Ergebnisse der dankenswerten Untersuchungen von Eliaesou: (8) 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


lassen sich folgendermaßen zusanunenfassen: E. hat die erblichen Verhältnisse 
solcher Familien untersucht, aus denen 2 oder mehrere Kinder die Königs¬ 
berger Hilfsschulen besuchten (ca. 50 Familien): derartige Familien wurden 
ausgewählt, weil anzunehmen war, daß hier die erblichen Verhältnisse wohl 
eine besondere Rolle spielen würden. E. untersucht Vorfahren, Angehörige 
der Seitenlinien und Geschwister auf das Vorhandensein von Imbezillität. 
Geisteskrankheiten, Alkoholismus, Syphilis. Epilepsie, Tuberkulose, Selbstmord, 
kriminellen Handlungen; auch das soziale Milieu wurde einer Prüfung unter¬ 
zogen. Bei der näheren Untersuchung der Entwicklung der einzelnen schwach¬ 
sinnigen Individuen wurde geachtet auf die Geburt (ob ehelich oder unehelich >. 
durchgemachte Krankheiten, körperliche Eigenschaften, zum Beispiel Größe. 
Kopfform. Sprechvermögen, auf Intelligenzstand, Gemütsleben, moralisches Ver¬ 
halten. Von den gefundenen Zahlen seien einige hervorgehoben: 17% der 
(gesamten) Königsberger llilfsschulkinder hatten imbezille Geschwister: neuro- 
pathische Belastung fand sich in 12,9%. Alkoholismus der Vorfahren in 59%,. 
Epilepsie 5,5",,. Syphilis der Vorfahren nur in 1,4%, Tuberkulose in 31,5%. 
Große Kindersterblichkeit wurde in 30.9% der untersuchten Familien festge¬ 
stellt: die häuslichen Verhältnisse erschienen bei 30,2"„ gut, bei 58% ärmlich, 
bei 11,6% sehr ärmlich; bei 17.8",, war die Geburt schwer erfolgt, bei 63% 
hatte Brusternährung stattgefunden. Rachitis war in 35% nachweisbar, bei 
28% war Zahnung verspätet, ca. 40",, hatten erst in einem Alter von mehr 
als 18 Monaten laufen gelernt, 26% zeigten eine verzögerte Sprachentwicklung; 
Krämpfe waren nur bei 8,2% angegeben. Der Allgemeinzustand der Kinder 
war wenig günstig; an Körperlänge blieben 42,5% hinter dem Durchschnitt 
zurück: bei 56,2% war der Kopfumfang zu klein. Degenerationszeichen fanden 
sich in mittlerer Zahl, 16,6% zeigten Sprachdofekte. In der Familienge¬ 
schichte stehen Alkoholismus und Tuberkulose demgemäß im Vordergründe: 
in der Vorgeschichte der Einzelindividuen waren keine Momente vorhanden, 
denen besonders auffällige Bedeutung zuzuschreiben wäre. Das soziale Milieu 
verdient besondere Beachtung; alle angeborenen und erworbenen Schädi¬ 
gungen kamen um so auffälliger zur Geltung, je ungünstiger die soziale Lage 
war. Der erblichen Belastung ist im allgemeinen keine so große Bedeutung 
zuzumessen, als für gewöhnlich angenommen wird. 

Hovorka (13) trennt die Ursachen des jugendlichen Schwachsinns in. 
angeborene und erworbene. Er ist bei 419 schwachsinnigen Kindern (155 in.. 
246 w.) der Ätiologie nachgegangen. Unter den angeborenen Ursachen spielt 
der Alkohol die wesentlichste Rolle: bei mindestens einem Drittel der Kinder 
war Alkoholismus der Aszendenten nachweisbar: gering an Zahl ist die Gruppe 
der Kinder, deren Angehörige Störungen des psychischen Verhaltens zeigten 
tGeisteskrankheiten, Schwachsinn, Neurasthenie): Epilepsie der Vorfahren war 
auffallend selten, noch seltener Blutsverwandtschaft, Syphilis, etwas häufiger 
Selbstmord; der sogenannte ^Mutterschreck“, der ziemlich häutig angeschuldigt 
wurde, war in der Mehrzahl der Fälle nicht als Ursache des Schwachsinns 
anzuerkennen. Bei den erworbenen Ursachen ist zu unterscheiden zwischen 


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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 69* 

solchen, die während der Geburt einwirken, und solchen, die erst nach der 
Geburt ihren Einfluß entfalten. Ursachen der ersteren Art, zum Beispiel 
Zangen-, Sturzgeburt, konnte in 6 Fällen eine gewisse Bedeutung beigelegt 
werden. Sturz auf den Kopf wurde in 17 Fällen mit einer gewissen Wahr¬ 
scheinlichkeit angeschuldigt; Meningitis war 14 mal, Rachitis 138 mal voran- 
gegangen; doch glaubt H. nicht recht an den ursächlichen Einfluß der Rachitis. 
Branntweingenuß, Vergiftung durch Aufguß von Mohnsamenköpfen erschienen 
als etwas ungewöhnliche Ursachen. 

Bloch (4) hat die Kinder der Hilfsschule in Kattowitz, die er im Jahre 
1912/13 nach der Methode Binet-Simon untersucht hatte, unter Anwendung 
der gleichen Tests ein Jahr später einer Nachprüfung unterzogen. Nach seinen 
Erfahrungen, die mit denen von ('kotzen übereinstimmen, kommt man bei der 
Prüfung Schwachsinniger über das Intelligenzjahr 10 normalsinniger Kinder 
nicht hinaus. Von den 53 Versuchspersonen wiesen gegenüber dem Ergebnis 
des vorhergehenden Jahres 14 einen Intelligenzstillstand auf, 10 zeigten eine 
Zunahme von ’| 2 , 23 eine solche von 1 und 6 eine Zunahme von 2 Intelligenz- 
jahreu. Die geistige Entwicklung beim schwachsinnigen Kind folgt nach seinen 
Untersuchungsergebnissen im ganzen der des normalen Kindes; nur ist sie 
einmal stark verzögert, durchschnittlich um 3—4 Jahre, zum andern bleibt 
sie früher stehen. Die Schwachsinnigen sind gegenüber den Normalen haupt¬ 
sächlich in Dingen zurück, welche das tägliche Leben erfordert, so Abzählen 
und Zusammenzählen von Geldstücken, Münzkenntnis, Herausgeben kleinerer 
Geldstücke auf größere, Ordnen von 3 und mehr Gewichten nach der Schwere. 
Diktatschreiben. Aufzählen der Monate. Angabe des Datums usw. Bloch hält 
die Methode nach wie vor für geeignet, um leicht und sicher festzustellen 
ob ein Kind schwachsinnig sei oder nicht. 

Koch (17) gibt zunächst einen Überblick über die historische Entwicklung 
des Begriffes Infantilismus und bespricht dann die einzelnen Formen, zunächst 
die verschiedenen Einzelformen, die auf Schildrüsenerkrankung, Hypophysen- 
und Keimdrüsenstörungen zurückgeführt worden sind. Dann unterzieht er die 
Rolle, die Thymus, Epithelkörperchen, Nebennieren, Pankreas, die multiple 
Blutdrüsenerkrankung nach Falta für das Zustandekommen infantilistischer 
Symptome haben, einer kritischen Betrachtung. Nicht alle Formen des Infan¬ 
tilismus sind durch endokrine Störungen bedingt: auch andere organische, 
toxische und infektiöse Schädlichkeiten, die kongenital, fötal oder auch später 
einwirken (Infantilismus mit angeborenem Herzfehler, Pulmonalinfantilismus, 
Lues, Alkohol usw.), haben eine ursächliche Bedeutung. Die Schwäche des 
Begriffes Infantilismus beruht im wesentlichen in folgenden Punkten: Die In¬ 
fantilen sind weder Kinder noch kindlich, man kann an der Entwicklung des 
normalen Kindes nur etwa messen, an welchem Punkte des Weges die In¬ 
fantilen zurückgeblieben sind. Der Begriff setzt eine ziemliche Gleichmäßigkeit 
der Entwicklungshemmung voraus, die sich zu den tatsächlichen Befunden 
bei Infantilen im Gegensatz befinden. — K. teilt eine Reihe von Fällen mit, 
die er im städtischen Siechenhaus zu Frankfurt am Main beobachtet hat. 


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70* Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 

In einer kurzen, aber sehr anregenden Veröffentlichung schlägt Stier 
(30) vor, daß als Einteilungsprinzip für die nervösen und psychischen Stö¬ 
rungen im Kindesalter andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden, als es 
bisher geschehen ist. Der Verfasser geht davon aus, daß, im Gegensatz zur 
funktionellen Keife anderer Organe, das Kind auf dem Gebiet der psychisch¬ 
nervösen Funktionen noch ganz unfertig ist, und daß die Entwicklung und 
Ausbildung dieser Funktionen erst unter dem Einfluß der Lebensreize bis zur 
Pubertät hin allmählich vonstatten geht. Fertig sind nur der einfache Reflex¬ 
mechanismus, der die Vereinheitlichung der Funktionen der verschiedenen 
Organe ermöglicht, und ferner die ersten etwas höheren komplizierten artkon¬ 
stanten Funktionen, die als Triebe und Instinkte, als Strebungen und Wollungen 
mit den begleitenden einfachen Gefühlen für die Erhaltung des Lebens uner¬ 
läßlich sind (Schreien bei Hunger, bei Beschmutzung usw.). Auf diese elemen¬ 
taren Funktionen erst setzt sich das durch individuelle Lebenserfahrungen 
entwickelte bewußte Verstandesleben als drittes Stockwerk auf. Entsprechend 
dieser Dreiteilung der Entwicklung will St. auch eine Dreiteilung der psychisch¬ 
nervösen Störungen vornehmen. Er unterscheidet: 

1. Neuropathische Störungen, d. s. Störungen, des phylogenetisch ältesten, 
bei der Geburt fast ganz oder ganzfertigen elementaren Reflexmechanismus 
im weitesten Sinne des Wortes. 

2. Psychopathische Störungen, d. s. Störungen des phylogenetisch jün¬ 
geren in der Kindheitsentwicklung früh auftretenden, artkonstanten Trieb- 
und Instinktlebens. 

3. Intellektuelle Störungen, d. s. Störungen des phylogenetisch jüngsten, 
in der Kindheitsentwicklung erst später auftretenden und länger einer Ent¬ 
wicklung zugängigen, individuell in weitem Maße differenten Verstandeslebens. 

Das Merkmal der neuropathischen Störungen, die allein besprochen 
werden, ist die krankhafte Steigerung der elementaren reflektorischen Erreg¬ 
barkeit des zentralen oder vegetativen Nervensystems. Die so entstehenden 
Störungen manifestieren sich entweder 

im Gebiet der unbedingten Reflexe als erleichterte, verbreiterte oder 
abnorm intensive motorische Reaktionen auf leichte bez. mittelschwere Reize 
(Schreckhaftigkeit, Muskelunruhe, Kinderkonvulsionen, Steigerung der Vasomo- 
tilität, der sekretorischen Funktionen zum Beispiel Enuresis, verfrühte Erek¬ 
tionen) 

oder als ein verfrühtes Auftreten von Unlustgefühlen bei den gleichen 
Reizen (abnorme Unlustgefühle gegenüber gewissen Geschmacks- und Geruchs¬ 
reizen, Lichtscheu, Geräuschdmpfindlichkeit, l'berempfindlichkeit gegen Haut¬ 
reize u. a.) 

oder im Gebiete der bedingten Reflexe als abnorm langes und intensives 
Festhaften sogenannter häßlicher Angewohnheiten (Daumenlutschen, Nägel¬ 
kauen, jactatio capitis nocturna, Tics usw., respiratorische Reflexkrämpfe). 

E. Barth (1) hat sich bei ihren interessanten Untersuchungen über 40 
weibliche Fürsorgezöglinge im wesentlichen durch die Arbeit von Gruhle be- 


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Schob, Idiotie. Imbezillität. Debilität. Psychopathie. 71* 

nflusscu lassen. Das Hauptslioben der Verfasserin ist darauf gerichtet, die 
rundlage für die Verwahrlosung allseitig klarzulegen. Der erste Teil befaßt 
ch mit den Eltern, deren Verhältnisse nach Ansässigkeit und Beruf, Wohnung 
ad Vermögen, Straffälligkeit und Gesundheitszustand erforscht werden. Die 
ater gehören großenteils den Handel- und Gewerbetreibenden an; wie schon 
'ruhte, so zeigt auch die Verfasserin, daß die kriminelle Jugend nicht „aus 
er Hefe des Volkes“ hervorgeht. Die rein materiellen Verhältnisse der Eltern 
ind im allgemeinen nicht schlecht. Soziale und moralische Defekte der Er- 
euger waren bei 37,5% der Zöglinge nachweisbar. Körperliche Erkrankung 
er Eltern, Inanspruchnahme der Mutter durch zahlreiche Geburten, frühe 
Sterblichkeit der Mütter. Aufwachsen der Kinder in fremder Umgebung spielen 
ine gewisse Rolle. Milieuschädlichkeiten ließen sich bei 85% nachweisen. 

Im zweiten Teil werden die Kinder selbst nach folgenden Gesichtspunkten 
tntersucht: 1) Geburtszeit, eheliche oder uneheliche Geburt, Aufwachsen 
uißerhalb des Elternhauses, Geschwisterzahl: 2) Kindheit und Schule, Gesund- 
leitsverhältnisse; 3) Beruf, Austritt aus dem Elternhaus; 4) Kriminalität und 
Eintritt der Fürsorgeerziehung; 5) die Persönlichkeit selbst. Die meisten 
Kinder waren im Jannar geboren, 7 waren unehelich, 9 waren außerhalb des 
Elternhauses erzogen; zum Teil entstammten sie sehr kinderreichen Familien, 
gerade die älteren in der Reihe der Geschwister bleiben in der sittlichen Ent¬ 
wicklung zurück. 13 Mädchen waren ein oder mehrere Male in der Schule 
sitzen geblieben. Die Gesundheitsverhältnisse waren meist günstig; die Men¬ 
struation hatte bei den meisten znr rechten Zeit eingesetzt; ein Zusammen¬ 
hang zwischen erster Menstruation und erster Kriminalität bez. Einsetzen der 
Fürsorgeerziehung war nicht nachweisbar; 9 waren, meist wegen Selbstmord¬ 
versuchs, in psychiatrischer Behandlung gewesen. Der Eintritt ins Berufsleben 
vollzog sich meist unmittelbar nach dem Austritt aus der Schule; von be¬ 
sonderer Bedeutung war immer der Übertritt in das Gastwirtsgewerbe, immer 
war der Eintritt in den Kellnerinnenberuf Ansdruck zunehmender Haltlosigkeit. 
Die Kriminalität nahm deutlich ab mit den Jahren, die auf den Austritt aus 
dem Elternhaus folgten. Der erste deutliche Anstieg mit Eintritt in Fürsorge- 
bez. Anstaltserziehung begann mit dem 15. Lebensjahr, um mit dem 17. den 
Höhepunkt zu erreichen. 22 der Zöglinge wurden der Anstalt durch Gerichts¬ 
beschluß überwiesen, bei 18 wurde die Fürsorgeerziehung auf Antrag der 
Eltern oder anf eigenen Wunsch eingeleitet. Bei den kriminellen Handlungen 
der Fürsorgezöglinge lag 23 mal Unzucht, 20 mal Diebstahl vor, die übrigen 
8 Vergehen verteilten sich auf Streunen, Unterschlagung und Betrug. Zur 
Prostitution und Unzucht kamen die Mädchen zumeist durch das Großstadt¬ 
leben. Als normal in geistiger Beziehung ist nur 1 Mädchen zu bezeichnen, 
G waren debil, 4 leicht imbezill, debil und psychopathisch 3, psychopathisch 2G. 
Die geistig wenig entwickelten Individuen neigten besonders zu Eigentums- 
vergehen. die psychopathischen mit hysterischen Zügen zu sexueller Verwahr¬ 
losung. 


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72* Bericht iilior die psychiatrische Literatur 1915. 

Bei der gegenseitigen Abwägung des Einflusses von Milieu und Anlage 
kommt die Verb zu folgenden Schlüssen: 

1) Die Abnormen überwiegen, wo es sich vornehmlich um Anlageschäden 
bandelt. 

2) Milieuschäden beeinflussen Abnorme relativ weniger als Normal^. 

3) Bei den krankhaft Veranlagten überwiegen die Willensschwächen. 
Eine scharfe Grenze zwischen äußeren und inneren Ursachen kann 

oft nicht gezogen werden. 


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DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 

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5. Intoxikations-Psychosen. 

Ref.: Otto S n e 11 - Lüneburg. 

1. Albos, W. L., Psicosis alcohölica sub-aguda en un alcohölico. 

Gaceta mödica del Norte, afio 21, nüm. 245, p. 145. 

2. Anton , 0. (Halle a. S.), Verschlechterung der Erblichkeit bei 

Trinkern. Alkoholfrage, Jahrg. 11, H. 3, S. 242. 

3. de Benoit , Pierre (Bern), Alkoholiker-Fürsorge. Mit besonderer 

Berücksichtigung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches und 
des Vorentwurfs zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch. 
Bern. G. A. Bäschlin. 243 S. — 3,75 M. 

4. Bertholet, E. (Lausanne), Ereditä ed alcoolismo. II Manicomio 

30. ann., no. 1, p. 47. 

5. Bignami, A., ed Nazari, A. (Roma), Sulla degenerazione delle 

commissure encefaliche e degli emisferi nell’ alcoolismo 
cronico. Rivista speriment. di fren. vol. 41, p. 81—148. 

6. Birnbaum, K ., Geistesstörungen im Kriege. Umschau Nr. 43. 

7. Bonhoeffer, K., Kriegspsychosen. Vossische Ztg. v. 3. Okt. 1915. 

8. Bunge, Alkoholvergiftung und Degeneration. Leipzig. J. A. Barth. 

16 S. — 30 Pf. (S. 81*.) 

9. Chotzen, F. (Breslau), Eifersuchtswahn bei Trinkern. Die Um¬ 

schau. Märzheft. 

10. Cursehmann, H. (Mainz), Über Muskelhypertrophien hyperkineti¬ 

schen Ursprungs bei toxischer Polyneuritis. Med. Klin. 
Nr. 44, S. 1199. 

11. Dominick, Heinrich, Über Morphiumentziehung und in ihrem 

Verlauf vorkommende Psychosen. Inaug.-Diss. 1914, Kiel. 

12. van Dongen (Utrecht), Morphiumgewöhnung. Pflügers Arch. 

Bd. 162, H. 1 u. 2. 

13. Fan, CI. B. (Philadelphia), The relative frequency of Morfin — 

and Heroinism. New York med. Journ. no. 18. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXX1II. Lit- f 


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74 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


14. Fehsenf eld, Georg (Neuruppin), Die alkoholfreien Ersatzgetränkt 

vom Standpunkte der öffentlichen Gesundheitspflege. Mec. 
Klin. Nr. 17, S. 482. (S. 81*.) 

15. Flusser, Emil, Über Psychosen beim Kriegstyphus. Wien, nux, 

Wschr. Nr. 39, S. 1448. 

16. Frowein, Otto, Zur Lehre von der Halluzinose der Trinker. Inauc- 

Diss. Kiel. 

17. Fuchs, A., und Waitzki, Ergotismus und Tetanie. (Verein f. Psyd 

u. Neurol., Wien. Sitz. v. Mai.) Ref.: Wiener Klin. Wscfc: 
Jahrg. 28, S. 494. 

18. Görski, Marian., Beitrag zur Lehre von den Psychosen nac. 

akuten Infektionskrankheiten. Jnaug.-Diss. 1914 KieL 

19. Gudden, H., Chronischer Alkoholismus. Taschenbuch des Fel> 

arztes. Teil 2. München. C. F. Lehmann. 

20. Heffter, A., Arsenik Vergiftung oder Arsenikophagismus. Ztschr. 

ger. Med. u. öffentl. Sanitätsw. Bd. 50, H. 4, S. 167. 

21. Heiberg, Alkoholismus und Morbidität. Archiv f. soziale Hygier 

u. Demographie Bd. 10, H. 4. 

22. Henderson, K. (Baltimore), Typhoid fever with permanent memo' 

defect. Americ. journ. of insanity no. 4, p. 685. 

23. Hercod, R., Alkohol, Entartung und Rassenhygiene. Nach Dr. Jo:. 

Alfred Mjöen. Internat. Mtschr. H. 10. 

24. Herschmann, Heim., Über drei Fälle von Geistesstörung nacl 

Cholera asiatica. D. Militärarzt Nr. 22, S. 359. 

25. v. Hirsch-Gereuth, A. (Berlin), Vergiftungsversuche mit AdalL 

Therap. d. Gegenw., Januarheft. 

26. Hirsch, Samson, Über neurasthenische Symptome und chronis i 

Bleivergiftung. Inaug.-Diss. Heidelberg. 

27. Hoff mann, F., Die Kriegsverletztenfürsorge und der Alkoh 

Blätter f. pr. Trinkerfürsorge H. 10. 

28. Hoppe-Seyler (Kiel), Über die Veränderungen an den inner- 

Organen, besonders den Verdauungs- und Zirkulationsorgan' 
infolge von chronischem Alkoholismus und ihren Einfluß a I 
die Felddienstfähigkeit. Med. Klin. Nr. 26, S. 716. (S. 80' 

29. Hudovemig, Carl (Budapest), Zur Therapie der Alkoholpsyehos'- 

Neurol. Ztlbl. Nr. 16, S. 596. (S. 80*.) 

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S n e 11, Intoxikations-Psychosen. 


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f* 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


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Sn eil, Intoxikations-Psychosen. 


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Jena, G. Fischer, 267 S. (S. 79*.) 


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78 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


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82. Stuchlik, Jar. (Rot-Kosteletz), Über die hereditären Beziehungen 

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83. Stuchlik, Jar. (Rot-Kosteletz, Böhmen), Uber die Foretsche Theorie 

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campagna pellagrologica per l’anno 1913. Rivista speriment. 
di freniatria vol. 41, p. 149—200. 

87. UMhoff, W. (Breslau), Beitrag zu den Sehstörungen durch Methyl¬ 

alkoholvergiftungen. Klin. Mbl. f. Augenheilk. Bd. 54, S. 48. 
(S. 83*.) 

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on the cardio-vascular System. New York med. journ. no. of 
Sept. llth. 


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Snell, Intoxikations-Psychosen. 


79 * 


a) Allgemeines. 

Schullze (75) bezeichnet als toxische Psychosen die ausgesprochen krank¬ 
haften psychischen Reaktionen des Individuums auf dem Organismus zugeführte 
giftige Stoffe. Die giftig wirkenden Stoffe sind Nahrungs-, Genuß-, Arzneimittel 
und gewerbliche Gifte. Für den Ausfall der Reaktion ist auch der andere Faktor, das 
Individuum, von Belang. Wenn nur einzelne Individuen unter sonst gleichen 
äußeren Verhältnissen auf ein Gift reagieren, so kann daran nur die persönliche 
Veranlagung, die Disposition, schuld sein. Diese Disposition kann angeboren oder 
erworben, vorübergehend oder dauernd sein. Es werden genauer erörtert die akute 
Alkoholvergiftung mit der pathologischen Alkoholreaktion, die chronische Alkohol¬ 
vergiftung mit den Unterabteilungen Delirium tremens, Halluzinose der Trinker, 
chronischer Alkoholisnms und Eifersuchtswahn der Trinker, Korsakowsche Psychose 
und als Anhang Dipsomanie, die durchaus keine toxische Psychose ist, ferner Morphi¬ 
nismus, Kokainismus, Bleivergiftung und Kohlenoxydvergiftung. 

McLaughlin (41) behauptet, Alkoholismus, Kokainismus und Morphium¬ 
sucht in kürzester Zeit und ohne Beschwerden nach einer von Lambert angegebenen 
Methode unter Anwendung eines Gemisches von Belladonna, Xanthoxyl und Hyos- 
zyamus zu heilen. 

b) Alkoholismus. 

Jörger (32) teilt die Ergebnisse von Assoziationsexperimenten mit, die er 
mit Alkoholikern anstellte. Er fand, daß sich die Störungen bei den Assoziationen 
der Alkoholiker in 2 Gnippen zerlegen lassen: 1. Eine Verlängerung der Reaktions¬ 
zeit, eine Neigung zu Wiederholungen von Reizworten und Reaktionsworten, eine 
erhöhte Zahl innerer Assoziationen und eine dementsprechend verringerte Zahl 
sprachlich-motorischer Assoziationen. Diese Ergebnisse zeigten sowohl in der 
einzelnen Assoziationsreihe als in der Serie von Experimenten während der Erholung 
unter Abstinenz eine Zunahme oder zum mindesten die Tendenz, ausgesprochener 
zu werden. Sie lassen sich mit einer Auffassungsstörung am besten erklären. 2. 
Eine Vermehrung sinnloser Reaktionen und Perseverationen, verminderte Repro¬ 
duktionsfähigkeit, Neigung zu Reaktion in Satzform, Vermehrung von Klang¬ 
assoziationen. Diese Zeichen nehmen im Gegensatz zu den unter 1 aufgezählten ab. 

Otto (52) berichtet über die Fälle von chronischem Alkoholismus, die in den 
Jahren 1901—1904 in der Psychiatrischen Klinik zu Kiel behandelt wurden. In 
diesen 5 Jahren kamen 479 Männer und 24 Frauen zur Aufnahme; das waren von 
den überhaupt aufgenommenen Kranken 26,7% alkoholkranke Männer und 2,3% 
alkoholkranke Frauen. In 150 Krankengeschichten fand Otto, daß 125 regelmäßig 
gewöhnlichen Branntwein (Kümmel, Korn) genossen, und zwar in Quantitäten bis 
zu einem Liter täglich; 12 tranken Kognak, 13 Grog, je 2 Pfefferminz oder Vanille, 
6 reinen Rum, einer Kaffeepunsch, bestehend aus % Rum und % Kaffee, 4 hielten 
sich an den Magenbittern und 2 tranken Rotwein, der dem einen anfangs von einem 
Arzte verordnet worden war. Daneben trank die Mehrzahl regelmäßig Bier, durch¬ 
schnittlich 5 bis 20 Flaschen am Tage. Ein Patient trank nach Angabe seiner Frau 
täglich 40 bis 60 Flaschen, Von den 150 Trinkern standen 7 im dritten Jahrzehnt 


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80 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1015. 


hres Lebens, 37 im vierten, 52 im fünften, 32 im sechsten; über 60 Jahre alt waren 
ilO und über 70 Jahre 2. Die meisten wurden in betrunkenem Zustande aufgenommen, 
nicht nur die, welche polizeilich eingeliefert wurden, sondern auch solche, die aus 
eigenem Antrieb kamen, nachdem sie sich gehörig Mut getrunken hatten. In 13 
Fällen war der Vater ein Potator, in 8 Fällen die Mutter eine Trinkerin, in 3 Fällen 
waren beide Eltern dem Trünke ergeben. Minderwertigkeit der Eltern oder Ge¬ 
schwister konnte 42mal festgestellt werden. Unter den 150 Fällen zeigten 43 die 
typische Alkohol-Polyneuritis. Ein Fall von Korsakomchei Psychose wird aus¬ 
führlich mitgeteilt. Von den 150 Fällen wurden 22 zweimal, 4 dreimal, je einer 
4-, 7- und lOmal auf genommen; 3 hatten sich bereits in andern Irrenanstalten auf¬ 
gehalten. Der einzige sichere Weg zur Trinkerheilung ist nach 1- bis 2jährigem 
Aufenthalt in einem Trinkerasyl die vollständige dauernde Abstinenz und der 
Beitritt zu einem Abstinenzverein. 1 

Hudovernig (29) wendet bei Alkoholpsychosen, um eine rasche Durch¬ 
waschung der Gewebe und des Nervensystems und damit eine rasche Entfernung 
des angehäuften Alkoholgiftes zu erreichen, Pilokarpin an, das bekanntlich die 
Speichel- und Schweißdrüsensekretion mächtig anregt. Weil das Pilokarpin ein 
Herzgift ist, darf es bei Kranken mit ausgesprochener Herzschwäche und Arterio¬ 
sklerose nicht angewendet werden. H. gibt bei absoluter Bettruhe ein Digitalis¬ 
präparat und während 8 bis 10 Tagen täglich eine Injektion von salzsaurem Pilo¬ 
karpin, dessen Anfangsdosis am ersten Tage 0,006, dann aber 0,01 beträgt. Dabei 
bekommen die Kranken in der ersten Woche leichte, zumeist flüssige Diät. Bäder 
und Packungen kommen nur ausnahmsweise zur Anwendung. Es trat mächtige 
Saüvation und Schweißausbruch auf. Bei einigen, aber nicht bei allen Kranken 
hatte der Schweiß Alkoholgeruch. Bei den 15 Kranken, die so behandelt wurden, 
erfolgte die psychische Aufhellung überraschend schnell; auch die körperlichen Er¬ 
scheinungen der Alkoholvergiftung zeigten eine raschere Rückbildung, wenn auch 
nicht in dem Maße wie die Delirien und Halluzinationen. 

Hoppe-Seyler (28) berichtet über die Erkrankungen der Zirkulationsorgane, 
der Leber und der Nieren, nicht die des Nervensystems, die er bei chronischen Al- 
koholisten beobachtet hat, und über ihren Einfluß auf die Felddienstfähigkeit. 
Der Einfluß, den der Alkoholismus auf die körperliche und geistige Leistungsfähig¬ 
keit des Menschen ausübt, ist ein sehr schwankender und damit die Beeinträchtigung 
der Felddienstfähigkeit bei den einzelnen Individuen außerordentlich verschieden. 
Aus den Beobachtungen geht hervor, daß übermäßiger chronischer Alkoholgenuß 
die Felddienstfähigkeit in erheblichem Maße schädigen kann; er ist daher möglichst 
im Felde zu verbieten. Besonders muß man dafür sorgen, daß, wenn schon durch 
mangelhafte Nahrung, durch übermäßige Körperanstrengungen, durch Hitze, 
Kälte oder Nässe der Organismus geschädigt ist, die Organveränderungen nicht noch 
durch alkoholische Getränke verschlimmert werden. Es ist auch in Betracht zu 
ziehen, daß Infektionskrankheiten, wie Typhus, Ruhr, Cholera, septische Er¬ 
krankungen und Pneumonien bei Alkoholikern schwerer zu verlaufen pflegen 
und leichter infolge der bestehenden Darm-, Herz- oder Nierenstörungen mit 
dem Tode enden. Es wird allerdings nicht möglich sein, den Alkohol ganz bei 


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Sn eil, Intoxikations-Psychosen. 


81 * 


den Trappen auszuschalten, und das ist auch nicht nötig, aber man muß den Ver¬ 
brauch einzuschränken, namentlich den regelmäßigen stärkeren Genuß zu bekämp¬ 
fen suchen. 

v. Bunge (8) lenkt die Aufmerksamkeit auf die zunehmende Unfähigkeit 
der Mütter, ihre Kinder zu stillen. In den Städten Deutschlands und der Schweiz 
ist bereits mehr als die Hälfte aller Frauen unfähig zum Stillen. Die Nachforschun¬ 
gen in mehr als 1600 Familien führten zu folgendem Ergebnis: War der Vater 
ein Trinker, so verliert die Tochter die Fähigkeit, ihr Kind zu stillen. Die Unfähig¬ 
keit zum Stillen ist keine isolierte Erscheinung. Sie paart sich mit andern Symp¬ 
tomen der Degeneration, insbesondere mit einer Widerstandslosigkeit gegen Er¬ 
krankungen aller Art, an Nervenleiden, an Tuberkulose, an Zahnkaries. Die chroni¬ 
sche Alkoholvergiftung ist nicht die einzige Ursache aller dieser Leiden und Ge¬ 
brechen, aber sie ist diejenige Ursache, die sich gleich beseitigen läßt. 

I von der Porten (60) behandelt Delirium tremens mit Veronal und hält Morphin 
und Hyoszin für ungeeignet. 

Sluchlik (83) diskutiert die Forekche Ansicht über die blastophthorische 
Wirkung des Alkohols und kommt zum Schluß, daß die akute Blastophthorie, wie 
sie Forel annimmt, sehr fraglicher Natur ist, weil sowohl theoretische als auch 
faktische, aus der Literatur gesammelte Beispiele nur für die chronische Vergiftung 
sprechen; eine akute Wirkung ist nur auf dem chronischen Grunde möglich. In 
diesem Sinne muß man die Gültigkeit der oben erwähnten Theorie reduzieren. 

Jar. StuchWe. 

Fehsenfeid (14) bespricht die alkoholfreien Ersatzgetränke vom Stand¬ 
punkte der öffentlichen Gesundheitspflege. Er hält den Alkohol für einen Nahrungs¬ 
stoff, der aber als Nahrungsmittel im weiteren Sinne nicht in Betracht kommen 
kann wegen seiner toxischen Eigenschaften. Dagegen ist der Alkohol als hervor¬ 
ragendes Genußmittel zu bezeichnen. Da aber jeder übertriebene und gewohnheits¬ 
mäßige Genuß alkoholischer Genußmittel schädliche Folgen hat, ist die öffentliche 
Bekämpfung des Mißbrauchs alkoholischer Getränke zu begrüßen. Die Industrie 
hat es sich zur Aufgabe gemacht, als Ersatz an Stelle der zu vermeidenden alkoholi¬ 
schen Getränke solche zu schaffen, die aus denselben Rohstoffen hergestellt werden 
aber keinen Alkohol enthalten. An diese Ersatzgetränke muß man folgende An¬ 
forderungen stellen: Sind sie unschädlich ? Haben sie Nährwert? Sind sie Genu߬ 
mittel ? Das heißt, lassen sie sich längere Zeit ohne Widerwillen trinken ? Sind sie 
ein gleichwertiges Genußmittel gegenüber den alkoholischen Getränken? Sind sie 
nicht zu teuer im Preise? Die alkoholfreien Fruchtsäfte sind wegen ihres großen 
Gehaltes an Stoffbildnern, an Zucker- und Mineralstoffen ein wirkliches Nahrungs¬ 
mittel. Die Konservierung alkoholfreier Ersatzgetränke durch Zusetzen chemischer 
Konservierungsmittel ist jedoch abzulehnen. Die Eigenschaft als Genußmittel 
wird den alkoholfreien Fruchtsäften zugesprochen, jedoch nicht in demselben Grade 
wie den alkoholischen Getränken; dabei wird der sehr anfechtbare Grund angeführt, 
daß man von den alkoholfreien Getränken wegen ihres hohen Zuckergehaltes nicht 
so viel trinken möge wie von den alkoholhaltigen. Ihr Preis ist für ein allgemeines 
Volksgenußmittel zu hoch. F. kommt zu dem Schlüsse, daß die alkoholfreien Ersatz- 


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82 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


getränke hygienisch wertvoll und im Kampfe gegen den Mißbrauch alkoholischer 
Getränke von unzweifelhaftem Nutzen sind. 

Rupprecht (70) berichtet über Alkohol und Verbrechen in Bayern. Die 
bayerische Justizverwaltung läßt seit dem Jahre 1910 Ermittlungen anstellen über 
Art und Umfang des Einflusses des Alkoholgenusses auf die Verübung strafbarer 
Handlungen. Diese Ermittlungen erstrecken sich auf Verurteilungen wegen Ver¬ 
brechen und Vergehen gegen die Reichsgesetze in den Fällen, in denen nach den Fest¬ 
stellungen des Urteils die strafbare Handlung im Zustande der Trunkenheit be¬ 
gangen wurde oder offensichtlich auf gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuß des Täters 
zurückzuführen ist. Im Jahre 1910 wurden in Bayern insgesamt 67 176 Personen 
verurteilt, von denen 8864 oder 13,19% im Zustande der Trunkenheit die Straftat 
begangen hatten. Die Zahl der Verurteilten ist bis 1913 ziemlich gleich geblieben, 
der Prozentsatz der Trinker ist etwas gesunken, auf 11,58%, An den wegen Trunken¬ 
heitsdelikte Verurteilten sind die Bauern, selbständigen Gewerbetreibenden und 
Kaufleute mit verhältnismäßig geringen Zahlen beteiligt, dagegen zeigen die land¬ 
wirtschaftlichen Dienstboten, die unselbständigen Gewerbegehilfen und insbesondere 
die Arbeiter eine ganz erhebliche Alkoholkriminalität. Mehr als die Hälfte der „Ar¬ 
beiter“ gehören zu den ungelernten Arbeitern, Tagelöhnern und Gelegenheitsarbei¬ 
tern. Je unsicherer und unbeständiger die Grundlage des Erwerbs und der Arbeit 
ist, je weniger eigene Verantwortung der Beruf mit sich bringt, um so stärker ist 
die Neigung, den verdienten Lohn in Alkohol umzusetzen. Die in Industrie und 
Gewerbe tätigen Personen liefern etwa doppelt so viele Alkoholdelikte als die gleiche 
Zahl von Personen, die in Land- und Forstwirtschaft beschäftigt sind. Dagegen 
ereignen sich unter der Bevölkerung der großen Städte ganz erheblich weniger Al¬ 
koholexzesse als in Kleinstädten und auf dem Lande. Unter den in der Trunkenheit 
verübten strafbaren Handlungen stehen die Roheitshandlungen, besonders vor¬ 
sätzliche Körperverletzung, obenan. Für jedes Jahr ergibt sich eine Gesamtsumme 
von mehr als tausend Jahren Gefängnis, die für im Rauschzustand verübte Straf¬ 
taten verhängt wurden. Diese Zahlen weisen mit Eindringlichkeit auf die Not¬ 
wendigkeit einer energischen Trinkerfürsorge und Bekämpfung der Trunksucht hin. 


c) Korsakowsche Psychose. 

Pick (67) beobachtete einen Fall von wahrscheinlich tuberkulöser Menin¬ 
gitis, der nach dem Abklingen der mcningitischen Erscheinungen das Zustandsbild 
der Korsakomchen Psychose bot. In den mit ihm angestellten Gesprächen zeigte 
er das Nebeneinanderstehen ganz unvercinbarlicher und dadurch ganz unsinnig 
erscheinender Gedankenkomplexe und das Fehlen jedes Bedürfnisses einer Kor¬ 
rektur derselben. Korrigierende Gedanken tauchen in diesem Zustande nicht nur 
nicht auf, sondern sie haben, wenn sie direkt dem Kranken entgegengehalten werden, 
nicht die erwartete Wirkung. Zur Erklärung dieser Erscheinung kann es vielleicht 
dienen, daß hier der unsinnige Gedanke den Charakter des Selbstcrworbenen, des 
Eigenbesitzes hat, dem gegenüber die Belehrung seitens anderer unwirksam bleibt. 


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Sn eil, Intoxikations-I’sychosen. 


83 


* 


d) Andere Gifte. 

Schdbtlite (72) stellte an sich selbst Experimente über firomismus an. Fast 
2 Monate lang hielt er eine Diät ein, die aus täglich 2 1 Milch, 4 Eiern, Zwieback, 
Hafermehl und Obst bestand. Nachdem diese sehr kochsalzarme Diät 14 Tage 
lang eingehalten war, wurden 22 Tage lang je 5 g Bromnatrium genommen, dann 
2 Tage je 10 g. Das Auffallendste unter den beobachteten Ergebnissen war das 
Auftreten einer submanischen Stimmung. Nachdem zu Beginn der Bromisierung 
Euphorie mit schlechter Laune abgewechselt hatte, blieb vom 7. Bromtage ab die 
Stimmung dauernd euphorisch- mit Rededrang und motorischer Unruhe. Dann 
wurden alte Erinnerungen aus der Jugendzeit neu belebt, während frische Eindrücke 
nur wenig haften blieben. Mit Aussetzen der Bromzufuhr und Zusatz von Kochsalz 
wechselte die Stimmung wie mit einem Schlage: der Euphorie folgte eine Depression. 
Von den bekannten Erscheinungen des Bromismus — Verlangsamung des Denkens 
und der willkürlichen Bewegungen, wachsende Unbesinnlichkeit, Interesselosigkeit, 
Ataxie usw. — ließen sich durch das psychologische Laboratoriumsexperiment nur 
folgende feststellen: I. Die Gedächtnisstörung für im Bromismus gemerkte Bilder, 
Farben und Buchstaben (Ausbleiben eines Übungszuwachses); dabei ergab sich als 
Nebenbefund das Erhaltensein des Gedächtnisses für vor der Bromisierung gemerkte 
Bilder, Farben und Buchstaben. II. Die Verlangsamung der psychischen Arbeits¬ 
leistung (Verlängerung der Reaktionszeiten im Assoziationsexperiment, lang¬ 
sameres Zusammenzählen von Zahlen in den Kraepelinschen Heften). Sehr schön 
zeigten diese Experimente, daß Kochsalzgaben diese Erscheinungen restlos zum 
Verschwinden bringen. Die Wirkung des Broms auf das Gefäßsystem scheint 
darin zu bestehen, den Tonus der Vasomotoren herabzusetzen, im Gegensatz zum 
Kochsalz, das die Ansprechbarkeit der Gefäßinmrvation schon auf geringe psychi¬ 
sche und mechanische Reize erhöht 

Vthoff (87) beschreibt Sehstörungen durch Methylalkoholvergiftung. Un¬ 
gefähr 200 Mann tranken versehentlich Methylalkohol statt Schnaps aus einem 
Gefäß von etwa 40 1, das sie auf einem Bahnhof gefunden hatten. Etwa 60 Mann 
erkrankten unter Vergiftungserscheinungen und 12 von ihnen starben. Neben 
Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen, Magenbeschwerden, Muskelschmerzen, Somno¬ 
lenz und auch Schlaflosigkeit traten Sehstörungen auf, die in den meisten Fällen 
vorübergehend waren und in Flimmern und Verschwommensehen bestanden. In 
einigen Fällen dagegen kam es zu schweren Störungen, bis zu elftägiger vollständiger 
Amaurose. Unter allen Giften wirkt keines so elektiv auf den Sehnerven und die 
Retina schädigend wie der Methylalkohol. 

Kläsi und Roth (36) haben einen Fall von Safrolvergiftung beobachtet. 
Ein 36jähriger Mann trank aus Versehen mehrere Schluck einer Flüssigkeit, die als 
Maccassaröl bezeichnet wurde. Schon nach 10 Minuten traten Gefühle von Unbe¬ 
hagen, Unruhe, Schwindel, dann Störungen der Orientiertheit und halluzinatorische 
Erscheinungen auf. Wenig später verfiel er in eine schwere Benommenheit, in der er 
nach langem Angerufenwerden kaum noch seinen-Namen richtig*"angeben'konnte 
und motorisch so aufgeregt wurde, daß er gefesselt werden mußte. Bei der Auf- 


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nähme in das Kantonsspital zu Zürich fielen starker anisähnlicher Geruch der Ex¬ 
spirationsluft, leichter Nystagmus horizontalis und Steigerung der Patellarreflexe 
auf. Dann trat Erbrechen und Diarrhöe auf, nach einigen Tagen tonische Krämpfe 
und zeitweises Verschwinden der Patellarreflexe. Auf psychischem Gebiete bestanden 
Desorientiertheit, Amnesie, Illusionen und Halluzinationen des Gesichtes, Gehörs, 
Geruchs und der Körperempfindungen. Mit dem Verschwinden des anisähnlichen 
Geruches der Exspirationsluft ging der halluzinatorische Zustand in eine Depression, 
einige Tage später in dauernde Heilung über. 

e) Pellagra. 

Nach Singer (78) treten geistige Störungen bei 40% aller Fälle von Pellagia 
auf, und zwar am häufigsten bei Männern im Alter von 21—40 und bei Frauen 
im Alter von 41—60 Jahren, nicht bei Kindern. 95% der Geisteskrankheiten sind 
unmittelbare Folgen der pellagrösen Vergiftung; in diesen Fällen wird die geistige 
Störung geheilt, falls die Kranken am Leben bleiben. Die übrigen 5% beruhen auf 
einem zufälligen Zusammentreffen von Pellagra und Geistesstörung. Chronische 
Geisteskrankheiten und Nervenkrankheiten sind selten die Folge von Pellagra. 


6. Organische Psychosen. 

Ref.: E. Schütte -Lüneburg. 

Durch die Krankheit und den Tod des bisherigen Referenten Pförringer 
ist leider nicht nnr das bereits fertiggestellte Manuskript, sondern auch das 
Material, das ihm ins Feld nachgeschickt war, verloren gegangen. Das Referat 
konnte nur in beschränkten Umfang nachgeholt werden. 

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215. Weber, E. (Berlin), Die Behandlung der Folgezustände von Ge¬ 

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218. Weinreich, Theodor, Über diagnostische Ergebnisse bei Anwendung 

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219. Weise, Willy, Zur Symptomatologie der Tumoren des Scheitel¬ 

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220. Weisenburg, T. H., and Work, Ph., The diagnosis of tumors in the 

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221. Wenderoivic (St. Petersburg), Der Verlauf der sensiblen und 

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222. Westphal, A. (Bonn), Ein durch die Operation entfernter Tumor 

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225. Wohlwill, Fr. (Hamburg), Drei Fälle von Sprachstörung nach 

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226. Woitala, Georg , Über das Symptomenbild eines doppelseitigen 

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227. Zange, Joh. (Jena) Translabyrinthäre Operation von Akustikus- 

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228. Zondeck, U. (Freiburg i. B.), Irrtümliche Diagnose von Hirnlues 

bei einem Säugling. D. med. Wschr. Nr. 19. S. 558. 

1. Progressive Paralyse und syphilitische Erkrankungen 
des Zentralnervensystems. 

Gennerieh (54) kommt bei seiner Besprechung der Ursachen zu dem Resultat, 
daß der funktionelle Zustand der Pia entscheidend ist dafür, ob es zu gummösen 
Prozessen oder zu Metalues kommt. Ist sie funktionell erschöpft, so diffundieren 
die Reaktionserscheinungen des Nervengewebes in den Liquor, wir erhalten dann 
das charakteristische Nebeneinander von entzündlichen Veränderungen und pri 
märer Nekrose entsprechend dem Zustande der deckenden Hülle. Im andern Falle 
schützt die Pia das Nervengewebe vor der Diffusion mit dem Liquor, es etablieren 
sich die lokalen Abwehrvorgänge entsprechend dem Eintritt der Umstimmung 
des Gewebes im Sinne einer gummösen Zerebrospinallues. 

Wie Obersteiner (136) hervorhebt, sind bei einer großen Anzahl von Erkrankun¬ 
gen des Nervensystems gewisse angeborene Abweichungen von der Norm vorhanden, 
es wird durch eine solche Keimschädigung bzw. Entwicklungsstörung die Anlage für 
die Erkrankung geschaffen. Auf solche Anomalien ist z. B. die echte Syringomyelie 
zurückzuiühren, ferner die Tabes und die juvenile Paralyse, und es ist nicht daran 
zu zweifeln, daß diese spezifische Anlage auch bei der progressiven Paralyse der 
Erwachsenen nachgewiesen werden wird. Auch bei Hirntumoren haben sich ver¬ 
schiedenartige, von diesen anscheinend ganz unabhängige Eigentümlichkeiten auf¬ 
finden lassen, die als Entwicklungsstörungen anzusehen sind. Solchen Abweichungen 
verdanken z. B. die Brückenwinkeltumoren und auch manche Zirbeldrüsenge¬ 
schwülste ihre Entstehung. 

Ranke (150) bringt eine Übersicht über Histologie und Histopathologie der 
Blutgefäßwand, speziell des Zentralnervensystems. Erwähnt soll hier nur werden, 
daß ein plasmatisches Bindegewebsnetz, das auf weite Strecken hin kernlos sein 
kann, die morphologische Grundlage auch der fertigen Blutgef&ßwand büdet. Auch 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


die pathologischen Reaktionen der Blutgefäßwand gehen im wesentlichen innerhalb 
dieses plasmatischen Bindegewebsnetzes vonstatten. Nur in der kernhaltigen Ad- 
ventitia kommt cs primär neben der Neubildung kernhaltiger Bindegewebsnetzc 
zur Lösung freier Zellen. Die pathologischen Reaktionen des medialen und inti- 
malen Bindegewebsnetzes äußern sich hauptsächlich in Imprägnationsänderungen. 
Bei den meisten endarteriitischen Prozessen finden sich Delamination der Mem¬ 
brana elastica int. mit Muskularisation der Intima und Bildung fibroplastischer 
Netze in der Intima nebeneinander, doch überwiegt die erstere bei Arteriosklerose, 
die letztere bei der luetischen Endarteriitis Heubncr s. 

i AnUmi (5) hat in einem Falle von Tabes-Paralyse die von Nageoite beschriebe¬ 
nen regenerativ-tabischen Veränderungen in den Spinalganglien aller Regionen und 
im Ganglion Gassen gefunden. Es handelt sich um neugebildete Fasern, die sich im 
Innern des Ganglions um die alten, atrophierenden, markhaltigen Stammfasem 
herumschlingen. Die neugebildeten Fasern sammeln sich am zentralen Pol des 
Ganglions an, um sich in die Wurzelnerven fortzusetzen. Auch um die regressiv 
veränderten Ganglienzellen häufen sich regenerative Vorgänge der angrenzenden 
Fasern und Zellen. Die nämlichen Veränderungen fand Verf. noch in vier weiteren 
Fällen von Paralyse ohne klinische Tabes. In 5 Beobachtungen von Paralyse fanden 
sich wieder im Optikus Verzweigungen und Sprossungen sowie starke, kugelige 
Auftreibungen der Nervenfasern. Vielleicht steht dieser Befund in Beziehung zur 
Lichtstarre. Auf Grund dieser Beobachtungen stellt Verf. den Begriff „Prae- 
tabes“ auf. 

Schaffer (176) konnte in 5 Fällen von Paralyse, 2 Fällen von Arteriosklerose 
und 1 Fall von Tabes feststellen, daß ein homolateraler, zerebraler Pyramidenbahn- 
abschnitt vorhanden ist. Es hat also die Pyramidenbahn 3 Abschnitte: 1. einen 
spinalen, 2. einen bulbären, bestimmt für die motorischen Himnervenkeme und 
3. einen zerebellaren, welcher aus: a) einer bulbo-zerebellaren und b) einer ponto- 
zerebellaren Abteilung bestehen dürfte. Erstere leitet über den Streckkörper zur 
gleichzeitigen Kleinhirnhälfte, namentlich zum Wurm, sie ist durch die vorliegende 
Arbeit Schaffers nachgewiesen; letztere ist experimentell-anatomisch bewiesen. 
Es bedeutet die bulbo-zerebellare Pyramidenbahn einen homolateralen, direkten 
Zug zum Wurm, die ponto-zerebellare einen überwiegend homolateralen, direkten 
Zug zur Kleinhirnhemisphäre. Die motorische Großhirnrinde ist daher sowohl mit 
der Hemisphäre wie mit dem Wurm des Kleinhirns in unmittelbarer Verbindung. 
Am Zentralorgan der Paralytiker sind diese Bündel oft am stärksten ausgebildet 
und verlagert. Es ist dies der Ausdruck einer endogenen Disposition. 

Schamke (177) hat einen Fall von juveniler Paralyse genau untersucht. Das 
Gehirn erschien im ganzen stark atrophisch, besonders das Großhirn in der Ok¬ 
zipitalgegend. Die Ganglienzellen erschienen vielfach regellos gelagert, unregel¬ 
mäßig verteilt und sehr verschieden groß. Alle Pyramidenzellen wiesen überaus 
hochgradige Protoplasmaveränderungen auf. Auffallend war das Fehlen von Stäb¬ 
chenzellen, während Plasmazellen in großer Menge vorhanden waren. Die soge¬ 
nannten Abbauprodukte fanden sich in großen Massen. Zahlreiche Purkinje sehe, 
Zellen hatten doppelte Kerne, außerdem war ihre Lagerung sehr stark gestört, 


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während das Kleinhirn makroskopisch kaum Veränderungen aulwies. Im Rücken, 
mark fand man überall Ganglienzellen, die aus der grauen Substanz in die Vorder- 
. Seiten- und Hinterstränge versprengt waren. Zweifellos handelt es sich um ein 
schon im Keime geschädigtes Gehirn, das später paralytisch wurde. 

Die Weil-Kafkasche Hämolysinreaktion ist von Brückner (24) nachgeprüft 
worden. Er fand unter 61 Fällen von klinisch sicherer Paralyse 49 positiv, 8 fraglich 
und 4 negativ. Zwei der negativen Fälle hatten auch im Blute keine Ambozeptoren. 
Verf. kommt zu dem Resultat, daß die absolute Zahl der Versager bei der Wasser- 
mannschen Reaktion geringer ist als bei der Hämolysinreaktion, jedoch verfügt er 
über 2 Fälle, die bei negativer W assemannscher Reaktion vorübergehend eine 
positive Hämolysinreaktion zeigten. 

^ Weber (216) veröffentlicht ein Gutachten über den Zusammenhang von Para¬ 
lyse und Unfall bei einem Arbeiter, der sich eine Infektion an einem Finger zuge¬ 
zogen hatte. Er kommt zu dem Resultat, daß der Einfluß des Unfalls auf eine 
etwaige Verschlimmerung der Paralyse höchstens mit 10% zu bewerten ist. 

Unter den Prodromal- und Initialsymptomen der progressiven Paralyse zählt 
Haymann (70) auf, daß sich gelegentlich eine Verfeinerung des ganzen Wesens der 
Kranken findet, eine auffallende Besserung der früher vorhandenen schlechten 
Eigenschaften. Auffällig ist ferner das Verlieren kleinerer Gegenstände im Anfangs* 
Stadium der Paralyse; weiter kommt oft das Gefühl vor, daß der Kranke die ganze 
Gegenwart schon einmal durchlebt habe. Ungewöhnlich zahlreiche und wirre 
Träume sind nicht selten; bemerkenswert ist ferner, daß die Schreib- und Sprach¬ 
störungen dem Paralytiker selbst als krankhaft Vorkommen. Von den rein körper¬ 
lichen Störungen sind Intoleranz gegen Tabak und Alkohol, Magenstörungen 
Hautjucken, übergroße Empfindlichkeit für Kitzel, Brüchigkeit der Zähne und 
große Abneigung gegen helles Licht noch wenig bekannt, aber mehrfach beobachtet. 

Erueger (99) macht auf die lokalisierten Muskelatrophien bei Tabikern auf¬ 
merksam und bringt zwei Beobachtungen. In der ersten begann die Atrophie in 
den kleinen Handmuskeln, ergriff dann die Extensoren der Finger und der Hand, die 
Flexoren der Hand und des Vorderarmes, die Schultermuskeln, die Streckmuskeln 
des Vorderarmes, die Flexoren der Finger, die der Schulter benachbarten Hals-, 
Nacken-, Rücken- und Brustmuskeln und zuletzt auch die Bauchmuskeln. Becken- 
und Beinmuskulatur wurden nicht ergriffen. Im zweiten Falle bildete sich links 
eine typische Erbache Lähmung aus, rechts eine auf die Extensoren erweiterte 
Klumpke sehe Lähmung. Verf. nimmt als wahrscheinlichste Ursache der Amyo- 
trophien in diesen beiden Fällen eine primäre Erkrankung der vorderen Rücken¬ 
markswurzeln an, also des Abschnittes der Nervenbahn, wo die aus den gleichen 
Segmenten stammenden, zu denselben Körpergebieten ziehenden motorischen und 
sensiblen Bahnen dicht nebeneinander verlaufen. Vorderhomzellenerkrankung und 
Degeneration der peripherischen Nerven folgen dann sekundär. , 

Neuberi (130) beobachtete bei progressiver Paralyse eine Ptosis des rechten 
Lides, absolut lichtstarre Pupillen mit ausgesprochener Differenz in der Größe 
und mit Unbeweglichkeit des Bulbus. Verf. nimmt eine Zerstörung des rechten 
Okulomotoriuskemes an, möglicherweise war auch der rechte Abduzenskem teil- 


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weise zerstört. Auffallend war, daß trotz der Ptosis eine regelmäßige Hebung 
des rechten Lides beim Blick nach links erfolgte. 

