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Full text of "Allgemeine Zeitschrift Für Psychiatrie 75.1919"

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Inhalt 


Erstes Heft. 

Originalien. 

Psychologisch-phonetische Untersuchungen. Von M. Isserlin- München.. 1 


Hirnschwellung. Von Martin Reichardt-Wüizbnrg . 34 

Weiteres zur Alkoholfrage. Von .FiwcÄÄ-Osterode (Ostpr.). 104 

Kleinere Mitteilungen. 

Personalnachrichten.... 122 


Zweites Heft. 

Originalien. 

Die Schizophrenie im Lichte der Assoziations- und in dem der Aktions- 


Psychologie. Von Doz. Dr. Josef Uerze-Klosterneuburg. 123- 

Lustmord eines moralisch defekten Sadisten (mit seltenen, mit der Tat 
in keinem Zusammenhänge stehenden epileptischen Anfällen). Prof. 

Dr. Heinrich Obersteiner- Wien und Prof. Dr. Ertoin Stransky- Wien 165) 

Fieber und Psychosen. Von Dr. Harald Ste&erf-Liebau. 214 

Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken. Von Dr. Georg BartA-Zschadraß 227 


Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

16. Jahresversammlung (2. Kriegstagung) des Vereins Nordwestdeutscher 
Psychiater und Neurologen in Rostock-Gehlsheim am 27. Juli 1918 240 
Winterstein-Rostock: Der Stoffwechsel der nervösen Zentralorgane 241 
Berichte über endogene Verblödungen. 

I. JHewt-Rostock-Gehlsheim. Klinischer Teil (mit Krankenvorst.) . 242 

II. TFofter-Rostock-Gehlsheim. Pathologisch-anatomischer Teil.... 245 


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IV 


Inhalt. 


III. .EtcaW-Rostock-Gehlsheim: Serologischer Teil. 246 

IV. Kratwe-Rostock-Gehlsheim: Kriegsärztlicher Teil. 248 

Wattenberg- Lübeck: Zum Ersuchen des Reichskanzlers vom 4. Juni 

1918 betr. Aufnahme usw. von Geisteskranken in Irrenanstalten 260 
JTa/fca-Hamburg-Friedrichsberg: Blutforschung und Jugendirresein.. 264 

Hamburg-Friedrichsberg: Über Hydrozephalie. 267 

Curschmann-Rostock: Zur Diagnose und Therapie Menürescher Zu¬ 
stande . 260 

Peters-Rostock: Krankenvorstellungen. 262 


Kleinere Mitteilungen. 

Die Dr. Edelsche Heilanstalt für Gemüts- und Nervenkranke zu Char¬ 


lottenburg . 264 

Die Heilanstalt Schweizerhof. 264 

Personalnachrichten. 264 


Drittes Heft. 


Originalien. 

Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit der Schädel-Hirn- 
verletzten mit Kraepelina Methode der fortlaufenden Additionen. 

Von Dr. Q. Fo/f-Düsseldorf.265 

Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesklter. Von Dr. Oehring- 

Leipzig. 281 

Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. Von 

‘Dr. Colla- Bethel. 303 

Beitrag zu den »Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung und zur Psycho¬ 
logie des hysterischen Dämmerzustandes. Von . Dr. Oskar Bein- 

Landsberg. 329 

Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. Von 

Dr. August He^ar-Wiesloch i. B. 340 

Über induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. Von 

Wilhelm Afa^er-Tübingen-München. 361 

Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. Von Ober¬ 
arzt Dr. .En^e-Strecknitz-Lübeck... 373 


/ 

Kleinere Mitteilungen. 

Zu Dr. K. E. Mayers Aufsatz: „Blücher in kranken Tagen“. Von 


Dr. Baller- Owinsk. ... 388 

Erwiderung. Von Dr. E. May er-Ulm .. 391 

Deutsche Psychiater Elsaß-Lothringens und Posens. 393 


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Inhalt. V 

Die Heinrich Laehr-Stiftung.... 393 

Personalnachrichten.. 394 


Viertes and fünftes Heft. 


Originalien. 

Carl Moeli zom 70. Geburtstag. 395 

Über die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch während des 
Krieges 1914/18 und deren Folgen. Von Geh. Sanitätsrat Dr. A. Richter- 

Buch.. 407 

Das Lumina! bei der Behandlung der Epilepsie. Von Direktor Dr. Otto 

Hebold -Wuhlgarten. 424 

Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände, ins¬ 
besondere nach § 81 der Strafprozeßordnung. Von Sanitätsrat 

Dr. Drofc-Dalldorf.432 

Korreferat zu vorstehendem Aufsatze des Herrn Sanitätsrats, Dr. Brate. 

Von Landgerichtsrat Dr. Emst &mfag-Berlin. 451 

Der Aufbau der Psychose. Ein klinischer Versuch. Von Karl Bimbatun- 

Berlin-Buch.455 

Über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen bei der 

progressiven Paralyse. Von F. JaAnel-Frankfurt a. M. 503 

Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene und allgemeinen 

Wohlfahrtspflege. Von Direktor Dr. Max FwcAer-Wiesloch.. 629 

Über unnötige Satzungen. Von Professor Würzburg.. 649 

Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. Von Dr. Hans Laehr 563 


Kleinere Mitteilungen. 

Deutscher Verein für Psychiatrie, E. V. 634 


Sechstes Heft. 

Originalien. 

Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland wäh¬ 
rend der Jahre 1903—1917. Von Dr. Albert DeAr-Stackeln. 635 

Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung für die Dienst¬ 
beschädigungsfrage. 'Von Stabsarzt Dr. Max Rohde in Erfurt.664 

Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen und Normalen. 

Von San.-Rat Dr. Rudolf Ganter, Wormditt (Ostpr.).. 689 

Über psychische Störungen bei Tabes. Von Kasimir Brodnieuncz . 701 

Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. Von Dr. E. Rittershaus, 
Hamburg-Friedrichsberg. 720 


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VI 


Inhalt. 


Gin Fall von posttraumatischer Demenz nach Schrapnellschaß Verletzung 


des Schädels. Von Medizinalrat Dr. Heinicke . 750 

Kleinere Mitteilungen. 

Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen. 755 

Die Heil- und Pflegeanstalt Schöneberg. 755 

Abhandlungen zum Ewigen Frieden. 755 

Personalnachrichten. 755 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 

(Erste Mitteilung.) 

Von 

M. Isserlin. 

Mit 52 Abbildungen. 

Ich berichte im folgenden über einiges ans den Eigebnissen 
von Untersuchungen, welche bereits seit mehreren Jahren angestellt 
werden. Ich muß umfassendere und eingehende Darlegungen, 
welche der Gegenstand verlangt, auf einen Zeitpunkt verschieben, 
in welchem es die allgemeine Lage erlauben wird, und nehme 
zunächst nur Gelegenheit, über einige mir wichtig erscheinende 
Punkte vorläufig kurz zu berichten 1 ). 

Es handelt sich um eine genauere Untersuchung der 
klanglichen und musikalischenEigenschaften der mensch¬ 
lichen Sprache. Dabei wird die Arbeit besonders von psycho¬ 
logischen Interessen geleitet. Es kommt darauf an, festzustellen, 
inwieweit die klanglichen und musikalischen Eigenschaften der 
menschlichen Sprache von psychologischen Gesetzmäßig¬ 
keiten beherrscht sind, bezw. solchen dienen. Treten wir der 
Sprache als einer Folge von Klangphänomenen gegenüber, so 
dürfen wir wohl grob unterscheiden zwischen konstanten und 
wechselnden Erscheinungen in den klanglichen Geschehnissen. 
Die Psychologie und insbesondere die Psychopathologie der Sprache 
hat sich bisher vor allem dem Studium der konstanten Er¬ 
scheinungen gewidmet. Zu erkennen, inwieweit feststehende 
Klangerscheinungen (Worte) Träger von Bedeutungen 
werden, sich als solche wandeln und verschwinden, ihre Aufgabe, 
Träger des Sinnes zu sein, unter normalen und abnormen Be¬ 
dingungen erfüllen oder nicht erfüllen, war besonders das Ziel 
solcher Untersuchungen. Die Studien, von denen hier berichtet 


*) Die Untersuchungen werden mit besonderer Unterstützung durch 
die Heinrich Laehr-Stiftung ausgeführt. Auch die Psychäatr. Klinik Mün¬ 
chen macht besondere Aufwendungen für sie. 

ZeitMhrift für Psychiatrie. LXXV. 1. 1 


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Isserlin, 


wird, widmen sich im Gegensatz hierzu vor allem den wechselnden 
Erscheinungen klanglicher Art. Neben der Klangfarbe 
sind es hier insbesondere die Tonhöhenbewegungen, die Ton¬ 
stärke und der Wechselder Zeitmaße, welche zur Untersuchung 
herausfordem. Inwieweit diese Momente Träger des Aus¬ 
drucks seelischer Geschehnisse, aber auch Träger des Sinnes 
in der sprachlichen Äußerung sind und sein können, ist bisher 
auf normal-psychologischem Gebiet nur in sehr geringem Umfang, 
und auf psycho-pathologischem fast gar nicht festzustellen versucht 
worden. Grund für diesen Mangel war nicht nur die fehlende 
Einstellung auf die hier angedeutete Aufgabe, sondern auch und 
nicht zum wenigsten das Fehlen technischer Hilfsmittel, welche 
die Physiologie der Sprache erst allmählich geschaffen hat. Die 
von mir angestellten Untersuchungen benutzten das Verfahren von 
Otto Frank zur Registrierung der Sprach-Schall-Phänomene. Ich 
verweise auf die Veröffentlichungen dieses Autors 1 ), möchte es 
aber nicht unterlassen, Herrn Geheimrat Frank, der mir mit großer 
Bereitwilligkeit sein neues Verfahren noch vor seiner Veröffent¬ 
lichung zur Verfügung stellte, auch an dieser Stelle zu danken. 

Es handelt sich um photographische Aufnahmen der durch 
die Sprache erzeugten Schallbewegungen mit Hilfe von dünnen 
Membranen bezw. Platten (Gummi, Glimmer), welche ein kleines 
Spiegelchen tragen; der Lichtstrahl wird dabei auf einen rollenden 
Film fortlaufend aufgenommen. Uber die genauere Versuchsanord¬ 
nung wird in den ausführlichen späteren Mitteilungen Eingehenderes 
vorgebracht werden. Wir erhalten Schallbewegungsbilder, wie sie 
folgende Figuren zeigen: 

Fig. 1 (a—>j): Vokale a, e, i mit Glimmerplatte aufgenommen. 
Die oberen Schwingungslinien in diesen Figuren geben die Schall¬ 
bewegung wieder, während die untere einfache Schlangenlinie die 
Bewegung einer zur Zeitmessung dienenden Stimmgabel wiedergibt, 
wodurch es ermöglicht wird, die Tonhöhe (Schwingungszahl und 

x ) Frank, O., Münch, med. Wschr. 1904, Nr. 22. — Derselbe, Ztschr, 
f. Biol. 50, 341. — Seemann, J., Ztschr. f. biol. Tcchn. 1, 110.'— Frank, O.. 
Ztschr. f. Biol. 59, 526; 60, 359. — Frank und Sommerfeld, Ztschr. f. Biol. 
61, 264. — Frank, 0., Ztschr. f. Biol. 64, 125. — Brömser und Frank, 
Sitzungsber. d. Ges. f. Morphol. u. Biol. in München 28, 45. 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


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-zeit) der Sprach-Schall-Bewegung auszurechnen, ebenso wie die 
Ges&mtdaner gesprochener Laute und die Dauer der Sprechpausen 
festzustellen 1 ). Das Verfahren ermöglicht es aber auch, neben 
den Höhen- und Zeitverhältnissen der Tonbewegung auch die 
Sprachstärke (Intensität) zu bestimmen. Berechnen wir die Tonhöhe 
ans dem Verhältnis der Wellenlänge der Sprach-Schall-Bewegung 
zu der der uns bekannten Stimmgabelschwingung (im allgemeinen 
Vioo Sekunde), so stellen wir die Sprachstärke aus der Weite 
des Ausschlages (Amplitude) der Schallbewegung fest 2 ). Wir sind 
mit Hilfe solcher Berechnungen imstande, Tonhöhenkurven und 
Tonstärkekurven der menschlichen Sprache herzustellen. Die 
hier berichteten Untersuchungen beschäftigen sich zunächst mit 
solchen, während sie das Problem der Klangfarbe vorerst bei¬ 
seite lassen. 

Ich verweise zunächst nochmals auf die Figuren, welche uns 
die direkten Bilder der Schallbewegungen geben. Ich werde weitere 
Darlegungen und Abbildungen der durch das FranJcache Verfahren 
gewonnenen Lautbilder, in den späteren ausführlichen Mitteilungen 
geben. Ich zeige hier nur die Aufnahme einiger einfacher Worte, 
Buchstaben und Silben. (Diese Schallbilder sind von rechts nach 
links zu betrachten.) Fig. 2 zeigt die Silbe *bab“ (Glimmerplatte). 
Man sieht die Kurve eines lautklingenden „a“; vor demselben das 
merklich stimmhaft anklingende „b“. Ebenso nach dem ausklin¬ 
genden „a“ ein mäßig klingender Laut, bis die ziemlich harte Ex¬ 
plosion des „b“ „(p)“'durch die starke Ausbuchtung des schreiben¬ 
den Spiegels (Sprechkurve bis unter die Stimmgabelkurve hinunter¬ 
geschleudert) sichtbar wird. 

Fig. 3—10 bei geringerer Aufnahmegeschwindigkeit des 
rollenden Films und mit dem älteren FVawßschen Verfahren 

x ) Die Tonhöhen für die Vokale Fig. 1 sind: 1 a = Vokal a Tonhöhe 
ca. 110 p. s.; Fig. 1 ß = Vokal a Tonhöhe ca. 176 p. s.; Fig. 1 y Vok. e 
ca. 114 p. s.; Fig. 1 8 Vok. e Ca. 175 p. s.; Fig. 1 e: Vok. i ca. 114 p. s.; 
Fig. 1 C = Vok. i ca. 170 p. s. 

*) Diese Art der Feststellung erscheint für unsere Zwecke genügend 
und erlaubt. Als psychologisch wichtig sind vor allem die Stärkeverhält¬ 
nisse (Amplituden) derV okale zu berücksichtigen. Für die Intensitäten der 
Konsonanten sind mehr rein ph ysiolo gisch-phonetisch e Gesetzmäßig¬ 
keiten maßgebend. Genaueres zu dieser Frage in späteren Ausführungen. 

1 * 


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Isserlin, 


(Gummimembran) aufgenommen, zeigen eine Reihe von charakteristi¬ 
schen Klangbildern. Zunächst die Silbe „er“ (Fig. 3). Und zwar all¬ 
mählich an- und abklingend, den tönenden Vokal e; dann durch den 
Amplitudenwechsel deutlich gekennzeichnet die Erschütterungen 
des „r“. 

Bei Fig. 4 tritt zu „r“ durch eine Pause, die bis zur Bildung 
des Explosivlautes verfließt (ca. «, Sek.) getrennt ein „t“. Auch 
hier wird wieder der schwingende Spiegel durch einen starken 
Luftstrom (Hauchlaut beim t) stark auswärts bewegt, so daß die 
Sprechkurve die Stimmgabelkurve kreuzt. Der „t“-Laut ist wenig 
stimmhaft wie aus den wenigen eigentlichen Schall-Schwingungen, 
welche die Membran wiedergegeben hat, ersichtlich ist. Bei dem 
nächsten Bild, Fig. 5, ist vor „ert“ noch ein reibendes „d“ getreten. 
Das „t“ ist wiederum durch eine lange Pause von dem „r“ getrennt 
(ca. 18 / 100 S.). Fig. 6 zeigt ein stärker stimmhaftes „t“ (i). Durch 
die großen Amplituden wird der stimmhafte „i“-Laut gekennzeichnet, 
während Fig. 7 ein möglichst stimmlos gesprochenes „t“ darstellt. 

Fig. 8 zeigt die Silbe „hu“; das die Membran stark bewegende 
hauchende „h“ (grober Luftstrom) vor dem „u“-Laut ist sehr 
deutlich. Es folgt Fig. 9 „hun“, wobei das klingende „n“ nach 
dem „u“-Laut gut sichtbar wird; während Fig. 10 endlich das 
Wort „hundert“ (in einem Zuge gesprochen) in einer Aufnahme zeigt. 

Aus solchen Klangbildern, wie sie hier wiedergegeben sind, 
heraus, errechnen wir dann nach den angedeuteten Grundsätzen 
Tonhöhe- und Tonstärke-Kurven und stellen die zeitlichen Ver¬ 
hältnisse fest. Mit solchen Kurven beschäftigen wir uns an Hand 
unserer nächsten Bilder. 

Wenn wir Sprachmelodiekurven 1 ) betrachten, so finden wir 
überall kleinere feinere Schwankungen, welche der all¬ 
gemeinen Tonhöhenbewegung (nach auf- oder abwärts) auf¬ 
gesetzt sind. Diese kleineren Schwankungen haben im all¬ 
gemeinen mit psychologischen Gesetzmäßigkeiten nichts 
zu tun. Sie entstehen durch das Zusammentreten der Laute 
(Vokale und Konsonanten) und sind allein durch physiologisch¬ 
phonetische Gesetzmäßigkeiten bedingt. Die Zusammen- 

j *) Ich verzichte in dieser Mitteilung auf ein Eingehen auf die Literatur 
und verweise nur auf Wundt, Völkerpsychologie 1, Bd. 1 u. 2 Die Sprache, 
3 . Auf!., 1912, passim. 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


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fügung der Konsonanten und Vokale bewirkt an sich Tonhöhen- 
schwankungen, welche von einer gewissen Konstanz sind und von 
psychischen Momenten unabhängig. 

Bei Artikulationsstörungen werden gerade diese Ver¬ 
hältnisse berührt, wie spätere Beispiele dartun werden. Über¬ 
all aber werden wir auf die Scheidung zwischen rein phonetisch 


.ER“ rn^S 



Fig. 11. 

und psychologisch (durch seelische Gesetzmäßigkeiten) bedingten 
Schwankungen achthaben müssen. 

Ich zeige nun zunächst einige rein phonetisch bedingte Ton¬ 
höhenbewegungen. 

Fig. 11 „er“: Tonhöhe um 180 herum schwankend, mit dem 
„r“ zum Schluß stark ansteigend. Bei dieser und allen folgenden 
Kurven ist die Tonhöhenbewegung von 3 zu 3 Schwingungen fort 
laufend angegeben. Es bezeichnen somit die Punkte auf der Ab- 


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Isserlio, 


szisse die ersten drei, zweiten, dritten drei usw.-Schwingungen 
der Sprach-Schallbewegung; die Punkte auf der Ordinate die durch¬ 
schnittliche Schwingungszahl (Tonhöhe) der ersten drei, zweiten 
drei usw.-Schwingungen in absoluten Werten; die ausgeführte Linie 
gibt die Tonhöhenbewegung (Melodie) wieder; während bei den 



„ DEET 7/1 ^S. 

tii.it. 


336 . 

35 «. 



Fig. 13. 


später zu zeigenden Kurven die punktierte Linie den Durchschnitt 
der Amplituden wiedergibt und somit eine Kurve der dynamischen 
Verhältnisse (Schall-Intensitäten) darstellt. 

Fig. 12 „ert“: Anfang ähnlich wie bei 11; nicht so stark 
schwankend; Absinken vor dem Verschlußlaut „t“, starkes Ansteigen 
mit dem hochklingenden i (ti). 

Fig. 13. dert: „d“ in der Melodie deutlich. 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


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Fig. 14. „ti“ isoliert in etwas anderer Form ab- und ansteigend. 
Bei 15, 16 u. ff. ist die Dauer der Schallbewegung unter 
der Abszisse von 10 zu 10 Punkten dieser (oft aus Gründen der Raum¬ 
ersparnis auch in großem Abständen) in Sekunden angegeben; 
außerdem am Schlüsse jeder einzelnen Silbe, bezw. Silben¬ 
verbindung, die Gesamtdauer unterstrichen. Die Dauer der Pausen 

%T in ös. 

Wo 
4*0 
4lo 
* 0 . 

48* 

66 » 

ASo 

60» 

2Ö. 

16» 

1*» 

41 » 

JtOo 
46» 

e IO 

Fig. 14. 

ist durch ein „P“ gekennzeichnet. (Also bei „unvorsichtig“: Ge¬ 
samtdauer „un“ 0,16 Sek., P. 0,13. Gesamtdauer für „vorsich“ 
0,40 , P. 0,20. Gesamtdauer für „tig“ 0,12 Sek. Auf eine graphische 
Gestaltung der Kurve nach dem Zeitverlauf wurde verzichtet.) 

In den folgenden Kurven tritt die psychologische 


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Isserlin, 


Bedeutung der einzelnen musikalischen Elemente (Ton¬ 
höhenbewegung, Tonstärke, zeitliche Verhältnisse) deutlicher hervor. 

Fig. 15 „unvorsichtig“. Das sinngemäß wichtige „un“ 
wird durch die Tonhöhe scharf markiert. Im übrigen 
fallende Melodie der Affirmation wie in dem folgenden Beispiel. 

Fig. 16 gibt das Wort „neunzehnhundertdreizehn“ wieder. 
Psychologisch wichtig ist die nach anfänglichem Auf und Ab ab sin¬ 
kende Tonhöhenbewegung, die für alles einfach Affir¬ 
mative kennzeichnend ist. Das durch den Sinn wich¬ 
tige „drei“ in der abfallenden Tonlinie wird durch die 

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VN- VORSKH- T1U 

Fig. 16. 

Intensität (punkt. Linie) stark herausgehoben. Hier wird 
also deutlich, wie die verschiedenen musikalischen Ele¬ 
mente einander ergänzen, um den Sinn entsprechend 
zum Ausdruck zu bringen. Da die Melodie auf die fallen¬ 
de Richtung gebunden ist — im Sinne der Affirmation —, über¬ 
nimmt es die Intensität, Einzelheiten in der sinkenden 
Tonhöhenbewegung sinngemäß heranszuheben. 

Wie sehr diese Beweglichkeit der einzelnen musi¬ 
kalischen Elemente und ihre Verwertbarkeit bald für diese, 
bald für jene Aufgabe im Dienste der Sprache T ''Wen und 


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Ausdruck verleiht, wird besonders offenkundig bei der Analyse 
einer Sprache, der diese Möglichkeiten naturgemäß fehlen müssen. 

Es ist die Sprache der Taubstummen 1 ), welche der der 
Normalen gegenüber gänzlich veränderte Verhältnisse darbietet 
und ihrerseits die Wichtigkeit der vorher in normalen Kurven 
aufgezeichneten psychologischen Gesetzmäßigkeiten eindrucksvoll 
demonstriert. 

Zunächst zeigt Fig. 17 noch einen einfachen affirma¬ 
tiven Satz, von einem Normalen gesprochen: „Aller 


j9/3. 51 . 10 . 19 . 

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P*oT- P°.i6 poj9. 

Fig. 16. 


Anfang ist schwer.“ Typische Melodie des affirma¬ 
tiven Satzes. In ihr übernimmt wieder die Intensität (punkt. 
Linie) die Heraushebung der logisch wichtigen Einzel¬ 
heiten („aller“, „schwer“), welche durch die sinkende affir- 
mierende Tonhöhenbewegung allein nicht gekennzeichnet werden 
können. 

Demgegenüber zeigt Fig. 18 denselben Satz von einem Taub¬ 
stummen gesprochen. Bei dem Taubstummen fallen 


l ) Die Möglichkeit, Taubstumme zu untersuchen, verdanke ich der 
Freundlichkeit des Herrn Direktor A. Hojbauer von der Landes-Taub- 
stummenanstalt München. 


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Isserlin, 


einfach Tonhöhen- und Tonstärkenbewegungen im 
wesentlichen zusammen, die für die Ausdrucks¬ 
fähigkeit sehr wichtige Differenzierung zwischen 
Melodie und Intensität (melodischer und dynamischer 
Akzent) ist dem Taubstummen nicht möglich. Von 
einer eigentlichen Melodiebewegung ist nichts fest¬ 
zustellen. Außerdem ist auch die lange Dauer der Wort - 
Schall-Bewegung bemerkenswert, die die Grobheit und 
Plumpheit dieser Sprache nur vermehrt. Bemerkenswert 
sind auch die starken phonetischen Schwankungen der 


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DRUER 'in SEKO: 9*5 918 91* 917 99) 

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Fig. 17. 


Tonhöhenbewegung, welche auf Schwierigkeiten des Artikulierens 
zurückzuführen sind. (Melodie in dieser Figur punktierte Linie.; 

Als Gegensatz wieder: Fig. 19 „Lerne leiden ohne zu klagen“ 
von einem Gesunden. Typische Melodie des affirmativen Satzes. 
Tonhöhenanstieg bei „leiden“, „Lerne“ und „klagen“ durch Inten¬ 
sität merklich gemacht. 

Eine Reihe von weiteren Versuchen, für deren Ergebnisse ich 
hier einzelne Beispiele wiedergebe, suchen festzustellen, in welcher 
Weise die musikalischen Eigenschaften der Sprache, 
abgesehen von den feststehenden klanglichen Eigen¬ 
schaften der Worte und Wortzusammensetzungen allein 


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Isserlin, 


für sich, Träger des Sinnes des Satzes sein können, oder 
doch jedenfalls in entscheidenderWeise denSinndesSatzes 
beeinflussen. Nicht gerade sehr häufig hat man in der Patho¬ 
logie auf die Bedeutung der musikalischen Eigenschaften der 
Sprache auch als Träger des Sinnes hingewiesen. Nichtsdesto¬ 
weniger ist diese Bedeutung sehr erheblich, und es ist ein besonderes 
Verdienst Pick s, diese Rolle der musikalischen Eigenschaften 
energisch betont zu haben. In der Tat ist es ja schon in der 
gemeinen Erfahrung des Lehens geläufig, daß genau der 
gleiche Wortlaut einen verschiedenen Sinn geben 
kann, je nach der Art der Betonung. 


LERNE LEIDEN OHNE ZV KLUGEN. 



Die nächsten Beispiele 20 und 21 zeigen den Wortlaut „ich 
habe keine Zeit, müde zu sein“, in der Weise, daß in dem ersten 
Satz (20) das Wort „Zeit“ sinngemäß herausgehoben (betont ist), 
und indem Satz 21 das Wort „müde“. „Ich habe keine Zeit» 
müde zu sein“ und „ich habe keine Zeit, müde zu sein“. Wie 
die Analyse zeigt, trifft das Wort „Betonung“ tatsächlich 
das Richtige insofern, als der Tonhöhenbewegung 
hauptsächlich die Heraushebung des sinngemäß entscheidend 
wichtigen Elementes „Zeit“ bezw. „müde“ zufällt. Die Ton¬ 
stärke hat auch hier wieder die Aufgabe, in der ab¬ 
fallenden Tonhöhenbewegung Wesentliches nicht 
verschwinden zu lassen („sein“). In diesem Beispiel 
wird auch die Rolle, welche den zeitlichen Verhältnissen, der 
Rhythmisierung, zukommt, deutlich. So beträgt z. B. die Pause 


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vor dem betonten „Zeit“ 0,27 Sek. gegen 0,18 Sek. vor dem 
unbetonten. Das betonte „müde“ währt 0,30 Sek. gegen 
0,19 Sek. des unbetonten, welches mit dem ohne Pause an¬ 
gehängten „zu“ zusammen 0,37 Sek. dauert. Auch die zeit- 


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Fig. 21. 


liehen Verhältnisse sind Hilfsmittel im Dienste der 
Sinngebung. 

Die folgenden Analysen verdeutlichen weiter, wie die musi¬ 
kalischen Elemente bestimmten Richtungen des Sinnes 
zu dienen haben. 

Fig. 22 „Ist das denn wirklich so?“. Die Analyse zeigt die 
Melodie des Fragesatzes, wie er in vielen Beispielen in 


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14 


fsserlin, 


gesetzmäßiger Weise deutlich wird. Vor dem eigentlich 
Fragenden erfolgt ein starker Abfall der Tonhöhen¬ 
bewegung (bis zu „wirklich“). Das eigentlich fragende „wirk- 

rST-DXS'DENN WIRKLfCHSO? zs.ff.*. 


290. 



IST DAS 


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Fig. 22. 

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Fig. 23. 


lieh“ steigt in der Tonhöhe stark an; das für sich fragende 
„so“ steigt eigens auf und ab. 

Demgegenüber zeigt uns das antwortende (bejahende) 
(Fig. 23) „ja das ist wirklich so“ die uns schon bekannte Melodie 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


15 


des affirmativen Satzes. Das Wort „ist“ wird, nm es in seiner 
Bedeutung herauszuheben, durch Tonhöhe markiert. „Wirk“ ist 
an- und absteigend, „lieh“ stark abfallend; „so“ — entsprechend 


ISTORSDENN WIRKLICH- WAHR * 




IA w IST WIRK UCH WAHR. 

Fig. 25. 


dem Abfall des affirmativen Satzes in der Melodie ganz ver¬ 
schwindend — wird durch den Stärke-Akzent (Intensität) eigens 
herausgehoben. 

Auch die nächsten Sätze (24 und 25) verdeutlichen das 
Widerspiel von Frage und Antwort in der Melodie. 


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16 


Isserlin, 


Fig. 24 „Ist das denn wirklich wahr?“ In der typischen 
Melodie des Fragesatzes; das ansteigende „wahr“ wird durch 
das vor ihm befindliche stark fallende „lieh“ noch besonders 
herausgehoben. Demgegenüber in „Ja, das ist wirklich wahr“, 
Nr. 25, wiederum die affirmative Melodie, „wahr“ fällt stark gegen 
das hochmarkierte „ist wirklich“ ab. Besonders instruktiv ist 
der Vergleich der Tonhöhe der Silbe „lieh“ in beiden Beispielen, 
sie sinkt im Fragesatz (24) vor dem fragenden „wahr“ stark ab, 
während sie vor dem affirmierten (25) hoch gehalten ist. 


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Fig. 26. 

In ganz extremer Weise stellen die Beispiele 26 und 27 die 
musikalischen Gesetzmäßigkeiten des Fragens und Antwortens dar 
Diese werden hier besonders deutlich, weil das gleiche einfache 
Wort „neunzehnhundertdreizehn“ verwendet wurde. 

Fig. 26 „neunzehnhundertdreizehn?“ (fragend). Der Unter¬ 
schied gegen das frühere, einfach aussagende (Fig. 16) ist sehr 
einleuchtend: die Silbe „drei“ sinkt in der Tonhöhe, während die 
Silbe „zehn“ durch extrem plötzlichen Anstieg der Tonhöhe 
die Fragemelodie kraß herstellt. 

Fig. 27 gibt die Analyse des auf die Frage in stark affir¬ 
mativer Weise bejahend antwortend ehnhundert- 


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Orrgir.al frcm. 

UNIVERSrfr OF MICHfGAN 




















































Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


17 


dreizehn“. Die Melodie steigt im Gegensatz zn der des 
vorigen Beispiels bis zur Silbe „drei“ stark an, um dann bei 
„zehn“ extrem abzufallen. In diesem Beispiel sind auch die 
zeitlichen Verhältnisse besonders bemerkenswert. Der 
Silbe (Teilwort) „drei“ kommt sinngemäß in beiden Beispielen 
eine besondere Bedeutung zu, nämlich die, daß es sich um das 
Jahr dreizehn handle, entgegen vierzehn usw.; da in dem Beispiel 
Nr. 26 die Silbe „drei“ in dem extremen Frageanstieg der Melodie 
(„dreizehn“) erheblich abfallen muß, wirkt hier neben der In¬ 
tensität die Dauer stark heraushebend; „drei“ im Fragesatz 


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SUL 5 11 


Fig. 27. 


dauert nämlich 0,42 Sek. während die Pause vorher 0,14 Sek. 
beträgt. Im affirmativen Satz (neunzehnhundertdreizehn) dauert 
„drei“ nur 0,24 Sek., während die Pause nur 0,07 'Sek. beträgt. 
Dabei wird in diesem affirmativen „neunzehnhundertdreizehn“ 
das Teilwort „drei“ durch die ansteigende Tonhöhenbewegung 
genügend vor dem extrem abfallenden „zehn“ herausgehoben. 

Angemerkt sei hier auch, daß die Rolle der Regelung der 
musikalisch-zeitlichen Verhältnisse im Dienst der Sinn¬ 
gebung so weit geht, daß das phonetische Bild des gesprochenen.. 
Satzes sich nach dieser Richtung häufig sehr wesentlich vom 
geschriebenen unterscheidet. 

ZeitMtutft «t PcyohUtte. LXXV. 1. 2 


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Original fro-rri 

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lasöHin 


Phonetisch werden Silben oft zeit lieh zusammen- 
geklebt, die ganz verschiedenen 

Worte?? gehören;, wenn es die muclkalisch-phoiietiscbeu 
Gr^ye)znxiiß!g^^ite;tt .^rforfer«; z, B. 1*%.' 22 und 23 „denn wirk“ 
.V v. ä.': $£■ Anderseits '^irtleti-'ancii häufig im Schriftbild 
in ..<i a.cögebörige Silben ane dun gleichen Gründen 
m$ ■ !•: -der gerissen irgl. Fig. 16 neuu*zehtihtmder-t-ete. u. a.). 


if.rm*.. 






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Fig, ü8. 

- r.;, bJer vorgebrachien Tatsachen dtiffiett' goiiögem uni an- 
wie sehr, die Sprache durch ihre mnsikaUac^^ Eigen- 
. - •=.• ••- -Ion verschiedenste«' iht • gestellte« Aufgaben unter je- 
völliger v^np<ossit»}g an die vorhandenen BcuHngungen in sehr 
c. e< : : ■ . •üer Weise «ad. in seht wm treibendem Maße genügen 
kumiOF -Wmm irgeudwd, |so mit Bezug atd disjäö Eipii schäften 
ho-jeh-m die analogisiere:«den Glßiclrsotzuitgei'? der Sprache mit 
lotnndöö Organismus zu Recht. 

Ju wöHeren Beispiele« zeige ich nun SthtdPgiui det musi- 
kfiJüdfetn Qualitäten der Sprache durch Erkrnokvpigeu. : Die 
uä-.-bMvo Figuren geben Analysen der Sprafchie-Tstungön von 
' ; 5 ,-:?kranken. E» handelt sich zunächst um einen Para- 
iytifedi imsFrühstadiuni, der eine dem bloßen Ohr kaum 
m» l, fMnhc Aiijkulationsstdnmg bot, Paradigma; „Ich habe keine 


:GflgreTfro]i'j 



Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


19 


Zeit, mfide zu sein“ (Fig. 28) und „Ich habe keine Zeit, mflde 
zn sein“ (Fig. 29). Die Analyse zeigt ein deutliches Abgleiten 
der Melodie vor der Silbe „de“ in dem Wort „mflde“ in beiden 


JIHMOBEXEINEZEITMUDEZU SEIST: 



RLLER RKFMG TST SCHWER . 



****** P .* R /<-8 

RLLBR RNFHN6 tST JCHhMR 

Fig. 30. 

Beispielen. Im zweiten Beispiel ist das Wort »zu“ ziemlich ver¬ 
schluckt, nur angedeutet; die Melodie ist sonst in beiden Beispielen 
noch ziemlich erhalten. 

2* 

° ' GO. glC UNIVERSITYOF MICHIGAN 



20 


Isserlin, 


Die Störung ist im wesentlichen phonetisch (Artiku- 
lationsstörung). 

Ein durchaus anderes Bild bietet die nächste Analyse „Aller 
Anfang ist schwer“ (Fig. 30) von einem Dementia praecox-Fall. 
Der Kranke zeigte klinisch eine schwere affektive Verblödung 
(Brudermörder) bei gut erhaltener Intelligenz. Auffallend ist 
in der Sprechfolge der Mangel der zeitlichen Gliederung; 
„aller Anfang ist“ wird in einem Zuge gesprochen, gegenüber 
mehreren Pausen bei normalen Vergleichsobjekten. Die Zeiten 


LERNE~£EWEN : 0HNE'2IJKUIGEN *. 

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Zt 6.1 


Fig. 31. 

sind sehr stark verkürzt; die Gesamtdauer von „aller Anfang“ 
beträgt bei dem Dementia praecox-Kranken 0,39 Sek. gegenüber 
0,77 Sek. Textdauer von Beispiel Nr. 17 (wozu bei dem Gesunden 
noch 0,28 Sek. Pause kommen). Auch die Pause vor dem Wort 
„schwer“ und die Dauer dieses Wortes selbst ist gegenüber dem 
Normalen sehr stark verkürzt. Die Melodie ist im wesentlichen 
ungestört. Ganz Ähnliches zeigt das nächste Beispiel von 
demselben Kranken „Lerne leiden ohne zu klagen“ (Fig. 31). 
Auch hier ist die Melodie im allgemeinen Entwurf erhalten, 
die Dauer stark verkürzt; z. B. „lerne leiden“, vom Dementia 
praecox-Kranken 0,60 Sek., bei dem Gesunden 1,20 Sek. 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


21 


Ich stelle, nm die Tatsachen im Gegensatz eindrucksvoll 
hervortreten zn lassen, wieder die Sprachanalysen eines Taub¬ 
stummen hierher (Beispiel Nr. 32). Auch hier wieder völliger 
Verlust der Melodie, soweit diese höheren und umfangreicheren 
psychischen Synthesen (Satzprägung) dienen soll. Die Ver¬ 
längerung der Dauer ist eine außerordentlich großo. Der 
Parallelismus von Tonhöhe und Tonstärke (punktierte und 
ansgezogene Linie) ist wiederum sehr deutlich. 


W I^RWB-LEIPEW«AHWB«glMCTigl«EM 



UH- MB- LBMM- OH- MB- SO- KU- GEN. 


Fig. 32. 



ALLER AM TANQ fJT SCHWER 

Fig. 33. 


Während somit die Sprache des Dementia praecox-Kranken 
durch den Mangel der zeitlichen Gliederung den Charakter des 
Nachlässigen, Uninteressierten, Formelhaften erhält, gelangt die 
des Taubstummen, welche in einer Art mühseligen Skandierens 
stecken bleibt, überhaupt nicht zu der Stufe eines höheren Aus- 
drucksmittels. 

Sehr sonderbare Abweichungen von der Norm zeigt uns das 
nächste Paradigma: „Aller Anfang ist schwer“ (Fig. 33), von einem 
Kriegshyateriker gesprochen. Die Melodie bewegt sich in 

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22 


Tseerlia, 


großer Tonhöhe (300—öOOS.p. 5), zeigt regellose, .zum Teil sehr 
plötzliche phocetischoScbwankungen: die Satz nt elo die ist je¬ 
doch oieht völlig aufgelöst, vielmehr im affirmative« Abfall deut¬ 
lich; die Zetten sind verlängert Die Intensität ist sehr gering und 
kaum schwankend. 

Demgegenüber teigen die nächsten Bilder einer psycho¬ 
genen, döltraoteo: Kriegspsychose mit i^grammntismus 
and Ansätzen zam Stottern ein wesentlich anderes Gepräge. 
Die Melodiebewegting ist sehr erheblich eingeschränkt; 

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Fig.Stv 


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irrt „19.13* (Fig. 84) besteht in der Melodie bis zur Silbe 

rdi - |hgeaehea von geringen phonetisch;;;! Schwankungon, fast: 
eio Plateau der Höhenbewegnng: dann / fällt die Tonhöhen- 
b< :; ,vvg:ja'r in der typischen Wtfiso des Satzes ab. 

A uch >•:;v. Kurven A er 1 nteneität., welch letztem anisieh gering 
i^t, verläuft piateanförmig. Die Däner ist verlängert. Fig; 
Hb zeigt die Sprache des gleichen Kranken nach weit- 
f'.'nc.Ovi:;r Besserung. Die Melodiehewognng oöheit »»eh. 


I 


e 



Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


23 


dem Normalen an. Anch die Intensität zeigt eine lebhaftere 
Bewegung. 

Neben die Analyse des Kranken mit psychogen agrammati- 

1913 . 



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DAUER ttfJS’EHO 



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Fig. 36. 

SST-DBS‘DENN’ W/RKUCH SO. 


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jjjy * /WS * Df A/M - WIRK - £/W * «W 

Fig. 37. 

sehen Störungen stelle ich die Ergebnisse der Sprachuntersuchung 
an einem durch Kopfschuß aphasischen Krieger mit 
echtem Agrammatismus. Die Analyse des Wortes „neunzehn¬ 
hundertdreizehn“ (Fig. 36) zeigt uns wohl einige phonetische 


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24 


Isserlin, 


Auffälligkeiten (besonders erheblich sind die phonetischen 
Schwankungen in der Silbe „drei“), jedoch zeigt sich die Melodie 
des affirmativen Satzes im wesentlichen erhalten. Auch 
die Zeiten sind gegenüber der Norm nicht verlängert. 
Ähnliches zeigen uns die nächsten Beispiele: „Ist das denn wirklich 
so?“ und „Ja, das ist wirklich so“ (Fig. 37 und 38). Wohl be¬ 
stehen auch hier einige Auffälligkeiten innerhalb der 
Melodiebewegung einzelner Silben wie „so“ (Analyse 37) und 
„das“ (Analyse 38). Jedoch die Melodie des Fragens und 
Affirmierens erscheint ohne wesentliche Störung. 


ijßjmjsr wirklich so 

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IST wmx UtH »SO. 

Fig. 38. 


Es bedarf wohl keiner ausführlichen Darlegung, daß es für 
das Verständnis der Art einer aphasisch-agrammatischen 
Störung nicht ohne Belang ist, ob von dem Sprechenden 
sprachmelodische Bewegungen, wie sie der Satzformation 
entsprechen, geleistet werden oder nicht. Auch ohne daß 
an dieser Stelle auf diese Frage näher eingegangen werden soll, 
dürfte wohl angedeutet werden können, daß die Satzmelodie 
eine wichtige Station auf dem Wege, den man als den 
Weg vom Denken zum Sprechen bezeichnet hat, darstellt. 
Und es ist gewiß nicht bedeutungslos, daß uns die Möglichkeit 
gegeben ist, festzustellen, ob ein Kranker mit einer agrammatischen 
Störung Satzmelodie hat, ob sie andeutungsweise zutage tritt, oder 
ob er sie überhaupt nicht hat. Ist die Melodie, welche einer 
bestimmten Art, gedanklich zu gliedern, entspricht, gegeben, so 
dürfen wir wohl die Annahme machen, daß die entsprechende 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


25 


gedankliche Gliederung auch gegeben ist 1 ), und daß nicht das 
Fehlen dieser für Abweichungen der sprachlichen Formierung 
verantwortlich gemacht werden kann. Wir dürfen dann die 
Störung in die Station der sprachlichen Formulierung 
selbst verlegen. Bei unserem Kranken, Fig. 36—38, der die 

CST DAS • DEIVN W1RKUCH 80. 

S.A. " 17 . 3 . 16 . 



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Fig. 39. 

JR DUSIST WIliKLieH-SO. 

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su. sa. a Sa sn tsz 

y*+6 Ti.n. 7Ft*s 

JJ/IS IST WIRK LICH SO. 


JR M 

Fig. 40. 

Sprachmelodie hat, trotz einer starken agrammatischen Störung, 


*) Dafür, daß das Gegenteil dieser Annahme möglich ist, sprechen 
keinerlei Beobachtungen und keine Wahrscheinlichkeit. Es leuchtet ein, 
daß im negativen Falle (wenn die Sprachmelodie nicht gelingt) nicht etwa 
die der oben angegebenen entgegengesetzte Annahme gemacht werden 
darf (daß die gedankliche Gliederung nicht vorhanden war), da ja peri¬ 
pherer gelegene Störungen diesen Ausfall bewirken können. Vgl. 
die nächsten Beispiele. 


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26 


Isserlin, 


dürfen wir auch diesen Schluß machen; es entspricht dies auch 
durchaus den Beobachtungen, die auf anderem Wege an diesem 
Kranken gemacht werden konnten. 

Der Motorisch-Aphasische (Kopfschuß), von welchem die 
nächsten Analysen stammen (Fig. 39 ff.), zeigt stärkere Ab¬ 
weichungen der Sprachmelodie. Auffällig sind zunächst 
erhebliche phonetische Störungen, die sich als weit¬ 
gehende und plötzliche Tonhöhenschwankungen besonders 
im Beginn und Abschluß von Worten darstellen, so z. B. in Fig. 39 
am Beginn und Schluß der Worte „das“, „wirk“, „wirklich“, 



0 *H\0 djOijO 9\0 9 

VJtVERfnSEKD: *16 *2$ *U * »4+ *20. 

W5 ? 0 .7* 7>*o97>o.7& 

Fig. 41. 

Fig. 40 „ist“, „wirk“, „lieh“ usw. Die zeitlichen Verhältnisse 
sind regellos, in keinem sinngemäßen Zusammenhang mit dem 
Text; die Sprechdauer des Textes im allgemeinen durch¬ 
schnittlichverdreifacht; die Pausenlänge 4- bis 40fach 
verlängert; einzelne Silben auch wieder an Dauer unter 
der Norm. Die Sprachmelodie ist, wie schon bemerkt, ge¬ 
stört; insbesondere tritt die Fragemelodie nicht deutlich 
heraus. Der Abfall im affirmativen Satz tritt hervor. 
Es handelt sich hier um einen Motorisch-Aphasischen, bei welchem 
die Störungen des musikalischen Ausdrucks ziemlich peripher 
(kortikal bezw. subkortikal) sitzen. Dem entspricht auch die 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


27 


Analyse der musikalischen Verhältnisse, welche zeigt, daß An¬ 
sätze znm sinnentsprechenden Ausdruck vorhanden sind, 
aber nicht zur Geltung gebracht werden können. Für diese 
Auffassung sprechen in dem musikalischen Bilde vor allem auch 
die lange Sprechdauer und besonders Pausendauer, die bei der 
gegebenen Sachlage auf Hinderungen in der sprachlichen 
Entäußerung bezogen werden dürfen. 

Ganz schwere Störungen der musikalischen Ver¬ 
hältnisse finden wir bei dem nächsten Motorisch-Aphasi- 
schen (Fig. 41 ff.) Das Paradigma „neunzehnhundertdreizehn“, 
Fig. 41, erscheint völlig monoton, fast ohne Tonhöhen- 


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J*UTTWÖCH 

AJ*1. 


DAUERim&EHD . 


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_ 7*466. 

Mm ~ ’WOCH. 

Fig. 42. 


bewegung, abgesehen von den allerdings sehr groben plötz¬ 
lichen und kurz dauernden phonetischen Schwankungen. 
Hingegen tritt in Fig. 42 „Mittwoch“ von demselben Kranken eine 
Tonhöhenverschiebung oder Tonhöhenbewegung („Mitt“ durch Ton¬ 
höhe herausgehoben) hervor. In beiden Beispielen sind die zeit¬ 
lichen Verhältnisse abnorm, insbesondere die Pausen. 
Fig. 42a „guten Morgen“, exzessiv lang, zeigt jedoch wiederum 
fast nur phonetische Schwankungen. Ganz ähnlich steht es mit 
Fig. 43 „Elektrizität“. 

Im ganzen offenbaren die Analysen der Sprache dieses 
Kranken analoge Ergebnisse wie die des vorhergehenden, nur daß 
die Störungen der sprachlichen Entäußerung noch wesentlich weit¬ 
gehender sind als in jenen. 


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28 


1 sserlin, 


Den Einfluß einer noch weiter peripher gelegenen 
Störung der sprachlichen Entäußerung auf den musi¬ 
kalischen Charakter der Sprache zeigt uns endlich die 



GUTEN-AIORßEN 2 b. 1 Q. 16 . 

AJ*1. 


• 1 • 

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DAUER«. STEKD : 

au- TEH- 





t o V 

MOR- OEN- 


Fig. 42a. 



Analyse der Sprache eines Kranken mit ziemlich fort¬ 
geschrittener Bulbär-Paralyse. Ich gehe für dieses Mal nicht 
auf die Veränderungen, welche das direkte Klangbild der Sprache 
durch die Erschwerung bezw. das Ausfallen der Bildung von 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


29 


Konsonaten zeigt, ein, sondern beschäftige mich hier nur mit den 
musikalischen Bewegungen. In dem Beispiel „guten Morgen“ 

GUTEN-MORGEN *i.ö. 16 . 

J.H. 



Fig. 44. 

UWORS1CHTIG. öai.17. 



qavbr msekd .°*5 «sa -tu *+e i*8 i.7a 

Ü3V VOR >SICH Tia. 

Fig. 46, 



Fig. 44. fällt zunächst auf, daß alle Silben pausenlos an¬ 
einandergereiht sind. Diese Eigenschaften werden wir bei 


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30 


Isserlin, 


fast allen gebrachten Beispielen dieses Kranken wiederfinden. Es 
beruht das auf der Unmöglichkeit, die einzelnen Silben 
artikulatorisch exakt zu trennen. Deutlich ist ferner, daß 
bei »guten Morgen“ der affirmative Abfall zwar vorhanden, aber 
nicht sehr ausgeprägt ist. Ähnlich ist es bei dem Beispiel „un¬ 
vorsichtig“ Fig. 45. Auch hier zeigt außerdem das sprachliche 


IA - DAS*IST-WIRKLICH-SO. 

HO. $ 0 + 17 . 



Erzeugnis den Charakter schwerer Abnormität durch die Ver¬ 
wischung aller Pausen. Daß die Frage-Melodie infolge der 
Sprechbehinderung nicht gelingt, zeigt uns das Beispiel „Ist das 
denn wirklich so?“ Fig. 46. Im übrigen sind hier Ansätze zur 


\JRSDER'RKUERTf£!TKENNTFR[SSTER’MT - 

\JJi. Jtf.6+6. 


,0 4T:0 ZO JtO 60 I D 10)0 90 JfO 60 

T) :mSBkD . 0.H6 «30 MO ?S5 1.51 


60 I V 

122 . 


V.ö 

ZSL • 


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MR BAUER 


NET KENNT 
Fig. 48. 


FROST £R NET. 


melodischen Heraushebung nicht zu verkennen („ist“, „wirk“). 
Doch besteht auch hier die Unmöglichkeit, die einzelnen Silben 
durch Pausen abzutrennen. In dem antwortenden Satz: „Ja, das 
ist wirklich so“, Fig. 47, sehen wir gleichfalls Ansätze zur Melodie- 
heraushebung: „ist“, „wirk“, im übrigen ist die schwere 
Anomalie der Unmöglichkeit, abzugliedem, hier gleichfalls er¬ 
sichtlich. Wie sehr der Kranke sich bemüht hat, melodisch zu 


bv Google 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


31 


gliedern, zeigt uns das Beispiel „Was der Bauer net kennt, frißt 
er net“ (Fig. 48), das im Dialekt gesprochen wurde und aus einer 
Zeit noch nicht so weit fortgeschrittener Sprechlähmung stammt; 
hier sind „kennt“ und „frißt“ melodisch fast karikatur¬ 
haft herausgehoben. 

Ich führe nun hier zum Vergleich wiederum einige Sprach- 
erzeugnisse eines Kriegshysterischen (hyst. Sprachstörung) 


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Fig. 49. 

ISTDENNDmWlRKLlCHMHR * 

SCHW- 741.4+e. 


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Fig. 60. 


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an. Das Beispiel „Aller Anfang ist schwer“, Fig. 49, zeigt starke 
Annäherung an Plateauform; die Zeiten und die Pausen 
sind erheblich verlängert. Die Melodie des affirmativen 
Satzes wird jedoch trotz allem angedeutet, und das „al-“, „ist“ 
und „schwer“ durch Tonhebung bzw. Senkung markiert. Auffallend 
sind die starken Pausen, die ziemlich gleichmäßig hinter 
die einzelnen Silben verteilt sind. In dem Frage- und 
Antwortsatz „Ist das denn wirklich’wahr?“, Fig. 60, und „Ja, das 


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Isserlin, 


ist wirklich wahr“, Fig. 51, von dem gleichen Kranken ist 
wiederum die Neigung zur Monotonie sehr stark; ebenso 
die Zeitverlängerung und das Auftreten verlängerter 
Pausen hinter den einzelnen Silben. Die Fragemelodie 
kommt nicht heraus; im bejahenden Satz ist die affirmative 
Melodie nicht verdeckt. Auch besondere Heraushebungen 
des Sinnes sind nicht zu verkennen („wirk“). 

Als Unterschiedszeichen gegenüber den früher vor¬ 
gebrachten echten aphasischen Sprachveränderungen 

'*> OHD/lSJSr WRXtlCHWMfL 

SCHW. 7.41WC. 



IST WIRK UCH W*HR 

Fig. 61. 


JÜER-MBGIERIG&HDMDl //Mnajaaäfty 




1 

^ ^ A •' a_ n L A C-t>. 


Fig. 62. 


lassen sich wohl bei diesen hysterischen Sprachanomalien neben 
der gleichmäßigen Art der Monotonie und Pausen¬ 
bildung das Fehlen der abrupten und großen phoneti- 
schen Sch wankungen 1 ) festhalten. Solche großen, plötzlichen 

1 ) Das Beispiel Fig. 33 spricht nicht gegen diese Ansicht. Hier ist 
von dem Hysteriker eine abnorme Höhenlage gewählt, die an sich phoneti¬ 
sche Schwankungen begünstigt. Gleichwohl sind diese Schwankungen, 
da entsprechend den Schwingungszahlen der Tonleiter Relationen der 
Tonhöhen verglichen werden müssen, keineswegs so hoch zu bewerten wie 
die phonetischen Tonhöhenschwankungen der in natürlicher tiefer Lage 
sprechenden Aphasiker, Fig. 39 ff. 


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Psychologisch-phonetische Untersuchungen. 


33 


phonetischen Tonhöhenschwanknngen zeigt besonders die letzte 
Fig. 52. Dieses Beispiel stammt von einem freien Rede¬ 
produkt des Kranken Fig. 41 ff. (motor. Aphasie) und zeigt 
eine wirklich auffallende Einförmigkeit der Tonhöhen¬ 
bewegung, bei sehr starkem phonetischem Abgleiten; 
nur zum Schlüsse bricht doch eine sehr heraushebende 
und affirmativ abschließende melodische Bewegung 
durch. 

Ich schließe damit diese vorläufige Mitteilung. Vielleicht ist 
es auch schon durch das bisher Vorgebrachte gelungen, zu zeigen, 
daß die Untersuchung der akustischen und musikalischen Eigen¬ 
schaften der menschlichen Sprache auch ffir Psychologie und 
Psychiatrie von einigem Interesse ist. 


Zeitftchxlft für Psychiatrie. LXXV 1. 


3 


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Hirnschwellnng. 

(Aus der Psychiatrischen Klinik zu Würzburg.) 

Von 

Professor Martin Betehardt. 

Referat, erstattet auf der 2. Kriegstagung des Deutschen Vereins für 
Psychiatrie am 25. April 1918 in Würzburg. 


I. Allgemeines über die Hirnschwellungen. 35 

1. Die individuellen Verschiedenheiten in der Größe des Schädel- 

innenrau ms und der Nachweis der Hirnschwellungen. 35 

Das Hirnödem. 41 

2. Definition und Wesen der Hirnschwellungen. 44 

3. Zur Histologie der Hirnschwellungen. 47 

4. Die Ursachen der Hirnschwellungen. 54 

5. Die klinischen Erscheinungen und die Lokalisation der Hirn¬ 
schwellungen . 55 

Die innere Schwellung. 57 

6. Hirnschwellung und Hirndruck. 59 

II. Die Hirnschwellungen bei Hirnverletzungen und 

traumatischen Hirnerkrankungen. 53 

1. Die Hirnschwellungen durch Infektion, Intoxikation, Hirn¬ 
kontusion usw. 64 

2. Die Hirnerschütterung. 66 

3. Der Chok . 70 

III. Konstitutionelle Faktoren bei den Hirnschwellungen 72 

Das Lebensalter. 72 

1. Die relative Mikrozephalie. 73 

Die Berechnung derselben. 75 

Die makroskopische Diagnose auf Hirnatrophie. 77 

2. Die Osteosklerose des Schädeldaches. 78 

3. Die chronische Neigung des Hirnes zur Schwellung, erkennbar 

aus dem inneren Windungsrelief des Schädeldaches. 80 

IV. Die Methodik der physikalischen Hirnuntersuchung 85 

Die Ategerschen Tabellen..-. 92 

V. Schluß. 96 


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Original from 

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Hirns chwelltmg. 


35 


Es wird vielleicht überrascht haben, daß bei den Erörterungen 
über die Folgen der Hirnverletzungen auch die Hirnschwellung 
mit als Referatthema auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. 

In Wirklichkeit aber können auch Himschwellungsvorgänge zu 
den traumatischen Folgeerscheinungen im Gehirn gehören. Dies 
gilt zunächst vom Hirndruck. Hirndruckerscheinungen spielen 
bei den Folgen von Gehirnverletzungen eine sehr wesentliche 
Rolle, auch abgesehen von Schädelimpressionen, großen intra¬ 
kraniellen Blutungen usw.; und es ist anzunehmen, daß an diesen 
Himdruckerscheinungen auch Hirnschwellungsvorgänge in be¬ 
sonderem Maße beteiligt sind. Es wird weiterhin zu untersuchen 
sein: ob nicht auch unabhängig von dem eigentlichen Hirndruck 
Hirnschwellungsvorgänge bei den Hirnverletzungen Vorkommen 
können. Die Schwierigkeit meiner gegenwärtigen Berichterstattung 
liegt, soweit die Folgen von Hirnverletzungen selbst in Betracht 
kommen, darin, daß exakte Untersuchungen über Hirngewicht 
und Schädelinnenraum an der Leiche, unter genauer Berück¬ 
sichtigung der Symptome im Leben, bei Hirnverletzten, Hirn¬ 
geschädigten, Hirnerschütterten, im Chok Gestorbenen usw. noch 
nicht vorgenommen worden sind. Meine Umfrage in den Zeit¬ 
schriften ist ergebnislos geblieben. Die Methode der konsequenten 
Sohädelinnenraumsbestimmung an der Leiche, ohne welche die 
Anwesenheit von Hirnschwellung — sehr wenige Fälle aus¬ 
genommen — nach dem Tode nicht festgestellt werden kann, hat 
sich bis jetzt meines Wissens noch nicht einmal in den psychi¬ 
atrischen Kliniken einbürgem können; und um so weniger konnte 
man da erwarten, daß sie im Felde oder in den Kriegslazaretten 1 

usw. angewendet werden würde. Ich beschränke mich daher j 

jetzt darauf, das Himschwellungsthema von etwas allgemeineren (j 

Gesichtspunkten zu behandeln, wenn auch unter möglichster t 

Berücksichtigung der Folgen von Hirnverletzungen. 

L Allgemeines über die Hirnschwellnngen. 

1. Die individuellen Verschiedenheiten inderGröße 
des Schädelinnenraums und derNachweis derHirn- 

schwellungen. ■ 

Die Erörterungen über die Hirnschwellungen gehen zweck¬ 
mäßigerweise von der Tatsache aus, daß die Schädelinnen' 

3* 


" €oogl 6" 


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36 


Reichardt, 


räume der einzelnen Menschen aus individuellen 
Gründen, auch unabhängig von Körpergröße und sogenannter 
Intelligenz, außerordentlich verschieden groß sind, ohne 
daß man zurzeit die Ursachen und die Bedeutung dieser indivi¬ 
duellen Verschiedenheiten kennt. Wir müssen annehmen, daß es 
sich hier (wie sich Professor Rieger ausdrückt) um Wachs- 
\ tumseigentümlichkeiten des Gehirnes handelt. 

* Ein körperlich und geistig vollkommen gesunder und robuster 
Mann von 178 cm Körpergröße, der nach der Wiedersehen Tabelle 
einen Schädelinnenraum von 1760 ccm und ein Hirn von 1585 g 
haben sollte, hat den lächerlich geringen Schädelinnenraum von 
1830 ccm, was einem Hirngewicht aus gesunden Zeiten, d. h. 
ohne Schwund und Schwellung, von 1200 g entspricht. Er ist 
an progressiver Paralyse gestorben, infolge welcher das Him- 
gewicht noch auf fast 1000 g sank. Wäre er nicht an Paralyse 
erkrankt, sondern zufällig an Pneumonie mit zerebralen Symptomen 
gestorben, dann hätte er bei der Sektion statt 1200 g vielleicht 
1400 g Hirn haben können. Und dann hätte man ohne Kenntnis 
des zugehörigen Schädelinnenraums ebensowohl die Mikrozephalie 
wie auch die terminale infektiöse Hirnschwellung übersehen. 

Solche starke individuelle Schwankungen des Schädelinnen- 
raumes und somit auch des Himgewichtes (ohne daß ein Schwund 
oder eine Schwellung des Hirnes vorliegt) sind, namentlich in der 
Richtung der relativen Mikrozephalie, häufig. 

Im Heft 4 der Arbeiten aus der Psychiatrischen Klinik zu Würzburg 
S. 46 fl. (Tabelle 11 und 12) habe ich eine Anzahl solcher verschieden 
großer Schädelinnenräume, zusammen mit der Körpergröße der betreffen¬ 
den Kranken, veröffentlicht. Weitere Zahlen lassen sich aus den Tabellen 
1—14 des Heftes 8 derselben Arbeiten (S. 782 ff.) ableiten. Ein Gehirn 
von 1100 oder sogar von 1000 g kann völlig normal groß sein (wenn der 
zugehörige Schädelinnenraum selbst nur um etwa 10% größer ist und 
wenn die betreffende Person sehr klein war). Ein Gehirn von 1200 g 
kann bereits stark geschwollen sein (wenn der zugehörige Schädelinnen¬ 
raum überhaupt nur 1200 ccm oder sogar noch weniger faßt). Ein Gehirn 
von 1400 g kann schon stark verkleinert sein (zugehöriger Schädelinnen¬ 
raum 1800 ccm oder mehr). Das gleiche Hirngewicht von 1300 g bedeutet 
bei dem einen Sezierten ein normal großes bzw. normal schweres Hirn 
(Schädelinnenraum 1430 ccm), bei dem nächsten Kranken ein stark ge¬ 
schwundenes Gehirn (Schädelinnenraum 1700 ccm), bei dem dritten 
Kranken ein stark geschwollenes Gehirn. Angesichts dieser Tatsachen ist 


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Hirnschwellung. 


37 


es schwer verständlich, wenn immer wieder die alten Unrichtigkeiten 
über das Hirngewicht veröffentlicht werden, und wenn der eine Autor von 
dem andern immer die gleichen, der Vergangenheit angehörenden Un¬ 
genauigkeiten und Fehler ohne weitere Prüfung übernimmt. 

Wer die wirklich staunenswerte Tatsache der häufigen und 
manchmal ungemein beträchtlichen individuellen Verschiedenheiten 
der Schädelinnenräume in sich aufgenommen hat, und wer ferner 
die Tatsache der häufigen Volumensveränderungen des Hirnes 
(z. B. infolge von terminalen infektiösen Hirnschwellungen, auch 
bei nicht chronisch Himkranken) berücksichtigt, der wird mir 
ohne weiteres recht geben, wenn ich sage: Die Hirnwägung 
ohne Kenntnis des zugehörigen Schädelinnenraums 
und das Operieren mit Durchschnittszahlen von 
Hirngewichten lassen bei allen Fragen der Hirn¬ 
pathologie völlig im Stich. 

Von seiten hochangesehener Pathologen wird auch jetzt noch die 
bloße Hirngewichtsbestimmung ohne Schädelinnenraumbestimmung emp¬ 
fohlen und verteidigt. Es mag sein, daß in der allgemeinen Pathologie, 
wo es sich meist nicht speziell um hirnkranke Menschen und nicht um 
eigentliche hirnpathologische Fragen handelt, die Bedürfnisse und Frage¬ 
stellungen überhaupt anderesind. Aber ich kann mir trotzdem nicht 
denken, daß man aus einer Hirngewichtszahl für sich allein (wenige extreme 
Fälle ausgenommen) überhaupt irgendwelche wesentlichen Schlußfolge¬ 
rungen ziehen kann, in Anbetracht der großen Unsicherheit (s. o.), ob das 
bei der Sektion bestimmte Hirngewicht auch wirklich annähernd dem 
Hirngewicht dieser Person aus gesunden Zeiten entspricht. Da man ferner 
bei meiner Methode der Schädelinnenraumbestimmung stets auch das 
Gewicht des gesamten Gehirns feststellt, kann man ohne weiteres auch die 
einzelnen Teilgewichte des Gehirns in Beziehung zu diesem Hirngewicht 
bringen (wie ich auf einen entsprechenden Einwand antworten möchte). 
Jedenfalls aber behaupte ich wohl nicht zu viel, wenn ich sage: I n allen 
Fragen der Hirnpathologie, Neurologie und Psychiatrie 
nützt die Hirnwägung ohne Messung des zugehörigen Schä- 
delinnenraumes gar nichts. Eine solche Hirngewichtszahl ist unter 
Umständen sogar geeignet, zu falschen Anschauungen zu führen. Wenn 
sie z. B. nicht hoch ist, denkt man an Hirnschwund, während lediglich 
eine Kleinheit der gesamten Körperanlage oder aber eine relative Mikro¬ 
zephalie vorliegt. Tatsächlich sind solche Fehler nicht selten vorgekommen. 

Keinesfalls aber kann man die Hirnschwellungen aus den 
bloßen Hirngewichten diagnostizieren. Ich muß es ferner bestreiten, 
daß man sie bei der Sektion — sehr wenige besonders hoch- 


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38 


Reiehardt, 


gradige Fälle (wie sie z. B. bei Kindern mit Infektionskrankheiten 
Vorkommen können) ausgenommen — ans dem bloßen Augenschein 
diagnostizieren kann. Auch das Verstrichensein der Windungen 
fehlt bei den Himschwellungen sehr oft. Immer wieder haben 
wir uns bei unseren Sektionen Himkranker bemüht, vor Aus¬ 
rechnung der DLSerenzzahl, lediglich aus dem Augenschein, die 
Diagnose auf Himschwellung zu stellen. Es ist aber fast stets 
unmöglich gewesen. Nur die auffallend geringen Liquormengen, 
die während der Sektion und nach Eröffnung der Ventrikel auf¬ 
gefangen wurden, sowie das sehr vollkommene Ausgefülltsein, der 
Kalotte durch das Hirn legten die Vermutung nahe, daß eine 
Himschwellung vorliegen könnte. Und selbst wenn man sie durch 
den bloßen Augenschein diagnostizieren könnte, möchte man doch 
immer wissen: wie hochgradig sie ist. Es bleibt also zum 
Nachweis der Hirnschwellung an derLeiche nurdie 
Messung des Schädelinnenraums. Die Beschreibung meiner 
hiefür in Betracht kommenden Methode findet sich in der 5. Auf- 
läge der Sektionstechnik von Nauwerck (Jena, Fischer 1912, 
S. 69 ff.). 

Wir müssen also diese individuellen Verschiedenheiten der 
Schädelinnenräume (gleichgültig ob und inwieweit sie abhängig 
sind von der Körpergröße oder nicht) eingehend berücksichtigen 
und müssen sie auch, um die Resultate unmittelbar miteinander 
vergleichen zu können, ausschalten, d. h. auf eine einheitliche 
rechnerische Basis bringen. Dies geschieht in sehr einfacher 
Weise dadurch, daß man den Schädelinnenraum = 100 setzt und 
sich fragt: wie groß im Verhältnis hierzu das Hirngewicht ist? 
Die Gleichung lautet also 

Schädelinnenraum ohne Dura (ccm) _ 100 
Himgewicht (g) — x 

__ Himgewicht (g) ♦ 100 

Schädelinnenraum ohne Dura (ccm). 

Normalerweise ist x etwa =90; d. h. normalerweise verhält 
sich die Zahl des zugehörigen Schädelinnenraums ohne Dura zur 
Zahl des Hiragewichts wie 100 zu 90. Die Differenz zwischen 
beiden Zahlen 100 — x (normalerweise also etwa 10) wird allen 


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Hirnsohwelhmg. 


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Hlrngewichtserörterungen zagrunde gelegt. Nur hierdurch 
lassen sich die großen individuellen Verschiedenheiten der Schädel- 
innenräume ausschalten und die jeweiligen Resultate unmittelbar 
vergleichen. 

Bei dieser Berechnung werden also die Zahlen des Hirngewichtes 
und des Schädelinnenraumes ohne Dura miteinander in Beziehung ge¬ 
bracht. Dies geschieht aus Gründen der Einfachheit, gegenüber dem 
andern Verfahren (wie es z. B. neuerdings Rudolph angewendet hat): 
die Zahlen des Hirnvolumens und des Schädelinnenraumes mit Dura 
zu verwenden. In Wirklichkeit verhält sich die Zahl des Hirngewichtes zu 
der des Hirn Volumens durchaus ähnlich wie die Zahl des Schädelinnen¬ 
raumes ohne Dura zur Zahl des Schädelinnenraumes mit Dura (vgl. auch 
die untenstehende Tabelle). Die Prozentzahl der Differenz zwischen 
Schädel und Hirn bleibt im allgemeinen dieselbe, auch wenn man Schädel- 
innenraum mit Dura und Hirnvolumen in Beziehung bringt. 

Das Gewicht der gesamten Dura (aus Kalotte und Basis) einschlie߬ 
lich der sonstigen Weichteile innerhalb der Schädelbasis wird nach meiner 
Methode gesondert bestimmt und ihr Volumen mit Hilfe des ein- für allemal 
angenommenen spezifischen Gewichtes von 1,1 berechnet. 

Es erscheint nämlich notwendig, alles, was sich zur Zeit der Sektion 
im Schädelinnenraum an festen und flüssigen Substanzen befindet, bezüg¬ 
lich seines Volumens zu bestimmen, um feststellen zu können, ob ein 
(z. B. ganz akuter) Hirndruck oder ein Liquorüberdruck vorhanden ge¬ 
wesen ist. Ein solcher Hirndruck oder Liquorüberdruck kann erst terminal 
entstanden sein und dann die unmittelbare Todesursache gebildet haben; 
oder er kann wenigstens ein Ausdruck für die starken Hirnveränderungen 
sein, welche zum Tode geführt haben. 

Man kennt einerseits den verfügbaren Schädelinnenraum ohne Dura 
(z. B.1500 ccm), andererseits 

, , /Hirngewicht in Grammen\ . 

1. das Hirnvolumen I-(einschließlich einer 

\ 1,040 ) 

eventuellen Geschwulst; 

. „ . (Duragewicht in Grammen\ 

2. das Duravolumen I-1; 

V 1,100 / 

3. Liquor plus Blut, während der Sektion aufgefangen; 

4. „ „ „ , bis zur ersten Hirnwägung aufgefangen. 

Die Summe des Volumens dieser 4 Posten vergleicht man mit dem 
verfügbaren Schädelinnenraum ohne Dura und kann dann unmittelbar 
ersehen: ob zur Zeit der Sektion ein krankhafter Überdruck in der Schädel¬ 
rückgrathöhle geherrscht hat (näheres siehe meine unter Nr. 6 und 9 im 
Literaturverzeichnis angegebenen Abhandlungen). 

Rudolph (Nr. 33) spricht auf Seite 57 von Fehlerquellen, die meiner 
Untersuchungsmethodik anhafteten; es sei z. B. von mir das Volumen der 


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Reichardt, 


Dura nicht in Rechnung gezogen worden. Da diese Rudolphsche Angabe 
yon anderen Autoren bereits übernommen worden ist, sei gestattet, darauf 
hinzuweisen, daß der Irrtum bei Rudolph selbst liegt. Wie meine Ver¬ 
öffentlichungen schon lange vor dem Rudolphschea Aufsatze beweisen, 
habe ich das Volumen der Dura stets mit in Rechnung gezogen. Wenn ich 
den Schadelinnenraum an der Leiche ohne Dura, und das Volumen der 
letzteren gesondert bestimme, so hat dies drei gewichtige Gründe: 

1. Man kann die so gewonnenen Schädelinnenraumszahlen unmittel¬ 
bar mit den Zahlen der mazerierten Schädel vergleichen. Es ist nicht 
richtig, was Rudolph sagt, daß der mazerierte Schadelinnenraum noch 
größer sei als der Schädelinnenraum ohne Dura (und ohne sonstige Weich¬ 
teile) bei der Sektion. Ich habe dies sehr genau festgestellt. Man muß 
nur dem mazerierten Schädel die Porosität des Knochens nehmen (z. B. 
mit Wachs), falls man mit Wasser mißt. 

2. Das Hirngewicht verhalt sich zum Schadelinnenraum ohne Dura 
ganz ähnlich wie das Hirnvolumen zum Schädelinnenraum mit Dura- 
auskleidung (s. o.). Meine Differenzzahl zwischen Schädelinnenraum ohne 
Dura und Hirngewicht paßt also ebenso für den Schädelinnenraum mit 
Dura und Hirnvolumen (vgl. das Heft 8 unserer Arbeiten aus der Klinik 
Seite 295 unten sowie S. 296 oben und Anmerkung). 

3. Die Dura selbst hat ein verschiedenes Volumen. Bei der Pachy- 
meningitis haemorrhagica interna kann das Duravolumen das Doppelte 
einer normalen Dura betragen. Würde man alles dies vernachlässigen und 
den Schädelinnenraum ohne weiteres ohne Entfernen der Duraauskleidung 
bestimmen, dann würde man unter Umständen falsche Anschauungen über 
die Größe des Schädelinnenraumes bekommen können. 

Im einzelnen maß aber vorläufig alles noch als „normal“ 
bezeichnet werden, was zwischen 15% uod 9% Differenz zwischen 
Schädelinnenraum und Hirn liegt. Man kann zurzeit nicht sagen, 
ob 12% oder 14% Differenz schon als krankhafte Hirnver¬ 
kleinerung aufzufassen ist. Solche Unterschiede der Hirnvolumens- 
zahl zwischen 9% und 15% Differenz bedeuten aber schon einen 
Hirngewichtsunterschied bis zu 100 g, — und zwar ohne nach¬ 
weisbare Hyperämie und ohne nachweisbares sogenanntes Hirn¬ 
ödem. Es ist möglich, daß diese verschiedenen Differenzzahlen 
mit der jeweiligen Todesart in Beziehung stehen, also erst terminal 
entstandene Erscheinungen sind. Es ist ferner möglich, daß die 
einzelnen Menschen überhaupt eine individuell verschiedene 
Differenzzahl zwischen Schädelinnenraum und Hirn haben (s. auch 
den HI. Teil dieses Referates, 3. Unterabteilung). Es ist aber 
endlich auch möglich, daß diese verschiedenen Differenzzahlen 


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Hirnschwelhmg. 


41 


innerhalb der Spielbreite des vorläufig noch als normal zn Be¬ 
trachtenden Folge von selbständigen Volumensänderungen 
des Gehirnes, unabhängig von einer Erkrankung oder Todes¬ 
art, sind. Und ich habe daher schon früher die Frage aufgeworfen: 
ob nicht das Gehirn schon normalerweise Volumens¬ 
änderungen eingehen kann, welche keine unmittelbare 
Folge verschiedener Gefäßfüllung und wechselnder freier Flüssig¬ 
keit in der Hirnsubstanz sind? 

Um an dieser Stelle auch die Frage des sogenannten Hirnödems zu 
berühren, so ist, wenigstens in der Psychiatrie, das Hirnödem bezüglich 
seiner Häufigkeit und Wichtigkeit sowie als Erklärung von krankhaften 
Hirnsymptomen offenbar recht überschätzt worden. So häufig bei psychi¬ 
atrischen Sektionen — und vielleicht auch außerhalb derselben — Hirn¬ 
schwellungen sind, so selten ist ein Zustand, den man mit wirklicher Be¬ 
rechtigung Hirnödem nennen darf. 

Bezüglich der Definition des Himödembegriffes verweise ich auf 
meine früheren Abhandlungen (Sammelreferat 1911, S. 8 ff.; Heft 8, 
1914, S. 416 ff.). Hirnödem ist ein (fast stets als Folgeerscheinung bei 
sehr verschiedenartigen Krankheiten des Hirnes oder Organismus auf¬ 
tretender) Zustand von Vermehrung des freien Organwassers 
(oder eines ähnlichen, meist eiweißreicheren Transsudates oder Exsudates) 
in der Hirnsubstanz selbst unter entsprechender Gewichtszu¬ 
nahme des Gehirns. Von dem Hirnödem (ödem der Hirnsubstanz) 
ist zu trennen das sogenannte Piaödem (Hydrops meningeus) sowie der 
Hydrocephalus internus oder externus, welche sämtlich ohne Hirnödem 
Vorkommen können und zum Teil vorzukommen pflegen. Namentlich 
kann auch ein Hydrops meningeus sich mit einer recht 
trockenen Beschaffenheit der Hirnsubstanz selbst kom¬ 
binieren. Die Gewichtszunahme des Gehirns beim Hirnödem wird eben¬ 
falls aus dem Vergleich des Hirngewichtes mit dem zugehörigen Schädel- 
innenraum festgestellt. Hatte ein Hirn in normalen Zeiten beispielsweise 
10% Differenz zwischen Schädelinnenraum und Hirn, so kann es (bei 
1500 ccm Schädelinnenraum) durch 30 gÖdemflüssigkeit auf 8%, durch 
60 g auf 6% Differenz gebracht werden. Läßt man die (ihrer Pia beraubten 
und ihrer Ventrikel entleerten) Hirnteile einige Minuten auf dem Sek- 
tionst ; sche liegen, so läßt sich das teilweise Wiederabfließen der ödem* 
flüssigke : t aus der Hirnsubstanz mittels der Wage ohne weiteres feststellen, 
während bei den nichtödematösen, z. B. geschwollenen, Gehirnen durch 
die gleiche Behandlung ein nennenswerter Gewichtsverlust nicht eintritt. 

Freilich hat der Nachwe ; s der Gewichtszunahme des Gehirns durch 
die Ödemflüssigkeit seine Grenzen (Heft 8, S. 427). Wenn ein Gehirn in 
gesunden Zeiten 14% Differenz zwischen Schädelinnenraum und Hirn 


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Reichardt, 


hatte, dann kann es bei 10% Differenz schon mäßig ödematös sein ohne 
nachweisbare Gewichtszunahme. Man sieht aber hieraus auch: wie 
schwierig die wirklich exakte Diagnose auf Hirnödem, d. h. auf ödem der 
Hirnsübstanz, ist, sofern nicht der Obduzent eine sehr große pathologisch¬ 
anatomische Erfahrung besitzt und aus der Konsistenz des Gehirnes, aus 
dem feuchten Glanz der Schnittfläche, dem raschen Zerfließen der Blut¬ 
punkte usw. allein die Diagnose stellen kann. Da, wo das Gehirn aus irgend¬ 
welchen besonderen Gründen vor der Härtung nicht zerteilt und auch 
nicht wiederholt gewogen werden kann, darf dementsprechend auch nicht 
die Diagnose auf ödem der Hirnsubstanz gestellt oder ausgeschlossen 
werden. Jedenfalls ist in der Psychiatrie die Diagnose auf Hirnödem 
offenbar zu häufig gestellt worden (Verwechslung mit Hydrops meningeus 
einerseits, mit Hirnschwellung andererseits). Das sogenannte Oedema 
(Hydrops) ex vacuo hat mit dem wirklichen Hirnödem nichts zu tun. 

Dem echten Hirnödem, d. h. der Vermehrung freien Organwassers 
durch vermehrte Transsudation, Exsudation, verminderten Lymphabfluß 
usw. steht eine andere Art der Hirndurchfeuchtung gegenüber, bei welcher 
die Konsistenz des Gehirns als solche weicher ist (sogenannte Verflüssi¬ 
gung des Gehirns im Gegensätze zur Gerinnung) und das Gewebswasser 
frei wird oder werden kann. Meines Erachtens darf ein solcher nur äußerlich 
ähnlicher, aber grundverschiedener Zustand nicht als „Hirnödem“ be¬ 
zeichnet werden. Auch fehlt hier die Gewichtszunahme des ganzen Organs. 
Es handelt sich bei dieser meiner Anschauung um mehr als eine durch 
nichts gestützte Hypothese, wie ich Hauptmann gegenüber betonen möchte 
(Nr. 21, S. 5). Das Vorkommen einer solchen besonders weichen Kon¬ 
sistenz des Gehirnes ohne Ödem ist Tatsache, ebenso wie das Vorkommen 
einer besonders festen Konsistenz (ohneGliose usw.) Tatsache ist (s. auch 
später). Und auch eine Erklärung für die abnorm weiche Konsistenz 
des Gehirns läßt sich finden: Wir kennen schon aus der Pflanzenphysiologie 
den Begriff der Plasmolyse. Wir müssen berücksichtigen — was ja auch 
Hauptmann tut —, daß die graue Substanz ungemein wasserreich ist (bis 
85% Wasser). Schon das Phänomen der Hirnschwellung lehrt uns, daß 
wahrscheinlich Turgorveränderungen des Gehirns, vermehrte Wasserauf¬ 
nahme und wohl auch Wasserabstoßung wichtige krankhafte Hirnverände- 
rungensind. So scheint es auch eine Verflüssigung der Hirnsubstanz 
oder eine Neigung hierzu, ohne primäre Vermehrung des freien Organ¬ 
wassers, zu geben. Das von Hauptmann eingewendete Zugrundegehen 
nervösen Gewebes, wodurch eine Gewichtszunahme des Gehirns infolge 
‘Ödems wieder kompensiert würde, müßte selbst erst nachgewiesen sein. 
Meine Beispiele von dem Pseudoödem stammen von akuten Infektions¬ 
krankheiten; und es fehlen hier b’s auf weiteres alle Anhaltspunkte dafür, 
daß bei diesen akuten infektiösen Hirnkrankheiten von Personen des 
mittleren Lebensalters ein derartiger Untergang nervösen Gewebes statt¬ 
findet, daß er in dem Hirngewicht zum Ausdruck kommt. Daß mir selbst 


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Hinuchwelhmg. 


43 


der Oedanke einer Kombination von Hirnschwund- und Hirnschwellungs- 
vorgängen (wobei letztere physikalisch dem Nachweis entgehen können) 
ganz geläufig ist, dies beweisen z. B. meine Ausführungen über die relative 
innere Schwellung (Heft 8, S. 601). Ob es ferner überhaupt möglich ist, 
durch die histologische Untersuchung allein, ohne Zuhilfenahme der 
physikalischen Hirnuntersuchung, ein echtes ödem der Hirnsubstanz stets 
mit genügender Sicherheit zu diagnostizieren und von anderen Verände¬ 
rungen im Sinne meiner Plasmolyse auseinanderzuhalten, dies ist eine 
Frage für sich, deren definitive Beantwortung wohl auch erst noch abge¬ 
wartet werden muß. 

Daß. ein ödem der Hirnsubstanz für sich allein echte Hirndruck¬ 
erscheinungen hervorrufen könne, dafür hat sich bis jetzt noch kein An¬ 
haltspunkt ergeben. Wahrscheinlich handelt es sich bei derartigen Fällen 
um Kombination mit Hirnschwellung (bzw. starkem Hydrocephalus in¬ 
ternus oder externus). Auch das Gebiet des Hirnödems bedarf noch der 
weiteren Untersuchung mit Hilfe der Wage. 

Je größer also das Hirnvolumen wird, um so kleiner wird 
die Differenz zwischen Hirn und Schädel. Die krankhafte 
Hirnschwellung lassen wir bis auf weiteres bei 8% beginnen. 
Im einzelnen kann aber die Hirnschwellung so stark werden, 
daß sie — sofern das Hirn sich nicht selbst komprimiert — alle 
Flüssigkeit einschließlich des Blutes aus dem Schädelinnenraum 
auspreßt. Und ein solcher Zustand muß — namentlich wenn er 
ganz akut eintritt — tödlich sein. In der Tat findet man nicht 
selten, namentlich auch bei plötzlichen und unerklärten Todes¬ 
fällen — starke, offenbar akute, Himschwellnngen, während man 
ohne Messung des Schädelinnenraumes eine Todesursache über¬ 
haupt nicht gefunden haben würde und die ganze Sektion vielleicht 
sogar vollkommen negativ gewesen wäre. Bei langsamer Volumens- 
zunahme des Gehirnes, auch bis zu 0% und negativ, treten da¬ 
gegen wahrscheinlich die bekannten Kompensationsvorgänge, wie 
beim chronischen Hirndruck überhaupt, auf, so daß dann infolge 
des Mißverhältnisses der Tod nicht einzutreten braucht. 

Zur Veranschaulichung des Gesagten diene die folgende, 
bereits in früheren Abhandlungen (Vortrag über die Hiramaterib 
1908 S. 297) veröffentlichte Tabelle, bei welcher besonders zu 
beachten ist, daß die erste Kolumne das Hirngewicht bringt 
(welches in Beziehung zum Schädelinnenraum ohne Dura gesetzt 
wird), die dritte Kolumne das Hirnvolumen, und daß der 


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44 


Reichardt, 


Flttssigkeitsmenge in der vierten Kolumne noch die 50 ccm Dura- 
volumen hinzuzuzählen sind, sofern man die Schädelinnenraums- 
zahl ohne Dura verwendet. 

Bei einer Schädelkapazität von 1500 ccm (ohne Dura), einem Vo¬ 
lumen der blutleeren Dura von 50 ccm und einem spezifischen Gewicht 
des Gehirns von 1,040 betragen (abgerundet): 


Hirngewicht 
in Grammen 

Differenz in % 
zwischen Schädelkap. 
u. Hirngew. 

Himvolumen 
in ccm 

Blut n. Liquor 
in ccm 

1260 

ie • 

1215 

235 

1290 

14 

1240 

210 

1320 

12 

1270 

180 

1350 

10 

1300 

150 

1380 

8 

1330 

120 

1410 

6 

1355 

95 

1440 

4 

1385 

65 

1470 

2 

1415 

35 

1500 

0 

1445 

5 

noch größer 

negativ 

noch größer 

— 


2. Definition und Wesen der Hirnschwellungen. 

Als Hirnschwellungeu bezeichnet man Volumens Vergrößerungen 
des Gehirnes, welche nicht Folge sind von Hyperämie oder von 
Anwesenheit vermehrter freier Flüssigkeit (Hirnödem, Hydrops 
meningeus, Hydrozephalus) und auch nicht Folge von histologischen 
Veränderungen im Sinne einer Geschwulst oder geschwulst¬ 
ähnlichen Bildung, oder von sogenannten Entzündungen (Eiterung, 
Abszeß usw.), wodurch die Volumensvergrößerung des Gehirnes 
an und für sich restlos und unmittelbar erklärt werden kann. 
So gibt es z. B. eine karzinomatöse, sarkomatöse oder gliomatöse 
Erkrankung des Gehirnes, welche nur histologisch nachweisbar, 
aber doch so intensiv und diffus ist, daß es falsch wäre, ohne 
ganz zwingende Gründe auch noch spezifische Hirnschwellungs¬ 
vorgänge anzunehmen. 

Die obige Definition schließt aber nicht aus, daß sich nicht 
eine echte Hirnschwellung auch finden kann neben, bezw. zu¬ 
sammen mit einer Hirnhyperämie, einem sogenannten Himödem, 
einem pialen, serösen oder eitrigen, Exsudat, einem Hydrozephalus, 
einer makroskopisch oder nur mikroskopisch sichtbaren Geschwulst 


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Himschwellnng. 


45 


and dergl. Ich habe frfiher, in dem Bestreben, die Himschwellang 
möglichst abzngrenzen und herauszuheben, angegeben: bei der 
Hirnschwellung dürfe namentlich ein sogenanntes Hirnödem oder 
eine sonstige Liquorvermehrnng irgendwelcher Art überhaupt nicht 
vorhanden sein. Diese meine frühere Auffassung ist wahrscheinlich 
nicht richtig. Es gibt eben Hirnschwellungen mit gleich¬ 
zeitiger Vermehrung — oder wenigstens ohne Verminderung 
— des freien Liquors; und es gibt Himschwellungen mit 
Liquorarmut. Die Ursache dieses so verschiedenartigen 
Liquorverhaltens liegt in erster Linie in der Verschiedenheit der 
zugrunde liegenden Hirnkrankheit und ihrer Ursache. Bei exo¬ 
genen Himkrankheiten (namentlich infektiösen) treffen wir eine 
Liquorvermehrung viel häufiger neben Hiraschwellungsvorgängen 
als bei den endogenen Himschwellungskrankheiten (Epilepsie, 
Katatonie). Überhaupt scheint die Himschwellnng ohne Liquor¬ 
vermehrung, ja mit absoluter Liquorarmut (auch ohne piales ödem) 
der schwerere Krankheitszustand zu sein; und dementsprechend 
findet man die liquorarme Himschwellnng auch bei besonders 
intensiver infektiöser und toxischer Hiraerkrankung. So habe ich 
Zt B. eine schwere, nach drei Stunden tödlich endende Lysol¬ 
vergiftung seziert (4 Stunden post mortem) mit 3% Differenz 
zwischen Schädelinnenraum und Hiragewicht, d. h. mit starker 
Himschwellnng, aber völlig trockener Pia und trockener klebriger 
Himsubstanz. Freier Liquor war anscheinend in der Schädel¬ 
höhle überhaupt nicht vorhanden, sondern nur Blut. 

Der Begriff der Hiraschwellung ist ferner ein bedeutend 
weiterer Begriff als derjenige des Pseudotumor cerebri im 
Sinne Nonne s, auf dessen Monographie in der Neuen Deutschen 
Chirurgie ich ausdrücklich verweise (Nr. 25). Während Nonne 
mit Recht z. B. die Diagnose auf Pseudotumor cerebri ablehnt, 
wenn eine gutartige, stationär werdende oder in klinische Heilung 
ausgehende Himgeschwulst mit nur vorübergehenden Hirndruck¬ 
symptomen vorliegt, können echte Himschwellungsvorgänge gerade 
bei solchen, an sich gutartigen, nicht progressiven, oft kleinen 
Himgeschwülsten vorübergehend oder längere Zeit hindurch auf- 
treten und den ganzen Symptomenkomplex des Himdruckes 
hervorrufen. Ebenso kann auch durch irgendwelche Infektion 


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46 


Reichardt, 


vorübergehend oder längere Zeit das klinische Bild des Himdrnckes 
und das anatomische Bild der Himschwellung entstehen, ohne 
daß man auch hier etwa von Fseudotumor cerebri zu sprechen 
berechtigt wäre. Abgesehen von solchen, in der Natur der Sache 
liegenden, Ausnahmen paßt aber die Nonne sehe Definition des 
Pseudotumor cerebri (Nr. 25 S. 108 und 109) großenteils auch 
auf die Hirnschwellung. 

Die Hirnschwellung ist endlich auch keine gewöhnliche tote 
Quellung der Himmaterie. Dies beweist u. a. das spezifische 
Gewicht der Himsubstanz, welches wenigstens bei einigen Hirn- 
Schwellungen auffallend hoch sein kann, höher als es normaler¬ 
weise zu sein pflegt. Hieraus geht auch hervor, daß die Him¬ 
schwellung nicht lediglich als postmortaler Quellungsvorgang 
aufgefaßt werden darf. Auch sonst fehlen bis jetzt alle Beweise 
für das Vorkommen einer echten postmortalen Himschwellung 
im physikalischen Sinne. 

Wenn also auch unter Umstanden eine Himschwellung und eine 
aktive Liquorvermehrung bei demselben Gehirn als Folge der gleichen 
exogenen Schädigung zusammen Vorkommen können, so darf doch anderer¬ 
seits die Hirnschwellung gewissermaßen auch als das Gegenstück zur 
aktiven Liquorvermehrung betrachtet werden! Die vermehrte Liquor¬ 
produktion oder überhaupt die vermehrte seröse Trans- oder Exsudation 
ist die eine Art der Hirnreaktion auf exogene Schädigungen, die Hirn¬ 
schwellung die andere. Daneben gibt es freilich auch Hirnschwellungen 
(namentlich ohne Liquorvermehrung, ja mit Liquorarmut), welche nicht 
als Reaktion auf eine exogene Schädigung auftreten, sondern als Symptom 
endogener Krankheiten (Epilepsie, Katatonie), ja unter Umständen als 
anscheinende Krankheiten sui generis (Pseudotumor cerebri). 

Dementsprechend umfaßt die Hirnschwellung das ganze Gebiet der 
Hirnpathologie. Vieles von dem, was man früher als Liquorvermehrung 
irgendwelcher Art, Hirnödem, Meningitis serosa (s. u.), Enzephalitis, reine 
Vasomotorentätigkeit auffaßte, gehört in das Gebiet der Hirn¬ 
schwellung oder kann wenigstens mit Hirnschwellung einhergehen. 

Das Wesen der Hirnschwellung ist nach wie vor dunkel Wahr¬ 
scheinlich handelt es sich im einzelnen überhaupt um verschiedenartige 
Hirnvorgänge (verschiedenes Verhalten des Liquors, der Konsistenz; 
s. auch unten), denen nur die Volumensvergrößerung des Gehirns ge¬ 
meinsam ist. Wie letztere zustande kommt, darüber können gleichfalls 
nur Vermutungen geäußert werden. Sofern nicht histologisch neue Ge- 
websteile auftreten (amöboide Glia; s. u.) und Volumens Vergrößerungen 
bewirken, denkt man vor allem an eine Flüssigkeitsaufnahme des 


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Himschwellung. 


47 


Gehirns. Es ist möglich, daß der ursprünglich freie Liquor ganz oder 
teilweise in die Hirnsubstanz eintritt und hier besonders fest gebunden 
wird (große Trockenheit mancher geschwollener Gehirne). Bei andern ge¬ 
schwollenen Gehirnen, bei denen auch Liquor in genügender, ja reichlicher 
Menge vorhanden ist, wird wahrscheinlich die zur Volumensvermehrung 
nötige Flüssigkeitsmenge aus den Blutgefäßen stammen. Angesichts 
dieser zahlreichen Verschiedenheiten ist es vielleicht überhaupt zweck¬ 
mäßig, nicht von „der Hirnschwellung“ zu sprechen, sondern von „Hirn¬ 
schwellung“ oder von „den Hirnschwellungen“ oder von den einzelnen 
Gruppen der Hirnschwellung. Jedenfalls sei man sich dessen bewußt, 
daß „die Hirnschwellung“ nach dem gegenwärtigen Stande der Kenntnisse 
keine pathogeüetische Einheit darstellt. 

. Mit Rücksicht auf die Möglichkeit näherer Beziehungen zwischen 
Hirnschwellung und vitalen Quellungsvorgängen in der Hirnmaterie liegt 
die Frage nahe, ob sich das geschwollene Gehirn nach dem Tode bezüglich 
seiner Quellungsfähigkeit anders verhält als das nicht geschwollene? 
Untersucht wurde in der Würzburger Klinik bis jetzt das Quellungsver¬ 
mögen der Hirne und Hirnteile (Kleinhirn, Rest) in lOproz. Formollösung 
unter möglichst gleichen äußeren Bedingungen. Hier verhielten sich nun 
die geschwollenen Gehirne nicht einheitlich. Ein Teil nahm über 20%-zu 
(d. b. also viel; das Mittel des QuellungsVermögens unserer Hirne liegt 
für das Großhirn bei 15—18%); andere dagegen blieben unter 20%. Auch 
einige Hirne von Kranken ohne erkennbare Hirnschwellung hatten 
über 20%-Gewichtszunahme in der lOproz. Formollösung (bei gleicher oder 
ähnlicher Zeit der Sektion p. m.). Etwas Bestimmtes läßt sich also in 
dieser Beziehung vorläufig nicht sagen. Andrerseits war das Quellungs- 
vermögen der Hirnteile in der Formollösung oft ein so eigenartiges, daß es 
nur durch Verschiedenheiten in der Hirnmaterie selbst erklärt werden 
kann. Jedoch fehlt hierzu vorläufig noch der Schlüssel für das Verständnis. 

Tierhirne zeigten durchschnittlich eine viel größere Quellungsfähig¬ 
keit des Hirnes in Formollösung als gleichgroße Stücke Menschenhirn. 
Auch untereinander waren die Tierhirne sehr verschieden, auch unab¬ 
hängig von ihrer Größe. So hatten Igel und Maulwürfe mit 50—80% 
eine viel bedeutendere Quellungsfähigkeit ihrer Hirne als Hühner, Gänse, 
Enten oder Raben mit 30—50%; Katzen und Hunde hatten 25—40% 
Gewichtszunahme in Formollösung. Die Zeit der Sektion p. m. hatte 
hierbei wenig Einfluß. Selbst nach 36stündigem Verweilenlassen des toten 
Hirns im Schädel war die Zunahme des Gehirns in Formol noch keine 
wesentlich geringere. Junge Tiere hatten eine noch größere Quellungs¬ 
fähigkeit ihrer Hirne als erwachsene Tiere. 

3. Zur Histologie der Hirnschwellnngen. 

Über die Histologie der HirnschweUung habe ich mich bereits in 
meinem Sammelreferat 1911 (Nr. 5, S. 29 ff.) geäußert. Da inzwischen 


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48 


Reichardt, 


mehrere wichtige Arbeiten auf diesem Gebiete veröffentlicht worden sind, 
erscheint eine erneute kurze Stellungnahme zweckmäßig. 

In einem Punkte scheine ich von zahlreichen Autoren mißverstanden 
worden zu sein. Ich verhalte mich der histologischen Forschung gegen¬ 
über nicht im geringsten ablehnend, wie dies erst neuerdings noch A. Jakob 
in seinem sehr verdienstvollen Übersichtsreferat (Nr. 22, S. 37) zum Aus¬ 
druck gebracht hat. Es wäre tatsächlich unverständlich, die absolute Not¬ 
wendigkeit der exakten histologischen Durchforschung des Zentralnerven¬ 
systems für die Psychiatrie im allgemeinen und für die Lehre von der 
Hirnschwellung im speziellen auch nur im geringsten in Zweifel ziehen zu 
wollen — und dieses um so mehr, als ja auch die Lehre von der Hirn¬ 
schwellung sich noch in der ersten Entwicklung befindet. Und es darf 
gewiß von vornherein die Hoffnung ausgesprochen werden, daß auch bei 
den Abgrenzungen der einzelnen Hirnschwellungsformen die histolog ; sche 
Untersuchung sehr wertvolle Dienste leisten wird. Vielleicht wird sie auch 
imstande sein, diese oder jene mit Volumensvergrößerung einhergehende 
krankhafte Hirnveränderung, welche man jetzt mit zur Hirnschwellung 
rechnet, von ihr abzutrennen. Ich habe auch niemals behauptet (wie dies 
andere Autoren gemeint haben), daß die histologische Untersuchung einer 
Hirnschwellung stets negativ ausfallen müsse. Im Gegenteil habe ich mich 
stets sehr vorsichtig ausgedrückt; bezüglich des negativen histologischen 
Befundes bei der Hirnschwellung konnte ich mich außerdem seinerzeit 
auf eine Anzahl erfahrener Neurologen und Hirnpathologen stützen (Nonne, 
Spielmeyer usw.). Es muß weiterhin berücksichtigt werden, daß meine 
ersten Veröffentlichungen über die Hirnschwellung in die Jahre 1905 bis 
1908 fallen — also vor die Alzheimerschen Mitteilungen, welche auf die 
späteren Autoren einen so großen Eindruck gemacht haben. In der ersten 
Arbeit 1905 (Nr. 1, S. 343) habe ich lediglich festgestellt, daß die mikro¬ 
skopische Untersuchung auch beiden anderen damals beschriebenen Hirn¬ 
schwellungen „bezüglich der Erklärung und Entstehung der Hirnschwellung 
versagt“ hat. 1906 (Nr. 2, S. 86) habe ich nur darauf hingewiesen, daß 
sich „eine charakteristische histologische Eigentümlichkeit dieser Hirn¬ 
schwellungen vorläufig nicht hat feststellen lassen“. Und in meinem Vor¬ 
trage über die Hirnmaterie 1908 (Nr. 3, S. 300/301) endlich habe ich auch 
nur gesagt, daß sich „histologisch bis jetzt nichts irgendwie Charakteristi¬ 
sches ergeben hat“. Ich habe damals lediglich die Anschauung ausge¬ 
sprochen: Wenn sichbei Volumensvergrößerungen des Gehirns histologische 
Gewebsveränderungen (z. B. im Sinne einer von mir bei Hirngeschwulst 
beschriebenen hochgradigen frischen Gliose) in solcher Intensität finden, 
daß sie zur Erklärung für die Volumensvergrößerung in Betracht kommen, 
dann muß man mit der Annahme reiner Hirnschwellungen entsprechend 
vorsichtig sein oder sie ab lehnen. Selbstverständlich war andererseits der 
negative histologische Befund bei diesen Hirnschwellun¬ 
gen im höchsten Maße auffallend und wahrscheinlich 


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Hirnschwell ang. 


49 


wissenschaftlich von größter Bedeutung. Deshalb habe ich auch 
in diesem Vortrage über die Hiramaterie die Fragestellu ng so scharf heraus¬ 
gehoben. Ich glaubte hier ein Problem von größter Wicht ekeit zu er¬ 
blicken: das Verhältnis von Lebenserscheinungen, welche auch zu physi¬ 
kalisch-chemischen Veränderungen führen können, zu h stolog'sch nach- 
we sbaren Veränderungen. Denn für unmittelbare Lebenserscheinungen 
hielt ich (und halte sie auch noch) wen : gstens einen Teil der als Hirn- 
echwellung zutage tretenden materiellen H rnVeränderungen. 