Ausgedehnte Untersuchungen über die Oxyproteinsäure-Ausscheidung bei Para¬ 
lyse und andern Geisteskrankheiten hat Neumann (131) angestellt. Er fand, daß 
die Ausscheidung bei körperlich gesunden funktionellen Psychosen höchstens 2,66% 
des Gesamtstickstoffes betrug. Bei Dementia praecox ergaben sich normale Werte, 
bei Paralyse, Lues cerebri, multipler Sklerose und Epilepsie waren sie vermehrt. 
Die Durchschnittszahl betrug bei Paralyse 3,71%, höchstens 4,97%. Die Ver¬ 
mehrung der Oxyproteinsäuren läßt sich widerspruchslos in den Rahmen der Allers- 
schen Hypothese von der Natur des paralytischen Stoffwechsels einfügen. Die 
Vermehrung der Oxyproteinsäuren ist weder von der Lues noch von der organischen 
Himkrankheit als solcher abhängig; sie fehlt bei Atherosklerose und seniler Demenz. 

Kafka (84) verfügt über 139 zum Teil mehrfach mit Noguchis Spirochäten- 
luetin geimpfte Fälle. Am häufigsten zeigte die Lues cerebri positive Reaktion, 
dann folgte die Tabes, hierauf die Lues congenita, die Lues latens und zuletzt die 
Paralyse. Letztere reagiert außerdem schwächer, es gelingt bei ihr auch nicht, 
durch die Behandlung die Luetinreaktion hervorzubringen oder stärker zu machen, 
während bei Lues cerebri und Tabes die Hautreaktion dem Stadium der Krankheit 
und der Reaktion der Meningen sowie den serologischen Reaktionen im großen und 
ganzen parallel verläuft. Die Luetinreaktion ist im Primär- und frischen Sekundär¬ 
stadium last nie vorhanden, wird im späten Sekundärstadium häufiger, im Tertiär¬ 
stadium fast immer positiv und verschwindet bei Lues cerebri erst, wenn der Prozeß 
nach jeder Richtung hin stationär geworden ist. Wir können bei der Lues cerebri 
noch durch die Behandlung die Schutz- und Abwehrstoffe des Körpers heben; bei 
der Paralyse war dies bisher nicht möglich. Die Paralyse ist eine Form der Spät¬ 
lues, bei der die Abwehrmaßnahmen des Körpers sehr herabgesetzt oder ganz auf 
gehoben sind. 

Kafka (86) bespricht die einzelnen Liquorreaktionen. Er macht darauf auf¬ 
merksam, daß man nicht eine Reaktion für die andere einsetzen und Schlüsse 
daraus ziehen darf. Man soll vielmehr möglichst viele Reaktionen vornehmen. Mit 
7*4 ccm Liquor wird man auskommen. 

Kaplan (90) hat Liquoruntersuchungen bei Paralytikern ausgeführt, indem 
er eine Reihe von Liquorproben in immer weniger konzentrierter Lösung mit 
Kolloidal-Goldlösung versetzte. Die stärkeren Liquorlösungen bewirken eine voll¬ 
ständige Ausfällung des kolloidalen Goldes, die schwächeren geringer, bis in den 
schwächsten keine Farbenänderung auftritt. Es entsteht so eine treppenartige 
Kurve, die für progressive Paralyse charakteristisch ist. 

Negative Wassermannsche Reaktion sowohl im Blute wie im Liquor wurde 
von Förster (48) bei einer klinisch und anatomisch sicher nachgewiesenen Paralyse 
festgestellt. Auch Spirochäten konnten bei der Untersuchung des Hirns im Dunkel¬ 
felde nicht gefunden werden. Eine Erklärung fehlt vollständig, die Spirochäten 
könnten ja trotzdem vorhanden gewesen sein. 

Bikeles (14) beschreibt einen Fall von akutem Ausbruch einer Tabes dor- 
salis. Die Hautreflexe waren frühzeitig sehr abgeschwächt. Besonders hervor- 


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tretend waren plötzlich entstandene und rasch wieder verschwundene hochgradige 
Koordinationsstörungen am Rumpfe beim Gehen ausschließlich nach der Seite, 
and zwar alternativ nach rechts und links, je nach dem jeweiligen Stützbein. 

Über ambulatorische Tuberkulinbehandlung bei Tabes und Paralyse be¬ 
richtet Schacherl (175). 76 Kuren wurden in Verbindung mit Quecksilber vorge¬ 
nommen. Verwendet wurde Alt-Tuberkulin-ZocÄ, beginnend mit Dosen von 
0,0005. Bei 38 Paralytikern konnten 13 Kuren zu Ende geführt werden, in 7 Fällen 
trat eine zum Teil weitgehende Besserung ein. Bei 6 unter 8 durchgeführten Kuren 
bei tabischer Ataxie wurde eine erhebliche Besserung erzielt. Auch gastrische 
Krisen und lanzinierende Schmerzen wurden günstig beeinflußt. Diese Resultate 
fordern jedenfalls dazu auf, die Versuche fortzusetzen. 

Die kombinierte Tubcrkulin-Quecksilberbehandlung bei progressiver Paralyse 
haben IIeinicke und Künsel (71) in 8 Fällen angewendet. Sie erzielten einmal eine 
Remission, die sehr erheblich war; 4 Fälle zeigten eine Besserung, die allerdings 
zum Teil bald wieder schwand; 8 Fälle verschlechterten sich während der Be¬ 
handlung. Die Yerf. empfehlen auf Grund dieser Resultate einen Versuch mit 
der genannten Behandlung. 

Nonne (134) spricht sich dahin aus, daß man bei den organischen syphilogenen 
Nervenkrankheiten kombiniert behandeln soll. Man soll mit Quecksilber beginnen, 
dann mit Salvarsan folgen und nun beide Mittel abwechselnd geben. Eine Gesamt¬ 
dosis von 3,0 bis höchstens 4,0 Salvarsan soll nicht überschritten werden. Nonn« 
betont, daß es bei der echten Tabes und der echten Paralyse auch bei intensiver 
Behandlung nicht gelingt, die Wassermannreaktion im Blut und die 3 Reaktionen 
im Liquor zum Verschwinden zu bringen; wenn auch einmal eine oder zwei dieser 
Reaktionen verschwinden, so ist dies doch kein Dauererfolg. Verf. behandelt jede 
Tabes, die noch nicht antisyphilitisch behandelt ist, zunächst mit Quecksilber, 
dann mit Salvarsan. Ob die Kur wiederholt wird, soll von dem Einfluß auf das 
subjektive Befinden und die einzelnen Symptome abhängen, aber nicht von dem 
Ausfall der Reaktionen im Blut und Liquor. Bei Paralyse muß man mit der Kur 
vorsichtiger beginnen, sonst gilt dasselbe. Von der intralumbalen Methode der 
Salvarsanbehandlung hat Nonne keinen besonderen Nutzen gesehen gegenüber den 
früheren Erfolgen, aber auch keine Schäden. 

Wechselmann (217) hat auf Ehrlich s Veranlassung ein neues Präparat, das 
Salvarsannatrium, versucht. Er hat sehr gute Ergebnisse erzielt, in Mengen von 
i*,3—0,45 erwies das Salvarsannatrium sich als durchaus harmlos, nur viermal 
wurden anaphylaktische Zustände in ganz leichter Form beobachtet, obwohl auch 
Patienten mit Nephritis, Aortitis luetica, Paralyse, Tabes, mit schweren Blutungen 
und Hirnnervenläsionen behandelt wurden. 40—60 Injektionen bei 2—3maliger 
Injektion in der Woche erwiesen sich als ausreichend; Rezidive wurden nicht beob¬ 
achtet. Hochkonzentrierte Lösungen sind nicht empfehlenswert; 0,1:10 0.4proz. 
Kochsalzlösung ist am besten. 

v. Bremens Dissertation (22) bringt 8 mit Salvarsan intravenös behandelte 
Fälle von Paralyse. Veränderungen des Liquordruckes waren nicht festzustellen, 
dagegen war in 5 Fällen eine deutliche Abnahme der Zellzahl festzustellen. Auf 


Ztitoihrift für PsyehUfcgft- •■XXIII« Lit 

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den weiteren Verlauf der Paralyse hatte diese Veränderung keinen Einfluß'. Eine 
Prognose kann aus der guten oder schlechten Beeinflussung des Liquor nicht 
gestellt werden. 


2. Psychosen des Rückbildungs- und Greisenalters. Herd¬ 
erkrankungen. 

Über die Alzheimeischc Krankheit spricht sich Frey (50) dahin aus, daß sie 
trotz der eigentümlichen Sprach- und praktischen Störungen keine selbständige 
Krankheit ist, sondern eine atypische Form der senilen Demenz. Sie wird am 
häutigsten im präsenilen Alter beobachtet, kommt aber auch später vor. 
Verf. bringt zwei Krankengeschichten, die eine mit anatomischem Befund. 
Neben schwerer Demenz bestanden motorische und sensorielle transkortikale 
Aphasie, einfach motorische und ideatorische apraktische Handlungen und 
ferner verbale und motorische Perseveration. Anatomisch findet man hoch¬ 
gradigen Hirnschwund, Drusenbildung, Ganglienzellen- und Fibrillendegeneration. 
Die Drusen sind anscheinend pathologische Stoffwechselprodukte. Das umgebende 
Gliagewebe besitzt große, faserbildende Gliazcllen, deren Fasern den Herd einkapseln. 
Die Gliazellcn neigen zur fettig-pigmentösen Degeneration. Die Fibrillendegenera¬ 
tion besteht in einer Verdickung der Fibrillen, welche durch eine Kittsubstanz 
verkleben, klumpig werden und zu Schlingenbildungen neigen. Bei der Alzheimer- 
schen Krankheit hat die Architektonik der Rinde gelitten. 

Ciarla (31) hat eine Anzahl von Gehirnen untersucht, die von Senilen und 
Senildementen stammen. Er fand senile Plaques, die an Stelle des zentralen Teiles 
einen Gliakem aufwiesen, eine Tatsache, die für die Entstehung der Plaques aus 
veränderten Gliazellen spricht. Auch die Lage der Plaques um die Gefäßwand 
entspricht derselben, wie sie die Gliakeme besitzen. Möglich ist, daß die Plaques 
eine Altersläsion der Gliazellen darstellen; es handelt sich um eine Nekrobiose des 
Gliagewebcs, welchem ganz besondere Stütz- und Nährungsfunktionen zukommen. 

Cowe (35) hat die senilen Plaques sowie das Gliagewebe nach der Merz- 
bacherschen Methode gut gefärbt und kommt zu dem Resultat, daß Gliaelemente 
an dem Aufbau der senilen Plaques nicht beteiligt sind. Die Ringe von Gliafasern 
in der Umgebung der Plaques können entweder echte Gliawucherungen darstellen 
oder sie kommen zustande durch rein mechanisches Auseinanderdrängen bestehender 
Gliafasern. 

Liepmann und Pappenheim (106) bringen den Befund bei einem 62jährigen 
Manne, der eine Apoplexie erlitten hatte und beim Sprechen schwere Paraphasie 
und darüber hinausgehende Beeinträchtigung in der Wortfindung zeigte, ferner 
beim Nachsprechen eine gleich schwere Paraphasie, ferner Paragraphie. Beim Laut¬ 
lesen trat eine gut erhaltene Sprechfähigkeit hervor; das Sprachverständnis war 
fast intakt. Anatomisch erwies sich die ganze vordere Sprachregion (Opercul. 
front, und Rolandi) und die ganze mittlere Sprachregion (Inselrinde und Linsen¬ 
kernzone) als intakt; die Läsion betraf ausschließlich das temporoparietale Sprach- 


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gebiet. Es handelt sich also um einen Fall von sogenannter Leitungsaphasie, die 
sich als eine Spielart der W'emtc&eschen Aphasie als eine Folge von partieller Läsion 
der linken temporoparietalen Sprachregion erweist. 

Bonhoeffer (19) beschreibt einen Fall von totaler Worttaubheit bei einem 
47jährigen Manne. Die Perzeption der Tonskala war erhalten; die Hörfähigkeit 
beiderseits vorhanden, rechts weniger als links. Es bestanden agnostische Störungen 
auf'optischem, akustischem und taktilem Gebiet sowie eine ideotorisch-apraktische 
Störung. Als Ursache dieses Befundes ergab die Sektion symmetrische Herde im 
Parietal- und Schläfenhirn. Rechts war ein kleines, in der Tiefe liegendes Stück 
der Heschls chen Windung erhalten. Unter Zugrundelegung der Flechsigschen Lehre 
von der Endigung der Ilörbahn in der Heschlschen Windung konnte man also sagen, 
daß ein ganz kleiner Rest dieser Windung in der rechten Hemisphäre genügt, die 
Tonskala beiderseits, und zwar links besser als rechts, zu erhalten. Schließlich 
ergaben sich noch Anhaltspunkte dafür, daß innerhalb der Sehstrahlung vor allem 
die etwas unter der Mitte verlaufenden und die anstoßenden ventralen Teile des 
Fasciculus long. inf. und des Stratum sagittalc int. der Leitung der Sehfunktion 
dienen. 

Mingazzini (123) beobachtete bei einer 50jährigen Frau apoplektiforme An* 
fälle, denen ein parkinsonähnliches Zittern, besonders in den rechten Gliedern, 
folgte, ferner Hypertonie in den Armen mehr als in den Beinen, Dysarthrien, par¬ 
tielle sensorische Aphasie und Geistesschwäche. Die Sektion ergab einen ziemlich 
scharf umschriebenen Substanzverlust, der rechts den Nucleus caudatus und partiell 
das vordere Segment der inneren Kapsel und des Lentikularis zerstört hatte, während 
links zum Teil die Gvri temporales I und II sow’ie das dorsale Drittel der Strata 
sagittalia ext. und int. verletzt waren. Die Dysarthrie muß auf Verletzung des 
vorderen Fünftels des rechten Linsenkemes gesetzt werden. Der parkinsonähnliche 
Syinptomenkomplex (Hypertonie, Zittern und Parese) ist nicht nur auf die Läsion 
des vorderen Fünftels des rechten Putamen, sondern auch auf die Zerstörung und 
Degeneration der frontozerebellaren Bahnen, die höchstwahrscheinlich durch die 
vordere innere Kapsel verlaufen, zurückzuführen. 

Die eingehenden Studien Mingazzini?, (124) über Aphasie führten zu folgenden 
Schlußsätzen: Die Aphasie Typus Broca entwickelt sich, wenn die erweiterte Broea - 
sehe Zone verletzt ist; sie enthält die mnestischen Engramme der motorischen 
Silbenbilder und im Gebiete des Operculum rolandicum wahrscheinlich auch verbo- 
artikuläre Elemente. Verletzung des linken Linsenkernes verursacht motorische 
Aphasie, wenn das vordere Drittel zerstört ist, schwere Dysarthrie bis zur Anarthrie 
bei Verletzung der hinteren zwei Drittel. Zerstörung der linken Regio prae- und 
supralenticularis verursacht beständige motorische Aphasie. Bei der sensorischen 
Assoziationsaphasie findet man hauptsächlich die dem hinteren Aphasiegebiete an¬ 
gehörende Marksubstanz verletzt, sie erheischt jedoch die Unterbrechung der As 
soziationsfasem des linken Schläfenlappens. Vom klinischen Standpunkt aus kann 
man das Bestehen einer Zone (mittlerer Teil des G. temporalis inf.), deren Ver¬ 
letzung eine Amnesia nominum hervorruft, nicht vollständig leugnen. 

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3. Tumoren. 

Ein primäres metastasierendes Gehirnkarzinom beschreibt van Bowvdijk 
Basliaanse (25) bei einer 57jährigen Patientin. Es lag in der linken Kleinhirn- 
hemisphäre und hatte zahlreiche Metastasen in der Pia und der Rinde des Gro߬ 
hirns gemacht. Seine Zellen waren Drüsenepithelzellen und zeigten viel Ähnlich¬ 
keit mit den primitiven Epcndymzellen des Fötus. Der Tumor war jedoch nicht 
von dem die Ventrikel begrenzenden Ependym ausgegangen. Die Metastasen waren 
einmal durch die Zerebrospinalflüssigkeit in der Richtung des Stromes verbreitet, 
ferner durch die kleinen Lymphbahnen und drittens durch die perivaskulären Räume. 

Casiex und Bolo (28) beschreiben ein Sarkom der linken motorischen Region 
bei einem 16jährigen Manne, der zwei Jahre vorher ein heftiges Kopftrauma erlitten 
hatte. Durch Operation wurde ein Spindelzellensarkom entfernt, das oberflächlich 
lag und eine Größe von 7 : : 4 cm hatte. Es trat völlige Heilung ein, alle Läh¬ 

mungserscheinungen gingen zurück, ebenso das ödem der Sehnervenpapille. 

In dem Falle Thier au ths (206) wurde bei der Sektion eines 49jährigen Mannes 
ein weiches Gliosarkom im Schwanzkern, Linsenkem und der rechten inneren 
Kapsel gefunden, das eine tödliche Blutung in den Seitenventrikel verursacht hatte. 
Intra vitara war die Diagnose: „progressive Paralyse“ gestellt, die durch die Un¬ 
gleichheit und mangelnde Reaktion der Pupillen sowie den ganzen Krankheits¬ 
verlauf begründet erschien, zumal da die Wassermann sehe Reaktion positiv war. 
Die mikroskopische Untersuchung ergab keinerlei für Paralyse charakteristische 
Veränderungen. 

Oeconomakis (137) hat bei einem 39 Jahre alten Manne ein diffuses Gliom der 
linken motorischen Region beobachtet, das operativ entfernt wurde, worauf eine 
weitgehende Besserung eintrat. Auffallend war, daß zeitweise die in der Zerebro¬ 
spinalflüssigkeit nachgewiesene Vermehrung des Eiweißgehaltes und der NaCl-Menge 
das einzige diagnostische Zeichen des Tumors bildete. Trotz der großen 
Geschwulst fehlte die Stauungspapille dauernd. 

Gensichen (55) beschreibt ein kleinzelliges Sarkom im Wurm des Kleinhirns, 
das mit einem Ausläufer die Oberfläche des linken Brückenwinkels erreichte. 

Weise s Dissertation (219) behandelt ein Gliom des Scheitellappens, das sich 
sehr langsam entwickelt hatte. 

An der Hand von 7 eigenen Beobachtungen bespricht Fumarola (52) die Klein- 
airnbrückenwinkel-Tumoren. Er glaubt, daß Ohrverletzungen vielleicht einen Ein¬ 
fluß auf die Genese dieser Tumoren haben können. Sie entstehen am häufigsten im 
Alter zwischen 30 und 40 Jahren; ihr Sitz ist vorwiegend links. Die Diagnose stützt 
sich wesentlich auf die Symptome der Hirnhypertonsion, das gleichzeitige Beste¬ 
hen einseitiger Lähmungen der Schädelnerven, vor allem des VIII., VII. und V.,und 
einer progressiven Entwicklung. Im allgemeinen sind die Geschwülste gut begrenzt; 
ihre Struktur ist sehr verschiedenartig, meist sind sie bindegewebiger Natur. Die 
operativen Erfolge sind bis jetzt wenig ermutigend. 

Ariom (7) beschreibt zwei Fälle von Hirnechinokokkus. In dem ersten saß 
eine Zyste im Seitenventrikel, die Diagnose wurde intra vitam nicht gestellt, erst 


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! Sektion ergab den Echinokokkus, der den linken Hinterhauptlappen fast völlig 
•stört hatte. Die zweite Beobachtung betrifft einen 15jährigen Knaben, welcher 
; Symptome eines Kleinhirnbrückenwinkel -Tumors linkerseits darbot. Eine Opera- 
•n führte zum Tode des Kranken, die Sektion zeigte einen Echinokokkus des rechten 
irnlappens mit Quetschung des Balkenknies und Ödem der Hirnnerven, besonders 
s VIII. und VII. 

3 Himabszesse waren in dem von Schluttig (182) behandelten Falle vorhanden, 
ie Ursache war vielleicht ein Gesichtserysipel. Der Pat. starb kurz nach der 
oeration. 

Borchardl (21) berichtet über Selbstverletzung bei einem psychopathischen 
‘generierten Manne, der sich selbst ohne Instrument einen 4 cm langen Nagel 
den Schädel getrieben hatte. Der hierdurch entstandene Hirnabszeß wurde erst 
nit diagnostiziert, da der Kranke noch zahlreiche hysterische Symptome bot. 
•er Abszeß wurde operativ geöffnet, es zeigte sich, daß der Nagel durch die Dura 
is in das Gehirn gegangen war. 


4. Verletzungen des Gehirm. 

Mendel (120) sah an den von ihm beobachteten Hirn- und Rückenmarks- 
„•hüssen die bisherigen Ergebnisse betreffs der Lokalisation der Funktionen be¬ 
tätigt. Er erwähnt besonders, daß 3 Fälle von schwerer Stirnhirnverletzung eine 
uffällige Witzelsucht mit Euphorie darboten, eine Erscheinung, die bei andern 
lirnverwundungen nicht beobachtet wurde. 

2 Tangentialschüsse und ein Steckschuß des Gehirns, die operiert wurden, 
;aben Marburg (113) Gelegenheit zu Untersuchungen über kortikale Sensibilitäts¬ 
türungen. Sprachstörung und Parese bildeten sich mit Ausnahme des einen Falles 
usch zurück, es blieb aber eine Sensibilitätsstörung bestehen. In den betroffenen 
’artien, der hinteren Zentralwindung und dem benachbarten Gyrus supramargi- 
uilis, muß ein Zentrum für kombinierte Empfindungsqualitäten liegen, dessen 
Ausfall besonders linksseitig zu einer Tastlähmung des Daumens, Zeigefingers und 
littelfingers führt, mit gleichzeit ger Schädigung der protopathischen Sensibilität 
ind des Lokalisierungsvermögens. 

5 neurologisch bemerkenswerte llirnschüsse sind von J. H. Schtiltz (189) 
»eschrieben. Bei dem ersten war höchstwahrscheinlich eine vom Schußkanal ab- 
■weigende Basisfraktur in der Gegend des rechten Canalis hypoglossi und leichte 
Kompression des Nerven durch Blutung entstanden. Entgegen der Kegel wich die 
hinge beim Vorstrecken nach der gesunden r Seite ab. Zwei Fälle boten scharf uni- 
chrieben (pseudoperiphere) Sensibilitätsstörungen bei Großhimverletzungen. Ein 
vierter Schuß hatte linksseitige totale Ilvporefloxie, links stärkeres Nachröten und 
spontanes Außenvorbeizeigen der linken Hand hervorgerufen. Vielleicht sind diese 
-Symptome ein Hinweis auf den gleichzeitigen Lobus frontalis. In diesem wie in 
lern 5. Falle konnte die sorgfältige neurologische Untersuchung zeigen, daß es sich 
licht, wie zuerst angenommen war. um Durchschüsse, sondern um Steckschüsse 
uindelte. 


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Poppelreuter (147) macht darauf aufmerksam, daß bei himverletzten Soldaten 
stets, wenn eine Beschädigung des Sprachgebietes vorhanden war, die Bewe¬ 
gungsfähigkeit vorhanden war, auch dann, wenn eigentliche aphasische Störungen 
vermißt wurden. Die Prüfung des Rechnens scheint demnach ein sehr feines Re¬ 
agens auf Hirnschädigungen darzustellen. Bei 3 Verletzungen der unteren linken 
Okzipitalgegend wurde bei Erhaltensein der geläufigen Einmaleinsreihen und guter 
Schreibfähigkeit eine Unfähigkeit des Kopfrechnens mit größeren Zahlen und der 
schriftlichen Rechenoperationen festgestellt. 

Fast bei allen Hirnverletzungen, auch der rechten Hemisphäre, waren Störun¬ 
gen des Gedächtnisses, besonders der Merkfähigkeit, nachzuweisen. Ferner wurde 
allgemein die Erfahrung gemacht, daß lokalisierte Hirnverletzungen nicht nur die 
spezifischen Ausfallsymptome machen, sondern überhaupt die ganze Persönlichkeit 
wesentlich ändern können. 

Auf das Vorkommen des zerebellaren Symptomenkomplexes bei Schädelver¬ 
letzungen weist Goldstein (62) besonders hin. So konnte er bei einem durch Granat 
Splitter verletzten und gleichzeitig verschütteten Manne, an dessen Kopfe eine 
Verletzung nicht mehr nachzuweisen war, neben Anzeichen einer funktionellen Er¬ 
krankung eine Schädigung des rechten Kleinhirns feststellen. Das Röntgenbild wies 
denn auch eine deutliche Fissur am Knochen auf, als deren Folge wohl eine Blutung 
entstanden war. Für die Diagnose einer Kleinhimschädigung kommen in Betracht 
subjektive Störungen wie Kopfschmerzen, Störungen beim Bücken und Lage¬ 
wechsel des Körpers, Unsicherheit beim Gehen, das Gefühl einer gewissen Verlang¬ 
samung der Bewegungen, die Neigung, nach einer Seite zu fallen, Schwindel. Ob¬ 
jektiv ist zu achten auf den typischen zerebellaren breitbeinigen Gang, abnorme 
Kopf- und Rumpfhaltung, allgemeines Schwanken beim Stehen, Nystagmus, ein¬ 
seitige Ataxie, das Vorbeizeigen im Bardnyschen Zeigeversuch, Adiadocholdnesis, 
d. h. Verlangsamung der Aufeinanderfolge antagonistischer Bewegungen, Störung 
in der Schätzung von Gewichten und Fehlen des Rückschlages bei der Widerstands¬ 
prüfung. 

Karplus (91) beschreibt einen 25jährigen Mann, der nach einer Schrapnell- 
cxplosion in unmittelbarer Nähe mehrfach, auch am Schädel, verletzt war. Es 
traten in der Folge Anfälle von Bewußtlosigkeit mit allgemeinen Konvulsionen auf. 
Dann entwickelte sich eine dysarthrische Sprachstörung und Dysbasie, ferner eine 
linksseitige Beinlähmung, Erhöhung der Sehnenreflexe, Kontrakturen und leichte 
Parese der Gesichts- und Zungenmuskulatur. Neben einer Läsion der rechten Gro߬ 
hirnhemisphäre liegen wohl Koordinationsstörungen vor, die von einer Verletzung 
des Himstammes herrühren dürften. Möglicherweise ist diese durch die heftige 
Erschütterung zustande gekommen, doch hat vielleicht auch eine frühere luetische 
Infektion eine Prädisposition geschaffen. 

Marburg und Rami (114) machen darauf aufmerksam, daß sich bei einer 
ganzen Reihe von Schädelschüssen die Symptome anfangs zurückbilden, daß aber 
früher oder später plötzlich zerebrale Erscheinungen auftreten, deren Ursache ein 
abgekapselter Abszeß ist. Ist also ein Schädelschuß mit Hirnverletzung noch so 
erfolgereich operiert, so muß man doch einen Spätabszeß annehmen, wenn meningeale 


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ymptome eintreten und die Lokalsyniptome eine leichte Verstärkung erfahren, 
an frühzeitiger Eingriff kann den Durchbruch nach den Ventrikeln verhindern. 

Rittershaus (162) wünscht, daß bei der Kriegsfürsorge die von Schädigungen 
es Zentralnervensystems Betroffenen mehr berücksichtigt werden. Unberechtigten 
Ansprüchen muß vorgebeugt werden, es muß deshalb möglichst frühzeitig eine ge¬ 
naue Anamnese erhoben werden. Bei Schädel- und Rückenmarksschüssen werden 
Berufswechsel und konsequenter Unterricht nötig sein, die Mitarbeit der gebildeten 
■'rau ward hier wie auch sonst viel erreichen können. Verf. macht ferner auf die 
;roße Selbstmordgefahr bei Melancholien aufmerksam, die zweifellos durch den 
vrieg ausgelöst werden können. Eine Reihe von Epilepsien ist ebenfalls durch den 
vrieg hervorgerufen, ferner viele Neurasthenien und Hysterien. Verf. gibt zu, 
laß eine latente Paralyse sehr wohl durch die Anforderungen eines Feldzuges zum 
Vusbruch kommen kann, er sah oft ausgesprochene Frühformen, bei denen körper- 
iche Erscheinungen im Vordergrund standen. Die Ersetzung der Renten durch 
inmalige Abfindung in geeigneten Fällen ist erstrebenswert. 


5. Psychosen bei diffusen Hirnerkrankungen. 

Die Differentialdiagnose zwischen arteriosklerotischen und urämischen Zere- 
jralstörungen kann große Schwierigkeiten bereiten. Nach Strauß (198) leistet die 
Bestimmung des Reststickstoffgehaltes des Blutserums hier wertvolle Dienste, weil 
nur echte Nephritiden und diese auch nur bei stärkerer Ausdehnung des Prozesses 
:>ine erhebliche Retention des Stickstoffes in den Säften zur Folge haben. Bei ur¬ 
ämischen Zuständen trifft man meist 100—150, ja sogar 200—300 mg Rest N in 
lOO ccm Blutserum an. Werte unter 80—90 mg sprechen in dubio mehr für den 
arteriosklerotischen als für urämischen Ursprung der Störung. 

Bromcer und Blauukuip (23) haben einen Fall von perniziöser Anämie mit 
schwerer Beteiligung des Zentralnervensystems genau beschrieben. Es fand sich im 
Rückenmark und im verlängerten Mark eine herdförmige parenchymatöse Degenera¬ 
tion der Markfasern. Besonders im Corpus restifonne beiderseits waren große Herde 
vorhanden mit wenig Gliawucherung und massenhaft geschwollenen Fasern. Die 
Veränderungen begannen im 3. Sakralsegment und erstreckten sich durch das 
ganze Rückenmark. Es handelte sich um eine Quellung der Achsenzylinder und 
Markscheiden mit folgender Auflösung derselben und sekundärer Gliawucherung, 
so daß die Bezeichnung „primäre parenchymatöse Degeneration“ angebracht 
erschien. In der grauen Substanz waren die Veränderungen nur geringfügig, im 
wesentlichen war die weiße Substanz betroffen. Die Ursache der Veränderungen 
liegt wohl in ungenügender Ernährung, die am ersten die Abschnitte des Rücken¬ 
markes trifft, die von vornherein am schlechtesten genährt sind, also die Stränge. 
Von diesen werden wieder diejenigen getroffen, welche am meisten gebraucht werden, 
wie die Pyramidenbahn, die langen Fasern der Hinterstränge und der Flechsigschen 
Bahn. Von einer Entzündung war nirgends etwas zu sehen. 

Eine Geistesstörung von der Form der Amentia bei einer Frau mit perniziöser 
Anämie schildert Thode (207). Es traten akute Verwirrungszustände auf, abwcch- 


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U2* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

selnd mit völliger Klarheit. Die Schädigung des Gehirns ist wohl auf toxische Stoffe 
zurückzuführen. 

Gölkel (59) bringt in seiner Dissertation einen Fall von Meningitis bei einem 
8jährigen Kinde, das im Anschluß an einen heftigen Schreck erkrankte und anfangs 
das Bild einer Hysterie bot. Später entwickelten sich völlige Verwirrtheit, Unruhe 
und Schmerzen, gegen Ende eine Stauungspapille. In der Lumbalflüssigkeit massen¬ 
haft Lymphozyten und große einkernige Zellen. 

Einen Fall von Katatonie nach Sonnenstich hat Repond (156) beobachtet. 
Der Pat. erkrankte nach besonders starker Insolation mit Kopfschmerzen, Schwin¬ 
del, Müdigkeit, Muskelschmerzen, Fieber und Erbrechen. Im Anschluß an diese 
Symptome wurde er unruhig, mißtrauisch und hatte Sinnestäuschungen. Ein Jahr 
später bot er das typische Bild einer Katatonie. 

Römer (164) bringt 3 Fälle von Sonnenstich, davon einen mit Sektionsbericht. 
Hier war die Pia leicht weißlich verfärbt, im Subarachnoidealraum vermehrte seröse 
Flüssigkeit und mäßiger Hvdrocephalus int. In Fall II ergab die Lumbalpunktion 
stark vermehrten Druck bei reichlicher Spinalflüssigkeit. Unmittelbar nachher ver¬ 
schwanden die Beschwerden. In Fall 3 ergab die erste Untersuchung klar die Symp¬ 
tome einer meningealen Erkrankung. Die Spinalpunktion ergab erhöhten Druck, 
vermehrte Zeilenzahl, positive Globulinreaktion. Bei der zweiten Punktion ließ 
sich bereits eine Besserung feststellen, bei der dritten waren die pathologischen 
Veränderungen des Liquor verschwunden. Es ruft also der „Sonnenstich“ eine 
Meningitis bzw. Meningoenzephalitis hervor. Es kommen zur Wirkung sowohl 
direkte als sekundäre Wärmestrahlen, ferner direkte Lichtstrahlen und sekundäre, 
durch Umwandlung aus kurzwelligen Lichtstrahlen in der Haut entstandene lang¬ 
wellige Strahlen. 

Doinikow (37) konnte bei multipler Sklerose sichere Kegenerationsvorgänge 
an Achsenzylindern nachweisei.. Sprossungsvorgänge waren am häufigsten an den 
Axonen der grauen Substanz des Rückenmarkes zu sehen, seltener in den weißen 
Strängen. Im Kleinhirn beschränkten sich die progressiven Vorgänge nach dem 
Untergänge des distalen Teils des Purkinjeschen Axonstammes auf Verdickung der 
Kollateralen, vielleicht auch auf Bildung von neuen Ästen derselben. In der weißen 
Substanz des Großhirns konnten keine sicheren Sprossungsvorgänge an den er¬ 
krankten Achsenzylindern nachgewiesen werden. Verf. nimmt an, daß die größte 
Anzahl der Axone in alten sklerotischen Herden auf persistierende Achsenzylinder 
zurückzuführen ist. Ob die neugebildeten Bahnen auch bis zu ihrem physiologischen 
Endpunkt hinwachsen, ist noch nicht zu entscheiden. 

Ein Fall von multipler Sklerose in Verbindung mit Syringomyelie ist von 
Sittig (191) veröffentlicht worden. Die Sklerose war für 1% Jahre nach einem 
Typhus aufgetreten und vielleicht von ihm hervorgerufen. In den Gehirnherden 
waren besonders bemerkenswert die entzündlichen Gefäßinfiltrate sowie die starke 
Wucherung der Gliazellen- und- fasern, ferner stellenweise die Kömehenzellenbildung. 
Im Rückenmark fand sich vom Halsmark bis zum untersten Dorsalmark eine quere, 
spaltförmige Höhle, die sich stellenweise in zwei Spalte teilte. Um die Höhlung herum 
lag stark gewucherte Faserglia, größere bläschenförmige chromatinarme Gliakerae, 


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Schütte, Organische Psychosen. 


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iie stellenweise angehäuit waren. Außerdem waren sichere Herde anxutreffen, 
die der multiplen Sklerose angehörten. 

In der von Jakob (83) veröffentlichten Beobachtung handelt es sich um einen 
Mann zwischen 30 und 40 Jahren mit allgemeiner körperlicher Schwäche, Apathie 
und Desorientierung und erheblicher Störung der motorischen Ausdrucksbewegun¬ 
gen besonders der Sprache. Einige Monate vor dem Tode trat ein epileptifoimer 
Anfall auf mit leichten hemiplegischen Symptomen. Die TFassermannsche Reak¬ 
tion war negativ. 

Die Sektion ergab bei Erhaltenbleiben der äußeren Gehirnkonfiguration eine 
schwere Veränderung des Markes im Stirnbein, im Marklager der Zentralwindungen, 
des Parietal- und Qkzipitalhirns sowie in der weißen Substanz der Medulla obL 
und spinalis. Die Fibrae arcuatae und die Rinde selbst waren im wesentlichen ver¬ 
schont geblieben. Im Vordergründe des Prozesses stand der Untergang der Mark¬ 
scheiden und ihrer Achsenzylinder, dazu kam hochgradige Wucherung der Glia und 
exsudativ-infiltrative Gefäßveränderungen mit den Zellformen der chronischen Ent¬ 
zündung. Das Endstadium der Erkrankung war eine reaktionslose Narbe mit 
Fehlen der Markfasem und reicher Entwicklung von Gliafasern und bindegewebigen 
Strukturen. 

Das ganze Bild zeigt große Verwandtschaft mit der sogenannten diffusen 
Sklerose, unterscheidet sich von ihr aber dadurch, daß die Hauptmasse der Achsen 
Zylinder zugrunde gegangen ist. Indessen hatten sich doch einzelne Herde nach dem 
Typus der Herde bei multipler Sklerose entwickelt, während der Hauptprozeß 
im Marklager sich als Myelitis erwies. Da entzündliche Myelitis und multiple oder 
diffuse Sklerose schwere exsudativ-infiltrative Gefäßveränderungen aufweisen, so 
besteht zweifellos hier eine Verwandtschaft. Verf. ist der Ansicht, daß die Krankheit 
eine exogene Pathogenese hat, doch blieben alle Nachforschungen nach einem Er¬ 
reger resultatlos. 

Ourschmann (36) bespricht die atypische multiple Sklerose und luetische 
Spinalleiden bei Heeresangehörigen. Er führt einen Fall an, in welchem echte 
multiple Sklerose bei einem früher syphilitisch Infizierten festgestellt wurden. Alle 
vier Syphilisreaktionen waren negativ. Das Leiden war manifest geworden nach 
großen Marschstrapazen, so daß eine innere Kriegsdienstbeschädigung angenommen 
werden mußte. Bei einem andern Soldaten, der schon vor seiner Einstellung an 
multipler Sklerose gelitten hatte, trat bald eine erhebliche Verschlimmerung auf, 
die jedoch rasch einer weitgehenden Remission wich. Bei einem dritten Patienten 
konnte durch die 4 Syphilisreaktionen die Diagnose auf beginnende Tabes sehr 
frühzeitig gesteht werden. Verf. empfiehlt als Therapie bei multipler Sklerose das 
Fibrolysin Mendel, das bei einem 19jährigen Mädchen erhebliche Besserung brachte. 

Kafka (87) gibt einen Überblick über den Stand unseres Wissens auf dem Ge¬ 
biete des Alderhaldenschcn Dialysierverfahrens. Nach einigen technischen Be¬ 
merkungen bespricht er die be den einzelnen Krankheiten bisher gewonnenen Er¬ 
gebnisse. Er betont, daß die Anstellung des Dialysierverfahrens immer noch 
einen wissenschaftlichen Versuch darstellt, der die Diagnosenstellung nur unter¬ 
stützen dar! Zweifellos wird es für die Psychiatrie bedeutungsvoll werden. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Enge (44) schildert die Beziehungen zwischen körperlichen Erkrankungen 
und Geistesstörungen. Er betont, daß die spezielle Art der Infektion bei den akuten 
Infektionskrankheiten für die Form der in ihrem Gefolge auftretenden Psychosen 
nicht maßgebend ist. Weiter bemerkt Verf., daß unter Umständen bei Karzinom 
Geistesstörungen beobachtet werden, deren Entstehung durch toxische Einwirkun¬ 
gen auf die Hirnrinde nicht von der Hand zu weisen ist. Im übrigen bringt er voll¬ 
ständige Aufzählung aller hier in Betracht kommenden Krankheiten und ihrer Be¬ 
rührungspunkte mit Psychosen. 


7. Allgemeine Psychiatrie. 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


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Gegenwart. Januarheft. 

82. Jacoby, Geo W., Exact and inexact methods in neurology and 

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83. Jaffee, H., u. Pribram, E. (Wien), Weitere Untersuchungen über die 

Spezifizität der Abwehrfermente mit Hilfe der optischen 
Methode. Münch, med. Wschr. Nr. 18, S. 614. 

84. Jelliffe, Smith Ely, Notes on the history of psychiatry, X. (Con- 

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p. 365. 

85. Jentsch, Die Schreckneurose Claude Lorrains. Psych.-neurol. 

Wschr. 1915, Bd. 17, Nr. 39—40. (S. 132*.) 

86. Jentsch, Faradays Misogynie. Ztschr. f. Sexualwissenschaft Bd. 2, 

H. 6. (S. 132*.) 

87. Jentsch, Faradays Gedächtnisschwäche. Die Naturwissenschaften 

1915, H. 47—48. (S. 132*.) 

88. Jolly, Ph. (Halle a. S.), Menstruation und Psychose. Habilita¬ 

tionsschrift. Halle a. S. Berlin, Schumacher. 50 S., u. Arch. 
f. Psych. Bd. 55, H. 3, S. 637. (S. 134*.) 

89. Kafka, V. (Friedrichsberg), Praktisches und Theoretisches zum 

Dialysierverfahren. Fermentforschung Bd. 1, H. 3, S. 254. 
(S. 136*.) 

90. Kafka, V. (Friedrichsberg), Zur Frage des Dialysierverfahrens nach 

Abderhalden für die Psychiatrie. Münch, med. Wschr. Nr. 39, 
S. 1316. 

91. Kaplan, D. M. (New York), Serology ot nervous and mental 

diseases. Philadelphia and London, W. B. Saunders Co. 
346 p. 3,50 D. 

92. Karpas, M. J. (New York), The influence of the civilisation on 

insanity. New York med. journ. no. of Sept. 

93. Krönte, Hetty, Über den Zusammenhang zwischen gynäkologischen 

Operationen und Psychosen. Inaug.-Diss. Bonn. 

94. Kredit und Marchand, Handbuch der allgemeinen Pathologie Bd. III, 

Abt. 1: Pathologie der Zelle, Atrophie und Aplasie. Leipzig, 
Hirzel. 21 M. 


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Schroeder , Allgemeine Psychiatrie. 


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95. Kronfeld, E. M., Der Krieg im Aberglauben und Volksglauben. 

München, Hugo Schmidt. 2,50 M. 

96. Kronthal, Paul (Berlin), Über den Seelensitz. Arch. f. Psych. 

Bd. 56, H. 1, S. 219. (S. 130*.) 

97. Künzel , Ilse, Über die Prognose der Psychosen und Neurosen im 

Kindesalter. Inaug.-Diss. Bonn. 

98. Kruse, Joh. Nikolaus, Über die nach psychischem Trauma ent¬ 

stehenden Psychosen. Inaug.-Diss. 1914, Kiel. 

99. Laudenheimer (Alsbach), Über die Anamnese der Kriegspsychosen. 

(Wandervers. Südwestd. Neurologen u. Psychiater, Baden- 
Baden, 29. Mai.) Eigenbericht: Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. 
Psych. Ref.- u. Erg.- Bd. 11, H. 7, S. 540. 

100. Lind, John E. (Washington, D. C.), Combined psychoses. Americ. 

journ. of nerv, and mental dis. vol. 42, no. 4, p. 217. 

101. Lüioy, Max (Marienbad), Neurologische und psychiatrische Mit¬ 

teilungen aus dem Kriege. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 37, 
H. 6, S. 380. 

102. Ludlum and Corson-White, Abderhalden reactions and defective 

mental and physical States. (Rep.: Americ. neurol. Ass. 
41th meeting. New York, May.) Americ. journ. of nervous 
and mental dis. vol. 42, no. 11, p. 739. 

103. MacDonald, jun., Wm., Mental disease and language. Journ. of 

nerv, and mental dis. vol. 42, no. 7 u. no. 8, p. 482 u. 540. 

104. Marburg, O., Beiträge zur Frage der kortikalen Sensibilitäts¬ 

störungen. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 1915, Bd. 37, H. 2. 
(S. 138*.) 

105. Marie, A., et MacAuliffe, Characteres morphiologiques g&ieraux 

des altänös. Compte-rendu des sGance, Paris, no. 19. 

106. Matti, Herrn. (Bern), Einfache Projektion der Gehirnzentren ohne 

Kraniometer. Münch, med. Wschr. Nr. 25, S. 861. 

107. Mayer, Felix (Berlin), Sedobrol in der neurologischen Praxis. 

Berl. klin. Wschr. Nr. 6,'S. 132. 

108. Mayer, Wüh. (Tübingen), Bemerkungen zur Abderhaldenschen 

Reaktion in der Psychiatrie. Münch, med. Wschr. Nr. 17, 
S. 580. (S. 136*.) 

109. Mendel, Kurt (Berlin), Psychiatrisches und Neurologisches aus 

dem Felde. Neurol. Ztlbl. Nr. 1, S. 2. 

Zeitschrift ftlr Psychiatrie. LXXIIl. Lit. i 

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122* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

110. Meyer, E., Bemerkungen zu der Differentialdiagnose der psycho¬ 

genen Reaktionen mit besonderer Berücksichtigung der im 
Kriege beobachteten psychischen Störungen. Arch. f. Psych. 
u. Nervenkrankh. 1915, Bd. 56, H. 1. (S. 138*.) 

111. Meyer, E. (Königsberg), Beitrag zur Kenntnis des Einflusses 

kriegerischer Ereignisse auf die Entstehung geistiger Störun¬ 
gen in der Zivilbevölkerung und zu der der psychischen In¬ 
fektion. Arch. f. Psych. Bd. 56, H. 1, S. 247. 

112. Meyer, E. (Königsberg), Zur Frage der Konzeptionsbeförderung 

und der Eheschließung bei Nerven- und Geisteskranken. 
D. med. Wschr. Nr. 1, S. 3. 

113. Meyer, E. (Königsberg), Der Einfluß des Krieges, insbesondere 

des Kriegsausbruches auf schon bestehende Psychosen. Arch. 
f. Psych. Bd. 55, H. 2, S. 354. 

114. Moll, A. (Berlin), Psychopathologische Erfahrungen vom west¬ 

lichen Kriegsschauplatz. Ztschr. f. ärztl. Fortbild. Nr. 9 u. 10. 

115. Moravczik, E. E., Die Rolle des Krieges in der Ätiologie nervöser, 

insbesondere psychischer Störungen. Orvosk6pz6s Nr. 1—3. 

116. Müller, E. (Waldbroel), Ein Beitrag zu den Beziehungen zwischen 

bösartigen Geschwülsten und Geisteskrankheiten. Allg. Ztschr. 
f. Psych. Bd. 72, H. 1, S. 72. 

117. Müller, Friedrich Über das Altern. Rede beim Stiftungsfest der 

Ludwig-Maximilians-Universität München. Volkmanns klin. 
Vorträge Nr. 719. Leipzig Joh. A. Barth. 24 S. (S. 129*.) 

118. Münzer, A. (Berlin), Die Psychose der Verwundeten. Berl. klin. 

Wschr. Nr. 10, S. 234. 

119. Muskens, L. J. J. (Amsterdam), Psychiatrie, Neurologie und 

Neuro-Chirurgie. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 37, Bl. 6, 
S. 374. 

120. Neißer, A., Sammelforschung zur Frage der sexuellen Abstinenz. 

D. med. Wschr. Jahrg. 41, S. 1150. 

121. Nießl v. Mayendorf (Leipzig), Beiträge zur Kenntnis vom zen¬ 

tralen Mechanismus der Sprache. D. Ztschr. f. Nervenheilk. 
Bd. 53, H. 3 u. 4. 

122. Nißl, Franz (Heidelberg), Beiträge zur Frage nach der Beziehung 

zwischen klinischem Verlauf und anatomischem Befund bei 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


123* 


Nerven- u. Geisteskrankheiten. Bd. 1, H. 3. Berlin, Jul. 
Springer. 107 S. 

123. Orton, Samuel T. (Philadelphia), The present Status o! the ap- 

plication of the Abderhalden dialysis method to psychiatry. 
Americ. journ. of insanity vol. 71, no. 3, p. 573. 

124. Oswald , Ad. (Zürich), Über die Rolle des Nervensystems in der 

Genese der Stoffwechsel- und Konstitutionskrankheiten. 
Neurol. Ztlbl. Nr. 13, S. 452. 

125. Parhon et Savini, Essais de culture microbienne sur milieux 

glandulaires. Comptes rendus des seances de la Sociöte de 
Biologie 1915, B. 78, S. 161 u. 197. (S. 135*.) 

126. Pfeiffer, J. A. T. (Washington), The neuropathological Undings 

in a case of pernicious anemia with psychical implication. 
Journ. of nerv, and mental dis. vol. 42, no. 2, p. 75. 

127. Pick, A., Zur Pathologie des Bewußtseins vom eigenen Körper. 

Neurol. Ztlbl. 1915, Nr. 7/8. (S. 137*.) 

128. Pick, A. (Prag), Zur Erklärung gewisser Hemmungserscheinun¬ 

gen. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 37, H.3, S. 143. (S. 137*.) 

129. Pick, A. (Prag), Zur Lehre vom Verhältnis zwischen pathologi¬ 

scher Vorstellung und Halluzination. Mtschr. f. Psych. u. 
Neurol. Bd. 37, H. 5, S. 269. 

130. Pick, A. (Prag), Zur Erklärung einer Störung des Gedanken¬ 

ablaufs (Die autochthonen Ideen Wemickes). Ztschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 29, H. 1, S. 79. 

131. Pighini, Giacomo (Milano), La biochimica del cervello. (Cinque 

conferenze tenute agli Istituti clinici di perfezionamento di 
Milano. Prefazione del Prof. Sen. Giacomo Ciamician.) 
Torino, Rosenberg & Seiler, Ed. 162 p. 5 L. (S. 135*.) 

132. Placzek (Berlin), Selbstmordverdacht und Selbstmordverhütung. 

Eine Anleitung zur Prophylaxe für Ärzte, Geistliche, Lehrer 
und Verwaltungsbeamte. Georg Thieme, Leipzig 1915. 
272 S. 6 M. (S. 130*.) 

133. Redlich, E., Zur Narkolepsiefrage. Mtschr. f . Psych. u. Neurol. 

1915, Bd. 37, H. 2. (S. 137*.) 

134. RSgis, Les troubles psychiques et neuropsychiques de la guerre. 

Presse medicale no. du mai 27ieme. 

135. Reichardt, Martin (Würzburg), Intra vitale und postmortale Hirn- 

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124 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


Schwellung. Eine Berichtigung der letzten Ausführungen 
Rosentals (vgl. Ztlbl. 1914, S. 1085). Neurol. Ztlbl. Nr. 2 r 
S. 55. 

136. Repond, Andre (Zürich), Über die Beziehungen zwischen Par- 

ästhesien und Halluzinationen, besonders bei delirösen Zu¬ 
ständen. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 38, H. 4, S. 216. 
(S. 137*.) 

137. Resch, Heinrich (Bayreuth), Geisteskrankheiten und Krieg. Allg. 

Ztschr. f. Psych. Bd. 72, H. 2, S. 121. 

138. Ribbert, Hugo, Lehrbuch der allgemeinen Pathologie und patho¬ 

logischen Anatomie, 5. Aufl. Leipzig, C. F. W. Vogel. 

139. Römer, C. (Hamburg), Über die Pathogenese des Sonnenstichs. 

Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 37, H. 2, S. 104. 

140. Rogers, Artur W., Disturbances of the central nervous System 

accompaniing pemicious anemia. Report of two cases. (Chi¬ 
cago neurological Soc. 21th Jan.) Americ. journ. of nerv, 
and mental dis. vol. 42, no. 10, S. 693. 

141. Rohrhurst, Karl, Erfahrungen der Heidelberger Klinik mit der 

Abderhaldenschen Reaktion. Inaug.-Diss. Heidelberg. 

142. Rosanoff, A. J. (Kings Park, N. Y.), Some neglected phases of 

immigration in relation to insanity. American journ. of insan 
vol. 72, no. 1, p. 45. (S. 132*.) 

143. Rosanoff, A. J. (Kings Park, N. Y.), Is insanity on the increase? 

Journ. of American med. Ass. vol. 65, p. 319. (S. 132*.) 

144. Rose, Erich (Berlin), Foligan-„Henning“, ein neues pflanzliche» 

Sedativum. Münch, med. Wschr. Nr. 20, S. 681. 

145. Ross, E. L., and Singer, H. C. (Kaukakee, IU.), Observation» 

on the use of the Abderhalden reaction with normal and patho- 
logical human serum. Arch. of international med. vol. 15 r 
p. 724. (S. 136*.) 

146. Roth, E. (Potsdam), Kriegsgefahr und Psyche. Ärztl. Sachverst.- 

Ztg. Nr. 1. 

147. Rotkmann, Max (Berlin), Zum Katatonusversuch Kohnstamm. 

Neurol. Ztlbl. Nr. 12, 421. 

148. Rothmann, Max (Berlin), Der Greifversuch und seine diagnosti¬ 

sche Bedeutung. (Berl. Ges. f. Psych. u. Nervenkrankh., 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


125 * 


Sitzungsber. Jan.) Eigenber.: Ztschr. !. d. ges. Neurol. u. 
Psych. Ref.- u. Erg.-Bd. 11, H. 4, S. 248. 

149. Rothmann, Max (Berlin), Die Hirnpliysiologie im Kriege. Berl. 

klin. Wschr. Nr. 14, S. 338. 

150. Serejski, M., Klinische Erfahrungen mit Diogenal (a. d. Psych. 

Klin. in München). D. med. Wschr. Nr. 32, S. 942. 

151. Singer, Kurt (Berlin), Wesen und Bedeutung der Kriegspsychosen. 

Berl. klin. Wschr. Nr. 8, S. 177. 

152. Smüh-Wüliams, H., The laws of heredity-their definitive meaning 

and interpretation. Santa Rosa, Cal., Luther Burbank Soc. 

153. Sokolow, Paul (Wil), Die experimentelle Auslösung der Gehörs¬ 

halluzinationen durch peripher Reize. Arch. f. Psych. Bd. 
55, H. 2, S. 432. (S. 137*.) 

154. Sokolow, P. (Wil), Weitere Experimente Uber die Auslösung der 

Gehörshalluzinationen durch periphere Reize. Arch. f. Psych. 
Bd. 56, H. 1, S. 174. (S. 137*.) 

155. Sommer, R., Krieg und Seelenleben. Wien. med. Wschr. Nr. 38 

u. 39, S. 1441 u. 1481. 

156. Swift, W. B. (Boston), A new method of reflex elicitation. Prc- 

liminary report. Journ. of the Aineric. med. Ass. vol. 63, 
p. 1568 (Oct, 1914). 

157. Swift, W. B. (Boston), Studios in neurological technique. No. 2: 

Indication and method for the use of the electrical re-enforce- 
ment for the elicitation of the absent reflexes. Review of 
neurol. and psych. no. of Dec. 1914. 

158. Schaffer, Karl (Budapest), Erster Bericht über die Tätigkeit des 

Budapester interakademischen Hirnforschungsinstituts (1912 
bis 1915). Vgl. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 
30, H. 1, S. 85. 

159. van der Scheer, TT. M. (Meerenburg), Untersuchungen über 

Adrenalinmydriasis bei Geisteskranken und Gesunden. Neur. 
Ztlbl. Nr. 18, S. 667 u. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 
Ref.- u. Erg.- Bd. 11, S. 720 u. Bd. 12, H. 3, S. 242. 

160. Schröder, P. (Greifswald), Geistesstörungen nach Kopfverletzun¬ 

gen. Stuttgart, Enke. 54 S. (S. 133*.) 

161. Schröder, P., (Greifswald), Traumatische Psychosen. Mtschr. f. 

Psych. u. Neurol. Bd. 38, H. 4, S. 193. (S. 133*.) 


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162. Schröder, P. (Greifswald), Von den Halluzinationen. Mtsehr. f. 

Psych. u. Neurol. Bd. 37, H. 1. (S. 136*.) 