Dann kamen die Veröffentlichungen der Alzheimerschen Untersuchun¬ 
gen 1910 (Arbeiten über die Großh : rnrinde, herausgegeben von Xissl und 
Alzheimer, Jena, F scher, Bd. 3, S. 401 ff.). Allerd ngs ist bei den von 
Alzheimer untersuchten Geh : rnen noch nicht derNachwe s erbracht worden, 
daß d e Geh : rne auch im physikal'sehen Sinne geschwollen waren; ferner 
ist wohl der Einwand noch nicht definitiv widerlegt worden: ob nicht der 
histolog sch nachweisbaren Vergrößerung des einen Gewebsteiles eine V er- 
kleinerung anderer Gewebsteile entspricht, so daß das Gesamt¬ 
volumen des Gehirns oder Gehirnabschnittes auch durch die amöboide 
Glia nicht vermehrt zu werden braucht. Es hat überhaupt zurzeit den 
Anschein, als ob die amöboide Glia auch in nicht geschwollenen Gehirnen 
und ohne wesentlichen Untergang von anderem nervösen Gewebe Vor¬ 
kommen könnte. Wenn wir uns aber bis auf we teres auf den Standpunkt 
Stellen wollen, daß in denjenigen Fällen, bei denen die amöboide Glia in 
voller Entwicklung vorhanden und bei denen auch das Gehirn im physi¬ 
kalischen Sinne geschwollen ist, in der amöboiden Glia der histologische 
Ausdruck für die Volumensvergrößerung erblickt werden darf, so ist 
trotzdem das Problem der Histologie der Hirnschwellung noch nicht 
gelöst. 

Ich möchte hier zunächst auf die zeitlichen Verhältnisse hin- 
weisen. Die amöboide Glia braucht nach den bisherigen Erfahrungen 
beim Menschen mehrere (6—12) Stunden, um zur Entwicklung zu ge¬ 
langen. Und auch bei den Tierexperimenten Rosentals (Nr. 28, S. 118) 
waren wenigstens 2—3 Stunden erforderlich, bis sich die amöboide Glia 
zeigte. Alzheimer erwähnt (S. 460) einen Kranken mit Status epilepticus, 
der nach 6 Stunden starb und wo die amöboide Glia noch ganz fehlte (nur 
Karyokinesen waren in großer Anzahl zu sehen). Eine Hirnschwellung 
kann aber momentan entstehen, zusammen mit dem ersten Beginn 
eines Anfalles. Wir müssen uns vor allem die Frage vorlegen; Ist die 
histolog : sche Untersuchung bei diesen akuten, zweifellosen und hoch¬ 
gradigen Hirnschwellungen in der Lage, die Volumensvergrößerung des 
Gehirns restlos zu erklären, bevor die amöboide Glia Zeit hatte, 
sich auszubilden? Ein Epileptischer kann auch in oder an einem 
einzelnen rudimentären Anfall sterben; und auch dann hat sich in den 
bis jetzt untersuchten Fällen eine hochgradige Hirnschwellung feststellen 
lassen. Die amöboide Glia würde hierbei aber, nach den Alzheimerschen 
Zeitschrift für Payohictrie. LXXV. Iß. 4 

Co gle 


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60 


Reichardt, 


Mitteilungen, noch nicht zu erwarten sein. Ich hatte in meinem Vortrage 
Ober die Hirnmaterie 1908 u. a. auch gesagt, daß die bei Epilepsie und 
Katatonie (zuweilen auch bei progressiver Paralyse) den Anfällen zugrunde 
liegenden Veränderungen momentan entstehen und momentan spurlos, 
restlos verschwinden können. Ich hatte hieraus geschlossen, daß in solchen 
Gehirnen zwar physikalisch-chemische Veränderungen vorgehen (z. B. 
nach Art der Hirnschwellung usw.), die aber nicht histologisch darstellbar 
seien. Alzheimer hat mir auch nur scheinbar hierin widersprochen (S. 547), 
wenn er sagt, daß solche Anfälle „keineswegs immer“ blitzartig kommen 
und spurlos vorübergehen. Mir genügt vorläufig die Feststellung, daß sie 
zwar nicht regelmäßig, aber doch nicht allzu selten tatsächlich augen¬ 
blicklich auf treten und ebenso rasch wieder verschwinden können. Wenn 
sie also mit Hirnschwellungen einhergehen, dann würden auch diese 
Fälle von Hirnschwellung ohne Bildung einer amöboiden 
Glia verlaufen. Die Hirnschwellung ist demnach in solchen Fällen 
das Primäre, während die sich eventuell einstellenden histologischen Ver¬ 
änderungen im Sinne der amöboiden Glia erst späterer Entstehung sind. 

Daß eine Hirnschwellung momentan entstehen kann, dies beweisen 
u. a. die Erfahrungen bei Hirngeschwülsten (plötzlicher Tod) und auch 
die Erfahrungen bei der perakuten Verblutung (bzw. bei der hiermit 
gewöhnlich kombinierten reflektorischen Chokwirkung). Wenn die Apeit¬ 
schen Zahlen richtig sind, dann kann z. B. durch einen Schuß in die Brust 
mit perakuter Verblutung die Differenzzahl zwischen Schädelinnenraum 
und Hirngewicht sogar negativ werden. Daß man solche akute Hirn¬ 
schwellungen bei und nach akuter Verblutung, vielleicht auch Enthauptung 
(und ferner bei reflektorischer Chokwirkung, z. B. durch Schuß in das 
Herz, mit plötzlichem-Tode) durch die histologische Untersuchung fest¬ 
stellen, erkennen und erklären könnte, davon ist zurzeit jedenfalls noch 
nichts bekannt. 

Die amöboide Glia braucht also einige Stunden, um sich zu ent¬ 
wickeln. Aber es erscheint zweifelhaft, ob sie überhaupt stets — auch 
bei längerem Andauern mancher Hirnschwellungen — vorhanden ist. 
Die amöboide Glia ist eine sehr verbreitete Begleiterscheinung akuter 
Erkrankungszustände des Nervengewebes (Alzheimer 1. c. 421; näheres 
S. 459). Man wird nun aber auch die Frage aufwerfen müssen: Tritt die 
amöboide Glia z. B. auch bei den akuten und chronischen Hirnschwellungen 
im Gefolge einer Hirngeschwulst regelmäßig auf? Mit andern Worten: 
Gehört die amöboide Glia überhaupt grundsätzlich zum Hirnschwellungs¬ 
prozeß? Oder gehört sie nicht vielmehr grundsätzlich zu den von Alz¬ 
heimer genannten akuten Krankheiten und akuten Krankheitsepisoden 
im Gefolge zahlreicher Hirnkrankheiten, bei denen, teils regelmäßig, teils 
ausnahmsweise, nebenher auch echte Hirnschwellungen Vorkommen 
können? 

Ich habe endlich auch darauf hingewiesen, daß gerade die Tabespara- 


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Him8chwellnng. 


61 


lysen und die katatonischen Paralysen oft einen stärkeren Hirnschwund ver¬ 
missen lassen, ja zur Hirnschwellung disponieren können. Trifft man in 
diesen relativ oder absolut geschwollenen paralytischen Gehirnen auch 
regelmäßig die amöboide Glia (auch ohne heftige terminale Anfälle, welche 
bemerkenswerterweise gerade bei diesen Paralysen besonders häufig sind)?, 
und warum ist dann die amöboide Glia, bei regelmäßigem Vorhandensein, 
so oft an die Hinterstrangerkrankung gebunden? Ich hatte schon 1911 
die Frage aufgeworfen (Arbeiten Heft 6, S. 12): Ob, namentlich bei be¬ 
stimmten Krankheitsfällen mit systematischem Krankheitsverlauf, jede 
einzelne Gliazelle — bildlich gesprochen — tun kann, was sie will, oder 
ob nicht doch die histologischen Veränderungen Folge sein können von 
bestimmten unbekannten vorangegangenen bzw. übergeordneten einheit¬ 
lichen — wenn auch jeweils bei den einzelnen Kranken mit der gleichen 
Hirnkrankheit verschiedenen —Vorgängen (z. B. im Sinne einer Hirn¬ 
schwellung)? Und warum findet sich eine solche Neigung zur Hirn- 
Schwellung und zu eventueller späterer Ausbildung von amöboider Glia 
vor allem bei progressiver Paralyse zusammen mit reiner Hinterstrang¬ 
erkrankung? Es ist meines Erachtens möglich, daß"auch die besondere 
Lokalisation des paralytischen Krankheitsprozesses an der Hirnbasis und 
im Rautenhirn zu Hirnschwellungsvorgängen in besonderem Maße dis¬ 
poniert und daß diese Hirnschwellungen dann mit den katatonischen oder 
paranoiden Symptomen dieser Paralytiker in Beziehung stehen. In 
solchem Falle würde auch das eventuelle Auftreten der amöboiden Glia 
an bestimmte Bedingungen der Krankheitslokalisation oder des Krank¬ 
heitsverlaufes usw. gebunden sein. Daß eine solche ausnahmsweise Lo¬ 
kalisation des paralytischen Krankheitsprozesses möglich ist (gerade zu¬ 
sammen mit schizophrenen Symptomen), dies ist ausdrücklich von Wil~ 
manns und Ranke festgestellt worden („Ein Fall von Paralyse mit dem 
klinischen Verlauf einer Dementia praecox.“ Beiträge, herausgegeben von 
Nissl. Berlin, Springer, 1915, Heft 3, Fall Dahl). Man sieht, wie zahl¬ 
reiche Fragen hier noch der Beantwortung harren. 

Daß eine vorhandene Hirnschwellung nicht stets durch die — wenn 
auch noch so eingehende — histologische Untersuchung erklärt werden 
kann, dies beweist in positiver Hinsicht die Veröffentlichung von Rosental 
(Fall Wähler,Nr. 29). Obwohl Rosental einen Teil meiner wissenschaft¬ 
lichen Anschauungen bekämpft hat, und obwohl er ein Interesse daran 
gehabt hätte, nachzuweisen, daß einer Hirnschwellung stets entsprechende 
und sogpar charakteristische histologische Veränderungen zugrunde liegen, 
mußte er selbst zugeben, daß in seinem Falle Wähler (außer dem Tode 
des Kranken) weder die Hirnschwellung noch die Konsistenzvermehrung 
durch die histologische Untersuchung aufgeklärt worden ist — d. h. zwei 
sehr wesentliche und wichtige, makroskopisch unverkennbare physikalische 
bzw. physikalisch-chemische Zustandsänderungen des Gehirns. 

Wir müssen also scharf unterscheiden: 

4* 


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Reichardt, 


1. ob bei den geschwollenen Gehirnen überhaupt histologische Ver¬ 

änderungen irgendwelcher Art auftreten (nicht einmal dieses scheint stets 
der Fall zu sein), und w-s 

2. ob durch die histologische Veränderung die Vo¬ 
lumensvergrößerung des Gehirns als solche einigermaßen er¬ 
klärt werden kann. Ich sage „einigermaßen". Denn über ein nur 
ungefähres und subjektives Abschätzen wird man in den meisten Fällen 
wohl nicht hinauskommen. Wenn aber wirklich ein neuer Gewebsteil wie 
die amöboide Glia sich gebildet hat, ohne daß sich eine Volumensver¬ 
minderung anderer Gewebsteile nachweisen läßt, auf deren Kosten die 
Bildung oder Volumensvergrößerung des neuen Gewebsteiles gegangen 
ist (Austausch von Gewebsflüssigkeit ohne Zunahme des Volumens des 
gesamten Organs), dann wird man die histologischen Veränderungen und 
die Volumensvergrößerung miteinander in Beziehung bringen dürfen. 
Nur lassen sich eben zurzeit solche gewebliche Veränderungen — speziell 
die amöboide Glia — bei einem großen Teil der Hirnschwellungen nicht 
nachweisen — aus Gründen (zeitliche Verhältnisse usw.), wie sie soeben 
kurz besprochen oder angedeutet wurden. Ich habe also niemals — wie 
ich auch Rosental gegenüber feststellen muß — behauptet, daß bei der 
Hirnschwellung stets histologische Veränderungen fehlen würden. Sondern 
ich habe nur auf den Nachweis bzw. auf die Beantwortung der Frage ge¬ 
drungen: ob durch die histologischen Veränderungen die Vo¬ 
lumensvermehrung des ganzen Organs als solche in allen 
Fällen restlos erklärt wird. 

Das Wesentliche ist also dieses: daß das Mikroskop zurzeit nicht in 
der Lage ist, starke Volumensvergrößerungen des Gehirns im Sinne der 
Hirnschwellung stets genügend zu erklären. Man darf nicht einmal ohne 
weiteres aus der Anwesenheit der amöboiden Glia oder einer ähnlichen 
Bildung auf eine Volumensvergrößerung des ganzen Gehirns schließen, 
wie dies Rosental getan hat (Nr. 27, S. 177), als er den Nachweis einer post¬ 
mortalen Hirnschwellüng erbracht zu haben glaubte. Rosental hat die 
Gehirne normaler Tiere bei Zimmertemperatur im Schädel gelassen und 
hierbei histologisch schon innerhalb von 12 Stunden nach dem Tode 
gliöse Veränderungen festgestellt, welche mit gewissen Formen der amö¬ 
boiden Glia vollkommen übereinstimmen; ferner eine ausgesprochene 
Quellung der Achsenzylinder und Verflüssigung der Nervenzellen. Er 
spricht von postmortalen Schwellungszuständen und glaubte hierbei meine 
ganze Auffassung von der Hirnschwellung anzweifeln zu können. Er 
mußte mir aber die Berechtigung des Einwandes zugeben: daß es sich 
bei diesen Quellungserscheinungen auch nur um einen Flüssigkeitsaus¬ 
tausch mit andern (sich verkleinernden) Gewebsbestandteilen gehandelt 
haben könnte. Ferner fehlen bis jetzt Paralleluntersuchungen, ob solche 
histologisch feststellbare kadaveröse Quellungserscheinungen am Tierhirn 
nicht auch auftreten, wenn die Tierhirne aus dem Schädel herausgenommen 


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Hirnschwellung. 


63 


worden sind und auch sonst keine Gelegenheit haben, Flüssigkeit aufzu¬ 
saugen und sich im physikalischen Sinne zu vergrößern. Drittens sind die 
Tierhirne schon an sich viel „geschwollener“ als die Menschenhirne. Ob es 
bei ihnen noch zu einer postmortalen Hirnquellung im physikalischen 
Sinne kommt bzw. überhaupt kommen kann, ist gleichfalls noch nicht 
erwiesen. Und viertens endlich findet man die intravital entstandene Hirn¬ 
schwellung auch schon, wenn man unmittelbar nach dem Tode seziert 
(bevor also eventuelle postmortale Quellungsvorgänge Gelegenheit haben, 
sich zu entwickeln). Man sieht, wie sehr allzu rasche und einseitige Schlu߬ 
folgerungen aus histologischen Befunden Irrtümern unterworfen sind. 

Ich habe oft genug darauf hingewiesen, daß die physikalische Hirn¬ 
untersuchung ihre Grenzen der Leistungsfähigkeit hat, und daß man zahl-, 
reichen krankhaften Hirnzuständen durch diese Untersuchungsmethode 
vorläufig noch nicht beikommen kann (wenn auch z. B. das Studium der 
Frontalschnitte [innere Schwellung, umschriebene einseitige Schwellung 
oder ebensolcher Schwund] inzwischen wieder mancherlei gelehrt hat). 
Andrerseits darf man aber auch nicht, wie dies immer wieder geschehen 
ist, in der histologischen Hirnuntersuchung die einzige und unfehlbare, 
nie versagende Untersuchungsmethode für das Gehirn erblicken. Die 
Losung lautet auch nicht: entweder physikalische oder histologische 
Hirnuntersuchung, sondern sie lautet — wie ich stets betont habe — 
selbstverständlich: beide Untersuchungsmethoden nebenein¬ 
ander. Zum mindesten sollte die exakte Schädelinnenraums- und Hirn¬ 
gewichtsbestimmung bei jeder Sektion eines Hirnkranken oder auf Hirn¬ 
krankheit bzw. zerebrale Todesart Verdächtigen ausgeführt werden, 
zumal da sie sehr wenig Zeit beansprucht. Auch insofern hat die physi¬ 
kalische Hirnuntersuchung Vorteile, als sie in Instituten und Landes¬ 
anstalten angewendet werden kann, die aus irgendwelchem Grunde der 
ganz eingehenden, nach modernen Grundsätzen vorgenommenen histo¬ 
logischen Hirnuntersuchung nicht viel Zeit zuwenden können. Hier leistet 
die physikalische Hirnuntersuchung, richtig durchgeführt, für das Ver¬ 
ständnis der krankhaften Hirnvorgänge nicht wenig. 

Am 25. April 1908 habe ich im Deutschen Verein für Psychiatrie 
meinen Vortrag über die Hirnmaterie (Nr. 3) gehalten, der so viel Wider¬ 
spruch hervorgerufen hat; am gleichen Tage, 10 Jahre später, im gleichen 
Verein das Referat über die Hirnschwellung erstattet, dessen schriftliche 
Ausarbeitung hier vorliegt. Die Fragestellung bezüglich der Hirnschwellung 
ist grundsätzlich die gleiche wie vor 10 Jahren. Mag auch durch den Nach¬ 
weis der amöboiden Glia AhJieimers vielleicht in einigen Fällen für die 
Hirnschwellung der histologische Ausdruck gefunden sein, so steht doch 
für die Mehrzahl der bei den Sektionen geschwollenen Gehirne eine solche 
histologische Erklärung noch völlig aus. Und es ist nicht einmal wahr¬ 
scheinlich, daß in absehbarer Zeit für die Mehrzahl der Hirnschwellungen 
histologische Veränderungen gefunden werden, welche vom Standpunkte 


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54 


Reichardt, 


der Histopathologie aus die physikalische Volumens Vermehrung des Gehirns 
als solche wirklich restlos erklären. Ich habe von meinen vor 10 Jahren 
vorgetragenen Anschauungen heute nichts Prinzipielles zurückzunehmen. 
Die wissenschaftliche Psychiatrie und die Hirnforschung überhaupt wird 
nicht umhin können, das Problem der Hirnvorgänge auch vom physi¬ 
kalisch-chemischen Standpunkt aus in Angriff zu nehmen; und hierzu 
wird sie sich in erster Linie auch der physikalischen Hirnuntersuchungs¬ 
methoden bedienen und sie weiter auszubauen sich bestreben müssen. 
Das Phänomen der Hirnschwellung beweist, daß es sehr starke Hirnver¬ 
änderungen gibt, welche sogar unmittelbar mit dem Tode einhergehen 
können, ohne daß das Mikroskop bis jetzt über das Zustandekommen und 
das Wesen der Hirnschwellungen und einiger anderer Veränderungen der 
Hirnmaterie stets etwas Befriedigendes hat aussagen können. Auch die 
Leistungsfähigkeit der histologischen Hirnuntersuchung ist, namentlich 
gewissen Lebenserscheinungen gegenüber, eine begrenzte. Man darf nicht 
einfach von der Voraussetzung ausgehen, daß die mikroskopische Unter¬ 
suchung alle physikalischen Hirnveränderungen ohne weiteres restlos 
erklären könne. 

4. Die Ursachen der Hirnschwellnngen. 

Himschwellungsvorgänge können, soweit zurzeit geurteilt 
werden kann, bei den meisten exogenen und endogenen Hirn¬ 
krankheiten auftreten. Sie sind bis jetzt besonders beobachtet 
worden bei den akuten Infektionskrankheiten und Intoxikationen 
mit zerebralen Erscheinungen, bei Himgeschwölsten und endlich 
bei Epilepsie und Katatonie. Durch weitere Forschung wird 
festgestellt werden müssen, ob und inwieweit diese verschiedenen 
Arten der Himschwellung sich untereinander unterscheiden, und 
ob vielleicht diese oder jene der zurzeit zur Hirnschwellung 
gerechneten Volumensvergrößerungen nicht mehr in das Gebiet 
der Hirnschwellung im engeren Sinne gehört. 

Jedenfalls sind, soweit zurzeit geurteilt werden kann, Hirn- 
schwelluhgen nicht für eine besondere Hirnkrankheit 
charakteristisch. Sie treten bald als Reaktion eines (an¬ 
scheinend) an sich gesunden Gehirnes auf, im Gefolge einer 
exogenen Schädigung, — bald aber auch (wie bei Epilepsie und 
Katatonie) ohne erkennbare äußere Ursache und scheinen hier 
unmittelbar zum Wesen der Himkrankheit zu gehören. Dem¬ 
entsprechend ist auch eine Hirnschwellung durchaus anders zu 
bewerten, je nachdem sie bei einem seiner Anlage nach ganz 


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Hirnschwel] ang. 


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oder vorwiegend gesunden Gehirn als reine Reaktion anftritt oder 
aus endogenen, vielleicht sogar im Gehirn selbst liegenden 
(andere Hirnmaterie?) Gründen entsteht. Wir müssen infolgedessen 
auch, soviel als möglich, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen 
den exogenen und den endogenen Hirnschwellungen machen. 


5. Die klinischen Erscheinungen und die Lokalisation 

der Hirnschwellungen. 

Die klinischen Erscheinungen der Hirnschwellungen sind in 
erster Linie oder gehen einher mit 
Hirndruckerscheinungen; oder 
Bewußtseinsstörungen; oder 
epileptischen (epileptiformen) Erscheinungen; 

oder 

katatonischen (katatonif ormen) Sympt omenkomplexen (zum 
Teil auch verbunden mit endogener Abmagerung und Nahrungs¬ 
verweigerung; das Hirn ist dann stark geschwollen, der Körper 
stark abgemagert; sogenannter Antagonismus zwischen Himgewicht 
und Körpergewicht); oder 

dem (unter Umständen ganz plötzlich eintretenden) Tod aus 
zerebraler Ursache (namentlich auch bei basalen Prozessen, 
Erkrankungen des Rautenhimes, der Oblongata, des obersten 
Halsmarkes [s. auch später]). Früher hat man einen solchen Tod 
gewöhnlich als „Herz- und Atmungslähmung“ Hirnkranker be¬ 
zeichnet. Die Sektion konnte dann, vor Anwendung der Messung 
des Schädelinnenraumes, überhaupt keine greifbare Todesursache 
aufdecken. Jetzt sieht man aber: wie häufig ein Tod aus zere¬ 
braler Ursache, mit Himschwellung einhergehend, ist, und zwar 
auch bei inneren und chirurgischen Krankheiten. 

Solche klinische Verschiedenheiten können entstehen durch 
das verschiedene Verhalten 


des Liquors (Liquorvermehrung oder 
Liquorarmut), 

der Konsistenz des Gehirnes, 
des spezifischen Gewichtes des 
Gehirnes, 

der verschiedenen Krankheitsursache 


d. h. also von inneren, 
zurzeit noch unbe¬ 
kannten Vorgängen in 
der Hirnmaterie; 

und des verschiedenen 


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66 


Reichardt, 


zugrunde liegenden Krankheitsprozesses einschließlich der 
verschiedenen histologisch nachweisbaren Veränderungen, 
der Verlaufsart (plötzlich oder langsam entstehend, sehr in¬ 
tensiv oder sehr wenig intensiv), 
der Lokalisation. 

Die Konsistenzvermehrung des Gehirnes (welche von 
der einfachen Trockenheit vieler geschwollener Gehirne zu unter¬ 
scheiden ist) muß nicht stets bei jeder Hirnschwellung vorhanden 
sein, wie ich schon in meinem Vortrage über die Hirnmaterie 
(Nr. 3 S. 304) ausdrücklich hervorhob und Rosental gegenüber 
(Nr. 30 S. 742) nochmals betonen möchte. Ich fand die Konsi¬ 
stenzvermehrung besonders bei katatonischem (katatoniformem) 
Stupor und verwandten katatonischen Erscheinungen. Solche 
Beobachtungen liegen jetzt in ziemlich großer Zahl vor (vgl. Heft 8 
unserer Arbeiten S. 365). Neuerdings ist besonders auch der Fall 
Wähler von Rosental hier zu nennen, bei welchem die auffallend 
harte Konsistenz des Gehirnes ausdrücklich hervorgehoben (Nr. 29 
S. 18) und gleichzeitig auch die genaue histologische Untersuchung 
vorgenommen wurde, ohne daß hierdurch die Konsistenzvermehrung 
eine Aufklärung (etwa im Sinne einer Gliose) gefunden hätte. 
Es liegt hier tatsächlich ganz besonders nahe, an physikalisch¬ 
chemische Veränderungen im Sinne einer Art von Gerinnung der 
Hirnsubstanz zu denken; und es ist die ungewöhnlich scharfe 
Ablehnung dieses meines Erklärungsversuches durch H. Berger 
(Untersuchungen über die Temperatur des Gehirnes, Jena, Fischer 
1910 S. 6) schlechterdings nicht zu verstehen. Die feste Konsi¬ 
stenz des Gehirnes solcher Kranker ist keine „unbegründete An¬ 
nahme“ von mir, sondern einfach Tatsache. Und je weniger hier 
bis auf weiteres das Mikroskop helfen und erklären kann, um so 
mehr muß man versuchen, im Sinne der physikalischen Chemie 
weiterzukommen. Gewiß sind die Versuche Bergers mit Kokain 
an Stuporkranken sehr interessant. Es ist auch möglich, daß das 
Kokain vorübergehend (vielleicht auf dem Umwege durch die 
Gefäße) die Hirnmaterie und speziell die Himschwellung oder den 
Gerinnungszustand solcher Kranker günstig beeinflußt. Aber die 
iterperschen Versuche widersprechen ganz und gar nicht meinen 
Anschauungen und Schlußfolgerungen. 


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Hünschwelhmg. 


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Das spezifische Gewicht des geschwollenen Gehirnes 
kann normal sein. Manchmal ist es auch auffallend hoch. Ein 
hohes spezifisches Gewicht des Hirnes oder einzelner Hirnteile 
(z. 6. des Kleinhirnes) kann auch an die Stelle einer (nach den 
Symptomen vermuteten) Hirn-(bezw. Kleinhirn-)schwellung treten. 
Ein niedriges spezifisches Gewicht bei Hirnschwellung habe ich 
nie beobachtet (öfters bei Hirnschwund). Im allgemeinen zeigt 
aber das spezifische Gewicht auch des kranken Gehirnes eine 
auffallend große Konstanz, — eine Tatsache, auf welche Professor 
Rieger schon vor längerer Zeit aufmerksam gemacht hat. 

Die Lokalisation der Hirnschwellung kann vorwiegend den 
Hirnmantel betreffen oder den Hirnstamm; vorwiegend das ganze 
Gehirn oder nur einzelne Teile desselben. 

Eine besondere Art stellt ferner die sogenannte innere Schwellung 
dar, d. h. die Verkleinerung des Ventrikellumens, besonders Ober dem 
Thalamus (Seitenventrikel und dritter Ventrikel), bis zum völligen Ver¬ 
schwinden des Ventrikellumens. Diese innere Schwellung scheint, soweit 
sie durch eine Schwellung des Thalamus selbst hervorgerufen wird, ein 
besonders lebensgefährlicher Zustand zu sein 1 ). Sie wird vor allem 
gefunden bei katatonischen Symptomenkomplexen (auch schwerer kata¬ 
tonischer Erregung) und bei tödlichen epileptischen bzw. epileptiformen 
Anfällen oder andern akuten epileptischen (epileptiformen) Zuständen. 
Erkannt wird die innere Schwellung an den Frontalschnitten. Die Gehirne 
müssen hierbei (wie dies in der Würzburger Klinik auch seit vielen Jahren 
geschieht) in einer ganz gleichmäßigen und einheitlichen Weise vorbe¬ 
handelt sein (Aufhängung des Gehirns an der Arteria basilaris in der 
fixierenden Formolflüssigkeit). 

Um eine innere Schwellung festzustellen, dazu muß man wissen, 
welche Weite der Ventrikel die normale ist. Diese Frage zu beantworten, 


l ) Ich habe mir schon seit langem die Vorstellung gebildet: daß der 
„äußeren“ Hirnrinde (Cortex cerebri) die „innere“ Hirnrinde gegenüber¬ 
steht, wobei ich unter letzterer das zentrale Höhlengrau verstehe, 
welches offenbar viel lebenswichtiger ist als die äußere Hirnrinde, wie 
überhaupt der Hirnstamm die eigentlichen lebenswichtigen vegetativen 
Apparate enthält. Vielleicht gehört auch ein Ein- und Austritt von Liquor 
in das zentrale Höhlengrau und aus demselben mit zu diesen zentralen 
Lebensvorgängen. Auch für das psychische Leben sind wahrscheinlich 
das zentrale Höhlengrau und die den 3. und 4. Ventrikel umgrenzenden 
Hirnteile in hohem Maße wichtig (Näheres siehe Heft 8 unserer Arbeiten 
8. 680 ff. und S. 745 ff. sowie meinen Vortrag über die Psyche, Nr. 12). 


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Reichardt, 


ist oft nicht leicht, da auch bei hirngesunden Personen durch eine terminale 
Infektionskrankheit mit infektiöser Hirnschwellung eine innere Schwellung 
hervorgerufen worden sein kann. So zeigen denn auch zahlreiche Ab¬ 
bildungen von Frontalschnitten in der Literatur das Phänomen der inneren 
Schwellung, ohne daß etwa die betreffenden Autoren beabsichtigt hätten, 
eine solche Verengerung darzustellen. Im einzelnen ist es oft sehr schwer, 
die Grenze zwischen normaler Weite der Ventrikel und beginnender innerer 
Schwellung zu ziehen, da möglicherweise die Ventrikel auch aus indivi¬ 
duellen (konstitutionellen) Gründen manchmal etwas enger sein können 
(angeborene Disposition zu innerer Schwellung bzw. zu katatonischen 
Symptomenkomplexen?). Um eine normale Weite der Ventrikel in dem 
Gehirn annehmen zu können, dazu muß man ausschließen 

1. eine akute oder chronische Hirnkrankheit und 

2. eine Todesart mit zerebralen Symptomen. 

Solche Kranke mit diesen Bedingungen sind natürlich in psychiatri¬ 
schen Instituten ganz besonders selten. Immerhin stehen mir auch einzelne 
solche Fälle zur Verfügung; und derartige Ventrikel darf man als normal 
weit bezeichnen. 

Man könnte daran denken, daß der Hirndruck als solcher auch eine 
Verengerung des Ventrikellumens herbeiführe. Dies trifft aber im allge¬ 
meinen offenbar nicht zu. Bei drei Hirnen mit großen Hirngeschwülsten, 
Hirndruck und Stauungspapille waren die Ventrikel nicht zugeschwollen 
oder zugedrückt; sie waren im Gegenteil sogar weit. Wir werden in solchen 
Fällen (und ebenso bei Urämie usw.) eine auffallende Weite der Ventrikel 
(sofern kein angeborener Hydrocephalus internus vorliegt) in Beziehung 
bringen dürfen zur vermehrten Liquorproduktion oder Liquortranssuda¬ 
tion in die Ventrikel hinein. Auch das Ventrikellumen stellt somit nichts 
Unveränderliches dar, sondern ist, ähnlich wie das Hirnvolumen, unter 
Umständen weitgehenden, manchmal wohl auch rasch eintretenden Ver¬ 
änderungen unterworfen. Ebenso gibt es allgemeine starke Hirnschwellun¬ 
gen mit normal weiten oder sogar erweiterten Ventrikeln. Der Hirndruck 
an sich schafft also keine innere Schwellung oder überhaupt stets eine 
Verengerung des Ventrikellumens. Andererseits braucht bei vorhandener 
starker innerer Schwellung das Gehirn im allgemeinen nicht stark ge¬ 
schwollen zu sein (auch wenn man einen angeborenenjHydrocephalus ex- 
ternus ausschießen kann). 

Es gibt somit 

einen allgemeinen Hirndruck mit innerer Schwellung, 

ohne innere Schwellung, 

eine innere Schwellung mit starker allgemeiner Hirnschwellung, 

oh ne hochgradige allgemeine Hirnschwellung(7 %). 

Als relative innere Schwellung bezeichnet man eine Schwellung, 
welche sich in vorher (angeboren oder später entstandenen) erweiterten 
Ventrikeln abspielt. Die Diagnose auf eine solche relative innere Schwel¬ 
lung ist vorläufig meist nur vermutungsweise zu stellen. 


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HinudnreUimg. 


B9 


Besonders weit können die Ventrikel sein 

a) infolge eines angeborenen oder in frühester Jugend entstandenen 
aktiven Hydrocephalus internus, 

b) infolge Schwundes des Hirnmantels, 

c) infolge Schwundes des Hirnstammes, 

d) infolge Schwundes von Hirnmantel und Hirnstamm, 

e) infolge aktiver Erweiterung durch Liquorüberdruck in den Ven¬ 
trikeln (Hirngeschwulst Urämie, chronische oder akute Krankheiten in 
der Umgebung des 3. und 4. Ventrikels mit sogenannten entzündlichen 
Veränderungen usw.). Man nennt auch diese Ventrikelerweiterungen 
Hydrocephalus internus (acquisitus). Jedoch unterscheidet sich diese Art 
der Ventrikelerweiterung grundsätzlich von derjenigen durch Hirnschwund 
(auch wenn sie sich mit Hirnschwund kombinieren kann). Jedenfalls sind 
die weiten Ventrikel nicht immer ein Zeichen von Hirnschwund. 

Nähere Angaben über die innere Schwellung siehe Heft 8 unserer 
Arbeiten S. 593 fl. 

6. Hirnschwellung and Hirndruck. 

Besonders zu beachten ist nun der (oft nicht berücksichtigte) 
Unterschied von Hirnschwellung und Hirndruck. Die Hirn¬ 
schwellung ist zwar sehr häufig eine wesentliche Teilursache des 
Hirndruckes. Aber Hirnschwellung ist an sich nicht 
gleichbedeutend mit Hirndruck. Der allgemeine Hira- 
druck ist zu definieren als der klinische Ausdruck eines krank¬ 
haften Mißverhältnisses zwischen Schädelinnenraum und dem, was 
er zu beherbergen hat. Hirndruck kann auch bei normalem Hirn¬ 
volumen entstehen, wenn z. B. zu viel Flüssigkeit sich im Schädel 
befindet. Ein Mißverhältnis — d. h. also Hirndruck — tritt 
aber nicht ein, wenn sich zwar das Hirnvolumen 
ständig vergrößert, aber die Flüssigkeit, speziell der 
Liquor, entsprechend verringert (s. d. Tabelle auf S. 44). 
Dann entspricht die Summe von beiden immer der Größe des 
Schädelinnenraumes. Es kommt somit nicht zum krankhaften 
Hirndruck. Und dies ist auch ein Grund, weshalb die reine, 
echte Hirnschwellung ohne krankhaften Hirndruck im Leben bei 
uneröffnetem Schädel, z. B. bei Katatonie, vorläufig nicht un¬ 
mittelbar nachgewiesen werden kann (im Gegensatz z. B. zum 
Hirndruck mit Stauungspapille). Man, kann die Hirnschwellung, 
z. B. bei katatonischen Symptomenkomplexen, nur vermuten. Es 
gibt also Hirnschwellungen ohne Hirndruck, ebenso 
wie es Hirndruck ohnfe Hirnschwellung gibt. 


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60 


Reiohardt, 


Es erscheint nicht überflüssig, noch einige Bemerkungen über den 
Begriff und das Wesen des Hirndruckes selbst anzufügen. Hlrndraek 
ist also der klinische Ausdruck eines Mißverhältnisses zwischen dem verfüg¬ 
baren Schädelinnenraum und dem, was er beherbergen muß, — in dem 
Sinne, daß der Schädelinnenraum (die Hirn-Rückgratshöhle) zu viel 
beherbergen muß. Diese Definition zeigt ohne weiteres, daß man zum 
Studium des Wesens vom Hirndruck vor allem auch die 
Kenntnis von der Größe des zugehörigen Schädelinnen- 
raumes braucht. Bis jetzt ist eine solche Schlußfolgerung aber außer¬ 
halb der Würzburger Psychiatrischen Klinik meines Wissens nicht gezogen 
worden. Und hieraus mögen sich auch die großen Verschiedenheiten der 
Anschauungen in der Lehre vom Hirndruck erklären. Man hat vor allem 
an Tieren experimentiert. Aber das Tierhirn (Hunde, Katzen, Kaninchen) 
ist, wie weiter unten gezeigt werden soll, schon normalerweise offenbar 
viel mehr „geschwollen“ als das Menschenhirn. Es lebt unter ganz andern 
Verhältnissen, ist viel mehr in den Schädel eingepreßt, hat infolgedessen 
vielleicht überhaupt eine andere Hirnmaterie. So ist es z. B. auch noch 
nicht gelungen, eine echte Stauungspapille experimentell beim Tiere 
hervorzurufen. Die sorgfältige, konsequente und systematische Anwen¬ 
dung der physikal : schen Hirnuntersuchung am Menschen scheint mir am 
mesten geeignet zu sein, die noch offenen Fragen in der Lehre vom Hirn¬ 
druck zu beantworten. Die in den Veröffentlichungen immer wieder von 
neuem erfolgende Wiedergabe früherer Anschauungen über den Hirndruck 
scheint mir nicht viel Aussicht zu versprechen, die Lehre vom Hirndruck 
weiter wesentlich zu fördern. 

Früher haben einzelne Hirndrucktheoretiker das Hirnvolumen und 
die Liquormenge als unveränderliche Größen bei ihren Ausführungen über 
den Hirndruck in Rechnung gestellt. Demgegenüber zeigt aber die physi¬ 
kalische Hirnuntersuchung, daß ebensowohl das Hirnvolumen als auch 
die Liquormenge beim Menschen an sich schon großen Schwankungen 
unterworfen sein kann. Speziell bei der Hirngeschwulst — der häufigsten 
Ursache des chronischen intensiven Hirndruckes — kann das Hirn ebenso¬ 
wohl mit Volumensvermehrung (Hirnschwellung) als auch mit Liquor¬ 
vermehrung (z. B. aktiver Erweiterung der Ventrikel, hirndruckerzeugen¬ 
dem oder hirndrucksteigerndem Hydrocephalus internus) reagieren; meist 
reagiert es mit diesen beiden Irrndruckerzeugenden oder -verstärkenden 
Veränderungen. Die Geschwulst bildet eben einen Reizzustand für das 
Gehirn, einen — wie ich mich schon 1905 ausdrückte (Nr. 1, S. 310) — 
lebenden Fremdkörper (im Gegensätze zu toten Fremdkörpern, z. B. einem 
Projektil, dessen Anwesenheit innerhalb der Schädelhöhle das Gehirn oft 
viel reaktionsloser erträgt, jedenfalls im allgemeinen nicht mit langdauern¬ 
dem Hirndruck nach Art der Hirngeschwulst beantwortet). Indes tritt 
die Hirnreaktion infolge von Hirngeschwulst bei den einzelnen Menschen 
zeitlich ganz verschieden ein. Hier mögen ebenfalls gewisse konstitutio- 


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Hmudnreihmg. 


61 


Delle Momente eine Rolle spielen, welche man aber nur zum geringen Teile 
kennt; und sodann auch der Sitz der Geschwulst, indem eine Erkrankung 
bestimmter (basaler, Rautenhirn) Hirngegenden besonders zur Hirn¬ 
schwellung disponieren kann (s. u.), eine Erkrankung in der Nahe des zen¬ 
tralen Höhlengraus besonders zur aktiven Liquorvermehrung (hirndruck¬ 
erzeugender Hydrocephalus internus). Die Liquorvermehrung beim Hirn¬ 
druck durch Hirngeschwulst ist sehr oft nicht erst eine Folge von Stauung 
(Stauungstranssudat), sondern offenbar in sehr vielen Fallen eine Folge 
von irritativen Vorgängen in der Hirnmaterie. Denn letztere ist ungemein 
empfindlich und beantwortet viele Reize u. a. mit vermehrter Liquor¬ 
produktion und Liquorströmung. Je spater das Hirn mit Hirnschwellung 
und Liquorvermehrung reagiert, um so länger kann die Geschwulst ohne 
allgemeine Symptome im Gehirn herumgetragen werden (höchstens kommt 
es zu einzelnen vorübergehenden Hirndruckepisoden infolge von vorüber¬ 
gehender Hirnschwellung oder vorübergehender aktiver Liquorvermeh¬ 
rung); um 60 größer kann gegebenenfalls die Hirngeschwulst wachsen, 
bis sie schließlich durch ihre Größe selbst, rein mechanisch, zum dauernden 
Mißverhältnis führt. 

Im höheren Lebensalter, ferner bei sehr langsam wachsenden Ge¬ 
schwülsten — Endotheliomen der Dura —■ entsteht oft ein dem Wachstum 
der Geschwulst parallel gehender lokaler oder allgemeiner Hirnschwund, 
so daß also in solchen Fällen niemals ein Mißverhältnis (oder wenigstens 
ein hochgradiges Mißverhältnis) zwischen Schädelinnenraum und dem, 
was er beherbergen muß, sich ausbildet Eine eventuell auftretende 
Geistesstörung könnte dann auch in erster Linie durch den universellen 
Hirnschwund verursacht worden sein. Wir haben also Hirndruck¬ 
psychosen, Hirnschwellungspsychosen und Hirnschwund-' 
psychosen zu unterscheiden, abgesehen von den lokalen Ausfalls- und 
Reizerscheinungen auf psychischem Gebiete infolge des Sitzes der Ge¬ 
schwulst. 

Hirndruck ist vorhanden, sobald ein Mißverhältnis vorhanden ist — 
also auch wenn die sogenannten Kompensationsvorgänge noch ausreichen 
(latenter Hirndruck). Zur Hirnkompression braucht es somit auch bei 
Vorhandensein von Hirndruck nicht zu kommen. Die eigentlichen klini¬ 
schen Hirndrucksymptome sind von A. Hauptmann (Nr. 20, S. 494) neuer¬ 
dings durch mechanische Schädigung der Hirnsubstanz (infolge Zusammen¬ 
gedrücktwerdens) erklärt worden. Daß das Gehirn im Schädelinnenraum 
kompressibel ist, dies konnte ich schon 1905 aus meinen Zahlen wahr¬ 
scheinlich machen. Nur möchte ich die Ansicht vertreten, daß auch ma¬ 
terielle Hirn Veränderungen anderer Art an dem Zustandekommen der allge¬ 
meinen sogenannten Hirndrucksymptome teilhaben (Hirnschwellung, 
vermehrte Liquorproduktion, hohes spezifisches Gewicht der Hirnsubstanz 
auch nach Aufhören des Hirndruckes, allgemeine histologische Veränderun¬ 
gen, welche ich wiederholt, ebenso wie später Redlich, nachweisen konnte). 


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Reichardt, 


Die menschliche Hirnmaterie ist eine viel zu empfindliche Substanz, als 
daß sie sich ohne reaktive Veränderungen längere Zeit hindurch stark 
komprimieren ließe. Auch die außerordentlich große elastische Expansions¬ 
kraft des gesunden und rüstigen menschlichen Hirnes bei intensivem 
chronischen Hirndruck und das Sich-wehren eines solchen Gehirns gegen 
die Kompression ist offenbar von hoher Bedeutung für die Entstehung des 
Hirndruckes. Es muß also davor gewarnt werden, eine gar zu „mechani¬ 
sche“ Erklärung des Hirndruckes vorzunehmen. 

Die Anwesenheit von Liquor ist beim Zustandekommen des Hirn¬ 
druckes zweifellos von sehr großer Wichtigkeit. Aber es ist auch nicht an¬ 
gängig, in allen Fällen der Liquorvermehrung allein die Schuld an dem 
Zustandekommen des Hirndruckes zuzuschreiben. Meist ist, wenn es 
beim erwachsenen Menschen zum chronischen Hirndruck kommt, auch die 
feste Substanz im Schädel vermehrt (entweder durch das Wachstum der 
Geschwulst selbst oder aber durch Hirnschwellung). Ebenso entsteht der 
sogenannte Hydrocephalus internus bei Hirngeschwülsten häufig nicht 
auf „mechanischem“ Wege, z. B. durch Kompression oder Verlegung des 
Aquäduktes oder einer großen Vene, sondern sehr oft als unmittelbare 
aktive Reiz- oder Reaktionsveränderung des Gehirns und anscheinend 
besonders des zentralen Höhlengraus. Weitere Ausführungen über den 
Hirndruck s. Heft 8 unserer Arbeiten S. 444 ff. 

i Vom chronischen Hirndruck ist der akute Hirndruck bzw. die akute 
Steigerung eines schon vorhandenen chronischen Hirndruckes zu unter¬ 
scheiden. Der akute Hirndruck (die akute Steigerung) ist in vielen Fällen 
die unmittelbare Todesursache. Er kann auch bei Hirngeschwülsten ganz 
akut zum Tode führen, ohne daß ein deutlicher chronischer Hirndruck 
vorausgegangen ist. Erst die regelmäßige Bestimmung des Schädelinnen- 
raumes an der Leiche hat den akuten Hirndruck als Todesursache, seine 
Häufigkeit und Wichtigkeit kennen gelehrt. -j 

v Endlich noch ein Wort zur Namengebung. Mit Recht wird vom 
allgemeinen Hirndruck der lokale Druck unterschieden. Aber auch der 
letztere wird von manchen Autoren schlechtweg „Hirndruck“ genannt. 
Es ist sogar vorgekommen, daß ein Autor in dem gleichen Abschnitt seines 
Aufsatzes ohne Unterschied oder Zusatz das Wort „Hirndruck“ gebraucht, 
wobei er bald den allgemeinen Hirndruck und bald den lokalen Druck 
meint. Daß hierdurch Irrtümern und Mißverständnissen Tür und Tor 
geöffnet wird, liegt auf der Hand. Auch die JTocAersche Auffassung der 
Hirnerschütterung im Sinne der akuten Hirnpressung hat offenbar mit 
Hirndruck im Sinne eines Mißverhältnisses nichts zu tun. Ich möchte daher 
die Bitte aussprechen: das Wort „Hirndruck“ nur im Sinne von „allge¬ 
meinem Hirndruck“ bzw. im Sinne der obigen Definition (Mißverhältnis 
zwischen verfügbarem Schädelinnenraum und dem, was er beherbergen 
muß [Hirngeschwulst, Hirnschwellung, Liquor, Blut, Zysteninhalt usw.J) 
zu gebrauchen und das Wort Hirndruck in jeder andern Bedeutung oder 


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Hirns chwellung. 


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sprachlichen Verwendung („lokaler Hirndruck“) zu vermeiden. Man 
kann die letztere Bezeichnung durch „lokalen Druck“, „lokale Hirnkom¬ 
pression“ usw. ersetzen. 

Vom Hirndruck ist die Expansionstendenz des Gehirnes (z. B. auch 
beim Auftreten einer Hirnschwellung) bei breit eröffnetem (trepaniertem) 
Schädel zu unterscheiden. Bei sehr breiter Eröffnung des Schädels ver¬ 
schwindet der Hirndruck. Die Vergrößerungstendenz des Gehirns kann 
dagegen bleiben und z. B. zum Hirnprolaps führen, welcher sich dann 
wieder infolge des Verschwundenseins des Hirndruckes und infolge der 
Besserung der Lebensbedingungen in der Hirnmaterie hierdurch langsam 
zurückbilden kann. Bei ungenügend eröffnetem Schädel kann aber auch, 
trotz der Schädeleröffnung, noch echter Hirndruck im Schädelinnern 
herrschen. 

II. Die Himsehwellnngen bei Hirnverletzungen and trau¬ 
matischen Hirnerkrankungen. 

Himschwellung ist also von Hirn druck grundsätzlich zu 
trennen. Sehr häufig ist es allerdings so, daß die gleiche exogene 
Hirnschädigung, welche zur Volumensvergrößerung des Gehirnes 
im Sinne der Hirnschwellung fährt, auch die Liquorproduktion 
vermehrt. Die einer solchen Hirnschwellung parallel gehende 
Vermehrung der Liquorproduktion (oder das Erscheinen eines 
eiweißreicheren serösen Exsudates) kann bis zu einem gewissen 
Grade als charakteristisch für den exogenen Charakter der Him¬ 
schwellung betrachtet werden. Oder umgekehrt: Kommt es zur 
aktiven Liquorvermehrung (durch Infektion, Intoxikation, 
Himgeschwulst usw.), so pflegt aus der gleichen Ursache auch 
eine Hirnschwellung aufzutreten, sofern Hirndruck entsteht. 
Die Fälle, bei welchen beim Erwachsenen durch Liquorvermehrung 
allein, ohne gleichzeitige Vermehrung fester Substanz im Schädel, 
ein langdauerader hochgradiger Hiradruck mit Stauungspapille 
hervorgerufen wird, sind, wie gesagt, selten. Entwickelt sich ein 
starker und längerdauernder Hiradruck, dann ist, außer dem 
Liquor, meist auch die feste Substanz im Schädelinnenraum ver¬ 
mehrt. Beim chronischen Hiradruck liegt häufiger eine Ver¬ 
mehrung fester Substanz im Schädelinnenraum vor, als bisher 
angenommen wurde. Wenn also keine entsprechend große Him¬ 
geschwulst vorhanden ist, dann ist es die Hirnschwellung, 
welche zusammen mit dem Liquor den Hiradruck verursacht. 


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Reichardt, 


So ist es denn auch überwiegend wahrscheinlich, daß bei der 
Meningitisserosa, der nicht-eitrigen Enzephalitis, 
bei vielen Fällen von sogenanntem Hirnödem — 
gerade auch im Gefolge von Hirnverletzungen — neben der 
Liquorvermehrung auch Hirnschwellungsvorgänge 
auftreten, sofern eben der klinische Symptomenkomplex des 
Himdruckes sich entwickelt. Wir müssen uns nur mit dem 
Gedanken vertraut machen, daß die Himmaterie selbst nicht nur 
eine äußerst empfindliche, labile, reizbare Substanz ist, sondern 
daß sie auch irgendwelche krankhafte Reize sofort — außer mit 
vermehrter Liquorproduktion — auch mit, zum Teil recht be¬ 
trächtlichen, Volumensvergrößerungen beantworten kann. 

1. Die Hirnschwellungen durch Infektion, Intoxikation, 

Hirnkontusion usw. 

Jedenfalls sind Himdruckerscheinungen bei Hirnverletzungen 
aller Art sehr häufige Vorkommnisse, wie die Kriegserfahrungen 
bewiesen haben. Und es ist nach dem bisher Gesagten sehr 
wahrscheinlich, daß auch Hirnschwellungen bei Himverletzten 
häufig Vorkommen. Genauere Untersuchungen über Schädelinnen- 
raum und Himgewicht an der Leiche sind hier dringend wünschens¬ 
wert. Vor allem wird man infektiöse Himschwellungen zu er¬ 
warten haben, ferner Hirnschwellungen bei der sogenannten 
aseptischen Meningitis serosa (Payr). Auch Stauungspapille findet 
sich in mehr als der Hälfte der Fälle und gilt als ernstes Symptom 
(Best). Einzelne Autoren (De Quervain, Anton) sprechen ferner 
unmittelbar von einer traumatischen Hirnschwellung, welche also 
ohne Infektion, auf rein mechanischem Wege, zustande kommen 
soll; und es ist bemerkenswert, daß gerade bei diesen exogenen 
infektiösen oder traumatischen, mit Liquorvermehrung einher¬ 
gehenden, Hirnschwellungen oder Himdruckerscheinungen druck¬ 
entlastende Operationen, vom Balkenstich an, sehr günstig 
wirken. Andererseits kann ohne Operation der Himdruck die 
unmittelbare Todesursache bilden. 

Die Symptomatologie der Hirnschwellungen bei Hirnver¬ 
letzungen wird, abgesehen von der Himinfektion selbst und ihren 
Folgen, in einem Teil der Fälle vom Himdruck beherrscht. Bei 


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Hirnschwellung. 


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anderen Kranken fehlen eigentliche bezw. deutliche Himdruck- 
symptome. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die inter¬ 
essante Schilderung von Alters (Nr. 35 S. 154 ff.) über das von 
ihm so genannte apathische Syndrom verweisen. Viele 
Hirnverletzte, auch solche ohne ausgedehntere und tiefgreifende 
Hirnstörungen, zeigten im akuten Stadium und bis zur Operation 
ein eigentümliches Bild von Erschwerung der Auffassung, Interesse¬ 
losigkeit, Apathie, Mangel an geistiger Spannkraft, hochgradige 
geistige Ermüdbarkeit und Trägheit, Verlangsamung der Denk¬ 
vorgänge sowie der sprachlichen und motorischen Reaktionen. 
Stärkere Kommotionssymptome haben gefehlt. Die Operation 
brachte in den günstig verlaufenden Fällen einen durchgreifenden 
Umschwung. Das Syndrom verschwand. Alters zieht zum Ver¬ 
gleich direkt die Schilderung Redlich s über die psychischen 
Störungen bei HirngeschWülsten herbei. Vielleicht haben wir es 
auch bei solchen Hirnverletzten mit dem apathischen Syndrom 
im Sinne von Alters mit den klinischen Äußerungen mäßig starker, 
großenteils vielleicht ohne eigentlichen Himdruck einhergehender 
Hirnschwellungsvorgänge zu tun, welche durch die Operation 
gleichfalls günstig beeinflußt werden. Jedoch wird von anderen 
Autoren das Allersache Syndrom mehr im Sinne eines Mangels 
an Antrieb aufgefaßt, d. h. einer Störung, wie sie bei Stimhirn- 
schädigungen beobachtet werden kann. 

Auch die traumatisch hervorgerufenen Himschwellungen 
können anscheinend nur lokal auftreten. Dies ist von Bedeutung 
für die Lokalisationslehre. So wird z. B. einerseits berichtet: 
daß bei Stirnhimverletzungen, auch schweren, ausgesprochene 
Ausfallerscheinungen auf geistigem Gebiete durchaus fehlen können 
(Berger Nr. 36 S. 304; Brodmann 1 )), während andererseits z. B. 
Rosenfeld seine bekannte Beobachtung mit Durchschuß durch 
beide Frontallappen veröffentlicht hat (Nr. 49), wobei außer 
leichtem Himdruck während der ersten drei Tage eine fast 
zwei Monate anhaltende geistige Störung nach Art des katatonischen 
Stupors auftrat. Rosenfeld erörtert selbst die Möglichkeit einer 

>) Wie inzwischen das Referat von Kleist gezeigt hat, sind auch bei 
Stirnhirnverletzungen erhebliche Reiz- oder Ausfallerscheinungen zu beob¬ 
acht*!,, vor allem auf dem Gebiete der Affektivität und Psychomotilität. 

2 jitachrift für PiyohUtrie. LUV. 1. 6 


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Reichardt, 


Hirnschweilung. Diese kann sich im wesentlichen auf die Stirn¬ 
lappen beschränkt haben, so daß dem psychischen Symptomen- 
komplex immer noch der Wert eines Lokalsymptoms zukommen 
würde. Sie kann aber auch die basalen Ganglien mit ergriffen 
haben; und dann würde man in diesem katatonischen Symptomen- 
komplex kein ausschließliches Stimhimsymptom mehr erblicken 
dürfen. In ähnlicher Weise vermögen gewiß auch sonst lokale 
Schwellungsvorgänge in der Nähe einer Herderkrankung die 
Symptomatologie zu komplizieren. Man hat hier auch von lokalem 
Chok gesprochen. Vielleicht gehören auch einige Fälle von 
Diaschisis-Wirkung im Sinne Monakow zur lokalen Hirnschweilung, 
während bei Kranken mit stationärer Herdkrankheit (Erweichung 
usw.) in den späteren Krankheitsstadien oft genug ein über die 
Größe des Herdes hinausgehender und manchmal — auch bei 
nur kleinem Herde — recht diffuser Schwund des betreffenden 
Himteiles erkennbar ist (nachzuweisen an den exakt angelegten 
Frontalschnitten). 


2. Die Hirnerschütterung. 

Himschwellungsvorgänge können, z. B. bei einer Hirage- 
schwulst und wohl auch bei einer Hirnverletzung, offenbar von 
jeder Himstelle apsgelöst werden. Es ist aber von besonderer 
Wichtigkeit: daß die Erkrankung einzelner Hirnstellen 
in besonderem Maße geeignet ist, Hirnschwellungen 
hervorzurufen. Es sind dies die Himstellen an der Hirnbasis 
und die Rautenhimgegend. Man darf vorläufig den Satz aufstellen: 
Eine lokalisierte Schädigung des Gehirnes wird um so eher zu 
Himschwellungsvorgängen führen können, je lebenswichtiger die 
Himstelle mit dem Sitze der Erkrankung ist. Dies ist namentlich 
auch beim Bautenhirn der Fall. Von Erkrankungen des Rauten- 
hiraes und obersten Halsmarkes aus werden besonders häufig 
diffuse und hochgradige Himschwellungen hervorgerufen, welche 
allerdings in einem großen Teil der Fälle akute tödliche Hhm- 
schwellungen sind, in Anbetracht der Lebenswichtigkeit dieser 
Himgegend. Was man früher bei dem Tode Himkranker Herz- 
und Atmungslähmung nannte, dies hat sich in einzelnen Fällen, 
bei Erkrankungen des Rautenhiraes und obersten Halsmarkes, als 


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Hirnschwellung. 


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hochgradige akute terminale Hirnschwellnng herausgestellt; oder 
die Atmungslähmung ist wenigstens mit einer ganz akuten Hirn¬ 
schwellung kurz vor dem Tode einhergegangen. Jedenfalls ver¬ 
mag eine Lokalerkrankung des Rautenhirnes und obersten Hals¬ 
markes akut zu universellen Hirnschwellnngen, d. h. zu starken 
Veränderungen des Gesamthimes zu führen. Eine Lokaler¬ 
krankung des Rautenhirnes kann somit auch für die 
gesamten Großhirnfunktionen von Bedeutung werden. 
Ich habe schon seit vielen Jahren auf dieses Phänomen hin- 
gewiesen. Aber es scheint, daß man sich ganz allgemein noch 
gar nicht dieser Erscheinung bewußt geworden ist und was sie 
für die Hirnphysiologie, Hirnpathologie und Psychologie bedeutet. 
Für mich war dieses Phänomen einer von den Gründen, welche 
mich zu meiner Auffassung über das Wesen des Psychischen 
geführt haben (Nr. 12 und Nr. 13 S. 10 ff.). 

Ich habe diese Ausführungen hier gebracht im Hinblick auf 
die Frage nach dem Wesen der Hirnerschütterung. Direkte 
Verletzungen der Medulla oblongata pflegen unmittelbar tödlich 
zu sein. Aber bei Verletzungen des obersten Halsmarkes bleiben 
die Kranken unter Umständen noch einige Zeit am Leben. Und 
es ist von unseren hier erörterten Gesichtspunkten aus sehr 
wichtig, daß bei Verletzungen des obersten Halsmarkes 
sehr oft von Somnolenz oder Bewußtlosigkeit die Rede 
ist. Berger (Nr. 36 S. 299 ff.) und Rosenfeld (Nr. 48) haben 
über solche Fälle berichtet. Die Schlußfolgerungen, welche Berger 
auf Seite 300 bezüglich des Schlafes aus diesen seinen Beob¬ 
achtungen zieht, habe ich selbst schon früher gezogen und ver¬ 
öffentlicht (Nr. 8 S. 263 und 275 ff.; Nr. 9 S. 702 ff.). Auch für 
die Theorie der Hirnerschütterung sind diese Beobachtungen von 
Bedeutung. Ich hatte gleichfalls schon 1912 (Nr. 8 S. 396), von 
meinen Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Hirnstamm 
und Hirnrinde und über die Wichtigkeit des Hirnstammes für das 
psychische Leben ausgehend, die Vermutung ausgesprochen: daß 
die Bewußtlosigkeit bei der Himerschütterung irgendwie ein 
Rautenhirnsymptom sei und vielleicht zustande komme durch eine 
akute Änderung des dynamischen Gleichgewichtszustandes zwischen 
Rautenhirn und Großhirn. Ich hatte schon damals darauf auf- 

6 * 


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Reichardt, 


merksam gemacht, daß bei Schußverletzungen des Großhirnes 
selbst die eigentlichen Himerschütterangssymptome sehr oft fehlen 
oder nur gering ausgeprägt sind, jedenfalls in keinem Ver¬ 
hältnisse zur Schwere der Hirnverletzung stehen, trotzdem es auch 
hier zur intensiven „Erschütterung“ des Großhirnes und zur akuten 
Hirapressung durch die Schußwirkung kommt. Dieses häufige 
Fehlen stärkerer Hirnerschütterungssymptome bei den Schu߬ 
verletzungen des Großhirnes ist im Kriege bestätigt worden (Allers 
hat dies z. B. hervorgehoben, S. 148 ff.). Und nun sind neuerdings 
von Breslauer, offenbar ohne jede Kenntnis meiner Arbeiten, aus 
der Berliner Chirurgischen Klinik für die Oblongat&theorie der 
Bewußtlosigkeit bei der Hiraerschütterung so starke experimentelle 
Beweise beigebracht worden, daß man wohl sagen kann: Die 
Bewußtlosigkeit bei der Hirnerschütterung ist irgend¬ 
wie ein Oblongatasymptom, — ein Lokalsymptom des ver¬ 
längerten Markes. Die histopathologischen Veränderungen in der 
Hirnrinde bei der Hiraerschütterung (die kleinen Blutungen, Ne¬ 
krosen usw.) genügen offenbar nicht, um die Bewußtlosigkeit selbst 
zu erklären. Wir müssen auch hier auf dynamische Erklärungs¬ 
versuche zurückgreifen. Der klinische Symptomenkomplex der 
Hiraerschütterung tritt nur ein, wenn das Rautenhira selbst, bezw. 
die Oblongata erschüttert oder gezerrt, gequetscht, gedrückt, durch 
den vorübergehend komprimierten Liquor beschädigt worden ist 1 ). 
Dann würde auch die Kochersche Theorie der Hiraerschütterung 
als einer umschriebenen Kompression des Großhirnes, gegen 
welohe Theorie ja auch von chirurgischer Seite Einwendungen 
erhoben worden sind, nicht zu Recht bestehen. 

Jedenfalls wäre es theoretisch außerordentlich interessant, 
wenn man bei solchen an Hiraerschütterung oder Haismark¬ 
verletzung Gestorbenen den Schädelinnenraum genau bestimmen 
würde und dann eine Hiraschwellung oder überhaupt ein all¬ 
gemeines Mißverhältnis zwischen Schädelinnenraum und Hirn plus 
Liquor feststellen könnte. So hat Borihoeffer von einem Falle 

*) VgL auch die histologischen Befunde, welche A. Jacob bei experi¬ 
mentellen Hirntraumen an Tieren vor allem in der Medulla oblongata er¬ 
hoben hat. HistoL u. histopathoL Arbeiten von Nissl u. Alzheimer Bd. 5, 
1913. Z. B. S. 227 fl., 324. 


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Hirnschwelltug. 


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ausgesprochener Himschwellnng nach Hirnkontnsion berichtet; 
indes war die Ätiologie dieses Falles nicht ganz eindeutig, da 
ebensowohl ein Tod im Chok als auch eine Gasphlegmone 
konkurrierten. — Daß etwa, wie man früher annahm , eine reflek¬ 
torische Rindenanämie die Bewußtlosigkeit bei der Himer- 
schütterung hervorrufe, dafür haben sich experimentell keine 
Anhaltspunkte ergeben, wie überhaupt vieles von dem, was man 
früher der Vasomotorentätigkeit im Gehirn zuschrieb, in Wirklich¬ 
keit Vorgänge in der Himmaterie sind und zum Teil unmittelbar 
in das Gebiet der Hirnschwellung gehören. 

Wenn ich sage: die Bewußtlosigkeit bei Hirnerschütterung ist ein Ob* 
longatasymptom, so sage ich hiermit selbstverständlich nicht, daß das 
Bewußtsein selbst in der Oblongata „lokalisiert“ sei. Als Organ des Be¬ 
wußtseins gilt allgemein die Hirnrinde. Irgendwie bewiesen ist diese An¬ 
sicht jedoch ebenfalls nicht. Und es fragt sich, ob nicht auch hier dem 
Hirnstamm eine viel größere Aufgabe, in Beziehung zu unserem psychischen 
Leben, zufällt, als man bisher annahm (s. hierzu Heft 8 unserer Arbeiten 
S. 680 (T.). Aber auch wenn man die Hirnrinde als Organ des Bewußtseins 
betrachtet, so kann doch durch eine Hirnstamm- (Raute nhirn-, Oblongata-) 
erkrankung und infolge einer sekundären Störung des dynamischen Gleich¬ 
gewichtes zwischen Hirnstamm und Hirnmantel auch eine Bewußtlosigkeit 
eintreten. Der Beweis für eine solche sekundäre Veränderung des Gesamt- 
hirnes würde eben die vorhandene Hirnschwellung sein. 

Wenn im Gefolge von lokalen Hirnstamm-, Oblongata- und Hals¬ 
markverletzungen universelle Hirnschwellungen gleichfalls auftreten 
können, dann müssen wir wohl auch bezüglich des Zustandekommens der 
traumatischen Hirnschwellung zwei Arten unterscheiden: die durch di¬ 
rekte Großhirnkontusion und die indirekt, auf dem Umwege einer 
Störung des dynamischen Gleichgewichtes zwischen Hirnmantel und Hirn¬ 
stamm zustande kommenden Hirnschwellungen. Dementsprechend werden 
auch die klinischen Symptome ganz verschieden sein können. 

Man sieht gleichzeitig hieraus: wie kompliziert auch bezüglich der 
Hirnerschütterung und ihrer Symptome die Verhältnisse liegen: 

1 . Die Bewußtlosigkeit ist, ebenso wie Erbrechen und Pulsanomalie, 
ein Oblongatasymptom. 

2 . Der eventuell vorhandene, länger dauernde amnestische Sym- 
tomenkomplex ist ein kortikales Symptom (Parietookzipitalgegend beider¬ 
seits), welches allerdings möglicherweise auch auf indirektem Wege, durch 
eine primäre Hirnstammerkrankung, hervorgerufen werden kann. 

3. Aber auch allgemeiner Hirndruck im Gefolge einer Hirnerschütte- 
rung kann auftreten. Sofern er nicht durch eine komplizierende größere 
intrakranielle Blutung hervorgerufen wurde, wird man ihn auf eine uni* 


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Reichardt, 


verseile Hirnschwellung, verbunden vielleicht mit einer vermehrten Liquor¬ 
produktion, beziehen dürfen. 

E. Förster ist der Ansicht, daß der amnestische Symptomenkomplex 
nicht abhängig sei von einer Lokalerkrankung der Parietookzipitalrinde, 
sondern nur eine besondere Reaktionsart des Gehirns gegenüber dem allge¬ 
meinen Hirndruck darstelle. Ich möchte demgegenüber doch auf folgendes 
hinweisen: Es bestehen zunächst eine zweifellose innere Verwandtschaft 
sowie auch allerhand Übergänge zwischen dem amnestischen und dem von 
mir seit 1907 in mehreren Abhandlungen beschriebenen optisch-räumlichen 
Symptomenkomplex (s. die zusammenfassende Schilderung des letzteren 
in meinem Lehrbuch der Psychiatrie 1918, S. 40 ff.). Es sind wahrscheinlich 
überhaupt viele Störungen optisch-räumlicher Natur (oder wenigstens mit 
ihnen untermischt), welche man jetzt als AorsaÄow'Schen Symptomen¬ 
komplex bezeichnet, weil man speziell auf die optisch-räumliehen Ausfalls¬ 
erscheinungen (z. B. im Erkennen zusammengesetzter Bilder) noch zu 
wenig Aufmerksamkeit verwendet hat. Ferner tritt der amnestische 
Symptomenkomplex auch bei Hirnerschütterung besonders durch Fall 
auf den Hinterkopf auf, wobei gerade die beiderseitigen lateralen Parieto- 
okzipitalgegenden infolge des Beharrungsvermögens gegen das Innere des 
Schädeldaches geschleudert und kontundiert werden. Drittens können bei 
Hirnerschütterungen echte optisch-räumliche Störungen, untermischt 
mit dem amnestischen Symptomenkomplex, auftreten. Und wenn z. B. 
beim allgemeinen chronischen Hirndruck der amnestische Symptomen¬ 
komplex sich besonders oft zeigt, so finden wir ihn namentlich dann, wenn 
die Hirngeschwulst in der hinteren Schädelhälfte sitzt. Oder die Mechanik 
des Hirndruckes ist derart, daß die Parieto-Okzipitalgegend beiderseits 
durch denselben besonders intensiv geschädigt wird (drucksteigernder 
Hydrocephalus internus besonders in den Hinterhörnern usw.). Schwierig¬ 
keiten der lokalisatorischen Erklärung bieten lediglich die alkoholistische 
und infektiöse amnestische Störung. Hier wird man, z. B. auch an Frontal¬ 
schnitten, zu untersuchen haben: ob nicht auch bei solchen Kranken die 
Hinterhörner besonders weit und die Parieto-Okzipitalgegenden in besonde¬ 
rem Maße geschrumpft oder sonst irgendwie geschädigt sind. Auch an eine 
elektive Giftwirkung könnte man denken. Ich glaube daher bis auf weite¬ 
res nicht, daß sich der Lokalisation des amnestischen Symptomenkom- 
plexesunüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellen, wenn ich auch ohne 
weiteres zugebe, daß oft genug die zugrunde liegende Schädigung oder Er¬ 
krankung des Gehirns so diffus ist, daß das Lokalsymptom durch andere 
Erscheinungen kompliziert wird, und daß hierdurch mehr oder weniger 
der Charakter einer universellen organischen Hirnrindenerkrankung 
entsteht. 

3. Der Chok. 

Vielleicht werden wir mit der Möglichkeit zu rechnen haben, 
daß auch der Chok mit Hirnschwellungsvorgängen in Beziehung 


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Hirnschwellung. 


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stehen kann. So sehr mit der Diagnose „Nervenchok“ Unfng 
getrieben wird, so gibt es doch zweifellos auch eine echte Chok- 
wirkung. Man darf sie definieren als eine sehr intensive, plötzlich 
eintretende, mehr oder weniger rasch vorübergehende, unter Um¬ 
ständen aber auch zum Tode führende Hemmung oder Lähmung 
der lebenswichtigen Zentren in der Oblongata. Im einzelnen 
kommt die Chokwirkung auf verschiedenste Weise zustande: 
reflektorisch vom Ausbreitungsgebiet des Vagus und Splanch- 
nikus aus; als sogenannter psychischer Chok (hier handelt es sich 
wohl nur um leichte Chokformen oder sogar um Pseudochok im 
Sinne pathologischer Reaktionen bei Psychopathie); man spricht 
vom apoplektischen Chok (plötzliche Einwirkung des Schlag¬ 
anfalles auf die Oblongata); vom lokalen Chok im Sinne der 
Monakowschen Diaschisislehre; vom chirurgischen Chok, wobei 
der Kranke nach einer schweren peripheren Verletzung rasch 
unter Kräfteverfall zugrunde gehen soll, ohne daß man eine 
eigentliche pathologisch-anatomische Todesursache findet (auch 
der Frühtod bei ausgedehnter Verbrennung gehört vielleicht hier¬ 
her). Chokkranke gleichen in hohem Maße den Ausgebluteten. 
Aber ebenso wie bei der perakuten Verblutung intensive Him- 
schwellungen Vorkommen können, ebenso muß man fragen: Ob 
nicht auch bei der akuten — namentlich der tödlichen — Chok¬ 
wirkung universelle Hirnschwellungen möglich sind? Dann hätten 
wir auch hier wieder von der Oblongata aus eine plötzliche, als 
Volumensvergrößerung sich zeigende Alteration des ganzen Ge¬ 
hirnes. Und wir könnten auch die mannigfachen psychischen 
Symptome im Gefolge einer echten Chokwirkung, die Bewußt¬ 
seinstrübung, die Delirien oder die epileptiformen Krämpfe mit 
einer Hirnschwellung in Beziehung bringen und sie uns durch 
dieselbe eher verständlich machen, v. Monakow (Nr. 43 S. 20) 
sagt mit Recht, daß die Lehre vom Chok einer völligen Um¬ 
arbeitung und vor allem auch einer Vertiefung bedürfe. Bis jetzt 
gilt die anatomische Grundlage des tödlichen Chokes als gänzlioh 
unkl ar, wie dies auch Oaupp bezüglich des tödlichen Chokes in¬ 
folge des enormen Luftdruckes nahe vorbeisausender Granaten 
(Nr. 42 S. 279) betont hat. Wenn wir künftighin bei der echten 
tödlichen Chokwirkung auch Hirnschwellungen finden, dann würden 


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Reichardt, 


wir uns vielleicht klarere Vorstellungen von dem Wesen des 
Chokes bilden können, wie überhaupt der Nachweis einer akuten 
tödlichen Hirnschwellung in ganz anderer Weise die Intensität 
der zum Tode führenden Himvorgänge demonstriert, als dies 
früher möglich war. 

III. Konstitutionelle Faktoren bei den Hirnschwellungen. 

Das Konstitutionsproblem hat gerade in neuerer Zeit wieder die 
Forscher beschäftigt; ich verweise auf die Monographien von Martius 
(Springer, 1914) und Julius Bauer (Springer, 1917) sowie auf die aka¬ 
demischen Vorträge der Pathologen M. B. Schmidt (Eektoratsrede, Würz¬ 
burg, 1917) und Lubarsch (Deutsche med. Wschr. 1917, Nr. 44). Vielleicht 
lassen sich nun auch an der Hand der Erfahrungen bei den HirnschWellun¬ 
gen für das Gehirn gewisse konstitutionelle Momente finden, welche wahr¬ 
scheinlich auch für die Psychiatrie von Bedeutung sind. 

Unter den Bedingungen, welche für das Vorhandensein, Zustande¬ 
kommen oder Fehlen einer Hirnschwellung wichtig sind, ist zunächst ganz 
allgemein das Lebensalter zu nennen. Während im Säuglings- und 
frühesten Kindesalter eine erhöhte Neigung des Gehirns zur Bildung eines 
Hydrozephalus zu bestehen scheint (besonders hoher Wassergehalt der 
Hirnsubstanz in diesem Lebensalter), ist — vielleicht schon vom 5. Lebens- 
jahrean—eine erhöhte Disposition des kindlichen und jugend¬ 
lichen Gehirns zur Hirnschwellung erkennbar. Vielleicht ist ferner 
das kindliche Gehirn dauernd etwas mehr „geschwollen“ als das erwachsene 
(s. hierzu Heft 1 unserer Arbeiten S. 40, ferner dieses Referat S. 81 ff.); 
vielleicht ist ein gewisses ständiges Geschwollensein des kindlichen Ge¬ 
hirnes nichts anderes als der Ausdruck einer normalen Wachstumstendenz 
des Gehirns. Differenzzahlen zwischen Schädelinnenraum und Hirn¬ 
gewicht, welche beim Erwachsenen schon als abnorm oder als krankhaft 
anzusehen wären, sind beim Kinde vielleicht noch ganz normal. Indes ist 
hierüber etwas Näheres noch nicht bekannt. Und es wäre vom hirnwissen¬ 
schaftlichen Standpunkt aus sehr wichtig und sehr zu begrüßen, wenn in 
zuverlässiger Weise über das Verhalten des Hirngewichtes im Vergleich 
zum zugehörigen Schädelinnenraum, unter Berücksichtigung der terminalen 
Krankheitserscheinungen, der Todesursache usw. bei Kindern Unter¬ 
suchungen vorgenommen würden. Bis jetzt fehlen derartige Untersuchun¬ 
gen noch völlig. Jedenfalls würde die erhöhte Neigung des kindlichen Ge¬ 
hirnes zur Hirnschwellung (namentlich zur infektiösen und toxischen) sehr 
gut zur Eigenart des kindlichen Gehirns passen, schon auf harmlose In¬ 
fektionen mit Delirien oder epileptiformen Erscheinungen zu reagieren. 
Im höheren Lebensalter überwiegt demgegenüber im allgemeinen die 
Neigung zur Hirnverkleinerung, zum Hirnschwund. Die gleiche Ursache 
(Hirngeschwulst, aber auch vielleicht eine infektiöse Hirnerkrankung), 


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Hirnschwellung. 


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welche im jugendlichen Lebensalter mit Hirnschwellung einhergeht, fOhrt 
im Oreisenalter unter Umständen eine Hirnverkleinerung herbei, woraus 
dann selbstverständlich auch ganz andere klinische Symptome sich er¬ 
geben können (S. 61). 

Aber das verschiedene Lebensalter genügt nicht, um die Verschieden¬ 
heiten im Verhalten der Gehirne bei den einzelnen Krankheiten und Krank¬ 
heitsveranlassungen zu erklären. Immer wieder fragt man sich: warum der 
eine Mensch auf eine äußere Schädlichkeit so anders reagieren kann als 
der andere, und warum der eine an einer endogenen Krankheit erkrankt 
und der andere nicht? Wir müssen hier noch mit besonderen konstitutio¬ 
nellen Faktoren rechnen. Außerdem müssen wir aber auch bei diesen 
Gedankengängen möglichst zwischen den exogen und endogen entstehen¬ 
den Hirnschwellungen unterscheiden. An einer exogen, z. B. infektiös oder 
toxisch, entstehenden Hirnschwellung kann unter Umständen jeder gesunde 
Mensch, anscheinend auch ohne konstitutionelle Faktoren erkranken, 
wenn auch naturgemäß die sogleich zu besprechenden konstitutionellen 
Momente die Entstehung auch einer exogenen Hirnschwellung und Hirn¬ 
schwellungspsychose erleichtern werden. Je stärker d ; e causa externa ist, 
um so mehr kann ein Gehirn auch ohne konstitutionelle Veranlagung 
erkranken. Je geringfügiger die causa externa ist, um so mehr muß man 
innere, endogene Faktoren annehmen und auch zu finden suchen. Man 
kann dementsprechend die jetzt zu besprechenden konstitutionellen Fak¬ 
toren in erster Linie bei den Hirnschwellungen im Zusammenhang mit 
endogenen Hirnkrankheiten feststellen, und hier in erster Linie bei 
Epilepsie und Katatonie. 

1. Die relative Mikrozephalie. 

Der erste konstitutionelle Faktor, den ich hier erwähnen 
möchte, ist die relative Mikrozephalie. 

Man versteht hierunter eine Kleinheit des Schädelinnenraumes (bzw. 
des Gehirns ohne Schwund und Schwellung), infolge welcher der Schädel- 
innenraum (das Gehirn) für das betreffende Individuum zu gering, für ein 
kleineres Individuum jedoch noch ausreichend ist, während absolut mikro¬ 
zephal nur diejenigen Personen sind, welche Schädelinnenräume (Hirne 
ohne Schwund und Schwellung) aufweisen, die bei gesunden erwachsenen 
Personen überhaupt nicht Vorkommen. Um eine relative Mikrozephalie 
nachweisen zu können, dazu braucht man somit 

1. d ; e Kenntnis des Schädelinnenraumes (denn man kann nicht die 
Hirngewichtszahl bei der Sektion unmittelbar verwenden, muß vielmehr 
feststellen, daß das bei der Sektion gefundene Gehirn nicht durch Schwund 
oder Schwellung verändert ist) und 

2 . die Kenntn : s der Körpergröße der betreffenden Person (denn die re¬ 
lative Mikrozephalie beruht eben auf einer Relation des [durch Schwund 
und Schwellung nicht veränderten] Gehirns zum zugehörigen Körper). 


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Reichardt, 


Früher hatte man, sofern man sich überhaupt mit diesem Probleme 
beschäftigte, das Hirngewicht bei der Sektion ohne Kenntnis des Schädel- 
innenraumes und das Körpergewicht bei der Sektion verwendet, um das 
„relative Hirngewicht“ festzustellen. Auf wie unsicherem Boden man 
sich hier aber bewegt, dies habe ich gleichfalls schon 1909 (Nr. 4, S. 60) 
an zwei Beispielen gezeigt. Ich habe dementsprechend damals als erster 
(ebenda S. 61 ff.) Schädelinnenraum und Körpergröße in Ver¬ 
bindung gebracht und hiermit alle Krankheitseinwirkungen auf das 
Hirngewicht und das Körpergewicht ausgeschaltet. Jedoch habe ich noch 
den Bruch des relativen Hirngewichtes von früher beibehalten und eine 
bestimmte Grenze gegen die relative Mikrozephalie festzusetzen gesucht 
(s. Heft 8 unserer Arbeiten S. 283). 

Am Lebenden ist es sehr oft nicht möglich, eine relative Mikrozephalie 
mit genügender Sicherheit zu diagnostizieren, wie ich gleichfalls schon 
1909 zeigte (Nr. 4, S. 94 ff.). Guter Ernährungszustand, dichtes Haupt¬ 
haar, große Schädelbas s, dicke Schädeldachknochen täuschen oft genug 
einen viel größeren Schädelinnenraum vor, als tatsächlich vorhanden ist. 
Die Messung des Kopfumfanges am Lebenden ist trügerisch. 
Es gibt viel mehr relative Mikrozephalien, als man nach der Größe des 
Kopfumfanges am Lebenden annehmen könnte. 

Bei der Frage der Bedeutung der relativen Mikrozephalie in 
der Hirnpathologie bin ich von der progressiven Paralyse aus¬ 
gegangen und hatte schon 1909 ausgerechnet: daß bei ihr in 
30—40% unserer Kranken eine relative Mikrozephalie festgestellt 
werden kann. Legt man die Riegersche Tabelle als einheitlichen 
Maßstab zugrunde, und läßt man die relative Mikrozephalie von 
einem Schädelinnenraum an beginnen, der wenigstens 10% unter 
dem Durchschnitte liegt, so sind sogar 50% unserer Paralytiker 
relativ mikrozephal gewesen. 

Ich glaubte, in dieser relativen Mikrozephalie ein konstitu¬ 
tionelles Moment für diese an sich exogene Himkrankheit er¬ 
blicken zu dürfen. Professor Rieger hat seinerseits die Ansicht 
ausgesprochen: daß die relative Mikrozephalie überhaupt 
als Zeichen einer gewissen erhöhten Disposition zu 
Hirnkrankheiten, also nicht nur zur progressiven Para¬ 
lyse zu betrachten sei. Man findet in der Tat gerade auch 
bei Himschwellungskranken die relative Mikrozephalie sehr häufig. 
Nun ist hier allerdings selbstverständlich der folgende Einwand 
zu erheben — und ich habe ihn mir gemacht —: Ist die rela¬ 
tive Kleinheit des Schädelinnenraums, welche wir als relative 


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Hirnschwellung. 


7ö 


Mikrozephalie bezeichnen, nicht überhaupt, auch bei danemd Hirn- 
und Geistesgesunden ein sehr häufiger Zustand, — ein so 
häufiger Zustand in der Bevölkerung, daß ihm eine Bedeutung 
für die Hirnpathologie überhaupt nicht zukommt? Hierüber sind 
noch sehr ausgedehnte weitere Untersuchungen an völlig und 
dauernd Geistesgesunden notwendig, unter Berücksichtigung der 
Todesart und der terminalen zerebralen Symptome. Bevor solche 
ausgedehnte Untersuchungen noch nicht vorliegen, wird man auch 
in den Schlußfolgerungen bezüglich der konstitutionellen Wichtig¬ 
keit der relativen Mikrozephalie zurückhaltend sein müssen. 

über die Berechnung der relativen Mikrozephalie ist folgendes zu 
sagen: Meine bis 1914 gebrauchte Methode war nicht einfach und auch 
nicht anschaulich genug. Namentlich ließen sich die Werte nicht unmittel¬ 
bar miteinander vergleichen. Alle diese Nachteile werden durch die 
Ätegerschen Tabellen (s. unten; vgl. auch Heft 8, S. 354 ff.) beseitigt. 
Wenn als ein Haupterfordernis wissenschaftlicher Methoden die möglichste 
Einfachheit und Übersichtlichkeit gilt, so wird durch die Äi'egerschen 
Tabellen diese Forderung im weitgehendsten Maße erfüllt. Freilich ist 
jahrelange intensive Arbeit nötig gewesen, bis diese Einfachheit erreicht 
war. Denn die einfachste Lösung eines Problems ist oft genug auch die 
schwierigste. 

Wir betrachten somit die Körpergröße des Kranken als 
maßgebenden Faktor bei der Berechnung der relativen 
Mikrozephalie. Die Körpergröße des Kranken ist demnach nicht nur in 
der Pathologie des Körpergewichtes und des Stoffwechsels bei Hirnkranken 
eine ganz unentbehrliche Zahl, wie ich in meinen beiden Arbeiten 1911 und 
1912 über das Verhalten des Körpers bei Hirnkrankheiten dargetan habe 
(Heft 6 und 7 unserer Arbeiten). Sondern die Körpergröße des Kranken 
ist auch unentbehrlich, um über das Hirngewicht (ohne Schwund und 
Schwellung) bzw. über den Schädelinnenraum des Hirnkranken etwas 
auszusagen. Wenn man die Größe des Schädelinnenraumes unbedingt 
braucht, um über die Größe des Gehirns bei der Sektion (Schwund oder 
Schwellung?) Gewißheit zu erlangen, so braucht man nunmehr auch die 
Körpergröße des Kranken, um an die Größe des Schädelinnenraumes 
(Mikrozephalie?, Makrozephalie?, Hydrozephalie?) einen geeigneten und 
einheitlichen Maßstab anlegen zu können. Wie die Körpergröße in wissen¬ 
schaftlicher und exakter Weise bestimmt werden soll, dies hat Professor 
Rieger neuerdings selbst ausgeführt (Heft 9 unserer Arbeiten). 

Man legt also die Körpergröße des Kranken der gesam¬ 
ten physikalischen Hirnuntersuchung und besonders auch 
der Untersuchung Über die Größe des Schädelinnenraumes 
zugrunde. Früher galt allgemein der Satz — und auch ich habe ihn 


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Reichardt, 


vertreten —: daß bestimmte Beziehungen zwischen Körpergröße und 
Schädelinnenraum nicht ersichtlich sind (so groß sind also die individuellen 
Verschiedenheiten der Schädelinnenräume!). Jetzt sagen wir gerade um¬ 
gekehrt: Die Körpergröße des Kranken ist für die Unter¬ 
suchung in erster Linie maßgebend. Die Rechnung selbst ist 
höchst einfach und beruht auf ähnlichen Grundsätzen wie die Berechnung 
der Differenz in Prozenten zwischen Schädelinnenraum und Hirngewicht 
(S. 38). Die Gleichung lautet: 

Schädelinnenraum bei der Sektion. 100 

y =- 

durchschnittlicher Schädelinnenraum. 

Relative Mikrozephalie ist vorhanden, wenn y =* DO 
oder noch weniger ist, d. h. wenn der Schädelinnenraum um wenig¬ 
stens 10 % kleiner ist als der durchschnittliche Schädelinnenraum für die 
betreffende Körpergröße. Ein Mann von 170 cm Größe z. B. sollte einen 
Schädelinnenraum von 1630 ccm haben. Hat er bei der Sektion 1550 ccm, 
dann ergibt die Berechnung y = 95, d. h. der Schädelinnenraum ist nur 
um 5% unter dem Durchschnitt. Eine relative Mikrozephalie ist in diesem 
Falle noch nicht anzunehmen. Ist der Schädelinnenraum bei 170 cm 
Körpergröße aber nur 1400 ccm groß, dann ist y = 86; der Schädelinnen¬ 
raum ist um 14% zu klein; eine relative Mikrozephalie ist hier schon vor¬ 
handen. Derartige Mikrozephalien (bis 25% unter dem DurchschnittI) 
finden sich nun auch auffallend häufig zusammen mit endogenen Hirn¬ 
schwellungen. 

Ob die relative Mikrozephalie — namentlich auch in ihren stärkeren 
Graden (20% oder mehr unter dem durchschnittlichen Schädelinnenraum 
für die Körpergröße) — als ein konstitutioneller Faktor für die Hirnkrank¬ 
heiten zu betrachten ist, dies bedarf also noch weiterer Untersuchungen. 
Jedenfalls ist aber die relative Mikrozephalie, sogar in stärkerer Ausbil¬ 
dung — wenigstens bei den Kranken der psychiatrischen Institute — nach 
den Erfahrungen der Würzburger psychiatrischen Klinik ein sehr häufiger 
Befund. Mit Sicherheit erkannt wird sie nur durch die Bestimmung des 
Schädelinnenraumes bei der Sektion, unter Berücksichtigung der Körper¬ 
größe und des durchschnittlichen Schädelinnenraumes. Ohne Kenntnis 
der Schädelinnenraumszahl wird, wie schon die einleitenden Bemerkungen 
und das Beispiel auf S. 36 darlegten, eine niedrige Hirngewichtszahl zur 
Fehldiagnose auf „Hirnatrophie“ führen. Mikrozephalie und Hirnschwund 
können sich kombinieren, gewissermaßen addieren und eine viel stärkere 
Hirnatrophie Vortäuschen, als tatsächlich vorliegt. Andrerseits heben sich 
Mikrozephalie und Hirnschwellung auf, wenn man nur das Hirngewicht 
allein berücksichtigt; dann bleiben bei der bloßen Hirnwägung ebensowohl 
die Mikrozephalie wie die Hirnschwellung unentdeckt (wie dies ja bisher 
auch außerhalb der Würzburger Klinik im allgemeinen stets der Fall war). 

Daß man angesichts aller dieser Möglichkeiten und Schwierigkeiten, 
und besonders auch angesichts der Häufigkeit einer relativen Mikrozephalie, 


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Himschwellung. 


77 


mit durchschnittlichen Zahlen von Hirngewichten, ohne Kenntnis der zu¬ 
gehörigen Schadelinnenräume, in der Hirnpathologie nichts anfangen kann, 
dies liegt so sehr auf der Hand, daß es völlig unverständlich bleibt, wie 
immer wieder gerade bei Paralytikern (dann aber auch bei Hirngeschwül¬ 
sten, Katatonien usw.) mit bloßen Hirngewichtszahlen oder sogar mit 
Durchschnittszahlen gearbeitet wird. Ein hochangesehener Autor, der 
das Krankheitsbild der „Kriegsparalyse“ aufstellen wollte, hat noch im 
Jahre 1916 mit Durchschnittszahlen von Hirngewichten Paralytischer 
gearbeitet, ohne im geringsten das ungemein häufige Vorkommen der 
relativen Mikrozephalie gerade bei progressiver Paralyse zu berücksichtigen. 
Er setzte einfach: niedriges Hirngewicht = Hirnatrophie. Ein anderer 
Autor (dessen Arbeit über Hirngewicht und Schädelinnenraum bei psychi¬ 
schen Krankheiten auch sonst ein Musterbeispiel dafür darstellt, wie eine 
solche Arbeit nicht sein soll) meint sogar: die relative Mikrozephalie 
meiner Paralytiker sei überhaupt nicht bewiesen. 

Ich habe schon seit vielen Jahren darauf aufmerksam gemacht, 
daß die makroskopische Diagnose auf Hirnatrophie ohne 
Bestimmung des zugehörigen Schädelinnenraumes überhaupt 
viel zu unsicher und oft direkt falsch ist. Noch neuerdings 
(Heft 8 unserer Arbeiten S. 639) konnte ich nachweisen, daß eine makro¬ 
skopische Stirnhirnatrophie bei der progressiven Paralyse meist gar nicht 
bewiesen ist. Es war mir eine große Genugtuung, daß nunmehr auch von 
anderer Seite ähnliche Anschauungen ausgesprochen worden sind. Wil- 
manns und Ranke schreiben bezüglich der makroskopischen Diagnose auf 
Hirnatrophie wörtlich (Fall Dahl, Beiträge von Nissl Band I, Heft 3. Berlin, 
Springer, 1915, S. 36): 

„Zur Frage des makroskopischen Nachweises einer Großhirn¬ 
rindenatrophie ist folgendes zu bemerken: Wenn dieselbe nicht auf den 
ersten Blick als solche zu erkennen ist (Verschmälerung der. Rinde etwa 
um die Hälfte, hochgradiger Hydrocephalus externus und internus), oder 
wenn das Hirngewicht nicht stark reduziert ist (Vergleich zwischen dem 
Hirngewichte der Hemisphären und der anderen Hirnpartien), so glauben 
wir nach unseren Erfahrungen mit dem Urteil einer Atrophie sehr vor¬ 
sichtig sein zu sollen. Denn es hat sich wiederholt gezeigt, daß bei einer 
makroskopisch angenommenen Atrophie die histologischen Charaktere 
einer solchen nicht gefunden wurden. Besondere Berücksichtigung ver¬ 
dient die Tatsache, daß normalerweise Windungs- und Furchenbreite 
an den einzelnen Stellen des Großhirns sehr verschieden sind. Speziell 
sind manche medialen und basalen Teile des Kortex ausgezeichnet durch 
relativ schmale Rindenbreite und weite Furchen. Dazu kommt noch, daß 
die makroskopische Abgrenzung der Rinde gegen das Mark oft große 
Schwierigkeiten bereitet (verschiedene Blutfüllung der Gefäße, Wasser¬ 
gehalt von Rinde und Mark).“ 

Aber selbst die einschränkenden Bedingungen dieser Autoren bei 
der Diagnose auf Hirnatrophie sind nicht ganz zutreffend: Ein hochgradiger 


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Reichardt, 


Hydrocephalus externus oder internus kann angeboren sein (auch ohne 
charakteristische Kopfform), oder es kann ein aktiver (Hirndruck erzeugen¬ 
der) Hydrozephalus ohne Hirnschwund vorliegen; die starke Reduktion 
des Hirngewichtes kann nur eine scheinbare und Folge von relativer Mi¬ 
krozephalie sein; der Vergleich des Gewichtes der Hemisphären mit dem¬ 
jenigen der andern Hirnpartien täuscht, da ein Hirnschwund bald ganz 
harmonisch in allen Hirnteilen vor sich geht, bald aber auch z. B. das Klein¬ 
hirn stärker oder weniger stark, auch isoliert oder überhaupt nicht befällt, 
wie ich dies alles schon früher bewiesen habe. Es bleibt gar nichts ande¬ 
res übrig als entweder auf die makroskopische Diagnose auf Hirn¬ 
atrophie im wesentlichen zu verzichten oder aber den Schädelinnen- 
raum zu messen. 

2. Die Osteosklerose des Schädeldaches. 

Das zweite, möglicherweise konstitutionelle Moment, welches 
sich ans der physikalischen Hirnnntersuchung ergibt, ist das auf¬ 
fallend hohe spezifische Gewicht des Schädel¬ 
daches bei zahlreichen Himschwellungen. Ich bezeichne diesen 
Zustand des hohen spezifischen Gewichtes vorläufig kurz als 
„Osteosklerose“, möchte aber betonen, daß ein derartiges hohes 
spezifisches Gewicht des Knochens auf zweierlei Weise zustande 
kommen kann: 1. durch ein besonders hohes Gewicht der Knochen¬ 
substanz als solcher, bei normalen Hohlräumen des Knochens 
(Eburnisation); und 2. durch Verengerung der Knoohenhohlräume 
selbst und Verminderung der organischen Substanz (Sklerosierung 
im engeren Sinne). Es handelt sich also hier nicht stets um 
einheitliche Zustände oder Vorgänge, so daß noch weitere Unter¬ 
suchungen, auch histologischer Art, über die Beschaffenheit des 
Knochens notwendig sind. Man findet das auffallend hohe spezi¬ 
fische Gewicht des Schädeldachknochens, außer beiHimschwellungen, 
sehr oft auch bei akuten katatonischen Symptomenkomplexen 
(welche zu den Himschwellungen eine innere Verwandtschaft 
haben können), während im weiteren Verlauf der Katatonie oder 
Dementia praecox das spezifische Gewicht des Schädeldaches 
außerordentlich niedrig werden, d. h. eine Osteoporose eintreten 
kann. 

Normalerweise beträgt das spezifische Gewicht des Schädel¬ 
daches in frischem Zustande (von allen anhängenden'Weichteilen, 
befreit) gegen 1700. Bei zahlreichen Himschwellungen haben wir 


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HimachweUung. 


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aber Zahlen Aber 1800, ja bis 1940 (auch bei katatonischer 
Paralyse) gefunden. Die osteosklerotischen Schädeldächer sind 
ferner oft auffallend dünn und erscheinen daher als absolut leicht, 
so daß das hohe spezifische Gewicht des Knochens erst bei der 
systematischen Untersuchung mit Hilfe der Wage zutage tritt. 
Im Gegensatz hierzu sind die eigentlichen voluminösen Schädel¬ 
dächer spezifisch nicht schwer, sogar spezifisch leicht; sie er¬ 
scheinen nur infolge ihrer Dicke absolut schwer. 

Auch bei dem hohen spezifischen Gewicht des Schädeldaches 
kann es sich um eine reine individuelle (konstitutionelle) Anomalie 
handeln, welche möglicherweise nicht ohne Bedeutung für die 
Himfunktionen ist. Jedoch sind auch noch andere Erklärungs¬ 
versuche für diese Osteosklerose möglich. Vertreter der inner¬ 
sekretorischen Richtung in der Psychiatrie werden vielleicht 
geneigt sein, in der Osteosklerose das Resultat einer Störung der 
inneren Sekretion zu erblicken. Die Resultate der physikalischen 
Himuntersuchung haben also auch für die Lehre der inneren 
Sekretion Interesse. Auch die Möglichkeit trophischer Beein¬ 
flussung des Schädelknochens im Sinne einer Sklerosierung er¬ 
scheint nicht ganz ausgeschlossen (ähnlich wie bei der Tabes ihr 
Gegenstück, eine Osteoporose des Schädeldaches, eintreten kann). 
Man könnte endlich sogar daran denken, daß ein chronisch 
geschwollenes Gehirn einen dauernden Reiz auf das Schädeldach 
ausübt, infolge wovon es sklerosiert. Dann würde die Ursache 
der Osteosklerose in der Hirn Schwellung selbst liegen. Wie dem 
auch sei, so besteht zweifellos bis auf weiteres der Eindruck, 
daß die Beschaffenheit der Schädeldachknochen nicht ganz ohne 
innere Beziehung zu bestimmten Hirnkrankheiten ist. 

Das eine Schädeldach hat also vielleicht aus angeborener Anlage ein 
sehr hohes spezifisches Gewicht bzw. ist sklerotisch. Das andere ist 
vielleicht erst so geworden. 

Ferner habe ich oben ausdrücklich nur von akuten katatonischen 
Symptomenkomplexen gesprochen. Bei länger dauernder Dementia 
praecox kann im Gegenteil eine hochgradige Osteoporose auch des 
Schädeldaches auftreten. Man hat vor allem diese meist universelle Osteo¬ 
porose oder Osteomalazie als Beweis für den innersekretorischen Ursprung 
der Dementia praecox verwendet, muß jedoch hierbei berücksichtigen, 
daß die gleiche Osteoporose auch bei reiner Tabes oder bei Syringomyelie, 


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Reichsrdt, 


d. h. bei primären Erkrankungen des Zentralnervensystems, Vorkommen 
kann. 

Wenn ein Schädeldach sich also im Verlaufe einer Hirnkrankheit 
tatsächlich von der Osteosklerose zur Osteoporose umwandeln kann, dann 
wird man auch in bestimmten Krankheitsstadien ein normales spezifisches 
Gewicht des Knochens zu erwarten haben, lediglich als Produkt der Um¬ 
wandlung. Ein normales spezifisches Gewicht des Knochens würde somit 
nicht stets die Unversehrtheit des Knochens oder das Fehlen eines Krank¬ 
heitsprozesses daselbst beweisen. 

Die Nähte der sklerotischen Schädeldächer sind meist offen — wenig¬ 
stens zum großen Teil (Lambdanaht) — und stark gezackt. Die Naht¬ 
verknöcherungen finden sich demgegenüber vor allem zusammen mit einer 
Neigung des Schädeldaches zur Osteoporose. Doch kommen hier Aus¬ 
nahmen vor. Auch das abnorm feste Verwachsensein der Dura mit dem 
Schädeldach findet sich besonders bei spezifisch leichten Schädeldächern, 
während bei osteosklerotischen Schädeln die Dura sich meist auffallend 
leicht ablösen läßt. 

Wenn man neuerdings am Lebenden der Untersuchung des Schädel¬ 
daches (mittels Röntgenstrahlen) ein erhöhtes Interesse entgegengebracht 
hat, so glaube ich, daß die von mir beschriebene Untersuchung des Schädel¬ 
daches an der Leiche (Volumen, spezifisches Gewicht) gleichfalls wichtige 
Ergebnisse bringen wird. Jedenfalls ist diese Untersuchung des Schädel¬ 
daches an der Leiche mit sehr geringem Zeitverlust durchzuführen. Näheres 
hierüber siehe u. a. Heft 8 unserer Arbeiten S. 70 ff. Die hierzu notwendige 
Wage ist abgebildet Heft 1, S. 29 und 30 sowie Heft 4, S. 5 und 6. 

3. Die chronische Neigung des Hirnes znr Schwellang, 
erkennbar ans dem inneren Windongsrelief des Schädel¬ 
daches. 

Endlich ist oft genug innen, am Schädeldach selbst, eine 
chronische Neigung des Gehirnes zur Schwellung erkennbar, auch 
bei Personen, welche an akuter Hirnschwellung gestorben zu sein 
scheinen. Dies zeigt sich am besten am Gip sausguß des 
Schädeldaches. Ich spreche hier von einem inneren Windungs¬ 
relief des Schädels. Je mehr das Hirn in längerdauernder 
Weise eine gewisse Vergrößerungs- oder Schwellungstendenz 
besitzt, je mehr es längere Zeit hindurch gegen das Schädeldach 
drückt, um so mehr werden sich auch die Hirnwindungen am 
Schädelinnem einprägen, gewissermaßen abbilden. Je weniger 
das Hirn zur Schwellung neigt, je mehr es — z. B. auch durch 
eine Hirnschwundkrankheit oder im höheren Lebensalter — zur 


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Hirnschweilang. 