163. Schröder, P. u. Hinsberg, V., Zur Frage der spezifischen Wirkung 

von Chinin und Salizylsäure auf das Ganglion spirale. Ztschr. 
f. Ohrenheilk. u. f. d. Krankh. der Luftwege 1915, Bd. 73, 
H. 2. (S. 131*.) 

164. Schultz, J. H. (Jena), Einige Bemerkungen über Feindschafts¬ 

gefühle im Kriege. Neurol. Ztlbl. Nr. 11, S. 373. 

165. Schultz, J. H. (Jena), Wege und Ziele der Psychotherapie. Thera¬ 

peut. Monatshefte Nr. 8. 

166. Stearns, A. W. (Boston), On the diagnostic value of halluzina- 

tions, based on a study of 500 cases of mental disease. Journ. 
of nerv, and mental dis. vol. 42, no. 1, p. 28. 

167. Steiner (Straßburg i. E.), Neurologie und Psychiatrie im Kriegs¬ 

lazarett. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 30, 
H. 2/3, S. 305. 

168. Steiner, Herbert (Wien), Klinische Studien mit Abderhaldens 

Dialysierverfahren. D. med. Wschr. Nr. 17 u. 18, S. 489 
u. 526. 

169. Steinmetz, S. R., Das persönliche Element in der Rassenkreuzung. 

Arch. f. Sexualforsch. Bd. 1, Nr. 1. 

170. Stelzner, Helene Friederike (Berlin), Aktuelle Massensuggestion. 

Arch. f. Psych. Rd. 55, H. 2, S. 365. 

171. Stewart, G. N., Studien über die Zirkulation beim Menschen: Der 

Blutstrom in Händen und Füßen bei Krankheiten des Nerven¬ 
systems. Arch. of internat. Med. Nr. v. August. 

172. Stoffel, A., Über die Technik der Neurolyse. D. med. Wschr. 

Bd. 41, S. 1243. 

173. Stransky, E. (Wien), Einiges zur Psychiatrie und zur Psychologie 

im Kriege. (Aphoristische Bemerkungen.) Wien. med. Wschr. 
Nr. 26 u. 27. 

174. Stransky, E. (Wien), Psychiatrische Erfahrungen im Frontdienst. 

(Verein f. Psych. u. Neurol. Wien, Sitz. v. April.) Ref.: 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Ref.- u. Erg.- Bd. 11, H. 7, 
S. 540. 

175. Straub, M., Die Wirksamkeit des Bewußtseins beim Entstehen 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


127 * 


und Fortbestehen der Reflexe. Geneesk. Bladen vol. 18, 
p. 245. 

176. Streblm, Fr. (Berlin), über Diogenal, ein neues Sedativum und 

Hypnotikum. D. med. Wschr. Nr. 10, S. 278. 

177. Stuchlik, Jar. (Rot Kostelec), Zum Begriff „Psychose“. Revue 

v. neuropath. vol. 12, p. 185 (böhmisch). 

178. Stuchlik, Jar. (Rot Kostelec), Über pathologische Heredität. 

Ziva vol. 24, p. 282 (böhmisch). 

179 Thode, Günther, Über die im Gefolge der perniziösen Anämie 
auftretenden psychischen Störungen. Inaug.-Diss. Kiel. 

180. Thomas, H. G. (Oakland, Cal.), Optic neuritis and the colour 

fields in the diagnosis of syphilis, neurasthenia, hyper- 
thyreoidism, dementia praecox, manie-depressive insanity, 
and third generation syphilis. Americ.journ. of insan. vol. 
72, no. 1, p. 59. 

181. Tischbein, Peter, Über die Bedeutung der Degenerationszeichen, 

besonders der Ohrmißbildungen bei Geisteskranken. Inaug.- 
Diss. Kiel. (S. 138*.) 

182. Travaglino, P. H. M., Beitrag zur Kenntnis der Amnesie. Ned. 

Tijdschr. v. Geneesk. vol. 59 (I), p. 1669. 

183. Tremmel, Emil, Untersuchungen über die faradische Auslösung 

des normalen und des Babinskischen Fußsohlenreflexes. 
Inaug.-Diss. Heidelberg. 

184 Treiber, Georg (Görden b. Brandenburg) Erfahrungen über die 
Entlassung Geisteskranker gegen ärztlichen Rat. Allg. Ztschr. 
f. Psych. Bd. 72, H. 1, S. 100. 

185. Turner, W. A., Cases of nervous and mental shok observed in 

the base hospitals in France. British med. journ. no. of 
May 15th. 

186. Versluys, J. (Gießen), über die Verbreitung von Seuchen durch 

Insekten im Kriege. Leipzig, J. A. Barth. 14 S. 25 Pf. 

187. Voß, G., Die Ätiologie der Psychosen (115 S.). Abt. III des Allg. 

Teils des Handbuches der Psychiatrie von Aschaffenburg. 
Leipzig u. Wien, Fr. Deuticke. (S. 133*.) 

188. Voß, P., Psyche und Gefäßsystem. Ztlbl. f. Herz- u. Gefäß- 

krankh. Nr. 21 u. 22. 


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128* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915 


189. de Waele (Gent ), La rGaction d’ Abderhalden est une globulino- 

lyse. Ztschr. f. Immunforschung, Orig.-Bd. 22, Nr. 2. 

190. Wallenberg, Adolf (Danzig), Ludwig Edinger zum 60. Geburts¬ 

tage. Arch. f. Psych. Bd. 55, H. 3, S. 997. 

191. Weber, Ernst (Berlin), Die Behandlung der Folgezustände von 

Gehirnerschütterung. Med. Klin. Nr. 17, S. 474. 

192. Weber, L. W. (Chemnitz), Die Bedeutung der Suggestion und 

anderer psychischer Momente im Sexualleben. Arch. f. 
Sexualforsch. Bd. 1, H. 1, S. 10. 

193. Weintraube W\ (Wiesbaden), Über Fonabisit, nebst Bemerkungen 

Uber die Wirkung von Suggestionsmitteln. Eigenbericht: 
D. med. Wschr. Nr. 2, S. 37. 

194. Wells, F. L. (Waverley, Mass.), A note on the retention of acquired 

capacities. Americ. journ. of psychol. vol. 26, p. 58. 

195. Weston, Paul G., and Ira Darling (Warren, Pa.), The value of 

routine laboratory work in psychiatry. Americ. journ. of 
insan. vol. 72, no. 2, p. 325. 

196. Weyert (Posen), Militär-psychiatrische Beobachtungen und Er¬ 

fahrungen. Karl Marhold, Halle a. S. 1915. 145 S. 3,60 M. 
(S. 130*.) 

197. Weygandt, 11’. (Hamburg), Kriegseinflüsse und Psychiatrie. 

Jahreskurse f. ärztl. Fortbild., Mai 1915. S. 15. (S. 129*.) 

198. Weygandt, W. (Hamburg), Psychose auf Grund von Hirntrauma. 

(Ärztl. V. Hamburg, Sitz. v. 6. VII. 15.) Ref.: D. med. Wschr. 
Nr. 45, S. 1353. 

199. Wittermann, Ernst (Winnenthal), Kriegspsychiatrische Erfahrun¬ 

gen. (Vortr. Wandervers. Südwestd. Neurol. u. Irrenärzte, 
Baden-Baden, 22./23. V. 16.) Münch, med. Wschr. Nr. 34, 
S. 1164. 

200. Wolff, Gustav (Basel), Der Fall Hamlet. München, E. Reinhardt. 

180 S. 3,50 M. (S. 138*.) 

I. Allgemeines. 

Hocke (72): Der vorliegende Abdruck des vor Weihnachten 1914 gehaltenen 
Vortrages enthält außer dem, was die Ärzte besonders angeht, zahlreiche Hinweise, 
welche für alle diejenigen von Belang sind, denen das psychologische Moment im 
Kriege von besonderer Bedeutung erscheint. Schon seit längerem ist man bemüht 


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Schroeder. Allgemeine Psychiatrie. 


129 * 


gewesen, die militärischen Vorgesetzten eingehend über die Einflüsse aulzuklären, 
welche das militärische Leben an sich auf das Seelenleben des Soldaten ausübt. 
Daß diese Einflüsse unter dem Druck der Anstrengungen und Gefahren im Kriege 
n erhöhtem Maße hervortreten, ist ohne weiteres klar. Der Vortrag bringt in ge- 
lrängter Kürze und ohne sich in Einzelheiten zu verlieren alle mit dem Gegenstand 
üch berührenden Vorkommnisse. Das deutsche Heer und das deutsche Volk, so 
wird festgestellt, ist in seiner Gesamtheit mit seinen Nerven allen Kriegslasten 
gewachsen. 

Hoche s (73) Betrachtungen, welche dem gegenwärtigen Kriege gewidmet sind, 
knüpfen an den erstgenannten Vortrag an und ergänzen ihn. Vom hohen Stand 
punkt aus überblickt der Autor das Leben der Einzelnen, ihre Beziehungen zu den 
Mitlebenden oder der Zeit. Das Werk gehört seinem ganzen Inhalt nach zu den 
besten geschichtsphilosophischen Schriften. 

Weygands (197) Studie hat ebenso wie Hoche s Arbeiten bleibenden Wert und 
enthält reichliches, mit größtem Fleiß und vollendeter Sachkunde zusammen¬ 
getragenes Material. Die Arbeit wird besonders dann herangezogen werden müssen, 
wenn es sich einmal darum handeln sollte, in der Krankengeschichte des Welt¬ 
krieges die Pathologie des Seelenlebens zusammenfassend zu besprechen. 

Müller (117): Schriften über das Altem sind wohl in vieler Leute Händen. 
Der heikle und dabei jeden berührende Gegenstand ist an anderer Stelle aber kaum 
in so allgemein fesselnder und doch streng wissenschaftlicher Weise besprochen 
worden. „Verlassen wir das unbefriedigende Gebiet theoretischer Erörterungen 
und wenden wir uns dem sicheren Boden der Beobachtungen zu, welche die Vor 
gange des Altems nicht erklären, sondern nur beschreiben will“ — so schließt Müller 
den erklärenden Teil seines Vortrages ähnlich dem Faustischen: „Ich sehe, daß wir 
nichts wissen können.“ Er verfehlt aber auch nicht, auf den Ausblick hinzuweisen, 
der auch den Alternden befriedigen kann. Das Alter setzt die gewonnenen Er 
fahrungen zusammen und besitzt das reifere Urteil. Das Band mit der Jugend darf 
es nie zerschneiden und muß sich hüten, das Verständnis für deren Denkart zu ver¬ 
lieren. Man besteigt einen Berg, um hinunter und um sich zu blicken. 

Aschaffenburg (5) entwickelt zunächst in den Kapiteln „Aufgaben und Grenzen 
der Psychiatrie“, „Krankheitsbilder und Krankheitstypen“ und „Richtlinien der 
Einteilung der Psychosen“, alle für eine Einteilung der Psychosen maßgebenden 
Gesichtspunkte und unterscheidet dann endogene, exogene und organische Psycho¬ 
sen. Zu der endogenen Gruppe gehören die psvchasthenischen Zustände: Neurasthe¬ 
nie und Hysterie, pathologische Affektreaktionen, psychopathische Zustände nach 
Schreck, Affekten, Haft und die Unfallneurose, die konstitutionellen psychopathi¬ 
schen Zustände: abnorme Charaktere, Defektmenschen, pathologische Schwindler, 
sexuelle Perversionen, Pseudoquerulanten, Zwangsdenken uud konstitutionelle Ver 
Stimmungen, und die konstitutionellen Psyhosen: manisch-depressives Irresein, 
Paranoia. Die Gruppe der exogenen Psychosen umfaßt die Intoxikations- und Er¬ 
schöpfungspsychosen, Infektionspsychosen, Psychosen bei Allgemeinerkrankungen, 
akute nervöse Erschöpfung, •Amentia, Kretinismus und Myxödem, Alkoholpsycho 
sen, Morphinismus, Kokainismus und sonstige Vergiftungen. Die dritte große Grup- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


pe bilden die organischen Erkrankungen, Paralyse und Hirnlues, Psychosen bei Gehim- 
erkrankungen, Involutionsdepression, arteriosklerotische und senile Demenz, De¬ 
mentia praecox, Epilepsie, Idiotie und Imbezillität. 

Derselbe Band von Aschaffenburgs Handbuch der Psychiatrie enthält eine 
vorzügliche Monographie über Epilepsie von Professor Pojt-Wiesbaden. 

Aschaffenburgs (4) geistvolle Darstellung der allgemeinen Symptomatologie 
der Psychosen eignet sich kaum zu einem kurzen Referat, sie muß gründlich studiert 
werden; je öfter man sie zur Hand nimmt, um so anregender wirkt sie, nicht zuletzt 
durch die besondere Art der Darstellung und durch die reiche klinische Erfahiung r 
die überall hervortritt. 

Weyert (196) berichtet in kritischer Form über seine Beobachtungen und Er¬ 
fahrungen auf der psychiatrischen Abteilung des Garnisonlazaretts Posen an der 
Hand von zahlreichen Krankengeschichten. Wie immer beim Militär, bandelt es 
sich in erster Linie um Fälle von Psychopathie, Dementia praecox, Schwachsinn 
und Epilepsie. Die Frage der Dienstbrauchbarkeit wird eingehend besprochen. 
Das Streben der Militärverwaltung ist ein zweifaches: Verhinderung der Einstellung 
von psychisch kranken oder defekten jungen Leuten und möglichst frühzeitige Er¬ 
kennung aller geistig für den Heeresdienst nicht geeigneten Elemente zwecks Aus¬ 
scheidung. 

Placzek (132) gibt eine historische Übersicht über die verschiedenartige Be¬ 
urteilung des Selbstmordes und behandelt dann eingehend und anregend das Selbst¬ 
mordproblem und seine praktische Bekämpfung. Plaezek vertritt den Standpunkt, 
daß es einen physiologischen, d. h. aus zwingenden Gründen möglichen, Selbstmord 
gibt, ohne daß der Täter irgendwelche Abweichung zu zeigen braucht. 

Flatau (43): Eingehende psychologische Abhandlung über den Begriff der Sug¬ 
gestion unter kritischer Betrachtung bisheriger Bestimmungen. Flatau führt den 
Begriff der Bereitschaftsstellung der Psyche ein. In ihr sieht er die Vorbedingung 
für die Wirkung der Suggestion. » Grimme. 

Kronthal (96): Eine kleine, in ihrer Beweisführung doch recht knappe Streit¬ 
schrift wider den „öden Materialismus“, der die Seele als Produkt bestimmter 
Zellen auffaßt. „Die Seele ist ein Geschehen, sitzt weder im Gehirn noch sonst in 
einem Organ. Die Seele ist die Summe der Reflexe. Deshalb ist Seele, wo Leben ist.“ 
Es dürfte zweifelhaft bleiben, ob Kronthals Schrift überzeugend wirken wird. 

Grimme. 

Höher (74) stellte Untersuchungen an über den Einfluß von Narkotikum- 
konzentrationen auf die Zellpermeabilität. Zu dem Zwecke wurden Rinderblut¬ 
körperchen mit isotonischer Rohrzuckerlösung teils ohne, teils mit Zusatz von Nar¬ 
kotikum in verschiedenen Konzentrationen gewaschen und ihre elektrische Leit¬ 
fähigkeit nach dem Zusatz des Narkotikums gemessen. Es ergab sich, daß kleine 
Narkotikum-Konzentrationen die Effusion von Elektrolyten aus der Zelle hemmen, 
große sie steigern. Kleine Narkotikum-Konzentrationen bewirken also das Gegenteil 
von dem, was große Konzentrationen bewirken. Die Hemmung der Elektrolyse- 
Effusion und auch ihre Steigerung konnte durchWegwaschen des Narkotikums rück¬ 
gängig gemacht werden. Das Wesen der Narkose ist, physiologisch ausgedrückt. 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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eine Hemmung der die normale Erregung charakterisierenden Permeabilitäts¬ 
steigerung. Zur Erklärung dafür, durch welchen Prozeß die Narkotika die Per¬ 
meabilität der Zellen verändern, wird eine besondere Theorie aufgestellt. 

Grimme. 

Schröder und Hinsierg (163) haben die von anderer Seite früher angestellten 
Untersuchungen über die Wirkung von Chinin- und Salizylsäure auf das Ganglion 
spirale fortgesetzt. Es war die Annahme einer spezifischen Wirkung dieser Medika¬ 
mente auf die Zellen des Ganglion spirale in Zweifel gezogen. Die Untersuchungen 
von Schröder und Hinsberg konnten eine elektive Wirkung des Chinins und des 
Natr. salicyl. auf das Ganglion spirale nicht feststellen. Das gleiche gilt für Strych¬ 
nin, Zyankali, Kokain, Plumbum aceticum. Zum Teil waren die Zellen des Gan¬ 
glion spirale nicht immer verändert im Gegensatz zu Veränderungen an andern 
Teilen des Nervensystems; zum Teil waren die Veränderungen überall die gleichen. 

Grimme. 

Grdbley-W oltersdorf (61): Erörterung über den Mineralstoffwechsel und Hin¬ 
weis auf die Notwendigkeit der Zufuhr von Mineralsalzen bei gewissen nervösen, 
neurasthenischen und Erschöpfungszuständen. Er selbst verwendet ein Gemisch 
von Kalk, Phosphor, Eisen und Magnesium-Superoxyd. Grimm. 

Dees (31): Dees sieht in dem Helden des Shakespeareschen Dramas: Timon 
von Athen einen Fall von manisch-depressivem Irresein, ln dem manischen Stadium 
ist Timon verschwenderisch freigebig mit Geschenken, gibt Gastmähler, strotzt von 
Lebensfreude. Die Einwände seines treuen Dieners beachtet er nicht. Allmählich 
tritt eine gewisse Beruhigung ein. Nun melden sich die Gläubiger, die Freunde ver¬ 
sagen ihre Hilfe. Timon wird gereizt. Wiederum gibt er ein Gastmahl. Diesmal 
gießt er seinen Gästen Wasser ins Gesicht, wirft ihnen die Schüsseln nach, flucht 
und verwünscht sie. Zuletzt flieht er in die Einsamkeit. Damit beginnt die depressive 
Phase. Timon nährt sich von Wurzeln und Wasser und hüllt sich in Lumpen. Die 
Bürger, die ihn zurückholen wollen, weist er ab. Zuletzt stirbt er an Gram und 
Schwermut. Sein ganzes Handeln ist nach Dees psychologisch begründet, so daß 
nur der Kundige merkt, daß es sich um eine Geisteskrankheit handelt. Der Dichter 
hat offenbar viele Züge dem Leben entnommen und sie in ihrer Gegensätzlichkeit — 
himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt — in seinem Helden vereint, wie Shake¬ 
speare überhaupt, worauf Laehr aufmerksam gemacht hat, die Darstellung derartiger 
Gegensätzlichkeiten liebt. Ganter. 

Ebstein (36): Emst Platner (1744—1818), Prof, der Medizin in Leipzig und 
Polyhistor, verfiel im Alter von 73 Jahren in Geisteskrankheit. Ein naher Ver¬ 
wandter von ihm, der Arzt Dr. Hebenstreit , war ständig um ihn und schilderte in 
einem Tagebuch ausführlich die Krankheitserscheinungen. Dieses Tagebuch teilt 
uns Ebstein mit. Es ist nicht Hur interessant wegen des Kranken, eines bedeutenden 
Gelehrten, sondern auch wegen der Art und Weise, wie ein Arzt der damaligen Zeit 
einem solchen Krankheitsbilde gegenüber sich verhielt und wie er es betrachtete. 
Den Schluß der Abhandlung bildet eine Epikrise von Ebstein, der die Krankheit 
(Verwirrtheit, Verfolgungs- und Größenideen, Angst, Unruhe) als auf arterio¬ 
sklerotischer Basis entstanden sich vorstellt. Ganter. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Jentsch (85): Claude Lorrain war einer der bedeutendsten Landschaftsmaler 
des 17. Jahrhunderts. Er stammte aus der Umgebung von Toul. Einmal arbeitete 
er in der Klosterkirche der Karmeliter in Nancy, als ein Vergolder auf einem Gelöst 
einen Fehltritt tat und dadurch dem tödlichen Sturze entging, daß er sich noch 
an einer Latte festhalten konnte. Lorrain befreite ihn aus seiner gefährlichen Lage. 
Von jetzt ab faßte der Künstler eine unüberwindliche Abneigung davor, fernerhin 
wieder ein Gerüst zu besteigen. Ver. sucht diese .,Schreckneurose“ in Zusammen¬ 
hang zu bringen mit der sonstigen psychischen Labilität des Künstlers. Ob alles das, 
was Verf. hierüber zu sagen weiß, über das Normalpsychische hinausgeht, mag 
•dahingestellt sein. Manches beruht nur auf Vermutungen oder erscheint gesucht. 

Ganter. 

Jentsch (86): Warum Faraday (1792-1867) misogyn gewesen sein soll, ist mir 
nicht recht klar geworden. Jentsch weiß dafür nur ein Gedicht anzuführen, das 
Faraday gelegentlich einmal (1816) verbrochen hat und in dem er verächtlich von 
4er Liebe spricht. 1821 heiratete er sogar, und auch das scheint mir kein Zeichen 
von Misogynie zu sein. Ganter. 

Jentsch (87): Faraday litt von Kindheit an an nervösen Beschwerden, so daß 
ihn Jentsch zu den geborenen Neuropathen rechnet. Etwa in der Mitte des 5. Jahr¬ 
zehnts machte sich bei ihm eine zunehmende, sein wissenschaftliches Arbeiten beein¬ 
trächtigende Gedächtnisschwäche geltend, so daß er später selbst seine eigenen Ar¬ 
beiten vergaß. Diese Gedächtnisschwäche führt Verf. auf eine verhältnismäßig früh 
auftretende Arteriosklerose der Hirngefäße zurück. Gegen Ende des Lebens — er 
starb 75 Jahre alt — trat ein lähmungsartiger Zustand ein. Ganter. 

Rosanoff (142): Nach den üblichen Statistiken liefert die nach Amerika ein¬ 
gewanderte Bevölkerung einen verhältnismäßig viel größeren Prozentsatz der An¬ 
staltsinsassen als die einheimische Bevölkerung. Verf. macht auf die verschiedenen 
Fehlerquellen dieser Berechnung aufmerksam. Er bemerkt, daß ähnliche Zahlen 
bei der Wanderung der einheimischen Bevölkerung erhalten wurden. So sollte die 
aus dem Staate New York nach Kalifornien eingewanderte Bevölkerung 2,60mal 
•soviel Geisteskranke in den Anstalten stellen als die Bevölkerung Kaliforniens selbst. 

Um Fehlerquellen möglichst auszuschließen, empfiehlt Verf. die indirekte 
Methode der Vergleichung. Da die Geisteskrankheit sich meist vererbt, nimmt Verf. 
als Vergleichsobjekt die Nachkommen der zugewanderten und der ansässigen Be¬ 
völkerung, und da zeigte es sich, daß 1911 die Nachkommen der eingeborenen 
Bevölkerung 34,6 erste Anstaltsaufnahmen auf 100 000 der allgemeinen Bevölkerung 
lieferten, die Nachkommen der Eingewanderten 34,9, also fast gar kein Unterschied. 
Die Einwanderer stellen demnach nicht mehr Geisteskranke als die Eingeborenen. 

Ganter. 

II. Ätiologie. 

Rosanoff (143): ln den Vereinigten Staaten Amerikas kamen im Jahre 1880 
86,5 in Anstalten verpflegte Geisteskranke auf 100 000 der Bevölkerung, 1910 
stieg die Zahl auf 232,0. Innerhalb der einzelnen Staaten wiederum wechselt diese 


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Zahl bedeutend. So betrug sie 1910 im Staate Oklahoma 67,0, im Staate Massachu- 
setts aber 413,4. Diese Steigerung und Schwankung hängt nach Verf. nicht etwa 
von einer Zunahme der Geisteskranken ab, sondern von verschiedenen äußeren Ur¬ 
sachen. Die reicheren Staaten bauen mehr Anstalten als die ärmeren. Die Städte 
gewähren wieder mehr Gelegenheiten zur Aufnahme der Geisteskranken, als es auf 
dem Lande der Fall ist. Wo die Aufnahmebedingungen erleichtert werden, steigt 
auch die Zahl der Aufnahmen. Mit zunehmender Bildung schwindet die herge¬ 
brachte Furcht vor der Anstalt, so daß die Angehörigen ihre Kranken leichter der 
Anstalt übergeben. Alle diese Tatsachen begründet Verf. für jeden Staat mit 
statistischen Nachweisen. Ganter. 

Burchhard (25): Recht günstige Erwartungen hegt Burchhard namentlich auf 
Grund persönlicher Erfahrungen von den Kriegstrauungen. Großes soziales Un¬ 
glück sollen dagegen die außerehelichen Bündnisse erwarten lassen. Auch die Pro¬ 
stitution und die Geschlechtskrankheiten erfordern große Beachtung. Groß ist 
auch der Einfluß des Krieges auf die seelischen, mit dem Sexualleben in Beziehung 
stehenden Erkrankungen, während sexuelle Neurosen und Potenzstörungen von 
dem Kriege günstig beeinflußt zu sein scheinen. Die Frage der Tauglichkeit zum 
Militär spielt eine große Rolle bei den körperlichen und psychischen geschlecht¬ 
lichen Abnormitäten. B. verneint sie bei dem körperlichen und seelischen Zwitter- 
tum. Die Homosexuellen dagegen haben meistens eine den Durchschnitt wohl 
übersteigende Kriegsbegeisterung gezeigt. Über die sexuelle Kriminellität kann 
ein abschließendes Urteil natürlich noch nicht gegeben werden. Ganter. 

Voß (187) behandelt in ausführlicher, eingehender, überaus anregender Weise 
die endogenen tmd exogenen Ursachen der Geisteskrankheiten, die Bedeutung 
erblichen Belastung und der Vererbungsregeln und würdigt dabei auch die sozialen 
Ursachen, den Einfluß der kulturellen Entwicklung auf die psychische und nervöse 
Gesundheit. Freuds Lehren steht er ablehnend gegenüber. 

P. ScAroeder-Greifswald (160—161) hat im Gegensatz zu der Auffassung 
Bergers aus Jena die Überzeugung, daß es unmöglich ist, in der Vielgestaltigkeit 
psychischer Störungen nach einem Trauma eine symptomatologisch und klinisch 
einheitliche Gruppe ohne weiteres zu erkennen, die sich zeitlich und symptomato¬ 
logisch aus den Erscheinungen der Hirnerschütterung heraus entwickelt. Er faßt 
sie auf als ein protrahiertes Durchgangsstadium von der Bewußtlosigkeit zur end¬ 
gültigen Aufhellung. Hierbei wird auf die Vielgestaltigkeit der einzelnen Formen 
hingewiesen, bedingt durch die Dauer, die Intensität und durch das besondere Her¬ 
vortreten bestimmter Symptomgruppen, die im allgemeinen aber immer die gleichen 
sind und in Benommenheit, Delirien, epileptoiden Erregungen, Verworrenheits¬ 
zuständen, Amnesie- und Affektstörungen bestehen. In den länger dauernden 
Fällen lassen sich mehrere Krankheitsabschnitte unterscheiden: die abklingende 
Bewußtlosigkeit mit der Erschwerung der Auffassung und der Verlangsamung der 
psychischen Tätigkeit; ein sogenanntes ÜbmMgaatadium, gekennzeichnet durch 
akute Symptome, Erregungen, deliranMtfHV k “**t!0li oder Hemmung und Stupor 
und drittens ein Korsakomchex Zustlrfp^' “ders lange hinziehen kann. 

Als besonders charakteristisch “tranken angesehen: Ver- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


drossenheit, Unlust, Verärgertheit, grobe Gereiztheit, Mißtrauen, Boshaftigkeit. 
Die Prognose ist bei Fällen ohne Komplikationen im allgemeinen günstig, wird 
anderseits aber in allen schweren Fällen durch die Ausbildung einer gewissen geistigen 
Schwäche getrübt, die als unmittelbare Folge der durch das Trauma gesetzten Ge¬ 
hirnschädigung anzusehen ist und in Vergeßlichkeit Ermüdbarkeit, Explosivität, 
Reizbarkeit, Insuffizienzgefühl, Neigung zu hypochondrischen Klagen, Intoleranz 
gegen Alkohol und Rauchen, neben gelegentlich deutlichen Herderscheinungen 
besteht. Grimme. 


III. Pathologie, 

Gaupp (57) beschäftigt sich in seinem Referat zunächst mit den allgemeinen 
(Grundsätzen, nach denen die Einteilung der Psychosen erfolgen kann. Es sind dies 
die anatomische Forschung, die Lehre von den Ursachen der geistigen Erkrankungen 
und die Versuche Kräpelins, unter Berücksichtigung der Ursachen von psychischen 
und somatischen Symptomen, Verlauf und Ausgang zu einer Abgrenzung von 
Krankheitseinheiten zu kommen. Bei der Besprechung der Ursachenlehre wird der 
ablehnende Standpunkt Ziehen s einer Kritik unterzogen. Die Erörterung über die 
Lehre Kräpelins bringt einen Überblick über die gesamten, durch sie entstandenen 
Anschauungen, die Kräpelins Lehre aufteilen und weiterbauen, zeigt, wohin die 
Anschauungen neigen und auf welchem Wege man weiterbauen kann, ln dem mehr 
speziellen Teil des Referats wird zunächst auf die Bestrebungen hingewiesen, die 
•exogenen von den endogenen Psychosen immer mehr zu trennen und das Gebiet 
der syphilitischen Erkrankungen, anderer progressiver Verblödungszustände und 
der zerebralen Arteriosklerosen besonders besprochen. Bei den klimakterischen 
und präsenilen psychischen Erkrankungen ohne Arteriosklerose wird die Stellung 
der Kräpelinschm Paraphrenien und der echt Paranoia erwähnt. Bei den zahl¬ 
reichen infektiösen und toxischen Psychosen muß die Zukunft lehren, ob die Ver¬ 
wandtschaft dieser symptomatischen Psychosen eine tatsächliche Identität darstellt. 

Bei den Alkoholpsychosen müssen endogene Faktoren und ätiologische 
Zwischenglieder körperlicher Art beachtet werden. Weiterhin wird auf die Erkran¬ 
kungen hingewiesen, bei denen Vorgänge der inneren Sekretion als Grundlage ange¬ 
nommen werden. Ein großer Raum nimmt die Stellung und Genese der Epilepsie 
mit ihren verwandtschaftlichen Erscheinungen ein. Noch ausführlicher ist, dem 
gewaltigen Gebiete entsprechend, die Erörterung über die funktionellen Psychosen, 
bei der die modernen psychologischen Anschauungen, die Lehre von Freud und 
Bretter und die Lehre von der Entartung besprochen werden. 

Jolly (88) stellt auf Grund der Literatur und seiner eigenen Erfahrung fest, 
daß es eine eigene Menstruationspsychose nicht gibt; es gibt aber Fälle, die eigen¬ 
artige Beziehungen zur Menstruation darbieten, indem sie in ursächlichem Zu¬ 
sammenhang mit der Menstruation, und zwar meist prämenstruell, auftreten; in 
ihren Formen unterscheiden sie sich nicht wesentlich von den sonst in der Puber¬ 
tätszeit vorkommenden Geistesstörungen. Amenorrhoe fand sich häufig bei Paralyse 
und besonders bei Taboparalyse, auch bei Amentia, in der Hälfte der Fälle bei De- 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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tnentia praecox, Melancholie; bei Manie in etwa 1 j t -der Fälle. Das Symptom der 
Amenorrhoe wird auf Veränderungen des inneren Chemismus zuriickgeführt. ln 
prognostischer Beziehung wird die alte Erfahrung bestätigt, daß im allgemeinen 
Wiedereintritt der Menses mit gleichzeitiger psychischer Besserung günstig ist, 
dagegen ohne Besserung einen ungünstigen Ausgang befürchten läßt. 

Donath (34) berichtet über seine Erfahrungen auf dem wichtigen Gebiete der 
Kriegsverletzungen und -erkrankungen des Nervensystems und teilt Fälle von 
Psychoneurosen, Schädel* und Hirn Verletzungen, Verletzungen der Wirbelsäule 
und des Rückenmarks und Verletzungen der peripheren Nerven mit. Auch Donath 
hat Neurosen rein traumatischen Ursprungs be^ bisher gesunden, kräftigen, neuro- 
nder psychopathisch nicht belasteten Individuen gesehen. 

. Jocofty-Tübingen (79). ln sehr anschaulicher Form gibt Jacoby einen Über¬ 
blick über die chemischen Vorgänge im Körper, die der Ermüdung zugrunde liegen. 
Man muß unter Erschöpfung und Ermüdung unterscheiden. Erschöpfung ist die 
auf weitgehenden Verbrauch des Körperbestandes an oxydablem Material und an 
Muskelsubstanz beruhende Leistungsunfähigkeit', sie kann nur unter ganz außer¬ 
gewöhnlichen Bedingungen, und zwar nur bei gleichzeitiger hochgradiger Unter¬ 
ernährung des Organismus, in Frage kommen. Bei hochgradiger Ermüdung handelt 
es sich dagegen nur um eine Hemmung der Kraftentwicklung, die zwar auch zu 
völliger Leistungsunfähigkeit führen kann, aber darauf beruht, daß sich mit der 
Htarken, anhaltenden Energieentwicklung im Muskel eine Veränderung in den 
ihn versorgenden Gefäßen und damit im Blutstrom des Muskels einstellt, durch den 
die Stoffwechselvorgänge des Muskels und auch entfernterer Organe und selbst der 
nervösen Apparate derartig beeinflußt werden, daß es dem Organismus in immer 
steigendem Maße erschwert wird, das vorhandene energieliefernde Material auszu¬ 
nutzen, wobei aber sowohl das Muskelprotoplasma als solches wie auch das oxydable 
Material, welche dem Körper noch zur Verfügung stehen, sehr umfangreich, ja 
sogar nahezu in normaler Menges vorhanden sein kann.“ Da die Veränderung in den 
Gefäßen in einer Erweiterung de Gefäßsystems und damit in einer Herabsetzung 
des Blutdruckes besteht, können Mittel, die den Blutdruck steigern, wie Kaffee, 
'Tee, Kakao und Schokolade, vielleicht auch Suprarenin und Hypyophsin regulierend 
auf den Ermüdungszustand einwirken. Grimme. 

Pighini (131): Das Buch Pigkinis ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die 
Verf. an der Klinik in Mailand gehalten hat. Es gibt eine gute Zusammenstellung 
unserer Kenntnisse über die Biochemie des Gehirns. In 6 Kapiteln werden abge¬ 
handelt: die physikalisch-chemische Beschaffenheit der Nervenelemente, die chemi¬ 
schen Bestandteile des normalen Gehirns, die des pathologisch veränderten Gehirns, 
die Nervenenergie und die physikalische Chemie des Protoplasmas, der Gasaustausch 
des Zentralnervensystems, nebst Narkose und Schlaf. — Wie Ciamieüm in seiner 
Vorrede betont, wird das Werkchen nicht nur Ärzten und Biologen, sondern auch 
Chemikern als nützliches Orientierungsmittel dienen. Ganter. 

Parhon et Savini (125): Die Entscheidung, ob die Drüsen mit innerer Sekretion 
nur durch die Nerven oder auch unmittelbar auf die Gewebe wirken, ist deshalb 
schwierig, weil sich der Nerveneinfluß nicht ausschalten läßt. Die Verf. schlugen 


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136 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

darum einen andern Weg ein. Sie untersuchten, welche Veränderungen die Bak¬ 
terien erleiden, wenn sie auf dem üblichen Nährboden, auf dem aus Drüsen herge¬ 
stellten oder mit dem Drüsenauszug versetzten Nährboden kultiviert werden. Ein 
positives Ergebnis würde beweisen, daß die Drüsen unmittelbar, ohne Vermittlung 
des Nervensystems, gewisse Gewebe beeinflussen. 

Zunächst fanden die Verf., daß das Schilddrüsengewebe auf die Entwicklung 
der Milzbrand- und Tuberkelbazillen hemmend wirkt, mithin bei den Immnni- 
sierungsvorgängen eine wichtige Rolle spielen muß. Was die Nebenniere betrifft, 
so ist diese ebenfalls kein günstiger Nährboden für den Tuberkelbazillus. Milz¬ 
brandbazillen gedeihen gut auf Hoden-,Eierstock- und Corpus luteum-Gewebe, 
schlecht auf Leber- und Speicheldrüseifgewebe. Der Tuberkelbazillus gedeiht gut 
auf diesen Geweben, mit Ausnahme des Speicheldrüsengewebes. Oanter. 

Ross and Singer (145): Die Untersuchungen der Verf. über die Auflösung der 
Gewebe durch die verschiedenen pathologischen Seris zeigen, daß man aus dem Be¬ 
fund keine Schlüsse auf den Sitz des Leidens ziehen kann. Hinsichtlich der Ferment¬ 
wirkung auf Gehimgewebe besteht zwischen dem Serum von Paralytikern und dem 
normaler Individuen ein mehr quantitativer als qualitativer Unterschied. Ganter. 

Mayer (108) hat nach der Forderung, daß dem Untersucher die klinische 
Diagnose nicht bekannt gewesen sein soll, 25 Fälle psychischer Erkrankungen nach 
der Abderhaldenachen Reaktion untersucht. Wiedergabe der Ergebnisse, unter ab¬ 
sichtlicher Vermeidung einer Kritik und ohne Eingehen auf frühere Veröffent¬ 
lichungen. Die Ergebnisse stimmen mit den Ergebnissen anderer Untersucher 
ziemlich überein. Grimme. 

Kafka (89) betont in seiner Abhandlung die Notwendigkeit der Untersuchung 
geistig und körperlich normaler Personen auf Abwehrfermente, ln den von ihm 
aufgeführten 33 Fällen fehlten Abwehrfermente gegen alle Organe. An der Hand 
von 10 Fällen aus dem Gebiete des manischen Irreseins, der Dementia praecox, der 
Epilepsie und der Paralyse wird hingewiesen, wie nötig eine ausführliche klinische 
Darstellung ist und wie selbst bei ziemlich klaren Fällen die Deutung eine ver¬ 
schiedene sein kann. Ferner geht Kafka ein auf die Frage des stationären serologi 
sehen Befundes der Geschlechtsspezifität, die wieder von ihm als feststehend be¬ 
zeichnet wird, und der Natur der Abwehrfermente. Grimme. 

Schröder (162) unterzieht auf Grund klinischer Beobachtungen, 
die zum Teil in recht anschaulichen Nachschriften wiedergegeben sind, die bisher 
fast allgemein gültige Bestimmung einer Halluzination, als eines den normalen 
Wahrnehmungen in jeder Beziehung gleichen Phänomens, einer Kritik. Diese soge¬ 
nannten „echten“ Halluzinationen sind sehr seltene Erscheinungen, während das 
alltäglich an den Kranken zu Beobachtende gerade das Unbestimmte, Unerklärliche, 
Ungewöhnliche, Fremdartige an den Sinnestäuschungen zum Ausdruck bringt, für 
das die Kranken eine passende Bezeichnung nicht zu finden wissen. Die auffälligen, 
absonderlichen Bezeichnungen sind keineswegs immer ein Zeichen für Abänderung 
der Sprachweise, sondern tatsächlich ein Ausdruck für das Fremdartige in der 
Sinnesempfindung. In sehr viel Fällen kann nicht einmal angegeben werden, aus 
welchem Sinnesgebiete die krankhafte Empfindung stammt. Bei den Angaben der 


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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie. 


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•Kranken spielen ferner Erinnerungstäuschungen enie große Rolle. Auch die mangel¬ 
hafte Beobachtungsfähigkeit, die Schwierigkeit zwischen Wahrnehmung und hinzu¬ 
gedachter Erklärung zu unterscheiden, ist zu berücksichtigen. Das Halluzinieren 
iät kein einheitlicher, stets gleich zu bewertender Vorgang. Es wird deshalb auch 
nicht eine Theorie für alle Halluzinationen passen. Die Ausscheidung sogenannter 
„echter“ Halluzinationen ist künstlich und praktisch nicht durchführbar. 

Grimme. 

Sokolow (153) hat seine Untersuchungen über die experimentelle Auslösung 
der Gehörshalluzinationen durch periphere Reize fortgesetzt und hat die Ergebnisse 
der letzten Untersuchung, die im vorjährigen Literaturbericht erwähnt wurden, 
wieder bestätigt gefunden. Als neuer Befund (154) kommt diesmal hinzu, daß die aus¬ 
gelösten Halluzinationen durch die Suggestion beeinflußbar sind, so daß der Inhalt 
der Suggestionen eine innige Beziehung zu der ausgelösten Gehörstäuschung hat. 

Grimme. 

Äepond-Zürich (}36) bringt Belege dafür, daß die in deliriösen Zuständen 
empfundenen Sinnestäuschungen von seiten des Hautgefühls vielfach auf organisch 
bedingte Parästhesien zurückzuführen sind. Diese Parästhesien nehmen bei toxi¬ 
schen Delirien so die Aufmerksamkeit in Anspruch, daß die Patienten sich ganz 
mit ihnen beschäftigen und ein wahnhafter Ausbau dieser Empfindungen nicht 
veranlaßt wird. Grimme. 

Redlich (133) berichtet ausführlich über einen Fall von reiner Narkolepsie. 
Bei einem 19jährigen, durch die Trunksucht seines Vaters belasteten Manne treten 
seit einigen Monaten mehrere Male am Tage reine Schlafanfälle auf, die sich mit 
leichten Kopfschmerzen einleiten und 6—10 Minuten oder mehrere Stunden dauern 
Der Kranke macht auch in den Zwischenzeiten immer einen etwas schläfrigen Ein¬ 
druck. Beim Lachen hatte er das Gefühl der Schwäche in den Beinen und knickte 
zusammen. Zeichen der Epilepsie oder Hysterie fehlten. Die Behandlung hatte 
keinen Erfolg. Über das Wesen dieser reinen Fälle kann Redlich nichts aussagen. 

Grimme. 

A. Pick (127) bespricht die Erscheinung, daß Amputierte gelegentlich den 
amputierten Körperteil noch lange nach der Amputation in verschiedenartigster 
Form fühlen, und bringt hiermit die bei psychopathischen Persönlichkeiten, bei 
Nervösen und bei Geisteskranken auftretenden mannigfachen Störungen des 
Körperbewußtseins in Zusammenhang. Grimme. 

Pick (128) hat bei einem an Angstzui4tänden erkrankten Manne bei der Prüfung 
seines motorischen Verhaltens während der Ausführung von aufgetragenen Handlun¬ 
gen einerseits Hemmungserscheinüngen und anderseits eine Neigung beobachtet, 
durch Sinneseindrücke sich sofort zu den entsprechenden, ihm geläufigen Handlun¬ 
gen, wie Waschen, Abtrocknen, Anzünden von Kerzen, verleiten zu lassen. Eine 
Bewußtseinstrübung lag nicht vor. Beide Erscheinungen werden zurückgeführt 
auf Störungen in dem Widerspiel zwischen den Impulsen und Hemmungen, die das 
geordnete Verhalten des Menschen zur Umwelt regeln. Die Hemmung ist nur eine 
scheinbare. „Die Grundlage ist das Ausbleiben oder die Unwirksamkeit jener An¬ 
reize, die normalerweise zu einem geordneten Wechsel von Reaktionen führen, sei 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXTII. Lit. k 


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138* 

derselbe durch Reize aus der Umwelt oder durch Denkvorgänge bedingt.“ Um¬ 
gekehrt kann ein Sinneseindruck der Hemmung ein Ende machen, indem er sofort 
die entsprechenden Handlungen veranlaßt. Grimme. 

E. A/eyer-Königsberg (110) schließt sich den Ausführungen Raecke s über die 
hysterischen und katatonischen Situationspsychosen an. Der Nachweis eines stark 
affektbetonten Erlebnisses kann nicht zur Unterscheidung einer psychogenen Re¬ 
aktion der Psychopathen von ähnlichen Bildern der Dementia praecox dienen. Die 
Differentialdiagnose muß sich vielmehr aus dem klinischen Bilde selbst ergeben. 

Grimme. 

Marburg (104) berichtet über 3 Fälle von oberflächlichen Schußverletzungen 
des Gehinis an der linken Seite im Bereiche des Scheitelbeins. Es bestanden jedesmal 
eine sensorische Sprachstörung, eine Parese der rechten oberen Extremität und eine 
sensible Störung an der Radialseite der rechten Hand, die alle Qualitäten und das 
stereognostische Empfindungsvermögen betraf. Von diesen Erscheinungen blieb 
nach den Operationen die Störung der Sensibilität bestehen., ln einem andern Falle 
fand sich bei einer Verletzung am rechten Scheitelbein eine linksseitige Hemiparese 
mit Hemianästhesie und Astereognose im Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Mar¬ 
burg bezieht diesen Ausfall auf eine Schädigung der hinteren Zentralwindung und 
des Gyrus supramarginalis, wo er ein Zentrum für kombinierte Empfindungsquali¬ 
täten annimmt, dessen Ausfall besonders linksseitig zu einer Tastlähmung des 
Daumens, Zeige- und Mittelfingers führen soll.’ Grimme. 

Tischbein (181) berichtet über einen in der Kieler Klinik beobachteten Fall 
von Imbezillität mit einer ausgeprägten Ohrmißbildung und einer Gaumenspalte, 
erläutert, inwieweit die kongenitale Ohrabnormität im Sinne der Degeneration zur 
bestehenden Imbezillität in Beziehung zu setzen ist und zeigt, daß der Fall ein 
hervorragendes Beispiel erblicher Entartung mit ausgeprägten Degenerationszeichen 
darstellt. Die Mißbildung des Ohres bestand in einer Entwicklungsstörung; an Stelle 
der linken Ohrmuschel fand sich nur ein kleiner Hautwulst angedeutet, der äußere 
Gehörgang fehlte vollständig. 

Wolff (200) versucht, zu dem vieldeutigen Charakterbild Hamlets eine neue 
Erklärung zu geben. Hamlet ist von jeher ein Sonderling gewesen, ein Welt- und 
Menschenverächter, der sich seine eigene Welt zurechtgelegt hat. Jetzt, da er die 
ihm äußerst unangenehme Aufgabe hat, den Mord seines Vaters zu rächen, zu der 
er sich bald hingetrieben, bald abgestoßen fühlt, flüchtet er erst recht in die Welt 
des Scheines, er spielt Theater, wird Poseur. Bei dieser Betrachtungsweise läßt sich 
nach Verf. die Handlungsweise Hamlets psychologisch erklären. — Den größten 
Teil des Werkes nimmt die vom Verf. veranstaltete Neuübersetzung ein, die nach 
des Verf.s Worten den Hamlet in wirklich deutscher Sprache wiedergeben soll. 

Ganter. 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


139 * 


S. Anstaltswesen und Statistik. 

Ref.: 0. Snell-Lftneburg. 

I. Allgemeines. 

1. Berg, M. (Neudeck ), Bemerkungen zur Entwicklung unseres weib¬ 

lichen Krankenpflegewesens. Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung 
Bd. 12, Nr. 16 u. 17. (S. 144*. ) 

2. Berg. M. (Neudeck), Lebens- und ArbeitsVerhältnisse der deut¬ 

schen Krankenschwestern. Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung 
Jahrg. 12, Nr. 18,19 u. 20. (S. 145*.) 

3. Bresler , Jobs. (Lüben), Heil- und Pflegeanstalten für Psychisch- 

kranke in Wort und Bild. Bd. II, Abt. 1. Halle a. S. (’. Mar- 
hold. 80 S. (S. 141*.) 

4. Briggs , L. Vemon and Stearns. A. Warren (Boston, Mass.), Re- 

cent extension of out-patient work in Massachusetts State 
Hospitals of the insane and feeble-minded. American journ. 
of insanity. Vol. 72, no. 1, p. 35. (S. 143*.) 

5. Campbell , C. M. (Baltimore Md.), The röle of the psychiatric dis- 

pensarv: a review of the first years work of the dispensary 
of the Phipps Psychiatric Clinic. American journ. of in¬ 
sanity Vol. 71, no. 3, p. 439. 

6. Cumen, John (Harrisburg, Pa. ), The propositions of the Asso¬ 

ciation of Superintendents of American Hospitals for the 
Insane. Alienist and neurolog. Vol. 36, no. 1, p. 45. 

7. Dees, 0. (Gabersee), Bekämpfung infektiöser Krankheiten in An¬ 

stalten. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psvch. Orig.-Bd. 28. 
H. 1. S. 65. (S. 145*. ) 

8. ran Deventer, J.. Regulierung der Beaufsichtigung der Geistes¬ 

kranken außerhalb der Irren- und Idiotenanstalten. Psvch. 
en neurolog. Bl. Vol. 19, p. 250. 

9. Fischer, Max (Wiesloch), Die Erwerbsfürsorge für Kriegsinvalido 

an unseren Heil- u. Pflegeanstalten. Psvch.-neurol. Wochen- 
schr. Nr. 51/52, S. 420. 

10. Haberhint , Joh. (Hördt. Eis.), Das Bewahrungshaus in Hördt 
(Elsaßj. Psych.-neurolog. Woehenschr. Nr. 11/12, S. 59. 
(S. 143*.) 

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140 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


11. Jones, Edith Kathleen, On books and reading. Outlines of a course 

of lectures for nurses in hospitals. American. Journ. of in- 
sanity. Vol. 72, no. 2, p. 297. 

12. May, James V. (Albany, N. Y.), Some of the more problems 

connected with the State Care of the insane. American Journ. 
of insanity. Vol. 72, no. 2, p. 315. 

13. Melchior, F. A., Ist Familienpflege Geisteskranker in den Nieder¬ 

landen möglich und erwünscht? Psych. en neurolog. Bladen 
Vol. 19, p. 426. 

14. Moeli, C. (Berlin), Die Fürsorge für Geisteskranke und geistig 

Abnorme nach den gesetzlichen Vorschriften, Ministerial-Er- 
lassen, behördlichen Verordnungen und der Rechtsprechung. 
Ein Handbuch für Ärzte und Verwaltungsbeamte. Halle. 
C. Marhold. 212 S. 7,50 M. (S. 141*.) 

15. Morgenthaler, W., Bernisches Irren wesen von den Anfängen bis 

zur Eröffnung des Tollhauses 1749. Bern. G. Grunau. 
147 S. 3,20 Fr. (S. 141*.) 

16. Römer Hans (Illenau), Zur Reform der deutschen Irrenstatistik. 

Arch. f. soziale Hygiene. Bd. 14, S. 308. 

17. Schauen (Schwetz), Die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu 

Sch wetz a. W. Sonderabdruck aus „Heil- und Pflegeanstalten 
für Psychischkranke in Wort und Bild“. Verlag: C. Mar¬ 
hold, Halle a. S. Bd. 2, Abt. 1. (S. 142*.) 

18. Schloß, H., Leitfaden zum Unterricht für das Pflegepersonal an 

öffentlichen Irrenanstalten. 5. Aufl. Wien u. Leipzig. Fr. 
Deuticke. 118 S. 1,50 M. 

19. Schmidt, P. (Gießen), Hygienische Winke für Seuchenabteilun¬ 

gen. D. med. Wochenschr. Nr. 11, S. 305. (S. 145*.) 

20. Schmidt, P. (Gießen), Über die Verhütung und Bekämplung von 

Kriegsseuchen. Kurze Darstellung auf Grund von Vorträgen 
nebst einem Seuchenmerkblatt. Leipzig. Joh. A. Barth. 
16 S. 25 Pf. 

21. Schnitzer, Herbert (Stettin), Über Einrichtungen für schwer 

erziehbare Fürsorgezöglinge. Zeitschr. f. d. Erforsch, u. Be- 
handl. des jugendl. Schwachsinns. Bd. 8, S. 5. (S. 144*.) 

22. Schultz, J. H. (Jena), Über die Maßregeln gegen Bazillenträger in 

den Anstalten für Geisteskranke. (Kritische Übersicht.) 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


141 * 


Viertel jahrsschr. f. ger. Med. u. öffentl. Sanitätsw. Bd. 49, 
H. 2, S. 311. 

23. Stepp, Theodor (Klingenmünster), Über die Typhusträger in der 

Pfälzischen Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster. Wiener 
Klin. Rundschau Nr. 21—26: 

24. Weygandt, W. (Hamburg), Die Entwicklung der Irrenanstalt 

Friedrichsberg-Hamburg. Ansprache, gehalten vor Ärzten 
und Beamten der Anstalt am Tage des 50jährigen Beste¬ 
hens (17. November 1914). Mitteilungen a. d. Hamburgischen 
Staatskrankenanstalten. Bd. 15, H. 8, S. 133. (S. 142*.) 

25. Weygandt, W. (Hamburg), Zum 50 jährigen Bestehen der Irren¬ 

anstalt Friedrichsberg. Psych.-neurolog. Wochenschr. Nr. 
43/44, S. 375 (30. Januar 1915). (S. 142*.) 

Moeli (14) bringt eine Zusammenstellung und Besprechung der gesetzlichen 
Vorschriften, Ministerial-Erlasse, behördlichen Verordnungen und der Recht¬ 
sprechung in bezug auf die Fürsorge für Geisteskranke und geistig Abnorme, ins¬ 
besondere in Preußen. Das sehr übersichtlich angeordnete Handbuch ist für Ärzte 
und Verwaltungsbeamte bestimmt. 

Im Berichtsjahre ist vom II. Band die erste Abteilung des Bresler&chen (3) 
Werkes erschienen. Behandelt sind die Anstalten in Colditz, Haar, Hildesheim, 
Neuruppin, Neustadt (Westpr.), Sch wetz, Sorau und Weilmünster. Die Abhand¬ 
lungen sind verfaßt von den Direktoren bzw. Oberärzten der Anstalten. Über das 
Institut in Nocera inferiore schreibt Prof. Bianchini. Das Werk ist auch in dieser 
Abteilung reich mit Abbildungen ausgestattet, es schließt sich dem Vorhergehenden 
durchaus würdig an. 

Morgenthaler (15) berichtet über das bernische Irrenwesen von den Anfängen 
bis zur Eröffnung des Tollhauses 1749. Während über die spätere Geschichte des 
Irrenwesens in Bern bereits Arbeiten vorliegen, waren die früheren Perioden noch 
nicht bearbeitet. Gerade aus diesen früheren Zeiten fand sich im bemischen Staats¬ 
archive reiches, sowohl historisch wie kulturgeschichtlich und psychologisch inter¬ 
essantes Material vor. Die ersten dunkelen Spuren einer Behandlung von Geistes¬ 
kranken sind vielleicht in den prähistorischen trepanierten Schädeln zu suchen, 
die sich im bemischen historischen Museum finden. Ein solcher bei Münsingen 
gefundener Schädel aus der Latöneperiode, der deutlich die Knochennarbe am 
Rande der Trepanationsöffnung zeigt, ist abgebildet. Aus historischer Zeit finden 
sich die frühesten Nachrichten über Geisteskranke in der Stratlinger Chronik, 
einer Sammlung von Sagen und Legenden aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. 
Morgenthaler teüt dann fortlaufend alles mit, was über Geisteskranke, Hysterische, 
Besessene an Nachrichten erhalten ist. Im 14. Jahrhundert beschränkte man sich 
auch in Bern gewöhnlich darauf, Geisteskranke, die lästig waren, auszuweisen 
oder durch Verwahrung im Gefängnis unschädlich zu machen. Daneben wurden 
zuweilen Privatleute mit der Versorgung unruhiger oder gefährlicher Geistes- 


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142 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

kranken betraut. Im 16. Jahrhundert wurden die Geisteskranken in die damals 
zahlreich vorhandenen Spitäler eingewiesen. Die Verwahrung geschah allerdings 
entweder durch Einsperren in dem „Taubhäuschen“ oder durch Anketten, Im 
Jahre 1730 wurde beschlossen, im neuen großen Spital ein Tollhaus für 14 Geistes¬ 
kranke zu bauen. Am 1. Januar 1749 wurde der neue Bau bezogen. Er bestand 
aus 12 sehr festen aber geräumigen, heizbaren, mit Aborten versehenen Zellen 
und zwei großen Höfen, bildete also für die damalige Zeit ein auffallend gutes Unter¬ 
kommen für Geisteskranke. 