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Rnhe kommt oder sich verkleinert, oder auch wenn zwischen 
Schädel und Hirn ein angeborener (in früher Jugend entstandener) 
Hydrocephalus externus eingeschaltet ist, um so weniger werden 
sich an der Innenfläche des Schädeldaches die Windungseindrücke 
des Gehirnes vorfinden. 

Das innere Windungsrelief findet sich zunächst besonders stark bei 
erwachsenen Tieren. Es ist hier so stark, daß man statt des Gips¬ 
ausgusses des Schädels ein versteinertes Gehirn vor sich zu haben glaubt 
und daß man annehmen muß: das Gehirn dieser Tiere ist beson¬ 
ders stark in dem Schädel eingepreßt; die Differenz zwischen 
Schädelinnenraum und Hirnvolumen ist beim erwachsenen Tier eine 
bedeutend geringere als beim Menschen (wie dies ja auch die sonstigen 
Messungen und Hirnwägungen beim Tier ergeben haben); das Tier hat 
offenbar schon unter normalen Verhältnissen ein dauernd stark,,geschwolle¬ 
nes“ Gehirn (was bei Tierversuchen besonders zu beachten ist). Andrerseits 
beweisen diese Erfahrungen am Tiere, daß auch ein erhebliches Ein¬ 
gepreßtsein des Gehirns im Schädel mit „Gesundheit“ wohl verträglich 
sei n kann. Wahrscheinlich hat aber das Säugetier eine andere Hirnmaterie 
als der Mensch (größere Quellungsfähigkeit in Formollösung, s. obenS. 47; 
weniger Liquor), so daß man nicht unmittelbar vom Tierhirn auf das 
menschliche Hirn schließen darf. Auch die Tatsache, daß es meines Wissens 
beim Tiere noch nicht gelungen ist, experimentell eine echte Stauungs¬ 
papille zu erzeugen (S. 60), ist in diesem Zusammenhänge zu erwähnen. 

Das Verfahren, Schädel mit Gips auszugießen, wurde von Professor 
Rieger zuerst an Tieren durchgeführt, um durch Bestimmen des Volumens 
des Gipsblockes in möglichst genauer Weise die Größe des Schädelinnen- 
raumes beim Tier messen zu können. Dieses Verfahren hat sich nicht be¬ 
währt. Der Gips füllt die kleinen Hohlräume nicht völlig aus; er ist zum 
Teil schwer aus dem Schädel herauszulösen und zeigt manchmal eine 
Neigung zum Abbröckeln, so daß sich für derartige Versuche ein anderes 
Material (z. B. Glaserkitt) mehr eignen dürfte. Das Ausgießen der Tier¬ 
schädel mit Gips hatte aber den großen Erfolg, daß man hierdurch auf das 
Vorhandensein eines starken Windungsreliefs im Innern des Tierschädel¬ 
daches aufmerksam wurde. Professor Rieger hat daraufhin auch mensch¬ 
liche Schädel mit Gips ausgießen lassen. 

Bei den Gipsausgüssen menschlicher Schädel mfissen wir zunächst 
das Lebensalter berücksichtigen. Es ist überwiegend wahrscheinlich, 
daß das kindliche Gehirn nicht nur quellungsfähiger ist als das erwachsene, 
sondern daß es auch, schon normalerweise, ständig etwas geschwollen ist, 
wie ich dies schon 1906 vermutet habe (Heft 1 , S. 40; s. auch oben S. 72). 
In der Klinik stehen mir jedoch sehr wenige Gipsausgüsse von kindlichen 
Schädeln zur Verfügung, wie überhaupt Kinder in den psychiatrischen 
Instituten sehr seltene Gäste sind. Es wäre eine sehr dankenswerte Auf- 

ZaitMhrilt ttr PayaUatri* LXXV. 1, 6 


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Reichardt, 


gäbe für hirnwissenschaftlich interessierte Kinderärzte, das Verhalten von 
Schädelinnenraum, Hirnvolumen, innerem Block, Windungsrelief an einem 
größeren Material zu studieren. Denn bis jetzt weiß man über diese, das 
Hirnwachstum betreffenden, hirnphysiologischen Fragen noch gar nichts. 
Wenn man z. B.' gern von dem „psychischen Infantilismus“ Erwachsener 
spricht, so liegt es nahe, sich zu fragen: ob nicht auch am Gehirn selbst 
infantile Erscheinungen oder leichte Entwicklungs- oder Wachstums¬ 
hemmungen, ein Stehenbleiben der Hirnentwicklung auf kindlicher oder 
jugendlicher Stufe bei solchen Personen erkennbar sind? 

Das Maximum "von Windungsrelief eines Schädels beim Menschen, 
welches wir überhaupt beobachtet haben, stammt von einem 7jährigen 
Mädchen, welches an akuter infektiöser Chorea gestorben ist und außerdem 
die Eigentümlichkeit eines um etwa 20% zu großen Schädelinnenraumes 
ohne, Hydrozephalus hatte (also Makrozephalie und Makroenzephalie). 
Das Hirn war außerdem geschwollen (nur 4% Differenz). Das spezifische 
Gewicht des Schädeldaches dieses Kindes entspricht mit 1708 der Durch¬ 
schnittszahl des spezifischen Gewichtes Erwachsener 1 ). Das Vorhandensein 
eines starken inneren Reliefs legt die Annahme nahe, daß dieses Gehirn 
in dauernder Weise stark geschwollen gewesen ist. Ein anderes, 2%- 
jähriges idiotisches Kind hatte demgegenüber keine Spur von Windungs¬ 
relief. 

Jedenfalls wird es eine der nächsten und wichtigsten Aufgaben sein 
müssen, über das Wachstum des kindlichen Gehirns, über seine Quellungs¬ 
fähigkeit und ob es schon normalerweise im Schädel dauernd etwas ge¬ 
schwollen ist, Untersuchungen anzustellen. Hierzu eignet sich gerade auch 
das Studium des „inneren Blockes“ (d. h. des Gipsausgusses des Schädel¬ 
daches), während die zu geringe Differenz zwischen Schädelinnenraum und 
Hirngewicht nur die Hirnschwcllung anzeigt, welche auch terminal erst ent¬ 
standen sein kann. Offenbar liegen die Gründe für das verschiedene Hirn¬ 
wachstum, wenn keine schwere exogene Schädigung hinzutritt, im Hirn 
selbst. Immer wieder liest man Anschauungen, daß die Mikrozephalie 
Folge vorzeitiger Nahtverknöcherung sei, die Makrozephalie Folge zu 
nachgiebiger Schädelknochen. Diese Annahmen sind aber wohl sicher 
unzutreffend. Der kindliche Schädel ist, wie auch Anton (Nr. 16, S. 180) 
hervorhebt, sehr erweiterungsfähig. Bleibt der Schädelinnenraum trotz¬ 
dem klein (Mikrozephalie), so ist die Ursache davon im Gehirn zu suchen; 
infolge des mehr oder weniger fehlenden Hirn Wachstums hat die Ver¬ 
anlassung für den Schädel gefehlt, sich zu vergrößern. Andererseits kommt 
es nur ausnahmsweise zur echten Makrozephalie und Makroenzephalie, 
trotzdem der kindliche Schädel an sich sehr erweiterungsfähig ist. Das 


x ) Auch über das spezifische Gewicht der Schädeldächer von Kindern 
ist noch gar nichts bekannt. Bedeutet die obige Zahl von 1708 bei einem 
7jährigen Kinde bereits eine relative Osteosklerose? 


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Himschwellung. 


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wirklich gesunde Gehirn hält zur rechten Zeit im Wachstum inne und 
gibt hierdurch auch dem Schädel keine Veranlassung mehr, sich weiter zu 
vergrößern. 

Beim erwachsenen Menschen fehlt ein stärkeres Windungs- 
relief, wie gesagt, um so mehr, je weniger vom Gehirn aus ein 
Druck gegen den Schädel ausgeübt wird oder je mehr ein Hydro- 
cephalus extemus zwischen Hirn und Dura eingelagert ist (Demon¬ 
stration von Gipsausgüssen einzelner Schädel Paralytischer, Seniler 
usw., welche ein Windungsrelief mehr oder weniger vermissen 
lassen; ein Paralytikerschädel wies lediglich dem Stimhirn ent¬ 
sprechend etwas Windungsrelief auf, so daß man hieraus gleich¬ 
falls schließen konnte, daß dieser Paralytiker keine stärkere Stirn¬ 
hirnatrophie hatte, s. oben S. 77). Bemerkenswert ist bei den 
Schädeln ohne chronische Hirnschwellung die häufige starke Aus¬ 
bildung der Pacchionischen Gruben, welche wohl auf eine Ver¬ 
mehrung der Liquorzirkulation zu beziehen ist. 

Dieser Gruppe von Schädeln ohne deutliches bezw. starkes 
Windungsrelief stehen nun Schädel gegenüber, welche ein recht 
ausgeprägtes inneres Windungsrelief aufweisen. Und 
das sind vor allem die Schädel, deren Besitzer an Hirn- 
schwellung gestorben sind. Zum Teil mag, wie bei länger 
dauernden katatonischen Zuständen, die Hirnschwellung selbst 
längere Zeit bestanden und das Windungsrelief am Schädel erst 
geschaffen haben. Zum Teil aber findet sich das Windungsrelief 
auch innen am Schädel bei Personen, welche an ganz akuter 
Hirnschwellung gestorben zu sein scheinen; und dann darf man 
die Vermutung aussprechen, daß solche Personen vielleicht 
dauernd etwas geschwollene Gehirne haben. Während 
beim ganz gesunden Menschen die Differenz zwischen Schädel- 
innenraum und Hirn etwa 10% beträgt (s. oben S. 38 ff.), wobei 
das Gehirn genügend Spielraum zur Ausdehnung hat, würden 
diese Personen vielleicht dauernd eine Differenzzahl von 8 %, ja 
möglicherweise von 6% nnd noch weniger haben. Ihr Gehirn 
würde dann dauernd etwas „geschwollen“ sein; und vielleicht dürfte 
man sogar einen solchen Zustand von dauernder relativer 
Schwellung (wie er beim Kinde noch normal ist) gewissermaßen 
als infantiles Symptom auffassen. 

6 * 


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Reichardt, 


Man kann wahrscheinlich auch bei 6% (und noch weniger?) 
Differenz zwischen Schädelinnenraum und Hirn noch gut leben. 
Vielleicht aber sind diese ständig etwas geschwollenen Gehirne 
mehr gefährdet. Vielleicht bewirkt die ständige Hirnschwellung 
weitere Hirnveränderungen, sowie eine Neigung zu allerhand krank¬ 
haften Hirnvorgängen. Habituelles Kopfweh, Migräne, Disposition 
zu Epilepsie und Katatonie, bezw. zu epileptiformen und katatoni- 
formen Zuständen, dann aber auch erhöhte Neigung zu Infektions¬ 
delirien usw. könnten die Folge der chronischen Himschwellung 
oder der Neigung hiezu sein, wie überhaupt eine exogene 
Schädlichkeit oder endogene Krankheitsursache gerade solchen 
Gehirnen, die schon verhältnismäßig dauernd etwas geschwollen 
sind, bedeutend mehr schaden würde als Personen mit einem 
dauernd normalen Verhältnis zwischen Schädelinnenraum und 
Hirnvolumen. Ein gewisses inneres Relief ist möglicherweise auch 
beim Erwachsenen noch physiologisch. Aber dann kommt eine 
Grenze, von wo an es zum mindesten auffallend wird. Das 
dauernd etwas geschwollene Gehirn ist wahrscheinlich in erhöhtem 
Maße gefährdet oder zur Erkrankung disponiert, ohne daß man 
hiermit die Ansicht auszusprechen braucht, daß solche Himanlagen 
unter allen Umständen auch zur endogenen Geisteskrankheit führen 
müßten. Oft findet sich die Neigung zur chronischen Him¬ 
schwellung zusammen mit der relativen Mikrozephalie und der 
Osteosklerose des Schädeldaches. 

Auffallend war endlich bei diesen Gipsausgüssen von Schädeln mit 
starkem inneren Relief (Neigung zur chronischen Hirnschwellung) das 
geringe Ausgeprägtsein der Pacchionischen Gruben. Wir haben schon 
oben gesehen, daß Hirnschwellungen oft mit Liquorarmut einher gehen, 
und dürfen uns vielleicht vorstellen, daß auch bei der chronischen N eigung 
zur Hirnschwellung die Liquorströmung eine geringere zu sein pflegt als 
bei den Hirnen mit Neigung zur Hirnverkleinerung. Liquorströmung und 
Hirnvolumen stehen also nicht selten in alternierendem Verhalten, d. h. 
im Gegensatz. Eine Ausnahme bilden nur gewisse exogene Krankheiten, 
wie die Urämie, welche ebensowohl zur Hirnschwellung als auch zur ver¬ 
mehrten Liquorströmung disponieren, und bei welchen sich dann ebenso 
ein inneres Relief wie auch starke Pacchionische Gruben und (durch ver¬ 
mehrten Liquordruck) erweiterte Ventrikel finden können. 

Auch das Rätsel der Nahtverknöcherungen wird hierdurch vielleicht 
einem Verständnis nähergebracht (s. auch Hugo Herbert, Über die Ur- 


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HirnschweUung. 


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Sachen der Naht Verknöcherung, Inaug.-Diss., Würzburg 1914). Es wurde 
bereits oben erwähnt, daß bei hohem spezifischen Gewicht des Knochens 
die Nähte oft noch auffallend offen sind. Das hohe spezifische Gewicht des 
Knochens findet sich oft bei der Neigung zur chronischen Hirnschwellung. 
Vielleicht dürfen wir, wenigstens für einen Teil der Nahtverhältnisse am 
Schädel, annehmen, daß die Nähte offen bleiben, wenn von innen her 
dauernd gegen den Schädel ein Druck stattfindet, — sich aber schließen, 
wenn kein Druck mehr stattfindet, bzw. da schließen, wo er nicht mehr 
stat'tfindet ( Rieger ). Dieser Druck kann durch eine chronische Hirn¬ 
schwellung verursacht worden sein, aber auch durch sonstige, und zwar 
rein mechanische, Momente. Eine offene Naht braucht also nicht immer 
ein Beweis dafür zu sein, daß ein krankhafter Druck im Schädelinnern 
an dieser Stelle stattgefunden hat. 

Diese drei endogenen Faktoren der relativen Mikrozephalie, 
Osteosklerose und chronischen Neigung zur HirnschweUung können 
bei dem gleichen Kranken zusammen Vorkommen; oder es ist der 
eine oder der andere Faktor besonders ausgeprägt. 

Ich sage also nicht, daß Personen mit diesen konstitutioneUen 
Erscheinungen der relativen Mikrozephalie, der Osteosklerose und 
der chronischen Neigung zur HirnschweUung nun unter aUen Um¬ 
ständen hirnkrank werden müßten. Aber diese Faktoren bilden 
vieUeicht Dispositionen zu Erkrankungen, namentUch zu solchen, 
die in das Gebiet der HirnschweUungen gehören oder mit Him- 
schweUung einhergehen. ZweifeUos zeigen aber die obigen Er¬ 
örterungen, daß eine eingehende Untersuchung auch des Schädels, 
namentUch mit der physikalischen Untersuchungsmethode, sehr 
interessante Tatsachen feststeUen kann, welche vieUeicht auch für 
die Hirnpathologie von Bedeutung sind. 

IT. Die Methodik der physikalischen Hirnuntersuchung. 

Eine zusammenfassende DarsteUung der physikalischen Him- 
untersuchung, wie sie in der Würzburger Psychiatrischen Klinik 
im Laufe der letzten 15 Jahre ausgearbeitet und ausgebaut worden 
ist, soU später erfolgen, wenn hiefür ein Bedürfnis vorUegt. Die 
Einzelheiten dieser Untersuchungsmethoden sind aber bereits in 
den bisher' veröffentUchten Abhandlungen aus der Klinik (Nr. 1—13, 
26) in genügender Ausführlichkeit beschrieben worden, so daß 
jeder, der sich hiemit näher beschäftigen wiU, hinreichenden Auf¬ 
schluß findet. Ich begnüge mich an dieser SteUe mit einer kurzen 


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86 


Reichardt, 


Aufzählung. Die physikalische Himuntersuchung besteht zurzeit 
aus den folgenden Hauptbestandteilen: 

1. Die Bestimmung der Körpergröße (vgl. Abhandlung von 
Professor Rieger, Arbeiten aus der Würzburger Klinik Heft 9). 

2. Die wöchentliche, wenn nötig tägliche Bestimmung des 
Körpergewichtes, nach den im Heft 6—9 (namentlich Heft 7 
S. 438 ff.) angegebenen Anleitungen und Gesichtspunkten. Nur 
wird man stets statt der früher angewendeten sogenannten Drey- 
/wsschen Tabelle die i&e^ersche Tabelle zugrunde legen. Die 
exakte tägliche Wägung kann mit einer Bestimmung der Menge 
und Kalorienanzahl der genossenen Speisen und Getränke, mit einer 
Bestimmung der Menge der Ausscheidungen (Urinuntersuchung, 
spezifisches Gewicht desselben usw.) verbunden werden und ersetzt 
daün in sehr guter Weise den komplizierteren Stoffwechselversuch. 

3. Die genaue Beobachtung der terminalen klinischen Er¬ 
scheinungen und der Todesart, ebensowohl auf körperlichem 
(tägliche Körpergewichtsbestimmung bei akuten Krankheitszu¬ 
ständen, Körpertemperatur) wie auf neurologischem und psychi¬ 
schem Gebiete. Diese terminalen Erscheinungen (Heft 6 unserer 
Arbeiten) werden vom wissenschaftlichen Standpunkte aus sehr 
oft noch viel zu wenig beobachtet und studiert. Man muß sie 
aber auf das eingehendste berücksichtigen, da zusammen mit ihnen 
auch das Gehirn noch kurz vor dem Tode sehr erhebliche und 
wichtige Veränderungen eingehen kann. 

4. Die Bestimmung des Schädelinnenraums an der Leiche, 
nach meiner Schilderung in NauwercTca Sektionstechnik (Nr. 6). 

Die Zahl des Schädelinnenraums (ohne Dura) wird in Be¬ 
ziehung gebraoht 

a) mit der Körpergröße des Kranken und dem durch¬ 
schnittlichen Schädelinnenraum hierzu nach der Wiedersehen Tabelle 
(liegt Mikrozephalie vor? Makrozephalie oder Hydrozephalie?); 

b) mit dem Hirngewicht bei der Sektion (Hirnschwellung? 
Hirnschwund?); 

c) mit Hirnvolumen, Duravolumen und der bei der 
Sektion, sowie bis zur ersten Hirnwägung aufgefangenen Flüssig¬ 
keit (Liquor bezw. seröses Exsudat oder Transsudat plus Blut). 
Hieraus ergibt sich u. a. die Beantwortung der Frage: liegt Hirn- 


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Hirnschwellung. 


87 


druck vor? durch vorwiegend feste Substanz (große Geschwulst, 
Hirnschwellung)? durch Liquorüberdruck (Unterschied von raum¬ 
ausfüllendem und hirndruckerzeugendem oder himdrucksteigerndem 
Liquor)? Untersuchung des spezifischen Gewichtes der auf¬ 
gefangenen Flüssigkeit (viel Blut — hohes spezifisches Gewicht, 
1030 oder mehr; viel Liquor — niedriges spezifisches Gewicht bis 
herab zu 1005). Die Bestimmung des spezifischen Gewichtes der 
aufgefangenen Flüssigkeit ist aber für die meisten Fälle entbehrlich. 

5. Die Wägung des in seinen Schenkeln abgetrennten Klein¬ 
hirnes und das Ausrechnen der Beziehungen des gefundenen 
Kleinhirngewichtes zum zugehörigen Großhirngewicht, sowie zu 
dem, aus der Schädelinnenraumszahl berechneten Großhirngewicht 
(Heft 8 S. 268 ff.); Vergleich der bei der Sektion gefundenen 
Kleinhirngewichtszahl mit der durchschnittlichen Kleinhimgewichts- 
zahl für die Körpergröße des Kranken nach der Wiedersehen 
Tabelle (Kleinhirnschwund? Kleinhirnschwellung? bezw. von jeher 
zu kleine oder zu große Kleinhirnanlage?). 

6. Die Bestimmung des Volumens und des spezifischen Ge¬ 
wichtes des von allen Weichteilen sorgfältig befreiten und (vor 
der Gewichtsbestimmung in der Luft abgetrockneten) Schädel¬ 
daches in frischem Zustand (Abbildung der Wage im Heft 1 S. 29 
und 30). Man kann das Schädeldach auch für eingehendere 
Untersuchungen zurückbehalten (d. h: vor der Beerdigung durch ein 
anderes ersetzen), mazerieren lassen, mit Gips ausgießen lassen 
und sonstige Untersuchungen an ihm anstellen. 

7. Die Bestimmung des spezifischen Gewichtes von Großhim- 
und Kleinhirnstücken (eventuell graue und weiße Substanz getrennt) 
in besonders konstruierten, mit Aräometer und Glyzerinlösung 
von bestimmtem spezifischem Gewicht versehenen Gefäßen. 

8. Aufhängen des in Formol zu konservierenden Gehirnes 
an der Arteria basilaris. Die 10% Formollösung muß anfangs 
täglich gewechselt werden. Nach 2—3 Tagen können die ersten 
2—3 Frontalschnitte angelegt werden. Bestimmen der Gewichts¬ 
zunahme der konservierten Hirnteile in der 10% Formollösung 
(von ihnen muß das Anfangsgewicht in frischem Zustande, d. h. 
vor Verbringung in die Formollösung, nochmals bestimmt worden 
sein, falls Stücke für die histologische Untersuchung dem Gehirn 
entnommen worden sind). 


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88 


Reichardt, 


9. Anlegen der Frontalschnitte. 

Diese Unterabteilungen der physikalischen Hirnuntersuchung 
können einerseits noch sehr vermehrt und erweitert werden 
(vgl. z. B. die Beschreibung unserer gegenwärtigen Sektionsmethode 
des Gehirnes zu topographischen und ähnlichen Zwecken, welche 
ich in der Dissertation von Frl. Dr. Gertrud Wolz, Würzburg 1918, 
kurz habe veröffentlichen lassen); andererseits sind auch die 
einzelnen Bestandteile derselben recht unabhängig voneinander. 
Wer sich z. B. mit dem spezifischen Gewicht des Gehirnes und 
seiner Teile, oder der Liquorflüssigkeit, mit der Formolquellung 
nicht abzugeben wünscht, der kann diese Unterabteilungen ohne 
weiteres weglassen. 

Notwendig sind vor allem für die Hirnsektion die soeben 
unter Nr. 1, 3, 4, 6 aufgezählten Bestandteile. Der Anfänger tut 
gut daran, sich zunächst mit dem Aufsatze von Professor Bieger 
über die Meßstange im Heft 9 unserer Arbeiten aus der Klinik 
und mit meiner Methode der Schädelinnenraumsbestimmung in 
der NauwerckBchen Sektionstechnik (Nr. 6) vertraut zu machen. 
Alles weitere ergibt sich aus der praktischen Anwendung der 
Methode eigentlich von selbst (weitere Einzelheiten siehe u. a. 
Heft 8 unserer Arbeiten S. 259 ff.). Die physikalische Hirnunter¬ 
suchung ist nicht kompliziert; sie erscheint es nur demjenigen, 
der sie nicht selbst praktisch versucht. 

Wird aber die Methode angewendet, dann muß sie mit äußerster 
Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit angewendet werden. Ist 
z. B. die Schädelinnenraumszahl bei der Sektion falsch, dann ist der Fehler 
nie mehr gut zu machen, sobald die Leiche beerdigt ist. Und alle Schlu߬ 
folgerungen, welche sich aus diesem Grundpfeiler der physikalischen Hirn¬ 
untersuchung ergeben, sind gleichfalls falsch. Wie Fehler möglichst ver¬ 
mieden werden, dies habe ich schon früher eingehend besprochen (Heft 8, 
S. 275 fl.). Auch ist auf völlige Einheitlichkeit in der Befolgung der einzel¬ 
nen Vorschriften Wert zu legen (ähnlich wie bei der histologischen Unter¬ 
suchung), damit die Resultate vergleichbar sind. Es soll nicht jeder junge 
Kollege, der eben erst angefangen hat, sich mit dieser Methode zu be¬ 
schäftigen, sofort auch Verbesserungen einführen wollen. Gewiß mag die 
Methode noch sehr verbesserungsfähig sein. Aber wir haben hier selbst 
schon vielerlei durchprobiert und sind der Überzeugung, daß Vorschläge 
für vermeintliche Verbesserungen, sofern letztere die unmittelbare Ver¬ 
gleichbarkeit der Resultate beeinträchtigen, erst eingehend geprüft und 
allgemein anerkannt werden müssen, bevor sie eingeführt werden dürfen. 


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Himschweilung. 


89 


Über die Notwendigkeit der konsequenten Bestimmung der Körper¬ 
größe und des Schadelinnenraumes bei Hirnkranken oder auf Hirnkrank¬ 
heit und zerebrale Todesart Verdächtigen, ferner bei allen plötzlichen und 
unerklärlichen Todesfällen (gerichtliche Sektionen!) herrscht bei dem¬ 
jenigen, der sich überhaupt mit diesem Gegenstände eingehender befaßt 
hat und die Fragestellung beherrscht, kein Zweifel. Relative Mikro- und 
Makrozephalie, viele Fälle von Hydrozephalie, das Vorhandensein von 
Hirnschwellung, Hirnhypertrophie (wahrscheinlich bestehen Übergänge 
zwischen gewissen Arten der Hirnschwellung und der Hirnhypertrophie, 
wenn man auch im allgemeinen beide Hirnabnormitäten möglichst trennen 
muß), Hirndruck, Hirnschwund, Liquorüberdruck können ohne physi¬ 
kalische Hirnuntersuchung überhaupt nicht nachgewiesen werden. Wie 
sehr sich auch der pathologische Anatom ohne physikalische Hirnunter¬ 
suchung bei bestimmten Fragen in Ungewißheit und Verlegenheit befinden 
kann, dies zeigt z. B. die Dissertation Max Jüngster, Würzburg 1912 (Über 
die Bedeutung des Mißverhältnisses von Schädelkapazität und Hirn¬ 
volumen). Vieles von dem, was in dieser Dissertation als Frage aufge¬ 
worfen oder was bezweifelt worden ist, ist außerdem mit Hilfe der physi¬ 
kalischen Hirnuntersuchung tatsächlich schon beantwortet und sicher¬ 
gestellt worden, und wir wären in der Erkenntnis schon ein gutes Stück 
weiter, wenn die Methode in allgemeinerer Weise Anwendung gefunden 
hätte. Auch viele der Hirnlokalisation gewidmeten Fragen sind bei ihrer 
Beantwortung auf die physikalische Hirnuntersuchung angewiesen. Wie 
oft stellt es sich heraus, daß bei einer Lokalerkrankung nebenher eine allge* 
meine Hirnveränderung vor lag (Hirnschwellung, Hirnschwund) oder wenig* 
stens eine viel diffusere Schwellung oder Atrophie des betreffenden, den 
Herd beherbergenden Hirnteiles, als man dies zunächst angenommen hatte, 
überhaupt gewinnt man an der Hand der Tatsachen, welche die physi¬ 
kalische Hirnuntersuchung liefert, zahlreiche neue Anschauungen über 
das Gehirn im gesunden und kranken Zustande. Die Bestimmung der 
Körpergröße am Lebenden und des Schädelinnenraumes an 
der Leiche ist eine unerläßliche Grundlage der Hirnforschung. 
Ohne diese beiden Zahlen ist eine vollständige wissenschaftliche Hirn¬ 
untersuchung nicht durchführbar (Nr. 13, S. 573). Entweder man muß 
diese Untersuchungen gleichfalls vornehmen oder man muß auf zahlreiche 
und vielleicht sehr wichtige hirnphysiologische und hirnpathologische Fest¬ 
stellungen (relative Mikrozephalie, Hirnschwellung usw.) verzichten. Die 
physikalische Hirnuntersuchung will keine andere Hirnuntersuchung 
(namentlich auch nicht die mikroskopische) ersetzen oder verdrängen, 
sondern sie will die andern Untersuchungsmethoden lediglich ergänzen 
und beansprucht nur, neben ihnen angewendet zu werden. 

Also keine Durchschnittszahlen von Hirngewichten mehr! Keine 
Hirngewichtszahlen ohne Schädelinnenraumszahl (sie sirtd nicht nur 
nutzlos, sondern oft irreführend)! Kein fortgesetztes übernehmen früherer 


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90 


Reiehardt, 


Anschauungen, Hypothesen und Theorien (z. B. über den Hirndruck, über 
Hirngewicht und Intelligenz) aus der Literatur früherer Jahrzehnte! Viel 
zweckmäßiger als alles dieses sind neue Untersuchungen nach einheitlichen 
Methoden und Gesichtspunkten. Kein fortgesetztes Wiederholen der Ge¬ 
wichtszahlen von auffallend schweren Hirnen einiger besonders begabter 
Menschen! Die einen dieser Personen waren vielleicht körperlich sehr groß 
gewesen; sie hatten normal schwere Gehirne. Die andern sind vielleicht 
an terminaler Hirnschwellung gestorben. Die dritten litten vielleicht an 
echter Hirnhypertrophie. Bei den vierten wurde vielleicht falsch gewogen, 
oder die ausländischen Gewichtszahlen wurden falsch umgerechnet. Die 
Hirne der fünften Gruppe hatten vor der Wägung schon mehr oder weniger 
lange Zeit in Konservierungsflüssigkeiten gelegen und waren hierdurch 
viel zu schwer geworden. — Zweifellos gibt es auch eine echte Hirnhyper¬ 
trophie und Makrozephalie, zum Teil wohl auch im Zusammenhang mit 
Störungen im Gebiete der Drüsen mit innerer Sekretion. Aber dieses 
alles muß in wirklich exakter Weise erst eingehend unter¬ 
sucht und zahlenmäßig festgelegt werden. Auch darf man, 
z. B. beim Hirndruck, nicht alle Aufklärung vom Tierexperiment erwarten. 
Wir haben gesehen, daß das Tierhirn sich in wesentlichen Punkten anders 
verhält als das Menschenhirn. 

Fragt man sich endlich, wie es gekommen ist, daß die physikalische 
Hirnuntersuchung bis jetzt nur so langsam hat Boden gewinnen können, 
so sind hierfür mehrere Gründe zu nennen: Erstens ist die Entwicklung 
der physikalischen Hirnuntersuchung der letzten 15 Jahre gerade in eine 
Zeit gefallen, in welcher sich die wissenschaftliche Psychiatrie — abgesehen 
von der histologischen Untersuchung — in besonderem Maße vom Studium 
des Hirnes selbst abgewendet hatte: Psychopathologie einerseits, Serum - 
forschung, Bakteriologie (Spirochäten) andererseits nahmen das allge¬ 
meine Interesse völlig in Anspruch; die Untersuchungen nach Wassermann 
und Abderhalden beherrschten Laboratorium und Literatur. Zweitens 
entspricht die physikalische Hirnuntersuchung mit ihren einfachen, aber 
exakten naturwissenschaftlichen Methoden (Messung, Wägung, spezifisches 
Gewicht usw.) und mit der hohen Einschätzung der Zahl nicht sehr dem 
medizinischen Denken und dem medizinischen Geschmack. Demgegenüber 
Lt aber folgendes zu bedenken: Es liegen bezüglich des Gehirns ganz be¬ 
sondere Verhältnisse vor. Kein Körperorgan ist, wie das Gehirn, von einer 
festen Schale umgeben. Von keinem Körperorgan können wir mit einer 
auch nur annähernd so großen Genauigkeit sagen, wie groß dieses Organ 
sein darf bzw. sein muß. Dieser Vorteil beim Gehirn muß selbstverständlich 
ausgenutzt werden. Und drittens endlich war die Berichterstattung 
über meine Untersuchungen und deren Ergebnisse in den referierenden 
Zeitschriften zu ungenügend, teilweise fehlte sie überhaupt; manchmal war 
sie unrichtig, ja sogar entstellend und irreführend. Die wenigen Autoren, 
welche auf diesem Gebiete bis jetzt gearbeitet hatten, haben zum Teil 


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HirnBchweDong. 


91 


Einwande vorgebracht, die eigentlich völlig sinnlos waren und sich von 
selbst widerlegten, aber bei dem mit der Fragestellung nicht naher Ver¬ 
trauten Zweifel erweckten und so der ganzen Forschungsrichtung schaden 
mußten. Der eine Autor meinte, die Hirnschwellung und die relative 
Mikrozephalie seien überhaupt nicht bewiesen, der andere, die intravitale 
Hirnschwellung sei nicht bewiesen. Mit meinen eigenen Gedanken suchte 
man mich zu bekämpfen und zu widerlegen. Sogar die tägliche An¬ 
wendung der Körperwage wurde bemängelt und als „Pseudoexaktität“ 
hingestellt; und was dergleichen Beispiele mehr sind. 

Es ist auch nicht richtig, daß meine Methode zu kompliziert sei, um 
sich einbürgern zu können. Gewiß wird es nicht möglich sein, in großen 
pathologischen Instituten, mit vielen Leichenöffnungen täglich, stets den 
Schädelinnenraum zu bestimmen. Aber bei Hirnkranken und auf Him- 
krankheit Verdächtigen (s. o.), namentlich in psychiatrischen und neuro¬ 
logischen Instituten selbst, sollte bei Sektionen die physikalische Hirn¬ 
untersuchung konsequent durchgeführt werden. Die Schädelinnenraum- 
bestimmung an der Leiche nimmt für den Geübten, samt den notwendigen 
Berechnungen, kaum 15 Minuten Zeit in Anspruch; auch die übrigen, oben 
genannten Bestandteile der physikalischen Hirnuntersuchung sind sehr 
rasch zu erledigen. Wenn man bedenkt, wie unendlich viel zeitraubender 
und komplizierter zahlreiche andere (z. B. chenrsche oder bakteriologische) 
Untersuchungen sind, dann wird man die physikalische Hirnuntersuchung 
nicht als kompliziert, zeitraubend und undurchführbar bezeichnen dürfen. 
Denn andrerseits bleiben ohne Schädelinnenraumszahl viele Fragen der 
Hirnpathologie überhaupt unbeantwortet. Ein gewisses Opfer an Zeit 
und Arbeitsleistung muß aber gefordert werden können, wenn der Wissen¬ 
schaft hierdurch Vorteile entstehen. Es ist zweifellos, daß zahlreiche ab¬ 
norme Zustände des Gehirns und Schädels ohne konsequente Anwendung 
der physikalischen Hirnuntersuchung übersehen werden. 

Der Vollständigkeit halber bringe ich auch an dieser Stelle 
die Wiedersehen Tabellen, bemerke jedoch ausdrücklich, daß ich 
hier die Schädelinnenraumszahlen selbst verwende. Man kann 
außerdem die aus der Schädelinnenraumszahl berechnete (um 10% 
geringere) Hirngewichtszahl („aus gesunden Zeiten“ des 
Kranken, „ohne Schwund und Schwellung“) gebrauchen (vgl. Heft 
8 S. 355) oder aber die, ebenfalls aus der Schädelinnenraumszahl 
berechnete Zahl des Großhirnes allein (ohne Kleinhirn und 
ohne Hirnrest). Letztere Zahl hat Professor Rieger im Heft 9 
unserer Arbeiten bevorzugt. Es handelt sich also bei diesen 3 
Zahlen des Schädelinnenraums, der Zahl des gesamten Hirn¬ 
gewichtes und der Zahl des Großhirngewichtes allein, in den 


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92 


Reichardt 


Riegerachen Tabellen, stets um die gleiche Größe, nur um ver¬ 
schiedene Berechnungsarten. Die Verwendung der Schädelinnen- 
raumszahl selbst in der Tabelle ist insofern von Vorteil, als man 
sie unmittelbar mit der bei der Sektion gefundenen Schädel - 
innenraumszahl vergleichen kann. 


Die Riegerschen Tabellen. 

Durchschnittswerte des Körpergewichtes, Schädelinne n - 
raumes, Kleinhirngewichtes für die einzelnen Körpergrößen 

bei Erwachsenen. 


Körper¬ 

größe 

cm 

Körper¬ 

gewicht 

kg 

Sohädel- 

innenr&am 

com 

Kleinhirn¬ 

gewicht 

g 

Körper¬ 

größe 

cm 

Körper¬ 

gewicht 

kg 

Sohftdel- 
innenraam < 
ccm | 

Kleinhirn- 

gewioht 

g 

130 

30 

1045 

110 

158 

55 

1485 

145 

131 

31 

1070 

115 

159 

57 

1510 

145 

132 

31 

1100 

120 

160 

58 

1530 

150 

133 

31 

1100 

120 

161 

60 

1550 

150 

134 

32 

1110 

125 

162 

60 

1550 

150 

135 

33 

1120 

125 

163 

61 

1560 

150 

136 

33 

1150 

125 

164 

62 

1570 

150 

137 

34 

1180 

125 

165 

63 

1585 

150 

138 

34 

1190 

125 

166 

63 

1585 

155 

139 

35 

1200 

125 

167 

64 

1600 

155 

140 

35 

1210 

125 

168 

64 

1610 

155 

141 

36 

1220 

125 

169 

65 

1620 

' 155 

142 

36 

1230 

130 

170 

66 

1630 

160 

143 

37 

1250 

130 

171 

66 

1640 

160 

144 

38 

1265 

130 

172 

66 

1660 

160 

145 

39 

1275 

130 

173 

67 

1670 

160 

146 

40 

1290 

135 

174 

68 

1690 

160 

147 

41 

1310 

135 

175 

69 

1715 

170 

148 

42 

1320 

135 

176 

70 

1730 

170 

149 

43 

1340 

135 

177 

71 

1740 

170 

150 

44 

1365 

135 

178 

72 

1760 

170 

151 

45 

1375 

135 

179 

73 

1780 

170 

152 

46 

1385 

135 

180 

75 

1810 

180 

153 

46 

1385 

140 

181 

76 

1840 

180 

154 

49 

1410 

140 

182 

77 

1870 

180 

155 

51 

1420 

140 

183 

79 

1925 

190 

156 

52 

1440 

140 

184 

81 

1980 

190 

157 

54 

1460 

i 

145 

185 

83 

2000 

200 


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Hi rasch welltmg. 


93 


Durchschnittswe^e der Körpergröße, des Körpergewichtes, 
Schädelinnenraumes, Kleinhirngewichtes für die einzelnen 

Lebensalter beim Kinde. 


Jahre 

Körper¬ 

größe 

em 

Körper¬ 

gewicht 

kg 

Sch&del- 
innen- 
ra um 

eem 

Kleinhirn - 
gewioht 

g 

Jahre 

Körper» 

grüße 

om 

Körper¬ 

gewicht 

kg 

Soh&del- 

innen- 

ranm 

ccm 

Kleinhirn- 
ge wicht 

g 

0 

50 

3 

330 

25 

9 

125 

24 

1120 

130 

i 

70 

8 

880 

90 

10 

130 

25 

1150 

130 

2 

80 

11 

935 

100 

11 

135 

26 

1320 

130 

3 

85 

12 

960 

100 

12 

140 

27 

1375 

130 

4 

90 

14 

980 

110 

13 

150 

34 

1430 

140 

5 

100 

16 

1000 

120 

14 

150 

34 

1430 

140 

6 

105 

18 

1010 

120 

15 

155 

40 

1450 

140 

7 

110 

20 

1045 

120 

16 

164 

44 

1485 

150 

8 

115 

22 

1100 

130 

17 

165 

50 

1500 

150 


Im folgendem gebe ich ans Gründen der Übersichtlichkeit 
noch einige kurze zusammenfassende Definitionen wieder: 

Relative Mikrozephalie: Der Schädelinnenraum bei der 
Sektion ist nm wenigstens 10% kleiner als der, der Körpergröße 
des Kranken zugehörige durchschnittliche Schädelinnenraum nach 
der Wiedersehen Tabelle (Berechnung auf S. 76). 

Relative Mikroenzephalie: Das Hirn ist um wenigstens 
10% kleiner als das, der Körpergröße des Kranken zugehörige 
durchschnittliche Hirngewicht nach der Wiedersehen Tabelle. Hier¬ 
bei muß jedoch ein Hirnschwund ausgeschlossen sein. Anderer¬ 
seits kommen Kombinationen von angeborener (in frühester Jugend 
entstandener) Hydrozephalie mit Mikroenzephalie vor; d. h. der 
Schädelinnenraum selbst ist annähernd normal groß. Infolge des 
Hydrozephalus ist aber verhältnismäßig zu wenig Hirn vorhanden. 
Es besteht zwar nicht Mikrozephalie, wohl aber Hydrozephalie 
und Mikroenzephalie. 

Relative Makrozephalie: Der Schädelinnenraum bei der 
Sektion ist erheblich größer als der, der Körpergröße des Kranken 
zugehörige durchschnittliche Schädelinnenraum nach der Bieger- 
schen Tabelle, ohne daß eine angeborene oder in frühester Jugend 
entstandene Hydrozephalie vorliegt. Berechnung wie oben auf 
S. 76 angegeben; y wird größer als 100. 


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94 


Reichardt, 


Relative Makroenzephalie: Das Hirn ist bedeutend 
schwerer, als dem Durchschnittsgewicht des Hirnes für die Körper¬ 
größe nach der l&e^erschen Tabelle entspricht. Es muß jedoch 
ein noch nicht entleerter Hydrocephalus internus einerseits und 
Hirnschwellung andererseits ausgeschlossen werden. Bei Makro¬ 
enzephalie besteht auch Makrozephalie. Nur geht nicht umgekehrt 
jede Makrozephalie auch mit Makroenzephalie einher (s. o.). 
Denn auch die angeborene (in früher Jugend entstandene) Hydro¬ 
zephalie pflegt zur Makrozephalie, wenn auch meist mit charakte¬ 
ristischer hydrozephalischer Kopfform zu führen. Ferner darf bei 
Makroenzephalie, streng genommen, keine Himschwellung, d. h. 
kein Mißverhältnis zwischen Schädelinnenraum und Hirngewicht 
vorliegen. In Wirklichkeit werden aber wohl die Zustände von 
Makroenzephalie mit einigen Arten der Himschwellung eine nähere 
Verwandtschaft haben, bezw. Übergänge aufweisen. 

Hydrozephalie und Hydroenzephalie als angeborener 
oder in frühester Jugend entstandener Zustand: Er ist leicht zu 
erkennen bei charakteristischer Kopfform oder bei Vorhandensein 
eines Hydrocephalus internus ohne Himschwundkrankheit. Cha¬ 
rakteristische Kopfform und Hydrocephalus internus können jedoch 
bei der angeborenen Hydrozephalie fehlen. Es gibt in nicht 
unerheblicher Zahl angeborene oder in frühester Jugend entstandene 
Hydrozephalien, ohne charakteristische Kopfform und ohne daß 
man den Hydrozephalus äußerlich (namentlich ohne genaue Kepha- 
lometrie) überhaupt erkennen und diagnostizieren kann. Auch 
braucht der Hydrozephalus selbst kein internus zu sein, sondern 
kann ein externus sein. Meist ist bei der Hydrozephalie der 
Schädelinnenraum absolut zu groß, im Vergleich mit dem duroh- 
schnittlichen Schädelinnenraum nach der Körpergröße des Kranken 
(y mehr als 100). Aber auch dies braucht nicht stets der Fall 
zu sein. Angeborene (in frühester Jugend entstandene) Hydro¬ 
zephalie kann sich mit relativer Mikroenzephalie kombinieren (s. o.). 
Der Schädelinnenraum eines solchen Kranken bei der Sektion 
entspricht dann etwa dem Durchschnitt. Weil aber außerdem 
angeborener (in früher Jugend entstandener) Hydrozephalus vor¬ 
liegt, ist das tatsächlich vorhandene Hirn zu klein, — wie gesagt, 
trotz normalen Schädelinnenraums und ohne Himschwundkrankheit. 


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' Hirnschwellung. 


95 


Es besteht also Hydrozephalie (auch ohne charakteristische 
Kopfform) .plus Mikroenzephalie. Auch bei einzelnen Kranken 
mit progressiver Paralyse ist der Schädelinnenraum bei der Sektion 
normal groß gefunden worden, während der vorhandene Hydro- 
cephalus internus kein paralytischer (d. h. erst gewordener), 
sondern ein angeborener oder schon in früher Jugend entstandener 
gewesen ist. Durch genaue Kephalometrie und unter Berück¬ 
sichtigung gewisser sonstiger Tatsachen läßt sich auch bei Fehlen 
einer hydrozephalischen Kopfform die Diagnose auf angeborene 
Hydrozephalie oft mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit 
stellen. Zweifellos ist auch in der Literatur nicht selten eine 
erst gewordene Hirnschwundkrankheit zu Unrecht angenommen 
worden, während in Wirklichkeit Hydrozephalie oder Hydroen- 
zephalie vorlag. 

Hirnschwellung: Das Hirn ist im Verhältnis zum zu¬ 
gehörigen Schädelinnenraum zu groß (Definition S. 44). Hira- 
drnck braucht nicht zu bestehen (S. 59). 

Hirndruck: Es liegt ein Mißverhältnis vor zwischen ver¬ 
fügbarem Schädelinnenraum und dem, was darin vorhanden ist. 
Dieses Mißverhältnis kann in erster Linie durch eine große Hira- 
geschwulst verursacht worden sein, dann aber auch durch eine 
Himschwellung (ohne gleichzeitige Abnahme des Liquors). Jedoch 
kann Hirndruck auch ohne alle Volumensvergrößerung des Ge¬ 
hirnes auftreten, lediglich durch Vermehrung von Liquor oder 
von sonstiger Flüssigkeit im Schädelinnem. Sogar bei Hirn¬ 
verkleinerung (Hirnschwund) kann echter Hirndruck vorhanden 
sein. Der Hirndruck kann ferner ein chronischer oder auch ein 
akuter, auch terminaler, tödlicher sein (akute Hirnschwellung, 
akuter terminaler Liquorüberdruck). 

Hydrozephalus: Diese Bezeichnung umfaßt zwei ganz ge¬ 
trennte und auch zu trennende Vorgänge bezw. Zustände: 

1. den lediglich raumausfüllenden Hydrozephalus (ex- 
ternus, internus, kombiniert), infolge relativ zu geringen 
Himvolumens (angeborene oder in früher Jugend entstandene 
Hydrozephalie; durch Hirnschwundkrankheit entstandene 
Himverkleinerung); 


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96 


Reichardt, 


2. den himdmckerzengenden oder himdracksteigernden 
Hydrozephalus (extemus, internus, kombiniert), der bei jeder 
Hirnkrankheit, bei jedem Hirnvolumen (Hirnvergrößerung 
irgendwelcher Art, Hirnschwellung, Hirnschwund) Vorkommen 
kann. Er wird an der Leiche nur dann erkannt, wenn man 
nicht nur Schädelinnenraum, Hirn- und Duravolumen be¬ 
stimmt, sondern auch den während der Sektion bis zur 
ersten Himwägung abfließenden Liquor möglichst vollständig 
auffängt und die gesamten gefundenen Volumina in Beziehung 
zum verfügbaren Schädelinnenraum bringt. 

Hirn Schwund: Das Hirn ist im Vergleich zum zugehörigen 
Schädelinnenraum zu klein (mehr als 16% Differenz), und zwar 
durch eine erst später entstandene Hirnkrankheit (Ausschluß einer 
Hydrozephalie und Hydroenzephalie aus der Kindheit, welche 
meistens die Folge von hirndruckerzeugendem Hydrozephalus 
gewesen sind). Der Hirnschwund kann ein solcher von außen 
nach innen sein; die Ventrikel können dann z. B. noch bei 20% 
Differenz normale Weite haben. Oder er ist ein Schwund von 
innen nach außen, unter besonderer Beteiligung des Hirnmantels 
oder der basalen Ganglien oder beider, wobei dann die Ventrikel 
sich stark erweitern. Er kann endlich ein mehr oder weniger 
lokalisierter sein und vor allem z. B. das Stirnhim oder das 
Parieto-Okzipitalhirn betreffen (isolierte Erweiterung der Hinter¬ 
hörner). Dementsprechend werden auch die Krankheitserschei¬ 
nungen verschieden sein. Die makroskopische Diagnose auf 
Hirnschwund ist nur unter Berücksichtigung der Zahl des zu¬ 
gehörigen Schädelinnenraums zu stellen. Andernfalls besteht 
die große Gefahr einer Verwechslung mit Mikrozephalie oder 
Hydroenzephalie. 

V. Schluß. 

Die physikalische Himuntersuchung hat zur Aufgabe: die 
Lebenserscheinungen im Gehirn, ihr Wesen und ihre Eigen¬ 
art feststellen zu helfen. Während z. B. die Lehre von der Hirn¬ 
lokalisation und von dem Zellenbau der Großhirnrinde (Zyto- 
arcbitektonik) sich — wie man dies auch ausdrücken kann — 
mit einzelnen Hirnapparaten, ihrem Sitz und Bau beschäftigt, will 
man nun auch wissen: welche Kräfte diese Apparate in 


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Himschwellung. 


97 


Bewegung setzen; von wo ans der Impnls geht; welcher 
Art die Lebensvorgänge und Veränderungen sind, die sich 
in den Gehirnen unter normalen und krankhaften Verhältnissen 
abspielen. Eine schwere traumatische Himschädigung, eine Menin¬ 
gitis, eine progressive Paralyse und eine Katatonie sind gewiß, 
ihrer Entstehung und ihrem Krankheitsprozeß nach, sehr ver¬ 
schiedene Himkrankheiten. Ein katatonischer (katatoniformer) 
Symptomenkomplex kann aber bei allen diesen Himkrankheiten 
Vorkommen und trotz des verschiedenen Krankheitsprozesses derart 
ähnliche klinische Bilder darbieten, daß die Diagnose der zugrunde 
liegenden Himkrankheit aus den psychischen Symptomen allein 
oft genug nicht möglich ist. Ähnliches gilt von den Delirien, 
Dämmerzuständen, Sinnestäuschungen und Wahnideen, epilepti- 
formen Zuständen. Trotz des verschiedenen Krankheitsprozesses 
ist die Störung der Himfunktionen, der Hiramechanik oder der 
Himdynamik eine so ähnliche, daß klinisch die gleichen Er¬ 
scheinungen sich ergeben. Hier heißt es nun: sich ein Schema 
bilden, eine sogenannte Arbeitshypothese, welche — wenn auch 
zunächst nur in groben Umrissen — das Zustandekommen der 
gleichen klinischen Symptome bei verschiedenen Himprozessen 
erklärt. Ein solches Schema ist die Lehre vom Gleichgewichts¬ 
zustand unter den einzelnen Himteilen (Hirnstamm und Hira- 
mantel, Rautenhirn und Großhirn, Großhirn und Kleinhirn), dessen 
krankhafte Störungen auch zu psychischen Störungen führen 
können (Heft 8 unserer Arbeiten S. 665, 677 usw.). Wir werden 
schon bei dieser Annahme eines dynamischen Gleichgewichts¬ 
zustandes mit der Möglichkeit einer mangelhaften Anlage in dieser 
oder jener Richtung rechnen müssen, indem bald der Himstamm 
(oder einzelne Teile desselben), bald der Hiramantel nicht ge¬ 
nügend stark entwickelt ist und deshalb eher erkrankt oder ver¬ 
sagt als bei einem ganz gesunden Gehirn 1 ). 

i) So kann auch die relative Mikrozephalie ebensowohl die Folge einer 
Kleinheit des gesamten Gehirnes sein, als anch die Folge einer Kleinheit 
besonders des Hirnmantels oder des Hirnstammes (partielle Mikroen* 
zephalie). Auch der Begriff der relativen Mikrozephalie ist somit zunächst nur ein 
Sammelbegriff. Es besteht aber Aussicht, daß durch die physikalische Hira- 
untersuchung z. B. auch eine Messung der basalen Ganglien nach Größe und 
Ausdehnung durchföhrbar ist. 

ZcitMkrttt Nr PryohUtri«. LXXV. 1. 7 


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98 


Reichardt, 


Zu den Ergebnissen der physikalischen Hirnnntersuchung 
gehört auch die Entdeckung der Hirnschwellung und die Um¬ 
grenzung des Hirnschwellungsbegriffes. Nur befinden wir uns hier 
— dies sei ausdrücklich hervorgehoben — noch im ersten Beginn 
der Erkenntnis. Vorläufig kann ich nur sagen: Was man gegen¬ 
wärtig Himschwellung nennt, dies ist wahrscheinlich nur ein 
Sammelbegriff, — eine besondere Erkrankungs- oder Reaktions- 
form des Gehirnes, ein in die allgemeine Himpathologie ge¬ 
hörender Vorgang; eine Gruppe von anatomischen Veränderungen, 
welche durch verschiedene Krankheiten und Krankheitsursachen 
hervorgerufen werden. Es empfiehlt sich bis auf weiteres, die 
einzelnen Unterarten der Hirnschwellung nach Möglichkeit näher 
zu bezeichnen, zunächst ätiologisch: infektiöse, toxische, traumati" 
sehe, epileptische, katatonische Hirnschwellung, Hirnschwellung 
bei Hirngeschwulst usw. Dieser ätiologischen Einteilung kann 
man die pathologisch-anatomische gegenüberstellen (verschiedenes 
Verhalten des Liquors, der Konsistenz usw.; siehe oben S. 55ff). 
Die Beziehungen zwischen Himschwellung und Enzephalitis müssen 
geklärt werden. Vielleicht scheidet, gerade bei den exogenen Hirn¬ 
krankheiten, noch manches aus dem Gebiete der Himschwellung 
aus, was vorläufig in demselben untergebracht ist. Die.Him- 
schwellungen durch entsprechende exogene Ursachen sind patho¬ 
genetisch wahrscheinlich ganz anders zu beurteilen als die Hiro- 
schwellungen bei endogenen Krankheiten und als scheinbar selb¬ 
ständige Krankheitsbilder (Pseudotumor cerebri). Man kann auch 
eine Katatonie — wenigstens vorläufig — durch eine Him¬ 
schwellung nicht „erklären“. Aber vielleicht erhalten wir durch 
die Tatsache des Auftretens solcher Hiraschwellungen bei be¬ 
stimmten Himkrankheiten gewisse Fingerzeige bezüglich der zu¬ 
grunde liegenden Himveränderungen. 

Das Himschwellungsphänomen hat eine praktisch-diagno¬ 
stische, ferner eine therapeutische Bedeutung (günstige Einwirkung 
druckentlastender Operationen bei manchen exogenen Formen). 
Namentlich aber scheint die theoretische Bedeutung des Him- 
schwellungsphänomens groß zu sein. Wir erkennen in ganz be¬ 
sonderem Maße die ungemein große Labilität, Reizbarkeit, Reagier¬ 
fähigkeit, Veränderlichkeit der Gehirasubstanz (Volumensver- 


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Hirnschweilang. 


99 


änderung, außer den Veränderungen der Liquorströmnng). Das 
Hirn ist möglicherweise schon unter normalen Verhältnissen ein 
bewegliches Organ, auch unabhängig von den Bewegungen infolge 
der arteriellen Systole und Diastole. Jedenfalls aber scheint er¬ 
wiesen zu sein, daß es unter krankhaften Verhältnissen sein Vo¬ 
lumen ganz akut ändern kann (rein dynamische Form der Hirn¬ 
schwellung, z. B. bei einer Alteration des Rautenhirnes). Auch 
die Auffassung des Himdruckproblemes darf, in Anbetracht dieser 
außerordentlich großen Labilität und Reizbarkeit der menschlichen 
Himmaterie, keine allzu „mechanische“ sein. 

Es liegt mir fern, alle möglichen Krankheitserscheinungen 
nunmehr auf Hirnschwellungen zurückführen zu wollen. Aber es 
muß andererseits berücksichtigt werden: wie primitiv noch bis 
vor kurzem unsere Anschauungen über zahlreiche Hirnvorgänge 
waren, und wie häufig man mancherlei klinische Erscheinungen 
ausschließlich auf die Vasomotorentätigkeit des Gehirnes, auf ver¬ 
schiedene GefäßföUung, Zirkulationsstörungen, „Rindenanämie“ 
und auf das sogenannte Hirnödem hat zurückführen wollen. 
Durch das Phänomen der Hirnschwellung werden 
wir wieder mehr auf die Hirnmaterie selbst hin¬ 
gewiesen. Wir kommen etwas von den Hirngefäßen und vom 
Vasomotorenapparat, sowie von der vermeintlichen ausschließlichen 
Bedeutung derselben los, ohne damit in das Gegenteil der zu 
großen Unterschätzung oder Nichtbeachtung der Himgefäße und 
der Vasomotorentätigkeit zu verfallen. 

Überhaupt weist die physikalische Himuntersuchung wieder 
viel mehr auf die Notwendigkeit genauer Hirn Untersuchungen 
hin. Der „innersekretorischen Richtung“ in der Psychiatrie möchte 
ich die „zerebrale“ Forschungsrichtung gegenüberstellen. Die 
Äbderhaldenache Serumdiagnostik hat der Psychiatrie und dem 
Verständnis der Psychosen bis jetzt nicht viel genützt. Daß im Ge¬ 
folge von_Hirnkrankheiten — zu denen auch die Geisteskrank¬ 
heiten gehören — auch der Körperzustand und somit auch die 
Drüsen der inneren Sekretion leiden können, dies wußte man 
schon vor der Abderhaldenschen Serumreaktion. Die Hauptfrage 
aber, ob die Körperdrüsen bei den Psychosen primär erkranken 
oder erst sekundär (auf irgendwelchem Umwege, z. B. vom 

7* 


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100 


R eieh&rdt 


t*i. 


Zentralnervensystem aus), wird durch die Serum di agnostik nicht 
beantwortet, Wir dürfen in der Psychiatrie über dem Studium 
der inneren Sekretion nicht zu sehr tke Gehirustudium außer 
.acht lassen. 

Wenn wir auch vorläufig, d£m l v ?iöb1|m der Hirnvorgäng# 
g.bgmttiber, kam'« am Anfang- der ßrlsernttids stehen, so ist 
doch daß diu Einsicht in dm uormaien und 



ist dai Prohlem auch gar nicht fttlzn stdiwitalgyfv fls f#hlt nur der 
Bckhlirvsel zuä Verätliidisis« Jedenfalls aber tat eine gemeinsame 
Aik-k vieler .Institute notwendig. Ein einxeUm Institut kann, 
nufnindlh h weun esaus: über eineu kieineTi Krankenbestand und 
bdo»> besonderen ilÜfsmittd verfügt, di# Meng« ! ||^^|^igebendßn 
Ei a;.: .}! gar nicht be^tdwarrteu. Und eiullielt ist awclv die An- 
wemlngfe RiüghöUßt a 1 le r Untersuch ungsmetbod&n des GeMmns 
notwendig,, nicht nur einzelner Methoden, z. B. der histologischen, 
oder i*"Vvchopathölogisobea.- 


, ; : L üdratur ü bereich k 



190C Ousiftv Fifcdtsr). 

s Hirmuat^ri*'. MtsCnr. i. kyvh, u. fveurok 24, 1908,. S. 28o. 
i. B&jtAdel üüdöehhrn. Jj&0jiQ-w& decp^hiatri« 

■scheu Klinik *u Würrfnug 4> 19Q9. 

•>, f'ia’r M |ihnschwellung‘> Sämmelreferai, Zt^chrvfi d gcs-Neurol u. 

Payoid» Abt. Referate, 3, 1911,8. t (d«^LWl>w^tkr^'-Hk % 
r», $jNt;di# ■ Ctowicbts - und V r QlümensbestltrnU'nng den Hirns; •Sekiions- 
yv‘‘:y;g'teidinlk von JVauwerck. 5. Aufl-> 1912+ S >*£ (Jena, Gustav 

'Plseh#rji ' . : ,/'■ ' \' 

X UtdrjüiuiJbung'cn über das Gehirn. I. TeibUber l jf > odMarten«fAd1 l o’dns- 
':y : >V.5 üröachon. Aibeilte/i aus der psychiatrischen KÜnik zu Würz* 
■ bürg Ü.lÖil (Jfeua, Güstar FtHhwV 
9, . n^sersuchongonübe? dasÖebiru II Teil: IRrniind Kürpsf. Ebenda 
?, 1912. 


Go gle 


UNL 


Öri gißäl frönt/ \ 

SITYOV^IOHI 



Hirnschwell ung. 


101 


9. Untersuchungen über das Gehirn. II. Teil: Hirn und Körper (Fort¬ 
setzung). III. Teil: Die physikalischen Eigenschaften und Zu¬ 
standsänderungen des Gehirns und die Flüssigkeitsverhältnisse 
in der Schädelhöhle. IV. Teil: Über normale und krankhafte 
Vorgänge in der Hirnsubstanz. Ebenda 8, 1914 (daselbst 
weitere Literatur). 

10. Intravitale und postmortale Hirnschwellung. Neurol. Ztlbl. 88, 1914, 

S. 1078. 

11. Intravitale und postmortale Hirnschwellung. Ebenda 84,1915, S. 55. 

12. Theoretisches über die Psyche. Sitzungsberichte der Physikalisch¬ 

medizinischen Gesellschaft zu Würzburg, 3. Mai 1917. 

13. Allgemeine,und spezielle Psychiatrie. II. Aufl., 1918 (Jena, Gustav 

Fischer). 

Von früheren Aufsätzen aus der Literatur, welche bisher von mir 
noch nicht berücksichtigt wurden, ist noch nachzutragen: 

14. Marchand, Zur Kenntnis der Embolie und Thrombose der Gehirn¬ 

arterien. Berl. klin. Wschr. 1894, Nr. 2, S. 37. 

Von neueren Abhandlungen seit 1913, welche sich mit Hirnschwellung 
oder Hirndruck beschäftigen oder sonst in dieser Richtung wichtig sind, 
seien genannt: 

15. Anton, Der Balkenstich. Neue deutsche Chirurgie 12, 1914, S. 177 ff. 

(daselbst weitere Literatur). 

16. Derselbe, Über neuere Methoden operativer Druckentlastung des 

Gehirns. Jahresber. f. Neurol. u. Psych. 20, 1916, XXXIII 
(daselbst weitere Literatur). 

17. Anton und Schmieden, Der Subokzipitalstich; eine neue, druckent¬ 

lastende Hirnoperationsmethode. Arch. f. Psych. 68,1917, S. 1. 

18. Barbieri und Carbone, Biochemische Studien über die Gehirnschwellung. 

Biochem. Ztschr. 49 , 1913, S. 293. 

19. Bruns, Klinik der Hirngeschwülste. Neue deutsche Chirurgie 12, 

1914, S. 18. 

20. A. Hauptmann, Der Hirndruck. 'Ebenda 11, 1914, S. 427 (daselbst 

weitere Literatur). 

21. Derselbe, Hirnödem. Ebenda 12,1914, S. 1 (daselbst weitere Lit.). 

22. A. Jakob, Zum gegenwärtigen Stande der Histopathologie der Geistes¬ 

krankheiten. Jahreskurse für ärztliche Fortbildung. 1918. 
Maiheft S. 25 ff. 

23. Liesegang und E. Mayr. Die Physik und Chemie der Hirnschwellung. 

Ergebnisse der Neurologie und Psychiatrie ( Vogt u. Bing) 2, 
1912, S. 157. 

24. Nissl, Diskussionsbemerkung. Allg. Ztschr. f. Psych. 70,1913, S. 165. 

25. Nonne, Der Pseudotumor cerebri. Neue Deutsche Chirurgie 12,1914, 

S. 105 (daselbst weitere Literatur). 

26. Rieger, Die Meßstange. Arb. a. d. psych. Klin. zu Würzburg 9 , 1918. 


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102 


Reichardt, 


27. Rosenthal, Histologische Befunde beim sog. Pseudotumor cerebri. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Originalien 7, 1911, S. 163. 

28. Derselbe, Experimentelle Studien über amöboide Umwandlung der 

Neuroglia. Histol. u. histopathol. Arb. von Nissl und Alz¬ 
heimer 6, 1913, S. 89. 

29. Derselbe, Fall Wähler. Beiträge von Nissl 1, Heft 2 1914, S. 7 

(Berlin, Julius Springer). 

30. Derselbe, Zur Methodik der Schädelkapazitätsbestimmung mit 

Hinsicht auf einen Fall von Hirnschwellung bei Katatonie. 
Neurol. Ztlbl. 88; 1914, S. 738 und Nachtrag S. 809. 

31. Derselbe, Intravitale und postmortale Hirnschwellung. Ebenda 

S. 1085. 

32. Derselbe, Über einen schizophrenen Prozeß im Gefolge einer hirn¬ 

drucksteigernden Erkrankung. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u 
Psych. Originalien 25, 1914, S. 300. 

33. Rudolph, Untersuchungen über Hirngewicht, Hirnvolumen und 

Schädelkapazität. Zieglers Beitr. 58, 1914, S. 48. 

34. Volhard, Urämie. Im Handbuch der inneren Medizin von Mohr und 

Staehelin. 8. Zweiter TeiL 1918. S. 1348 u. 1359 {Zangemeister: 
Eclampsia gravidarum). 

Von Abhandlungen, welche sich besonders mit Hirndruck¬ 
erscheinungen (und andern in meinem Referat erwähnten Hirnver¬ 
änderungen) bei chirurgischen Affektionen beschäftigen und somit 
auch für die Frage des Vorkommens einer Hirnschwellung hierbei (Teil II 
meines Referates) in Betracht kommen, seien genannt: 

35. Alters, Über Schädelschüsse. 1916. Berlin, Julius Springer. - 

36. Berger, Neurologische Untersuchungen bei frischen Gehirn- und 

Rückenmarksverletzungen. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., 
Originalien 85, 1917, S. 293. 

37. Bonhoeffer, Granatfernwirkung und Kriegshysterie. Mtschr. f. Psych. 

u. Neurol. 42, 1917, S. 53. 

38. Borchard, Hirnausfluß und Gehirnprolaps. N. Deutsche Chir. 18, 

1916, S. 3. 

39. Breslauer, Hirndruck und Schädeltrauma. Mitteilungen aus den 

Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 29, 1917, S. 715. 

40. Bresler, Sammelreferat. Psych.-neurol. Wschr. 1917, Nr. 5 bis 50. 

41. Brodmann, Zur Neurologie der Stirnhirnschüsse. Ebenda 1915/16, 

Nr. 33/34, S. 193. 

42. Gaupp, Die Granatkontusion. Beiträge zur klin. Chir. 96,1915, S. 277. 

43. v. Monakow, Die Lokalisation im Großhirn. 1914. Wiesbaden, Berg¬ 

mann. S. 13 u. 20 ff. (Chok). 

44. Payr, Erfahrungen über Schädelschüsse. Jahreskurse für ärztliche 

Fortbildung. Dezember 1915. 

45. Derselbe,' Diskussionsbemerkung. Berl. Klin. Wschr. 1916, S. 675. 


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Hirnschwellung. 


108 


46. Derselbe, Meningitis serosa bei und nach Schädelverletzungen 

(traumatica). Med. Klin. 1916, S. 841. 

47. De Quervain. Spezielle chirurgische Diagnostik. 1915. Leipzig, 

Vogel. S. 13. 

48. Rosenfeld , Über Chokwirkungen bei Schußverletzungen des Rücken¬ 

marks. Beiträge zur klin. Chir. 101, 1916, S. 372. 

49. Derselbe, Über psychische Störungen bei Schußverletzung beider 

Frontallappen. Arch. f. Psych. 67, 1917, S. 84. 

50. Sauerbruch, Beitrag zur Pathologie der Commotio und Compressio 

cerebri nach Schädel träum a. Mtschr. f. Psych. 2«, Ergänzungs¬ 
heft, 1909, S. 140. 

51. Schrottenbach, Studien überden Hirnprolaps. 1917. Berlin, Julius 

Springer. 

52. Verhandlungen der Kriegschirurgentagung, Brüssel, April 1915. 

Referat über Schädelschüsse und Diskussion hierzu. Beiträge zur 
klin. Chir. 96, 1915, S. 454 ff. (Best, Burckhardt, Enderlen, Til- 
mann u. a.). 


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I 


Weiteres zur Alkoholfrage. 

Von 

Kreisarzt Dr. Finckh, Osterode (Ostpreußen). 

Die in der letzten Nummer dieser Zeitschrift veröffentlichte 
Untersuchung über die Ätiologie der Trunksucht lief auf das Er¬ 
gebnis einer angeborenen spezifischen Anlage hinaus, die ihren 
Träger unrettbar zum Trinker mache, sobald er mit dem Alkohol 
in Berührung komme. Diese Darlegung wollte sich in Gegensatz 
zu der landläufigen Auffassung setzen, daß man sich das Trinken 
allmählich angewöhnen, daß man unterstützt durch Trinksitten 
und Verführung Trinker werden könne. 

Wenn es uns nun auch nicht vergönnt ist, diese spezifische 
Anlage klinisch so zu umschreiben, daß es uns gelingt, ihren 
Träger von vornherein mit Bestimmtheit als Gezeichneten zu er¬ 
kennen, so ist es doch berechtigt und erforderlich, uns Gedanken 
darüber zu machen, worin sie möglicherweise besteht, und wie sie 
zustande kommen kann. Bei den folgenden Ausführungen bin ich 
mir der tastenden Unsicherheit voll und ganz bewußt, in der wir 
uns bei unseren Vorstellungen befinden, sobald sich diese aus dem 
Gebiet des grobsinnlich Wahrnehmbaren entfernen. Ich weiß, 
daß ich im Begriffe bin, eine Hypothese aufzustellen, die sich der 
Wahrheit um einen Schritt nähern, die aber auch falsch sein 
kann. 

Die erste Arbeit unterschied, dank der Aufstellung des Be¬ 
griffes der spezifischen Anlage, zwei Klassen von Menschen, die 
Alkohol genießenden Nichttrinker und Trinker, leztere von den 
ersten unterschieden durch die Zeichen der Trunksucht, die ihrer¬ 
seits wieder klinisch gekennzeichnet ist durch den Begriff der so¬ 
genannten alkoholischen Degeneration, den allmählichen oder 
schnellen Niedergang der geistigen und sittlichen Fähigkeiten 


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Weiteres zur Alkoholfreie. 


105 


(wobei die rein körperlichen Folgeerscheinungen der Alkoholwir¬ 
kung ganz aus der Betrachtung ausscheiden mögen). Es tritt 
also eine Veränderung des Wesens unter dem Einfluß des Alkohols 
auf, die wir getrost als Giftwirkung in Anspruch nehmen dürfen 
und zwar als Giftwirkung auf die nervöse Substanz. Da nun der 
Nichttrinker ebenso der Giftwirkung des Alkohols unterliegen kann, 
so muß also beim Trinker eine dauernde, beim Nichttrinker eine 
vorübergehende Vergiftung eintreten. Denn, klinisch betrachtet 
erholt sich der Nichttrinker über kurz oder lang wieder völlig 
von ihren Erscheinungen und ist und bleibt der Alte, der Trinker 
aber weist in zunehmendem Maße die zerstörenden Wirkungen 
des Giftes auf. Und nun erhebt sich die Frage: woher dieser 
weitgehende Unterschied? — Als physische Unterlagen unserer see¬ 
lischen Kräfte sind, darüber wird Einigkeit herrschen, die Lebens¬ 
äußerungen des Gehirns, die sogenannten Gehimfnnktionen anzu¬ 
sehen. Bei dieser ihrer Tätigkeit unterliegen die funktionstragen¬ 
den Elemente des Gehirns fortwährenden Wandlungen, sie nehmen 
Stoffe auf zur Erhaltung ihrer Lebenstätigkeit und geben Stoffe 
ab, Stoffwechselprodukte, die bei ungestörtem Gang abgeführt und 
unschädlich gemacht werden. Unterbleibt diese letzte Tätigkeit, 
so erweist sich, daß diese Abbauprodukte giftig auf die Gehirn¬ 
elemente einwirken. Wir haben ein Recht anzunehmen, daß diese 
Unschädlichmachung zu den Aufgaben der sogenannten inneren 
Sekretion gehört, und daß mit dieser Aufgabe in erster Linie 
die Schilddrüse betraut ist. Versagt diese aus irgendeinem Grunde, 
so ist allemal die Folge eine Zerstörung von Gehimsnbstanz oder 
klinisch ausgesprochen eine thyreogene Geistesstörung. Gelingt 
es rechtzeitig, die Tätigkeit der Schilddrüse zu ersetzen, so tritt 
ein Stillstand der Zerstörung ein, solange als der Ersatz wirksam 
ist. Es ist sehr wohl möglich, daß es noch andere Vergiftungs¬ 
psychosen gibt, die ihr Erscheinen dem Versagen einer anderen 
Drüse verdanken. Darauf ist hier aber nicht einzugehen. 

Das Wichtigste bei allen diesen normalen und krankhaften 
Erscheinungen ist, daß es in letzter Linie auf die Betrachtung 
der chemischen Vorgänge im Gehirn ankommt, deren Ablauf 
richtunggebend auf die Funktion der Gehimelemente einwirkt. 
Im Alkohol haben wir nun auoh so ein Gift vor uns, das mit den 


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106 


Finckh, 


oben erwähnten die besonders schädliche Einwirkung auf das Ge¬ 
hirn gemeinsam hat, von ihnen sich aber dadurch unterscheidet, 
daß es von außen eingeffihrt und nicht im menschlichen Organis¬ 
mus selbst erzeugt wird. Daß er anders als andere Gifte auf 
das Gehirn, also spezifisch, einwirkt, ergibt sich ohne weiteres 
aus dem klinischen Bild. Daß er aber auch zerstörenden Einfluß 
auf die Elemente des Gehirns hat, erkennen wir nicht nur durch 
die Klinik, sondern können es auch unter dem Mikroskop fest¬ 
stellen. Also erzeugt der Alkohol auch Vergiftungspsychosen, 
und die Trunksucht gehört zu ihnen. 

Betrachten wir nun den Einfluß des Alkohols auf Nichttrinker 
und Trinker unter dem Gesichtspunkt der biochemischen Erschei¬ 
nungen als der lezten physikalisch vorstellbaren Voraussetzung 
der seelischen Tätigkeit, so muß man notwendig einen tiefgreifen¬ 
den Unterschied in der Einwirkung des Alkohols auf das Gehirn 
des Nichttrinkers und des Trinkers erkennen. Auch das Gehirn 
des ersten wird von dem Gift überschwemmt und unterliegt seinen 
Einwirkungen. Aber allem Anschein nach wird es nach einiger 
Zeit auch wieder hinweggeschwemmt, zerzetzt, das Organ entgiftet 
sich also wieder. Es tritt beim Nichttrinker, so viel wir sehen 
können, die volle restitutio ad integrum ein, das Gehirn arbeitet 
nachdem nicht schlechter wie vordem, es hat den Angriff unbe¬ 
schädigt überstehen können und ist nicht krank geworden. Der 
Nichttrinker ist Nichttrinker geblieben und wird diesen Reinigungs¬ 
oder Entgiftungsprozeß jedesmal wieder von neuem durchmachen 
können, er wird also nicht zum Trinker werden. Wie steht es 
nun bei den Menschen, deren spezifische Anlage sie unweigerlich 
zur Trunksucht disponiert? Hier sehen wir diesen Prozeß der 
Ver- und der Entgiftung sich nicht gleich harmlos und prompt 
abspielen. Hier bleibt von der Vergiftung etwas zurück im Ge¬ 
hirn, vielleicht erst wenig, bald aber mehr und mehr, und es ent¬ 
wickelt sich zunehmend das Bild der „alkoholischen Entartung“. 
Dieser Begriff ist aber zum mindesten schief, wenn wir, was un¬ 
willkürlich geschieht, ihn in Parallele zur angeborenen Entartung 
setzen. Er drückt das Wesentliche bei der Trunksucht nicht ge¬ 
nügend aus, nämlich den Prozeß der Zerstörung, klinisch aus¬ 
gedrückt: die seelische Verödung und Verblödung. Man würde 


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also besser von alkoholischem Zerfall reden. Woher nun dieser 
Zerfall? Man wird fast mit Notwendigkeit zu der Annahme ge¬ 
drängt, — und das Mikroskop berechtigt uns auch zu dieser An¬ 
schauung —, daß hier der Alkohol keine vorübergehenden Er¬ 
scheinungen mehr hervorruft, sondern daß er dauernd zerstört bis 
zur Außerdienststellung weiter Gebiete des nervösen Organs. Also 
wäre der Unterschied zwischen dem Nichttrinker und dem Trinker 
der, daß der Alkohol bei dem einen funktionstragendes Gewebe 
nicht dauernd zu verändern vermag und bei dem anderen diese 
Wirkung ausübt. Und woher kommt dieser Unterschied? Hier 
setze ich nun den früher gewonnenen Begriff der spezifischen 
Anlage ein und stelle die Vermutung auf, daß das Wesen der 
„spezifischen Anlage zum Trinken“ in der Zerfallbarkeit der ner¬ 
vösen Elemente gegenüber dem Alkohol besteht. Weiter: Wie 
kann das Gehirn zu dieser verminderten Giftfestigkeit gelangen? 
Es ist von mir früher behauptet worden, durch erbliche Anlage. 
Diese Annahme erscheint denkbar, wenn man sich erinnert, daß 
nicht so selten die Trinker gerade die Nachkommen von Trinkern 
sind. Wir kennen die schädigende, ja tötende Wirkung des Al¬ 
kohols auf die Keimsubstanz als eine bis dahin unbestrittene 
Tatsache und als ihre Folge die Entwicklungshemmung des im 
Aufbau begriffenen Organismus, im seelischen Gebiete also vor¬ 
nehmlich Schwachsinns- und Verblödungszustände, mit anderen 
Worten die Folgen von Zerstörungen im Gehirn. Liegt es nun 
nicht in derselben Richtung der Einwirkungen des Alkohols auf 
das Gehirn, wenn diese Zerstörungen sich auch einmal abschwächen 
bis zu einer Zerstörbarkeit der Gehirnsubstanz, die sich auswirkt, 
sobald der Alkohol dieses minderwertig angelegte Organ anfängt 
zu überschwemmen? Es ist damit nicht gesagt, daß bei jedem 
einzelnen befruchteten Keime diese Zerstörbarkeit eine integrierende 
Eigenschaft bei dem Trinkerkind sein muß. Sie kann auch 
Ausbleiben, nicht alle Nachkommen von Trinkern müssen wieder 
Trinker werden, ohne daß wir uns vermessen dürfen, die Gründe 
dafür zu erschöpfen. Aber unser Nichtwissen berechtigt uns — 
dafür ist die allgemeine Erfahrung Beweis genug — noch lange 
nicht, zu leugnen, daß die Anlage zum Trinken vom Vater auf 
den Sohn übergehen könne. Wir dürfen also diesen Gedanken- 


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Finckh, 


gang wohl gelten lassen, mflssen aber weiter gehen und fragen: 
Ist diese spezifische alkoholische Belastung wirklich die einzige 
Möglichkeit zum Erwerb dieser spezifischen Anlage nnd noch weiter 
gefaßt: ist die erbliche Anlage in der Tat der einzige Weg da¬ 
hin? Von hier ab müssen wir jede genaue Antwort ablehnen. 
Gelengnet soll nnd kann zunächst nicht werden, daß es theoretisch 
gedacht möglich ist, diese Zerfallbarkeit des Gehirns auch auf 
andere erbliche Ursachen znrfickznföhren, denkbar wäre eine solche 
auch unter dem Einfluß der Syphilis oder durch schwere Kopf¬ 
verletzungen, körperliche Krankheiten, die das Gehirn mit in Leiden¬ 
schaft ziehen können, z. B. Unterleibstyphus. Aber das sind alles 
Möglichkeiten, die solange nicht zur Wahrscheinlichkeit werden, 
solange wir die Eigenart dieser alkoholischen Zerfallbarkeit der 
Gehirnsubstanz nicht wenigstens einigermaßen kennen. Denn eines 
dürfen wir bei diesen Erwägungen doch nicht vergessen: Der 
Alkohol ist ein spezifisches Gift, d. h. er wirkt in einer ganz be¬ 
sonderen, charakteristischen Weise auf das Gehirn ein, womit so¬ 
wohl gesagt sein soll, daß das durch ihn erzeugte Krankheitsbild 
durch eine andere Ursache nicht hervorgerufen werden kann, als 
auch, daß er durch ein anderes Gift, z. B. Nikotin, Morphium, 
Kokain nicht ersetzt werden kann. Er nimmt also fraglos eine 
Sonderstellung in seiner Einwirkung auf die nervöse Substanz ein, 
und auch die Zerfallbarkeit der nervösen Substanz bei dem mit . 
der spezifischen Anlage Behafteten scheint mir wieder spezifischer 
Art zu sein, weil ihr Träger lediglich auf Alkohol anspricht und 
keinen Ersatz, Nikotin, Morphium, Kokain etc. wählen kann; 
sondern immer und immer nur wieder den Alkohol. Es würde 
sich daraus der Schluß aufdrängen, daß diese spezifische alkoho¬ 
lische Zerfallbarkeit der nervösen Substanz lediglich erzeugt 
werden kann durch eine einzige spezifische Ursache, nämlich den 
Alkohol. Das würde mit dürren Worten heißen, die Disposition 
zum Trinken kann nur vererbt werden durch Einwirkung des 
Alkohols auf die Keimsubstanz. Für viele, allerdings längst nicht 
alle Fälle würde es darauf hinauskommen, daß der Trinker er¬ 
zeugt wird wieder durch einen Trinker. Man muß aber einschränkend 
zugeben, daß grundsätzlich auch die Zeugung im Rausche (auch 
beim Nichttrinker) diese Schädigung der Keimsubstanz hervorzu- 


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rufen vermag. Dieser überragende Einfluß des Alkohols auf die 
Schaffung der spezifischen Anlage berechtigt weiter zu der Frage, 
ob denn der fortgesetzte Genuß von Alkohol schließlich nicht doch 
auch einen Nichttrinker zum Trinker machen könnte, ob also eine 
ursprünglich giftfeste, normale Gehirnsubstanz zuletzt zerfallbar 
im Sinne der spezifischen Anlage werden könnte. Diese Frage 
ist theoretisch unbedingt zu bejahen, sofern wir nur das Labora- 
toriumsexperiment am Versuchstier auf den Menschen übertragen 
könnten. Allerdings wird gerade diese Voraussetzung nicht zu¬ 
treffen, weil die Eigenart des Nichttrinkers eben gerade darin be¬ 
steht, daß sein Gehirn die ständige Zufuhr des Alkohols ablehnt. 
Aus „freiem Willen“ wird er also nicht solange und soviel trinken, 
bis der genossene Alkohol sein Gehirn bis zur Zerfallbarkeit der 
nervösen Elemente geschädigt hat. Wir kommen wieder auf den 
alten Satz hinaus, daß Trunksucht künstlich beim Menschen auf 
keine Art zu erzeugen ist. 

Wenn man diesen Gedankengang für annehmbar halten will, 
so verbietet sich allerdings ein anderer sehr naheliegender, den 
ich kurz noch streifen möchte. Geistige Gesundheit und Krank¬ 
heit sind bekanntlich keine natürlichen, sondern von uns künst¬ 
lich geschaffene Begriffe, Kategorien, die wir uns als Stützpunkte 
aufgerichtet haben, um in den Wirrwarr der Lebenserscheinungen 
Ordnung und die Logik hineinzubringen, deren wir, auf unsere 
Sinnesorgane angewiesene Menschen, eben fähig sind. Es sind 
starre Grenzpfeiler, die in der Natur nicht Vorkommen. In der 
Natur finden wir im schroffen Gegensatz dazu eine Welt von fließen¬ 
den Übergängen, die uns, um den Tatsachen nicht allzu große Ge¬ 
walt anzutun, zu der Schaffung eines dritten Begriffes, der Grenz¬ 
zustände zwischen Gesundheit und Krankheit, nötigen. Dieses 
Grenzgebiet ist so groß, daß es recht bedenklich in den Raum 
der Gesundheitsbreite hineinragt. Angesichts dieses Vergleiches 
und der Tatsache, daß wir auch in der Trunksucht eine geistige 
Störung sehen müssen, liegt die Frage ja recht nahe, ob es nicht 
auch hier ein solches Grenzland gibt, das in fließenden Übergän¬ 
gen allmählich vom Nichttrinker zum Trinker hinüberführt. Wenn 
man nämlich wieder von der Zerfallbarkeit der nervösen Substanz 
als dem Spezifikum des zum Trinker Disponierten ausgeht, so 


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Finckh, 


könnte man sich als nächsten Grenznachbam des Trinkers z. B. 
einen Menschen vorstellen, dessen Nervensubstanz in hohem Grade 
reizbar gegen Alkohol ist, so daß er sich, klinisch angesehen, in 
seiner Alkoholreaktion eigentlich weiter vom völlig normalen Nicht¬ 
trinker zu entfernen scheint, als vom Trinker, dessen Gehirnsub¬ 
stanz also s. z. s. sich scharf auf der Kante zwischen Zerfallbarkeit 
und Nicht-Zerfallbarkeit befindet, und dessen Träger z. B. im Sinne 
einer hochgradigen Intoleranz gegen Alkohol reagiert, ohne daß 
er indes die Merkmale des Trunksüchtigen an sich aufwiese. 
Diese Intoleranz könnte mit Recht als Ausdruck derjenigen Ge¬ 
hirnbeschaffenheit gelten, die wir mit der Bezeichnung erbliche 
Belastung, Minderwertigkeit zu belegen pflegen. Damit wäre zu¬ 
gleich angedeutet und zugegeben, daß auch noch andere Träger 
einer derartigen angeborenen Minderwertigkeit schließlich die Aus¬ 
sicht auf Verfall in Trunksucht hätten. Damit aber wären wir 
wieder auf einem der Ausgangspunkte dieser ganzen Erwägungen 
angelangt, nämlich bei der Frage, ob und welchen Einfluß die 
landläufige „erbliche Belastung“ auf das Zustandekommen der 
Trunksucht hat. Die Ausführungen in dieser und der vorigen 
Arbeit müssen dargetan haben, ob der Beweis dafür gelungen ist, 
daß diese bisherigen Glaubenssätze nicht zu Recht bestehen. Es 
kann meines Erachtens nur eines von beiden richtig sein, entweder 
die bisherige Auffassung vom Wesen und Werden der Trunksucht 
oder die hier vorgetragene, die sich vollkommen von der breiten 
Bahn der bis heute gültigen entfernt. Übergänge und Vermitt¬ 
lungen zwischen beiden kann ich mir nicht denken. Zur Beleuch¬ 
tung des Gegensatzes zwischen beiden Anschauungen weise «ich 
nur noch einmal kurz auf das Schlagwort der Zerfallbarkeit der 
nervösen Substanz als des Kerns und Wesens der spezifischen An¬ 
lage hin; diese ist erzeugt durch den Alkohol und zwar durch 
ihn allein, sie ist spezifisch und wirkt spezifisch insofern, als ihr 
Träger nur wieder Trinker werden kann, aber nicht etwa Morphinist 
und dergleichen. Diese Lehre schließt Grenzzustände, Übergänge 
und allmähliche Entwicklungen aus anderen nervösen Verfassun¬ 
gen also als vollkommen unmöglich aus. 

Ob nun dieser Standpunkt der Wahrheit näher kommt, als 
der bisher gültige, ist eine andere Frage, die sich deckt mit der 


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weiteren, ob die Voraussetzungen für meine Behauptungen richtig 
sind. Diese wieder ergeben sich aus bestimmten Vorstellungen 
über die biochemischen Vorgänge im Gehirn. Ob diese endlich 
richtig sind, entzieht sich der genauen Beurteilung, man kann sie 
höchstens annehmbar oder wahrscheinlich nennen. Die Hilfslinien 
der Konstruktion sind neben logischen Schlüssen klinische Beob¬ 
achtungen, die sich auf ihren Wirklichkeitswert prüfen lassen. 
Erweisen sie sich als richtig und die Gedankengänge über Bioche¬ 
mie und Zerfallbarkeit des Trinkerhirnes als annehmbar, so wäre 
damit ein neuer Weg zum tieferen Verständnis der Trunksucht 
gewonnen. Allerdings liegt er anscheinend weit ab von der Heer¬ 
straße der heutigen Lehre, aber man darf sich doch fragen, ob 
nicht doch irgendwo klinische Erfahrungen sich finden, die in der 
gleichen Richtung weisen. 

Wir wollen einmal an Vergiftungserscheinungen denken, die 
sich vorwiegend in anderen Organen als dem Gehirn abspielen. 
Ich denke an die durch kleinste Lebewesen hervorgerufenen an¬ 
steckenden Krankheiten, die ja alle vermöge der von ihnen er¬ 
zeugten Gifte sich auswirken. Alle miteinander haben sie die eine 
Eigenschaft gemeinsam, daß sie spezifisch wirken, sie verursachen 
Krankheitsprozesse im Körper, die nur durch sie erzeugt werden 
können. Jeder dieser Krankheitsprozesse stellt also einen ganz 
charakteristischen Vorgang vermöge des Giftes dar, das seinen 
Ausgangspunkt bildet. Wenn wir uns nun daran gewöhnt haben, 
daß jedes dieser Gifte seine ganz besonderen Veränderungen im 
Körper erzeugt, so können wir dies beim Alkohol, der doch auch 
weiter nichts als ein Gift, wenn auch kein bazilläres, ist, nicht 
verwunderlich finden, also unschwer verstehen, daß auch er ein 
besonderes Krankheitsbild schafft, dessen Voraussetzungen auch 
wieder ganz besondere, ihm eigene Unterlagen, Gehirnveränderun¬ 
gen sind. Wir haben sie spezifische Zerfallbarkeit der nervösen 
Substanz genannt. Die Vergiftung fügt sich somit restlos in den 
Rahmen der übrigen Vergiftungskrankheiten ein, und die hier vor¬ 
getragenen Anschauungen erweisen sich gar nicht mehr als so 
fremdartig, denn sie stellen nur eine folgerichtige Übertragung 
längst bekannter Erfahrungen im körperlichen Gebiet auf einen 
vornehmlich im Seelischen sich abspielenden Vergiftungsprozeß 


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Pinckh, 


dar. Wir finden also auch hier nnr die Tatsache wieder bestätigt, 
daß spezifische Gifte im Körper spezifische Veränderungen und 
nach außen hin spezifische Krankheitsbilder erzeugen. Es bleibt 
dann nnr noch zn erwägen, daß wir zwar Alkohol in den Körper 
einführen, aber hinsichtlich der Wirkung unterscheiden zwischen 
Menschen, bei denen er Zerfall erzeugt nnd denen, bei denen er 
ansbleibt. Aber auch hier stimmt der Vergleich mit den anderen 
Vergiftnngskrankheiten, indem wir uns erinnern, daß ein Körper 
um so sicherer gegen bazilläre Erkrankung gefeit ist, je gesünder 
er ist, je mehr er seine natürlichen Schutzstoffe entwickelt hat, 
je giftfester er ist. 

Es mag allerdings nicht ganz leicht fallen, sich in derartige 
Gedankengänge hineinzuleben, weil man so leicht nicht mit der 
alten Vorstellung fertig wird, daß der Alkoholismus eine selbst¬ 
verschuldete Krankheit sei: Erst wenn man 'sich daran gewöhnt 
hat, ihn unter der Gruppe der Vergiftungskrankheiten zu suchen 
und unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, wird es in das 
Bewußtsein eingehen, daß hier wie dort eigentlich genau dieselben 
Gesetze sich abspielen. 

Die bisherigen Untersuchungen haben sich vornehmlich mit 
der Einwirkung des Alkohols auf den Trinker befaßt. Wie wirkt 
er nun auf die früher schon aufgestellte Kategorie der Nichttrinker? 

Wenn man meinen würde, daß diese zweite große Gruppe 
von Menschen sich in ihrer Reaktion auf den Alkohol völlig gleich 
verhalte, so würde man sich sicher in einem großen Irrtum be¬ 
finden. Die Forschung sieht sich hier allerdings nicht un¬ 
erheblichen Schwierigkeiten gegenüber. loh bezweifle, ob auf 
diesem Gebiete schon systematische Untersuchungen vorgenommen 
sind; es ist mir daher nicht möglich, mich auf anerkannte Er¬ 
fahrungen zu stützen. Es sind also, wie bei den früheren Be¬ 
trachtungen, tastende Versuche, die ich mit allen Fehlem eines 
sich auf Neuland Bewegenden unternommen habe, und die sich 
eine Kritik gefallen lassen müssen. Sie werden zudem wahr¬ 
scheinlich recht lückenhaft sein, vielleicht aber regt diese Ver¬ 
öffentlichung zur Nachprüfung und Ergänzung an, womit ihr Zweck 
durchaus erreicht wäre. Eine weitere Schwierigkeit ist die Be¬ 
schaffung des Beobaohtungsmaterials. Da, wie früher ausgeführt 


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Weiteres zur Alkoholfrage. 


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wurde, es nns vorläufig auf keine Art gelingt, die spezifische An¬ 
lage zum Trinken klinisch so zu umschreiben, daß ihr Träger als 
solcher von vornherein zu erkennen ist, muß man eben durch 
jahrelange Beobachtung den Trinker vom Nichttrinker unterscheiden, 
was ja schließlich durch den Nachweis oder das Fehlen der Zeichen 
der Trunksucht gelingen muß. 

Den Einfluß des Alkohols auf die geistige und körperliche 
Leistungsfähigkeit, über den zahlreiche und genaue Laboratorium¬ 
untersuchungen vorliegen, darf ich als bekannt voraussetzen. 
Meine heutige Arbeit trägt rein klinischen Charakter, da sie sich 
lediglich auf Beobachtungen stützt, mit dem Versuch also nichts 
zu tun hat. Sie befaßt sich zunächt mit der verschiedenartigen 
Wirkung des Alkohols beim Nichttrinker. Diese ist so außer¬ 
ordentlich groß, daß man wohl behaupten darf, es habe jeder 
seine persönliche Note hinsichtlich seiner Alkoholreaktion. Diese 
Mannigfaltigkeit ist auffällig und erinnert an die andere Tatsache, 
daß in bezug auf seine Wesenseigenart eigentlich kein Mensch 
dem anderen gleicht. Diese beiden Beobachtungsreihen kann man 
dreist in innere Beziehungen zueinander setzen. Man weiß, daß 
der Alkohol eine spezifische Affinität zur Nervensubstanz hat und 
ferner, daß jeder Mensch das Produkt seiner Nerven ist. Es 
hindert also nichts, anzunehmen, daß der Mensch in seiner Reaktion 
auf den Alkohol von seiner nervösen Eigenart abhängig ist, wor¬ 
aus sich zwanglos die Mannigfaltigkeit seiner Wirkung erklärt. 
Folgerichtig muß dieser Satz seine Richtigkeit behalten nicht nur 
für die allgemeine, sondern auch für die augenblickliche nervöse 
Verfassung bezw. alkoholische Reaktion. 

Die Volkserfahrung unterscheidet schon von jeher Leute, die 
viel und die „nichts“ vertragen können. Damit ist zweifellos die 
Alkoholmenge und die Zeitdauer bis zum Eintritt der berauschenden 
Wirkung des Alkohols gemeint. Es ist längst erwiesen, daß das 
Gift aber viel eher wirkt, als man Betrunkenheit feststellen kann, 
woraus sich die Ungenauigkeit jeder klinischen Beobachtung er¬ 
gibt. Darum ist, soweit möglich, eine exakte Nachprüfung und 
Korrektur durch den Versuch erforderlich. Bis sie erfolgt ist, 
muß man sich auf das klinisch Beobachtete stützen. Der Begriff 
Betrunkenheit ist ein ganz roher, der sich für klinische Unter- 

'Zaittthiift fOr P«y«hJ*tri». LXXV. 1. 8 


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Finckh, 


suchtmgen nicht eignet, da er sich damit begnügt, den sinnen- 
fälligen Wegfall motorischer und psychischer Hemmungen und den 
Eintritt von Reiz- und Lähmungserscheinungen erheblichen Grades 
festzustellen. Der geschultere Beobachter ist natürlich auch auf die 
Wahrnehmung dieser Kategorien von Vergiftungszeichen angewiesen, 
nur wird er seine Schlüsse nicht aus dem Eintritt des offen¬ 
kundigen Rausches ziehen, sondern schon viel früher über ihre 
Heftigkeit, Dauer, Entwicklung und den Zeitpunkt ihres Auftretens 
unterrichtet sein. Wenn er nun auch zuverlässiger beobachtet, 
so geschieht es aber trotzdem nicht exakt, darüber muß man sich 
immer klar sein. Man kann aber, wie sich zeigen wird, bei den 
nachfolgenden Betrachtungen auf diesen Begriff des Rausches 
eigentlich ganz verzichten. 

Lassen wir den Lebensgang des menschlichen Organismus 
vom Zeitpunkt seiner Erzeugung bis zu seiner völlig abge¬ 
schlossenen Entwicklung an uns vorüberziehen, so erkennen wir, 
daß das Alkoholgift auf ihn verschiedenartige Wirkungen je nach 
dem Grade seiner Entwicklung ausübt. Sie lassen sich in großen 
Umrissen auf den Satz bringen, daß der zerstörende Einfluß des 
Giftes in gerader Linie mit der fortschreitenden Ausbildung des 
Gehirnes abnimmt derart, daß er am zerstörendsten auf die Keim¬ 
substanz und die frühen Stadien der Gehimentwicklung in der 
ersten Kindheit einwirkt, und um so weniger verhängnisvoll und 
nachhaltig, je mehr der Organismus sich seiner endgültigen Reife 
nähert. Ist diese erreicht, so kann man von der Fähigkeit zu 
einer gewissen Giftfestigkeit oder Toleranz gegenüber dem Alkohol 
reden, deren Höhe der persönlichen Widerstandskraft entspricht. 
Vorübergehend herabgesetzt kann sie sein durch Zustände größerer 
körperlicher Schwäche, Ermüdung oder bei Krankheit. Beim 
erwachsenen Menschen erhöht sich, vermutlich unter dem Einfluß 
des Alkohols, bis zu einer individuell verschiedenen Höhe sehr 
häufig diese Toleranz, es tritt eine Gewöhnung ein, die die Ver¬ 
giftung erst relativ spät klinisch erkennen läßt. Gerade hier nun 
setzen aber die außerordentlichen Verschiedenheiten ein. Es gibt 
Leute, bei denen die Toleranz nie einsetzt, sie können „nichts“ 
vertragen. Ihr Verhalten entspricht aber nicht der Norm, da es 
nicht dasjenige der Mehrheit ist. Es ist also abnorm und bedingt 


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dadurch eine dauernde Senkung der Reizschwelle derNervenelemente 
gegenüber dem Alkohol. Dieser erhöhten Reizbarkeit in bezug 
auf Alkohol entspricht eine solche auch auf anderen Gebieten, 
die wir mit dem Namen reizbare Schwäche zu belegen pflegen, 
und die nervösen Zuständen, z. B. der Neurasthenie, zugrunde 
liegt. Vermutlich aber verbergen sich unter der Bezeichnung Neu¬ 
rasthenie verschiedene nervöse Verfassungen, jede mit besonderem 
Reaktionstypus, und außerdem dürfte für den Grad der Toleranz 
oder Intoleranz auch die Stärke der Nervosität von Bedeutung sein. 
Denn gewiß ist es nicht richtig, daß jeder, der nervös ist, des¬ 
wegen alkoholintolerant ist und jeder Intolerante nervös. Das 
letztere Beispiel sehen wir im allgemeinen bei dem weiblichen 
Geschlecht verwirklicht. Es dürfte der Wahrheit entsprechen, 
daß die Frau im ganzen wesentlich geringere Mengen Alkohol 
erträgt, als der Mann. Der Grund ist einleuchtend. Er besteht 
in den Trinksitten, die für die Frau eine sehr weitgehende Zu¬ 
rückhaltung vom Alkohol vorschreiben. Es bleibt die durch Ge¬ 
wöhnung eintretende Toleranz bei ihr aus, weil sie sich eben 
nicht gewöhnt. Sie bleibt also gewissermaßen in dieser Hinsicht 
auf der Kindheitsstufe stehen, was aber an sich noch längst nicht 
eine Minderwertigkeit des weiblichen Gehirnes bedeutet, sondern 
nur ein durch die Sitte bedingtes Stehenbleiben auf einer Stufe, 
die der Mann auch einmal durchschritten hat. So kann es richtig 
sein, daß Alkoholintoleranz noch kein Beweis für nervöse Minder¬ 
wertigkeit ist. Tritt aber diese relative Gewöhnung an den Alko¬ 
hol, die erhöhte Toleranz beim Nichttrinker ein, so ist sie noch 
nicht der Ausdruck oder Beweis für eine dauernde Giftwirkung 
im Sinn einer beginnenden. Abstumpfung, da diese, wenn sie vor¬ 
handen wäre, sich doch auch sonst irgendwie auf dem Gebiet des 
Seelenlebens geltend machen müßte, was aber nicht der Fall ist. 
Ebenso verkehrt wäre es, einen Menschen, der „nichts“ verträgt, 
für trunksüchtig zu halten. Denn, wie zu Eingang erwähnt, sind 
die Vorbedingungen der Trunksucht andere. Auch wäre es von 
vornherein eigentlich wahrscheinlicher, daß ein Intoleranter mehr 
auf der Hut vor den unangenehmen Wirkungen des Giftes ist 
als der Tolerante, der nach der bisherigen Anschauung durch 
allmähliche Gewöhnung an größere Alkoholmengen schon eher ans 

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Finckh, 


Trinken kommen könnte. Ausschlaggebend ist aber in klinischer 
Hinsicht, daß die Alkoholintoleranz keineswegs ein integrierender 
Bestandteil des Bildes des Alkoholismus istj vielmehr die Zer¬ 
störung und Verödung, beginnend bei den feineren seelischen 
Regungen, die beim Intoleranten aber durchaus vermißt wird. 
Die nervösen strukturellen Grundlagen der Intoleranz und der 
Trunksucht sind eben grundsätzlich verschieden voneinander. So¬ 
mit hat die beim vorgeschrittenen Trinker einsetzende Intoleranz 
mit der „genuinen“ des Nervösen nichts zu tun. 