Weygandt (24) veröffentlicht die Ansprache, die er am 17. November 1914 
vor Ärzten und Beamten der Irrenanstalt Friedrichsberg am Tage ihres 60jährigen 
Bestehens gehalten hat, und teilt außerdem in der Psychiatrisch-Neurologischen 
Wochenschrift (25) die Geschichte der Anstalt noch ausführlicher mit. Schon im 
Jahre 1818, bei Gründung des Hamburger Krankenhauses St. Georg, wurde der 
Plan erörtert, eine besondere Anstalt für die Geisteskranken zu errichten, die da¬ 
mals im Pesthofe untergebracht waren, während sie bis zum 16. Jahrhundert in 
der Doorhen-Kiste, einem Turm beim Katharinenfriedhofe, und dann in einem 
Befestigungsturm bei dem Heiligen Geist-Spital eingesperrt waren. Nachdem vielo 
Pläne gemacht und verworfen waren, wurde Ludwig Meyer 1858 Arzt der Irren¬ 
abteilung in St. Georg und 1860 wurde eine Kommission von sieben Mitgliedern 
für den Bau einer Anstalt eingesetzt. Es wurde beschlossen, eine Anstalt mit 200 
Betten für heilbare und besserungsfähige Kranke und ein Pensionat mit 40 Betten 
einzurichten. Am 5. Dezember 1861 wurde der Grundstein feierlich gelegt, und 
am 20. Oktober 1864 konnte die Anstalt dem Krankenhauskollegium übergeben 
werden. Von den Kranken, die am 17. November 1864 als die ersten in die An¬ 
stalt einzogen, lebt nach 50 Jahren noch ein Selbstzahler, der an Dementia prae¬ 
cox leidet und nunmehr 70 Jahre alt ist. Ludwig Meyer konnte mit Stolz in dem 
ersten Jahresberichte sagen: „Unsere Irrenanstalt war die erste deutsche Anstalt, 
in deren Ausrüstung die Zwangsmittel keinen Platz erhalten haben.“ Schon 1866 
wurde Ludwig Meyer als Professor der Psychiatrie nach Göttingen berufen. Sein 
Nachfolger wurde Wilhelm Reye. Mehr als vier Jahrzehnte leitete er die Anstalt, 
die sich entsprechend der Bevölkerungszunahme Hamburgs vergrößerte. Die Grün¬ 
dung von Langenhorn, zunächst für der landwirtschaftlichen Arbeit fähige Irre, 
brachte 1888 nur geringe Entlastung. 1911 wurde der Umbau von Friedrichsberg 
beschlossen, nachdem die Krankenzahl auf 1600 gestiegen war. Inzwischen hatte 
1908 Weygandt die Leitung der Anstalt übernommen. Bei der Neueinrichtung der 
Anstalt wurde die Pflicht wissenschaftlicher Forschung betont. Friedrichsberg 
wird dementsprechend mit Laboratorien ausgestattet, die denen der größten Uni¬ 
versitätskliniken nichts nachgeben. Mit der Kriegszeit ergaben sich neue Aufgaben. 
Ein Pavillon ist für psychisch gestörte Soldaten eingerichtet, und außerdem wurde 
eine Menge Verwundeter in Friedrichsberg untergebracht, dessen neue Pavillons 
nicht würdiger eingeweiht werden können. 

Die Schwetzer Anstalt (17) liegt im Garten eines fiüheren Klosters, war ur¬ 
sprünglich Landkrankenhaus für körperlich Sieche aus der Provinz. 1867 wurde 
die Anstalt, die einen Besitz von 7% ha hatte, der sich im Laufe von 40 Jahren 


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Snell, Anstaltswesen und Statistik. 148* 

nur um 4% ha vermehrte, mit Geisteskranken, zunächst 300, belegt. In den letzten 
Jahren ist das Anstaltsgebiet mit seiner umfangreichen landwirtschaftlichen Eigen* 
Wirtschaft auf 100 ha angewachsen. Zahlreiche neue Gebäude sind errichtet, so 
daß z. Z. etwa 900 Kranke Unterkunft und Pflege finden; bis 60 davon sollen in 
Familienpflege gegeben werden. Bettbehandlung wird, bei möglichst geringer 
Verwendung von Medikamenten, ira weitesten Maße angewandt, ebenso Arbeits¬ 
therapie. Für Kranke der Provinz sind zu zahlen in I. Klasse 1500 M., II. Klasse 
1000 M., III. Klasse 500 M. Für Auswärtige erhöhen sich die Sätze. 

Vernon Briggs und Stearns (4) berichten über umfangreiche Wohlfahrts¬ 
maßnahmen für Geisteskranke und Minderwertige im Staate Massachusetts. Es 
ist vom State Board for Insanity dieses Staates eine Richtlinie aufgestellt worden, 
nach der nicht nur die poliklinische Untersuchung von Krankheitsverdächtigen 
erfolgen soll, um Kranke rechtzeitig Anstalten zuzuführen, sondern cs soll auch 
jegliche Fürsorge auf diejenigen ausgedehnt werden, die in der bürgerlichen Ge¬ 
sellschaft verbleiben können oder in diese zurückkehren. Beaufsichtigung Debiler, 
Beratung Angehöriger sollen intensiv gepflegt, daneben soziale Probleme wie Geistrs- 
hygiene, Alkohol- und Syphilisprophylaxe, eugenische Reformen ihrer Vollendung 
entgegengebracht werden. Träger der Institutionen sind der Hauptsache nach 
die Staatsanstalten für Geisteskranke. Diese eröffnen oder erweitern ihre Poli¬ 
kliniken, errichten an entfernteren Orten Stationen unter psychiatrisch ausgebil¬ 
deten Ärzten. Geeignete Persönlichkeiten, Verwaltungs-, Gemeinde- und Schul¬ 
behörden, Wohltätigkeitsvereine sind die Organe zur Beantragung von Unter¬ 
suchungen, Beobachtungen und Behandlung. Schon nach ganz kurzer Zeit war 
die Organisation in Betrieb. Das Ergebnis der poliklinischen Untersuchungen 
entsprach nach dreimonatlicher Inangriffnahme und auf das Jahr berechnet schon 
72% der jährlichen Zulassungen zur Anstaltsaufnahme. Die Personenzahl der in 
Familienpflege Aufgenommenen betrug bis 1. April 1915 = 243. Anfänge, die der 
bedeutenden Aufgabe eine segensreiche Zukunft versprechen. 

Von dem Bewahrungshause in Hördt (Eis.) und über die Bedeutung der 
Bewahrhäuser gibt Haberkant (10) eine bemerkenswerte Abhandlung in engerem 
Rahmen. Verf. geht von der heute herrschenden Anschauung aus, daß für jede 
Anstalt im allgemeinen eine gesicherte Abteilung genügt, aber voihanden sein 
muß, da der an sich freien Behandlung gewisse Grenzen gezogen sind. Die Be¬ 
wahrungshäuser können einen größeren Wirkungsradius haben, um so mehr, wenn 
man sich Aschaffenburgs Anschauungen anschließt, daß erst auf 50 000 Einwohner 
ein gefährlicher Kranker kommt; und so wird yrst für jede Provinz bzw. jedes 
Land, je nach Größe, mit einem oder wenigen Bewahrhäusern, und zwar bei einer 
Belegungsziffer von 50—60 Krankenplätzen für das Haus, gerechnet werden müssen. 
Im Elsaß ist nach diesem Gesichtspunkt verfahren. Das Haus in Hördt ist 1912 
errichtet und sowohl in bezug auf Anlage und äußere Form, als auch auf innere 
Gliederung dürfte die Bauaufgabe glücklich gelöst sein. Hervorzuheben ist die 
Abschrägung der Ecken in den Krankenräumen (nach Muster von Neustadt i. Hol¬ 
stein) und die praktische Anlage der Türen und Fenster, die ein eigenmächtiges 
öffnen nach Möglichkeit verhindert, wie die Sicherheitsvorkehiungen übeihaupt 


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144* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


vorzüglich zu sein scheinen. Besonders geeignet dürften die auf Hdberkanis An¬ 
regung von der Firma Maquet in Heidelberg gelieferten Bettstellen sein, bei denen 
jede gefahrbringende Benutzung von Teilen ausgeschlossen ist. Betrieb und War¬ 
tungsdienst (1 Wärter auf 3 Kranke) sind den Anforderungen angepaßt, Alarm- 
und Kontrollvorkehrungen reichlich vorhanden; für Beschäftigung der Kranken, 
für Anregung und Erholung ist auf das beste vorgesorgt. Nicht nur kriminelle, 
sondern auch unbescholtene Gefährliche werden in Hördt aufgenommen. Ver¬ 
pflegungssätze 3 M. pro Kr. Baukosten 176 000 M. Innere Einrichtung 4000 M. 

Herbert Schnitzer (21) behandelt erschöpfend das Thema der Schwererzieh¬ 
baren mit krankhafter Beschaffenheit. Seine Forderungen werden in Fachkreisen 
durchaus Beifall finden. Er faßt sie kurz dahin zusammen, daß er sagt: Sonder¬ 
anstalten für Schwererziehbare mit krankhafter Beschaffenheit sind notwendig, 
und zwar nur solche für Schulentlassene. Bei der Anlage und inneren Organisation 
müssen auch psychiatrische Grundsätze beachtet werden. Ebenso soll der Psych¬ 
iater teilhaben an der Leitung. Auch für Schwererziehbare ist der Wiedereintritt 
in die volle Freiheit anzustreben, und zwar letzten Endes auf dem Wege der Fa¬ 
milienerziehung. Die Sonderanstalt darf den Charakter einer Krankenanstalt, 
trotz disziplinärer erzieherischer Grundsätze, nicht verlieren. Für den besonderen 
Zweck geeignetes Erziehungspersonal muß vorhanden sein bzw. herangebildet 
werden. Auf die äußere Sicherstellung solcher Kräfte ist ohne Ansehung der 
Kosten Bedacht zu nehmen. 

Nach Berg (1) bedarf das weibliche Krankenpflegewesen, das in der Zeit des 
Krieges seine Unentbehrlichkeit bewiesen hat, einer gründlichen Reorganisierung. 
Dazu gibt B. bemerkenswerte Anregungen und appelliert an die Ärzteschaft, die 
am ehesten dazu berufen sei, sich der brennenden Schwesternfrage anzunehmen 
und an der richtigen Stelle auf die vorhandenen Mängel in ihrem eigenen Inter¬ 
esse hinzuweisen. Dafür stellt er folgende Forderungen in den Vordergrund: Ein¬ 
stellung nur ganz gesunder kräftiger Personen mit hinreichender Vorbildung. Strenge 
Sichtung bei der Annahme. — Mindestens zweijährige, möglichst dreijährige Aus¬ 
bildungszeit. — Ausschließlich Anstellung von staatlich geprüftem Pflegepersonal 
an öffentlichen Anstalten. — Einheitliche Regelung der Arbeitseinteilung mit 
der Möglichkeit, die Mahlzeiten und Ruhepausen regelmäßig einzuhalten. Eine 
Arbeitszeit von 10 bis höchstens 11 Stunden einschließlich Schülerinnen-Unter- 
richt und Nachtwache. Getrenntes Pflegepersonal für Tag- und Nachtdienst. Mög¬ 
lichst Einführung des Dreischichtensystems mit neunstündiger Arbeitszeit. — Ab¬ 
schaffung der Verpflichtung zu groben niederen Arbeiten, die nicht unbedingt mit 
der Krankenpflege verbunden sind und ebensogut oder besser von niederem Dienst¬ 
personal geleistet werden können. — Möglichst weitgehende Sonntagsruhe. Jähr¬ 
licher Urlaubsanspruch von mindestens vier Wochen mit angemessener Kostent¬ 
schädigung. — Ausreichende staatliche Unfallfürsorge. — Eine möglichst auf ge¬ 
setzlichem Wege geregelte ausreichende Altersversorgung und Sicherstellung für 
den Fall der Invalidität, auf welche sofort nach Dienstantritt Anspruch erhoben 
werden kann. — Eine der gefahrvollen, an Nerven und Kräfte die höchsten An¬ 
forderungenstellenden Tätigkeit entsprechende Barentschädigung. — Entsprechende 
Fürsorge für die im privaten Dienst stehenden selbständigen Krankenpflegerinnen. 


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Sn eil, Anstaltswesen and Statistik. 


145* 


Berg (2) gibt eine öbersichtliche und erschöpfende Darstellung der „Lebens¬ 
und Arbeitsverhältnisse der deutschen Krankenschwestern' 1 und weist darin ein¬ 
dringlich auf die Lücken hin, die noch bezüglich der Ansprüche an die Vorbildung 
und an die berufliche Ausbildung der Schwestern und hinsichtlich einer verständi¬ 
gen einheitlichen Arbeitseinteilung auszufüllen sind. Insonderheit aber gibt er 
Anregungen zur Verbesserung ihrer Existenzbedingungen und fordert ausreichende 
staatliche Unfallfürsorge und eine möglichst auf gesetzlichem Wege geregelte hin¬ 
reichende Altersversorgung und Sicherstellung für den Fall der Invalidität. Im 
Interesse des Standesansehens tritt er für den Gedanken ein, den Titel „Schwester“, 
abgesehen von der Zugehörigkeit zu einem staatlich anerkannten Schwestem- 
verband, abhängig zu machen von der Erlangung einer an die Ableistung einer 
staatlichen Prüfung gebundenen Konzession, welche allein die Berchtigung gibt, 
bestimmte gesetzlich zu schützende Schwesterntrachten und Berufsabzeichen an¬ 
zulegen, die von vornherein jeden Zweifel ausschließen. Einer eingehenden Wür- 
<tigung unterzieht B. auch die Aufgaben und Leistungen der in sozialer Arbeit 
auf dem Gebiete der sogenannten „freiwilligen“ Krankenpflege tätigen Frau und 
rollt von neuem die Frage eines „Frauendienstjahres“ oder einer „Kriegsdienst¬ 
pflicht der Frau“ in der Kranken- und Gemeindepflege unter Mitwirkung des Staates 
auf, deren gesetzmäßige Durchführung etwa unter entsprechendem Ausbau der 
bereits vorhandenen Organisationen der freiwilligen Krankenpflege nicht nur von 
weittragender Bedeutung sei für die Vorbereitung der Kriegshilfstätigkeit, sondern 
in ihrer Wirkung auch eine wertvolle Bereicherung für den Frieden im Erwerbs¬ 
leben sowohl wie innerhalb der Familie bedeute. 

Über Sicherheits- und Desinfektionsmaßnahmen in stark besetzten Seuchen¬ 
abteilungen gibt Schmidt (19) hygienische Winke. Verf. geht davon aus, daß be¬ 
stimmte Kranke ihre Umgebung in viel höherem Maße gefährden als andere; es 
sind solche, bei denen eine Massenausscheidung von Bazillen stattflndet; da ist 
das Verspritzen diarrhoischer Stühle eine stete Quelle hochgradiger Ansteckungs¬ 
gefahr. Tröpfcheninfektion bei typhöser Angina, Übertragung durch Erbrochenes, 
besonders galliges, zieht Schmidt in das Bereich seiner Betrachtungen, die Fliegen¬ 
gefahr am Krankenbett erwähnt er, und er empfiehlt, nicht nur dem Wart- und 
Pflegepersonal peinlichste Sorgfalt und Reinlichkeit einzuprägen, sondern auch 
Patienten mit gravierender Ansteckungsgefahr besonders kenntlich zu machen, 
etwa durch Anbringung eines Vermerks oder farbigen Striches auf der Bettafel, 
ferner bakteriologische Untersuchung auf die Desinfektionswirkung des öfteren 
vorzunehmen. 

Dees (7) veröffentlicht Schriftsätze, die in Hinsicht auf Typhusprophylaxe 
gewechselt waren. Es handelt sich um rasch zu schaffende Vorkehrungen zum Aus¬ 
kochen der Eß- und Trinkgeschirre in infizierten Abteilungen in Gabersee. Prof. 
Gruber vom Hygienischen Institut in München äußert sich gutachtlich über die 
Zweckmäßigkeit der Einschaltung doppelwandiger Kochkessel in die vorhandene 
Zentralwarmwasserleitung bzw. Heizleitung, wodurch eine für die Desinfektion 
ausreichende Temperatur, 75—80 # , wohl erreicht werde. Die Einrichtung wurde 


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Bericht über die psychiatrische Literatur HUT». 

ausgeführt. Sie ist zwar nur Notbehelf, entspricht aber ihrem Zweck. Dees empfiehlt,, 
bei Neubauten und Neuanlagen auf die Erfüllung strengster Anforderungen der 
Hygiene auch in dieser Beziehung Bedacht zu nehmen. 

II. Anstaltsberichte. 

1. Alsterdorfer Anstalten in Hamburg-Alsterdorf. Bericht für 

1914/15. Dir.: Oberarzt Dr. Palmer. (S. 176*. ) 

2. Badische Irrenanstalten. Berichte der Psychiatr. Klinik der Uni¬ 

versität Heidelberg, der Psychiatrischen Klinik Freiburg i.Br., 
der Heil- und Pflegeanstalten Illenau, Pforzheim, Emmen¬ 
dingen, Wiesloch und Konstanz. Mitgeteilt vom Großherzogi. 
Badischen Ministerium des Innern. 1913 u. 1914. (S. 165*. i 

3. Bayreuth. Oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 

1914. Dir.: Dr. Hock. (S. 172*.) 

4. Bergmannsvvohl. Unfall-Nervenheilanstalt der Knappsehafts- 

B.-G. Schkeuditz (Bez. Halle a. S.). Bericht für 1914. Chef¬ 
arzt: Prof. Dr. Quensel. (S. 155*. ) 

5. Berlin. Bericht der Deputation für die Städtische Irrenpflege. 

Berichte über die Anstalten Dalldorf, Herzberge, Buch und 
Wuhlgarten. Etatsjahr 1914. (S. 151*.) 

6. Breslau. Städtische Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke. 

Bericht für 1914. Primärarzt : San.-Hat Dr. Hahn. (S. 153*. ► 

7. Burghölzli. Züricher Kantonale Irrenheilanstalt. Bericht für 

1914. Dir.: Prof. Dr. Bleuler. (S. 176*.) 

S. Cery (Lausanne). Asile. Rapport pour 1914. Dir: Dr. Mahaim. 
(S. 180*.) 

9. (’onradstein. Westpreußische Provinzial-Heil- und Pflege¬ 
anstalt. Bericht für 1914. Dir. : Dr. Braune. (S. 151*.) 

10. Dannemora (N. Y.). State Hospital. Report of the Med. Super¬ 

intendent. 1914. (S. 181*.) 

11. Eglfing. Oberbayer. Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1914. 

K. Dir.: Med.-Rat Dr. Vocke. (S. 169*.) 

12. Eichberg i. Rheingau. Landesheil- und Pflegeanstalt. Bericht 

für 1914. Dir.: Dr. Wachsmuth. (S. 162*.) 

13. Ellen (Bremen), St. Jürgenasyl für Geistes- und Nervenkranke. 

Bericht für 1914. Dir.: Dr. Delbrück. (S. 174*.) 

14. Ellikon a. d. Thur. Trinkerheilstätte. Bericht für 1914. (S. 179*.) 


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Sn eil, Anstal tswesen und Statistik. 


147* 

lö. Gabersee. Oberbayer. Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1914. 
Dir.: Kgl. Med.-Rat Dr. Dees. (S. 171*.) 

16. Gehlsheim. Großherzogi. Mecklenburgische Irren-Heil- und 

Pflegeanstalt. Bericht für 1914. Dir.: Dr. Bumke. (S. 163*.) 

17. Göttingen. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 

1914/15. Dir.: Prof. Dr. SchuUze. (S. 158*.) 

18. Haar. b. München. Oberbayer. Heil-und Pflegeanstalt. Bericht 

für 1914. Dir.: Dr. Blachian. (S. 170*.) 

19. Hamburg. Jahresbericht des Krankenhauskollegiums für das 

Jahr 1914 (S. 176*.) Berichte der Irrenanstalten Friedrichs¬ 
berg, Dir. : Prof. Dr. Weygandt (S. 176*. ); Langenhorn, Dir. : 
Prof. Dr. Neuberger (S. 176*). 

20. Herborn. Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1914. 

Dir.: San.-Rat Dr. R. Snell. (S. 162*.) , 

21. Hessen (Großherzogt.). Hilfsverein für die Geisteskranken in 

Hessen. Bericht für 1914. (S. 165*.) 

22. Hildesheim. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 

1914/15. Dir.: San.-Rat Dr. Schröder. (S. 157*.) 

23. Hördt. Bericht der Gemeinsamen Irrenanstalt. 1914/15. Dir.: 

Dr. Haberkant. (S. 174*.) 

24. Homburg (Pfalz). Pfälzische Heil- und Pflcgeanstalt. Bericht 

für 1914. Dir.: Dr. Holterbach. (S. 171*.) 

25. Königsfelden (Aargau). Kantonale Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1914. Dir. : Dr. Frölich. (S. 177*.) 

26. Kreuzburg (Schlesien). Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1914. Dir.: Dr. Linke. (S. 154*.) 

27. Kutzenberg. Oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht 

für 1914. Dir.: Dr. Oetter. (S. 173*.) 

28. Langenhagen. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 

1914. Dir.: San.-Rat Dr. Mönkemöller. (S. 159*.) 

29. Lewenberg, Kinderheim zu Schwerin. Großherzog!. Heil- i nd 

Pflegeanstat für geistesschwache Kinder. Bericht für 1914/15. 
Dir.: Dr. Rust. (S. 164*.) 

30. Leubus. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1914. 

Dir.: San.-Rat Dr. Hinter. (S. 154*.) 

31. Lindenhaus bei Lemgo. Fürstl. Lippische Heil- und Pflege¬ 

anstalt. Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr.,4 Her. (S. 173*.) 


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148* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


32. Lüben i. Schles. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht 

für 1914. Dir.: Dr. Schubert. (S. 155*.) 

33. Lüneburg. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 

1914/15. Dir.: San.-Rat Dr. 0. SneU. (S. 158*.) 

34. Mariaberg, O.-A. Reutlingen, Württemberg. Heil- und Pflege¬ 

anstalt für Schwachsinnige. Bericht für 1914/15. Anstalt>- 
arzt: Med.-Rat Dr. Burkarth. (S. 165*.) I 

35. Münsterlingen. Thurgauische Irrenanstalt. Bericht für 1914 

Dir.: Dr. Wille. (S. 178*.) 

36. Neustadt. Westpreußische Provinzial-Heil- und Pflegeanstah. 

Bericht für 1914. Dir.: San.-Rat Dr. Rdbbas. (S. 150*.) 

37. Neustadt i. Holstein. Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Be¬ 

richt für 1914/15. Dir.: San.-Rat Dr. Dabeistein. (S. 159*. 

38. Niedernhart in Linz. Oberösterreichische Landesirrenanstak 

Bericht für 1914. Dir.: Dr. Schnopfhagen. (S. 180*.) 

39. Osnabrück. Provinzial-Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1911 

Dir.: San.-Rat Dr. Schneider. (S. 158*.) 

40. Ostpreußen, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Allenberg. 

Kortau und Tapiau. Bericht für 1914. (S. 150*.) 

41. Rheinprovinz. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege¬ 

anstalten Andernach, Bedburg-Hau, Bonn, Düren, Galk- 
hausen, Grafenberg, Johannistal, Merzig und Brauweiler. 
1914/15. (S. 160*.) 

42. Rockwinkel bei Bremen. Sanatorium für Nerven- und Gemüts¬ 

kranke. Bericht für 1914. Dr. med. W. Benning. (S. 175*.» 

43. Roda, Genesungshaus. Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr. 

Schäfer. (S. 164*.) 

44. Roda, Herzogi. Sachs. Martinshaus, Erziehungsanstalt für 

geistesschwache Knaben und Mädchen von 6—16 Jahren. 
Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr. Schäfer. (S. 165*.) 

45. Rosegg, Heil- und Pflegeanstalt im Kanton Solothurn. Bericht 

für 1914. Dir.: Dr. Greppin. (S. 178*.) 

46. Sachsenberg bei Schwerin i. M. Großherzogi. Mecklenburgische 

Irrenanstalt. Bericht für 1914. Dir.: Obermedizinalrat Dr. 
Matusch. (S. 164*.) 

47. Schleswig (Stadtfeld). Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Be¬ 

richt für 1914/15. Dir.: Dr. Kirchhoff. (S. 160*.) 


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Snell, Anstaltswesen and Statistik. 


149* 


48. Schwetz a. d. Weichsel. Westpreußische Provinzial-Heil- und 

Pflegeanstalt. Bericht für 1914. Dir.: San.-Rat Dr. Schauen . 
(S. 150*.) 

49. Sonnenhalde bei Riehen (Basel). Evangelische Heilanstalt für 

weibliche Gemütskranke. Bericht für 1914/15. (S. 180*.) 

50. Stephansfeld. Bezirksheilanstalt. Bericht für 1914/15. Dir.: 

Dr. Ransohoff. (S. 174*.) 

51. St. Pirminsberg (St. Gallen). Heil- und Pflegeanstalt. Be¬ 

richt für 1914. Dir.: Dr. Haeberlin. (S. 179*.) 

52. Strecknitz (Lübeck). Krankenanstalt des Lübeckischen Staates 

für Nervöse und Geisteskranke. Bericht für 1914/15. Dir.: 
Dr. Wattenberg. (S. 175*.) 

53. Ungarn. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1914. Berichte über 

die Anstalten Lipotmezö, Angyalföld, Nagyszeben und 
Nagykällö. Veröffentlicht vom Königl. Ungarischen Ministe¬ 
rium des Innern. (S. 181*.) 

54. Waldau, Münsingen, Bellelay. Bernische kantonale Irren¬ 

anstalten. Berichte für 1914. (S. 177*. 178*.) 

55. Waldhau8 (Chur). Kantonale Irren- und Krankenanstalt. Be¬ 

richt für 1914. Dir.: Dr. Järger. (S. 180*.) 

56. Wehnen. Großherzogi. Oldenburgische Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1914. Dir.: Med.-Rat Dr. Brümmer (S, 163*.) 

57. Werneck. Unterfränkische Heil-und Pflegeanstaft. Bericht für 

1914. Dir.: Med.-Rat Dr. Kauffmann. (S. 171*.) 

58. Wernigerode-Hasserode. „Zum Guten Hirten,“ Erziehungs¬ 

haus für schwach- und blödsinnige Mädchen. Bericht für 
1914/15. (S. 173*.) 

59. Weilmünster. Landes-Heil-und Pflegeanstalt. Bericht für 1914. 

Dir.: San.-Rat Dr. Lantzius-Benninga. (S. 163*.) 

60. Westfalen. Berichte über die Westfälischen Anstalten für 

Geisteskranke und Idioten zu Marsberg, Lengench, Münster, 
Aplerbeck, Warstein, Gütersloh, Eickelborn und St. Jo¬ 
hannisstift zu Nieder-Marsberg. 1914. (S. 156*.) 

61. Wil (St. Gallen). Kantonales Asyl. Bericht für 1914. Dir.: 

Dr. Schüler. (S. 179*.) 

62. „Woltersdorfer Schleuse“, Kurhaus. Neunter Jahresbericht. 

1914. Leit. Arzt: Dr. Grabley. (S. 153*.) 


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150* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


Der Bericht der Anstalten Allenberg, Kortau, Tap iau (40) beschränkt 
sich infolge der Kriegswirren auf allgemeineAngaben. Der Gesundheitszustand 
war im allgemeinen gut. In Kortau waren bis zum Jahresschluß 26 geisteskranke 
Soldaten aufgenommen. Tapiau hat, wie bekannt, schwer gelitten. Die größere 
Anzahl der Kranken konnte rechtzeitig abgeführt werden, von den Zurückgebliebe¬ 
nen wurden durch einschlagende Granaten 10 w. Patienten getötet, 25 zum Teil 
schwer verwundet. 

Schwetz a.W.(48): Anfangsbestand 858(464 M. 394 Fr.). Zugang 198 (130 
M. 68 Fr.). Abgang 175 (104 M. 71 Fr.). Bleibt Bestand 881 (490 M. 391 Fr.), 
davon in Familienpflege 60. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 142 
(81 M. 61 Fr.), paralytischer Seelenstörung 18 (17 M. 1 Fr.), Seelenstörung mit 
Epilepsie 13 (9 M. 4 Fr.), mit Hysterie 1 Fr., Alkoholismus 7 M., Imbezillität 7 
(6 M; 1 Fr.), Idiotie 2 Fr. Zur Beobachtung gerichtsseitig zugewiesen 5 (4 M. 1 Fr.), 
auf Antrag der Landesversicherungsanstalt 3 M.; aus der Beobachtung abgegeben 
8(5M. 3 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 25 M. lFr. Krankheits¬ 
dauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 79 (62 M. 17 Fr.), über 1—6 Monate 27 
(12 M. 15 Fr.), 6—12 Monate 10 (8 M. 2 Fr.), 1—2 Jahre 10 (4 M. 6 Fr.), 2—5 Jahre 
26 (13 M. 13 Fr.), 5—10 Jahre 7 (1 M. 6 Fr.), Dauer unbestimmt bei 32 (25 M. 

7 Fr.), von Jugend auf bei 3 M. Familienanlage nach dem Schema des Kgl. Preuß. 
Stat. Landesamtes bei 19 M. 5 Fr. Sonstige Krankheitsursachen u. a. Kopfver¬ 
letzung bei 12, Alkoholismus 21, Lues 15, Mobilmachung28, Gemütserschütterung 
11, Gram 3. überhaupt ursächliche Einwirkungen festgestellt bei 138 (96 M. 42 Fr.). 
Entlassen geheilt 14 (13 M. 1 Fr.), gebessert 56 (38 M. 18 Fr.), ungeheilt 19 (9 M. 
10 Fr.), in andere Anstalten verlegt 5 (4 M. 1 Fr.). Gestorben 71, davon an Hirn- 

'fehmung 10, Lungentuberkulose 7, Lungenentündung 7, Herzleiden 8, Paralyse 2 , 
ErsWJfWMBfL 16, Altersschwäche 8, geh. kl. Anfälle 2. — Gesamtausgabe: 
496 136,59 M. * 

Neustadt i. Westpr. (36): Anfangsbestand 645 (318 M. 327 Fr.). Zugang 
264 (136 M. 128 Fr.). Abgang 176 (89 M. 87 Fr.). Bleibt Bestand 733 (365 M. 
368 Fr.), davon in Familienpflege 25. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 
197 (92 M. 105 Fr.), paralytischer Seelcnstörung 25 (20 M. 6 Fr.), Epilepsie, Hv- 
steroepilepsie 9 (4 M. 5 Fr.), Imbezillität, Idiotie 16 (6 M. 10 Fr.), Alkoholismus 13 
(UM. 2 Fr.). Nicht geisteskrank 5 (4 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor der Auf¬ 
nahme bis 1 Monat bei 92, 2 Monate 24, 6 Monate 28,1 Jahr 34, 2 Jahre 81. Krank¬ 
heitsursachen: psychische Ursachen (auch infolge derKriegsereignis.se) bei 26 M., 
16 Fr., körperliche Erkrankung 1 M. 4 Fr., Wochenbett, Schwangerschaft 6 Fr., 
Syphilis 7 M. 1 Fr., Trunksucht 12 M. 1 Fr., Unfall 2 M., Kopfverletzung 6 M. 
Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 39; davon vor der Erkrankung 14 M. 

8 Fr., nachher 15 M. 2 Fr. Erbliche Belastung der Aufgenommenen bei 64 (28 M. 
36 Fr.), davon Alkoholkranke 5 (4 M. 1 Fr.). Familienanlage bei 73, zu Trunksucht 
18. Entlassen 109 P., davon geheilt 52 M. 57 Fr. = 34,9 %, gebessert 20 M. 22 Fr. = 
38,5 % ungeheilt 13 M. 9 Fr. = 20,2 %. Nicht geisteskrank 6 M. 1 Fr. Gestorben 
67 (37 M. 30 Fr.) (= 7,4 % aller Veipflegten, 81 % M. 6,6 % Fr.), davon an Him- 
lähmung 11, gehäuften Krampfanfällen 6, Herzkrankheiten 16, Lungcnentzün- 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


151* 


<lung 7, Tuberkulose 8, Erschöpfung und Altersschwäche 6, Typhus 1. — Gesamt¬ 
ausgabe: 469 707,63 M. 

Conradstein (9): Anfangsbestand 1376 (739 M. 637 Fr.). Zugang 223 
<119 M. 104 Fr.). Abgang 229 (126 M. 103 Fr.). Bleibt Bestand 1370 (732 M. 
(»38 Fr.), hiervon in Familienpflege 121 P. Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬ 
störung 169 (75 M. 94 Fr.), paralytischer Seelenstörung 13 (11 M. 2 Fr.), Seelen- 
•störung mit Epilepsie 11 (8 M. 3 Fr.), angeborene Geistesschwäche 7 (2 M. 5 Fr.), 
Alkoholismus 16 M. Zur Beobachtung aufgenommen 7 M., abgegeben 6 M. Krank¬ 
heitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 79 = 35,43 %, bis 2 Monate 21 = 
9,48 %, 3 Monate 12 = 5,38 %, 6 Monate 17 = 7,62 %, bis zu 1 Jahr bei 24 = 
10,76 %, 2 und mehr Jahre 70 = 31,39 %. Als Krankheitsursachen angegeben 
Altersvorgänge bei 1 M: 19 Fr., psychische Ursachen 12 M. 20 Fr., Epilepsie 8 M. 
4 Fr., Unfall, Kopfverletzung 3 M. 1 Fr., Haft 1 M., Typhus, Hirnhautentzündung 
1 M. 3 Fr., Arteriosklerose, Schlaganfall 1 M. 3 Fr., Basedowkrankheit, Kleinhim- 
tumor je 1 Fr., Nervenkrankheiten 2 Fr., Vitium cordis 1 Fr., Wochenbett, Geburt, 
Menstruationskrankheiten usw. 7 Fr., Sonnenstich 2 Fr., Dienst in der Fremden¬ 
legion 1 M., Syphilis 10 M. 3 Fr.. Trunksucht 20 M. 2 Fr. Mit dem Strafgesetz 
in Konflikt 37 (30 M. 7 Fr.). Erblich belastet 55 (25 M. 30 Fr.), davon Alkohol¬ 
kranke 6, Veranlagung Familienangehöriger zu Trunksucht bei 17 P. Entlassen 
geheilt 24 (17 M. 7 Fr.), gebessert 73 (45 M. 28 Fr.), ungeheilt 11 (5 M. 6 Fr.). Ge¬ 
storben 114 (62 M. 62 Fr.), davon an Infektionskrankheiten 4, Ernährungsstörun¬ 
gen 8. Krankheiten des Nervensystems 16, der Atmungsorgane 43, des Gefä߬ 
systems 21, an Darm- und Leberkrankheiten 17, Krebs 5. — Die epidemischen 
Typhuserkrankungen (i. Vorj. 64 Fälle) erreichten ihr Ende mit 1 Fall im April 
des Berichtsjahres. 3 neue Fälle. Zu den 14 Bazillenträgern des Vorjahres kamen 
hinzu von den Neuaufnahmen 2 (1 M. 1 Fr.), alsdann 1 Pflegerin und 3 weibl. P. 
aus Tapiau. Die Untersuchung nach Bazillenträgern ist ununterbrochen vorgenom- 
men. 12 Ruhrerkrankungen mußten dem Kreisarzt gemeldet werden. Vorüber¬ 
gehend waren gelegentlich des Russeneinfalles im August 770 Kranke, 165 Ärzte 
und Beamte und 220 Familienangehörige der Anstalt in Tapiau, insgesamt 1155 
Personen, in Conradstein untergebracht. — Gesamtausgabe: 843 333,22 M. 

Nach dem Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin (5) hatte die 
städtische Irrenpflege im Etatsjahr einen Gesamtanfangsbestand von 8328 
(4373 m. 3955 w.) Pat., einen Gesamtschlußbestand von 8051 (4159 m. 3892 w.) 
Pat., bei einer um 210 P. geringeren täglichen Durchschnittszahl als im Vorjahre. 
Im einzelnen ist zu entnehmen für: 

Dalldorf: Anfangsbestand 2884 (1440 m. 1444 w.). Zugang 856 (497 iu. 
359 w.). Abgang 1013 (605 m. 408 w.). Bleibt Bestand 2727 (1332 m. 1395 w.). 
Davon in der Hauptanstalt 1202 (678 m. 524 w.), in der Idiotenanstalt 179 (114 m. 
65 w.), in Privatanstalten 984 (345 m. 639 w.), in Familienpflege 362 (195 m. 167 w.). 
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 362 (132 m. 230 w.), paralytischer 
Seelenstörung 122 (91 m. 31 w.), Seelenstörung mit Epileps-ie 30 (16 m. 14 w.), 
mit Epilepsie und Hysterie 14(5 m. 9w.), Idiotie, Imbezi.lität 161 (87 m. 64 w.), 
chronischem Alkoholismus 151 (144 m. 7 w.), Morphiumsucht 3 (2 m. 1 w.). Zur 


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152* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1916. 


Beobachtung überwiesen 23 (20 m. 3 w.), wieder abgegeben 23 (19 m. 4 w.). Mit 
dem Strafgesetz in Konflikt 98 (84 m. 14 w.); gewohnheitsmäßiger Alkoholmiß' 
brauch bei 151 (144 m. 7 w.). Entlassen geheilt, gebessert 488 (294m. 194 w.),unge¬ 
teilt 144 (96 m. 48 w.). Gestorben 358 (196 m. 162 w.), davon an Altersschwäche 
4 (2 m. 2 w.), Herzkrankheiten 156 (86 m. 70 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem 
Anfall 61 (31 m. 30 w.), infolge Epilepsie 3 (2 m. 1 w.), Tuberkulose 11 m.; Selbst¬ 
mord 1 w. 

H e rzberge: Anfangsbestand 1672 (899 m. 773 w.). Zugang 1423 (1098 m. 
325 w.). Abgang 1451 (1104 m. 347 w.). Bleibt Bestand 1666 (893 m. 773 w.), 
davon in der Hauptanstalt 1241 (731 m. 510 w.), in Privatanstalten 289 (77 m. 
212 w.), in Familienpflege 136 (85 m. 51 w.). Vom Zugang litten an einfacher Seelen- 
Störung 1088 (848 m. 240 w.), paralytischer Seelenstörung 165 (118 m. 37 w.), 
Seelenstörung mit Epilepsie 84 (58 m. 26 w.), mit Epilepsie und Hysterie 3 (2 m. 
1 w.), Idiotie, Imbezillität 63 (45 m. 18 w.). Zur Beobachtung aufgenommen 30 
(27 m. 3 w.), abgegeben 38 (36 m. 2 w.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt 679 
(648 m. 31 w.); gewohnheitsmäßiger Alkoholmißbrauch bei 636 (619 m. 16 w.)- 
Entlassen geheilt, gebessert 872 (770 m. 102 w.), ungeheilt 218 (101 m. 117 w.). 
Gestorben 281 (174 m. 107 w.), davon an Altersschwäche 32 (3 m. 29 w.), Herz¬ 
krankheiten 136 (122 m. 14 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem Anfall 26 (17 m. 
9 w.), Tuberkulose 13 (8 m. 6 w.). 

Buch: Anfangsbestand 2337 (1176 m. 1161 w.). Zugang 867 (590 m. 277 w.). 
Abgang 920 (643 m. 286 w.). Bleibt Bestand 2275 (1123 m. 1162 w.), davon in 
der Hauptanstalt 1782 (936 m. 846 w.), in Privatanstalten 343 (126 m. 217 w.), 
in Familienpflege 150 (61 m. 89 w.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 
336 (143 m. 193 w.), paralytischer Seelenstörung 141 (108 m. 33 w.), Seelenstörung 
mit Epilepsie 37 (2 m. 15 w.), Idiotie Imbezillität 106(76 m. SO w.), 106 an chro¬ 
nischem Alkoholismus 227 (224 m. 3 w.). Zur Beobachtung aufgenommen 20 (17 m. 

3 w.), abgegeben 20 (17 m. 3 w.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt 366 (351 m. 
15 w.); gewohnheitsmäßiger Alkoholmißbrauch bei 240 (233 m. 7 w.). Entlassen 
geheilt, gebessert 453 (361 m. 92 w.), ungeheilt 78 (50 m. 28 w.). Gestorben 378 
(216 m. 163 w.), davon an Altersschwäche 24 (11 in. 13 w.), Herzkrankheiten 167 
80 m. 87 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem Anfall 79 (61 m. 18 w.), infolge 
Epilepsie 6 (4 m. 2 w.), Tuberkulose 23 (4 m. 19 w.), Selbstmord 2 Fr. 

Wuhlgarten: Anfangsbestand 1435 (858 m. 577 w.). Zugang 467 (370 m. 
97 w.). Abgang 519 (417 m. 102 w.). Bleibt Bestand 1383 (811 m. 572 w.), davon 
in der Hauptanstalt 1280 (736 m. 544 w.), in Privatanstalten 95 (67 ra. 28 w.) T 
Familienpflege 8 M. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 3 m., Seelen- 
.störung mit Epilepsie 402 (317 m. 85 w.), mit Epilepsie und Hysterie 37 (33 m. 

4 w.), Idiotie, Imbezillität 5 (2 m. 3 w.), chron. Alkoholismus 10 (8 m. 2 w.). Be¬ 
straft sind von den Aufgenommenen 227 M. = 67% v. H., davon mit Arbeitshaus 
13 = 6% v. H., mit Haft 32 = 14*/ g v. H., mit Gefängnis 166 = 73’/g v. H., mit 
Zuchthaus 16 = 7 v. H., ferner 1 Fr. mit Haft = */$ v. H., der öffentlichen Pro¬ 
stitution ergeben 2 Fr. Gewohnheitsmäßiger Alkoholmißbrauch bei 238 M. Erb¬ 
liche Belastung der an Epilepsie, Hysterie und Hystero-Epilepsie Leidenden durch 


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Snell, Anstaltswesen und Statistik. 


153* 


Trunksucht der Eltern nachweisbar bei 106 M. = 31*/* v. H., 13 Fr. = 16% v. H. 
2 Kn. = 13 1 /* v. H., 2 Md. = 22% v. H.; Familienanlage (gleichzeitig erkrankte 
Geschwister) bei 36 M. = 10% v. H., 13 Fr. = 16% v. H., 2 Kn. = 13 1 /* v. H., 

1 Md. = ll 1 /» v. H. Erbliche Belastung überhaupt bei 195 M. = 58% v. H., 27 Fr. 
— 33*/, v. H., 4 Kn. = 26*/» v. H., 3 Md. = 33 1 /* v. H. — Entlassen geheilt, ge¬ 
bessert 399 (333 m. 66 w.), ungeheilt 57 (45 m. 12 w.). Gestorben 63 (39 m. 24 w.), 
davon an Epilepsie 10 (9 m. 1 w.), Hirnkrankheiten, paralytischem Anfall 7 (5 m. 

2 w.), Herzkrankheiten 4 Fr., Tuberkulose 6 (4 m. 2 w.). — Gesamtausgabe: 
7 629 370,71 M. ausschließlich Idiotenanstalt, davon Kriegsausgaben 91140,31 M. 

„Woltersdorfer Schleuse“ b. Berlin (62): Anfangsbestand 19 (10 m, 
9 w.). Zugang 467 (241 m. 226 w.) = 486 P. mit 17 635 Verpflegungstagen = 36 
Verpflegungstage pro Kopf. Von den Patienten litten an funktionellen Neurosen 
153, organischen Nervenleiden 20, Intoxikationen (Alk., Morph.) 13, Neuralgien, 
Neuritiden 9; im übrigen Stoffwechsel- und Konstitutionskrankheiten (101), 
Herz- und Gefäßkrankheiten (103), Krankheiten der Atmungsorgane, der Bauch¬ 
organe, gynäkolog. Erkrankungen, chirurgisch, maligne Tumoren, Hautkrank¬ 
heiten; Rekonvaleszenten 14. Geheilt entlassen 230 (113 m. 117 w.), gebessert 
213 (116 m. 97 w.), ungeheilt 31 (16 m. 15 w.). Gestorben 12 (11 m. 1 w.), davon 
an Herzlähmung (bei Myokarditis) 7, Apoplexie 3, Karzinom und tertiäre Lues 
je 1 P. — Die Krankenbewegung seit 1906 ergibt für 1906 = 300 P., davon un¬ 
geheilt 35, gestorben 7; 1907 = 280 (ungeheilt 33, gestorben 7), 1908 = 291 
(ungeheilt 24, gestorben 7); 1909 = 343 (ungeheilt 23, gestorben 7); 1910 = 363 

(ungeheilt 22, gestorben 7); 1911 = 459 (ungeheilt 25, gestorben 12); 1912 = 530 

(ungeheilt 53, gestorben 7); 1913 = 650 (ungeheilt 69, gestorben 7); 1914 = 486 

(ungeheilt 31, gestorben 12). — In dem dem Sanatorium angegliederten Vereins¬ 

lazarett, und zwar innerhalb der Anstalt, wurden bis zum Jahresschluß behandelt 
und verpflegt 187 verwundete und kranke Heeresangehörige. Zunächst waren für 
ständige Aufnahmen 50 Betten vorgesehen, die Zahl ist auf weitere 50 erhöht und 
sind z. Z. 30 Offiziere und 70 Mannschaften durchschnittliche Belegung. Reiche 
Erfahrung an Kriegsneurosen und Herzerkrankungen und sonstigen Kriegsver¬ 
letzungen. 

In der städt. Heil- und Pflegeanstalt zu Breslau (6) war der Bestand 
am Jahresanfang 202 (94 m. 108 w.). Zugang einschließlich der behandelten Mili¬ 
tärpersonen 1100 (670 m. 430 w.). Abgang 1167 (704 m. 463 w.). Bleibt Bestand 
116 (40 m. 75 w.). Die nicht unerhebliche Steigerung der Aufnahmezahl der Frauen 
(431 gegen 371 des Vorjahres) ist verursacht durch die Sperrung der Psych. Klinik 
der Universität für Frauenaufnahmen. Vom Krankenzugang litten an einfach er¬ 
worbenen Psychosen 281 (124 m. 157 w.), konstitutionellen Psychosen 98 (54 m. 
44 w.), epileptisch-hysterischen Formen 119 (48 m. 71 w.), alkoholischen und an¬ 
deren intox. Psychosen 343 (301 m. 42 w.), paralytischen, senilen und sonstigen 
organischen Geisteskrankheiten 259 (143 m. 116 w.). Von 1146 aus der Pflege 
Ausgeschiedenen wurden entlassen geheilt 182 = 16,9 %, gebessert 463 = 39,5 %, 
ungeheilt 385 = 33,6 %, von diesen sind an andere Anstalten überwiesen 296. 
Gestorben sind 126 = 11 %, darunter 18 der an symptomat. Geisteskrankheit 


Zeitichrift für Psychiatrie 1 1. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Leidenden, 15 Alkoholkranke, 17 Paralytiker, an Arteriosklerose und postapoplekt-. 
Geisteskrankheiten Leidende 11, Senile 34. — Gesamtausgabe: 299 375,54 M. 

Leubus (30): In der öffentlichen Anstalt war ein Anfangsbestand von 
913 P. (479 M. 434 Fr.). Zugang 201 (97 M. 104 Fr.). Abgang 193 
(110 M. 83 Fr.). Bleibt Bestand 921 (466 M. 465 Fr.), davon in Fa- 
milienpflege 9 M. Außerdem waren 60 Kranke von Taupiau, gelegentlich des Russen¬ 
einfalles, aufgenommen und 30 Kranke aus den Breslauer Anstalten. Von den 
regulär Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 152 (64 M. 88 Fr.), 
paralytischer Seelenstörung 21 (16 M. 6 Fr.), Imbezillität, Idiotie 11 (8 M. 3 Fr), 
Epilepsie mit Seelenstörung 10 (7 M. 3 Fr.), Migräne mit psych. Alteration, Hy¬ 
sterie je 1 Fr., Neurasthenie 3 Fr., Morphinismus und Lyssa je 1 M. Als Krank¬ 
heitsursachen u. a. angesehen Alkohol mißbrauch bei 6 M. 1 Fr., Morphium, Kokain 
je 1 Fr., Syphilis 18 (10 M. 8 Fr.). Erbliche Belastung bei 33 M. 32 Fr., Familien¬ 
anlage zu Trunksucht 8 M. 10 Fr. Zur Beobachtung aufgenommen 1 Pat. Mit dem 
Strafgesetz in Konflikt geraten 23 M. 6 Fr.; von diesen auf Grund § 81 Str.-P.-O. 
zur Beobachtung überwiesen 4 M. 2 Fr. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 
1 Monat 17 (7 M. 10 Fr.), 1—13 Monate 33 (15 M. 18 Fr.), 3—6 Monate 18 (4 M. 
14 Fr.), 6—12 Monate 22 (7 M. 15 Fr.), 1—5 Jahre 51 (29 M. 22 Fr.), über 6 Jahre43 
(23 M. 20 Fr.), von Kindheit an 12 (9 M. 3 Fr.), unbekannt 5 (3 M. 2 Fr.). Ent¬ 
lassen geheilt 5 (2 M. 3 Fr.), gebessert 62 (34 M. 28 Fr.), ungeheilt 28 (18 M. 10 Fr.), 
von diesen nach anderen Anstalten verbracht 15 M. 7 Fr., wieder aufgenommen 
4 M. 3 Fr.; nicht geisteskrank 1 Fr. Gestorben 97 (56 M. 7 Fr.) — 8,7 % der Ver¬ 
pflegten. Todesfälle infolge Paralyse bei 24 (18 M. 6 Fr.), Basedowscher Krankheit 

1 Fr., Tuberkulose 14 (6 M. 8 Fr.), Krankheiten der Atmungsorgane 11 (8 M. 3 Fr.), 
des Herzens und der Gefäße 14 (8 M. 6 Fr.), der Nieren und Geschlechtsorgane 4 
(2 M. 2 Fr.), Altersschwäche 3, Ruhr 7, Karzinom 6, Lyssa, Septikämie je 1 P.; 
Unglücksfall 1. An Ruhr erkrankten außer den Verstorbenen noch 7 M. 14 Fr. 
Der Fall von Lyssa zeichnete sich durch sehr lange Inkubationsdauer und lang¬ 
samen Verlauf aus. Die Diagnose wurde sichergestellt durch Untersuchung des 
Gehirns in der Wutschutzabteilung des Hygien. Instituts in Breslau. 

Kreuzburg (26): Anfangsbestand 651 (373 M. 278 Fr.). Zugang 93 (64 M. 
39 Fr.). Abgang 151 (89 M. 62 Fr.). Bleibt Bestand 693 (338 M. 256 Fr.). In Fa¬ 
milienpflege zu Beginn 25 (10 M. 15 Fr.), diese infolge des Krieges in die Anstalt 
zurückverlegt. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 70 (34 M. 36 Fr.), 
paralytischer Seelenstörang 10 (9 M. 1 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 3 M., 
Idiotie, Imbezillität 1 M., Fieberdelir bei Pneumonie 1 M. Zur Beobachtung auf¬ 
genommen 8 (6 M. 2 Fr.). Als Krankheitsursache in Betracht zu ziehen Syphilis 
bei 7 M., Trunksucht 7 M. 1 Fr., Kopfverletzung 3 M., Arterienverkalkung, Alters¬ 
veränderungen 5M. 5 Fr., Hitzeeinwirkung, Strafhaft je IM., Gemütserschütterung, 
Aufregung durch Krieg 6 Fr., Entbindung, Fehlgeburt 3 Fr. Erbliche Belastung 
nachweisbar bei 12 M. 18 Fr. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 19 M. 4 Fr. 
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 18 M. 10 Fr., 3 Monate 10 M. 
13 Fr., 6 Monate 5 M. 1 Fr., 1 Jahr 2 M. 5 Fr., 2 Jahre 2 M. 1 Fr., 6 Jahre 2 M. 

2 Fr., mehr als 5 Jahre 1 M., 10 Jahre 3 M. 5 Fr., von Kindheit an 2 M. — Ent- 


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lassen geheilt 27 (21 M. 6 Fr.), gebessert 37 (23 M. 14 Fr.), imgeheilt 1 Fr., in an¬ 
dere Anstalten verbracht 9 (7 M. 2 Fr.). Gestorben sind 71 (33 M. 38 Fr.), im Vor¬ 
jahre 75 (43 M. 32 Fr.). Todesursachen waren Gehirnerweichung bei 10 M. 1 Fr., 
Gehirnschlag, Gehimlähmung 3 Fr., Epilepsie 3 M., Lungen- und Brustfellent¬ 
zündung 2 M. 6 Fr., Tuberkulose 7 M. 7 Fr., Herzlähmung 2 M. 6 Fr., Entkräftung, 
Altersschwäche 7 M. 10 Fr., Darm- und Bauchfellentzündung 6 Fr., Gesichtsrose, 
Pemphigus, Eiterfieber je 1 P. Tägliche Beschäftigung der Männer 35,2%, der 
Frauen 49,7 % des Durchschnittsbestandes (im Vorj. 32,8 und 51,6 %). — In¬ 
folge der Lage, 18 km von der Grenze, und drohenden Russeneinfalles wurde an¬ 
fangs November die Anstalt geräumt und 680 P. und das nötige Personal nach Bunz- 
lau verbracht, dort verblieben 174 M. 12 Fr., die übrigen wurden auf andere An¬ 
stalten verteilt. Im Laufe des Frühjahres 1915 konnte der Rücktransport 
ohne Störung, stattfinden. Ara 4. März war die Anstalt wieder in Vollbetrieb. 