Das Bild der akuten Alkoholvergiftung ist, wie bekannt, das¬ 
jenige der Erregung mit darauf folgender Lähmung bei jedem 
Menschen. Die Verschiedenheiten der Wirkung ergeben sich hin¬ 
sichtlich der Menge des erforderlichen Alkohols zur Erzeugung 
der deutlich erkennbaren Giftwirkung und aus der Zeitdauer bis 
zu ihrem Eintritt, dazu kommen aber auch noch Unterschiede in 
der Zeitdauer und Ausbildung der einzelnen Phasen der Vergiftung. 
Beim Toleranten überwiegt lange Zeit die Erregung, sie steigt 
langsam an und erreicht spät ihre Höhe, beim Intoleranten geht 
alles viel schneller, aber hinsichtlich der einzelnen Abschnitte 
läßt er ein verschiedenartiges Verhalten erkennen. Die einen, 
die man meistens meint, wenn man von Leuten spricht, die nichts 
vertragen können, werden sehr bald laut und lärmend und ver¬ 
lieren ihre Hemmungen. Es gibt aber noch andere Intolerante, 
bei denen die Erregung fast unmerklich vorübergehen kann, die 
aber sehr schnell müde nach Alkoholgenuß werden, also seine 
lähmende Wirkung besonders früh und deutlich an sich wahr¬ 
nehmen, auch an dem früh eintretenden Stadium von Xusfall- 
und motorischen Lähmungerscheinungen, wenn sie noch mehr 
Alkohol zu sich nehmen. Sie werden indes nicht schwer be¬ 
trunken, weil infolge der Ermüdung der genügende Anreiz zum 
weiteren Genuß, die anregende Wirkung fehlt. Gewiß gehören 
beide Arten von Intoleranz zu den höheren Graden von Nervosität. 
Aber wie es bei Nervösen solche gibt, die sich leicht und heftig 
erregen (z. B. mit Neigung zum Jähzorn), darnach aber stark ab- 
fallen und ungewöhnlich erschöpft sind, während andere stark 
Nervöse diese hochgradige gemütliche Erregbarkeit nicht zeigen, 
so wird es sich vielleicht auch hinsichtlich ihrer Alkoholreaktion 


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verhalten. Daß nervöse Einflüsse bei der Alkoholintoleranz in 
hohem Grade mitwirken, sieht man auch daran, daß bei starker 
seelischer Erregung schon geringe Mengen Alkohol die Erregung 
steigern und ebenso bei Schwächung der nervösen Widerstands¬ 
kraft infolge schwerer körperlicher Anstrengung, bei Krankheiten, - 
im Greisenalter usw. Man hat noch andere Beobachtungen, die 
die innige Abhängigkeit der Alkoholwirkung von der nervösen 
Verfassung anzeigen. Es gibt Leute, die von Zeit zu Zeit ent¬ 
schieden ein Bedürfnis nach Alkohol haben. Zustände körperlicher 
Ermüdung, seelische Abspannung, besonders aber gemütliche Ver¬ 
stimmungen verlangen bei ihnen zum Ausgleich und zur schnelleren 
Überwindung dieser Hemmungen den Genuß von Alkohol. Wahr¬ 
scheinlich werden es solche Menschen sein, bei denen der Alkohol 
mehr anregt als ermüdet, also werden zu diesem Reaktionstypus 
vielleicht vornehmlich die Leute gehören, deren Nervosität in 
endogenen Stimmungsschwankungen oder in der Neigung zu Ver¬ 
stimmungen besteht, also Psychastheniker. Ich glaube aber gewiß, 
diese Leute werden zu Unrecht zu der Klasse der Trinker gerechnet, 
nur weil bei ihnen ab und an das Bedürfnis nach Alkohol be¬ 
steht, der ihnen einen gewissen gemütlichen Tiefstand überwinden 
helfen soll. Man hält dem wohl gegenüber, daß auch beim Trunk¬ 
süchtigen ein Bedürfnis nach Alkohol besteht. Während wir es 
aber bei diesem mehr als organisch, durch die alkoholischen Aus¬ 
fallerscheinungen in dem ewigen Kreislauf zwischen Potus, 
Abstinenzerscheinungen, neuem Drang nach Alkohol bedingt an- 
sehen müssen, hängt dort der Drang nach Alkohol lediglich von 
einem augenblicklichen Tiefstand der seelischen Verfassung ab. 
Ist er überwunden, so fällt sozusagen automatisch auch der Wunsch 
nach Alkohol fort. Daß bei ihnen die Zeichen der Trunksucht 
auf körperlichem und seelischem Gebiet vermißt werden, das ist 
der schlagendste Beweis für die Richtigkeit dieser Anschauung und 
so recht die Probe auf das Exempel. Von ihnen unterscheiden 
sich andere Leute, die dieses Anreizes durch den Alkohol nicht 
bedürfen, und die daher sehr gut auf jeden Alkoholgenuß über¬ 
haupt verzichten können, ohne ein besonders großes Opfer zu 
bringen. Es ist nun keineswegs gesagt, daß sie gerade besonders 
nervenstarke Individuen seien. Im Gegenteil meine ich unter 


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ihnen recht stark nervöse Leute gefunden zu haben, ja sogar 
solche, die gar keine besonders große Widerstandskraft gegen 
Alkohol haben. Nur liegt ihre Nervosität anscheinend nicht in 
der Richtung einer vorwiegenden seelischen Verstimmbarkeit, 
sondern mehr auf der neurasthenischen Linie. Sie brauchen 
den Alkohol nicht, wenn sie ihn aber genießen, so geschieht es 
vornehmlich der sensiblen, Geschmacks- und Geruchsreize wegen. 
Derartige sinnliche Reize mögen auch bis zu einem gewissen Grade 
bestimmend für die Wahl der jeweils genossenen Alkoholsorte 
sein, indem z. B. bei Gewöhnung an schärfere Reize (z. B. beim 
Essen) auch stärker schmeckende, riechende, brennende Alkohole 
bevorzugt werden, während andererseits, um die Geschmacksnerven 
nicht zu lähmen oder abzustumpfen, bei Tisch gerne leichtere 
Weine gewählt werden. 

Es gibt aber noch andere Beziehungen zum Alkohol, bei 
denen ich nervöse Grundlagen zu sehen geneigt bin. Das ist die 
Bekömmlichkeit und Toleranz gegenüber dem Alkohol je nach der 
Tageszeit. Es ist nicht zu verkennen, daß die verschiedenen 
Füllungszustände des Magens und im Zusammenhang damit die 
Schnelligkeit der Aufnahme des Alkohols in den Kreislauf eine 
nicht geringe Rolle spielen. Sie reichen aber sicher nicht zur 
Erklärung aus. Es gibt nämlich Leute, die selbst nach einer 
reichlichen und guten Mittagsmahlzeit außerstande sind, Alkohol 
in dem Maße und mit demselben Genüsse zu sich zu nehmen, 
wie nach dem Abendbrot, trotzdem jenes allgemeiner Übung zu¬ 
folge ausgiebiger gestaltet wird, wie dieses. Ich weiß hier nur 
eine Parallele zu ziehen, die mir brauchbar scheint. Viele 
Menschen, die nervös sind, unterliegen hinsichtlich ihres all¬ 
gemeinen und seelisch-nervösen Befindens deutlichen Tages¬ 
schwankungen derart, daß sie ihre besten Stunden, die Zeit völligen 
Wohlbehagens, gemütlichen Gleichgewichtes oder sogar eine leichte 
Steigerung der Stimmung in den Abendstunden haben. Da sie 
andererseits am wenigsten gesammelt unmittelbar nach der Nacht¬ 
ruhe zu sein pflegen, kann man sie mit Kindern vergleichen, die 
nicht recht ausgeschlafen haben, sie sind empfindlich, reizbar, un¬ 
lustig und in ihrer Stimmung sehr schwankend. Das Gehirn wird 
bei ihnen wohl in einem Zustand geringerer Widerstandsfähigkeit 


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und erhöhter Reizbarkeit sich befinden. In derselben Linie ver¬ 
minderter Widerstandskraft sehen wir den Menschen, dessen Ge¬ 
hirn tagfiber stärker auf den Alkohol reagiert wie abends, und 
ich wüßte nicht, welches ernsthafte Bedenken der Annahme ent¬ 
gegenstünde, daß der Grund für die Tagesschwankungen in der 
Toleranz gegen den Alkohol eben auch in den verschiedenen 
nervösen Verfassungen im Laufe des Tages liegt. Eine hierher 
passende Erscheinung ähnlicher Art scheint mir die Beobachtung 
zu sein, daß es Menschen gibt, die den richtigen Appetit zum 
Essen erst abends haben. Das sind keineswegs Gründe der Ge¬ 
wöhnung und Übung, da ich diese Zustände bei demselben Menschen 
mehrfach habe kommen und gehen sehen. Vielmehr beruht diese 
Erscheinung auf der nervösen Unruhe und Hast, die manche Leute 
zeitweise bei der Abwickelung ihrer Berufsgeschäfte erfaßt, sie 
sind dadurch derartig abgehetzt und psychisch abgelenkt, daß sie 
Sinn und Ruhe für das Essen verlieren. Dieser Zustand verliert 
sich bei ihnen dann erst, wenn der Abend ihrer Tätigkeit ein Ziel 
setzt und ein größeres seelisches Gleichgewicht eintritt. Ich weiß 
auch keinen anderen Grund als die Annahme nervöser Faktoren, 
wenn man sich einmal zum Trinken absolut nicht aufgelegt fühlt 
und das anderemal Lust dazu verspürt; wahrscheinlich sind es, 
abgesehen von zufälligem körperlichem Unwohlsein, in der Regel die¬ 
selben Ursachen nervöser Reizbarkeit oder wie man das nennen 
will, wenn einem der Alkohol nicht schmeckt und direkt nicht 
bekommt, so ähnlich wie es einem Raucher einmal passieren kann, 
daß er von seiner Zigarre nichts wissen will. Und wenn man 
sich an einem Abend besonders trinkfest fühlt und in der Tat die 
vergiftende Wirkung des Alkohols auch viel später wie gewöhnlich 
eintritt, so pflegt dies in Zeiten und Stunden zu sein, in denen 
man innerlich besonders aufgeräumt ist. Da nun aber alles, was 
wir Stimmung, Wohlbehagen, Lust- und Unlustgefühle nennen, 
ganz fraglos mit den physikalisch-chemischen Veränderungen 
unseres nervösen Zentralorgans zusammenhängt, so liegt es nahe, 
zu glauben, daß auch dieses ganze so außerordentlich wechselvolle 
Verhalten gegenüber dem Alkohol mit der Aufnahme und Ver¬ 
arbeitung desselben durch die nervösen Elemente zusammenhängt 
je nach den biochemischen augenblicklichen Verhältnissen desselben. 


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120 


Finckh, 


Es ist mir sodann schon oft auffällig gewesen, daß die schlaf¬ 
bringende Wirkung geistiger Getränke zuweilen ausbleibt, und 
zwar bei kleineren wie bei großen Mengen. Insbesondere, bei den 
letzten sah ich Zustände, die sehr lebhaft an den durch schwere 
Arbeit eingetretenen Zustand von Übermüdung erinnerten, also 
schwere Müdigkeit und Schlafbedürfnis neben motorischen Aus¬ 
fallerscheinungen, und trotzdem Eintritt des Schlafes erst nach 
langer Zeit, wenn völlige Ernüchterung eingetreten war. Es ist 
möglich, das hier wie dort eine nervöse Überreizung vorhanden 
war, die den Eintritt des Schlafes so lange hinauszögerte, bis 
durch eine längere Pause völligen Ausruhens die Überreizung der 
Nerven sich gelegt hatte. Auch der Alkohol könnte eine derartige 
Überreizung erzeugen, die sich erst legen muß, ehe der Schlaf ein- 
tritt. Beide Arten von Übermüdung oder Überreizung sind sich 
nach meiner Beobachtung auch darin verwandt, daß die Schlaf¬ 
periode, die auf sie folgt, auffällig kurz und recht unruhig, traum¬ 
reich ist, wie wenn die starke Erregung der Nerven noch stunden¬ 
lange Schwingungen verursachte. Und nun war mir merkwürdig, 
daß große Alkoholmengen zu verschiedenen Zeiten nicht immer 
das gleiche Bild der Übermüdung erzeugten. Vielmehr meinte ich, 
in Perioden besseren nervösen Befindens regelmäßig das Ausbleiben 
der Überreizung, dagegen baldiges Einschlafen und erquickenden 
festen Schlaf von normaler, aber nicht übermäßiger Dauer gesehen 
zu haben. Diese Erscheinung, die mir zu häufig entgegen getreten 
ist, als daß ich von Zufall oder Irrtum sprechen möchte, weist 
doch auch wieder fast zwingend auf die verschiedenartige nervöse 
Grundlage hin, auf der sich die Alkoholwirkung auf baut. Diese 
Übermüdung macht sich ihrem Träger schon während der Alkohol¬ 
sitzung bemerkbar und kann überwunden werden durch längere 
völlige Ruhe und Enthaltung von weiterem Alkoholgenuß; die 
gleichzeitig vorhandenen motorischen Ausfälle verschwinden 
während der Karenz- und Ruhezeit, und es tritt ein Zustand 
größerer Alkoholtoleranz wieder ein, auf den normaler, erquickender 
Nachtschlaf folgt. 

Wie ungleichartig die Wirkung des Alkohols ist, geht auch 
daraus hervor, daß es Leute gibt, bei denen die übliche Steigerung 
der sexuellen Erregbarkeit durchaus anszubleiben scheint, ohne daß 


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Weiteres zur Alkoholfrage. 


121 


es sich etwa um sexuell Unempfindliche handelt. Er scheint bei 
seiner Einwirkung bei dem einen eben die eine und bei dem 
anderen jene nervöse Gruppe besonders zu erfassen, wie wir ja 
oben erfahren haben, daß die psychische Erregung nicht stets und 
durchaus die Szene beherrscht, da andere sehr viel stärker seine 
lähmende Wirkung an sich erfahren; endlich überwiegt bei ein 
und demselben Menschen bald diese, bald jene Erscheinungsreihe, 
so- daß man von verschiedenen Dispositionen oder Affinitäten zum 
Alkohol innerhalb desselben Nervensystems sprechen könnte. 

So wird jeder, der andere und sich selbst auf diese merk¬ 
würdigen Bilder hin beobachtet hat, ähnliche und wahrscheinlich 
noch sehr viel andere Erscheinungen feststellen können, vielleicht 
auch Gegenteiliges zu dem heute Vorgeführten. Ich glaube, es 
handelt sich hier um recht komplizierte Verhältnisse, einander 
ausschließende oder ergänzende Kräfte, so daß schon daraus sich 
die mannigfaltigen und so sehr wechselvollen Folgen verstehen 
lassen. Sie alle erklären zu wollen, dürfte aussichtslos sein, da 
wir den letzten Ursachen doch nirgends nachspüren können. Wir 
müssen uns wahrscheinlich genügen lassen, wenn wir sie einiger¬ 
maßen in das Gefüge ähnlicher oder verwandter Beobachtungen 
einzureihen vermögen, über die wir uns bereits bestimmte Vor¬ 
stellungen gemacht haben, die unserem Erkenntnisvermögen 
einigermaßen genügen. 

Das Gemeinsame der hier vorgeführten, so bunten und ein¬ 
ander oft scheinbar widersprechenden Bilder scheint mir zu sein, 
daß, da der Alkohol im wesentlichen derselbe bleibt, es doch in 
der Hauptsache auf das Nervensystem ankommt, auf das er ein- 
wfckt, sowie auf die Veränderungen in demselben, und der ver¬ 
schiedenartigen Verfassungen, denen es unterliegt. Und da er in 
erster Linie gerade in die feinsten Ansstrahlungen des seelisch¬ 
nervösen Gefüges eingreift, die wir mit Recht die Kennzeichen 
der persönlichen' Eigenart nennen dürfen, so wird es vielleicht 
richtig sein, daß der Alkohol dazu hilft, die seelische Struktur des 
einzelnen und seine Reaktionen besonders deutlich erkennen 
zu lassen. 


Ztitaehrilt für Paydiiatrit. LXXV. 1. 


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Personalnachrichten, 


Dr. Rudolf Camerer, Obermed.-Rat, Ref. d. Med.-Kollegiums, wurde zum 
Direktor der Heilanstalt Winnental, 

Dr. Julius Daiber, Oberarztin Weinsberg, zum Direktorin Zwiefalten, 
Dr. Friedrich Kälber Iah, Nervenarzt in Frankfurt a. M., zum ärztlichen 
Leiter der städtischen Kuranstalt Hohe Mark, 

Dr. Walter Schulze, Anstaltsarzt in Potsdam, zum Oberarzt in Görden 
ernannt, 

Dr. Hans Römer, Oberarzt, von Illenau nach der Landesanstalt bei 
Konstanz versetzt und 

Dr. Ernst O. Böttcher, Med.-Rat, Oberarzt, von Colditz nach Waldheim 
vorübergehend abgeordnet. 

Dr. Alfred Hauptmann, Priv.-Doz. in Freiburg i. B., ist zum ao. Pro¬ 
fessor, 

Dr. Hugo Liepmann, Prof., Dir. d. städt. Heilanstalt Herzberge, und 
Dr. Oswald Bumke, Prof, in Breslau, sind zu Geh. Med.-Räten, 

Dr. Max Laehr, Prof., Leiter der Heilstätte Haus Schönow, 

Dr. Albert Oliven, Dir. des Berolinum in Lankwitz, und 

Dr. Richard Henneberg in Charlottenburg zu Geh. Sanitätsräten, 

Dr. Paul Edel in Charlottenburg, 

Dr. Siegfried Kahlbaum, Leiter der Privatheilanstalt in Görlitz, 

Dr. Richard Lehmann, Oberarzt in Lublinitz, 

Dr. Johann Wende, Oberarzt in Kreuzburg, 

Dr. Friedrich Borchers und 

Dr. Ludwig Schmidt, Abteilungsärzte in Hildesheim, und 
Dr. Wilhclm Schlodtmann, Oberarzt in Roderbirken, zu Sanität6räten 
ernannt worden. 

Dr. Otto Binswanger, Prof, und Geh. Med.-Rat in Jena, hat das Komtur¬ 
kreuz 1. Kl. d. Anhaitinischen Hausordens Albrecht des 
Bären und das Komturkreuz mit Stern des Sachsen-Ernestini- 
schen Hauses, sowie das Weimarische Ehrenkreuz für 
Heimatverdienst, 

Dr. Wilhelm Strohmayer, ao. Prof, in Jena, das Ritterkreuz 1. KL d. An- 
haltinischen Hausordens Albrechts des Bären erhalten. 

Dr. Paul Dubois, ao. Prof, in Bern, ist am 4. Nov., 

Dr. Hans Schröder, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Hildesheim, am 
3. Dez. an Grippe mit Pleuritis, 

Dr. Eduard Kerris, Oberarzt in Johannistal bei Süchteln, 

Dr. A. Erler in Kortau, 

Dr. Ludwig Scholz , Nervenarzt in Bremen, und 

Dr. Kurt Halbey, Kreisarzt in Kattowitz, sind gestorben. 


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Die Schizophrenie 

im Lichte der Assoziation»- und in dem der Aktions- 

Psychologie. 

Von 

Doz. Dr. Josef Bene, 

k. k. Regierungsrat, Direktor der n. ö. Landesirrenanstalt Klosterneuburg. 

Die Versuche, das schwere Rätsel der Schizophrenie zu lösen, 
müssen selbstverständlich verschieden ausfallen, je nach der Richtung 
der Psychologie, auf deren Standpunkt die Autoren stehen. Besonders 
groß werden die Differenzen sein müssen, wenn ein Autor Anhänger 
des reinsten Assoziationismus ist, der andere dagegen von der Richtig¬ 
keit der aktionspsychologischen Auffassung, gleichviel in welcher spe¬ 
ziellen Form, überzeugt ist. 

Dem Assoziationspsychologen bleibt, da er das Denken wie alle 
„höheren“ geistigen Vorgänge überhaupt einzig und allein auf Assozia¬ 
tionen zurückführt und die psychische Aktivität im Sinne der aktions¬ 
psychologischen Richtung in Abrede stellt, nachgerade nichts anderes 
übrig, als eine Störung im Bereiche der Assoziationen als Grundstörung 
der Schizophrenien hinzustellen. 

So findet denn auch Bleuler l ) in seiner neuesten Arbeit über die 
Schizophrenie folgendes: „Ein dynamisches Etwas, die Assoziations¬ 
spannung, hält die durch Erfahrung gebildeten Assoziationen in ihren 
Bahnen. Im Schlafe und in der Zerstreutheit läßt diese Funktion 
nach; außerdem lockern sich die Assoziationen in für unsere Kennt¬ 
nisse ganz gleicher Weise auch bei den Schizophrenien. Es ist deshalb 
wahrscheinlich, daß der schizophrene Prozeß die Assoziationsspannung 
irgendwie schwächt, und — weil sich aus dieser Anomalie fast alle der 


*) E. Bleuler , Störung der Assoziationsspannung ein Elementar¬ 
symptom der Schizophrenien (Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 74, S. 1 fT.). 
S. „Zusammenfassung“ am Schlüsse dieser Arbeit. 


Zeitschrift für Psychiatrie. 

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LXXV. 2. 


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124 


Berze, 


bekannten schizophrenen Symptome ableiten lassen — können wir 
vermuten, daß die Schw&che der Schaltspannung die Grundlage der 
spezifisch schizophrenen Erscheinungen sei. Damit soll aber nichts 
mehr als eine Arbeitshypothese aulgestellt sein/' 

Gegen die Behauptung, daß die für die Schizophrenie charak¬ 
teristischen psychischen Erscheinungen denen des Schlafes und auch 
der Zerstreutheit durchaus analog seien, wird von keiner Seite ein 
Ein wand erhoben werden; diese Analogie hat sich ja vielmehr allen 
Beobachtern geradezu aufgedrängt und ist auch von den meisten 
Autoren als wichtigste Grundlage für die Betrachtung der Grund¬ 
störung der Schizophrenien angesehen worden. Auch dagegen wird 
nichts einzuwenden sein, wenn aus der Gleichheit der Erscheinungen 
in den erwähnten Zuständen auf eine Gleichheit des ihnen letzten 
Endes zugrunde liegenden Mechanismus geschlossen wird, obwohl 
andrerseits nicht vergessen werden darf, daß mit dieser These das 
Gebiet der vergleichenden Beobachtung bereits verlassen und das der 
Annahmen betreten ist. 

Durchaus hypothetisch aber ist Bleulers Aufstellung, daß es sich 
im Schlafe, in der Zerstreutheit und ebenso auch bei den Schizophrenien 
um eine „Lockerung der Assoziationen“ handle. Bleuler spricht zwar 
(1. c. S. 13) von der „Lockerung der Erfahrungsassoziationen bei der 
Schizophrenie“ als einer „Bcobachtungstatsache“; er wird aber 
doch selbst zugeben müssen, 'daß er dazu im Grunde nicht berechtigt 
ist, da er niemals die behauptete Lockerung der Assoziationen selbst 
beobachtet haben kann, sondern immer nur Erscheinungen, die er 
sich als durch eine solche Lockerung bedingt auslegt. 

Welcher Art sind nun diese Erscheinungen? 

Bleuler führt aus, daß „von allen chronischen Psychosen nur die 
Schizophrenie andauernd die festen Begriffe auflösen und anders zu- 
sammensetzen kann“, und fragt im unmittelbaren Anschluß daran: 
„Was ist nun diese Lockerung der Assoziationen ?“ Daraus geht hervor, 
daß es u. a. die erwähnte Störung im Gebiete der Begriffe ist, die 
Bleuler meint, wenn er von einer Lockerung der Assoziationen 
spricht. Ebenso spricht Bleuler an anderer Stelle davon, daß die Er- 
fahrungsassoziationen im Traume gelockert seien, so daß „da fast 
alles an alles assoziiert werden“ könne; die Folge davon sei, daß „die 
festesten Konglomerate, wie z. B. Begriffe l ), in ihre Bestandteile 


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*) Im Originale nicht gesperrt! 

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Die Schizophrenie osw. 


125 


zerrissen und zu neuen, phantastischen Gebilden zusammengesetzt 
werden können“, desgleichen Vorstellungen bzw. Halluzinationen, 
daß „dar ganze Gedankengang des Traumes die Geleise der Logik 
verläßt“ U8w. Außer der Auflösung und der von der Erfahrung ab¬ 
weichenden neuen Zusammensetzung der Begriffe sind es also gleiche 
Erscheinungen an verschiedenen andern psychischen Gebilden, die 
Bleuiler auf die „Lockerung der Assoziationen“ bezieht. 

Es eigibt sich demnach, daß Bleuler an eine „Lockerung der As¬ 
soziationen“ deshalb denkt, weil er in den Begriffen und in den Vorstel¬ 
lungen nichts anderes sieht als „Konglomerate“ (d. h. Assoziationskom¬ 
plexe), ja selbst die Einhaltung der Logik ganz und gar als eine Wirkung 
festgefügter Assoziationen betrachtet und daher die Auflösung der 
Begriffe usw. sowie das Verlassen der „Geleise der Logik“, geradezu 
auf eine Störung im Bereiche der Assoziationen zurückführen muß, 
auf eine Störung, die sich ihm begreiflicherweise als Lockerung der 
Assoziationen darstellt. 

Begriffe sind Zusammenfassungen (sc. von Merkmalen); der As¬ 
soziationspsychologe setzt für Zusammenfassung einfach Assoziation 
und schreibt den Assoziationen, als welche sich ihm also die Begriffe 
darstellen, das gleiche Wesen sowie die gleichen Entstehungs- und 
Existenzbedingungen und die gleiche Bedeutung zu wie den Assozia 
tionen im geläufigen Sinne, d. i. den simultanen und sukzessiven einer¬ 
seits, den Berührungs- und Gleichheitsassoziationen andererseits. 

Nun liegt es aber doch auf der Hand, daß das bloße (passive) 
Erleben wohl Assoziationen, z. B. simultane Assoziationen, erzeugen 
bzw. hervorrufen kann, niemals aber Begriffe. Die Entstehung der 
Begriffe hat vielmehr außerdem das Wirken der Idee zur Voraus¬ 
setzung, durch welche der Gesichtspunkt zur Geltung kommt, von 
welchem aus die Erlebnisse zum Zwecke der begrifflichen Zusammen¬ 
fassung jeweils betrachtet werden; dies geht u. a. auch daraus hervor, 
daß ein und dasselbe Erlebnismaterial, niedergelegt in ein und dem¬ 
selben Assoziationsmaterial, nach den verschiedensten Gesichts¬ 
punkten begrifflich geordnet werden kann. Die Begriffe sind mit 
andern Worten nicht unmittelbar mit dem Anschaulichen gegeben 
und können auch niemals durch bloße Assoziationen von Anschaulichem 
entstehen; sie sind vielmehr „Produkte der denkenden Verarbei¬ 
tung“ des Inhaltes der Erlebnisse. So ist zunächst einmal das Ent- 


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126 


Berze, 


stehen der Begriffe von dem Gegebensein der Fähigkeit zu geistiger 
Tätigkeit abhängig. Aber nicht nur das Entstehen! Zwar entspricht 
dem einmal gebildeten Begriff ein Komplex von Assoziationen, welcher 
beim Individualbegriff die Eigenschaften eines Individuums, beim 
AUgemeinbegriff seine konkreten Repräsentanten — in beiden Fällen, 
soweit sie (Eigenschaften, Repräsentanten) einzeln erfaßt und sodann 
zum Begriffe zusammengefaßt worden sind — betrifft. Aber die den 
einzelnen Begriffen entsprechenden Assoziationskomplexe sind keines¬ 
wegs sozusagen gegeneinander scharf abgegrenzte Entitäten, sind 
vielmehr in allen ihren Komponenten auch untereinander, wenn auch 
weniger solid, assoziiert, so daß buchstäblich — schon unter normalen 
Verhältnissen — alles mit allem verknüpft ist und somit ein beständiges 
Ineinanderfließen der die verschiedenen Begriffe repräsentierenden 
Vorstellungen möglich ist, soweit es nur auf die Assoziationen an¬ 
käme. Auch die Wiedererweckung der Begriffe und das Hantieren 
mit ihnen hat also die Wirksamkeit eines Faktors zur Voraussetzung, 
welcher den im Einzelfalle in Betracht kommenden Assoziations¬ 
komplex aus der Gesamtheit des Assoziierten heraus- und vom übrigen 
abhebt. Ist das Schaffen der Begriffe mit andern Worten ein Denken, 
so das Wiedererwecken der Begriffe ein Nachdenken (Nach-Denken), 
also wieder geistige Tätigkeit, die sich allerdings infolge des Zuhilfe¬ 
kommens des reproduzierten Komplexes repräsentativer Assoziationen 
weit leichter und rascher abspielt. Das Wesentliche an diesem Vor¬ 
gänge des Nachdenkens ist aber zweifellos wieder die Wirksamkeit der 
Idee, der „gedanklichen Einheit“, welche dem einzelnen Begriffe zu¬ 
grunde liegt. 

Nicht also auf dem mehr oder weniger festen Gefüge bestimmter 
„Assoziationskomplexe“ beruht die mehr oder weniger ausgesprochene 
Solidität und Umgrenztheit der Begriffe, sondern auf der mehr oder 
weniger intensiven Wirksamkeit der das eigentliche Wesen der Begriffe 
ausmachenden Ideen (gedanklichen Einheiten). 

Die sensualistische Assoziationspsychologie hat für Ideen in 
diesem Sinne keinen Platz. Es gibt für sie keine Gegenüberstellung 
von Assoziationsmaterial als Produkt der Sinnesfunktionen einerseits, 
Ideen als die weiteren geistigen Gestaltungen schaffende Faktoren 
andererseits. Da der Assoziationismus alles Psychische auf die Emp¬ 
findungen und nur auf sie zurückführt und auch für die Ideen keine 


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Die Schizophrenie usw. 


127 


Ausnahme gelten läßt, begibt er sich der Möglichkeit, diese als Motoren 
und Regulatoren der unter Verwendung (Verarbeitung) des in den 
sensugenen Assoziationen niedergelegten Materials erfolgenden und 
zur Entstehung höherer geistiger Ergebnisse führenden psychischen 
Tätigkeit zu betrachten. Es wäre ja ein Circulus vitiosus, wollte man 
Abkömmlinge des Assoziationsgetriebes andererseits wieder als treibende 
und ordnende Faktoren bei der Hervorrufung von Assoziationskom¬ 
plexen hinstellen. Man kann sich nicht ä la Münchhausen mit eigener 
Hand an seinem Zopfe aus dem Sumpfe, in den man geraten, ziehen* 

Das „logische Denken“ ist nach Bleuler, im Sinne des strengsten 
Assoziationismus, „entweder eine genaue Reproduktion früher erlebter 
oder eine Bildung analoger Verbindungen“. 

Eine solche Fassung ist schon deshalb nicht akzeptabel, weil das 
Denken keineswegs immer ein Schaffen, geschweige denn ein Re¬ 
produzieren von „Verbindungen“ ist. Der synthetischen Denk¬ 
tätigkeit, die man ja vielleicht als ein Bilden von Verbindungen um¬ 
schreiben könnte, steht als zumindest ebenbürtige und gleich wichtige 
„Handlungsweise des Verstandes“ das analytische Denken gegenüber, 
dem jene Definition nicht gerecht wird, abgesehen davon, daß auch 
die vergleichend-beziehende, auswählende, bevorzugende, hemmende 
Denktätigkeit nicht einfach als ein Bilden von Verbindungen hinge¬ 
stellt werden kann — und vor allem ganz allgemein davon, daß mit der 
Betonung der sich aus dem Denken, welcher Art immer es sein mag, 
etwa ergebenden Verbindungen immer nur das Ergebnis des Den¬ 
kens, keineswegs aber das Wesen dieser Tätigkeit selbst berührt wird. 

Auf das letztere kommt es aber gerade an, schon dem Psychologen, 
ganz besonders aber dem Psychopathologen; denn die Geistesstörungen 
sind im Grunde genommen durchweg pathologische Veränderungen 
der geistigen Tätigkeit, und es kann nur von einzelnen Formen der 
Geistesstörung mehr oder weniger sicher behauptet werden, daß die 
pathologische Veränderung der Geistestätigkeit eine sekundäre sei, 
abhängig von einer primären Störung im Bereiche der eine Voraus¬ 
setzung des Denkens bildenden Assoziationen („Verbindungen“). 

Ganz besonders aber ist die „Schizophrenie“ eine Störung der 
Geistestätigkeit. Dies muß auch der Assoziationspsychologe, wenn 
er gut beobachtet, also auch Bleuler, konstatieren. Er muß auch vor 
allem dieser Tatsache gerecht zu werden suchen, wenn er daran geht. 


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128 


Berte, 


eine „Hypothese“ für das „Elementarsymptom der Schizophrenien“ 
aufzustellen. Wie tut dies nun Bleuler ? 

Eine psychische Aktivität im eigentlichen Sinne stellt Bleuler 
in Abrede. Demgemäß verwirft er auch die Theorien der Schizophrenie, 
nach welchen die primäre Störung in einer Insuffizienz der psychischen 
Aktivität zu suchen wäre 1 ). 

Als besonderen Grund für diese Ablehnung führt Bleuler an, daß 
„die Schizophrenen in Aufregung, bei einer Unternehmung, die sie 
interessiert, z. B. einem Fluchtversuch, und unter Umständen an¬ 
dauernd (schizophrene Weltverbesserer) eine sehr große Energie ent¬ 
wickeln können“. „Es kann also bei den Schizophrenen nicht prin¬ 
zipiell die allgemeine Energie herabgesetzt sein.“ 

Dieser Einwand macht zunächst den Eindruck der Unabwehrbar- 
keit; bei näherer Betrachtung zeigt sich aber alsbald seine Hinfälligkeit. 

Zunächst ist ein großer Unterschied zwischen Schizophrenen und 
Schizophrenen darin gelegen, daß die einen zurzeit als Kranke im 
eigentlichen Sinne zu betrachten sind, weil der eigentliche Krankheits¬ 
prozeß, welcher der Geistesstörung zugrunde liegt, noch besteht bzw. 
noch im Gange ist, die andern aber bereits als geistig Sieche oder 
noch besser als geistig Krüppelhafte, weil bei ihnen der eigentliche 
Krankheitsprozeß wohl nicht mehr besteht, sei es, daß er temporär 
äusgesetzt hat, sei es, daß er endgültig abgelaufen ist, andrerseits aber 
als Besiduen der durchgemachten eigentlichen Krankheit „schizo¬ 
phrene“ Veränderungen zurückgeblieben sind. Freilich leidet diese 
Betrachtungsweise einstweilen noch daran, daß wir noch keine sicheren 
Anhaltspunkte für die Unterscheidung zwischen der eigentlichen 
Krankheit und dem schizophrenen Siechtum haben und in diesem 
Punkte fast ganz auf den allgemeinen Eindruck angewiesen sind. 
Soviel läßt sich aber doch schon heute mit einiger Bestimmtheit sagen, 
daß die eigentliche Krankheit in vielen Fällen akut oder subakut, in 
andern Fällen mehr chronisch mit oder ohne eigentliche Progredienz, 
oft „in Schüben“ mit dazwischenliegenden Remissionen oder auch 
Intennissionen, verläuft und daß nach ihrem Ablaufe eben in der 

1 ) Darunter die meinige. Vgl. Berze, Die primäre Insuffizienz der 
psychischen Aktivität; ihr Wesen, ihre Erscheinungen und ihre Bedeutung 
als Grundstörung der Dementia praecox und der Hypophrenien überhaupt. 
(Leipzig und Wien, 1914 .) 


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Die Schizophrenie ubw. 


129 


Regel ein seinem Wesen nach im allgemeinen stationär bleibender 
schizophrener „Residualzustand“ zurückbleibt. Der weitaus größte 
Teil der Schizophrenen, wie wir sie in den Irrenanstalten "viele Jahre, 
ja Dezennien lang beobachten können, und auch die große Zahl der 
Schizophrenen, die Bleuler im Auge hat, wenn er z. B. auf die „schizo¬ 
phrenen Weltverbesserer“ hinweist, sind nicht mehr Kranke, sondern 
Sieche, Krüppel im oben bezeichneten Sinne, bei denen allerdings auch 
zu jeder Zeit, auch nach viele Jahre währendem Stillstände, noch 
neuerliche Krankheitsschübe von kurzer oder auch längerer Dauer 
einsetzen können. — Mit andern Worten: Was wir an der großen Menge 
der Schizophrenen in den und außerhalb der Anstalten beobachten, 
sind nicht Erscheinungen der bestehenden Krankheit — diese sind 
mit dem Ablaufe der Krankheit verschwunden —, sondern Folgen der 
abgelaufenen Krankheit, Verwüstungen, die die Krankheit ange¬ 
richtet hat. 

Wenn also Bleuler anführt, daß die Schizophrenen unter bestimm¬ 
ten Umständen „eine sehr große Energie entwickeln können“, so sagt 
er damit nichts aus, was gegen die Annahme einer Insuffizienz der 
psychischen Aktivität als Grundstörung der Krankheit Schizophrenie 
spräche, so lange er nicht den Beweis geliefert hat, daß eg sich in den 
Fällen, auf die er sich bezieht, um noch (Schizophrenie-) Kranke und 
nicht um bereits „sekundäre“ x ) Fälle handelt. Denn — und damit 
wird ein Gesichtspunkt berührt, der für die Beurteilung des Wesens 
der Schizophrenie von allerwesentlichster Bedeutung ist — es spricht 
durchaus nichts gegen die Annahme, daß die Grundstörung der 
Krankheit Schizophrenie in einer gewissen Gruppe von Fällen, eine 
reparable sei, & h. daß in diesen Fällen die Insuffizienz der psychi¬ 
schen Aktivität auf einer ausgleichbaren Störung im psychozerebralen 
Apparate beruhe und mit deren Behebung daher auch wieder restlog 
verschwinden könne. Daß auch die vollkommene Wiederherstellung 
der psychischen Aktivität in einer großen Zahl dieser Fälle nicht zu¬ 
gleich eine völlige Wiederherstellung des Geisteslebens herbeizuführen 
vermag, liegt, wie bereits angedeutet, daran, daß die psychische Ak¬ 
tivität nach Ablauf der Krankheit sozusagen in einem verdorbenen 
Mechanismus spielt. Wie der Imbezille auch bei größter psychischer 

x ) Die Bezeichnung sekundär paßt m. E. ganz gut für die Zustände 
des schizophrenen Siechtums. 


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Berze, 


Aktivität mangelhafte, im Sinne des gewöhnlichen Schwachsinns 
unterwertige Geistesprodukte liefert, so sind auch die, welche der 
Schizophrene im sekundären Stadium zuwege bringt, auch dann, 
wenn die psychische Aktivität an sich für ein normales Geistesleben 
ausreichend wäre, in so und so vielen Fällen mangelhaft, und zwar 
in schizophrenem Sinne defekt — infolge der Inhaltsverfälschung, 
welche sich während der Dauer der krankhaften Aktivitätschwäche im 
Gebiete der Ideen, Ideenverbindungen, Strebungen, Strebungskomplexe 
ausgebildet hat, und infolge der Veränderung der Konstitution der 
Persönlichkeit, welche sich zugleich mit diesen und mit den Störungen 
im Gebiete der Affektivität während dieser Zeit eingestellt hat. 

Aber auch bezogen auf die Zeit, in welcher die Aktivitätsschwäche 
tatsächlich vorherrscht, also auf die Zeit der eigentlichen Krankheit, 
trifft Bleulers Einwand nicht zu. Es ist ja selbstverständlich keinem 
der Autoren, welche die Grundstörung der Schizophrenien in'einer 
Aktivitätsinsuffizienz sehen — und auch mir nicht — eingefallen, im 
allgemeinen eine so weitgehende, an Vernichtung grenzende Ab¬ 
schwächung der „psychischen Energie“ anzunehmen, wie sie Voraus¬ 
setzung einer völligen Aufhebung des Willens wäre. Die Aktivitäts¬ 
schwäche geht in einem großen Teile der Fälle nur so weit, daß die 
psychische Tätigkeit, wenn es an einem besonderen Sukkurs, also 
namentlich an einem zureichenden Affekte oder an einer zureichend 
intensiven Strebungserregung, fehlt, das Denken, Wollen, Handeln 
leicht direktionslos, zerfahren wird, oder daß ein Hindernis, das eine 
normale psychische Aktivität noch ohne Schwierigkeit zu überwinden 
vermag, eine ungünstige „Konstellation“ etwa, leicht zu Versagern 
führt oder doch dem betreffenden Akte größere, unter Umständen zu 
den verschiedensten psychopathologischen Konsequenzen (Wahn¬ 
bildung, Negativismus usf.) führende Schwierigkeiten bereitet. Die 
Aktivitätsschwäche geht aber andererseits — im allgemeinen — nicht 
so weit, daß nicht unter dem Einflüsse „stimulierender“ Affekte, 
Eindrücke, Einfälle ausgesprochene Willenshandlungen jeder Art zu¬ 
stande kommen könnten. 

Wenn Bleuler aber besonders betont, daß Schizophrene unter 
Umständen „eine sehr große Energie entwickeln können“, so muß 
ihm entgegengehalten werden, daß hinter der Entfaltung großer 
Energie nicht immer große psychische Aktivität stecken muß. 


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Die Schizophrenie usw. 


131 


Es gehört z. B. keine sonderlich große psychische Aktivität dazu, 
eine Affekthandlung zu begehen, oder gar dazu, unter dem Einflüsse 
eines Affektes zu explodieren; im Gegenteil aber gehört ein größeres 
Maß davon gerade dazu, den Affekt zu beherrschen. Es spricht keines¬ 
wegs eindeutig für zureichende psychische Aktivität, wenn ein Schizo¬ 
phrener bei einer Unternehmung, die ihn interessiert, z.B. einem 
Fluchtversuch, „eine sehr große Energie entwickelt“. Gerade so wie 
eine dem Gegner im ganzen nicht gewachsene, also zu schwache Armee 
einen lokalen Erfolg erringen kann, so kann auch der Schizophrene, 
obwohl seine verminderte psychische Aktivität zu einer hinreichend 
intensiven und nachhaltigen Willensbetätigung im allgemeinen nicht 
genügt, gelegentlich eine als Ergebnis eines kräftigen Wollens im¬ 
ponierende Handlung setzen; in beiden Fällen handelt es sich um Her¬ 
vorbringung einer kräftigeren Wirkung durch Konzentration der 
Kraft auf die betreffende Handlung, im Falle der Schizophrenie herbei¬ 
geführt durch die „Affektbetonung“ der Intention 1 ). Den schizophrenen 
Weltverbesserern und dergleichen endlich, die ein Leben lang ein und 
denselben Komplex von mehr oder weniger armseligen Ideen stets 
von neuem Wiederkäuen, dabei in der Regel bestimmte Ausdrücke 
und Phrasen „zu Tode hetzend“, ob der Hartnäckigkeit, mit der sie 
dabei zu Werke zu gehen scheinen, eine besonders große Energie zuzu¬ 
schreiben, geht erst recht nicht an; denn diese Hartnäckigkeit ist kein 
positives Ergebnis willensmäßiger Beschränkung, sondern das negative 
Ergebnis der Unfähigkeit zur Ablösung der einmal festgelegten, per¬ 
sistierenden alten Ideen durch erst zu konzipierende neue, ist also wie 
die Kritiklosigkeit, welche der Hauptsache nach auf das Fehlen jener 
„Breite des Bewußtseinsstromes“ zurückzuführen ist, die unter nor¬ 
malen Verhältnissen auch „Nebenassoziationen“, wie sie zur Betrach¬ 
tung der Dinge von verschiedenen Seiten notwendig sind, aufkommen 
läßt, gerade ein Zeichen der verminderten psychischen Aktivität. 

Endlich muß Bleuler entgegengehalten werden, daß selbst daraus, 


*) Affektivität ist nicht (psychische) Aktivität; Fühlen ist 
nicht Streben. Affektivität schafft auch nicht Aktivität, sondern lenkt 
bzw. konzentriert nur die vorhandene Aktivität auf die („affektbetonte“) 
Idee, bzw. Strebung (Bewußtseinseinengung durch den Affekt), wodurch 
allerdings der Anschein eines Anwachsens der Aktivität als solcher 
hervorgerufen wird. 


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13 


B erz e, 


daß eine gewisse Art von Schizophrenen zuzeiten in der Tat fähig 
ist, „gute, ja hervorragende Verstandesleistungen aufzuweisen“, durch¬ 
aus nicht gegen die Annahme einer Schwächung der psychischen 
Tätigkeit (abaissement du niveau mental, incapacitö de reffort mental, 
oder dergleichen) als solche, sondern nur gegen eine bestimmte Fassung 
dieser Annahme sprechen kann. Unmöglich ist es nämlich, für diese 
Gruppe von Fällen anzunehmen, daß der Krankheitsprozeß eine 
Störung setze, durch welche das niveau mental auf einen Tiefstand 
herabgesetzt werde, aus welchem es sich nunmehr während der Dauer 
dieser Störung nicht mehr, auch nicht vorübergehend, erheben könne. 
Ganz mit Recht sagt ja Bleuler , in Beziehung namentlich auf die Fälle 
mit ausgesprochen „launenhafter Inkonstanz der Symptome“, es sei 
ausgeschlossen, zu denken, „daß die schlechte Leistung der einen 
Minute jeweilen Zeichen eines vorgeschrittenen Krankheitsprozesses, 
die gute des folgenden Momentes Beweis einer Besserung sei“. Aber 
Bleulers Einwand hat keine Berechtigung mehr gegen die Annahme, 
daß der Krankheitsprozeß einen Faktor schädigt, dessen Intaktheit 
unbedingte Voraussetzung ist für die konstante Festhaltung des 
niveau mental auf jener Höhe, deren Einhaltung unter normalen Ver¬ 
hältnissen für die ganze Dauer des physiologischen Wachzustandes 
ein normales Geistesleben gewährleistet; denn die Schädigung dieses 
Faktors muß zur Folge haben, daß an Stelle der Konstanz eine In¬ 
konstanz des niveau mental — oder, wie ich mich (1. c. und an 
andern Orten 1 )) ausgedrückt habe, an Stelle der Stabilität eine gewisse 
Labilität des Bewußtseinstonus (psychischen Tonus) — tritt, 
daß also ein Zustand eintritt, der dem von Bleuler mit Recht aulge¬ 
stellten Postulate: „Die Störung, soweit sie sich in den Symptomen 
ausdrückt, muß also eine reversible sein“, in geradezu exakter Weise 
entspricht. 

Bleuler lehnt aber, wie gesagt, eine psychische Aktivität im 
eigentlichen Sinne und folgerichtig auch eine Insuffizienz der psychi¬ 
schen Aktivität als Grundstörung der Schizophrenien ab. Wie steht 
es nun aber um seine eigene Hypothese? 

Bleuler unterscheidet zwischen dem Zustande, in welchem (psychi- 

*) Berze, Bewußtseinstonus (Wiener med. Wschr. 1911); derselbe. 
Zur Psychologie und Pathologie der intentionalen Sphäre (Psych.-neurol. 
Wschr. 1913). 


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Die Schizophrenie usw. 


133 


sehe) „Energie“ in zureichendem Maße ,,aufgewendet“ wird; in diesem 
Zustande „werden die Assoziationen in ihren Erfahrungsgeleisen ge¬ 
halten“, — und Zuständen, weiche „nach unseren geläufigen und un¬ 
widersprochenen Vorstellungen das Gemeinsame haben, daß die auf¬ 
gewendete Energie vermindert ist“, nämlich „Schlaf, Sich-gehen-lassen 
und Tätigkeit neben der Aufmerksamkeit, Zerstreutheit“; in diesen 
Zuständen „bewegen sich“ die Assoziationen „freier“. 

Wie kommt dies? Nach Bleuler hält in ersterem Zustande „ein 
dynamisches Etwas, die Assoziationsspannung, die durch Erfahrung 
gebildeten Assoziationen in ihren Bahnen“. Im Schlafe und in der 
Zerstreutheit dagegen „läßt diese Funktion nach“; und damit „lockern 
sich“ in diesen Zuständen die Assoziationen. 

Was ist nun unter „Assoziationsspannung“ zu verstehen? Bleuler 
bemüht sich, den Begriff, den er mit diesem Worte verbindet, durch 
eine „Parallele des psychischen Geschehens mit den Vorgängen in 
einer mit vielen Schaltern versehenen elektrischen Anlage“ klarzu¬ 
machen, verwahrt sich aber zugleich dagegen, daß diese Parallele als 
mehr angesehen werde denn „als ein Bild, das uns ermöglicht, einer¬ 
seits mit konkreten und geläufigen Vorstellungen zu operieren, andrer¬ 
seits aber — und darin liegt die Notwendigkeit solcher Bilder — mit 
verständlichen Ausdrücken die Vorstellungen Andern zu bezeichnen“. 