Lüben i. Schl. (32): Anfangsbestand 1097 (499 M. 598 Fr.). Zugang 242 
(147 M. 95 Fr.). Abgang 253 (155 M. 98 Fr.). Bleibt Bestand 1086 (491M. 695 Fr.) 
davon in Familienpflege 57 (12 M. 46 Fr.). Vorübergehend aufgenommen waren 
infolge des Kriegszustandes 20 P. der städt. Heilanstalt und 26 aus der Psychiatr. 
Universitätsklinik zu Breslau, ferner von der Heilanstalt Tapiau 30 M., Lublinitz 
569 Kr. Höchste Belegung mit Geisteskranken am 15. November 1914 mit 819 M. 
780 Fr., niedrigste am 22. März 1915 mit 451M. 521 Fr. Abgesehen von den Über¬ 
führungen litten vom Zugang an einfacher Seelenstörung 174 (90 M. 84 Fr.), para¬ 
lytischer Seelenstörung 26 M., Seelenstörung mit Epilepsie 14 (12 M. 2 Fr.), Hy¬ 
sterie 3 Fr., Alkoholismus 6 M., Imbezillität, Idiotie 9 (6 M. 3 Fr.), Dem. post- 
apoplectica 3 (1 M. 2 Fr.), multipler Sklerose, spinaler Muskelatrophie je 1 M., 
progressiver Muskelatrophie 1 Fr.; nicht geisteskrank 5. Gerichtlich bestraft 
waren 27 M. 3 Fr. Erblich belastet 49 M. 34 Fr. Abstammung von trunksüchtigen 
Eltern 15 M. 9 Fr. Als Krankheitsursache angegeben Gefangenschaft bei 1 M., 
Trunksucht 14 M. 1 Fr., Kopfverletzung 4 M., Chirurg. Operation 2 M., Entbin¬ 
dung 1 Fr., Syphilis 12 M. 3 Fr., Hypnose 1 M., Typhus 1 M., Krieg bei 8 M. 7 Fr. 
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 16 M. 18 Fr., 3 Monate 26 M. 
20 Fr., 6 Monate 16 M. 14 Fr., 1 Jahr 19 M. 7 Fr., 2 Jahre 11 M. 10 Fr., bis zu 
5 Jahren 18 M. 13 Fr., 10 Jahren 13 M. 6 Fr., über 10 Jahre 17 M. 5 Fr., Krank¬ 
heit von Kindheit an 7 M. 3 Fr. Entlassen geheilt 17 (8 M. 9 Fr.), gebessert 60 
(40 M. 20 Fr.), ungeheilt 64 (34 M. 30 Fr.), davon in andere Anstalten versetzt 
19 M. 19 Fr. Nicht geisteskrank entlassen 2 M., aus der Beobachtung 5 M. Ge¬ 
storben 105 (66 M. 39 Fr, im Vorjahre 77 M. 46 Fr.; Todesursachen: epilepti¬ 
scher Krampfzustand bei 4 M. 2 Fr., Epilepsie 4 M., Darmkatarrh 5 M. 7 Fr., Krebs 
5 Pers., Muskelatrophie 2, Altersschwäche 11, Nierenentzündung, Eiterfieber 3. — 
Einrichtung eines Reservelazarettes in zwei Häusern im Oktober des Berichts¬ 
jahres, z. T. umgewandelt in eine Beobachtungsabteilung für geistes- und nerven¬ 
kranke Heeresangehörige. — Gesamtausgabe: 527 722,93 M. 

Bergmannswohl (4): Anfangsbestand 47 (11 Beobachtungs-, 36 Be- 
Jhandlung8fälle). Aufgenommen 1198 (959 Beobacht., 239 Beh.). Abgang 1225 
{965 Beobacht., 260 Beh.). Bleibt Bestand 20 (5 Beobacht., 15 Behandl.). Zahl 

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156* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

der Verpflegungstage 16 080 (i. Vorj. 18 914), auf einen Kr. durchschn. 13,4 (i. V. 
12,7) Verpflegungstage. Auf die abgeschlossenen Beobachtungsfälle durchschn. 
6,27 (i. V. 6,6), auf abgeschlossene Behandlungsfälle 42 (wie i. V.). Verpflegungs¬ 
tage. Unter den Diagnosen figurieren Nervenschwäche mit 410, Hysterie 199 r 
Epilepsie 40, angeborener Schwachsinn 18, Gehirnerschütterung, Kommotions- 
neurose 666, Hemiplegie 13, Arteriosklerose 103, sonstige Befunde aller Arten 
mit p. p. 1—12 Fällen. Mit Kriegsausbruch ist die Anstalt einem Reservelazarett 
angegliedert, zunächst zur Verfügung gestellt 130 Betten. Zur Behandlung kommen 
hauptsächlich Nervenverletzungen und nervöse Erkrankungen. 

Inden Heilanstalten der Provinz Westfalen (60) war ein Gesamtanfangs¬ 
bestand von 5286 Kr. Zugang 1457. Abgang 1310. Bleibt Gesamtbestand 5432. 
Jährliche Durchschnittszunahme in den letzten 5 Jahren 223, im Berichtsjahre 
147. Neuaufnahmen gegen das Vorjahr geringer um 153. In den einzelnen An¬ 
stalten war folgende Krankenbewegung: 

Marsberg: (Vorhandene Plätze für 595 Kr. — 329 M. 266 Fr. —, außer¬ 
dem für Familienpflege für 30 P.) Anfangsbestand 590 (316 M. 274 Fr.). Zugang 
107 (57 M. 50 Fr.). Abgang 92 (62M. 30 Fr.). Bleibt Bestand 606 (311 M. 294 Fr.), 
davon in Familienpflege 13 M. 6 Fr. Unter den Aufgenommenen 1 deutscher Soldat, 
5 Kriegsgefangene. Entlassen geheilt 10 (5 M. 5 Fr.) = 11,9% der reinen Auf¬ 
nahmen, gebessert 35 (21 M. 14 Fr.), ungeheilt 6 (4 M. 1 Fr.), davon anderen An¬ 
stalten überwiesen 2 M. 1 Fr.; ferner entlassen 2 Pensionäre und nach Beobachtung 
3 M. Gestorben 37 (29 M. 8 Fr.) = 5,31 % der Verpflegten. 

Lengerich: (Vorhandene Plätze für 846 Kr. — 439 M. 406 Fr. —, davon 
für Familienpflege 180). Anfangsbestand 813 (435 M. 378 Fr.). Zugang 158 (83 M. 
75 Fr.). Abgang 156 (100 M. 50 Fr.). Bleibt Bestand 815 (412 M. 403 Fr.), davon 
in Familienpfiego 184 (89 M. 95 Fr.), von diesen bei Beamten und Angestellten 
der Anstalt 4 M. 16 Fr. Vom Bestand entlassen als geheilt 22 (15 M. 17 Fr.), ge¬ 
bessert 53 (43 M. 10 Fr.), ungeheilt 23 (16 M. 8 Fr.), nach anderen Anstalten ver¬ 
legt 2 M. 2 Fr.; entlassen als ungeeignet 1 Fr. Gestorben 43 (24 M. 19 Fr.). 

Münster: (Planmäßige Verpflegung für 650 Kr. — 300 M. 360 Fr.—, außer¬ 
dem 15 Plätze für Familienpflege). Anfangsbestand 634 (268 M. 366 Fr.). Zu¬ 
gang 317 (210 M. 107 Fr.). Abgang 293 (181 M. 112 Fr.). Bleibt Bestand 668 
(297 M. 361 Fr.), davon in Familienpflege 19 P., auf dem Oktober 1913 über¬ 
nommenen Anstaltsgute Kinderhaus 25 M. Entlassen geheilt 33 (22 M. 10 Fr.), 
gebessert 92 (41 M. 61 Fr.), ungeheilt 91 (70 M. 21 Fr.), davon anderen Anstalten 
zugeführt 41 M. 4 Fr.; nach Beobachtung entlassen 31 (27 M. 4 Fr.). Gestorben 
47 (21 M. 26 Fr.) = 4,94% der Verpflegten.—Der Krieg verursachte die Aufnahme 
von 112 Militärpersonen, überwiesen aus Lazaretten und von Truppenteilen des 
VII. Armeekorps. Zur Beobachtung zugeführt 10 M. Am Schluß des Berichts¬ 
jahres noch in Pflege 38 Heeresangehörige und 13 Kriegsgefangene. 

Aplerbeck: (Vorhandene Plätze 660 —346 M. 316 Fr. —, davon in Fa¬ 
milienpflege 23). Anfangsbestand 666 P. Aufgenommen 211 (105 M. 106 Fr.). 
Abgang 186 (96 M. 91 Fr.). Bleibt Bestand 691 P., davon in Familienpflege 9 M. 
11 Fr. Entlassen geheilt 16 (3 M. 13 Fr.), gebessert 60 (21 M. 29 Fr.), ungeheilt 


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48 (30 M. 18 Fr.), davon nach anderen Anstalten verbracht 24 (13 M. 11 Fr.), nach 
Lengerich in Familienpflege 9 M. 9 Fr. Aus der Beobachtung entlassen 18 (15 M. 
3 Fr.). Gestorben 51 = 6,16 % der Verpflegten. 

Warstein: (Vorhandene Plätze in der Anstalt 1413, in der Pflegerkolonie 
46). Anfangsbestand 1431 = (702 M. 729 Fr.). Zugang 368 (185 M. 183 Fr.). Ab¬ 
gang 339 (183 M. 156 Fr.). Bleibt Bestand 1460 (704 M. 756 Fr.), davon in Fa¬ 
milienpflege 101 (29 M. 72 Fr.). Entlassen geheilt 84 (40 M. 44 Fr.), gebessert 89 
(49 M. 40 Fr.), ungeheüt und nach anderen Anstalten verbracht =33 (21 M. 12 Fr.); 
^entlassen als nicht geisteskrank bzw. nach Beobachtung 16= (10 M. 6 Fr.).—Krieg 
als Ursache von Geisteskrankheit war angegeben bei den Männeraufnahmen in 
3 Fällen, 2 wurden nach mehrmonatlicher Behandlung geheilt entlassen, bei den 
Frauen 16 Fälle, nur in 2 Fällen jedoch wurde Einwirkung des Krieges festgestellt, 
und zwar bei ostpreußischen Flüchtlingen; sie wurden geheilt bzw. gebessert ent¬ 
lassen. 

Gütersloh: Die geplante Eröffnung und Inbetriebnahme der Anstalt konnte 
nicht erfolgen. Die Militärverwaltung hat die Räumlichkeiten zur Unterbringung 
von kriegsgefangenen Offizieren mietweise in Anspruch genommmen. • 

Eickelborn: (Platz vorhanden für 1190 Kr. — 617 M. 573 Fr. — und für 
110 Familienpfleglinge). Anfangsbestand 1154 (543 M. 608 Fr.). Zugang 296 (180 M. 
116 Fr.). Abgang 244 (136 M. 118 Fr.). Bleibt Bestand 1203 (587 M. 616 Fr.), 
davon in Familienpflege 85 (47 M. 38 Fr.), hiervon bei Beamten und Angestellten 
34 (6 M. 28 Fr.). Entlassen geheilt 21 (5 M. 16 Fr.), gebessert 105 (60 M. 45 Fr.), 
ungehcilt 10 (7 M. 3 Fr.), in andere Anstalten versetzt 19 (17 M. 2 Fr.); nach Be¬ 
obachtung entlassen 9 (8 M. 1 Fr.). Gestorben 80 (39 M. 41 Fr.) = 5,53 % der 
Verpflegten. — Im Bewahrhause waren untergebracht 58 Kr., davon 1 zur Be¬ 
obachtung. Aufgenommen 27 und 1 aus der Zentralanstalt. Insgesamt verpflegt 
also 86 Kr. Von den Aufgenommenen kamen aus Strafanstalten und Gefängnissen 
16. Nach der Zentralanstalt zurückverlegt wurden 4, nach anderen Anstalten ver¬ 
bracht 7, zur Strafanstalt bzw. Gefängnis wieder zurückgeführt 8. Entlassen 8 
Bleibt Bestand 27. 

Marsberg, St. Johannisstift: (Nach Belegung der Neubauten Platz für 
680 — 400 m. 280 w.). Anfangsbestand 570. Zugang 65 (33 m. 32 w.), davon 
unter 5 Jahre alt 3, 5—10 Jahre 36, 10—15 Jahre 24, 15—20 Jahre 2. Abgang 
55 (25 m. 30 w.). Bleibt Bestand 580. Entlassen gebessert 20 (10 m. 10 w.), un- 
geheilt 6 (4 m. 1 w.), davon nach anderen Anstalten verbracht 3. Gestorben sind 
30 (11 m. 19 w.) = 4,72 % der Verpflegten. Der weitere Ausbau der Familien¬ 
pflege unterblieb infolge der Kriegsverhältnisse. — Ein Lazarett des Roten Kreuzes 
für 80 Verwundete wurde im Werkstättengebäude eingerichtet. Verpflegt wurden 
vom Oktober bis zum 1. April 1915 = 128 Verwundete. Der von der Provinz und 
den einzelnen Heilanstalten gebildete Unterstützungsfonds für entlassene hilfs¬ 
bedürftige Geisteskranke verfügte einschließlich der laufenden Einnahmen über 
ein Gesamtvermögen von 39 409,13 M. Ausgegeben wurden für Unterstützungen 
6419,63 M. 

Hildesheim (22): Anfangsbestand 703 (409 M. 294 Fr.). Zugang 329 
(199 M. 130 Fr.). Abgang 345 (193 M. 152 Fr.). Bleibt Bestand 687 (415 M. 272 Fr.). 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 237 (121 M. 116 Fr.), Paralyse 46 
(43 M. 3 Fr.), Imbezillität, Idiotie 17 (16 M. 2 Fr.), Hysterie und Epilepsie 19 (12 M. 
7 Fr.), Alkoholismus (und Morphium) 7 M. Zur Beobachtung 3 (1 M. 2 Fr.). Als 
Krankheitsursachen beschuldigt Vererbung bei 46 (23 M. 22 Fr.), Trunksucht 
19 M., Syphilis 28 (26 M. 2 Fr.), Mobilisation, Kriegszustand, Verwundung im 
Kriege 19 M. 1 Fr., Unfall 4 (3 M. 1 Fr.). Aktive Soldaten aufgenommen 44, Kriegs¬ 
gefangene 12, Flüchtlinge 1M. 2 Fr. Entlassen geheilt 36 (16 M. 21 Fr.), gebessert 
63 (33 M. 30 Fr.), ungeheilt 29 (22 M. 7 Fr.), nach anderen Anstalten verbracht 
102 (38 M. 64 Fr.); nicht geisteskrank 5 M. 1 Fr. Gestorben 109 (80 M. 29 Fr.), 
davon infolge Paralyse 48, Lungenentzündung 17, Tuberkulose und Lungenschwind¬ 
sucht 6, im Status epil. 6, Gehirnblutung 4, Herzleiden 11, Altersschwäche 7. 

Göttingen (17): Anfangsbestand 646 (371 M. 176 Fr). Zugang 283 
(167 M. 116 Fr.). Abgang319 (190M. 129 Fr.). Bleibt Bestand510 (348M. 162Fr.), 
davon in Familienpflege 68 (48 M. 20 Fr.). Unter den Aufnahmen häufen sich 
die kriminellen Fälle immer mehr. Zur Beobachtung aufgenommen nur 7 M. 3 Fr. 
Entlassen geheilt 4M. 2 Fr., gebessert 115 (67 M. 48 Fr.), ungeheilt 126 (69 M, 
67 Fr.), davon nach anderen Anstalten überführt 54 (28 M. 26 Fr.); nicht geistes¬ 
krank 2 M. 4 Fr. — Mit Kriegsbeginn 100 Betten für Leichtverwundete und Er¬ 
krankte, darunter höchstens 50 geisteskranke Soldaten, der Militärbehörde zur 
Verfügung gestellt. Erste Belegung mit Verwundeten schon im August; höchs.er 
Stand im Oktober mit 100, davon viele Franzosen. Am Schluß des Berichts¬ 
jahres noch in der Anstalt 23 geisteskranke Soldaten (13 Deutsche, 7 Franzosen, 
2 Russen, 1 Engländer). 

Osnabrück (39): Anfangsbestand 396 (193 M. 203 Fr.). Zugang 201 
(114 M. 87 Fr.). Abgang 221 (107 M. 114 Fr.). Bleibt Bestand 376 (200 M. 176 Fr.). 
Zur Beobachtung aufgenommen nach § 81 Str.-P.-O. 4 M., davon geisteskrank 1. 
Mit dem Strafgesetz in Konflikt gewesen 16 M. 1 Fr. Entlassen geheilt 36 (17 M. 
19 Fr.), gebessert 66 (32 M. 23 Fr.), ungeheilt 96 (32 M. 64 Fr.), davon nach an¬ 
deren Anstalten 25 M. 62 Fr.; nicht geisteskrank 2 M. Gestorben 32 (24 M. 8 Fr.) 
= 6,36 % der Verpflegten, Tuberkulose als Todesursache bei 2 M. 1 Fr. — Mit 
Kriegsbeginn wurde das ehemalige Gertrudenkloster (bislang mit Frauen belegt) 
als Vereinslazarett zur Verfügung gestellt, und zwar mit 70 Betten. Erste Belegung 
im Januar 1915 mit 40 Verw., höchste Belegung 77. 

Lüneburg (33): Anfangsbestand 976 (632 M. 444 Fr.). Zugang 248 
(126 M. 122 Fr.). Abgang 236 (123 M. 113 Fr.). Bleibt Bestand 988 (535 M. 453 Fr.). 
Zur Beobachtung aufgenommen 15 M. 2 Fr., davon 13 M. 1 Fr. nach § 81 Str.-P.-O.; 
von den Beobachteten geisteskrank 7 M., zurechnungsfähig 6 M. 1 Fr. Entlassen 
geheilt 20 (8 M. 12 Fr.), gebessert 66 (43 M. 23 Fr.), ungeheilt 68 (31 M. 37 Fr.), 
davon nach anderen Anstalten verbracht 33 (12 M. 21 Fr.); nicht geisteskrank 11 
(9 M. 1 Fr.). Gestorben sind 71 (32 M. 39 Fr.). In der landwirtschaftlichen Ko¬ 
lonie Brockwinkel wurden Trinker versuchsweise untergebracht; aufgenommen 13, 
entlassen 2. Blieb Bestand 11 Trinker. — Zur Fahne einberufen 68 Beamte und 
Angestellte. Zur Einrichtung eines Reservelazarettes wurden vier Häuser geräumt. 
Vom September ab war das Lazarett in der Folge dauernd, bald vollständig, bald 


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Snell. Anstaltswesen und Statistik. 


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teilweise belegt. — Reingewinn aus dem landwirtschaftlichen Betrieb: 91 764,98 M. 
bei einer Gesamteinnahme von 280 911,13 M. 

Langenhagen (28): Gesamtanfangsbestand 991 (578 m. 418 w.). Zu¬ 
gang 563 (352 m. 211 w.). Abgang 562 (360 m. 202 w.). Schlußbestand 992 (570 m. 
422 w.; davon entfallen auf die 

Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt für Geistesschwache: An¬ 
fangsbestand 836 (442 m. 394 w.). Zugang 101 (59 m. 42 w.). Abgang 111 (87 m. 
24 w.). Bleibt Bestand 826 (414 m. 412 w.). Entlassen sind 72 (63 m. 9 w.). Ge¬ 
storben 39 (24 m. 15 w.) = 4,64% der Verpflegten (i. Vorj. 4,18%), Todes¬ 
ursache: Tuberkulose bei 15. 

Filiale Himmelsthür: Anfangsbestand 122 w. Aufgenommen 48. Ab¬ 
gang 20. Bleibt Bestand 149. Bestand der Epileptischen anfangs 12, zum Schluß 2. 
Gestorben 20. 

Beobachtungsstation für Geisteskranke: Aufgenommen im Be¬ 
richtsjahre 414 (245 M. 169 Fr.), davon aus Hannover-Linden (Stadt) 386 (228 M. 
168 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 247 (112 M. 
135Fr.), Paralyse 56 (48M. 8 Fr.), Epilepsie 23 (17 M. 6 Fr.), Idiotie, Imbezillität 16 
(8 M. 7 Fr.), Alkoholdelirium 53 (49 M. 4 Fr.), Hysterie 9 (2 M. 7 Fr.); nicht geistes¬ 
krank 3; zur Beobachtung 3. Als Krankheitsursachen anzunehmen Alkohol bei 
70 (60 M. 10 Fr.), Lues 38 (34 M. 4 Fr.), Trauma 9 (8 M. 1 Fr.), Haft 
6 M., Heredität 98 (53 M. 45 Fr.). Polizeilich eingeliefert 23 M. 12 Fr. In eine An¬ 
stalt überführt 192 (112 M. 80 Fr.). Gestorben 18 M. 7 Fr. Kurz nach Kriegsbeginn 
wurde ein Vercinslazarett mit 100 Betten errichtet. Verkehr verwundeter und 
erkrankter Heeresangehöriger im Berichtsjahre zirka 500 M. Weiterhin Korps¬ 
lazarett für alle nervös und psychisch Erkrankten aus dem Korpsbezirk. 

Neustadt i. Holstein (37): Anfangsbestand 1118 (664 M. 454 Fr.). Zu¬ 
gang 234 (121 M. 113 Fr.). Abgang 221 (127 M. 94 Fr.). Bleibt Bestand 1131 
(668 M. 473 Fr.), davon m Familienpflege 100 (36 M. 64 Fr.). Vom Zugang litten 
an einfacher Seelenstörung 131 (50 M. 81 Fr.), paralytischer 32 (25 M. 7 Fr.), Im¬ 
bezillität, Idiotie, Kretinismus 29 (13 M. 16 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelen- 
störung 12 (8 M. 4 Fr.), Hysterie, Chorea je 1 Fr., Alkoholismus 21 (19 M. 2 Fr.), 
Morphinismus 1 Fr. Zur Beobachtung aufgenommen 6 M., nicht geisteskrank 1 M. 
Vom Zugang vorbestraft 22 M. = 18,3 %, 1 Fr. = 0,9 %, unruhige 24 M. 31 Fr. = 
20 und 27,4 %, unreine 7 M. 8 Fr. = 5,9 und 7 %, Erblichkeit bei 16 M. = 13,2 %, 
14 Fr. = 12,4 %, Trunksucht 25 M. = 20 %, 2 Fr. = 1,6 %. Prozentsatz der 
kriminellen männl. Kr. ganz erheblich gesunken (i. Vorj. 29,4 % m. 7 % w.). Im 
festen Haus untergebracht 55, davon Neuaufnahmen 14. Zur Beobachtung auf 
Grund § 81 Str.-P.-O. aufgenommen 3 M., sämtlich zurechnungsfähig. Beobachtung 
der Strafvollzugsfähigkeit 2 M., davon 1 wieder zurückgeschickt. Im Strafvollzug 
zur Nachbeobachtung 14 M. den Irrenabteilungen übeiwiesen. Entlassen geheilt 
13 (3 M. 10 Fr.), gebessert 59 (36 M. 23 Fr.), ungeheilt 132 (78 M. 64 Fr.), davon 
nach anderen Anstalten überwiesen 20 (15 M. 5 Fr.); nicht geisteskrank 6 
(6 M. 1 Fr.). Gestorben 89 (49 M. 40 Fr.), davon an Lungentuberkulose 10 (4 M. 
6 Fr.), Paralyse 12 (11M. 1 Fr.), Epilepsie 6 ( A M. 2 Fr.). An Fällen tuberkulöser 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Art erkrankt 15 (8 M. 7 Fr.). Zur Mobilmachung für pyschisch erkrankte Militär¬ 
personen bereitgestellt 30 PI. — Gesamtausgabe: 705 370,77 M. 

Schleswig (Stadtfeld) (47): Anfangsbestand 1204 (576 M. 628 Fr.). Zu¬ 
gang 323 (172 M. 151 Fr.). Abgang 355 (161 M. 194 Fr.). Bleibt gestand 1172 
(587 M. 585 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 266 
(123 M. 133 Fr.), paralytischer Seelenstörung 22 (19 M. 3 Fr.), Seelenstörung mit 
Epilepsie 11 (6 M. 5 Fr.), Imbezillität, Iiotie 25 (15 M. 10 Fr.), Delirium pot. 
5 M.; nicht geisteskrank 4 M. Wahrscheinliche Krankeitsursachen: Familien¬ 
anlage bei 113 (55 M. 58 Fr.), deprimierende Gemütsaffekte 32 (17 M. 15 Fr.), 
Trauma 3 M., Senium 4 M. 2 Fr., Lues 13 (12 M. 1 Fr.), Alkoholismus 15 (14 M. 
1 Fr.) (i.Vorj. 22), fieberhafte Erkrankung 1 M. 1 Fr., Wochenbett, Schwanger¬ 
schaft 7 Fr., Klimakterium 2 Fr., unbekannte Ursachen bei 126 (62 M. 4 Fr.). 
Wahrscheinlich heilbar 78 (40 M. 38 Fr.), unheilbar 77 (42 M. 35 Fr.), entschieden 
unheilbar 164 (86 M. 78 Fr.). Zur Beobachtung überwiesen von Zivilbehörden 
7 M. 1 Fr., Militärbehörden 3 M. 1 Dame privatim. Entlassen geheilt 44 (18 M. 
26 Fr.), gebessert 91 (40 M. 51 Fr.), ungeheilt 84 (41 M. 43 Fr.), davon nach Pri¬ 
vatanstalten 45 (16 M. 29 Fr.). Gestorben 132 (58 M. 74 Fr.), davon an Lungen¬ 
tuberkulose 12 (6 M. 6 Fr.), daran behandelt außerdem 7 (2 M. 5 Fr.). Hohe Todes¬ 
zahl auf der Frauenseite (78, i. Vorj. 48), bedingt durch viele ältere Schwäche¬ 
zustände. — In dem großen, für 150 Frauen bestimmten Neubau wurde ein Kriegs¬ 
lazarett errichtet. — Gesamtausgabe: 948 937,22 M. 

Die Provinzialanstalten der Rheinprovinz (41) hatten einen Anfangs¬ 
bestand von 7662. Zugang 4273. Abgang 4324, davon an andere Provinzial¬ 
anstalten überwiesen 182, an andere Privatanstalten 421. Gesamtschlußbestand 
7611 P. Auf die einzelnen Provinzialanstalten verteilt sich die Krankenbewegung 
folgendermaßen: 

Andernach: Anfangsbestand 541 (283 M. 258 Fr.). Zugang 469 (318 M. 
151 Fr.). Abgang 427 (289 M. 138 Fr.). Bleibt Bestand 583 (312 M. 271 Fr.). 

Bedburg-Hau: Anfangsbestand 1841 (1000 M. 841 Fr.). Zugang 480 
(283 M. 197 Fr.). Abgang 442 (249 M. 193 Fr.). Bleibt Bestand 1879 (1034 M. 
845 Fr.). 

Bonn: Anfangsbestand 910 (451 M. 459 Fr.). Zugang 925 (547 M. 378 Fr.). 
Abgang 870 (508 M. 362 Fr.). Bleibt Bestand 956 (490 M. 475 Fr.). 

Düren: Anfangsbestand 706 (382 M. 324 Fr.). Zugang 354 (262M. 92 Fr.). 
Abgang 314 (219 M. 95 Fr.). Bleibt Bestand 746 (425 M. 321 Fr.). 

Galkhausen: Anfangsbestand 876 (426 M. 450 Fr.). Zugang 482 (261 M. 
221 Fr.). Abgang 519 (264 M. 255 Fr.). Bleibt Bestand 839 (423 M. 416 Fr.). 

Grafenberg: Anfangsbestand 882 (508 M. 374 Fr.). Zugang 726 (419 M. 
307 Fr.). Abgang 792 (463 M. 329 Fr.). Bleibt Bestand 816 (464 M. 352 Fr.). 

Johannistal: Anfangsbestand 1062 (614 M. 488 Fr.). Zugang 453 (299 M. 
154 Fr.). Abgang 597 (400 M. 197 Fr.). Bleibt Bestand 918 (513 M. 405 Fr.). 

Merzig: Anfangsbestand 783 (399 M. 384 Fr.). Zugang 372 (238 M. 134 Fr.). 
Abgang 344 (216 M. 228 Fr.). Bleibt Bestand 811 (421 M. 390 Fr.). 

Brauweiler: Anfangsbestand 61 M. Zugang 12. Abgang 19. Bleibt Be¬ 
stand 54. 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


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Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 2779 (1506 M. 1273 Fr.), 
paralytischer Seelenstörung 409 (313 M. 96 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 394 
(295M.99 t Fr.), Epilepsie o.S. 108 (81M. 27Fr.), Idiotie, Imbezillität, Kretinismus 
223 (123 M. 100 Fr.), Alkoholismus 180 (162 M. 18 Fr.): nicht geisteskrank 180 
(159 M. 21 Fr.). Unter den Ursachen zur Erkrankung bestand vererbte Anlage 
bei 1016 (500 M. 516 Fr.) = 23,8 % der Aufgenommenen (i. Vorj. 1166 = 26,8 %), 
Mißbrauch geistiger Getränke von Krankheitsausbruch in 597 Fällen (482 M. 
115 Fr.) = 13,9 % (i. Vorj. 9,3 %). Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 352 
(317 M. 35 Fr.) = 8,2% (i. Vorj. 9,3%). Unmittelbar aus Strafhaft eingeliefert 
im Laufe des Berichtsjahres 161 (in den Jahren 1907 = 298 P., 1908 = 300, 1909 = 
247, 1910 = 191, 1911 = 166. 1912 = 223, 1913 = 211). In den drei Bewahr- 
häusem waren infolge Personalmangel (Krieg) nicht alle Plätze besetzt. Von den 
Verpflegten geheilt und gebessert entlassen in Andernach 19.3 % bei 46,4 % der 
Aufnahmen; Bedburg-Hau 7,3 % : 20,6%; Bonn 21% : 50%; Düren 7,66% : 
33%; Galkhausen 23,2%: 36%; Grafenberg 20,5%: 44,3%, Johannistal 
16,3 % : 29,9 %: Merzig 13,3 % : 32,2 %; Brauweiler 8,2 % : 16,4 %. Auch in 
diesem Jahre zeigt sich, daß der größte Prozentsatz an Heilungen und Besserungen 
auf die Anstalten mit den höchsten Aufnahmeprozenten kommt. Selbstmord¬ 
fälle mit tödlichem Ausgang 9 (8 M. 1 Fr.). Entweichungen 91. Von den in den 
Anstalten Verpflegten litten an Tuberkulose 152 (62 M. 90 Fr.) = 1,3 % gegen 
1,6 % im Vorjahre. Höchster Prozentsatz in Merzig mit 2,4 %, geringster in Galk¬ 
hausen mit 0,2% (i. Vorj. 0,3%). Von den Tuberkulösen und der Tuberkulose 
Verdächtigen, i. S. 218 (92 M. 126 Fr.) starben 108 (50 M. 58 Fr.) = 0,9% der 
Verpflegten. Insgesamt sind gestorben von den 11910 in den 9 Anstalten Ver¬ 
pflegten (6763 M. 5147 Fr.) 1003 P. = 8,4 % (i. Vorj. 7 %); mehr an Todesfällen 
demnach 1,4 %. Im Verhältnis zu den Verpflegten kommen auf Andernach 7,1 %. 
Bedburg-Hau 7,8%, Bonn 8,8%, Düren 6,6 %. Galkhausen 10,8%, Grafenberg 
11 %, Johannistal 5,9 %, Merzig 7,7 %. Höchster Prozentsatz hiernach Grafen¬ 
berg und Galkhausen, woselbst die Todesfälle Paralytischer 34,2 bzw. 25,8 % 
betrugen. Insgesamt hatten an fortschreitender Paralyse gelitten 231 (167 M. 
64 Fr.) = 23 % (mehr als im Vorj. 0,9 %). Typhus wurde wahrscheinlich durch 
aufgenommene verwundete und kranke Soldaten eingeschleppt. In Andernach, 
Düren, Galkhausen, Johannistal gelang es, durch Isolierung der Erkrankten und 
Verdächtigen die Insassen der Anstalten vor Ansteckung zu bewahren. In Bed¬ 
burg-Hau aber kam es zu größerer epidemischer Ausbreitung. Dort erkrankten 
33 P. (auf der Frauenseite zuerst), darunter 8 Pfleger und 1 Pflegerin. 8 Geistes¬ 
kranke starben. — Der Krieg stellte große Anforderungen an die Anstalten. Zur 
Aufnahme verwundeter und körperlich kranker Soldaten wurden zunächst zur 
Verfügung gehalten in Andernach 70 Betten, Bedburg-Hau 800, Düren 150, Galk¬ 
hausen 250, Grafenberg 200, Johannistal 250, Merzig 140. Die Anstalt Bonn blieb 
zur Aufnahme geisteskranker Heeresangehöriger aus dem Festungsbereich zur 
Verfügung. Die Verpflegungssätze wurden auf 2 M. bis 2,50 M. pro Tag bemessen. 
Im Berichtsjahre waren insgesamt aufgenommen: verwundete und körperlich kranke 
Soldaten 6871 Mann, geisteskranke 617 Mann und 21 geisteskranke Kriegsgefan- 


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162* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


gene. Gestorben sind 15 Mann; am Schlüsse des Jahres waren in den Anstalten 
noch 278 Mann. Gesamtausgabe: 6 774 538,69 M., davon an den Baufonds 
63 236,62 M. 

Eichberg (12): Anfangsbestand 708 (376 M. 333 Fr.). Zugang 205 (115 M. 
90 Fr.). Abgang 198 (103 M. 96 Fr.). Bleibt Bestand 715 (387 M. 328 Fr.), davon 
in Familienpflege 81 (29 M. 62 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 
147 (73 M. 74 Fr.), paralytischer Seelenstörung 21 (18 M. 3 Fr.), Seelenstörung 
mit Epilepsie 9 (8 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie 13 (6 M. 7 Fr.), Alkoholismus 
8 M.; von psychopathischer Konstitution waren 4(1 M. 3 Fr.), nicht geisteskrank 
1M. 1 Fr. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten bei 59 (32M. 27 Fr.), 
3—6 Monate 38 (26 M. 13 Fr.), mehr als 6 Monate 96 (51 M. 44 Fr.), Dauer un¬ 
bekannt bei 11 (6 M. 6 Fr.). Erbliche Belastung nachweisbar: dürch Nerven- 
und Geisteskranke bei M. in 30, Fr. in 26 Fällen, durch Alkoholismus der Eltern 
bei M. in 12, Fr. in 6 Fällen. Früherer Alkoholmißbrauch zugegeben in 20 Fällen. 
Als Krankheitsursachen angegeben erbliche Belastung bei 56 (30 M. 26 Fr.), Al¬ 
koholmißbrauch 20 M., Syphilis 17 (12 M. 6 Fr.), Arteriosklerose 6 (4 M. 1 Fr.) r 
Senium 9 (4 M. 6 Fr.), Epilepsie 7 (6 M. 1 Fr.), Kummer und Sorgen 9 (3 M. 6 Fr.), 
Puerperium 1 Fr. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 46 (40 M. 6 Fr.); auf 
Grund Gerichtsbeschlusses zur Beobachtung eingewiesen 3 P. Entlassen genesen 
10 (6M. 4 Fr.), gebessert 74 (36 M. 38 Fr.), ungebessert 57 (29 M. 28 Fr.), nicht 
geisteskrank 6 (4 M. 2 Fr.). Gestorben 61 (28 M. 23 Fr.), davon infolge Alters¬ 
schwäche 13 (6 M. 7 Fr.), Paralyse 7 (3 M. 4 Fr.); im status epilepticuslM., an 
Herz- und Arterienverkalkung 2 M., Gehimlähmung 2, Lungenentzündung 14 
(9 M. 6 Fr.), Lungentuberkulose 6 (2 M. 4 Fr.), Krebs 3, Magengeschwür, Darm¬ 
verschlingung je 1 P. 

Herborn (20): Anfangsbestand 448 (234 M. 214 Fr.), Zugang 203 (111M. 
92 Fr.), davon aus anderen Anstalten 151 (80M. 71 Fr.). Abgang 142 (91M. 61 Fr.). 
Bleibt Bestand 609 (264 M. 256 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstö¬ 
rung 120 (60 M. 60 Fr.), paralytischer Seelenstörung 22 (12 M. 10 Fr.), Imbezillität, 
Idiotie 20 (13 M. 7 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 6 (4 M. 2 Fr.), Hysterie 10 Fr. T 
Alkoholismus 22 (19 M. 3 Fr.); nicht geisteskrank, zur Beobachtung 3 M. Vor 
Aufnahme krank waren bis zu 3 Monaten 12 (8 M. 4Fr.), 3—6Monate 15 (3 M. 12 Fr.), 
mehr als 6 Monate 148 (87 M. 61 Fr.), Krankheitsdauer unbekannt bei 26 (10 M. 
15 Fr.). Als Krankheitsursache angegeben erbliche Belastung bei 118 (66 M. 63 Fr.), 
Alkoholmißbrauch 22 (19 M. 3 Fr.), Syphilis 19 (10 M. 9 Fr.), Pubertät 6 (6 M. 
1 Fr.), Senium 14 (6 M. 8 Fr.), Puerperium, Laktation 3 Fr., Arterienverkalkung 
4 M., Haft 7 (3 M. 4 Fr.), Unfall 16 (6 M. 10 Fr.), psychische Ursachen 30 (18 M. 
12 Fr.). Erbliche Belastung nachweisbar bei 41 M. 31 Fr., Belastung durch Al- 
koholismuB der Eltern 20 (16 M. 4 Fr.). Von den Aufgenommenen haben Alkohol¬ 
mißbrauch zugegeben 22 P. An erster Stelle steht wiederum erbliche Belastung, 
an zweiter Alkohol, an dritter psychische Ursachen, an vierter Syphilis, alsdann 
Geistesstörung infolge Unfall und endlich solche durch Rückbildungen des Greisen- 
alters. Mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen 56 M. = etwa die Hälfte der 
Aufgenommenen, und 14 Fr. Entlassen genesen 3 (2 M. 1 Fr.), gebessert 42 (30 M. 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


163* 


12 Fr.), ungebessert 30 (25 M. 5 Fr.); nicht geisteskrank 4 P. Gestorben 63 (30 M. 
33 Fr.), ein Viertel davon über 70 Jahre alt. Todesursachen: Altersschwäche 
bei 10 (2 M. 8 Fr.), Paralyse 36 (20 M. 16 Fr.), Lungenentzündung 3 (2 M. 1 Fr.), 
Rippenfellentzündung 1 Fr., Nierenerkrankung. 1 M., Arterienverkalkung und 
Herzklappenerkrankung 7 (3 M. 4 Fr.), Tuberkulose 6 (2 M. 3 Fr.). Die hohe Zahl 
der an fortschreitender Irrenlähmung Verstorbenen ist erklärlich durch die hohe 
Zahl der aus Frankfurt zugeführten Paralytiker. — Mit Kriegsbeginn wurden Kurse 
zur Ausbildung von Helferinnen für das Rote Kreuz abgehalten. 

Weilmünster (59). Anfangsbestand 912 (464 M. 458 Fr.). Zugang 170 
(104 M. 66 Fr.). Abgang 142 (88 M. 54 Fr.) Bleibt Bestand 941 (470 M. 471 Fr.). 
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 102 (66 M. 46 Fr.), paralytischer 
Seelenstörung 11 (7 M. 4 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 9 (4 M. 5 Fr.), Hy¬ 
sterie 6 (1M. 4 Fr.), Imbezillität, Idiotie 22 (15 M. 7 Fr.), Alkoholismus 21 (20 M. 

1 Fr.); nicht geisteskrank 1 M. Aus der städt. Irrenanstalt kamen 65 (32 M. 
33 Fr.), aus Gefängnissen 4 M., aus Militärlazaretten und Kriegsgefangenenlagern 
11 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme unter 3 Monaten 41 (28 M. 13 Fr.), 
3—6 Monate 10 (4 M. 6 Fr.), über 6 Monate 119 (71M. 48 Fr.). Erbliche Belastung 
der Aufgenommenen bei 57 M. 40 Fr. = 54 und 66 % der Aufnahmen, davon durch 
Trunksucht 41. Alkoholmißbrauch bei 33 M. 3 Fr.; unter den sonstigen Krank¬ 
heitsursachen Syphilis bei 9 M. 3 Fr., Verletzungen, besonders des Kopfes 7 M. 
3 Fr., Haft 9 M., Aufregungen infolge des Krieges 18 M. 6 Fr. Mit dem Strafgesetz 
in Konflikt gekommen 47 M. = 46 % u. 4 W. Zur Beobachtung gerichtsseitig über¬ 
wiesen 2 M., einer geisteskrank, der andere straffällig. Entlassen geheilt 12 (10 M. 

2 Fr.), gebessert 41 (30 M. 11 Fr.), ungeheilt 10 (6 M. 4 Fr.). Gestorben 78 (41M. 
37 Fr.), davon infolge Lungentuberkulose 17 (9 M. 8 Fr.), sonstigen tuberkulösen 
Erkrankungen 6 (3 M. 2 Fr.), im parayltischen und epileptischen Anfall 4 (2 M. 
2 Fr.), sonstigen Himkrankheiten 3 Fr., Herzerkrankungen 7 (2 M. 5 Fr.), Alters¬ 
schwäche 12 (4 M. 8 Fr.), aJlgem. Kräfteverfall 9 (8 M. 1 Fr.). Gesamtziffer der 
Sterblichkeit 7 % der Krankenzahl. 

Wehnen (56): Anfangsbestand 325 (177 m. 148 w.). Zugang 131 (61m. 
70 w.). Abgang 127 (63 m. 64 w.). Bleibt Bestand 329 (176 m. 164 w.). Krank¬ 
heitsformen der Aufgenommenen: Imbezillität 4 (3 m. 1 w.), Dementia paralytica 
10 (9 m. 1 w.), Dementia arteriosclerotica 1 w., alkoholistische Formen 5 (3 m. 
2 w.), Epilepsie 6 (4 m. 2 w.), Hysterie 1 w., infektiöses und toxisches Irresein 3 
(2 m. 1 w.), Dementia praecox 42 (21 m. 21 w.), manisch-depressives Irresein 41 
(9 m. 32 w.), seniles Irresein 7 (2 m. 5 w.), psychopathische Persönlichkeiten 11 
(9 m. 2 w.). Zur Beobachtung nach § 81 Str.-P.-O. aufgenommen 5 P., davon 
minderwertig 1, minderwertig und chronisch alkoholistisch 3, epileptisch 1. Ent¬ 
lassen geheilt 36 (13 m. 23 w.) = 4 % des Bestandes, 7,89 % des Zugangs. Un¬ 
geheilt entlassen 26 (9 m. 17 w.), gebessert 18 (11 m. 7 w.). Gestorben 39 (22 m. 
17 w.), davon infolge Schwindsucht 4 (7 Erkrankungen), Paratyphus 1. Para¬ 
typhuserkrankungen 16 der Insassen, 2 des Personals. Täglich beschäftigt 42,9 m. 
61,8 w. — Gesamtausgabe: 383 415,34 M. 

Gehlsheim (16): Anfangsbestand 347 (185 M. 162 Fr.). Zugang 246 
(146 M. 99 Fr.). Abgang 269 (170 M. 99 Fr.). Bleibt Bestand 323 (161M. 162 Fr.). 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 171 (87 M. 84 Fr.), an paralytischer 
Seelenstörung 9 M., Seelenstörung mit Epilepsie 16 (11 M. 5 Fr.), Idiotismus, Kre¬ 
tinismus 13 (10 M. 3 Fr.), Delir, potat. 11 M.; nicht geisteskrank 25 (7 M. 25 Fr.). 
Zur Beobachtung aufgenommen .17 (16 M. 1 Fr.), davon „nicht geisteskrank" 4 
6 M. 1 Fr. Entlassen als genesen 26 (21 M. 5 Fr.), gebessert 64 (29 M. 36 Fr.), un- 
gebeilt 119 (81 M. 38 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat 48 
(29 M. 19 Fr.), 2-3 Monate 25 (15 M. 10 Fr.), 4—6 Monate 10 (6 M. 4 Fr.), 7—12 
Monate 6 (3 M. 2 Fr.), im zweiten Jahre 12 (7 M. 5 Fr.), über 2 Jahre 96 (64 M. 
32 Fr.), unbestimmte Zeit 13 (7 M. 3 Fr.). Gestorben 38 (23 M. 16 Fr.) = 14,1 % 
des Gesamtabgangs, 11,6 % des Durchschnittsbestandes; Tuberkulose-Sterbe¬ 
fälle 5,3 % der Sterbezahl, Todesfälle an Gehirn- und Nervenkrankheiten 10 (5 M. 

5 Fr.), Selbstmord 1. — Gesamtausgabe: 312 203,48 M. 

Sachsenberg (46): Anfangsbestand 601 (292 M. 309 Fr.). Zugang 228 
(134 M. 94 Fr.;. Abgang 161 (77 M. 84 Fr.). Bleibt Bestand 668 (349 M. 319 Fr.). 
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 173 (94 M. 79 Fr.), paralytischer 
Seelenstörung 11 (9 M. 2 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 23 (20 M. 3 Fr.), 
an Delirium potat. —, Idiotismus, Kretinismus 20 (10 M. 10 Fr.); nicht geistes¬ 
krank 1 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bi« 1 Monat 35 (16 M. 19 Fr.), 
2—3 Monate 16 (5 M. 11 Fr.), 4—6 Monate 1 Fr., 7—12 Monate 10 (2 M. 8 Fr.), 
im zweiten Jahre 11 (8 M. 3 Fr.), über 2 Jahre 106 (69 M. 37 Fr.), Krankheits¬ 
dauer unbestimmt bei 48 (33 M. 15 Fr.). Erblich belastet 60 (30 M. 30 Fr.). Ge¬ 
nesen 22 (13 M. 9 Fr.), gebessert 32 (17 M. 15 Fr.), ungeheilt entlassen 41 (15 M. 
26 Fr.). Gestorben 65 (31 M. 34 Fr.) = 40,63% des Gesamtabgangs, 10,16% 
des Gesamtdurchschnittsbestandes; Sterbefälle an Tuberkulose 9,23 % aller 
Sterbefälle, 0,9% des Durchschnittsbestandes. 2 Selbstmorde. — Gesamtaus¬ 
gabe: 499 675,15 M., Baukosten besonders: 19 692,18 M. 

Lewenberg (29): Anfangsbestand 260 (147 M. 113 w.) Zugang 23 (14 ro. 
9 w.). Abgang 23 (13 m. 10 w.). Bleibt Bestand 260 (148 m. 112 w.). Vom Bestände 
litten an Krampfanfällen bzw. waren Epileptische 80 (45 m. 35 w.) = 33,76 %. 
Von den Aufgenommenen waren erblich belastet von seiten des Vaters 5, von der 
Mutter 5, von beiden Eltern 1, sonstige familiäre Anlage 1. Ferner sind als Krank¬ 
heitsursachen anzusehen Erkrankung des Gehirns und seiner Häute, des Rücken¬ 
marks bei 2. Entlassen gebessert 6 = 25 % des Abgangs (Vorj. 31,82 %) = 2,53 % 
der Verpflegten (2,48%), nicht gebessert 6= 25% (40,91%) des Abgangs = 
2.53% (3,19%) der Verpflegten. Gestorben sind 12= 50% (27,27%) des Ab¬ 
gangs = 6,06% (2,13%) der Verpflegten. An Tuberkulose starben 4. Unter¬ 
richtet wurden 89 = 34,23 % der Verpflegten. Ständig beschäftigt 21 m. 25 w. 

Roda, Genesungshaus (43 ): Anfangsbestand 459 (243 ra. 216 w.). Zu¬ 
gang 160 (79 m. 81 w.). Abgang 159 (84 m. 75 w.). Bleibt Bestand 460 (238 m. 
222 w.), davon in Familienpflege 38 (16 m. 22 w.). Vom Zugang litten an einfacher 
Seelenstörung 120 (53 m. 67 w.), paralytischer Seelenstörung 18 (13 m. 5 w.), Im¬ 
bezillität, Idiotie, Kretinismus 7 (4 m. 3 w.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 

6 (2 m. 4 w.), Hysterie 3 (2 m. 1 w.), anderen Krankheiten des Nervensystems 
1 Fr., Alkoholismus 5 M. Als Krankheitsursachen angesehen angeborene somati- 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


165* 


sehe Affektionen bei 7 (4 m. 3 w.), erbliche und familiäre 11 (8 m. 3 w.), psychische 
Aifektionen bei 28 (12 m. 16 w.). Rückfall 33 (13 m. 20 w.). Entlassen geheilt 30 
(19 m. 17 w.), gebessert 58 (30 m. 28 w.), ungeheilt 24 (13 m. 11 w.). Gestorben 41 
(22 m. 19 w.), davon infolge Marasmus 9 (2 m. 7 w.), Hirnkrankheiten 4 (2 m. 
2 w.), epileptischer Anfall 1 w., Lungenentzündung 12 (11 m. 1 w.), Lungentuber¬ 
kulose 3 (1 m. 2 w.), Lungenembolie, Suffokation 4 (2 M. 2 Fr.), Herzleiden 2 (1M. 
1 Fr.), Sepsis, Magenkrebs, Darmkatarrh, Schrumpfniere 4 M. In der Heilanstalt 
für heilbare Körperkranke wurden behandelt 222 Kr., davon geheilt entlassen 122 = 
64,96 %, es verstarben 10 = 4,5 %. 

Roda, Martinshaus (44): Anfangsbestand 95 (54 m. 41 w.). Zugang 11 
(9 m. 2 w.). Abgang 18 (14 m. 4 w.). Bleibt Bestand 88 (49 m. 39 w.). Verpflegt 
durchschnittlich 1 Jahr = 90,97 Pfleglinge. Von den Verpflegten (106 Kinder^ 
waren belastet mit Epilepsie (allein) 16 (12 Kn. 4 Md.), Chorea 3 Kn., Lähmungen 
der Himnerven 14 (8 m. 6 w.), der Gliedmaßen 8 (3 m. 5 w.), an Epilepsie mit Läh¬ 
mungen 2. Erbliche Disposition der Eltern und nächsten Verwandten zu Geistes¬ 
und Nervenkrankheiten bei 48 (30 m. 18 w.), Alkoholismus 24 (11 m. 13 w.), Sy¬ 
philis 4 (2 m. 2 w.), Tuberkulose 10 (5 m. 5 w.). Gestorben 1 Kind an Entkräftung. 
Schulbesuch von 83 (52 Kn. 31 Md.), davon mit Erfolg 55 (32 Kn. 23 Md.). 

Hessen, Hilfsvorein (21): Die Gesamteinnahme betrug 52186,96 M., 
Gesamtausgabe 47039,06 M.; davon wurden verwandt für in Anstalten befind¬ 
liche Pfleglinge 512,12 M., bei der Entlassung an 30 Pers. 243,90 M., nach der Ent¬ 
lassung an 106 Pers. 6585,78 M., gezahlt an Angehörige von 76 Pflegl. 6906 M., 
für 9 psychisch Nervöse 1241 M., für Familienpfleglinge 10426,18 M. Die 
Verwaltungskosten betrugen 3467,98 M. 

Mariaberg (34): Am 1. Juli 1914 waren untergebracht 178 (128 m. 50 w.). 
Eingetreten sind 12 (10 m. 2 w.), somit verpflegt 190. Ausgetreten sind 7 (5 
m. 2w.). Gestorben 1 m. 2 w. Mithin Stand am 1. Juli 1915 = 180. Am Schulunter¬ 
richt nahmen teil 60. Arbeitsfähige Erwachsene waren vorhanden 63. Bildungs¬ 
und arbeitsunfähige Zöglinge 57. Gesundheitszustand außergewöhnlich günstig. 
Einer der Todesfälle betraf 78jährigen Insassen, nach 40 jährigem Aufenthalt 
der Anstalt: Altersschwäche. — Gesamtausgabe: 102862,17 M. 

Nach dem vom Großherzoglichen Ministerium des Innern mitgeteilten Be¬ 
richt über die Badischen Irrenanstalten (2) für 1913 und 1914 war: 

In der Psychiatrischen Klinik d. U. Heidelberg ein Anfangsbestand \on 
144 (83 M. 61 Fr.). Zugang 798 (468 M. 330 Fr.). Abgang 812 (489 M. 323 Fr.). 
Bleibt Bestand für 1914: 130 (62 M. 68 Fr.). Zugang 704 (428 M. 276 Fr.). Abgang 
698 (425 M. 273 Fr.). Bleibt Schlußbestand 136 (65 M. 71 Fr.). Die poliklinischen 
Sprechstunden besuchten 1913 = 443 (213 m. 24 w.) 1914 bis Ende Juli — mit 
Kriegsbeginn fielen die Sprechstunden aus — 256 (142 M. 114 Fr.); Aufnahme 
in der Klinik fanden 24 und 20 Pers. Vom Zugang in der Klinik in den beiden Be¬ 
richtsjahren (erste Aufnahmen 698 und 551) litten an Erkrankungen mit manisch- 
depressiven Formen 92 und 75. Bei psychopathischen Konstitutionen (86 und 42) 
fand sich Dipsomanie bei 3 und 6, hysterischer Charakter 35 und 33, Neurasthenie 
bei 3 (1913). Unter pathologischen Reaktionen war vertreten traumatische Neu- 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


rose bei 63 und 34, hysterische (Schreck, Konflikt) Psychose bei 1 und 3. An er¬ 
worbenen Zuständen von Jugend auf (Imbezillität, Idiotie, Kretinismus) litten 
16 und 9 (Imbezillität 12 und 3), solchen späteren Alters, zunächst an Alkoholis¬ 
mus 53 und 53 (chron. Alk. 34 und 40), Morphinismus und dgl. 3 und 1, Lues ce- 
rebri 6 und 3, progressiver Paralyse 62 und 47, Psychosen bei akuten toxisch wir¬ 
kenden Krankheiten 1 und 1, Psychosen bei Krankheiten der Zentralorgane 13 
und 8, nach traumatischer Gehirnschädigung 5 und 3, bei Erschöpfungen, Ge¬ 
nerationsvorgängen 1 und 4, Dementia praecox 321 und 265, Epilepsie mit und 
ohne Seelenstörung 23 und 25; senile Prozesse des Rückbildungsalters 12 und 23, 
arteriosklerotische 13 und 23; unklare Fälle akuter Form bei 32 und 23, chronischer 

2 (1913); nicht geisteskrank, nicht psychopathisch waren 13 und 20. Zur Be¬ 
obachtung auf Grund § 81 Str.-P.-O. eingewiesen 17 M. und 28 M. 3 Fr., hiervon 
nicht zurechnungsfähig 5 und 3. Aus den Strafanstalten in Bruchsal zugeführt 
10 und 11, aus dem Arbeitshaus in Kislau 4 und 4. Zur Begutachtung in Unfall- 
und Invalidensachen eingewiesen 61 und 40. Entlassen geheilt 78 und 72, ge¬ 
bessert 210 und 188, ungebessert 95 und 57, nicht geisteskrank 3 und 9, nach Be¬ 
obachtung in Unfall- usw. Sachen 90 und 76, nach anderen Anstalten 309 und 
249, zur Familienpflege 476 und 402. Todesfälle 27 (16 M. 11 Fr.) und 47 (23 M. 
24 Fr.). Als Todesursache zu bezeichnen u. a. Erkrankungen des Gehirns bei 11 
<8 M. 3 Fr.) und 12 (6 M. 6 Fr.), des Herzens 6 (4 M. 1 Fr.) und 13 (7 M. 6 Fr.), 
allgemeine Arteriosklerose 4 (2 M. 2 Fr.) und 6 (3 M. 3 Fr.), Lungentuberkulose 
je 2 Fr. 

In der Psychiatrischen Klinik Freiburg i. B., Psychiatr. Abt., war der 
Anfangsbestand 1913 = 135 (70 M. 65 Fr.). Zugang 677 (333 M. 244 Fr.). Ab¬ 
gang 588 (339 M. 249 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 124 (64 M. 60 Fr.). Zu¬ 
gang 816 (571 M. 245 Fr.). Abgang 802 (568 M. 244 Fr.). Von den Jahresschlu߬ 
beständen (erste Aufnahmen 458 und 671) litten, abgesehen von 22 Soldaten, 
an einfacher Seelenstörung 72 (32 M. 40 Fr.) und 75 (36 M. 39 Fr.), paralytischer 
Seelenstörung 8 M. und 8 (7 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 12 (5 M. 
7 Fr.) und 8 (3 M. 6 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 10 (6 M. 4 Fr.) 
und 11 (5 M. 6 Fr.), Hysterie 6 (1 M. 4 Fr.) und 7 (1 M. 6 Fr.), anderen Krank¬ 
heiten des Nervensystems 6 (1M. 4 Fr.) und 4 (1M. 3 Fr.), Alkoholismus 12 (11M. 
1 Fr.) und 3 (2 M. 1 Fr.). Im Strafverfahren zur Beobachtung eingewiesen 16 
und 18. Entlassen nach dem Garnisonlazarett 207 Soldaten, vom sonstigen Be¬ 
stand geheilt 96 und 94, gebessert 178 und 186, ungebessert 41 und 49, versetzt 
nach anderen Anstalten 205, davon nach Strafanstalten 11 und 21. Aus der Be¬ 
obachtung entlassen 9 und 3. Gestorben 59 (23 M. 26 Fr.) und 63 (30 M. 23 Fr.). 
An progressiver Paralyse gelitten hatten 8 und 6, arteriosklerotischer Demenz 

3 und 8, seniler 6 und 7. — In der Abt. für Nervenkranke war der Anfangsbestand 
30 (16 M. 14 Fr.), Zugang 335 (190 M. 145 Fr.). Abgang 338 (194 M. 144 Fr.). 
Bleibt Bestand für 1914 = 27 (12 M. 15 Fr.). Zugang 268 (149 M. 119 Fr.). Ab¬ 
gang 287 (166 M. 131 Fr.). Bleibt Schlußbestand 8 (6 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung 
in Unfall- und Invaliditätssachen jährlich aufgenommen zirka 100. In der Poli¬ 
klinik war 1913 ein Zugang von 543 Pers., 1914 von 624. Behandelt im ganzen 


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Snell, Anstaltswesen and Statistik. 


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wurden 606 (382 M. 224 Fr.) und 647 (347 M. 200 Fr.). Mit Kriegsbeginn wurde 
eine größere Anzahl von Patienten nach Emmendingen überfährt, um für Sanitärs- 
zwecke des Heeres Platz zu schaffen. Sowohl Mobilmachungs- als Kriegspsychosen 
kamen zunächst zur Behandlung, späterhin Aufnahmen von der Front. 

Illenau: Anfangsbestand 1913 = 680 (315 M. 365 Fr.). Zugang 616 (299 M. 
317 Fr.). Abgang 648 (320 M. 328 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 648 (294 M. 
354 Fr.). Der Rückgang des Gesamtkrankenstandes 1913: 1233, 1914: 1226 ist 
namentlich auf die Eröffnung der Anstalt Konstanz zurückzuführen. Beim Zu¬ 
gang waren unter den Formen der Psychosen in den beiden Berichtsjahren ver¬ 
treten: originär-paranoische Konstitution bei 1 M. und 1 M., Querulantenwahn 
3 und 2, Paranoia 1M. und 9 (7 M. 2 Fr.), manisch-depressive Konstitution 34 und 
9, manisch-depressives Irresein 126 (30 M. 96 Fr.) und 116 (40 M. 76 Fr.), psycho¬ 
pathische Konstitution 65 (37 M. 28 Fr.) und 65 (31 M. 34 Fr.), pathologische 
Reaktionen 6 (6 M. 1 Fr.) und 9 (6 M. 3 Fr.), Imbezillität, organ. Form 9 und 7, 
Alkoholismus 46 (43 M. 3 Fr.) und 48 (38 M. 10 Fr.), Morphinismus 1913 = 3, 
Lues cerebri 4 (3 M. 1 Fr.) und 2 Fr., progressive Paralyse 21 (17 M. 4 Fr.) und 
29 (27 M. 2 Fr.), Psychosen bei akuten toxisch wirkenden Krankheiten 3 (1 M. 

2 Fr.) und 3 Fr., bei Krankheiten der Zentralorgane 5 (2 M. 3 Fr.) und 3 (1M. 2 Fr.), 
nach traumatischer Gehimschädigung 3 M. und 3 M., bei Erschöpfungen 14 (2 M. 

12 Fr.) und 29 (1 M. 28 Fr.), Dementia praecox 214 (110 M. 104 Fr.) und 186 
(109 M. 76 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 2 und 7, senile Prozesse 18 
(6 M. 12 Fr.) und 25 (11M. 14 Fr.), arteriosklerotische 14 (10M. 4 Fr.) und 6 (3 M. 

3 Fr.), senil-arteriosklerotische 23 (11 M. 12 Fr.) und 11 (1 M. 10 Fr.), unklare 
akute Fälle 1 und 1, chronische 1 und 3, nicht geisteskrank, nicht psychopathisch 
1914 = 1 Fr. Erblich belastet waren 291 und 243. Auf Grund § 81 Str.-P.-O. ein¬ 
gewiesen 16 (13 M. 2 Fr.) und 11 (9 M. 2 Fr.), davon als unzurechnungsfähig be¬ 
gutachtet 9 und 2. Entlassen genesen 68 (34 M. 34 Fr.) und 59 (17 M. 24 Fr.), 
gebessert 336 (165 M. 181 Fr.), ungebessert 26 (14 M. 12 Fr.) und 13 (2 M. 11 Fr.), 
nach anderen Anstalten verbracht 133 und 63, zurück zur Strafanstalt 3 und 7, 
aus der Beobachtung entlassen, nicht geisteskrank 3 und 1. Gestorben sind 79 
(43 M. 36 Fr.) und 82 (44 M. 38 Fr.), davon infolge Paralyse 18 (16 M. 2 Fr.) und 
18 M., Tuberkulose 13 (5 M. 8 Fr.) und 10 (2 M. 8 Fr.), an Erschöpfung, Maras¬ 
mus 6 und 10. 

Pforzheim: Anfangsbestand 1913 = 511 (248 M. 263 Fr.). Zugang 107 
<72 M. 36 Fr.). Abgang 99 (43 M. 56 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 619 (277 M. 
242 Fr.). Zugang 113 (62 M. 61 Fr.). Abgang 74 (43 M. 31 Fr.). Bleibt Bestand 
558 (286 M. 272 Fr.). In den Wachabteilungen befanden sich am Jahresschluß 
1913 = 7,58 % der M., 8,26 % der Fr., 1914 = 7,36 und 7,36 %. Von den Ver¬ 
pflegten b'tten an einfacher Seelenstörung 1913 = 472 (230 M. 242 Fr.), 1914 = 
495 (241M. 254 Fr.), paralytischer Seelenstörung 61 (33 M. 18 Fr.) und 44 (31M. 

13 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 73 (42 M. 31 Fr.) und 71 (41M. 30 Fr.), 
Epilepsie mit Seelenstörung 12 (7 M. 6 Fr.) und 12 (8 M. 4 Fr.), Hysterie je 1 M., 
Chorea je 1 Fr., anderen Krankheiten des Nervensystems 6 (4 M. 1 Fr.) und 5 (4 M. 
1 Fr.), Alkoholismus je 3 M. Von den Aufgenommenen waren erblich belastet 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


48 und 34. Entlassen geheilt sind 1914 = 3, gebessert 1913 und 14 = o und 12- 
imgebessert 27 und 11, in andere Anstalten 30 und 20, zur Familienpflege 2 und 6. 
Von den ungebessert Entlassenen wurden nach Konstanz überführt 20 (8 M. 12 Fr. i 
und 5 (3 M. 2 Fr.). Vorübergehend auigenommen 27 Pfleglinge der Epileptiker* 
anstatt Kork b. Straßburg. Gestorben 1913 = 67 (25 M. 42 Fr.), 1914 = 48 (26 M. 
22 Fr.), davon hatten gelitten an Paralyse 7 (3 M. 4 Fr.) und 5 (2 M. 3 Fr.), Tu¬ 
berkulose 15 (4 M. 12 Fr.) und 14 (9 M. 5 Fr.), an Tuberkulose erkrankt waren IT 
(8 M. 9 Fr.) und 15 (7 M. 8 Fr.). Typhus herrschte noch von den Vorjahren hei 
epidemisch; 1912 waren erkrankt 8 M. 3 Fr. und vom Personal 21 (17 Wärteri nn en 
im Januar 1913 erkrankten noch 2 männl. Pflegl. und 1 Wärterin. 1914 nur eir 
ganz vereinzelter Fall (1 männl. Pflegl.). Insgesamt sind an Typhus verstorber 
1 Werkmeisetr und 2 männl. Pfleglinge (darunter der von 1914). Die Bazillen¬ 
ausscheider waren isoliert (1 Wärterin noch mehrere Monate, 1 w. Kr. nahen 
1% Jahr), bis völlige Bazillenfreiheit sich ergab. — Infolge der Einwirkung dt> 
Krieges waren aufgenommen 4 M. 7 Fr., davon genesen 3 M., gebessert 1 Fr.; 2 Fr. 
wurden als ungebessert in Anstaltspflege behalten. 

Emmendingen: Anfangsbestand 1913= 1394 (758 M. 636 Fr.). Zuganr 
291 (139 M. 152 Fr.). Abgang 422 (216 M. 206 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 
1263 (681M. 582 Fr.). Zugang 313 (1% M. 117 Fr.). Abgang 286 (170 M. 116 Fr.*- 
Bleibt Schlußbestand 1914 = 1290 (707 M. 583 Fr.). Erste Aufnahmen 1913 = 
213, 1914 = 240. Von den Verpflegten litten an einfacher Seelenstörung 1913 = 
1323, 1914 = 1234, paralytischer Seelenstörung 10 und 13, Imbezillität, Idiotie 
167 und 156, Epilepsie mit Seelenstörung 133 und 104, Hysterie 12 und 8, ABuf 
holismus 42 und 55, anderen Krankheiten des Nervensystems 7 und 6, Neurastheni> 
1. Unter den Erkrankten des Jahres 1914 waren 55 Soldaten, davon wurden ent 
lassen 27; 1 Todesfall. In Familienpflege befanden sich 1913 = 6,1914= 4 Frauen. 
Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 1913 = 261 M. 62 Fr., 1914 = 269 >1. 
53 Fr. Entlassen sind in beiden Jahren gebessert 140 und 159, ungebessert 13- 
und 165, zur Familienpflege 132 und 166, in andere Anstalten 192 und 30, davoi 
nach Konstanz verbracht 1913 = 164 (83 M. 81 Fr., 1914 = 11 (6 M. 6 Fr.). Ge¬ 
storben sind 1913 = 78 (35 M. 43 Fr.), 1914 = 73 (42 M. 31 Fr.), und zwar in¬ 
folge Paralyse insgesamt 6, Tuberkulose 48, Typhus 2. Zur Feststellung von Ba¬ 
zillenträgern wurden untersucht 1913 = 245 Kr. und 62 Angestellte, 1914 = 
172 Kr. 142 Angestellte. Paratyphusbazillen gefunden bei insgesamt 6 (3 M. 2 Fr. ' 
und 1 Aushilfswärter, Typhusbazillen 19 (17 M. 2 Fr.). Die Untersuchungen waren 
ausgeführt im Hygienischen Institut d. U. Freiburg. 

Wiesloch: Anfangsbestand 1913= 1239 (623 M. 616 Fr.). Zugang 47, r « 
(276 M. 199 Fr.). Abgang 418 (240 M. 178 Fr.). Bleibt Bestand für 1914 = 1294 
(657 M. 637 Fr.). Weiterer Zugang 437 (246 M. 191 Fr.). Abgang 468 (258 M 
210 Fr.). Schlußbestand 1263 (646 M. 618 Fr.). Erste Aufnahmen 1913 = 3# 1 
(200 M. 160 Fr.); 1914 = 325 (183 M. 142 Fr.). Aus der psychiatrischen Klinik 
zu Heidelberg waren übernommen 1913 = 227 (115 M. 112 Fr.), 1914 = IST 
(102 M. 85 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 1913 = 337 (161II 
176 Fr.), 1914 = 305 (139 M. 166 Fr.), paralytischer Seelenstörung 31 (25 >1. 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


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! Fr.) und 32 (24 M. 8 Fr.), Imbezillität und Idiotie, Kretinismus 35 (31M.4 Fr.) 
ind 9 (6 M. 3 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 26 (21 M. ö Fr.) und 36 
31 M. 5 Fr.), Hysterie 6 (1M. 5 Fr.) und 4 Fr., Alkoholismus 24 (22 M. 2 Fr.) und 
12 (29 M. 3 Fr.), anderen Erkrankungen je 3 M. Zur Beobachtung aufgenommen 
ind Nichtkranke 12 (11M. 1 Fr.) und 11 (10 M. 1 Fr.). Erblichkeit nachgewiesen 
lei 190 (133 M. 57 Fr.) und 134 (82M. 52 Fr.), Alkoholmißbrauch 113 (108 M. 5 Fr.) 
ind 77 (70 M. 7 Fr.). Beobachtungen gemäß § 81 Str.-P.-O. bei 7 und 12 M., davon 
;eisteskrank nach § 51 Str.-G.-B. 5. Entlassen geheilt 1 M., gebessert 240 (137 M. 
17 Fr.) und 232 (119 M. 113 Fr.), ungebessert 17 (12M. 5 Fr.) und 27 (22 M. 6 Fr.), 
lach anderen Anstalten verbracht 79 imd 99, zur Strafanstalt zurück je 5 M. Ge¬ 
itorben sind 69 und 95, davon an Lungenschwindsucht 19 (5 M.. 14 Fr.) und 17 
5 M. 12 Fr.), infolge Erkrankungen des Nervensystems 22 (11 M. 11 Fr.), dar- 
mter Paralyse bei 16 (10 M. 6 Fr.) und 24 (17 M. 7 Fr.), Krankheiten der Atmungs- 
irgane 7 (3 M. 4 Fr.) und 5 (4 M. 1 Fr.), der Kreislauforgane 9 (6 M. 3 Fr.) und 
15 (5 M. 10 Fr.), an Altersschwäche 5 (2 M. 3 Fr.) und 5 (3 M. 2 Fr.). Erkrankt 
in Typhus 3 Pers., außerdem einige Bazillenträger vorhanden. Zahlreiche Fälle 
von Angina follicularis und abscedens. 

Konstanz: Die Anstalt ist nahe der Station Reichenau in herrlicher land- 
chaftlicher Umgebung nach einem zweifellos sehr glücklichen Anlageplan neu 
;rbaut und im Besitz eines Geländes von zirka 85,5 ha. Es sind 24 Kran¬ 
kenhäuser (12 für M., 12 für Fr.) mit 910 Betten und je 1 Infektionshaus 
'.u 12 Betten vorgesehen, zahlreiche Venvaltungs-, Wohn-und Wirtschafts¬ 
gebäude, Gutshof. Der Gesamtaufwand einschließlich Gelände und Ein- 
•ichtung stellt sich auf 5 800 000 M., demnach Kosten pro Bett 910 M. 
Die erste Belegung erfolgte Oktober 1913 mit unmittelbar neuen Auf¬ 
nahmen und Überführungen aus anderen Landesanstalten. Die Zahl der 
vorhandenen Plätze betrug Ende 1913 = 400, Ende 1914 = 434. Der 
Krankenbestand belief sich zu Beginn des Jahres 1914 auf 304 (151 M. 153 
Fr.), zum Schlüsse des Jahres auf 366 (180 M. 186 Fr.). Vom 
Zugang litten an originär-paranoischen Formen 1913 = 5 M., 1914 = 1 M., 
nanisch-depressiven Formen 22 (6M. 16 Fr.) und 24 (10 M. 14 Fr.), 
inderen psychopathischen Formen 7 (6 M. 1 Fr.) und 25 (17 M. 8 
■>.), Imbezilliät, Idiotie 9' (8 M. 1 Fr.), Alkoholismus 10 (9 M. 1 Fr.) 
ind 13 M., progressiver Paralyse6 (5 M. 1 Fr.) und 9 (6 M. 3 Fr.), Psychosen bei 
nderen Erkrankungen der Zentral organe 2 M. und 5 (3 M. 2 Fr.), nach Trauma 
isw. 1M., bei akuten toxisch wirkenden Krankheiten 2 Fr., Dementia praecox, 
fugendform 158 (65 M. 93 Fr.) und 63 (23 M. 40 Fr.), Spätformen 65 (30 M. 36 Fr.) 
ind 22 (10 M. 12 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 15 (13 M. 2 Fr.) und 
2 (7 M. 5 Fr.), senile und arteriosklerotische Prozesse 11 (4 M. 7 Fr.) und 20 (9 M. 
1 Fr.). Zur Beobachtung aufgenommen nach § 81 Str.-P.-O. 4 M., davon zu- 
echnungsfähig 1 M. Entlassen genesen 1914 = 9 (3 M. 6 Fr.), gebessert 1913 = 
!, 1914 = 78 (49 M. 29 Fr.), ungebessert 1 und 17 (10 M. 7 Fr.). Gestorben 17 
10 M. 7 Fr.) und 21 (5 M. 16 Fr.). An Tuberkuloe erkrankt 16. 

Eglfing (11): Anfangsbestand 1178 (598 M. 580 Fr.). Zugang 434 (244 M. 
90 Fr.), 91 % aller Aufnahmen aus München; infolge des Krieges starker Rück- 
Zeitschrift för Psychiatrie, LXXIII. Lit. m 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


gang der Aufnahme männl. Ausländer (um 52 % gegen das Vorjahr). Abgang 
398 (227 M. 171 Fr.). Bleibt Bestand 1214 (615 M. 599 Fr.). Vom Zugang litten 
an Psychosen bei gröberer Himerkrankung 2 Fr., Morphinismus, Kokainismus 
2 Fr., Alkoholismus 36 (34 M. 2 Fr.), Lues cerebri und Tabespsychosen 9 (5 M. 

4 Fr.), progressive Paralyse 62 (44 M. 18 Fr.), senilen und präsenilen Erkran¬ 
kungen 7 (2 M. 5 Fr.), Arteriosklerose 4 (1M. 3 Fr.), Dementia praecox 118 (69 M. 
49 Fr.), paranoiden Formen 15 (5 M. 10 Fr.), Epilepsie 16 (10 M. 6 Fr.), manisch- 
depressiven Psychosen 88 (32 M. 56 Fr.), Hysterie 27 (5 M. 22 Fr.), Haftpsychosen 

5 (4 M. 1 Fr.), paranoide und querulatorische Persönlichkeiten —, Paranoia 6 
(2 M. 4 Fr.), Psychopathen 14 (13 M. 1 Fr.), Imbezillität, Debilität 15 (1M. 4 Fr.), 
Idiotie 2 M., unklar 1 Fr.; nicht geisteskrank 4 M. Von Militärpersonen, nicht 
von der Front, aufgenommen 6 (Dementia praecox-Fälle, Paralyse, Lues cerebri), 
Zivilpersonen infolge Kriegserregung 4 Aufnahmen. Abgang infolge Genesung 5 
(3 M. 2 Fr.), gebessert 161 (90 M. 71 Fr.), an andere Anstalten abgegeben 97 (68 M. 
29 Fr.), sonstige 27 (15M. 12 Fr.). Gestorben 107 (50 M. 57 Fr.), davon infolge 
Paralyse 53 (34 M. 19Fr.), Tuberkulose 21 (6 M. 15 Fr.). In dem nach Kriegs¬ 
ausbruch eröffnoten Reservelazarett der Anstalt (100 Betten) fanden bis Jahres¬ 
schluß 117 M. Aufnahme. — Gesamtausgabe: 1427 637,09 M. 

Haar (18): Anfangsbestand 521 (271 M. 250 Fr.). Zugang 334 ( 206M. 
128Fr.), davon polizeiliche Aufnahmen 147 (106 M. 41 Fr.); 81 % aller Aufnahmen 
aus der Psychiatr. Klinik München. Abgang 315 (199 M. 116 Fr.). Bleibt Be¬ 
stand 540 (278 M. 262 Fr.). Krankheitsformen des Zugangs: Psychosen bei grö¬ 
berer Hirnerkrankung 2 (1 M. 1 Fr.); Alkoholismus 31 (29 M. 2 Fr.), darunter 
chron. Alkoholismus 19 M. = 5,7 % des Zugangs; Lues cerebri und Tabespsy¬ 
chosen 7 (4 M. 1 Fr.); progressive Paralyse 61(45 M. 16 Fr.) - 182% des Zugangs 
(2,8 männl. Paralytiker zu 1 weibl.); senile und präsenile Erkrankunngen 

6 Fr.; arteriosklerotische Erkrankungen 10 (8 M. 2 Fr.); endogene Verblödungen 
106 (60 M. 46 Fr.), davon Dementia praecox 95 (53 M. 42 Fr.) = 31,7 % des Zu¬ 
gangs; Epilepsie 13 (12 M. 1 Fr.); manisch-depressive Veranlagungen und Psy¬ 
chosen 54 (20 M. 34 Fr.) = 16,1% des Zugangs; Hysterie 7 (3 M. 4 Fr.); Pa¬ 
ranoia, Querul. usw. 1 M.; psychopath. Pers. 21 (15 M. 6 Fr.); Imbezillität und 
Debilität 10 (8 M. 2 Fr.); Idiotie 2 Fr.; unklar 3 Fr. Laut § 81 Str.-P.-O. ein¬ 
gewiesen 2 Pers., davon geisteskrank 1. Entlassen genesen (lediglich manisch- 
depressive Formen) 3 (2 M. 1 Fr.), gebessert 158 (106 M. 62 Fr.), ungehcilt 69 (37 M. 
32 Fr.), hiervon anderen Anstalten zugeführt 48 (28 M. 20 Fr.). Gestorben 85 
(54 M. 31 Fr.) = 10 % des Gesamtbestandes, 27 % des Abgangs. 55 % aller Todes¬ 
fälle infolge Paralyse; Tuberkulosesterblichkeit 8,2% gegen 13% des Vorjahres. 
Für geisteskranke Heeresangehörige 100 Plätze bereitgestellt. Zugang im Berichts¬ 
jahre 4 P., 2 Alkoholmißbrauch bew. kataton. Erregungszustand, 2 paralytische 
Demenz. 

Im Kinder hause Anfangsbestand 25 (15 Kn. 10 Md.). Zugang 55 (30 Kn. 
25 Md.). Abgang 41 (20 Kn. 21 Md.). Bleibt Bestand 39 (25 Kn. 14 Md.). Erb¬ 
liche Belastung bei 67 % des Zugangs, Trunksucht der Eltern beteiligt bei 20 %. 
2 Fälle kongenitale Lues. Bildungsfähig 11 Kn. 5 Md. 


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Sn eil. Anstalts wesen und Statistik. 


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Im Reservelazarett Haar verpflegt im November und Dezember 70 P. mit 
2751 Verpflegungstagen. Vorheriger Transport 17 M. 2 Todesfälle. — Gesamt¬ 
ausgabe: 610 647,66 M. 

Gabersee (15): Anfangsbestand 853 (454 M. 399 Fr.). Zugang 254 (142 M. 
112 Fr.). Abgang 237 (138 M. 99 Fr.). Bleibt Bestand 870 (458 M. 412 Fr.). Nor- 
inalplatzzalü 797 Betten; Höchstbestand im November mit 884 Pfl. = 11 % 
Überfällung. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 182 (87 M. 95 Fr.), 
paralytischer Seelenstörung 31 (20 M. 11 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 
14 (13 M. 1 Fr.), Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 6 M., Hysterie 1 Fr., Chorea 
1 Fr., Alkoholismus 25 (24 M. 1 Fr.), Morphinismus 2 Fr. Herrschende Krank¬ 
heitsformen u. a. progressive Paralyse bei 20 M. 11 Fr., Dementia praecox 49 M. 
36 Fr., manisch-depressives Irresein 26 M. 54 Fr. Erbliche Belastung nachgewiesen 
bei 79 (41 M. 38 Fr.), Alkoholmißbrauch 21 (20 M. 1 Fr.). Wegen Sicherheits¬ 
gefährdung eingewiesen 43% (i. Vorj. 39%) der Aufgenommenen (53% der M., 
30 % der Fr.). Keine gerichtlichen Einweisungen. Abgegangen nicht geisteskrank 

I = 0,4%, genesen 37 = 15,6% (6,7 % M., 8,9 % Fr.), gebessert 88 = 37,1 % 
<21,9% M. 37,1% Fr.), ungebessert 58 = 24,5% (15,6% M., 8,9% Fr.). Ge¬ 
storben sind 53 - 22,4 % (13,5 % M., 8,9 % Fr.). Mortalität = 6,2 % (i. Vorj. 
6,7 %) des durchschnittlichen Bestandes. Mortalität des Gesamtbestandes 
4,8% (i. Vorj. 5,3%). Von den Verstorbenen hatten gelitten an Paralyse 17i 
(22,6% M. 9,4% Fr.), an Dementia praecox 15. An chronischen Krankheiten 
starben 10 M. 4 Fr., Nervenkrankheiten 6 M. 7 Fr., lokalen Erkrankungen 15 M. 
10 Fr., Erstickung 1 M. Tuberkulöse Erkrankungen als Todesursache bei 13. 
6 weibl. Typhusbazillenträger sind ständig isoliert. Typhuserkrankungen nur aus 
dem Vorjahre noch vorhanden. Umfangreiche Typhus-Schutzimpfungen sind vor¬ 
genommen mit günstiger Morbidität. Geisteskranke des mobilen Heeres wurden 
4 aufgenommen, 2 davon konnten nach kurzem Aufenthalt entlassen werden. — 
Gesamtausgabe: 732 502,02 M. 

Werneck (57): Anfangsbestand 595 (290 M. 305 Fr.). Zugang 178 (98 M. 
30 Fr.). Abgang 149 (76 M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 624 (312 M. 312 Fr.). Unter 
den Aufnahmen können mit dem Krieg in Verbindung gebracht werden 3 Fälle 
bei Frauen mit Melancholie und baldiger Heilung, bei den M. einige psychopathi¬ 
sche Veranlagungen, und bei 4 jungen Leuten akute Störungen mit baldiger Wieder¬ 
herstellung. Zur Beobachtung aufgenommen und nicht krank befunden 4 M. 1 Fr. 
Entlassen genesen 20 (17 M. 3 Fr.), gebessert 62 (26 M. 36 Fr.), ungeheilt 18 (7 M. 

II Fr.), davon nach anderen Anstalten 3 M. 3 Fr. Gestorben sind 46 = 5,8% 
gegen 5,3% im Vorjahre, davon starben infolge Paralyse 4 M. 2 Fr., Epilepsie 
3 M., Tuberkulose 1 Fr. Auffallender Rückgang an Tuberkulose, zuzuschreiben 
durchgeführten sanitären Verbesserungen; i. J. 1912 noch 24 Todesfälle = 37,5 %, 
1913 = 10 = 23,2 %, im Berichtsjahre 1 Fall = 2,2 %! Eine Typhusbazillenträgerin 
rechtzeitig isoliert. — Mit Kriegsbeginn waren 40 Plätze der Militärverwaltung 
zur Verfügung gestellt, späterhin wurde eine Krankenabteilung als Reservelazarett 
zunächst mit 18 Kr. belegt. 

Homburg i. d. Pfalz (24): Anfangsbestand 657 (341 M. 316 Fr.). Zu¬ 
gang 172 (107 M. 65 Fr.), davon aus der Anstalt Klingenmünster 26 (16 M. 9 Fr.). 

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172* Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 

Abgang 167 (95 M. 62 Fr.). Bleibt Bestand 672 (363 M. 319 Fr.). Unter den An¬ 
genommenen befanden sich an Krankheitsformen Alkoholwahnsinn bei 3 M. = 
2,8% chron. Alkoholismus 1 M. = 0,9 %, Kollapszustand 1 Fr. = 1,6 %, pro¬ 
gressive Paralyse 9 M. = 8,4 %, 3 Fr. = 4,6 %, seniler Schwachsinn 3 M. = 2,8 %, 
2 Fr. = 3,1 %, arteriosklerotische Erkrankungen 1 M. = 0,9 %, 2 Fr. = 3,1 % r 
Dementia praecox 41 M. = 38,3 %, 27 Fr. = 41,6 %, paranoide Schwachsinn¬ 
formen 9 M. = 8,4 %, genuine Epilepsie 4 M. = 3,7 %, 3 Fr. = 4,6 %, Imbezillität, 
Idiotie je 2 M. = 1,8 % und je 1 Fr. = 1,6 %, manisch-depressive Psychosen 
14 M. = 13 %, 23 Fr. = 36,6 %, psychogene Haftpsychosen 3 M. = 2,8 %, Zwangs¬ 
vorstellungen 1 Fr. = 1,,6 %; ferner Haltlose 5 M., Schwindler und Lügnef 1 M., 
sonstige Psychopathen 2 M.; nicht geisteskrank 5 M. Zur Beobachtung nach § 81 
Str.-Pr.-O. eingewiesen 7 M., davon geisteskrank 2, laut Art. 80II P. Str.-G.-B. 
eingewiesen 18 M. 2 Fr. Von Soldaten und Heeresangehörigen fanden mit Kriegs¬ 
beginn Aufnahme 31, der Mehrzahl nach konnten sie nach kurzer Zeit entlassen 
werden. Entlassen vom Hauptbestande geheilt 3 M. 3 Fr., gebessert 43 M. 23 Fr., 
ungeheilt 6 M. 12 Fr.*, als nicht geisteskrank 6 M. Gestorben sind 62 (38 M. 24 Fr.) 
= 7,4 %(4,6%M. 2,8% Fr.) des Gesamtbestandes. 11 Fälle mehr alsim Vorjahre. An 
akuten übertragbaren Krankheiten starben 1 M., Tuberkulose 7 M. 6 Fr., Zellen¬ 
gewebsentzündung, Karzinom je 1 P., groben organischen Veränderungen des 
Nervensystems 1 M. 1 Fr., nervöser Erschöpfung in akutem Verlauf 6 M., in chro¬ 
nischem Verlauf 9 M. 3 Pi’., Krankheiten der Atmungsorgane 8 M. 1 Fr., Herz- 
und Gefäßkrankheiten 3 M. 6 Fr., Krankheiten der Verdauungsorgane 2 M., der 
Nieren 5 Fr. Die Tuberkulosestation der Männerseite war ständig mit 10—20 
Kranken belegt, die der Frauenseite hatte einen durchschnittlichen Bestand von 
30 P. Typhus- und Paratyphusbazillenträger wurden im Epidemienhaus isoliert 
gehalten (6 M. 2 Fr.). — Die Chronik der Anstalt gibt interessante Einzelheiten über 
den regen Verkehr von Sanitätsstäben, -truppen und-kolonnen in der Anstalt zur 
Zeit der ersten Kriegsmonate, sowie über die Belegung mit Etappen- und sonstigen 
Lazaretten und Stationierungen. 

Bayreuth (3): Anfangsbestand 664 (367 M. 297 Fr.). Zugang 212 (128 M., 
darunter 16 Heeresangehörige bzw. Kriegsteilnehmer, 84 Fr.). Abgang 211 (126 M. 
86 Fr.). Überführt nach Kutzenberg 47 (36 M. 12 Fr.), von dort übernommen 8 
(7 M. 1 Fr.). Bleibt Bestand 666 (369 M. 296 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher 
Seelenstörung 136 (84 M. 51 Fr.), paralytischer Seelenstörung 9 M., Seelenstörung 
mit Epilepsie und Hysteroepilepsie 19 (8M. 11 Fr.), anderen Krankheiten des Nerven¬ 
systems 26 (10 M. 15 Fr.), Imbezillität 9 (2 M. 7 Fr.), Alkoholismus 14 M. Erbliche 
Belastung nachgewiesen bei 96 (63 M. 43 Fr.) = 45,6 % (41,7 % M., 61,2 % Fr.) 
der Aufgenommenen. Alkoholmißbrauch festgestellt bei 36 M. (28,3 %) und 1 Fr. 
Zur Beobachtung gerichtsseitig eingewiesen 3 M. 1 Fr., von der Landesversicherungs¬ 
anstalt 4 P. Auf Grund Art. 80 P. Str.-G.-B. eingewiesen 70 (46 M. 26 Fr.). Ge¬ 
samtzahl am Schlüsse des Jahres der derart Eingewiesenen 238 (148 M. SO Fr.). 
Entlassen genesen 8 (3 M. 5 Fr.) = 3,8 %, gebessert 80 (48 M. 31 Fr.) = 37,6 %, 
ungeheilt 73 (49 M. 24 Fr.) = 34,7 %, davon in eine andere Anstalt 60 (43 M. 
17 Fr.); nicht geisteskrank 1 P. Gestorben 50 (26 M. 25 Fr.) = 23,8%, davon 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


173 * 


•waren paralytisch 10. An Tuberkulose starben 3 M. 8 Fr. = 22 % gegen 21,8 % 
ira Vorjahr. — Gesamtausgabe: 618 667,20 M. 

Kutzenberg (27): 190 Aufnahmen bei einem Anfangsbestand von 273 Kr., 
mit den Krankheitsformen: einfache Seelenstörung bei 79 M. 64 Fr. = 41,6 % 
und 33,6 %; paralytische Seelenstörung 11 M. 3 Fr. = 5,7 % und 1,7 %; Seelen¬ 
störung mit Epilepsie und Hysteroepilepsie 6 M. 9 Fr. = 3,1% und 4,8%; Im¬ 
bezillität und Idiotie 10 M. 3 Fr. = 5,3 % und 1,6 %; Delirium potatorum 6 M. 
= 2,7 %. Zur Beobachtung wegen Invalidität 6 Kr. Als gemeingefährlich ein¬ 
gewiesen 30 (25 M. 6 Fr.) = 15,8 % der Aufnahmen. Abgang 156 Kr., davon ge¬ 
nesen 55, gebessert 32, ungeheilt 26 (an Anstalten abgegeben 10), nicht geistes¬ 
krank 2. Gestorben 41 (Mortalität 8,8 % des Gesamtbestandes), davon 4 infolge 
Tuberkulose = 9,75 % der Todesfälle, infolge Paralyse 8, Altersschwäche 8 (aus 
Bayreuth Qberführte alte Insassen); Paralytiker-Zugänge überhaupt 14 zu 11 
vorhandenen = 6,4 % des Gesamtbestandes. — Bei Kriegsbeginn 50 PI. für nerven- 
und geisteskranke Krieger und für Verwundete 37 PI. bereitgestellt. Aufgenommen 
bis zum Jahresschluß 32 Verwundete und 12 Geisteskranke, unter letzteren haupt¬ 
sächlich Hitzschlagfälle. — Gesamtausgabe: 269 225,37 M. 

„Zum guten Hirten“ We.rnigerode-Hasserode (58): Die Zahl der 
Pfleglinge ist auf 42 gestiegen; der Jahresdurchschnitt beträgt 33. Alle Dienst¬ 
verrichtungen werden von den Pfleglingen ausgeführt. Beschäftigt wurden 12, 
den Schulunterricht besuchten 8; nicht beschäftigungsfähig wegen geringen Alters 
oder mangelhaften geistiger Zustandes 12. — Gesamtausgabe: 35 733,60 M. 

Lindenhaus (31): Anfangsbestand 381 (193 M. 188 Fr.). Zugang 149 
(83 M. 66 Fr.). Abgang 165 (92 M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 365 (184 M. 181 Fr.). 
Von den Verpflegten litten an einfacher Seelenstörung 373 (189 M. 184 Fr.), Seelen¬ 
störung durch Syphilis 12 (10 M. 2 Fr.), Imbezillität, Idiotie 44 (22 M. 22 Fr.), 
Epilepsie 70 (33 M. 37 Fr.), Alkoholismus 14 M., Hysterie 5 Fr. Krankheitsdauer 
vor der Aufnahme bis 1 Jahr bei 44 = 8,3 %, 1—2 Jahre 55 = 10,4 %, 2—4 Jahre 
38 = 7,1 %, 4—6 Jahre 52 = 9,8 %, 6—8 Jahre 56 = 10,5 %, 8—10 Jahre 38 = 
7,1%, mehr als 10 Jahre = 9,8%, unbekannte Zeit 196 = 37,0%. Veranlagt 
durch Eltern zu Geisteskrankheit und Nervenleiden 176 = 33,3 %, Trunksucht 
95 = 18 %, Syphilis 40 = 7,4 %, Tuberkulose 35 = 6,4 %. Erkrankt waren im 
Anschluß an Entwicklungsjahre 11 = 2,1%, Wechseljahre 21 = 4 %, Schwanger¬ 
schaft, Entbindung 10 = 1,9 %, äußere Ursachen 12, Haft und Verurteilung 18, 
Gemütserschütterung 42 = 8 %, Unfall und Verletzung 18 = 3,4 %, Tuberkulose 
10= 1,9%, Syphilis 28= 5,3%. Tuberkulös waren 9,6%; Fürsorgezöglinge 
oder in Fürsorgeerziehung gewesen 21 = 4 %, als Trinker bekannt 72 (58 M. 14 Fr.) 
= 13,7 %. Mit dem Strafgesetz in Konflikt gewesen 79 (58 M. 21 Fr.) = 16 %. 
Zur Beobachtung überwiesen 5 M., davon 3 von Gerichtsbehörden. Entlassen als 
erwerbsfähig 22 (14 M. 8 Fr.) = 16,6%, gebessert, arbeitsfähig 36 (22 M. 14 Fr.) 
= 27 %, ungeheilt 75 (39 M. 36 Fr.) = 56,4 %. Gestorben 28 = 5,3 %, und zwar 
im Durchschnittsalter von 53 Jahren. Es starben infolge Tuberkulose 4, Lungen¬ 
entzündung 4, Nierenentzündung 2, fortschreitender Gehirnerweichung 1, Gehirn- 
schlag 1, Herzschlag, Schlagaderverkalkung je 1, Marasmus bei Epilepsie, Alters« 


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174 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


schwäche 3, Sepsis 3, Typhus 1, Krebs 2. •— Von den Verpflegten gehörten nach 
der vom D. V. f. Psych. aufgestellten Einteilung zu der Gruppe 1 - 0,2 %, 2 : 2b, 
2e = 0,7 %, 4 : 4, 4a, 4b, 4c 11 = 2 %, 5 : 6 = 0,7%,6 : 6 = 0,7 %, 7 : 7 = 2,9 %, 

8 : 8a, 8b, 8c = 1,7 %, 9 : 9 = 0,9 %, 10 :10c = 0,4 %, 11 :11,11a 11b = 74,5 %, 
12 :12, 12a, 12d = 10,8 %, 13 : 13 = 18,1 %, 14 :14 = 1,1 %, 16 :15 = 0,9 %, 
16 :16 = 1,5 %, 17 : 17a, 17b, 17c, 17d, 17e = 3 %, 18 :18 = 12,1 %, 19 :19c = 
0,5 %, 20 : 20 = 0,9 %, 21: 21 = 3 %. — Nutzbringend beschäftigt waren von 
M. durchschnittlich = 69,9 % (i. Vorj. 65,3 %), von Fr. = 68,5 % (64,9 %). — 
Gesamtausgabe: 283 392,89 M. 

Stephansfeld (60): Anfangsbestand 959 (427 M. 529 Fr.). Zugang 345 
(179M. 166 Fr.). Abgang301 (170M. 131 Fr.). Bleibt Bestand 1000 (436M. 564Fr.). 
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 218 (97 M. 121 Fr.), paralytischer 
Seelenstörung 28 (24 M. 4 Fr.), sonstigen organischen Psychosen 17 (9 M. 8 Fr.) r 
Epilepsie und Hysterie 40 (17 M. 23 Fr.), Idiotie, Imbezillität 23 (13 M. 10 Fr.), 
Alkoholismus 11M.; nicht geisteskrank 8 M. Erstmalige Aufnahmen 144 M. 134 Fr.; 
10 Kr. waren Heeresangehörige. Zur Beobachtung eingewiesen 11 M. 1 Fr., davon 
im Strafverfahren 9 M. In Abgang kamen genesen 55 (31 M. 24 Fr.), gebessert 99 
(56 M. 43 Fr.), ungeheilt 14 (3 M. 11 Fr.), nach anderen Anstalten verbracht 36 
(25 M. 11 Fr.); nach Ablauf der Beobachtung, nicht geisteskrank 13 (12 M. 1 Fr.). 
Gestorben 84 (43 M. 41 Fr.) = 6,4 % der Verpflegten (i. Vorj. 6,8 %). Unter den 
Todesursachen zählen progressive Paralyse bei 21 (13 M. 8 Fr.), sonstige Nerven¬ 
krankheiten 5 (3 M. 2 Fr.), Erkrankungen der Atmungsorgane 13 (10 M. 3 Fr.), 
der Kreislauforgane 12 (4 M. 8 Fr.), Tuberkulose 12 (5 M. 7 Fr.); Selbstmord 1 Fr. 
— Gesamtausgabe: 748 363,95 M. 

Hördt (23): Anfangsbestand 482 (286 M. 196 Fr.). Zugang 77 (52 M. 
25 Fr.), davon Aufnahme im Bewahrungshaus 11 M. Abgang 51 (31 M. 20 Fr.). 
Bleibt Bestand 608 (307 M. 201 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬ 
störung 58 (38 M. 20 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 6 (5 M. 1 Fr.), Imbezillität, 
Idiotie 10 (7 M. 3 Fr.), Paralyse 1M., alkohol. Geistesstörung 1M. Zur Beobachtung 
aufgenommen 1 Ausländer (im Bewahrhause) nach § 81 Str.-P.-O., litt an hysteri¬ 
schem Zustandsbild, Strafverfahren vorläufig eingestellt. Klinisch gruppiert be¬ 
fanden sich unter den Aufnahmen Dementia praecox bzw. paranoides bei 28 M. 

9 Fr., manisch-depressives Irresein bei 2 M. 7 Fr., epileptische 5 M.' 1 Fr., hysteri¬ 
sche Seelenstörung 1 M., Dementia senilis 1 M. 2 Fr., seniler Beeinträchtigungs¬ 
wahn 1 M. 1 Fr., Idiotie 1M., Imbezillität 6 M. 3 Fr., Haftpsychose 2 M., Paralysis 
progressiva, Paranoia, Psychopathie je 1 M., Pseudoparalysis alcoholica 2 M. Ent¬ 
lassen gebessert 2 M., ungeheilt 4 Fr., nicht geisteskrank 1 Fr. Gestorben sind 44 
(29 M. 15 Fr.) = 7,86% der Verpflegten; infolge Lungentuberkulose waren ge¬ 
storben 13 (8 M. 5 Fr.). — Gesamtausgabe: 284 241,76 M. 

Ellen (Bremen), St. Jürgenasyl (13): Anfangsbestand 633 (336 M. 297 Fr.). 
Zugang 488 (293 M. 195 Fr.). Abgang 514 (320 M. 194 Fr.). Bleibt Bestand 607 
(309 M. 298 Fr.). Maximalbestand gegen das Vorjahr gefallen um 7 P. (645 : 638), 
bedingt durch Überführung chron. Kranker nach Lemgo, sonst Durchschnitts¬ 
bestand gestiegen um 19,23. In Familienpflege am Jahresschluß 162 (91 M. 71 Fr.) 


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Snell, Anstaltswesen und Statistik. 


175 * 


gegen 152 (76 M. 76 Fr.) Anfangsbestand. Vom Zugang (488) litten an Schizo- 
phrcnie 135 (84 M. 51 Fr.), Paranoia 2 (1 M. 1 Fr.), manisch-depressivem Irresein 
78 (26 M. 52 Fr.), Imbezillität 21 (12 M. 9 Fr.), Idiotie 3 (1 M. 2 Fr.), apoplekt. 
Irresein 6 (4 M. 2 Fr.), Dementia senilis 44 (15 M. 29 Fr.), multipler Sklerose 3 
(2 M. 1 Fr.), Gehimarterioslderose 2 Fr., Gehirntuberkeln 1 M., Lues cerebri 9 (7 M. 
2 Fr., Paralyse 38 (30 M. 8 Fr.), Commotio cerebri 2 M.. konstitutioneller Psycho¬ 
pathie 26 (21 M. 5 Fr.), Hysterie 36 (22 M. 14 Fr.), darunter ausgesprochene Si¬ 
mulation 3, Haftpsychose 4; an Epilepsie 19 (13 M. 6 Fr.), alkoholischen Geistes¬ 
krankheiten 52 (43 M. 9 Fr.), davon Delirium tremens, akute Rauschzustände 
je 3 M., Dementia alc. und Korsakowpsychose 4 (3 M. 1 Fr.), Alkoholwahnsinn 3 
(2 M. 1 Fr.), Alkohol-Epilepsie 13 (12 M. 1 Fr.), chron. Alkoholismus 26 (20 M. 

* 6 Fr.); Chorea degenerativa 1 M. 1 Fr. Zur Beobachtung kamen 17. Geheilt ent¬ 
lassen 39 = 7.58 % des Gesamtbestandes, gebessert 203 = 39,49%, ungeheilt 
181 = 25,21 %. Gestorben 74 (33 M. 41 Fr.), davon an Lungentuberkulose 8. 
Beschäftigung 53 % der M., 43,92 % der Fr. des Durchschnittsbestandes. 

. Rockwinkel (42): Anfangsbestand 35 (14 H. 21 D.). Zugang 71 (37 H. 
34 D.). Abgang 70 (35 H. 35 D.). Bleibt Bestand 63 (16 H. 20 D.). Vom verbliebe¬ 
nen Bestand leiden an Dementia praecox 11 (5 H. 6 D.), manisch-depressivem Irre¬ 
sein 6 (1 H. 5 D.), Melancholie 5 (1 H. 4 D.), Paranoia 4 (1II. 3 D.), Paralyse und 
Taboparalyse je 2 H., Ejementia senilis und arteriosclerotica 1II. u. 1 D.,Korsakow 
und Epilepsie 1 H. 1 D., Neurasthenie 2 H. Entlassen waren geheilt 18, gebessert 
21, ungeheilt 22. Gestorben sind 9. Die Anstalt besteht 1914 seit 150 Jahren. 
Der Zugang bewegte sich in den Jahren 1895—1900 zwischen 28 und 20 P., 1901— 
1905 = 23 und 14 P., 1906—1910 = 12 und 15 P., 1911-1914 = 16 und 36 P. 

Strecknitz-Lübeck (52): Anfangsbestand 1913: 314 (170 M. 144 Fr.). 
Zugang 123 (58 M. 65 Fr.). Abgang 117 (62 M. 55 Fr.). Bleibt Bestand und An¬ 
fangsbestand für 1914: 320 (166 M. 154 Fr.). Zugang 104 (59 M. 45 Fr.). Abgang 
1.10 (66 M. 44 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1914: 314 (159 M. 155 Fr.). Von den 
\ufgenommenen des Jahres 1914 litten an Psychose bei gröberer Hirnerkrankung 
1 Fr., Alkoholismus 8 M., progressiver Paralyse 6 M. 4 Fr., senilen und präsenilen 
Psychosen 1M. 6 Fr., Hebeplirenie 50 (27 M. 23 Fr.), epileptischen Psychosen 2 M. 

1 Fr., Melancholie des Rückbildungsalters 1 M. 1 Fr., manisch-depressivem Irre¬ 
sein 7 (2 M. 5 Fr.), Hysterie 3 M., Neurasthenie 1 M. 6 Fr., Emotionspsyehosen 

2 M., Debilität, Imbezillität 2 M. 1 Fr.; psychopathische Persönlichkeiten waren 
1 M. 1 Fr.; nicht geisteskrank 4 (3 M. 1 Fr.). Erblich belastet von den Neuauf- 
genommenen waren 29,81%, vom Bestand 29,38%. Krankheitsursachen der 
Neuaufgenommenen waren erbliche Belastung überhaupt bei 13 M. 18 Fr. = 22 
und 40 %, Trunksucht 10 M. 3 Fr. = 17 und 6,7 %, Syphilis 4 M. 1 Fr. = 6,8 und 
2,2%, Verletzung 1 M. = 1,7 %. Entlassen geheilt sind 1914: 24 (16 M. 8 Fr.), 
gebessert 26 (16 M. 10 Fr.), ungeheilt 3 (17 M. 16 Fr.), als nicht geisteskrank 6 
(4 M. 2 Fr.). Gestorben sind 1914: 21 (13 M. 8 Fr.), davon hatten gelitten an Al¬ 
koholismus 1 M., progressiver Paralyse 4 M., senilen und präsenilen Psychosen 7 
(4 M. 3 Fr.), Hebephrenie 4 M., epileptischer Psychose 1 M., manisch-depressivem 
Irresein 2 Fr., Debilität, Imbezillität 1 M. 1 Fr. — Gesamtausgabe für 1913: 
348 200,36 M., 1914 : 324 789,03 M. 


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176 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Friedrichsberg (19): Anfangsbestand 1242 (659 m. 583 w.). Zugang 1171 
(639 m. 642 w.). Abgang 1154 (623 m. 531 w.). Bleibt Bestand 1254 (665 m. 689 w.). 
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 609 (260 m. 349 w.), paralytischer See¬ 
lenstörung 210(150 m. 60 w.). Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 68 (41m. 27 w.), Epi¬ 
lepsie mit und ohne Geistesstörung 73 (46 m. 27 w.), Hysterie 23 (8 m. 15 w.), Neuras- 
thenie4(2m. 2w.), Tabes7(46m. 1 w.) Chorea 1 in., an anderen Krankheiten desNer- 
vensystems 88 (53 ra. 35 w.), Alkoholismus65(51m. 14w.), Morphinismus u. ähni. 

3 (1 m. 2 w.); nicht geisteskrank 1£ (10 m. 6 w.). Zur Beobachtung aufgenommen 
auf Grund § 81 Str.-P.-O. 26 (21 m. 5 w.). Erblichkeit nachgewiesen 145 (35 m. 
110 w.), trunksüchtig 36 (32 m. 4 w.), mit Alkoholismus obige 65. Entlassen sind 
geheilt 39 (19 m. 20 w.), gebessert 391 (176 m. 215 w.), ungebessert 631 (296 m. 
235 w.), davon nach Langenhorn überführt 389 (214 m. 175 w.); nicht geisteskrank* 
15. Gestorben 178 (122 m. 56 w.), davon infolge Paralyse 43 (30 m. 13 w.), sonsti¬ 
gen Hirnkrankheiten 48 (34 m. 14 w ), an Krankheiten des Herzens 27 (17 m. 10 w.), 
der Lunge 62 (38 m. 14 w.). Für Rechnung des Reservelazaretts. Wandsbeck 
wurden verpflegt und behandelt 364 M. — Gesamtausgabe für den Tag und Kopf 
des Kranken: 1910 = 2,93 M., 1911 = 3,08 M., 1912 = 3,28 M., 1913 = 3,41 M., 
1914 = 3,27 M. — Gesamtausgabe 1914: 1500 044,81 M. 

Langenhorn (19): Anfangsbestand 1833 Kr. Schlußbestand 1952. Auf¬ 
nahmen 428 Geisteskr. Aus Friedrichsberg überführt 388. Aus den Gefängnissen 
in Fuhlsbüttel eingeliefert 19 M. 1 Fr. Gerichtsseitig zur Beobachtung überwiesen 
20. Entlassen 195 Pflegl. Gestorben 114. — Gesamtausgabe für den Tag und Kopf 
des Kranken: 1910 = 2,63 M., 1911 = 2,73 M., 1912 = 2,83 M., 1913 = 2,88 M., 
1914 = 2,71 M. — Gesamtausgabe 1914: 1 851856,93 M. 

Alsterdorfer Anstalten (1): Anfangsbestand 960 (549 in. 411 w.). 
Zugang 96 (55 in. 41 w.). Abgang 83 (59 m. 24 w.). Bleibt Bestand 973 (545 m. 
428 w.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie und Kretinismus 76 (46 m. 
31 w.), davon unter 16 Jahre alt 38 m. 27 w., Epilepsie 20 (10 m. 10 w.), unter 
16 Jahre 8 m. 6 w. Entlassen 59, davon in die Irrenanstalt überführt 11, entwichen, 
entführt usw. 7. Gestorben 44, davon infolge Tuberkulose 10. 

Burghölzli (7): Anfangsbestand 1913: 402 (203 M. 199 Fr.). Zugang 
578 (352 M. 226 Fr.). Abgang 584 (352 M. 232 Fr.). Bleibt Bestand für 1914: 396 
(203 M. 193 Fr.). Zugang 594 (349 M. 245 Fr.). Abgang 588 (344 M. 244 Fr.). 
Schlußbestand 1914: 402 (208 M. 194 Fr.). Diagnosen der frischen Aufnahmen 
1914 = 458 (276 M. 182 Fr.): angeborene Psychosen 24 (11 M. 13 Fr.), konstitu¬ 
tionelle Psychosen 30 (20 M. 10 Fr.)*, manisch-depressive Formen 14 (8 M. 6 Fr.), 
Verblödungsformen 165 (78 M. 87 Fr.), andere erworbene idiopathische Psychosen 
15 (6 M. 10 Fr.), organische Störungen 97 (59 M. 38 Fr.), darunter progressive 
Paralyse 37 (28 M. 9 Fr.), epileptische Störungen 27 (20 M. 7 Fr.), Intoxikations¬ 
psychosen 75 (66 M. 9 Fr.), mit Alkoholismus chron. 26 (22 M. 4 Fr.), Delirium 
tremens 24 (22 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank 11 (9 M. 2 Fr.). Infolge der Mobili¬ 
sation 22 Militärpatienten, davon 9 mit Dementia praecox, 6 Alkoholismus, 2 Delir, 
tremens, Imbezillität, Psychopathie, psychogene Epilepsie je 1. Entlassen ge¬ 
heilt 45 (34 M. 11 Fr .) gegen 42 (34 M. 8 Fr.) im Jahre 1913; gebessert 295 (154 M. 


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Sn eil, Anstaltswesen und Statistik. 


177 * 


141 Fr.) gegen 250 (148 M. 102 Fr.); ungebessert 190 (114 M. 76 Fr.) gegen 217 
(128 M.89 Fr.). Verhältnis der Geheilten und Gebesserten zum Abgang 340 : 588 
= 57,9 % gegen 50 % im Jahre 1913. Gestorben sind 49 (35 M. 14 Fr.) gegen 62 
(30 M. 32 Fr.) im Jahre 1913. Von den 1914 Verstorbenen starben an Himkrank- 
heiten 28 (18 M. 10 Fr.), infolge Tuberkulose 3 (2 M. 1 Fr.), infolge Karzinom 5 M. 
Einschließlich Poliklinik wurden 106 (1913: 108) Gutachten abgegeben, wovon 36 
(1913: 36) strafrechtliche. Bettgurte bei 6 M. 6 Fr. angewandt, ganze Wickel bei 
1 M. neun Stunden, bei 16 Fr. 198 Stunden. Segelstoffkleider, Zellenhandschuhe 
(10 M. 18 Fr.) mehrfach angewandt. Regelmäßig oder teilweise beschäftigt waren 
vom Schlußbestand 75% M., 85 % Fr. (1913: 71 % M., 88% Fr.). Die Psychi¬ 
atrische Poliklinik wurde besucht von 498 Pat. (223 M. 276 Fr.). — Gesamtaus¬ 
gabe: 746 669,81 Fr. 

Königsfelden (25): Anfangsbestand 804 (370 M. 434 Fr.). Zugang 260 
(143 M. 117 Fr.), davon aus anderen Asylen 57 (32 M. 25 Fr.). Abgang 233 (131M. 
102 Fr.). Bleibt Bestand 831 (382M. 449 Fr.). Krankheitsformen der Aufgenomme¬ 
nen: angeborene Psychosen 30 (21 M. 9 Fr.), darunter Idiotie, Kretinismus 19 
(12 M. 7 Fr.); erworben einfache Störungen 152 (68 M. 84 Fr.); paralytische, 
senile 33 (16 M. 1 Fr.), epileptische 10 (7 M. 3 Fr.); Intoxikationspsychosen 3 
(29 M. 4 Fr.); nicht geisteskrank 2 M. Mit den Strafgesetzen in Konflikt gewesen 
und begutachtet 10, davon Militärpersonen 9; nicht verantwortlich 9. Erbliche 
Belastung der Aufgenommenen bei 58 % nachweisbar, 23 % von Vaterseite, 15 % 
Mutterseite, 11 % beide Eltern, bei 9 % Geisteskrankheit in der Verwandtschaft. 
Alkohol u. a. ursächliches Moment bei 30 % der M., 3,4 % der Fr. Militärdienst, 
Kriegswirren 10 % der M., 3,4 % der Fr. Geheilt entlassen 31. Genesung bei 58 % 
im ersten Vierteljahr, 26 % Heilungsdauer 4—6 Monate, 3,2 % — %—1 Jahr, 
6,4% = 1—2 Jahre, 6,4% mehr als 2 Jahre. Gebessert entlassen 120 (66 M. 
54 Fr.), ungeheilt 24 (12 M. 12 Fr.), davon nach anderen Anstalten 9. Gestorben 
56 (30 M. 26 Fr.), davon infolge Tuberkulose 12. — Gesamtausgabe: 521 525,57 Fr. 

Aus dem Jahresberichte der Bernischen Kantonalen Irrenanstalten 
(64) ist zu entnehmen für 

Waldau (54): Anfangsbestand 802 ( 384 M. 418 Fr.). Zugang 218 
(136 M. 82 Fr.). Abgang 195 (117 M. 78 Fr.). Bleibt Bestand 826 
(403 M. 422 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 
5 M., konstitutionellen 8 (5 M. 3 Fr.), erworbenen einfachen Stö¬ 
rungen 146 (86 M. 60 Fr.), paralytischen, senilen, organ. Störungen 

33 (19 M. 14 Fr.), epileptischen 6 (5 M. 1 Fr.), Intoxikationspsychosen 
18 (15 M. 3 Fr.); nicht geisteskrank 1M. 1 Fr. Zur Beobachtung, strafgerichtlich, 
aufgenommen 15 M. 1 Fr., davon 9 M. kriegsgerichtlich. Entlassen genesen 17 (9 M. 
8 Fr.) = 8,72% der Entlassungen, 1,66% des Gesamtbestandes; erblich belastet 
13 (6 M. 7 Fr.); gebessert entlassen 85 (48 M. 37 Fr.), ungebessert 39 (31M. 8 Fr.). 
Getorben 52 (28 M. 24 Fr.) = 26,66 % des Abgangs, 5,10 % des Gesamtbestandes ; 
infolge Tuberkulose verstorben 6 (2 M. 4 Fr.), katarrh. Pneumonie und Bronchitis 
25 (12 M. 13 Fr.), Herzleiden 6 (5 M. 1 Fr.). — Gesamtausgabe: 196 571,35 Fr. 


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178* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Münsingen (54f: Anfangsbestand 841 (406 5t. 435 Fr.). Zugang 133 
(51 M. 82 Fr.). Abgang 134 (54 M. 80 Fr. ). Bleibt Bestand 840 (403 M. 437 Fr.), 
davon in Familienpflege 45 (15 M. 30 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an. 
angeborenen Störungen 10 (6M.4Fr.), konstitutionellen 25 (10 M. 15 Fr.), erwor¬ 
benen einfachen Störungen 74 (22 M. 52 Fr.), darunter Dementia praecox-Gruppe 
mit 52 (20 M. 32 Fr.), organischen Störungen 13 (7 M. 6 Fr.), davon progressive 
Paralyse 2 M., Intoxikationspsychosen 4 M. 2 Fr.; nicht geisteskrank 5 (2 M. 3 Fr.). 
Gerichtliche Fälle 12. (In den 10 Jahren 1904—1913 kamen in den staatlichen 
Irrenanstalten 284, mit den wenigen privat-begutachteten höchstens 350 zur psy¬ 
chiatrischen Begutachtung, davon als zurechnungsfähig bezeichnet 65 % der Fälle. 
Entlassen genesen oder wesentlich gebessert 52 (20 M. 32 Fr.) = 38,5 % des Ab¬ 
gangs, 5,3% der Verpflegten, ungeheilt entlassen 26 (14 M. 12 Fr.). Gestorben 55 
(18 M. 33 Fr.) = 5,3 % der Verpflegten; an Tuberkulose verstarben 15 = 29,4 % 
der Todesfälle, an Pneumonie 10 (7 M. 3 Fr.), Vitium cordis 11 (4M. 7 Fr.). — Ge¬ 
samtausgabe: 667 962,35 Fr. 

Bellelay (54): Anfangsbestand 331 (133 M. 198 Fr.). Zugang 25 (14 M. 

11 Fr.). Abgang 32 (18 M. 14 Fr.). Bleibt Bestand 324 (129 M. 195 Fr.). Vom Zu¬ 
gang litten an angeborenen Störungen 6 (2 M. 4 Fr.), konstitutionellen 11 (5 M. 
6 Fr.), organischen Störungen 1 M. 1 Fr., Alkoholismus 2 M. Zur gerichtlichen Be¬ 
gutachtung 1 Fr., auf Grund Art. 47 des Str.-G.-B. überhaupt in der Anstalt 8 
(5 M. 3 Fr.). Entlassen geheilt 1 M., gebessert 2 M., ungebessert 1 M. 1 Fr. Ge¬ 
storben 27 (14 M. 13 Fr.) = 7,55% der Verpflegten (in den Vorjahren nie über 
5 %). Hohe Mortalität begründet durch epidem. Influenza mit Bronchopneumonie 
bei älteren Insassen, infolge davon starben 10 (3 M. 7 Fr.), an Tuberkulose ver¬ 
starben 2 (1 M. 1 Fr.). — Gesamtausgabe: 260 101,75 Fr. 

Münsterlingen (35): Anfangsbestand 411 (162 M. 249 Fr.). Zugang 
175. Abgang 179. Schlußbestand 407 (163 M. 244 Fr.). Krankheitsformen der 
Aufgenommenen: angeborene Psychosen 14 (6 M. 8 Fr.); konstitutionelle Psy¬ 
chosen 12 (5 M. 7 Fr.); erworben einfache Psychosen 103'(39 M. 64 Fr.), darunter 
Dementia praecox mit 83 (32 M. 51 Fr.), manisch-depressives Irresein 16 (4 M. 

12 Fr.); organische Psychosen 21 (13 M. 8 Fr.), mit Dementia paralytica bei 7 
(6 M. 1 Fr.); Epilepsie 4 (3 M. 1 Fr.), alkoholische Intoxikationspsychosen 16 
(13 M. 1 Fr.); nicht geisteskrank 5 (4 M. 1 Fr.). Entlassen 127, davon geheilt 11 
(5 M. 6 Fr.), gebessert 85 (41M. 44 Fr.). Gestorben sind 51 (21M. 30 Fr.) = 8,7 % 
der Verpflegten, davon infolge direkter Geisteskrankheit 8 (5 M. 3 Fr.), an Tu¬ 
berkulose, die auf der Männerseite überhaupt selten, 1 M. 6 Fr. — Gesamtaus¬ 
gabe: 339957,19 Fr. 

Rosegg (45): Anfangsbestand 347 (191 M. 156 Fr.). Zugang 96 (58 M. 
37 Fr.). Abgang 67 (42 M. 25 Fr.). Bleibt Bestand 375 (207 M. 168 Fr.). Vom Zu¬ 
gang litten an angeborener Geistesstörung 6, erworbener einfacher 44, epileptischer 
9, organischer 1, paralytischer 5, seniler 18, alkoholischer 11; nicht geisteskrank 1. 
Erblich belastet 43 (30 M. 13 Fr.), und zwar von Vaterseite 18 M. 8 Fr., Mutter¬ 
seite 4 M. 4 Fr., von beiden Eltern 3 M., sonstige Familienanlage bei 5 M. 1 Fr. 
Vor Eintritt erkrankt bis 1 Monat 18 (14 M. 4 Fr.), 2—3 Monate 7 (4 M. 3 Fr.), 


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Sn eil, Anstalts wesen und Statistik. 


179 * 


4—6 Monate 4 (2 M. 2 Fr.), 7—12 Monate 6 (4 M. 2 Fr.), 1—2 Jahre 12 (8 M. 4 Fr. k 
3 —5 Jahre 10 (3 M. 7 Fr.), über 6 Jahre 18 (13 M. 5 Fr.). Entlassen geheilt 10 
13 M. 6 Fr.), gebessert 20 (14 M. 6 Fr.), ungeheilt 6 (5 M. 1 Fr.). Gestorben sind 
22 (10 M. 12 Fr.); unmittelbare Todesursachen waren u. a. Meningo-encephalitis 
chronica bei3Fr., Apoplexia cerebri 1 M., Status’epilepticus 2 M., Vitium cordis 6 
<,3 M. 3 Fr.), Phthisis pulmon. 1 M. — Gesamtausgabe: 341 470,85 Fr. 

Wil (61): Anfangsbestand 863 (438 M. 425 Fr.). Zugang 322 (178 M. 
144 Fr.). Abgang 304 (170 M. 134 Fr.). Bleibt Bestand 881 (446 M. 435 Fr.). Vom 
Zugang litten an angeborenen Störungen (Idiot.) 28 (18 M. 10 Fr.), konstitutio¬ 
nellen 19 (UM. 8 Fr.), einfachen erworbenen Störungen 126 (60 M. 66 Fr.), er¬ 
worbenen der paralytischen, senilen und organischen Gruppe 49 (20 M. 29 Fr.) r 
auf Grundlage der Epilepsie 11 (5 M. 6 Fr.), Intoxikationspsychosen 36 (32 M. 
4 Fr.), nicht geisteskrank 1 M., körperlich Kranke und Altersschwache 52 (31 M. 
21 Fr.). Erblichkeit nachgewiesen bei 91 M. 61 Fr. = 63 und 50 %, übermäßiger 
Alkoholgenuß bei 35 M. 4 Fr., Lues 4 M. 3 Fr. Mit dem Strafgesetz in Konflikt 
34 M. 6 Fr. = 23 und 5 % der Aufgenommenen. Krankheitsdauer vor der Auf¬ 
nahme bis 1 Monat bei 33 (20 M. 13 Fr.), 1—6 Monate 31 (12 M. 19 Fr.), 6—12 
Monate 22 (11M. 11 Fr.), 1—3 Jahre 31 (15 M. 16 Fr.), 3—6 Jahre 41 (17 M. 24 Fr.), 
6—12 Jahre 30 (17 M. 13 Fr.), 12—15 Jahre 8 (5 M. 3 Fr.), 15—20 Jahre 19 (10 M. 
9 Fr.), über 20 Jahre 44 (39 M. 15 Fr.). Entlassen geheilt 32 (18 M. 14 Fr.), ge¬ 
bessert 109 (58 M. 51 Fr.), ungeheilt 66 (39 M. 27 Fr.), davon nach anderen An¬ 
stalten verbracht 21 (10 M. 11 Fr.). Gestorben sind 96 (54 M. 42 Fr.) = 8% der 
Verpflegten. 32 Todesfälle (20 M. 12 Fr.) kommen auf die körperl. Kranken und 
Altersschwachen = 14 % ihres Gesamtbestandes. Von den Geisteskranken starben 
64 (34 M. 30 Fr.) = 6,6% ihres Bestandes. Auf die Gruppe der paralytischen., 
senilen und organischen Psychosen kommen 23 % ihres Gesamtbestandes an Todes¬ 
fällen (10 M. 14 Fr.). Infolge Tuberkulose starben 6 M. — Gesamtausgabe: 
566 482,16 Fr. 

St. Pirminsberg (51): Anfangsbestand 308 (152 M. 156 Fr.). Zugang 
127 (72 M. 55 Fr.). Abgang 119 (63M. 66 Fr.). Bleibt Bestand 316 (161M. 165Fr.). 
Durchschnittlicher Bestand immer noch steigend: 1911 = 267; 1912 = 238; 

1913= 302; 1914= 314. Kriminelle Kranke aufgenommen 8(7 M. 1 Fr.); zur Be¬ 
obachtung aufgenommen 4 M. 1 Fr. Vom Zugang litten an angeborenen Psy¬ 
chosen 9 (6 M. 3 Fr.), konstitutionellen 4 (3 M. 1 Fr.), erworbenen einfachen Psy¬ 
chosen 85 (43 M. 42Fr.), epileptischen 7 (6M. 2Fr.), organischen Psychosen 12(6M. 
6 Fr.), Intoxikationspsychosen 10 (9 M. 1 Fr.). Erblich belastet von 86 erstmals 
aufgenommen 74 = 86 %. Entlassen genesen 31 (17 M. 14 Fr.), gebessert 
51 (24 M. 27 Fr.), ungebcssert nach Hause 8 (4 M. 4 Fr.), nach anderen Anstalten 
18 (14 M. 4 Fr.). Durchschnittliche Behandlungsdauer der Genesenen = 150 Tage. 
Gestorben sind 11 (4 M. 7 Fr.), Mortalität nur 2,5% aller Verpflegten; durch¬ 
schnittliche Verpflegungsdauer der Verstorbenen 6% Jahre. An Tuberkulose ein- 
'gegangen 3 M. 3 Fr. — Gesamtausgabe: 278 700,04 Fr. 

Ellikon (14): Bestand 31 Pfl. Aufnahmen 37. Entlassungen 42. Bleibt 
Bestand 26. Durchschnitt!. Tagesfrequenz 28 Pfl. Von den Aufgenommenen litten 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


.an chronischem Alkoholismus 16, mit Delir, tremens 6, Psychopathien 9, psych. 
und moralischem Defekt 3, moral. Defekt 1, Imbezillität und moral. Defekt 2, 
Leichtsinn 1, Trunksucht bei angeborener Leichtfertigkeit, Trunksucht bei Psy¬ 
chopathie, einfache Trunksucht je 1, Alkoholneuritis b. Erblichkeit unter den Auf¬ 
genommenen bei 17, darunter Trftnksucht des Vaters 11, der Mutter 3, Großeltern 3. 
Von 26 der Entlassenen mit vorschriftsmäßig durchgeführter Kurzeit blieben 
abstinent 60 %, rückfällig 32 % gestorben 4%, ohne Bericht 4%. — Gesamt¬ 
ausgabe: 31370,99 Fr. 

Riehen, Sonnenhalde (49): Anfangsbestand 31 kr. Fr. Aufnahmen 99. 
Abgang 87. Bleibt Bestand 43. Von den Ausgetretenen waren nicht gemütskrank 5 
(Neurasthenie 4), waren behaftet mit angeborenem Schwachsinn 1, allg. Psycho¬ 
pathie 6, mit endogen erworbenen Formen des reiferen Alters 70, organischen For¬ 
men 3, Epilepsie 1, marantischem Delir 1. Erbliche Belastung bei 77. Vollständig 
geheilt 1, hochgradig gebessert 14, gebessert 43, ungebessert 26, davon in eine 
Anstalt verbracht 1. Zur Beobachtung ohne Resultat 2. Gestorben 1. — Gesamt¬ 
ausgabe: 87 926,90 Fr. 

Cery (8): Anfangsbestand 529 (269 M. 260 Fr.). Zugang 392 (226 M. 
166 Fr.). Abgang 377 (224 M. 153 Fr.). Bleibt Bestand 544 (271M. 243 Fr.). Vom 
Zugang litten an Idiotie, Imbezillität, Kretinismus 20 (10 M. 10 Fr.), konstitu¬ 
tionellen Psychosen 36 (22 M. 14 Fr.), einfachen erworbenen 204 (95 M. 109 Fr.), 
organischen 69 (45 M. 24 Fr.), epileptischen Psychosen 11 (8 M. 3 Fr.), Alkoholis¬ 
mus und anderen Intoxikationen 48 (42 M. 6 Fr.); nicht geisteskrank 4 M. Von 
den aufgenommenen Alkoholkranken litten an akutem Alkoholismus 1 M., chroni¬ 
schem 18 (16 M. 2 Fr.), Korsakowpsychose 1 Fr., Delirium tremens 22 
M., epileptischer Psychose 1 M. Entlassen geheilt 71 (41 M. 30 Fr.), gebessert 
132 (87 M. 46 Fr.), ungeheilt 103 (58 M. 45 Fr.). Gestorben 71 (38 M. 33 Fr.). 
— Gesamtausgabe: 638 922,77 Fr. 

Waldhaus (55): Anfangsbestand 309 (162 M. 147 Fr.). Zugang 89 (58 M. 
31 Fr.). Abgang 81 (56 M. 25 Fr.). Bleibt Bestand 317 (164 M. 153 Fr.). Vom 
Zugang litten an Idiotie 2 Fr., an einfachen Psychosen 60 (37 M. 23 Fr.), an para¬ 
lytischen, senilen Störungen 6 (3 M. 3 Fr.), an Epilepsie 5 (3 M. 2 Fr.), an In¬ 
toxikationspsychosen 12 (11 M. 1 Fr.); nicht geisteskrank 4 M. Erblich veranlagt 
39 der frischen Aufnahmen (74). Geheilt sind entlassen 11 (8 M. 3 Fr.), gebessert 
31 (21 M. 10 Fr.), ungebessert 13 (10 M. 3 Fr.). Von den Geheilten litten an Mel¬ 
ancholie 4, Manie 3, Katatonie 2, Delirium tremens 2. Verhältnis der Genesenen 
zum Abgang 14,4 %, zur Zahl der Verpflegten 2,7 %. Gestorben sind 21 (12 M. 
9 Fr.) = 5,2% des Gesamtbcstandes. Tuberkulose Todesursache in 5 Fällen. — 
Gesamtausgabe: 247 967,27 Fr. 

Linz, Niedernhart(38): Anfangsbestand 915 (409M.506Fr.). Zugang434(232 
202 Fr.). Abgang 396 (197 M. 199 Fr.). Bleibt Bestand 953 (444 M. 509 Fr.). Vom 
Zugang litten an angeborenen Störungen 23 (16 M. 7 Fr.), einfacher Geistesstörung 
352 (174 M. 178 Fr.), davon an progressiver Paralyse 67 (51 M. 16 Fr.), an kom- 
lizierten Störungen litten 36 (22 M. 14 Fr.), davon Epileptiker 23 (17 M. 6 Fr.), 
pn Alkoholismus 17 (15 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank 6 (5 M. 1 Fr.); aus Straf- 

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Isserlin, Psychologie und Psychophysik. 


181 * 


oder Untersuchungshaft zugeföhrt 30. Erblich belastet 133 (73 M. 60 Fr.), davon 
durch Trunksucht der Eltern 20 (16 M. 4 Fr.). Erkrankt durch Alkoholmißbrauch 
24 (22 M. 2 Fr.). Entlassen geheilt 34 (15 M. 19 Fr.). Gestorben 147 (71M. 76 Fr.), 
davon infolge Paralyse 33 (21 M. 12 Fr.), Lungentuberkulose 23 (7 M. 16 Fr.). 
Sine Typhusepidemie mit 20 Erkrankungen erforderte 5 Opfer. 

Die 4 Staatsanstalten Ungarns (53) hatten einen Gesamtanfangsbestand 
von 2620 und einen Schlußbestand von 2561 Kranken. Hieran waren beteiligt 

Lipötmezö mit einem Anfangsbestand von 1251 (681 M. 570 Fr.). Zugang 
972 (626 M. 346 Fr.). Abgang 1031 (638 M. 393 Fr.). Bleibt Bestand 1192 (669 M. 
523 Fr.). 

Angyalföld: Anfangsbestand 442 (215 M. 227 Fr.). Zugang 386 (245 M. 
141 Fr.). Abgang 382 (243 M. 139 Fr.). Bleibt Bestand 446 (217 M. 229 Fr.). 

Nagyszeben: Anfangsbestand 611 (341 M. 270 Fr.). Zugang 338 (218 M. 
120 Fr.). Abgang 330 (212 M. 118 Fr.). Bleibt Bestand 619 (347 M. 272 Fr.). 

Nagyk&llö: Anfangsbestand 316 M. Zugang 85. Abgang 97. Bleibt Be¬ 
stand 304. Vom Gesamtzugang litten an Idiotie 53 (36 M. 17 Fr.), Imbezillität 33 
(25 M. 10 Fr.), Dementia praecox 246 (157 M. 89 Fr.), progressiver Paralyse 463 
(361 M. 102 Fr.). Alkoholismus 175 (164 M. 11 Fr.), Pellagrapsychose 1 M.. Fo¬ 
rensische Fälle insgesamt 171 (153 M. 18 Fr.). Entlassen geheilt (prozentual zur 
Zahl der Verpflegten) in Lipötmezö 7,46%; gestorben 11,87%; in Angyalföld 
entlassen geheilt 8,81%, gestorben 10,87%; Nagyszeben 8,6% und 11,38%; 
Nagyk&llö 2,24 und 10,47 %. Die Präsenzzahl der in Familienpflege Befindlichen 
stieg von 1522 auf 1625 = zirka 6 % (i. Vorj. 23 %, diesjährig infolge der Kriegs¬ 
zeiten Erhöhung gering). 

Daiyiemora (10): Anfangsbestand Oktober 1913 = 540 M. Zugang 82. 
Abgang 108. Bleibt Bestand 514. Von den Aufgenommenen litten an Dementia 
praecox 36, Alkoholpsychosen 3, konstitutioneller Minderwertigkeit 23, Imbezilli¬ 
tät 2, sonstige Psychosen Einzelfälle. Wieder abgegeben wurden geheilt 40, ge¬ 
bessert 8, ungeheilt 38, nicht geisteskrank 11. Gestorben 11, davon infolge Tu¬ 
berkulose 6 M. = 54,5 % der Todesfälle. 


9. Psychologie und Psychophysik. 

Ref.: M. Isserlin (München). 

1. AaU , Anathon, Der Traum. Zeitschr. f. Psychol. Bd. 70, S. 125. 

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3. Adler u. Furtmüller, Heilen und Bilden. Ärztlich-pädagogische 

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E. Reinhardt. 400 S. 8,— M. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


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über das Verhältnis der Jasperschen Phänomenologie zur 
darstellenden Psychologie. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u.Psych. 
Orig.-Bd. 29, H. 3/4, S. 347. Eigenbericht: Ref.- u. E.- Bd. 38, 
H. 1. S. 92. 

<5. Baude, Walter, Aufgaben und Begriff einer ,,darstellenden Psy¬ 
chologie 1 :. Zeitschr. f. Psychol. Bd. 71, S. 356. 

7. Bachrach, D., Über die Hörschärfe zu verschiedenen Tageszeiten. 

Zeitschr. f. Sinnesphysiologie Bd. 49, H. 2. S. 99—108. (S. 191*.) 

8. Baley, St., Mitteilungen über das Sehen der Farben bei halb¬ 

geschlossenen Augen. Zeitschr. f. Sinnesphysiologie Bd. 49, 
H. 2. S. 79—84. 

9. Baley, Stefan, Versuche über den dichotischen Zusammenhang 

wenig verschiedener Töne. Zeitschr. f. Psvchologie Bd. 70. 
S. 321—346. 

10. Baley, Stefan, Versuche über die Lokalisation beim dichotischen 

Hören. Zeitschr. f. Psycholog. Bd. 70. S. 343—372. 

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12. Becher, Erich, Gefühlsbegriff und Lust-Unlustelemente. Zeitschr. 

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13. Becher, Erich, Über Schmerzqualitäten. Archiv f. d. gesamte 

Psychologie Bd. 24, H. 2. S. 189—207. (S. 191*.) 

14. Benussi, Vittorio, Monokularlokalisationsdifferenz und haplo- 

skopisch erweckte Scheinbewegungen. Archiv f. d. gesamte 
Psychologie Bd. 33, H. 3/4, S. 266—273. 

15. Bemfeld, Siegfried, Zur Psychologie der Unmusikalischen. Archiv 

f. d. gesamte Psychologie Bd. 34, H. 2, S. 235—253. 

16. Bessmer, Julius, Krankhafte Untätigkeit und gesunde Faulheit. 

Stimmen der Zeit, 45. Jahrg., S. 325—342. 

17. Bloch, E., und Lippa, H., Über die Wiederholung der Binet- 

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nach einem Jahre. Zeitschr. f. angew. Psychologie Bd. 9, 
H. 4—6, S. 513—515. (S. 192*.) 


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Iss eil in, Psychologie und Psychophysik. 


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Bd. 28, H. 1, S. 23—54. 

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24. Dilles, Th., Löss of mein iry alleged by murderers. The Journal 

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20. Elsenhaus, Th., Charakterbildung. Wissenschaft und Bildung 
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28. Engelen und Rangette, Die Grundlagen der Assoziationspsychologie. 

Ärztl. Sachverständ.-Ztg. Nr. 18, S. 205. 

29. Ferree, C. E., Untersuchungsmethoden für die Leistungsfähigkeit 

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Zeitschr. f. Psychol. Bd. 72, S. 321—372. (S. 192*.) 

31. Flatau, Georg (Berlin), Zur Kenntnis des Suggestionsbegriffs. 

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32. Forel,Aug., Über unser menschliches Erkenntnisvermögen. Journ. 

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handl. 198 S. (S. 191*.) 

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Zeit, 45. Jahrg., S. 421—432. 

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f. Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 158, H. 2, 
S. 202—236. 

39. Fuchs, Über Intelligenzprüfungen bei Schwachbegabten und ärzt¬ 

liche Aufgaben bei der Überweisung von Kindern in die Hilfs¬ 
schule. Festschrift zur Feier des zehnjährigen Bestehens der 
Akademie f. prakt. Medizin in Köln. Bonn, Webers Verlag. 
S. 301—316. 

40. Gerson, Adolf, Oszillierende Gefühle. Zeitschr. f. Kinderforschung 

20. Jahrg., H. 5/6, S. 202—217. 

41. Giese, F., Ein Versuch über Gestaltgedächtnis. Zeitschr. f. Psy¬ 

chologie und experimentelle Pädagogik 16. Jahrg., H. 2, 
S. 127—131. 

42. Gilbert, W. Campbell, Fiktives in der Lehre von den Empfindungen. 

Eine Studie aus dem Problemkreis der „Philosophie des 
Als Ob“. Berlin. Reuther & Reichard. 81 S. 

43. Godefroy, J. C. L., Onderzoekingen over de aandachtsbepaling bij 

gezonden en zielszieken. Med. Doktor-Dissertation. Gro¬ 
ningen. 176 S. 

44. Gregor, R., Untersuchungen über die Entwicklung einfacher logi¬ 

scher Leistungen. Zeitschr. f. angewandte Psychologie Bd. 10, 
S. 339—451. (S. 192*.) 

45. Grünbaum, A., Zur Psychologie des Traumes. Psych. en neurolog. 

Bladen vol. 19, p. 409. 

46. Grünbaum, A., Zur Frage des binokularen räumlichen Sehens. 

Folia neurobiologica Bd. 9, no. 5, p. 569—572. 

47. Gruhle, Hans W. (Heidelberg), Selbstschilderung und Einfühlung, 


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Iss erlin, Psychologie und Psychophysik. 


185 * 


zugleich ein Versuch der Analyse des Falles Banting. Zeit- 
schr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig.-Bd. 28, H. 2 u. 3, S. 148. 

48. Günther, Arno, Allgemeine Jugenderinnerungen und Lokalerinne¬ 

rungen sowie Nachprüfung letzterer auf ihre Richtigkeit nach 
25 Jahren. Mitteilung. Zeitschr. f. angewandte Psychologie 
Bd. 10, S. 285—297. 

49. Habrich, Joh.. Über die Entwicklung der Abstraktionsfähigkeit von 

Schülerinnen. Zeitschr. f. angewandte Psychol. Bd. 9, S. 189. 
öO. Handrik, Johann, Ergograph und Dynamometer. Pädagog. - 

psycholog. Arbeiten Bd. 5, H. 1, S. 63—72. 
öl. Harris, J. A., Experimental data on errors of judgement in the 
estimation of the number of objects in moderately large 
samples, with special reference to personal equation. Psy¬ 
chol ogical Review Bd. 22, no. 6, p. 490—511* 
ö2. Heller, R., Grundzüge einer physiologischen Theorie der psychischen 
Invarianten. Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie Bd. 160, 
H. 9/10, S. 487—500. 

53. Henning, H., Das Panumsche Phänomen. Zeitschr. f. Psychologie 

Bd. 70, S. 373—428. 

54. Henning, Hans (Frankfurt a. M.), Experimentelles zur Technik 

der Hellseher. Journ. f. Psychol. u. Neurol. vol. 21, p. 68. 

55. Hickmann, H. B., Delinquent and criminal boys tested by the 

Binet scale. The Training School Bulletin vol. XI, no. 9, 
p. 159—164. 

56. Hocke, A., Krieg und Seelenleben. Speyer & Kaerner. Freiburg. i. B. 

35 S. 

57. Hollingworth, Articulation and association. Journal of edueational 

psychology vol. 6, no. 2, p. 99—105. 

58. Huther, A., Der Begriff des Ästhetischen psychologisch begründet. 

Archiv f. d. gesamte Psychologie Bd. 34, S. 53—64. 

59. Kehr, Th., Allgemeines zur Theorie der Perzeption der Bewegung. 

Archiv f. d. gesamte Psychologie Bd. 34, S. 106—120. 

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pädagog. Psychologie und experimentelle Pädagogik, 16. Jahr¬ 
gang, S. 49—55. 

61. Kirschmann, A., Zeit und Bewegung. Archiv f. d. gesamte Psy¬ 

chologie Bd. 33, H. 3 u. 4, S. 229-240. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXTII. Lit. n 

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186 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


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Physikal.-mathem. Kl. Nr. 3, 70 S. (S. 193*.) 

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freien Willen für die ärztliche und erziehliche Willensbeein¬ 
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ges. Neurol. u. Psych. Orig.-Bd. 29, H. 3 u. 4, S. 333. 

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machers und über scherzende Neurastheniker. Journ. f. 
Psychol. u. Neurol. vol. 21, p. 224. 

68. Kollarits, Jenö (Budapest), Das momentane Interesse bei nervösen 

und nicht nervösen Menschen. Journ. f. Psychol. u. Neurol. 
vol. 21, p. 233. 

69. Krueger, Felix, Über Entwicklungspsychologie. Arbeiten der Ent¬ 

wicklungspsychologie, herausgeg. vonF. Krueger. Bd. 1,H. 1. 
Leipzig, Engelmann. 232 S. 

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f. Psych otherap. Bd. 3, S. 155. (S. 191*.) 

71. Langfeld, H. S., A study in simultaneous and alternating finger 

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72. Leeser, Otto, Über Linien- und Flächenvergleichung, ein Beitrag 

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S. 1—127. 

73. Linke, P., Das paradoxe Bewegungsphänomen und die „neue“ 

Wahrnehmungslehre. Archiv f. d. ges. Psychologie Bd. 33 
H. 3/4, S. 261—265. 

74. Lobsien, M., Einige nystagmographische Untersuchungen über das 

Lesen von Antiqua- und Frakturschrift. Archiv f. Pädagogik, 
II. Teil. Die pädagog. Forschung 3. Jahrg., Nr. 2, S. 49—70. 
(S. 192*.) ‘ r 

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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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76. Lüdke, Georg, Versuch einer Psychologie der Jugendlichen. Jahr¬ 

buch d. Vereins f. Wissenschaft!. Pädagogik. 47. Jahrg., S. 
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Nr. 1. 

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79. Mac Donald, A., Die geistige Betätigung der Völker und anti¬ 

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80. Mann, Alfred, Zur Psychologie und Psychographic der Aufmerk¬ 

samkeit. Zeitschr. f. angewandte Psychol. Bd. 9, S. 391. 

81. Martin, Lillien J., Ein experimenteller Beitrag zur Erforschung des 

Unterbewußten. J. A. Barth. Leipzig. 164 S. 

52. Mayer, H. \V., Bereitschaft und Wiedererkennen. Zeitschr. f. 
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85. Messer, August, Zur Wertpsychologie. Archiv f. d. ges. Psychologie 

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p. 73—84. 


89. Moore, Th., The temporal relations of meaning and imagerv. 

Psychological Review vol. 22, no. 3, p. 177—225. 

90. Müller, V., Beitrag zur psychologischen Analyse der reduplizieren- 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



188 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


den Paramnesie. Psychiatr. en neurolog. Bladen vol. 19, 
S. 130. 

91. Müller-Freienfels, Rieh., Studien zur Lehre vom Gedächtnis. Ar¬ 

chiv f. d. ges. Psychol. Bd. 34, S. 65—106. 

92. Myers, G. C., Learning against time. Journ. of educational psy- 

chology vol. 6, no. 2, S. 115 u. 116. 

93. Newton Scott, Fred., Efficiency for efficiency’s sake. School Re¬ 

view vol. 23, no. 1, p. 34—42. 

94. Oetjen, Friedrich, Die Bedeutung der Orientierung des Lesestoffes 

für das Lesen und der Orientierung von sinnlosen Formen 
für das Wiedererkennen derselben. Zeitschr. f. Psychol. Bd. 71, 
S. 321—355. (S. 192*.) 

95. Peper, W., Jugendpsychologie. 2. Aufl. B. G. Teubner, Leipzig 

und Berlin. 124 S. 

96. Peter, Rudolf, Untersuchung über die Beziehungen zwischen primären 

und sekundären Faktoren der Tiefen Wahrnehmung. Archiv 
f. d. gesamte Psychol. Bd. 34, S. 515—564. 

97. Peters, W., Uber die Vererbung psychischer Fähigkeiten. Sta¬ 

tistische und experimentelle Untersuchungen. Fortschritte d. 
Psychol. Bd. 3, S. 185—382. (S. 193*.) 

98. Pick, A., Zur Psychologie der Eigenbeziehung. Zeitschr. f.Patho- 

psychologie Bd. 3, H. 2, S. 256—270. 

99. Pick, A. (Prag), Zur Pathologie des Bewußtseins vom eigenen 

Körper. Ein Beitrag aus der Kriegsmedizin. Neurolog. Zen- 
tralbl. Nr. 7 u. 8, S. 257. 

100. Pötzl, 0. (Wien), Über einige Grenzfragen zwischen Psychologie 

und Hirnpathologie (Farbenagnosie, Wortblindheit). (Verein 
f. Psych. u. Neurolog., Wien, Sitzung vom 11. Mai 1915.) 
Ref.: Zeitschr. f. d. gesamte Neurol u. Psych. Ref.-u. Erg.- 
Bd. 11, H. 7, S. 524. 

101. Poppelreuter, Walther (Cöln), Über den Versuch einer Revision der 

psychophysiologischen Lehre von der elementaren Assoziation 
und Reproduktion. Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 37, 
H. 5, S. 278. 

102. Roloff, Otto, Vom Schrifttum des Kindes. Pädagog. Warte. 

22. Jahrg., H. 3, S. 93—97. 

103. Rosenfeld, Georg, Zur Psychologie des Wirtschaftslebens. Psycho- 


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Isserlin, Psychologie und Psychophysik. 


189 * 


logische Betrachtungen. Berl. Klin. Wochenschr. Nr. 20, 
S. 519. 

104. Roth, H., Das sittliche Urteil der Jugend. Münchener Disser¬ 

tation, philosophische Fakultät, 1. Sektion. 1915. 78 S. 

105. Ruckhaber, Erich, Das Gedächtnis und die gesamte Denktätigkeit 

eine Funktion des Muskelsystems. Berlin. Psycholog.-sozio- 
logischer Verlag (0. Mattha). 173 S. 

106. Schaefer, Karl L., Einführung in die Musikwissenschaft auf phy¬ 

sikalischer, physiologischer und psychologischer Grundlage. 
Mit 74 Abbildg. im Text. 165 S. Breitkopf & Härtel, Leipzig. 

107. Schaefer, Karl L., Über die Kongruenz des psycho-physiologischen 

Verhaltens der unerregten Netzhautgruppe in der Dämmerung 
und des blinden Flecks im Hellen. Pflügers Archiv f. d. ges. 
Physiologie Bd. 160, S. 572—580. 

108. Schmidkum, Hans, Psychologisches und Pädagogisches zur Wert¬ 

theorie. Archiv f. d. gesamte Psychologie Bd. 33, H. 3 u. 4. 
S. 309—354. 

109. Schmidt, Hugo, Die Wahrnehmung der Längen und Zahlen bei 

einigen kleinen Kindern. Pädagog.-psycholog. Studien. 
16. Jahrg., Nr. 1/2, S. 1—5. 

110. Schulhof, Fr. (Wien), Psychologisches aus Kants Schriften. 

Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 28, H. 1, S. 11. 

111. Schulhof, Fr. (Wien), Intelligenzprüfung. Zeitschr. f. d. ges. 

Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 28, H. 2 u. 3, S. 276. 

112. Schuh, Bernhard, Das Bewußtseinsproblem vom psychologischen, 

positivistischen, erkenntnistheoretisch-logischen, metaphysi¬ 
schen und biologischen Standpunkt. Wiesbaden. J. J. Berg¬ 
mann. 186 S. 3,60 M. 

113. Schuhe, F. E., Über Lernzeiten bei größeren Komplexen. Zeit¬ 

schr. f. Psychologie Bd. 71, S. 138—166. 

114. Siebenhaar, Ewald, Über die Nachwirkung einer den natürlichen 

Anlagen entgegengesetzten Übung. Pädagogisch-psycholog. 
Arbeiten Bd. 5, H. 1, S. 1—62. 

115. Sittig, O., Zur Psychopathologie des Zahlenverständnisses. Zeit¬ 

schr. f. Psychopathol. Bd. 3, H. 1. 

116. Sommer, R., Anfangsunterricht bei den Elberfelder Pferden. 


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190 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1915. 


Fortschritte d. Psychologie und ihrer Anwendung Bd. 3, 
H. 3, S. 135—149. 

117. Sommer , Krieg und Seelenleben. Wiener nied. Wochenschrift 

Nr. 39 u. 40. 

118. Tenner, Julius, Über Klangfarbenbewegung. Wiener med. 

Wochenschr. Nr. 38, S. 40. (S. 193*.) 

119. L. M. Terman, Grate Lyman, G. Ordahl, Louise Ordahl, Neva 

GaUrreath und W. Talbert, The Stanford revision of the 
Binet-Simon- Scale and some results from its application to 
1000 nonselected children. Journal of educational psychology 
vol. 6, no. 9, p. 551—562. 

120. Teslaar, J. S. van, Probleme und gegenwärtiger Stand der Reli¬ 

gionspsychologie in den Vereinigten Staaten. A magyar 
filozöfioi tärsasäg közlem^nyei H. 3/4, S. 51—52 u. 193—219. 

121. Tumlirz, Otto, Über den Unterschied beim Erfassen und Repro¬ 

duzieren von Zahlen und Wörtern. Zeitschr. f. pädagog. 
Psychologie und experim. Pädagogik, 16. Jahrg., Heft 7/8: 
S. 347—368, H. 9: S. 412—420, H. 10 : S. 456—459. 

122. Urban, F., Über Größenschätzung in objektiven Massen. Archiv 

f. d. ges. Pvchologie Bd. 33, H. 3/4, Februar 1915, S. 274 
bis 291. 

123. v. Wieg-Wickenthal, K. (Wien), Psychologische Betrachtungen 

über Intellekt und Willen und deren Bedeutung in normalen 
und pathologischen Bewußtseinszuständen. Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 28, H. 2 u. 3, S. 129. 

124. Wiersma, E.D., Geestesafwijkingen in het licht der psychologie. 

Groningen. J. B. Wolters. 21 S. 

125. Winkler, C., Das Verhalten der Psychologie zur Physiologie des 

Nervensystems. Utrecht. J. van Druten. 37 S. 

126. Witasek, St., Bemerkungen zur Abhandlung: Benussi, V., Mono- 

kularlokalisationsdifferenzund haploskopisch erweckte Schein¬ 
bewegungen. Archiv f. d. ges. Psychologie Bd. 33, H. 3/4, 
S. 266—273. 

127. Wobbermin, G., Die Frage nach den Anfängen der Religion in 

religionspsychologischer Bedeutung. Zeitschr. f. angewandte 
Psychologie Bd. 9, S. 333—390. 


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Isserlin, Psychologie und Psychophysik. 


191 * 


128. Woodworth, R. S., A revision of imageless thought. Psvchological 

Review Bd. 22, Nr. 1, S. 1—27. 

129. Wundt, W., Völkerpsychologie. Bd. 6: Mythus und Religion. 

3. Teil. 2. Aufl. 564 S. Leipzig, Kröner. (S. 191*.) 

130. Ziehen , Th., Beitrag zur Lehre vom absoluten Eindruck. Zeitschr. 

f. Psychologie Bd. 71, S. 177—287. 

131. Ziehen, Th., Die Grundlagen der Psychologie. Bd. 1259 und Bd. II 

304 S. Teubner, Leipzig und Berlin. (S. 191*.) 

132. Zipkin, N., Über die Wirkung von Lichtlücken auf größere Netz¬ 

hautbezirke. Zeitschr. f. Sinnesphysiologie Bd. 49, H. 2, 
S. 89—98. 

133. Ein einfaches „Plastoskop ". Zeitschr. f. Sinnesphysiologie Bd. 49, 

H. 2, S. 85—88. 

Von größeren zusammenfassenden Werken seien genannt: Das 
Lehrbuch der experimentellen Psychologie von Frohes (36). Das Werk, 
das in zwei Bänden erscheinen soll und von welchen der erste Band jetzt fertig vor¬ 
liegt, beabsichtigt auf dem Gebiete der Psychologie etwas Ähnliches zu bieten, 
wie „wir es beispielsweise in dem mit Recht geschätzten Lehrbuch von Tigerstedt 
oder ähnlichen Werken“ besitzen, — ein etwas ausführlicheres Lehrbuch in allen 
Teilen der Psychologie. Es will die höheren seelischen Funktionen ebenso ein¬ 
gehend behandeln wie die Sinnesfunktionen; hingegen die philosophischen Vor- 
und Grundfragen mehr zurücktreten lassen. Es darf gesagt werden, daß in dem 
vorliegenden Band dem Verfasser sein Versuch wohl gelungen ist. 

In einem kurzen populären Abriß („Einführung“) behandelt Brauns¬ 
hausen (19) die experimentelle Psychologie. Er wendet sich an den ge¬ 
bildeten Laien und allgemein Interessierten, bietet aber auch im ganzen die wich¬ 
tigsten Einzelheiten, wenn auch nicht immer mit der nötigen Kritik. 

Ziehen (131) hat ein umfassendes Werk über die Grundfragen der Psy¬ 
chologie herausgegeben, in welchem die einschlägigen Probleme eingehend ab¬ 
gehandelt werden. Die assoziationspsychologische Auffassung Ziehens versucht 
hier einen allgemein theoretischen Aufbau der Psychologie. Von Wundis großer 
Völkerpsychologie ist in dem Jahre 1915 der sechste Band über Mythus 
und Religion in zweiter Auflage erschienen (129). 

Über die Hörschärfe zu verschiedenen Tageszeiten hat Bacharach 
(7) Untersuchungen angestellt. Nach diesen bleibt während des Tages die Hör¬ 
schärfe ungefähr konstant. Ein Optimum findet sich am Spätnachmittag, 
ln der Nacht keine Schwellenerniedrigung. 

Über Schmerzqualitäten berichtet Erich Becher (13). Lange und Specht 
(70) veröffentlichen neue Untersuchungen über die Beeinflussung der 
Sinnesfunktionen durch geringe Alkoholmengen. Die Arbeit schließt 
sich an eine frühere von Specht über Beeinflussung des Gehörsinnes an. Die jetzt 


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S 

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192 * 


Belicht über die psychiatrische Literatur 1915. 


vorliegenden Untersuchungen beziehen sich auf den Gesichtssinn. Es wurde 
mit Dosen von 40, 20 und 10 Kubikzentimetern Alkohol gearbeitet. Geprüft 
wnrden Unterschieds- und Reizschwelle. Auch auf dem Gebiete des Ge¬ 
sichtssinnes wurden beide Schwellen durch den Alkohol in entgegengesetztem 
Sinne beeinflußt. Die Unterschiedsschwelle wird erhöht, die Reizschwelle 
sinkt. Die Größe der Dosis bewirkte nur quantitative Verschieden¬ 
heit en in der Änderung. Die Herabsetzung der Unterschiedschwelle wird am besten 
durch eine Störung der geistigen Akte des Beziehens erklärt. Die Erhöhung der 
Reizempfindlichkeit wird darauf zurückgeführt, daß unter Alkohol die Reize einen 
höheren Grad von Lebhaftigkeit gewinnen — Belebung der vitalen Sphäre. 

Von Bereitschaft und Wiedererkennen handeln Versuche von Mayer 
(82). Nach ihm ist das einfache Wiedererkennen einer Silbe begünstigt, wenn diese 
vorher durch eine andere Silbe in Bereitschaft gesetzt worden ist; wenn beide 
Silben bekannt sind, wird die zweite Silbe öfter und schneller wieder¬ 
erkannt, als wenn die erste eines Silbenpaares vorgeführt wird. 

Über die Bedeutung der Orientierung des Lesestoffes für das 
Lesen und der Orientierung von sinnlosen Formen für das Wieder¬ 
erkennen berichtet Oetjen (94). Die Versuche behandeln die Bedeutung der Lage 
des Körpers und der Richtung der Standpunktskoordinationsachse für die Auf¬ 
fassung des Lesestoffes und des Wiedererkennen der sinnlosen Formen. 

über die Ergebnisse neuer Versuche über das Wiedererkennen berichtet 
Auguste Fischer (30). Sie hat Versuche über das Einprägen von Silben und Punkt¬ 
gestalten ausgeführt unter Messung der Urteilszcitcn für Bekanntheit — Unbekannt¬ 
heit bei paarweiser und einzelner Wiederdarbietung. Sie glaubt, daß für das un¬ 
mittelbare Wiedererkennen ein ganz geringer Grad von unterschwelliger 
Reproduktion wahrscheinlich notwendig und förderlich sei. 

Bloch und Lippa (17) zeigen, daß die Wiederholung der Binet-Smonschen 
Intelligenzprüfungen an Schwachsinnigen nach einem Jahre ein gutes Mittel ist, 
um den Intclligenzmangel schnell und sicher auch nach Jahren zu bestimmen. 
Gregor (44) berichtet über Untersuchungen über die Entwicklung einfacher 
logischer Leistungen (Begriffserklärung). Männlichen und weiblichen Schülern 
von Volksschulklassen, Oberrcalschülem und Erwachsenen wurde die Definition 
verschiedener Begriffe aufgegeben. Bei den Lösungen glaubt Verfasser Entwick¬ 
lungsstufen unterscheiden zu können. Der Fortschritt der Qualität der Lösungen 
erfolgt spmngweise; Verfasser glaubt spezifische Differenzen der Geschlechter 
feststellen zu können. 

Nvstagmographische Untersuchungen über das Lesen von An¬ 
tiqua und Fraktur hat Lohsien (74) angestellt (mit dem Nystagmographen von 
Schaclcwüz). Versuchspersonen waren 20 Schüler von9%—16 Jahren. Nach Lohsien 
erfordert die Antiquazeile mehr Augenbewegungen als die Fraktur, wird aber rascher 
gelesen. Der langsamere Leser macht schwächere, der schnellere energischere 
Augenbewegungen. Die Form der Augenbewegung ist nicht von der Schriftform 
abhängig. 

Eine Fortsetzung seiner akustischen Untersuchungen veröffentlicht 
Wolfgang Köhler (63). Nach ihm liegt das Wesentliche des Tones nicht nur in der 


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Isserlin. Psychologie und Psychophysik. 


193 * 


musikalischen Tonhöhe, sondern auch in dem Tonkörper, der die qualitative 
Oesamtheit eines Schallphänomens zusammenfaßt (Helligkeit, Dunkelheit und 
Vokalcharakter). 

Über Klangfarbenbewegung berichtet Tenner (118). T. glaubt naeh- 
weisen zu können, daß die Sprachmelodie nur ein unwesentliches Moment der Sprach- 
musik ist; daß die Hauptsache in der Klangfarbe der menschlichen Stimme liege. 
Die Klangfarbenbewegung sei ein hauptsächliches Ausdrucksmittel. 

Über Vererbung psychischer Fähigkeiten bringt Peters (97) aus¬ 
führliche statistische und experimentelle Untersuchungen. Auf Grund der Schul¬ 
zeugnisse wurden die Leistungen von Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln 
und von Geschwistern verglichen. Für das Bestehen der Vererbung spricht die 
Tatsache, daß die Durchschnittsnote der Kinder um so schlechter ist, je schlechter 
diejenige der Eltern ist, und um so besser, je besser diese ist. Wahrscheinlich er¬ 
folgt die Vererbung nicht einfach durch Mischung der elterlichen Qualitäten, son¬ 
dern alternierend. Es bestehen Unterschiede der Beeinflussung durch Vererbung 
in den verschiedenen Lehrfächern.. Der Erbeinfluß der Mutter ist geringer als der 
der Väter. Bei den Töchtern tritt ein größerer Erbeinfluß zutage als bei den Söhnen. 
Auch zwischen den Leistungen von Großeltern und Enkeln ist eine Abhängigkeit 
deutlich. Die Mendekchen Gesetze gelten unter gewissen Voraussetzungen auch 
für die von P. untersuchten Vererbungserscheinungen. Experimentelle Unter¬ 
suchungen vermochten festzustellen, daß Geschwisterähnlichkeit in drei verschiede¬ 
nen psychischen Leistungen (unmittelbares Behalten, Geschwindigkeit, willkürliche 
Bewegungen, Kombinationsfähigkeit) nachweisbar ist. Eine deutliche Geschwister¬ 
ähnlichkeit ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter trat bei den Gedächtnis¬ 
versuchen zutage. 

Über optische Untersuchungen an Schirapansenund am Haushuhn 
berichtet Köhler (64). Mittels einer Modifikation des Heringsehen Fallversuchs wird 
gezeigt, daß der Schimpanse beim Sehen mit einem Auge ungefähr die gleichen 
Fehler begeht wie der Mensch. Durch Greifversuche an Gegenständen wird gezeigt, 
daß das Tier ähnlich wie der Mensch bekannte Gegenstände in größerer Entfer¬ 
nung vom Auge größer sieht, als es der Verkleinerung der Netzhautbilderbilder ent¬ 
sprechen würde. Ebenso sehen die Schimpansen im allgemeinen analog dem Men¬ 
schen die Oberflächenfarben im wesentlichen unabhängig von der Belichtungs¬ 
stärke; auch vom Haushuhn gilt das gleiche. 


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Alphabetisches Inhaltsverzeichnis ‘des Literatur¬ 
berichtes. 

(Die Zahlen mit einem Sternchen (*) bedeuten die Seiten des Literatur¬ 
berichtes, die Zahlen ohne Stern die Nummern der angeführten Veröffent¬ 
lichungen.) 


1. Sachregister. 


Abderhaldensche Reaktion 115* 22. 
120* 88, 90. 121* 102,108. 123* 123. 
124* 141, 145. 126* 168. 128* 189. 
Abderhaldensches Diaylsierverfahren 
47* 28. 49* 65. 90* 87. 

Aberglaube 34* 37. 

Absoluter Eindruck 191* 130. 
Abstraktionsfähigkeit 185* 49. 
Abwehrfermente 120* 83. 

Adalin 46* 21. 74* 25. 76* 50. 118* 52. 
Adipositas 5* 56. 7* 79, 85. 
Adrenalinmydriasis 53* 121. 125* 159. 
Ästhetik 186* 58. 187* 86. 

Agraphie 47* 29. 

Akromegalie 3* 37, 43. 5* 50. 8* 90. 

9* 103. 64* 12. 87* 40, 46. 
Akustikustumor 100* 222. 

Akustische Untersuchungen 186* 63. 
Alkoholgenuß und Bakterizidien 77* 64. 
Alkoholhalluzin ose 74* 16. 77* 62. 
Alkoholikerassoziationen 75* 32. 
Alkoholikerstatistik 77* 65. 
Alkoholismus 74* 5, 8, 19, 21, 28. 75* 
41, 42. 76* 49, 52. 77 * 66, 71. 85* 
13. 97* 174. 

Alkoholkriminalität 37* 81, 82. 77* 70. 
Alkoholmißbrauch 78* 81. 
Alkoholpsychosen 74* 1, 29. 75* 39. 
Alkohol und Epilepsie 78* 76, 82. 
Alkoholwirkung 75* 37. 186* 70. 
Alsterdorf er Anstalten 146* 1. 

Altem, über das 122* 117. 
Alzheimersche Krankheit 88* 50. 
Amentia nach Sepsis 48* 45. 

Amnesie 97* 180. 127* 182. 


Anämie 86* 23, perniziöse 56* 146. 
94* 142. 96* 165. 99* 207. 116* 23. 
123* 126. 124* 140. 127* 179. 
Anenzephalen 66* 32. 100* 212. 
Anlagen und Übung, entgegengesetzte 
! 189* 114. 

Anrechnung des Irrenhausaufenthaltes. 
37* 79. 

Anstaltsbücherei 140* 11. 

Antisoziale Erscheinungen 187* 79. 
Aphasie 92* 105. 93* 124. 
Apoplektiker 36* 64. 

Apperzeption 187* 84. 

Arbeitstherapie 117* 40. 119* 65. 
Arbeitswechsel 183* 22. 

Armen, Psychologie des 183* 21. 
Arsenikophagismus 74* 20. 

Arteria cerebelli poster. inf. 94* 140. 
Arteriosklerose 34* 43. 36* 71. 52* 97 r 
104. 90* 79. 98* 198. 
Assoziationspsychologie 183* 28. 
Assoziationsversuche 183* 27. 185* 67. 
188* 101. 

Astasie-Ataxie 9* 110. 

Asthenie 12* 149. 

Ataxie 65* 26. 85* 15. 119* 76. 
Atherosklerose 93* 125. 

Athetose 3* 24. 

Augenbewegung 187* 75. 

Augenmaß 186* 72. 
Ausfallserscheinungen 4* 42. 95* 147. 
117* 38. 

Aussagepsychologie 33* 30. 34* 38. 46. 
Autistisches Denken 56* 143. 
Autoserosalvarsan 100* 214. 


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Inhaltsverzeichnis. 


195 * 


Babinski 115* 11, 14. 127* 183. 
Badische Irrenanstalten 146* 2. 
Balkenerweichung 97* 184. 
Basedowkrankheit 6* 59, 60. 7* 77, 
80. 8* 98. 10* 123, 127, 128. 11* 
135. 12* 151. 13* 163,166. 14* 177. 
51* 85. 64* 9. 

Basedowstruma 11* 140. 

Bayreuth 146* 3. 

Bazillenträger 140* 22. 141* 23. 
Beaufsichtigung 139* 8. 

Behaarung, abnorme 119* 67. 
Bergmannswohl 146* 4. 

Beri-Beri 78* 84. 

Berlin, Anstaltsberichte 146* 5. 
Bemische Anstalten 149* 54, Irren¬ 
wesen 140* 16. 

Bewegung, Perzeption der 186* 69, 61. 
Bewußtseinsproblem 189* 112. 
Bewußtsein und Reflexe 126* 176, vom 
eigenen Körper 123* 127. 

Bildlose Vorstellung 191* 128. 
Binokulares Sehen 184* 46. 
Bleivergiftung 74* 26. 

Bluterguß in die basalen Hemisphären¬ 
abschnitte 100* 221. 

Blutgefäßwand 95* 150. 

Blutzirkulation 126* 171. 

Bösartige Geschwülste 93* 126. 122* 
116. 

Boston 183* 33. 

Botulismus 76* 54. 94* 139. 

Breslau 146* 6. 

Bromismus 12* 147. 77* 72. 

Burghölzli 146* 7. 

Calziumtherapie 3* 24. 

Cery 146* 8. 

Chagas 64* 18. 

Charakterbildung 183* 26. 
Charite-Mitteilungen 34* 48. 

Cholera asiatica 49* 64. 74* 24. 319* 
70. 

Chorea 1* 1, 4. 2* 22. 4* 36, 46. 6* 
63, 64. 7* 82* 86. 8* 89. 9* 104. 
11* 131. 13* 167. 14* 184. 48* 50. 
50* 86. 

Claude Lorrain 6* 74. 120* 85. 
Conradstein 146* 9. 

Conus terminalis 88* 57. 

Corpus callosum 87* 41. 

Corpus striatum 97* 178. 

Cutis laxa 64* 12. 

Dannemora 146* 10. 
Degenerationszeichen 127* 181. 


Degeneration und Alkohol 75* 38. 
Delirium tremens 76* 60. 77*74. 78*85. 
Dementia praecox 32* 12. 46* 16,17,24. 
47* 27, 32, 34, 36. 48* 49. 49* 62. 
50* 80. 51* 86, 88. 52* 99, 101, 102. 
63* 119,120. 54* 125. 56* 155, 166. 
98* 194. 

Denktätigkeit 189* 105. 
Depressionszustände 36* 68. 

Dermatose 11* 134. 

Diabetes 6* 66. 

Diätotherapie 117* 41. 119* 78. 
Dienstfähigkeit 34* 44. 37* 77. 
Diogenal 54* 130. 125* 150. 127* 176. 
Diphtherie 75* 46. 

Dokumentenfälscher 34* 45. 

Dritte Geschlecht, das 33* 32. 
Dystrophia adiposo-eenitalis 12* 154. 

Edinger 128* 190. 

Eglfrng 146* 11. 

Ehe 117* 39. 

Eichberg 146* 12. 

Eifersuchtswahn 37* 74. 49* 61. 53* 
108, 116. 74* 9. 

Eigenbeziehung 37* 72. 188* 98, 99. 
Einbildung 187* 89. 

Einwanderung 124* 142. 

Einzelne, der und seine Zeit 119* 73. 
Eklampsie 84* 2. 

Elberfelder Pferde 189* 116. 
Elektrische Unfälle 9* 109. 

Ellen (Bremen) 146* 13. 

Ellikon 146* 14. 

Eltemkonflikt 35* 55. 

Englisches Drama 46* 4. 114* 9. 
Entartung 116* 29. 

Entlassung 36* 63. 127* 184. 
Entwicklungspsychologie 186* 69. 
Enzephalitis 88* 60. 

Enzephalomalazie 89* 69. 
Enzephalomyelitis 90* 83. 

Epilepsie 1* 2, 6, 8, 9. 2* 13, 14, 17. 
3* 24, 27, 30. 5* 57. 6* 62, 73. 8* 
96, 99. 9* 106. 12* 162. 13* 167, 
165, 168. 14* 171, 173, 174, 178, 182. 
15* 186. 85* 17. 

I Epilepsie-Hvsterie 5* 54 , 55. 12* 165. 

1 14*170.' 

j Epilepsie, traumatische 4* 44. 13* 160. 

| 88* 50 a. 

Erblichkeit. 125* 152. 127* 178. 
Erblichkeit bei Trinkern 74* 2, 4. 
Ergograph 185* 60. 

Ergotismus 74* 17. 
Erkenntnisvermögen 183* 32. 


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Original fro-m 

UNIVERSETY OF MICHIGAN 



196* 


Inhaltsverzeichnis. 


Erregungs- und Angstzustände 48* 42. 
Ersatzgetränke 74* 14. 

Erschöpfung, Ermüdung 119* 79. 
Erworbene Eigenschaften 117 * 49. 128* 
194. 

Erziehung 183* 23. 

Erziehungsbuch, Deutsches llf>* 35. 
Erysipel 114* 8. 

EuVenik 38* 87. 

Exakte und inexakte Methode 120* 82. 
Exhibitionismus 33* 28. 

Exophthalmus 13* 169. 

Extrazerebrale Tumoren 99* 199. 

Fahnenflucht 55* 137. 

Familienpflege 140* 13. 

Faraday 120* 86. 87. 

Farbenagnosie 188* 100. 
Farbenempfindungen 186* 62. 

Farbensehen 182* 8. 
Feindschaftsgefühle 126* 164. 
Fetischismus 38* 99. 

Fingerbewegungen 186* 71. 

Flagellanten 5* 51. 

Foligan 118* 54. 124* 144. 

Fonabisit 128* 193. 

Forelschc Theorie 78* 83. 
Frauenkrankheiten 117* 46. 
Friedrichsberg 141* 24, 25. 147* 19. 
Frühreife 63* 2. 

Fürsorgeerziehun? 31* 2. 36* 66. 63* 1. 
65* 20, 29. 140* 21. 

Gabersee 147* 15. 
Ganglienzellenschwellung 99* 201. 
Ganglion spirale 126* 163. 
Gasvergiftung 75* 36. 77* 61. 95* 148. 
Gedächtnis 181* 2. 182* 4. 184* 43. 
188* 91. 

Geh. kleine Anfälle 4* 45. 
Gehirnabszeß, tubork. 48* 51. 
Gehirnbiochemie 123* 131. 
Gehirnerschütterung 84* 4 . 86* 29. 

100* 215. 116* 27. 128* 191. 
Gehimkarzinom 86* 25. 

Gehirnschüsse 94* 141. 98* 189. 
Gehirnverletzung 48* 40. 

•Gehlsheim 147* 16. 
Gehörshalluzinationen 54* 135. 
Geisteskrankheiten des Kindesalters 65* 
35. 66* 36, 37. 

Geistesstörungen, infekt. u. tox. 75* 43. 
Gelenkrheumatismus 55* 151. 78* 88. 
Gemeineeführlichkeit 34* 35, 40. 
Generationspsychosen 55* 149. 
Geschlcchtsumwandlung 35* 61. 


| Gescbwisterpsychosen 49* 57.* 119* 71. 
Gesetzgebung 183* 18. 
Gesiehtsfeldstörungen 100* 211. 127* 
180. 

Gestaltgedächtnis 184* 41. 

Gesundbeten 119* 68. 

Gewalttätigkeit 116* 30. 
Gewichtsschätzung 184* 35. 

Glandula pinealis 7* 88. 91* 101. 
Gliomatose 86* 12. 

Glücksgefühle, abnorme 187* 83. 
Goethe 118* 80. 

Göttingen 38* 90. 147* 17. 
Goldreaktion 91* 90. 96* 170. 
Granatexplosion 2* 12. 49* 67. 51* 84. 
53* 122. 

Grande hysti'rie 9* 11. 

Graphologische Kennzeichen 64* 19. 
Gravidität, eingebildete 61* 83. 
Greifversuch 124* 148. 

Grenzfragen 53* 60. 

Größenschätzung 190* 122. 
Gynäkologische Operationen 50* 70. 
120* 93. 

Haar 147* 18. 

Hämolysinreaktion 86* 24. 

Haftpsvchose 52* 96. 

Halluzination 52* 106. 53* 113. 123* 
129. 124* 136. 125* 153. 154. 126* 
162, 166. 

Hamburg, Anstaltsberichte 147* 19. 
Hamlet 128* 200. 

Harnstoffbildung 3* 32. 

; Harrison law 75* 30, 34. 76* 55. 

; Heilen und Bilden 181* 3. 

Heil- und Pflegeanstalten 139* 3. 
i Heimwehdeliktc 38* 89. 

Hellseher 185* 54. 

Hcmikranie 12* 145. 

Hemiplegie 64* 16. 91* 93. 

| Hemmungserscheinungen 123* 128. 

| Herborn 147* 20. 

i Herderkrankungen 85* 9. 100* 213. 

Herzaffektionen 117* 47. 

! Hessen, Hilfsverein 147* 21. 

Hildesheim 147* 22. 

Hilfsschulkinder 64* 8. 

Hirnabszesse 89* 68. 97* 182. 
Hirnangiom 94* 132. 

Himarterien, Aneurysma der 92* 110. 
Hirnechinokokkus 85* 7. 
Himforschungsinstitut 125* 185. 

1 Himgeschv ülste, multiple 90* 78. 
Himphvsiologie 12* 149. 96* 168. 
Himpunktion 94* 145. 100* 218. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


197 * 


Hirnrinde 86* 31. 87* 34. 
fdimschwellung 96* 152. 123* 135. 
Hirnsyphilis 91* 97. 92* 111. 98* 187. 
101* 228. 

Himtrauma 128* 198. 

Hirntumor 52* 96. 84* 6. 85* 8. 86* 
27. 89* 64. 94* 137. 99* 206. 100* 
219 220 

Hirnventrikel 98* 195. 

Hirnverletzung 95* 157. 96* 158. 
Hördt 139* 10. 147* 23. 

Hörschärfe 182* 7. 

Hörstörungen 15* 185. 

Homburg (Pfalz) 147* 24. 
Hormontherapie 3* 31. * 
Hydrozephalus 64* 5. 
Hyperthyreoidismus 7* 76. 
Hypnotischer Strafrechtsfall 33* 20. 
Hypochondrie 49* 58. 
Hvpophvsiserkrankung 7* 79. 11* 136, 
138. 14* 183. 

Hypophysistumor 7* 19. 91* 89. 97* 
179. 

Hypopinealismus 11* 130. 
Hypothyreose 7* 83. 

Hysterie 2* 16,18,19. 6* 52, 53. 6* 65. 
11* 132, 142. 13* 159. 14* 181. 38* 
95. 98* 188, und Hebephrenie 2* 18. 
46* 14. 

llysteroepilepsie 6* 72. 

Idiotie 64* 11, 14. 65* 22, 23, 33. 
Imbezillität 45* 5. 63* 3. 

Infantilismus 64* 17. 65* 21, 24, 31. 
Infektionskrankheiten 74* 18. 139* 7. 
Innere Medizin 118* 59. 

Innere Sekretion 12* 148. 

Innervation 10* 121. 

Intellekt und Willen 190* 123. 
Intelligenzpriifung 63*4. 182* 17. 184* 
39. 185* 55, 60. 187 * 80. 188* 92. 
189* 111. 190* 119. 

Irrenfürsorge 139* 6. 140* 12, 14. 
Irrengesetzgebung 37* 84. 

Irrenstatistik 140* 16. 

.Taspersche Phänomenologie 182* 5. 
.Tugendirresein 47* 30. 

Jugendliche 35* 57. 187* 76. 
Jugendpsychologie 188* 95. 
Jngendurteil, sittliches 189* 104. 
Justizmord Justchinsky 31* 3. 

Kant 189* 110. 

Karzinom der Dura 91* 103. 

Kastration 12* 143. 

Katatonie 48* 52. 53* 114. 55* 144. 


Katatonusversuch 116* 28. 124* 147. 
Kindesalter, Psychosen und Krank¬ 
heiten des 50* 75. 56* 159. 65* 25, 
28, 30. 121* 97. 

Kindsmord 35* 53. 
Klangfarbenbewegung 190* 118. 
Kleinhirn 97* 183. 

Kleinhirnabszeö 86* 26. 
Kleinhirnbrückenwinkel-Tumoren 86* 
19. 88* 52. 89* 72. 92* 107. 100* 
222. 101* 226, 227. 

Kleinhirntumor 88* 55. 

Kleinhirnzyste 84* 1. 

Klinischer Verlauf — anatomischer Be¬ 
fund 94* 133. 122* 122. 
Königsfelden 147* 25. 

Körperliche Erkrankung 47* 35. 87* 44. 
117* 37. 

Kommotionsneurose 3* 29. 86* 30. 
Konzeptionsbeförderung 122* 112. 
Kopfhautfalten 118* 56. 

Kopfverletzung 54* 124. 97* 185. 114* 
2. 125* 160“ 

Korsakowpsychose 52* 105. 76* 57, 59. 
Kranidmeter, ohne 93* 118. 121* 106. 
Krankenschwestern 139* 2. 
Kremasterreflex 115* 10. 

Kreuzburg (Schlesien) 147* 26. 

Krieg, der deutsche 116* 15. 
Kriegsbeschädigung 37* 78. 
Kriegshypnose 9* 112. 49* 56. 
Kriegshysterie 1* 10. 9* 112. 

! Kriegsinvaliden 139* 9. 
Kriegskriminalität 37* 88. 
Kriegsneurologie 3* 23. 10* 120. 12* 

I 144. 

! Kriegsneurosen und -psychosen 1* 10. 

3* 26, 35. 4* 40. 7 * 75. 8* 91, 102. 
j 9*107,113,114. 10*117.118. 31*1. 

l 32* 14,15. 45* 1, 6,8, 9. 46* 22. 48* 

i 44.48. 50*79. 51*90,91,92,93,94. 

53* 112. 54* 132, 136. 56* 152. 74* 
6, 7. 76* 48. 96* 162. 115* 13. 121* 
99. 122* 118. 123* 134. 125* 151. 
i Kriegspsvchiatrie 32* 16, 17. 34* 47. 

; 56. 46* 13. 53* 115. 

; Kriegspsvchiatrisches 55* 140. 56* 153. 

154, 158. 76* 58. 115* 20. 116* 24, 
j 34. 120* 81. 121* 101, 109. 122* 

| 110,111,113,114,115. 124*137,146. 

126* 167, 173, 174. 128* 196, 197, 
199. 

Kriegsseuchen 140* 20. 

Kriegstyphus 48* 38. 71* 15. 

Krieg und Aberglauben 121* 95. 

Krieg und Gesundheitsfürsorge 118* 60. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



198 * 


Inhaltsverzeichnis. 


Krieg und Seelenleben 119* 72. 125* 
165. 185* 56. 190* 117. 
Kriminalanthropologie 35* 59. 
Kriminalität 36* 62, 69. 37* 88. 
Kutzenberg 147* 27. 

Laboranten 128* 195. 
Lähmungseischeinungen 99* 21 ML 104*6. 
Langenhagen 147* 28. 

Langenhorn 147* 19. 

Leitungsaphasie 92* 106. 

Lernen 188* 92. 

Lernzeiten 188* 92. 189* 113. 

Lesen, Orientierung beim 188* 94. 
Leubus 147* 30. 

Lewenberg 147* 29. 

Lichtlücken 191* 132. 

Lindenhaus 147* 31. 

Liquor cerebrospinalis siehe Zerebro¬ 
spinalflüssigkeit. 

Logische Leistungen 184* 44. 
Lokalerinnerungen 185* 48. 

Lüben 148* 32. 

Lüneburg 148* 33. 

Luetinreaktion 90* 84, 85. 
Luminalbehandlung 12* 154. 
Lustmörder 37* 75. 

Lust- und Unlustelemente 182* 12. 

Manie, verworrene 11* 129. 52* 103. 
Manisch-depressives Irresein 46* 19. 
47* 25. 48* 46, 47. 50* 81. öl* 82. 
53* 117, 118. 54* 128. 131, 134. 
Mariaberg 148* 34. 

Marineangehörige 38* 96. 

Massachusetts State Hospitals 139* 4. 
Massensuggestion 126* 170. 184* 37*. 
Mathematische Geschicklichkeit 187* 
88 . 

Melancholie 33* 29. 48* 41. 
Mendelsches Gesetz 33* 26. 

Meningitis 88* 59. 89* 66. 90* 82. 91* 
100. 96* 163, 166, 171.. 
Menstruationspsychosen 49* 63, 64. 
120 * 88 . 

Metaphern 183* 25. 

Metasyphilis 98* 193. 
Methylalkoholvergiftung 78* 87. 
Migräne 3* 33. 

Migräno-Epilepsie 9* 108. 
Mikrobenknlturen 123* 125. 

Mikrogyrie 85* 11.. 

Mineraistoffwechsel 118* 61. 
Mobilmachungspsychosen 48* 43. 118* 
55. 

Momentanes Interesse 186* 68. 


Moralischer Schwachsinn 35* 52. 

Mord, Mörder 38* 94. 183* 24. 
Morphinismus 74* 11, 12, 13. 
Morphium-Skopalamin, Trivalin 48* 42. 
118* 53. 

Morphologische Kennzeichen 92* 117. 
121* 105. 

Münsterlingen 148* 35. 

Multiple Sklerose 47* 31. 52* 98. 87* 
36, 37. 90* 88. 93* 129. 95* 149. 
98* 188. 

Musikwissenschaft 189* 106. 

Myelitis 91* 95. 

Myotomia congenita 13* 164. 
Myotonoklonib 10* 122. 

Mythus und Religionl91* 129. 

Narkolepsie 11* 137. 123* las. 

Narkose 119* 7£. 

Neosalvarsan 92* 104. 
Nervenkrankheiten, endogener Faktor 
der 10* 116. 94* 136. 
Nervenschußverletzungen 13* 161. 
Nervensystem, Psychol. 190* 126. 
Netzhautgruppe und blinder Fleck 189* 
107. 

Neurasthenie 1* 3. 5* 59. 11* 141. 
14* 176. 

Neuritis arthritica 11* 139. 
Neuro-Chirurgie 122* 119. 

Neurolyse 126* 172. 

Neuropathische 87* 80. 

Neurose (psychopathol.) 13* 158. 
Neustadt (Holstein) 148* 37. 

Neustadt (Westpreußen) 148* 36. 
Niedernhart (Linz) 148* 38. 
Noktambulismus 8* 93. 

Nystagmus 4* 41. 186* 74. 

i 

öffentliche Meinung 117* 50. 
Okulomotoriuslähmung 89* 76. 98* 196. 
Ophthalmoplegie 93* 130. 
Opium-Brombehandlung 7* 78. 

Optische Untersuchungen 186* 29, 64. 
Osnabrück 148* 39. 

Osteomalazie 3* 25. 65* 21. 
Ostpreußische Anstalten 148* 40. 
Oszillierende Gefühle 184* 40. 

I Oxyproteinsäure 93* 131. 

I Panumsches Phänomen 185* 53. 

I Papillom ira IV. Ventrikel 88* 68. 

Paralyse 4* 38. 38* 98. 86* 22. 87* 

! 43, 48. 88* 49. 89* 63, 67, 70, 71. 

! 92* 115. 94* 144. 95* 154 . 96* 160, 

161, 167, 169. 100* 216. 


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Original fro-m 

UNIVERSETY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


199* 


Paralyse, juvenile 97* 177, 181. 
Paralyse, pseudohypertrophische 97* 
173. 

Paralysis agitans 7 * 84. 8* 95. 
Paramnesie 187* 90. 

Paranoia 46* 11. 47* 33. 49* 55. 52* 
100. 53* 109. 

Paranoide Erkrankungen 49* 60. 50* 
68, 69. 64* 129. 

Paraphrenien 50* 72. 

Parasyphilitische Erscheinungen 92*, 
116. 

Parkinsonsche Symptome 9* 105. 93* 
123. 

Pathologie, allg. u. pathol. Anatomie 
96* 159. 116* 33. 124* 138. 
Pathologie der Zelle 91* 98. 120* 94. 
Pellagra 76* 53, 56. 77* 63. 78* 78,86. 
Persuasion 4* 39. 

Pflegepersonal 139* 1, 2. 140* 18. 
Philosophie des „Als Ob“ 184* 42. 
Pliipps Clinic 139* 5. 

Plastoskop 191* 133. 

Platner 117* 36. 

Polioenzephalitis 94* 139. 

Poliomyelitis 91* 102. 92* 109. 99* 203. 
Polyneuritis 10* 115. 74* 10. 75* 40. 
Poriomanie 54* 123. 

Praesenium 45* 2. 

Praetabes 84* 5. 

Prostituierte 37* 83. 
Pseudohermapbroditismus 64* 15. 
Pseudologia phantastica 37* 176. 53* 

m. 

Pseudotumor cerebri 94* 135. 

Psyche und Gefäßsystem 127* 188. 
Psychiatrie, allg. 33* 18. 86* 20. 116* 
32.119* 19, Lehrbuch 115* 12,16. 18. 
Geschichte der 120* 84. 

Psychische Fähigkeiten 188* 97. 
Psychische Faktoren 119* 66. 
Psychische Invarianten 185* 52. 
Psychische Kausalität 117* 48. 
Psychoanalyse 187* 78. 

Psychogene Reaktionen 8* 100,101,102. 
Psychologie 182* 6. 183* 19. 184* 36, 
38. 191* 131. 

Fsychoneuroscn — multiple Sklerose 
49* 66. 

Psychopathengesetz 33* 19. 
Psychopathologie 118* 57. 122* 114. 
Psychosen 114* 3, 4. 121* 100. 127* 
177. 

Psychosen, Einteilung der 114* 5. 115* 
18, Ätiologie der 127* 187. 

Psychosen, eklamptische 54* 133.78* 79. 


Psychosen, funktionelle 85* 10. 
Psychosen, hysterische 55* 147. 
Psychosen, infektiös-toxische 51* 89. 
77* 75. 

Psychosen, präsenile 55* 145. senile 
46* 11. 

Psychosen, symptomatische 46* 15, 18. 
86 * 21 . 

Psychosen, traumatische 31* 5. 45* 3. 
49* 59. 50* 71, 73. 98* 186. 118* 58. 
119* 77. 121* 98. 125* 161. 
Psychotherapie 126* 165. 
Puerperalpsychosen 51* 87. 
Pupillenstarrc 75* 44. 76* 51. 
Pupillenunruhe 48* 39. 117* 44. 
Pupillenuntersuchung 99* 208. 

j (Querulantenwahn 46* 20. 55* 142. 

I 

) Rassenhygiene 79* 23. 76* 47. 114* 
126* 169. 

Ravnaudsche Krankheit 10* 124. 
j Rechtsverhältnisse 36* 65. 
Reflexftuslösung 125* 156. 157. 
Religionspsvchologie 190* 120. 127. 

191* 129' 

Rentenbegehren 33* 25. 

Rheinprovinz, Anstaltsberichte 148* 41. 
Richter, geisteskranke 34* 39. 
Rindenepilepsie 1* 9. 

Robespierre 117* 51. 

Rockwinkel (Bremen i 148* 42. 

Roda 148* 43, 44. 

Rosegg 148* 45 

Sachsenberg (Schwerin) 148* 46. 
Sachverständigentätigkeit 39* 101. 1(12. 
103, 104. 

Safrolvergiftung 75* 35. 

Salvarsan 86* 33. 87* 47. 93* 128. 
Salvarsannatrium 87* 39, 45. 89* 65. 
100* 217. 

Schädelmißbildungcn 85* 16. 
Schätzungsirrtömer 188* 51. 

Dre. Schedel 90* 77. 119* 75. 
Scheinbewegungen 182* 14. 190* 126. 
Schizophrenie 50* 78. 65* 148. 
Schlaftrunkenheit 38* 93. 

Schlaganfall 99* 205. 

Schleswig (Stadtfeld) 148* 47. 
Schmerzempfindung 182* 13. 186* 66. 
Schock 127* 185. 

Schrapnellverletzung 91* 91. 
Schreckneurosen 6* 67, 68, 74. 11* 180. 
Schrifttum der Kinder 188* 102. 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



200* 


Inhaltsverzeichnis. 


Schußverletzungen 88* Gl. 92* 114. 
97* 172. 

Schwachsinn 66* 150. 56* 157. 64* 
7, 13. 

Schwetz, Westpr. 140* 17. 149* 48. 
Sedobrol 121* 107. 

Seelenblindheit 89* 74. 

Seelensitz 121* 96. 

Selbstmord 32* 8. 35* 50, 54. 37 * 73. 

39* 105. 50* 77. 123* 132. 
Selbstschilderung 184* 47. 
Selbstverletzung 12* 150. 115* 21. 
Sella turcica 100* 224. 

Senile Demenz 99* 210. 

Senile Plaques 87* 35. 
Sensibilitätsstörungen 92* 113. 95* 151. 

98* 192. 121* 104. 

Serologie 120* 91. 

Seuchen 127* 186. 140* 19. 

Sexualität 32* 6, 7. 34* 33. 116* 25. 

122* 120. 184* 34. 

Shakespeare 116* 31. 118* 62. 
Simulation 8* 97. 33* 24. 36* 67. 
Sinnesenergien 183* 20. 
Sinnesverwirrungen 190* 124. 
Sittlichkeitsverbrechen 39* 100. ' 
Situationspsychosen 11* 133. 53* 110. 
Sonnenhalde (Riehen) 149* 49. 
Sonnenstich 90* 80. 95* 156. 96* 164. 
124* 139. 

Soziale Fürsorge 37* 78, Medizin 118* 
63. 

. Spaßmacher 186* 67. 

Spinalparalyse 95* 153. 
Spindelzellensarkom 86* 28. 
Spirochaeta pallida 91* 94. 93* 119. 
Sprache 121* 103. 122* 121. 
Sprachheilkunde 4* 47. 

Sprachstörung 5* 49. 12* 153. 101* 225. 
Sprachzentren 94* 143. 

Stäsis 42 

Stauungspapille 89* 75. 95* 155. 
Stephansfeld 149* 50. 

Sterilisation 33* 27. 

Stickstoffwechsel 47* 25. 26. 
Stimmeinstellungsfiguren 187* 77. 
Stimmzeichen 99* 202. 
Stirnhirntumoren 86* 32. 89* 73. 
Stoffwechsel 10* 125. 123* 124. 
Stottern 2* 20. 5* 48. 8* 94. 

St. Pirminsberg 149* öl. 

Strafrecht und Minderwertige 32* 9. 
Strecknitz-Lübeck 149* 52. 

Struma congenita 13* 162. 

Suggestion 116* 26. 117* 43. 128* 192. 
183* 31. 


| Syphilis 87* 38. 88* 53. 90* 81. 94* 
134. 100* 223. 

Syringomyelie 91* 92. 98* 191, 197. 

Tabak und Alkohol 78* 89. 

Tabes 85* 14. 91* 96, 99. 95* 146. 

99* 209, und Paralyse 88* 54* 56. 
Tätowierung 34* 36. 

Taubstummheit, hysterische 14* 179. 
Thrombose 93* 122. 

Thymus 5* 61. 

Thyreoiditis 1* 5. 2* 21. 

Thyreosen 3* 28. 10* 126, 128. 
Tiefenwahmehmung 188* 96. 

Timon von Athen 116* 31. 

Tonwirkung, dichotische 182* 9, 10. 
Tordav-Wienersche Reaktion 47* 37. 
Transitivismus 55* 141. 

Traum. Träume 181* 1. 184* 45. 187* 
87. 

Trigeminusneuralgie 3* 35 a. 
Trinkerfürsorge 74* 3, 27. 78* 80. 
Trunksucht 32* 10, 11. 77* 68, 69. 
Tuberkulinbehandlung 89* 71. 97* 175. 
Tumor siehe Hirntumor. 

Typhoides Fieber 74* 22. 
Typhuspsychosen 54* 129. 78*77. 117* 
45. 119* 69. 

Überwertigkeit 115* 17. 
Unfallbegutachtung 1* 7. 

Unfallfolgen 34* 34, 41, 42. 
Unfallmedizin, Handbuch 36* 49. 
Unfallneurosen 4* 40. 6* 69, 70, 71. 

7* 87. 12* 146. 14* 175. 33* 22, 23. 
Ungarn, Anstaltsberichte 149* 53. 
Unmusikalische 182* 15. 

Unsoziale 36* 70. 

Untätigkeit, Faulheit 182* 16. 
Unterbewußtsein 187* 81. 

Vaccineurinbehandlung 8* 92. 
Verantwortlichkeit 35* 61. 
Veronalvergiftung 76* 31. 77* 73. 
Versicherungsrechtliche Medizin 32* 13. 
Volkswohlfahrt 118* 64. 

Vorbeugung 114* 7. 

Verbrechen 31* 4. 33* 31. 

Wahnbildung 46* 10. 

Wahnideen 55* 138, 139. 
Wahrnehmungslehre 186* 73. 

Waldau, Münsingen, Bellelav 149* 54. 
Waldhaus (Chur) 149* 55. 
Wassermannsehc Reaktion 93* 121. 
94* 138. 


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Original fro-m 

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Inhaltsverzeichnis. 


201* 


Wehnen 149* 56. 

Weilmünster 149* 59. 

Wemeck 149* 57. 

Wemickes antochthone Ideen 123* 
130. 

Wernigerode-Hasserode 149* 58. 
Wertpsychologie 187* 85. 

Werttheorie 189* 108. 

Westfalen, Anstaltsbelichte 149* 00. 
Westphalsches Symptom 2* 10. 

Wiedererbennen 183* 30. 187* 82. 

Wü (St. Gallen) 149* 61. 
Willensbeeinflussung 186* 05. 
Wilsonsche Krankheit 99* 200. 
Wirtschaftsleben, Psychologie des 188* 
103. 

Woltersdorfer Schleuse 149* 02. 
Woitblindheit 85* 18. 


i Zahlenverständnis 189* 109, 115. 190* 

121 . 

| Zerebellare Pyramide 97* 176. 
i Zerebellarer Svmptomenkomplex 88* 
51, 62. 92* 108. . 

Zerebrospinalflüssigkeit 84* 3. 87 * 42. 
; 90* 86. 

Zeugenaussagen 38* 97. 

Zittern bei Hirntumor 98* 130. 
Zivilisation 120* 92. 

Zunahme der Geisteskrankheiten 124* 
143. 

Zurechnungsfähigkeit 35* 68. 38* 91,92. 
Zwangsbewegungen 65* 27. -haltung 
46* 23. 

Zwergwuchs 64* 10. 65* 26, 34. 
Zystenbildung 92* 112. 
j Zystizerkenmeningitis 50* 76. 


Aal 181*. 

Adams 181*. 

Adler u. Furtmüllcr 181*. 
Albos 73*. 

Albrecht 1*. 

Alexander 84*. 

Alin 84*. 

Alt 31* 45*. 

Alter 1* 84* 147* 31. 
Anton (Halle) 73* 84* 
114*. 

Antoni 84*. 

Arnold 182*. 

Aron 84*. 

Ar ton 85*. 

Aschaffenburg 1* 114*. 
Auerbach 114*. 

Ayer 85*. 

Baade 182*. 

Bachrach 182*. 

Baer 1*. 

Balev 182*. 

Ball,' Ch. P. 85*. 

Ball, Jan D. 85*. 

Balp 1*. 

Barakov 1*. 

Barber 182*. 

Barr 114*. 

Barth, Elfr. 31* 63*. 
Becher 182*. 

Zeitschrift für Psychiatrie. 


2. Autorenregister. 

Bechterew 31*. 

Becker (Herbom) 31*. 
Beckmann 114*. 
Beekmann 63*. 

Benders 45*. 

Benning 148* 42. 
de Benoit 73*. 

Benussi 182*. 

Berg 139*. 

Berger 1* 31* 45*. 
Berghäuser, Wilh. 45* 
114*. 

Berkley 45* 63*. 

Bemfeld 182*. 

Bernhardt 115*. 

Bertholet 73*. 

Beßmer 182*. 

Biach 115*. 

Bianchi 115*. 

Bickel 45* 115*. 
Bielchowskv 1* 85*. 
Bignami et Xazaii 73* 
85*. 

Bikeles 85*. 

Bjkeles u. Zbyszewski 1* 
Biller, Otto, 45*. 

Bing 115*. 

Binswanger (Jena) 1* 

115*. 

Binswanger u. Siemerl ng 
116*. 

LXXIII. Lit/ 


Birnbaum 1* 32* 45* 46* 
73* 115*. 

B ttorf 2*. 

Blachian 147* 18. 
Blauner 85*. 

Bleuler2* 46*115*146*7. 
Bloch 63*. 

Bloch u. Lippa 182*. 
Boas, Kurt 32*. 

Boden 183*. ‘ 
v. Bokav 64*. 

Bolk 64'* 85*. 

Bolten 2* 85*. 

Bonhooffer 2* 46* 73* 
85* 86* 115*. 
Bonhoeffer u. Moeli 32*. 
Borchardt 46* 86* 115*. 
Bouman 32*. 

Bouman u. Hasselt 115*. 
van Bouwdijk-Bastiaanse 
86 *. 

Boven 46*. 

Braune 146* 9. 
Braunshausen 183*. 
Breiger 46*. 

I v. Bremen, Rud. 86*. 

! Bresler 32* 116* 139*. 

; Briggs and Stearns 139*. 

, Brinkhaus, Karl 2*. 

Brodsky 40*. 

| Brown, Sänger 46*. 

o 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




202* 


Inhaltsverzeichnis. 


Browning 2*. 

Brouwer u. Blauwkuip 
86* 116*. 

Brlickner 86*. 
Brüggemann 46*. 

Brühl 183*. 

Brümmer 149* 66. 
Brünger 2*. 

Bruhn 2*. 

Bruhns 3*. 

Bryant 3*. 

Büller, Georg 86*. 

Bürger 32*. 

Büttner 64*. 

Bull u. Harbitz 3*. 

Bunge 73*. 

Bunnemann 3*. 

Bumke 147* 16. 
Burchard 46* 116*. 
Burkarth 148* 34. 

Burr 86* 183*. 
Buschan“46*. 

Campbell 139*. 

Cardauns, Franz 3*. 

Caro 3*. 

Castex u. Bolo 86*. 
Cazzamalli 116*. 

Ceni 86* 116*. 

Charon et Courbon 46*. 
Chotzen 73*. 

Christoffel 3* 86*. 

Ciarla 86*. 

Cimbal 32*. 

Clarke 3*. 

Collins and Marks 3*. 
Colmant 86*. 

Conrad 183*. 

Consiglio 32*. 

Cotton 46* 86* 87*. 
Coultes 183*. 

Cowe 87*. 

Cox 33*. 
del Croce 116*. 

Cuneo 3* 47*. 
Curschmann 3* 73* 87*. 
Curwen 139*. 

Cziky 116*. 

Dabeistein 148* 37. 
Davenport 116*. 
Davidian 3*. 

Davis 47*. 

Dees-116* 139* 147* 15. 
Delbrück 146* 13. 
Dercum 116*. 


van Deventer 139*. 
van Deventer, Sissing u. 

Postma 33*. 

Diller 33* 183*. 

Dimitz u. Fries 47*. 
Dinter 147* 30. 

Doinikow 87*. 

Dominik 73*. 

Donath 3* 47* 116*. 
van Dongem 73*. 
Dornblüth 116*. 

Dost 4*. 

Downoy 183*. 

Draper 87*. 

Drcyfus 87*. 

Drysdale 47*. 

Dürberk, Paul 4* 8i*. 
Dugo 47*. 

Durand, Artur 33*. 

Ebbel 47*. 

Ebstein 117*. 

Edsall und Means 4*. 
Eisath 47*. 

Eliassow 64*. 

Eisberg 87*. 

Elsenhaus 183*. 

Emanuel 8/*. 

Emerson 47*. 

Enge 47* 87* 117*. 
Engelen 4* 33*. 

Engelen u. Rangette 33* 
183*. 

Engelhard 4*. 

Engelhom 4* 117*. 

Ernst 47*. 

Eulenburg 117*. 

Evans and Mikels 117*. 
Ewald 117*. 

Eyman 117*. 

Fabinyi u. Hajös 47*. 
Fabry u. Fischer 87*. 
Falta 4* 87*. 

Farr 73*. 

Feblinger 33*. 

Fehsenfeid 74*. 

Ferree 183*. 

Fischer, Auguste 183*. 
Fischer, Bernhard 87*. 
Fischer, Max (Wiesloch) 
L39*. 

Flatau* 33* 117* 183*. 
Flesch 64*. 

Flusser 48* 74* 117*. 
Forel 183*. 


Förster 87* 88*. 

Förster u. Schlesinger 48* 
117*. 

Fraenkel, L. 117*. 

France 117*. 

Frank, V. Th. 183*. 
Frankhauser 117*. 

Franz, Sh. 48*. 

Franz, V. 117*. 

Freeman 117*. 

Freimark, Hans 117*. 
Frerich, Heinr. 33* 48*. 
Freud, H. 118*. 

Freud, Sigm. 184*. 

Frey, E. 88*. 
v. Frev, M. 184*. 

Frey, Rudolf 4* 88*. 
Fricke, Winfried 33*. 
Friedländer, Erich 48* 
118*. 

Friedländer, Julius 88*. 
Friedländer, Rosa 118*. 
Friedmann, M. 4*. 
Friedrich, Jul. 33*. 
Fritsch 4*. 

Fritze, Gustav 4*. 

Fröbes 184* 

Frölich 147* 2h 
Fröschcls 4* 5*. 

Frost 184*. 

Frowein 74*. 

Fuchs (Cöln) 184*. 

Fuchs u. Waitzki 74*. 
Fuchs, Walter 48* 118*. 
Fürth, C. 5*. 

Fumarola 88*. 

Gabel 6*. 

Gaedecken 34*. 

Ganter 118*. 

Gaupp (Tübingen) 5* 
118*. 

Geipel 34*. 

Gennerich 88*. 
Gensichen, Th. 88*. 
Gerson, Adolf 184*. 
Gerstmann u. Perutz 88*. 
Gerver 48*. 

Gezelle Meerburg 118*. 
Gierlich 88*. 

Giese 184*. 

Gilbert 184*. 

Godefroy 6* 184*. 
Gölkel, Karl 88*. 

Göring 34*. 

Götz, Bemdt 6*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


203* 


Götz, 0. 88* 

Goldstein 88*. 

Gordon 6*. 

Görski 48* 74*. 

Gotthold 34*. 

Gottstein 118*. 

Grabley 118* 149* 62. 
Graul, G. 5*. 
dcl Greco 118*. 

Gregg 89*. 

Gregor 184*. 

Gregory 48*. 

Greppin 148* 45. 

Grey 89*. 

Grotjahn 118*. 
Grünbaum 184*. 
v.Gruber (München) 118*. 
Grüble 184. 

Gudden, H. 74*. 
Günther, A. 185*. 
Gutmann 89*. 

v. Hab er er 6*. 
Haberkant 139* 147* 23. 
Habrich 185*. 

Haeberlin 149* 51. 
Hagen 89*. 

Harnes, Emilie 119*. 
Hahn 146* 6. 

Hahn, Rudolf 48*. 
HalberBtadt et Legrand 
48*. 

Handrik 185*. 

Harpe 48*. 

Harrington 119*. 

Harns 185*. 

Hart, C. 5*. 

Hartwig 64*. 

Haskell 89*. 

Hassin 48* 89*. 

Haupt 89*. 

Hanptmann 48*. 
Havmann 89*. 

Hebold 6*. 

Hegar 119*. 

Heflter 74*. 

Heiberg 74*. 

Heinicke 89*. 

Heinrichs, K. L. 6* 49*. 
Heller 185*. 

Hellwig 34* 119*. 
Henders-.n 74* 119*. 
Henning, H. 185*. 
Henschen, Folke 89*. 
Hercord 74*. 

Herrmann 64*. 


Herschmann49*74* 119*. 
Herter 89*. 

Herzog, B. 89*. 

Heveroch 49* 89*. 
Hibben, Dietr. 49* 119*. 
Hickmann 185*. 

Higier 49* 64*. 
v. Hippel 6*. 

Hirsch, Samson 74*. 
Hirsch-Gereuth 74*. 
Hirschfeld, Magnus 49*. 
Hoche (Freiburg) 6* 119* 
185*. 

Hock 146* 3. 

Hoeber, R. 119*. 

Honig 89*. 

Hopfner 90* 119*. 
Hoffarth 34*. 

Hoffmann, F. 74*. 
Hofmann 90*. 
Hollingworth 185*. 
Holterbach 147* 24. 
Hoover 119*. 
Hoppe-Sevler 6* 74*. 
Horn, P. 6* 34* 90*. 
Homev, Karen 49* 119*. 
Hovorka 64*. 
Hudowemig 74*. 

Hübner, A. (Bonn) 49** 
Hughes 75* 119*. 
Huitgrcen 64*. 

Husemann 75*. 

Huther 185*. 

Ireland and Wilson 90*. 
Jackson 6*. 

Jacobi, C. 119*. 

Jacobi, Walter 119*. 
Jacobsohn 120*. 

Jacoby 120*. 

Jafföo u. Pribrara 120*. 
Jnhnel 90*. 

Jakob, Alfons 90*. 
Jebens, Otto 49*. 

Jelliffe 120*. 

Jellineck 6*. 

Jentsch 6* 120*. 

Jörger, Joh. H. 75*. 
Jörger, P. 49* 149* 55. 
Jnlly, Ph. 34* 49* 120*. 
Jones 140*. 

Juliusburger 7*. 

Kafka 49* 90* 120*. 
Kahane 7*. 

Kahlmcter 91*. 


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Kalmus 34*. 

Kaplan 91* 120*. 
Karehnke, Bruno 7*. 
Karmann, E. von 34*. 
Karpas 120*. 

Karplus 49* 91*. 
Karstens 64*. 

Kasten 34*. 

Kauffinann 149* 57. 
Kaufmann, C. 35*. 

Kehr 185*. 

Kellner 7* 35*. 

Kemp 7*. 

Keyser, T. S. 64* 91*. 
Kienboeck 7*. 

King 75*. 

Kirchhof! 148* 47. 
Kirschmann 185*. 
Kißmeyer, A. 91*. 

Kläsi u. Roth 76*. 

Klose 7*. 

KlüiJel 91*. 

Knapp 35* 75*. 

Kobelt 186*. 

Koch 64* 91*. 

Koehler 186*. 
Kohnstamm 186*. 
Kollarits 186*. 

Koplik 7*. 
v. Korczynski 7*. 
Krambach 50*. 

Kramer, F. 7*. 

Krantz, Hetty 50* 120*. 
Kraus, W. M. 7*. 

Kraus, Bosenbusch u. 

Maggio 64*. 

Krause, Karl 91*. 

Krauß 50*. 

Krebl et Marchand 91* 

120 *. 

Kronfeld, A. 36*. 
Kronfeld, E. M. 121*. 
Kronthal 121*. 

Krueger 60* 91* 186*. 
Kruse 50* 121*. 

Kühl 7* 60*. 

Künzel, Ilse 50* 121*. 
Kürbitz 35*. 

Kufs 50*. 

Kuhlgatz, Wilh. 35* 50*. 
KurÄk 91*. 

Laehr 7*. 

Lang 50*. 

Lange u. Specht 186*. 
Langelaan 7* 91*. 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



204* 


Inhaltsverzeichnis. 


Langfeld 186*. 
Lantzius-Benninga 149* 
59. 

Laudenheimer, J. B. 50*. 
Laudcnhcimer, Rudolf 
50* 121*. 

Lazar 36*. 

Leegard 91*. 

Lceser 186*. 

Lenriacher 91*. 

Lemel 60*. 

Lepage 8*. 

Leppmann 35*. 

Leva 8*. 

Lewandowsky 8*. 
Lewinsohn 92*. 
Lewy-Suhl 35*. 

Lieb 75*. 

Liepmann 92*. 

Liepmann u. Pappenheim 
92*. 

Lieske, Hans 36*. 

Lind 60* 61* 121*. 

Link 92*. 

Linke 147* 26. 

Linke, P. 186*. 
Lipschütz 75*. 

Lloyd 75*. 

Lobsien 186*. 

Loechel 51*. 

Löffler 75*. 

Löwenstein, Kurt 8* 92*. 
Löwenstein, Paul 92*. 
Löwy, Julius 8* 92*. 
Löwy, Max 121*. 

Lomer 64*. 

Loring 187*. 

Ludlum and Corson- 
White 121*. 

Liidke, Georg 187*. 
Luick 187*. 

Lvdston 92*. 

MacCurdy 187*. 
MacDonald, A. 35* 187*. 
MacDonald, W. 121*. 
Mahaim 146* 8. 

Makuen 8*. 

Mann, Alfred 187*. 
Mann, Ludw. 51*. 
Marburg 8* 92* 121*. 
Marburg u. Ranzi 92*. 
Marchiafava 75*. 

Marcus, Henry 8* 92*. 
Marcuse 35*. 

Marie (Villejuif) 92*. 


Marie et Auliffe 92* 121*. 
Marini 36*. 

Martin 187*. 

Marx, B. 8*. 

Marx, Emil 75*. 
Massarotti 61*. 

Masseion 51 . 

Matti 93* 121*. 

Matusch 148* 46. 

May, James 140*. 

Mayer, Felix 121*. 
Mayer, H. W. 187*. 
Mayer, Wilh. 75* 121*. 
Mayer, Willy 187*. 
McCarthy 61*. 

Mclnstoh and Fildes 
93*. 

McLaughlin 75*. 
Meggendorier 51*. 
Melchior 140*. 

Melzer 61* 76*. 

Mendel 93* 121*. 
Merhaut 8*. 

Messer 187*. 

Mettgenberg 36*. 
Moumann 187*. 

Meyer, Carl 8*. 

Meyer, E. (Königsberg) 
8* 9* 51* 122*. 

Meyer, Hugo 9*. 

Meyer, Salomon 187*. 
Meyer von Schauensee 
36*. 

Meyers 93*. 

Michels 9*. 

Mingazzini 9* 93*. 
Minnick 187*. 

Mjöcn 75*. 

Möckel 9*. 

Moeli 36* 140*. 
Mönkeberg 93*. 
Mönkemöller 36* 65* 
147* 28. 

Möring 36*. 

Mohr, Fr. 9* 51*. 

Moll 75* 122*. 

Moore 187.* 

Moravcsik 51* 52* 122*. 
Morgenthaler 140*. 

Moses 36*. 
de Mouchy 65*. 

Moyle 36*. 

Möller, E. (Waldbröl) 52* 
93* 122*. 

Müller, F. 187*. 
i Müller, Friedr. 122*. 


Müller-Freienfels 188*. 
Münzer, A. 122*. 
Muskens 93* 122*. 
Muschalik 65*. 

Myers 188*. 

Nack 52*. 

Naegeli 93*. 

Nagel 52* 93*. 

Neff 76*. 

Neißer, A. 122*. 

Neißer, E. 9*. 

Neuber 9*. 

Neuberger 147* 19 
Neubert 93*. 

Neubürger 52*. 

Neumann 93*. 

Neumark 94*. 

Neurath 65*. 

Neutra 9*. 

Newton Scott 188*. 

Nießl v. Mayendorff 122*. 
Nieuwenhuijse 76*. 

Nißl 94* 122*. 

Nonne 9* 10* 76* 94*. 
Nußbaum, Robert 52*. 

Obersteiner 10* 94. 
Obr6gia et Pitulescu 52*. 
Obrdgia, Urecchia et Po- 
peia 52*. 

Oeconomacis 94*. 

Oetjen, Friedr* 188*. 
Oetter 147* 27. 
Oppenheim 10** 

Ortner 10*. 

Orton 123*. 

Osbornc 10*. 

Oswald, Ad. 10* 123*. 
Otto, Ferdinand 76*. 

Page 76*. 

Pal 10*. 

Palmer 146* 1. 

Parhon 11* 62*. 

Parhon et Savini 123*. 
Pastoors 94*. 

Patschke 36* 52*. 

Paulus 76* 94*. 

Pearson 76*. 

Pel 94*. 

Peper 188*. 

Peritz 94*. 

Peter, Rud 188*. 

Peters, J. Th. 11*. 
Peters, W. 188*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


205* 


Pettit and Durbam 76*. 
Pfahl, F. 52*. 

Pfeiffer 11* 94* 123*. 
Pick 37 * 52* 76* 94* 
123* 188*. 

Pighini 123* 

Pilcz 63* 76* 94*. 
Pincus 94*. 

Pinner, Emilie 95*. 
Placzek 37* 123*. 

Pötzl 188*. 

Poppelreuter 95* 188*. 
von der Porten 76*. 
Potts 77* 95*. 

Prager, Lotte 11 *. 
Prasse, Erich 37* 53*. 
Priee 53*. 

Puley 95*. 

Quadri 65*. 

Quensel 146* 4. 

Rabbas 148* 36. 
v. Rad 77*. 

Raecke 11* 53*. 

Ranke, O. 95*. 
Ransohoff 149* 50. 

Rasch 11*. 

Raubitschek 77*. 
Rautmann 11*. 

Reber, W. 11*. 

Reckauf 37*. 

Redlich 11* 95* 123*. 
R 6 gis 123*. 

Reich, H. M. 77*. 

Reichardt (Würzburg) 
qa * 103* 

Reichel 37* 53*. 

Reitter 95*. 

Remertz 96*. 

Renaux 63*. 

Rentz 95*. 

Repond 53* 95* 124*. 
Resch, Heinr. 63* 124*. 
Reuß, H. 95*. 

Reuter, F. 53*. 

Rezni£ek 96*. 

Rhein 11* 65*. 

Ribbert 11* 96* 124*. 
Rice 96*. 

Richter 37*. 

Ricksher 96*. 

Riebeth 11*. 

Riese, Walter 11 *. 
Rittersh&os 37* 96*. 
Rixen 37*. 


Rochat 96*. 

Rogers 96* 124*. 

Römer, C. (Rienau) 77* 
96* 124* 140*. 

Rößle 12*. 

Rohde, Max 12 *. 

Rohrer 12*. 

Rohrhnrst, Karl 124*. 
Roloff, Otto 188*. 
Rosanoff 37* 124*. 

Rose, Erich 124*. 
Rosenbaum 96*. 
Rosenfeld 188*. 

Ross and Sineer 124*. 
Roth, E. 124*. 

Roth, H. 189*. 

Roth, Job. Fr. Wilh. 96*. 
j Rothmann 65* 96* 124* 
125*. 

! Rubensohn 96*. 

| Rubenstine and Sehwartz 

i 90 * 

j Ruckhaber 189*. 
i Rueck 96*. 

1 Rumpf 12* 97*. 

: Ruoff, Tony 53*. 

! Rupprecht 37* 77*. 

Rust 147* 29. 
l 

| C| ^ ♦ 

i Sceleth and Beifield 77* 
j 97*. 

Schabelitz 12* 77*. 
i Schacherl 97*. 

; Schäfer 148* 43. 44. 

| Schäfer, E. 12*. 

Schäfer, Karl L. 189*. 

; Schaffer 97* 125*. 

! Schamke 97*. 

. Schauen 14t)* 149* 48. 

• van der Scheer 53* 125*. 

| van der Scheer a. Stuur- 
j man 97*. 

! Scheitema 12 *. 

! Schepelmann 97*. 

| Schiller 149* 61. 

Schilling 12* 65*. 

! Schinzinger 12*. 

I Schlesinger, H. 12* 97*. 

Schlicht, Josef 97*. 

! Schlöß 140*. 

| Schluttig, Werner 97*. 
i Schmidkunz 189*. 

' Schmidt (Gießen) 140*. 

1 Schmidt, Hugo 189*. 

1 Schmidt, W. 53*. 


Schminke 97*. 

Schneider 148* 39. 
Schneider, Kurt 37* 77*. 
’ Schneider, Richard 97*. 
' Schnitzer 65* 140*. 

Schnitzler 77*. 

. Schnopfhagen 148* 38. 

■ Scholz, Walter 12*. 
Sehoondermark 12*. 
Schröder (Greifswald) 54* 
97* 98* 125* 126*. 
Schröder, Hans 147* 22. 
Schubert 148* 32. 
Schärhoff, Erich 98*. 
Schüller, Josef 12 *. 
Schulhof 189*. 

Schultz, J. H. 54* 98* 
126* 140*. 

I Schnitze (Güttingen) 12 * 

! 77* 147* 17. 

Schulz, Bernh. 189*. 
Schulze, F. E. 189*. 
Schuurmans Stekhoven 
37*. 

Schwarz, Erhard 54*. 
Sebard, Karl 78*. 

Seelert 54*. 

Seige 54* 78*. 

Serejski, M. 54* 125*. 
Shanahan 13*. 

Sidis 13*. 

Siebenhaar, Ewald 189*. 
Sielaff, Artur 98*. 

Singer, Douglas 54*. 
Singer, H. D. 78*. 
Singer, Kurt 54* 125*. 
Sittig 54* 78* 98* 189*. 
Slingenberg 37*. 

Smith, J. 54*. 

Smith, Sam. B. 37*. 
Smith-Williams 38* 125*. 
de Smitt 98*. 

Snell, O. 148* .33. 

Snell, R. 147 * 20 . 
Sokolow 54* 125*. 
Sokolowski 13*. 

Sommer (Gießen ) 125* 
189* 190*. 

Soukhanoff 54*. 

Southard 98*. 

Specht 78*. 

Specht, Gustav 55*. 
Speicr-Holstein 55*. 
Spielmeyer 13*. 

Spiller 98*. 

Stähle 98*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 






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Staemmier 13* 

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HrrauÜ. :t. ’!**. 

■/. Strautfonn 7 »hip v **. 
Strphlow i/T*. 

Stromer. Kar! *'*. 
v. Srr.imppil t) M . 
Sr»K-biik 13* 7. s r‘ 1/7V 
.^»lurman dh*. 

Snflprk 13*. 

Swift 13* V.f IS>\ 
Sytv«isfpr 

T.iif and Mor>** 7,7/ 
T-tsawa 7 vJr . 

Taylor Oft*. 

Tenner, JuMiih Üj<•*. 
Terman, Lvman. OrdahL 
OrdahL f/albrearh anrl 
Talhert lKi*. 

Teslaar ISO*. 

Theunisnen 56* i v> . 
Thiem, K. ft&* 
Thieraorh, ff. fr.t*. 
Thode 55* Oft* 127\ 
Thomas 00* 1/7*. 

Thorn 13*. 

Thumm 38*. 

Tietze, Kar) Oft*. 
Tintemarin 38*. 
Tischbein, Peter 127*. 


„ ii.n< ä 14>ä > ei t«x l a.i ^* 

zznm - le Aneetii“ 77*". 
^"hnpfi *r*. 

^ravagüiio *9* 1/7~ 
T’rpiber. Georz 2:7* 
7rpmmei. Zmii 1/7* 
r rne»l 13*. 

^iminaKLs 74*. 

T’lirivP! >*. 

^uniimr 11‘ n *. 

7 imer 2:7*. 

2 ;irh-rr 'S* lv‘ 

7/nan !>»* 

■an .SiikrriDurz 14'. 

7 utorra •>* 

-an len V^ien. . * 
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'. >«*!ve 14h* 11. 

V. »gr. Adolf I r ~ > ' 77 2 
'7.>2r. ti. 14*. 

dp V ;'le*> K.';* 1* a >*. 

V>i<. G. 127*. 

Voll. P. 1-7*. 

W. ichsmurh 14h* 12- 
dp Waele 128*. 

W uWberg I 0 < 41 L 2 4 * 
Witr»*r n. Krambarh 7/,*. 
Warbiirz ßerrv 77 *. 
Wardner !•<*. 

Wasner 76*. 

Wasserfall 14*. 
Wassenneyer 38*. 
Wattenberg 149* 52. 
Weber iilhemnirz» 14* 
38* 100* 128*. 

Weher FL 100* 128*. 
Werhselmann l r,! *. 

Webner. Georg 14*. 
Weicht, Leo 7*5* 78*. 
W'eiland 14*. 

W r einreich, Th. V*'*. 
Weintraub, W. 128*. 

! Weise, Willy 100*. 


Gck igle 


WeisaÜMKg um T :rs 

lf H 1 *, 

W^TS. 2 *r* 

W^üra 18* 

W.4_r-Äaiteijr 06 *. 

W *ELaerov:k li ‘ *. 
We^uer S5*. 

Weoriiauer 30*. 

W^ton 1-18*. 

Wpgrpnai Irr* 

WestpÄai a. HdDner 38* 
3h*. 

W^yert 31f* ;h*. 
W^vsamit 3l 4 * 5h* c7‘ 
128* 141* 147* Lx 
W: tunann^r rana Jis. 7r * 
v. W:e 2 -W:ckenciiik 1A* 
Wiersma 17S'*. 

W’lftmun 5h* hh*. 

Wlle and !•!*. 

Wille 148* 35. 

Williams 14* .j£«* 1* • *. 
Wilson 78*. 

Winkler L‘8 ■*. 

Wirasek *. 

Wirre. Aag- 14*. 
Wirre rmann 5h* 128* 
WirzeL 14*. 

Wobbennin li^.*. 

Wol5 128*. 

Wohlwill It’l*. 

Woitala. Georg 1* 5 1*. 
Woodworth 1Ö1*. 
Würdemann 14*. 

Wimdt 11-1* 

Young 14*. 

Zange 15* 101*. 

Ziehen 56* 66* 101*. 

1 Zimmermann 15*. 
f Zipkin 191*. 

Zondeck 101*. 


Original frn-m 

UNIVERSITY OFMICHIGANi 







































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Original ftom 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 













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