Es ist im Grunde ganz gleichgültig, ob man Bleulers „Bild der 
elektrischen Schaltanlage“ für die „Assoziationsvorgänge“ akzeptiert 
oder nicht; denn, bei Licht betrachtet, ist die zureichende „Assozia¬ 
tionsspannung“ im Sinne Bleulers nichts anderes als eine Umschreibung 
des Zustandes, in dem nach Bleuler die Assoziationen „straff“ sind 
und daher das Denken in der richtigen Weise vor sich geht, die „Ver¬ 
minderung“ bzw. „Schwächung“ der „Assoziationsspannung“ aber eine 
Umschreibung des Zustandes, in dem nach Bleuler die Assoziationen 
,»gelockert“ sind und das Denken daher in der Art gestört ist, wie es 
im Schlafe, in der Zerstreutheit und dann auch bei der Schizophrenie 
eben der Fall ist—nichts als eine Umschreibung, der eine recht vage Vor¬ 
stellung eines Momentes zugrunde liegt, über dessen Natur sich der 
Autor nur mit Zuhilfenahme eines Bildes höchst beiläufig verständlich 
machen kann, und von dem man sich „anatomische Vorstellungen am 
besten nicht macht“. Wer Bleuler recht gibt, wenn er behauptet, daß 
•s sich bei der Schizophrenie um eine „Lockerung der Assoziationen“ 


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Berze, 


handle, kann ihm sohin auch ruhig zustimmen, wenn er die erwähnte 
„Störung der Assoziationsspannung* 1 als „Elementarsymptom der 
Schizophrenien“ hinstellt. 

Der Kern der Sache aber ist ein ganz anderer. Die Erscheinungen, 
um die es sich handelt, treten zutage, wenn „die Energie, die auf das 
Denken gewendet wird“, zur Erhaltung der Ordnung im Denken un¬ 
zureichend ist; so im Schlaf, beim „Sich-gehen-lassen“, bei der 
„Tätigkeit neben der Aufmerksamkeit“, in der Zerstreutheit und so 
auch bei der Schizophrenie. Die „Verminderung der Energie“ ist die 
einzige durch die Beobachtung unmittelbar feststellbare Tatsache; 
alles andere ist mehr oder weniger problematische Spekulation. 
Spekulation, und zwar eng der assoziationspsychologischen Auffassung 
angepaßte Spekulation, ist es zunächst schon, wenn Bleuler behauptet, 
daß die in Bede stehenden psychischen Erscheinungen auf einer 
„Lockerung der Assoziationen“ beruhen. Und erst recht Spekulation 
ist es, wenn Bleuler diese „Lockerung der Assoziationen“ auf dem Wege 
der von ihm ad actum konstruierten „Assoziationsspannung** („Schalt¬ 
spannung der Assoziationen**) hervorgehen läßt. 

Unser ganzes Interesse muß sich also auf das Moment konzen¬ 
trieren, welches Bleuler meint, wenn er von „Entfaltung von Energie“ 
spricht. Davon eine Vorstellung zu gewinnen, die im Einklänge steht 
mit allen Beobachtungstatsachen, ist das eigentliche Problem. 

Ihm aber geht Bleuler vorsätzlich aus dem Wege x ). Er erklärt zur 
Begründung: „Allerdings besitzen wir von einer „psychischen Energie“ 
noch gar keine objektive Vorstellung; wir haben auch keine Möglich¬ 
keit, sie abzuschätzen oder gar zu messen, obschon die Begriffe der 
Energie und Kraft eigentlich subjektive sind und erst später auf 
physikalische Verhältnisse übertragen wurden.“ Richtig! Aber es 
handelt sich gar nicht um das Was, sondern um das Wie, nicht um das 
Wesen der psychischen Energie, von der wir vielleicht niemals eine 
„objektive Vorstellung“ gewinnen werden, sondern um den Vorgang 
der Entfaltung der psychischen Energie, um die Faktoren, Momente, 
Bedingungen, auf die es dabei ankommt. Und die kann man studieren, 

*) Man muß also auch sagen, daß Bleuler gerade dort aufhört, wo das 
Problem, dessen — wenn auch bloß vorläufige — Erledigung eine Voraus¬ 
setzung einer Hypothese der Grundstörung der Schizophrenien ist, erst 
beginnt. 


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Die Schizophrenie asw. 


1B5 


auch ohne eine objektive Vorstellung vom Wesen der psychischen 
Energie zu haben, so wie man die Elektrizität studieren kann, ohne 
eine objektive Vorstellung von dem eigentlichen Wesen der Elektrizität 
zu haben. 

Die streng sensualistisch gerichtete Assoziationspsychologie ist nun 
freilich auch gar nicht imstande, eine annehmbare erklärende Dar¬ 
stellung der „Entfaltung der psychischen Energie“ bzw. dessen, was 
hinter diesem Ausdrucke Bleulers steckt, zu geben. Sie muß in 
diesem Punkte versagen, weil die Entfaltung der psychischen 
Energie im Grunde völlig identisch ist mit der psychischen Aktivi¬ 
tät, eine psychische Aktivität von ihr aber eben von vornherein ab¬ 
gelehnt wird. 

Für den Aktionspsychologen steht dagegen die „aktive Seite des 
geistigen Lebens“, d. h. die „Entfaltung der psychischen Energie“ im 
Sinne Bleulers , der passiven Seite des geistigen Lebens, d. i. der Summe 
der aus den Sinneseindrücken hervorgehenden „Assoziationen“, die 
für den Assoziationspsychologen das einzige Prinzip aller seelischen 
Vorgänge darstellen, von vornherein als zumindest in gleichem Maße 
zu berücksichtigendes Moment gegenüber. Die aktive verhält sich 
zur passiven Seite des geistigen Lebens wie die Motilität 
zur Sensibilität. Die „Aktionstheorie“ Münsterbergs verlangt 1 ), 
„daß jeder Bewußtseinsinhalt Begleiterscheinung eines nicht nur sen¬ 
sorischen, sondern sensorisch-motorischen Vorganges ist und somit 
von den vorhandenen Dispositionen zur Handlung ebensosehr abhängt 
wie von peripheren und assoziativen Zuführungen“. 

Daß sich der Psychologie treibende Mediziner fast ausnahnüos 
für eine mehr oder weniger ausgesprochen sensualistische Assoziations¬ 
psychologie und nur ganz vereinzelt für eine richtige Aktionspsycho¬ 
logie entscheidet, hat offenbar seinen letzten Grund darin, daß die 
Ergebnisse der anatomischen und physiologischen Hirnforschung, die 
ihm seinem Bildungsgänge zufolge am nächsten liegen, keinen andern 
Schluß zuzulassen scheinen als den, daß die Hirnrinde als oberstes 
nervöses Zentralorgan anzusehen sei, woraus weiter hervorzugehen 
scheint, daß als motorische Funktion der Hirnrinde einzig und allein 
die motorische Innervation in den motorischen Rindengebieten an- 

l ) Münsterberg, Prinzipien der Psychologie (zit. von Eisler, Wörterb. 
d. psych. Begr.). 


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Berze, 


gesehen werden dürfe, wogegen eine Beteiligung der motorischen 
Funktion an den Rindenvorgängen, welche den psychischen Vorgängen 
selbst zugrunde liegen, abzulehnen sei — dies, obwohl doch niemand 
zu leugnen wagen wird, daß gleich so wie der Charakter der Empfindun¬ 
gen ein, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorwiegend sensori¬ 
scher, der Charakter der Strebungen ein vorwiegend motori¬ 
scher ist. 

Es ist aber nicht richtig, daß die bisherigen Forschungen den 
unumstößlichen Beweis dafür erbracht haben, daß die Kinde als ober- 
tes nervöses Zentralorgan zu betrachten sei. Sie lassen vielmehr auch 
folgende. Annahme zu: Das oberste Nervenzentrum liegt in demselben 
Organe bzw. Organkomplex, in welchem es bei den Tieren liegt, die 
noch keine Hirnrinde besitzen. Die Entwicklung einer Hirnrinde in 
der Tierreihe brachte keine Wanderung der obersten zentralen, d. h. 
Sensibilität in Motilität umsetzenden Funktion in die Kinde mit sich; 
sie diente vielmehr ausschließlich dem Ausbau der Sensibilität einer¬ 
seits, der Motilität andererseits, indem sie zu den kleinen Rezeptions¬ 
und Emissionszentren der nunmehr „subkortikalen“ Gebiete die großen 
Projektionsflächen der Rinde mit ihrer großen Retentions- und As¬ 
soziationsleistung hinzufügte. Wenn nun aber die eigentliche Zentral¬ 
funktion in subkortikalen Gebieten l ) sitzt, so ist es auch möglich, daß 


') Für den Gang der vorliegenden Untersuchung ist es nicht von 
Belang, welche subkortikalen Gebiete dabei in Betracht kommen. Höchst 
wahrscheinlich wirken sie alle von der Medulla oblongata aufwärts in 
diesem Sinne mit. In meinen zitierten Arbeiten, namentlich in der über 
„Insuffizienz der psych. Aktivität“, habe ich die Ansicht vertreten, daß 
dem Thalamus opticus dabei eine wichtige Rolle zufällt. Vor allem möchte 
ich betonen, daß der Thalamus (inkl. Pulvinar) als kortexnächstes „Schalt¬ 
organ“ für alle sensiblen und sensorischen Bahnen als geradezu dafür 
geschaffen erscheint, dem Kortex jene Psychomotilitätsimpulse zugehen 
zu lassen, welche die Grundlage für die sinnliche Aufmerksamkeit abzu¬ 
geben geeignet sind. Reichardt, der — was bei dem Umstande, daß er 
auf einem ganz andern Wege vorgegangen ist als ich, besonders ins Gewicht 
fällt — zu einer mit der meinigen in allen wesentlichen Punkten geradezu 
frappant übereinstimmenden Ansicht über den Hirnplan gekommen ist, 
erklärt — wir folgen seiner neuesten Darstellung in „Allgemeine und 
spezielle Psychiatrie“ (Jena 1918): „Es ist mir wahrscheinlich, daß die 
Zentralstelle sich im Hirnstamm befindet, vielleicht überhaunt 
der gesamte Hirnstamm mit seinen lebenswichtigen Zentralapparaten ist. 


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Die Schizophrenie usw. 


137 


die motorische Funktion oder richtiger gesagt: die emissorische oder 
effektorisohe Funktion von diesen Gebieten her außer direkt auf den 
Bewegungsapparat auch auf die Rinde wirkt, d. h. also, daß der Rinde 
nicht nur Sinneseindrücke (Impressionen), als Material der Empfindun¬ 
gen, sondern auch effektorische Impulse als Material für Strebungen 
(Intentionen), für „Dispositionen zur Handlung“, wobei unter 
„Handlung“ auch das innere Handeln, das Denken, zu verstehen ist, 
zufließen. Es l&ßt sich mit andern Worten aus dem Plane der Hirn¬ 
anlage ableiten, daß der Kortex nicht nur eine sensorische Speisung 
als Grundlage der Psycho Sensibilität, sondern auch eine motori¬ 
sche Speisung als Grundlage der Psychomotilität erfährt. 

Es ist nun nicht nur durchaus nicht ausgemacht, sondern es 
spricht geradezu alles dagegen, daß die Projektion dieser effektori- 
schen Impulse auf die Rinde in der gleichen Weise, nach denselben 
Gesetzen, erfolge wie die der Sinnesreize. Während den einzelnen 
Sinnesgebieten ebensoviele voneinander verschiedene Sinneswelten 
(eine Sehwelt, eine Hörwelt, eine Riech weit usw.) entsprechen, haben 
die Antriebe der Psychomotilität ein unter allen Umständen qualitativ 
gleichbleibendes Ergebnis, nämlich die, wie immer geartet ihre Objekte 
auch jeweils sein mögen, stets ihrem Wesen nach dieselbe bleibende 
psychische Aktivität. Es ist immer ein und dieselbe psychische Ak¬ 
tivität, die im Spiele ist, mag es sich nun um Wahrnehmen oder um 
Vorstellen auf einem beliebigen Sinnesgebiete oder um Denken oder 
um Wollen im engeren Sinne handeln, d. h. mag nun gerade ein Wahr- 
nehmungs- oder ein Vorstellungs- oder ein Denk- oder ein Willensakt 
in Betracht kommen. Es setzt sich also die psychische Aktivität nicht 


Man darf sich also unter dieser von mir angenommenen Zentralstelle keine 
zu kleine und zu umschriebene Hirngegend vorstellen.“ In den „Arbeiten 
aus der psychiatrischen Klinik zu Würzburg“ (8. Heft, Jena 1914) führt 
Reichardt aus, daß der „Hirnstamm das eigentliche Lebenszentrum“ ist. 
„Hier haben wir (nicht nur) die Wurzeln des Selbsterhaltungstriebes zu 
suchen, welche dann in der Hirnrinde zum Bewußtsein kommen und in 
Überlegungen und psychomotorische Leistungen umgesetzt werden.“ 
„In gewisser Hinsicht wurzelt die gesamte geistige Tätigkeit, vor allem, 
soweit das Affektleben und die Triebe in Frage kommen, im Hirnstamm.“ 
Eine hervorragende Bedeutung in dieser Hinsicht schreibt Reichardt dem 
Rautenhirn zu. An andern Stellen spricht er von der Wichtigkeit der 
„basalen Ganglien“. Gelegentlich weist er auch auf den Thalamus (und 
das Corpus Striatum) beiläufig hin. 


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138 


Berze, 


aus verschiedenen „Vermögen“ zusammen, wie etwa die Gesamt- 
erfahrung aus den verschiedenen Sinneswelten, sondern, was uns 
beispielweise einmal als spezielles Willensvermögen, ein andermal als 
spezielles Wahrnehmungsvermögen erscheint, ist nichts anderes als die 
spezielle Verwendung der einheitlichen psychischen Aktivität im Sinne 
der Willenstätigkeit katexochen, bzw. der Wahmehmungstätigkeit. 
Darum ist auch schon von vornherein an eine Lokalisation, wie 
sie für das Gebiet der Psychosensibilität Gesetz ist, für das Gebiet 
der Psychomotilität auch im entferntesten nicht zu denken; 
es kann keine speziellen Willens,,Zentren“ geben, ebensowenig aber 
auch spezielle Denkzentren oder, was noch von so vielen geglaubt wird, 
spezielle Wahrnehmungs- 1 ) und spezielle Vorstellungszentren (bzw. 
Wahmehmung8- und Vorstellungszentren). Noch viel weniger sind 
aber die Ergebnisse bzw. Residuen der psychischen Aktivität in ihren 
verschiedenen Verwendungsformen, also die Ideen,, Gedanken, Vor¬ 
stellungen als psychische „Gebilde“ lokalisiert zu denken 2 ). Über¬ 
haupt hört dort, wo das Psychische (die Betätigung der Psycho¬ 
motilität) beginnt, jede Lokalisation auf. Das somatische Substrat 
der Psychomotilitätsfunktion — oder, wie ich mich auszudrücken 
pflege, der intentionalen Funktion; es wird nämlich in jedem psychi¬ 
schen Akte etwas „intendiert“ — muß ein überall homogenes, also 
nicht etwa wie das der Psychosensibilität nach Regionen polymorphes 
( Brodmann ), und ein über die ganze, den psychischen Leistungen 
dienende Rinde hin ausgedehntes, also nicht etwa auf gewisse Gebiete 
(„Assoziationszentren“ im Sinne Flechsige, Denkzentren und der¬ 
gleichen) beschränktes sein. Wenn Brodmann die Auffassung vertritt, 


J ) Was lokalisierbar ist, ist nur das impressionale Material für 
die Wahrnehmungen. Die Wahrnehmungen enthalten aber außer der 
Wirkung der Impressionen noch einiges mehr, was die Assoziationspsycho¬ 
logen allerdings nicht einsehen wollen. 

2 ) Bleuler erklärt (1. c.): „Wir glauben eben nicht an eng lokalisierte 
Begriffe und Ideen, die von ihrem Sitz aus Erregungen an andere Hirn¬ 
stellen senden und dadurch andere Begriffe ekphorieren.“ Das glaubt 

beileibe auch der Aktionspsychologe in meinem Sinne nicht; im Gegen¬ 
teil lehnt er nicht nur eine „enge“ Lokalisation, sondern jede Lokalisation 
ab, und zwar nicht nur für „Begriffe und Ideen“, sondern auch für Wahr¬ 
nehmungen und Vorstellungen, kurz für alle psychischen Akte und ihre 
Ergebnisse. 


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Die Schizophrenie osw. 


139 


daß der Polymorphismus, die ungleichzeitige histogenetische Dif¬ 
ferenzierung, die strenge regionale Scheidung gewisser Zellformen und 
das gesetzmäßige Vorkommen homologer Zelltypen an identischen 
Stellen der Bindenoberfläche bei allen Säugetieren die Annahme recht- 
fertigen, daß im Kortex zwischen den zellulären Elementen eine weit¬ 
gehende Sonderung der Funktionen stattgefunden hat 1 ), so muß zur 
Verhütung schwerer Irrtümer besonders betont werden, daß sich diese 
Arbeitsteilung nur auf die impressionale Sphäre — so möchte 
ich die Gesamtheit der sensorischen und motorischen Rindenfelder 
bezeichnen —, nicht aber auch auf die intentionale Sphäre, d. i. 
die Sphäre der Psychomotilität (der intentionalen Funktion), er¬ 
streckt, daß vielmehr in dieser Sphäre keinem der nervösen Elemente 
eine spezifische Leistung zukommt (vgl. Wundts Auffassung). Aber 
nicht nur „von vornherein“, wie oben gesagt wurde, ist anzunehmen, 
daß das Lokalisationsprinzip in der intentionalen Sphäre keine Geltung 
hat. Nach unseren Erfahrungen auf dem Gebiete der Bindenerkrankun¬ 
gen ist eine Lokalisation im Bereiche der intentionalen Sphäre mit 
voller Sicherheit auszuschließen. Niemals sehen wir bei zirkum¬ 
skripten Rindenläsionen die Fähigkeit zu bestimmten psychischen 
Akten geschädigt oder getilgt. Wahrnehmungen auf einem bestimmten 
Sinnesgebiete werden selbstverständlich beeinträchtigt oder un¬ 
möglich gemacht, wenn das betreffende Projektionsgebiet betroffen 
ist, aber nur deswegen, weil die Läsion die originalen sensorischen 
Zuführungen beeinträchtigt oder unmöglich macht. Daß aber auch 
die Fähigkeit zu Vorstellungen eines Sinnesgebietes durch einen um¬ 
schriebenen Rindendefekt, daß z. B. das „optische Gedächtnis“ durch 
einen örtlichen Herd im Hinterhauptlappen vernichtet werden könne, 
war eine theoretische Konstruktion, die bereits als widerlegt angesehen 
werden muß*); wenn trotzdem eine Reihe von Hirnforschem an jener 
Annahme noch festhält, so ist dies außer auf die Macht der einmal 
gefaßten und als Grundsatz genommenen Meinung wohl besonders 
darauf zurückzuführen, daß es nach längerer Dauer eines Sinnesfeld- 


x ) Zit. nach Rosenfeld, Die Psychologie des Großhirns ( Aschaffen- 
turgs Handb. d. Psych.). 

*) VgL namentlich v. Monakow, Die Lokalisation im Großhirn und 
der Abbau der Funktion durch kortikale Herde. Wiesbaden 1914 (u. a. 
S. 487). 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXY* 2. 11 


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140 


Berze, 


defektes allmählich zu einem „Abblassen der betreffenden Vorstellun¬ 
gen“ bzw. Vorstellungskomponenten kommt — infolge des Aus¬ 
bleibens der unter normalen Umständen durch die immer wieder 
erfolgende Wahrnehmungstätigkeit bewirkte Auffrischung des Ge¬ 
dächtnisses auf dem Gebiete des betreffenden Sinnes (z. B. des opti¬ 
schen Gedächtnisses), vielleicht auch darauf, daß für denjenigen, der 
8 eit langer Zeit z. B. der optischen Wahrnehmungen entbehren muß, 
auch die optischen Vorstellungen allmählich immer mehr an Orien¬ 
tierungswert verlieren und daher auch die Anregungen zum optischen 
Vorstellen immer seltener werden und somit auch die Übung im opti¬ 
schen Vorstellungsakte immer mehr verloren gehen muß. — Auch die 
agnostischen und verwandten Erscheinungen bei Herdläsionen sprechen 
keineswegs für eine Lokalisation der Vorstellungen, wie so oft ganz 
irrig angenommen wird. Zu einem richtigen Erkennen, das eine ex¬ 
quisit intentionale Leistung, das Ergebnis eines psychischen Aktes ist, 
ist eine richtige Vorarbeit der impressionalen Sphäre erforderlich, und 
zwar erstens eine tadellose Leistung des (absolut lokalisierten) engeren 
Sinnesfeldes, d. i. eine vollkommene Rezeption der Impressionen, 
zweitens eine nicht beeinträchtigte Leistung des (relativ lokalisierten) 
weiteren kortikalen Sinnesgebietes, d. i. eine ungestörte Zusammen¬ 
ordnung (Assoziation) der Teilimpressionen zum Zwecke der Er¬ 
fassung von Gegenstandseindrücben. Sowohl aus Herderkrankungen 
im Gebiete der engeren als auch der weiteren Sinnessphäre können 
also Agnosien resultieren. Diesen — impressionalen, wie ich sagen 
möchte — Agnosien, die sich aus der Lieferung eines mangelhaften 
Materials für den Erkennungsakt erklären, stehen die apperzeptiven — 
oder nach meiner Nomenklatur: die intentionalen — Agnosien 
gegenüber, welche, als Störungen im Bereiche der eigentlichen psychi¬ 
schen Tätigkeit selbst, nur bei diffusen Rindenschädigungen bzw. bei 
Herderkrankungen, die von solchen begleitet sind,- beobachtet werden. 
Nur bei den intentionalen Fällen besteht nun aber neben den 
agnostischen Störungen gleichzeitig auch eine Beeinträchtigung des 
Vorstellens, während sie zum Symptomenbilde der impressionalen 
Agnosien, von dem bereits erwähnten „Abblassen“ der Vorstellungen 
infolge des Mangels der Auffrischung des betreffenden „Gedächtnis“- 
materiales abgesehen, trotz gegenteiliger Behauptungen keineswegs 
gehört. 


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Die Schizophrenie asw. 


141 


Das Prinzip der Lokalisation hat also für die Sphäre der Psycho« 
motilität, für die intentionale Sphäre, keine Geltung. An dieser Fest¬ 
stellung dürfte es uns auch nicht irre machen, wenn es sich in der Tat 
bewahrheiten sollte — die bisherigen Anhaltspunkte dafür sind aber 
noch durchaus unsicher —, daß bei Herden im Stirnhirn Erscheinungen 
zu beobachten seien, welche als Ausfälle im Gebiete der Psychomotilität 
zu deuten wären. 

Auf eine Lokalisation gewisser Einzelformen der Psychomotilitäts- 
leistung im Stimhirn, wie sie den Theorien entspräche, welche dem 
Stirnhim eine besondere Bedeutung als Stätte etwa der Intelligenz 
oder des Willens oder des psychischen „Antriebes“ usw. zuschreiben, 
wäre n ämli ch nur auf Grund von Beobachtungen zu schließen, welche 
sich ohne die Annahme eines Beschränktseins der betreffenden Be- 
tätigungsform selbst auf die in Betracht kommende Lokalität, z. B. 
auf die Rinde des Stimhirns, nicht erklären ließen. Mit dem Nach¬ 
weise, daß eine bestimmte Betätigungsform durch Herde im Stirnhirn 
in besonders auffälligem Maße geschädigt werde, wäre aber der Beweis 
ihres Beschränktseins auf das Stimhirn, d. h. ihrer Lokalisation im 
Stirnhim, noch keineswegs erbracht. 

Bei der Beurteilung der Bedeutung der Beeinträchtigung bzw. des 
Verlustes einer bestimmten psychischen Fähigkeit im Hinblick auf 
die Lokalisationsfrage muß man sich immer vor Augen halten, daß ein 
Unterschied zwischen den verschiedenen Formen der psychischen Vor¬ 
gänge in dem Sinne besteht, daß sie ein verschiedenes Maß von psychi¬ 
scher Aktivität, d. L von Leistungsfähigkeit und Funktionsbereitschaft 
der intentionalen Sphäre zur Voraussetzung haben, und daß, von 
diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, die geläufige Unterscheidung 
zwischen „niederen“ und „höheren“ psychischen Leistungen den Sinn 
erhält, daß eine Stufenleiter der psychischen Leistungen angenommen 
werden kann, die von der bereits bei einem relativ geringen Maße von 
psychischer Aktivität anstandlos vor sich gehenden Wahrnehmungs- 
tätigkeit zu den ein höheres Maß erfordernden Leistungen, welche man 
als Intelligenz zu bezeichnen pflegt, führt. Daraus geht nun aber klar 
hervor, daß eine Schädigung der Intelligenz nur als Zeichen des Ab¬ 
sinkens der Gesamtleistung der intentionalen Sphäre auf eine tiefere 
Stufe gewertet werden kann, nicht als Zeichen der Schädigung bzw. 
des Ausfalles einer speziellen Fähigkeit, oder mit andern Worten: nur 

11* 


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Berze, 


als Quantität«-, nicht als Qualitätsdefekt. Selbstverständlich müßte 
es sich, wenn diese Auffassung zu Recht besteht, zeigen, daß ein Rinden¬ 
defekt, gleichviel in welcher Region er sitzt, die Intelligenz stets in 
gleichem, der Intensität und Extensität des Defektes entsprechendem 
Maße schädige. Es ist nun durchaus nicht, wie von vielen geglaubt 
wird, erwiesen, daß dies nicht der Fall sei, sondern ein Defekt der 
Rinde des Stirnhirns einen weit beträchtlicheren Intelligenzverlust 
bedinge als ein an irgendeiner andern Stelle sitzender gleichgroßer und 
schwerer Rindendefekt Zu leugnen ist ja nicht, daß bei Stimhirn- . 
Schädigungen, namentlich bei Stirntumoren, Intelligenzstörungen 
häufiger und deutlicher in Erscheinung treten als bei gleichen Läsionen 
in andern Gebieten. Beweist dies aber eine gegenüber der anderer 
Himterritorien besondere Bedeutung der Rinde des Stimhirns für 
die psychische Tätigkeit, insonderheit für die Intelligenz? Durchaus 
nicht; der Zusammenhang ist vielmehr, aller Wahrscheinlichkeit nach, 
ein ganz anderer. 

Wie oben ausgeführt worden ist, denken wir uns die psychische 
Aktivität nicht als selbständige Leistung der Hirnrinde, führen 
sie vielmehr auf aus dem subkortikalen Zentralorgane kommende An¬ 
triebe zurück, die, in der Hirnrinde wirksam werdend, die Vorgänge 
auslösen, welche eben die psychische Aktivität (präziser: deren somati¬ 
sches Korrelat) ausmachen. Die Zuführung dieser Antriebe hat 
Leitungsfasern von den in Frage kommenden subkortikalen Gebieten 
zur Rinde zur Voraussetzung. Aller Wahrscheinlichkeit nach streben 
dieselben in allen ihren Regionen in die Rinde ein, aber da weniger 
dicht, dort dichter, in der Stirnregion vielleicht am dichtesten, zumal, 
wie u. a. auch Reichardt 1 ) betont, „gearde das Stimhirn in enger 
anatomischer und wohl auch funktioneller Beziehung zum Hirnstamm 
steht“. Dann ergibt sich aber ohne weiteres, daß ein Herd im Stimhirn 
mehr als solche in andern Regionen geeignet ist, das Maß der verfüg¬ 
baren Psychomotilität und damit die Ergebnisse der psychischen Ak¬ 
tivität, also besonders auffällig die „höheren“ psychischen Leistungen, 
die „Intelligenz“, herabzudrücken.. Es stimmt dies vortrefflich damit 
überein, wenn z. B. Redlich a ) bei Besprechung der psychischen 


*) Reichardt, Arbeiten aus der psych. Klinik zu Würzburg, 8. Heft 
(Jena 1914). 

*) Redlich, Die Psychosen bei Gehirnerkrankungen ( Aschaffenburg , 
Handb. d. Psych., 3. Abt., 2. Hälfte, 1. Teil; Leipzig u. Wien 1912). 


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Die Schizophrenie osw. 


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Störungen bei Stirnhirntumoren erwähnt: „Unter den zu beobachten¬ 
den Formen psychischer Abweichung steht in erster Linie, wie über¬ 
haupt bei Hirngeschwülsten, die Benommenheit des Sensoriums meist 
mit Verlangsamung und Hemmung der psychischen Tätigkeiten über¬ 
haupt; auch Schlafsucht, Schädigung der intellektuellen Leistungen 
sind nicht selten. 1 * 

Nicht also der Defekt in der Rinde des Stirnhirns, sondern der 
Defekt der zuleitenden Bahnen im Stirnhirn ist dafür verantwortlich 
zu machen, wenn sich bei umfangreicheren Zerstörungen in dieser 
Region Störungen der Intelligenz bzw. der „höheren Verstandesopera¬ 
tionen** oder dergleichen, besonders deutlich geltend machen. Und 
es kann somit auch diese Erscheinung durchaus nicht etwa gegen die 
Annahme sprechen, daß es innerhalb der Sphäre der Psycho^ 
motilität, innerhalb der intentionalen Sphäre, keine Lokalisation 
gibt. 

Wie steht es nun aber um das zweite Anlageprinzip der irapressio- 
nalen Sphäre, um die Assoziation ? 

Lokalisation und Assoziation stehen in einem intimen Zusammen¬ 
hänge. Die entere ergibt die Notwendigkeit der letzteren; denn die 
Übertragung der Erregung von einem Punkte auf einen andern ent¬ 
fernt lokalisierten Punkt hat das Bestehen einer Verbindung, einer 
Assoziation im anatomiseh-physiologischen Sinne zur Voraussetzung. 
So sehen wir denn auch das Assoziationsprinzip in der impressio- 
nalen Sphäre überall in Geltung: Assoziationsbahnen innerhalb der 
einzelnen Sinnesgebiete, solche zwischen den verschiedenen Sinnes¬ 
gebieten, solche zwischen den Sinnes- und den motorischen Feldern. 
Daß nun aber dieses Assoziationsprinzip — wohlgemerkt: Assoziation 
im anatomischen Sinne — auch in der intentionalen Sphäre, in der 
Sphäre der geistigen Tätigkeit Geltung habe, ist gänzlich unerwiesen. 
Die Sicherheit, mit der von Assoziation auch in demjenigen Bereiche der 
Rinde, in welchem man das somatische Korrelat der geistigen Vor¬ 
gänge sucht, die Sicherheit, mit der sogar z. B. von Ideenassoziationen 
in deutlicher Anspielung auf supponierte anatomische Verhältnisse ge¬ 
sprochen wird, leitet sich nicht zuletzt von einer Verwechslung oder 
doch Vermengung des anatomischen Assoziationsbegriffes mit dem 
psychologischen Assoziationsbegriffe, d. i. mit der von der Assoziations¬ 
psychologie als Prinzip aller seelischen Verbindungen angesehenen 


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Berze, 


Assoziation, her. Vermeidet man aber den Fehler dieser unerlaubten 
Verwechslung bzw. Vermengung, so wird man nicht bezweifeln können, 
daß wir kein Recht haben, von Assoziation im anatomischen 
Sinne für den Bereich der Psychomotilität zu sprechen. 

Bleuler macht einen guten Anlauf, zieht die letzte Konsequenz 
aber doch nicht, wenn er sagt: „Wir glauben eben nicht an eng lokali¬ 
sierte Begirffe und Ideen, die von ihrem Sitz aus Erregungen an andere 
Himstellen senden und dadurch andere Begriffe ekphorieren, sondern 
wir müssen uns heutzutage alle Rindenvorgänge unendlich viel diffuser 
denken, und zwar so, daß einerseits jede Einzelfunktion alle andern 
latenten und aktuellen Funktionen beeinflußt, d. h. bahnt oder hemmt, 
andererseits irgendein dynamischer Faktor („Spannung“) die Assozia¬ 
tionen in den Erfahrungsbahnen hält.“ Wir dürfen nicht nur nicht an 
„eng lokalisierte Begriffe und Ideen“ glauben — es glaubt auch, soviel 
wir sehen können, kein ernst zu nehmender Forscher heute mehr 
daran —, sondern wir haben auch gar kein Recht, an eine selbst „un¬ 
endlich viel diffuser“ gestaltete Lokalisation zu glauben. Damit ist 
aber auch gesagt, daß Bleulers ganze Konstruktion der „Assoziations- 
spannung“ in der Luft hängt. Wo keine Lokalisation, dort keine As¬ 
soziation (im anatomischen Sinne). Wo keine Assoziation, dort ist 
aber auch kein Raum für „Assoziationsspannung“ und dergleichen. 

Bleuler könnte nun vielleicht einwenden, er habe ausdrücklich 
bemerkt: „Anatomische Vorstellungen von der Schaltung macht man 
sich am besten nicht“; und so sei auch seine „Assoziationsspannung“ 
nicht eigentlich anatomisch zu nehmen. Da müßte man ihn aber, 
zumal von einer Assoziationsspannung in psychologischer Deutung 
überhaupt nicht gesprochen werden kann, fragen, ob denn dieses Wort 
dann, genau betrachtet, mehr sei als eben nur ein Wort. Wenn Bleuler 
aber darauf hinzuweisen für gut fände, er habe die Konzeption der 
„Assoziationsspannung“ ausdrücklich als „nichts mehr als eine Arbeits¬ 
hypothese“ bezeichnet, müßte ihm entgegengehalten werden, daß 
Arbeitshypothesen, denen die richtige Grundlage fehlt, schädlich sind, 
da sie zu falschen Vorurteilen Anlaß geben. Ifii speziellen Falle handelt 
es sich um das falsche Vorurteil, daß die „schizophrenen“ Erscheinun¬ 
gen sicher auf eine Störung im Bereiche der „Assoziationen“ zurück¬ 
zuführen seien; als hypothetisch sei dabei nur anzusehen, ob diese As¬ 
soziationsstörung gerade als pathologische Schwächung der Assozia- 


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Die Schizophrenie usw. 


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tionsspannung im Sinne Bleulers zu deuten Bei. Übrigens ist gar nicht 
einzusehen, worin die Vorteile dieser Hypothese, selbst wenn sie richtig 
wäre, eigentlich bestehen sollten; die Annahme des Assoziations¬ 
spannungsdefektes bringt uns dem Verständnisse der Schizophrenie 
nicht um einen Schritt näher. 

Nein, das einzige, was wir wissen, und was wir heute wissen 
können, ist, daß den schizophrenen verwandte Erscheinungen und so 
offenbar auch die der Schizophrenie selbst dann eintreten, wenn die 
„aufgewendete psychische Energie“, wie Bleuler sagt, unter das Maß, 
welches eine normale Geistestätigkeit verbürgt, herabgesetzt ist, d. h. 
wenn eine Insuffizienz der psychischen Aktivität besteht, sei es wie 
im Traumschlaf aus physiologischen Gründen, sei es wie in der Krank¬ 
heit Schizophrenie als „direkte Folge irgendeiner chemischen oder ana¬ 
tomischen oder molekularen Hirnveränderung“. Alles aber, was 
darüber hinausgeht an Annahmen über die Veränderungen der Rin¬ 
denfunktion, durch deren Herbeiführung die Insuffizienz der psychi¬ 
schen Aktivität die schizophrenen Erscheinungen ergibt, kann nichts 
sein als vage Vermutung, zumal wir bis nun nicht einmal von den Vor¬ 
gängen in der Rinde, wie sie einem normalen Geistesleben ent¬ 
sprechen, auch nur eine Ahnung haben. 

Daraus geht aber unbestreitbar hervor, daß wir es zu vermeiden 
haben, auf die Art der funktionellen Rindenveränderungen bei der 
Schizophrenie anzuspielen, wie das Bleuler mit seiner Theorie tut, und 
daß wir uns bei dem Unternehmen, die schizophrenen Erscheinungen 
aus der Insuffizienz der psychischen Aktivität abzuleiten, strikt auf 
den psychologischen Weg zu beschränken haben. 

Diese Ableitung muß gelingen — freilich nicht unter Zugrunde¬ 
legung der Assoziationspsychologie, die der Schizophrenie gegenüber völ¬ 
lig versagt und dadurch ihre Unbrauchbarkeit von neuem erkennen läßt, 
wohl aber unter Zugrundelegung einer die psychische Aktivität in ent¬ 
sprechender Weise berücksichtigenden (Aktions-) Psychologie, es 
müßte sich denn herausstellen, daß hei der Schizophrenie außer der 
Aktivitätsinsuffizienz noch eine andere Grundstörung im Spiele sei. 
Dafür haben wir aber nicht den geringsten Anhaltspunkt. 

In meiner zitierten Arbeit glaube ich den Nachweis erbracht zu 
haben, daß in der Tat alle wesentlichen schizophrenen oder, wie ich 
sage, hypophrenen psychischen Erscheinungen ohne besondere Schwie- 


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Berze, 


rigkeit aus der Aktivitätsinsuffizienz abgeleitet werden können. Wenn 
auch der Zusammenhang eines oder des andern schizophrenen Sym- 
ptomes mit der Aktivitätsschwäche im einzelnen nicht genau der sein 
sollte, den ich angenommen und in dieser Arbeit dargestellt habe, 
unterliegt es m. E. doch andererseits keinem Zweifel mehr, daß uns die 
richtige Analyse jedes beliebigen Schizophreniesymptomes stets un¬ 
mittelbar oder doch letzten Endes die sich aus der Aktivitätsschwäche 
ergebende Unvollkommenheit der psychischen Akte als „psychotische 
Wurzel“ erkennen läßt. 

Das nächste, wenn ich so sagen darf, somatopathologische 
Problem hinsichtlich der Schizophrenie aber ist nicht, wie Bleuler 
meint, die Ergründung der Art der funktionellen Veränderungen in der 
Binde, welche als Folge der Verminderung der „aufgewendeten Energie“ 
einsetzen, sondern die der Art des Zustandekommens dieser Verminde¬ 
rung der Energieaufwendung selbst, d. i. der somatopathologischen 
Veränderung, welche der Insuffizienz der psychischen Aktivität selbst 
zugrunde liegt. Und dieses Problem scheint mir auch, obwohl es un¬ 
streitig mit zu den schwierigsten Problemen der Hirnpathologie gehört, 
doch einer Lösung weit eher zugänglich zu sein als das von Bleuler 
aufgeworfene. 

Wie immer man über die Provenienz der Energie denken mag, 
welche, in der Sphäre der Psychomotilität (intentionalen Sphäre) 
wirksam werdend, den Charakter der „psychischen Energie“ an¬ 
nimmt, auf jeden Fall wird man zugeben müssen, daß die Insuffizienz 
der psychischen Aktivität als Ausdruck einer Hypofunktion jener 
Sphäre angesehen werden muß. 

Glaubt man die Ansicht vertreten zu müssen, daß die psychische 
Energie sozusagen ein Eigenprodukt des Kortex (präziser: des 
die Psychomotilitätssphäre ausmachenden Teiles des Kortex) ist, so 
wird man die in Rede stehende Hypofunktion als Folge einer patho¬ 
logischen Veränderung im Kortex selbst ansehen müssen. Es isj nicht 
zu leugnen, daß dieser Auffassung die pathologischen Veränderungen 
des Nervengewebes der Hirnrinde, die bei einer Reihe von als De¬ 
mentia praecox charakterisierten „Schizophrenie“fällen konstatiert 
sind, eine gewisse Stütze zu verleihen geeignet sind. Und andrerseits 
bleibt für die Fälle, in denen ein pathologisch-anatomischer Befund 
nicht vorliegt, die Möglichkeit der Annahme einer sozusagen auto- 
hthonen funktionellen Störung in der Rinde zweifellos offen. 


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Die Schizophrenie tuw. 


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Wer aber die derzeit u. a. namentlich von Reichardt und von mir 
vertretene Annahme für richtig h&lt, daß die psychische Energie nicht 
im Kortex selbst produzierte Kraft, sondern zunächst aus dem sub¬ 
kortikalen Zentralorgane stammende und in der Psychömotilitäts- 
sphäre des Kortex bloß zur psychischen Energie sozusagen trans¬ 
formierte Triebenergie ist 1 ), wird sich sagen müssen, daß eine patho¬ 
logische Hypofunktion dieser Sphäre außer einer pathologischen Ver¬ 
änderung ihrer selbst, durch welche sie außerstand gesetzt ist, ihre 
Funktion voll zu entfalten bzw. die ihr zugehende Energie voll aufzu¬ 
nehmen und zu verwerten, noch eine andere Ursache haben kann, 
nämlich eine unzureichende Zufuhr von Energie zu ihr, ver¬ 
gleichbar der ungenügenden Feuerung einer Maschine. 

Eine solche Verminderung der Energiezufuhr könnte allerdings 
zunächst den Grund haben, daß überhaupt zu wenig Energie zur Ver¬ 
fügung steht, wie im allgemeinen, so auch für den speziellen Zweck der 
Speisung der Psychomotilitätssphäre der Binde. Es wird nicht ge¬ 
leugnet werden können, daß die Fälle von Dementia praecox nicht 
gerade ganz selten sind, in denen sich die Annahme einer Beeinträchti¬ 
gung des Stoffwechsels und einer mit dieser zusammenhängenden patho¬ 
logischen Alteration des Energiewechsels geradezu aufdrängt. Viel¬ 
leicht wird uns die fortschreitende Erforschung der körperlichen 
Symptome der Dementia praecox einmal lehren können, daß in der Tat 
in gewissen Fällen eine unzureichende Produktion von Energie, sei es 
von Energie überhaupt, sei es speziell von als Nervenenergie verwert¬ 
barer Energie, die eigentliche Grundlage des Prozesses ist. 

Für einen andern, und zwar, soweit sich bisher übersehen läßt, 
weit größeren Teil der Fälle ist aber die Annahme einer unzureichenden 


l ) Die Psychomotilitätssphäre ist nach dieser Auffassung nicht 
eigentlich Zentralorgan, sondern Erfolgsorgan, und zwar Organ des 
psychischen Erfolges, so wie der Muskel motorisches Erfolgsorgan, die 
Drüse sekretorisches Erfolgsorgan ist, weil in jenem die Nervenenergie 
kraft der ihm eigenen Funktionsart in Bewegungsenergie, in dieser in 
Sekretionsenergie gleichsam umgesetzt wird. In Wirklichkeit ist die 
Energie in allen Fallen immer dieselbe (Lebensenergie); sie erscheint uns 
nur in verschiedenem Lichte, je nach der Tätigkeitsart des Organes, in 
dem sie jeweils wirksam wird. Viele psychische Abläufe münden schließlich 
in äußeres Handeln (Bewegungen); in diesem Falle ist die Psychomotilitäts¬ 
sphäre, genau genommen, Zwischenerfolgsorgan. 


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Be rze, 


Energieproduktion sicherlich nicht gerechtfertigt. In diesen Fällen 
müßte die unzureichende Energiezufuhr zum Kortex auf eine unge¬ 
nügende Zuwendung der Energie x ) seitens des subkortikalen Zentral¬ 
organes, also auf eine ungenügende Funktion, eine Hypofunktion, 
dieses Organes, und zwar auf eine allgemeine oder aber auf eine speziell 
nur diese eine Leistung betreffende Hypofunktion dieses Organes, 
bezogen werden. Ich habe diese Annahme in der zitierten Arbeit aus¬ 
führlich vertreten. Hier sei daher nur noch auf Reichardt verwiesen, 
der in seinem jüngst erschienenen Lehrbuche (Allgemeine und spezielle 
Psychiatrie, Jena 1918) im Kapitel Dementia praecox diesen Gegen¬ 
stand neuerlich in demselben Sinne, und zwar wie folgt, behandelt: 
„Ich kann mich ferner nicht mit dem Gedanken befreunden, daß der 
Sitz des Krankheitsprozesses stets primär in der Hirnrinde (z. B. in 
der 2. und 3. Ganglienzellenschicht) sei, bin vielmehr der Ansicht, daß 
die oben erwähnten physikalisch-chemischen Änderungen der Hirn¬ 
materie (Reichardt hat im Vorhergehenden ausgeführt, daß seiner An¬ 
sicht nach „der Dementia praecox tiefgreifende physikalisch-chemische 
Veränderungen der kolloidalen Hiramaterie zugrunde liegen, welche 
sich zum Teil als pathologische Gerinnungen oder als Ausfüllungen, 
vielleicht gelegentlich abwechselnd mit partiellen Verflüssigungen, 
sowie als Störungen der Liquorproduktion darstellen“) sich vor allem 
auch in einzelnen besonders lebenswichtigen Stellen des 
Hirnstammes (Zwischenhirn, Bautenhim) abzuspielen pflegen; von 
einer solchen primären und einheitlichen Krankheitslokalisation aus 
würden dann die gesamte Krankheit, ihre psychischen und körper¬ 
lichen Symptome und ihre Verlaufsart bestimmt.Namentlich 


*) Wenn in diesem Zusammenhänge der Kürze halber von „Energie“- 
zufuhr, „Energie“zuwendung usf. gesprochen wird, so dürfte einem Mi߬ 
verständnis wohl durch die früheren Ausführungen vorgebeugt sein. 
Nicht einfach Energie wird dem Kortex vom subkortikalen Zentralorgan 
zugewendet; was ihm von dort her zugeht, sind vielmehr mit einem ge¬ 
wissen Maße von Energie ausgestattete Antriebe zur Tätigkeit im Sinne 
bestimmter Strebungen („gerichtetes Streben“). Das Erwachen be¬ 
deutet das Wachwerden aller Triebe — sie müssen nicht immer „gedacht“ 
bzw. überhaupt an.sich bewußt sein — im Kortex, vor allem des Triebes, 
der allen andern dient, daher auch allen sozusagen vorangeht und das 
wesentlichste Ingrediens des (Wach-) Bewußt seines ist, des Wahrnehmungs¬ 
triebes. 


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Die Schizophrenie usw. 


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auch vom psychologischen Standpunkte aus und in Anbetracht der 
Tatsache des Parallelgehens psychischer und vegetativer Krankheits¬ 
erscheinungen scheint mir die Annahme einer einheitlichen zentralen 
Lokalisation an einer für die Psyche und das vegetative Leben beson¬ 
ders wichtigen Stelle geboten. Daneben mögen aber auch Fälle Vor¬ 
kommen, bei denen der Himmantel — oder einzelne Teile desselben — 
primär erkrankt, ohne wesentliche Mitbeteiligung des Hirnstammes. 1 ‘ 
Ganz neu ist, nebenbei bemerkt, die Annahme keineswegs, daß 
an dem „psychischen Mechanismus 11 außer der Hirnrinde auch der 
Hirnstamm in gewisser Beziehung beteiligt sei, und daß daher, wie 
Retehardt gelegentlich sagt, „Psychosen zustande kommen können 
auch durch krankhafte Funktionen solcher lebenswichtiger Teile des 
Gehirns außerhalb der Hirnrinde und durch fehlerhafte Ein¬ 
wirkung dieser Ziele auf das übrige Hirn“. Namentlich Meynert war 
von der großen Bedeutung des Himstammes für die psychologischen 
Rindenvorgänge überzeugt. Und wenn auch manche von seinen ein¬ 
schlägigen speziellen Annahmen heute, zum Teil vielleicht mit Recht, 
in da? Gebiet der „Hirnmythologie“ verwiesen werden, so wird doch 
nicht zu bestreiten sein, daß gegen die ihnen gemeinsame Grundidee 
der Abhängigkeit der Rinde vom Hirnstamme, auch hinsichtlich der 
psychischen Tätigkeit, bisher noch nichts vorgebracht werden 
konnte, was ihre restlose Verwerfung rechtfertigen würde. In Be¬ 
ziehung auf unser Thema ist es nun von besonderem Interesse, daß 
Meynert von den Gehirnen seiner „Paranoiker“ — aus seinen Aus¬ 
führungen geht deutlich hervor, daß diese „Paranoia“fälle „mit Hal- 
luzinationen und Hypochondrien“ zum weitaus größten Teile von der 
Art waren, daß sie heute der Dementia praecox (namentlich Unter¬ 
form : Dementia paranoides) zuzuzählen wären — behauptet, daß die 
Atrophie, welche diese Gehirne zweifellos erkennen ließen, den Hirn¬ 
mantel proportioneil nur sehr wenig, der Hauptsache nach aber das 
Stamnihim und das Kleinhirn betroffen habe 1 ). 

1 ) Der Hirnmantel wurde zum Zwecke der separaten Wägung nach 
der Meynerfschen „Abtrennungsmethode mittels Durchschneidung der 
Projektionssysteme“ vom Stammhirn geschieden. Daß diese Methode 
selbst bei der Meisterschaft Meynerts nur ungenaue Ergebnisse liefern 
konnte, steht fest; dieser Mangel ist zudem um so bedeutungvoller, als 
es bei den Meynertschen Wägungen auf recht geringe Differenzen des Ver- 
hältnisses zwischen Stammhirn und Hirnmantel gegenüber der Norm 
ankommt. 


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Berze, 


An eine die in Bede stehende Hypofunktion bedingende organi¬ 
sche Veränderung des in Betracht kommenden subkortikalen Or¬ 
ganes bzw. Organkomplexes, also an Atrophie oder an einen die Funk¬ 
tion beeinträchtigenden Prozeß anderer Art zu denken, liegt indes für 
die Hauptmasse der Dementia praecox durchaus nicht nahe. Einzelne 
Beobachtungen sprechen ja allerdings dafür, daß eine Schädigung 
dieser subkortikalen Region, z. B. durch einen in ihr selbst sitzenden 
oder durch einen in ihrer nächsten Umgebung sitzenden und sie durch 
Druck beeinträchtigenden Tumor „katatone Zustandsbilder“ hervor- 
rufen kann. Redlich (1. c.) weist nach ausführlicher Schilderung dieser 
nicht nur bei Tumoren, sondern bei verschiedenen andern organischen 
Hirnaffektionen vorkommenden Psychosen besonders auf den von 
Pötzl und Rai mann beschriebenen Fall 1 ) eines großen, beide 
Thalami optici infiltrierenden Glioms hin, der „durch mehrere Monate 
ausgesprochen katatone Züge zeigte: Unaufmerksamkeit, Abgleiten in 
den Antworten, Hemmung ohne Benommenheit, vollkommene Affekt- 
losigkeit, Vorbeireden, Katalepsie“. Pötzl 2 ) selbst erwähnt bei Be¬ 
sprechung dieses Falles, den er als „atypische katatone Dementia 
praecox“ bezeichnet, daß derartige, vom gewöhnlichen Bilde der 
Tumorenpsychosen abweichende Zustandsbilder von psychischer 
Störung „nicht allzu selten bei Tumoren im Bereiche des 3. Ventrikels 
Vorkommen“, wie auch die Durchsicht der Fälle in der Literatur (vgl. 
z. B. die Zusammenstellung von Piazza) zeige. Pötzl meint, daß in 
solchen Fällen vielleicht „bis zu einem gewissen Grade lokaldiagnostisch 
zu betrachtende Momente in Frage kommen; so besonders der direkte 
Druck auf den Hypothalamus und den Boden des 3. Ventrikels, auf 
die Gegend von Zentren für die vegetativen Nervensysteme (Karplus 
und Kreictt), vielleicht der Druck auf die Hypophyse oder Verände¬ 
rungen der Zirbeldrüse (vgl. v. Frankl-Hochwart und Marburg ), viel¬ 
leicht schließlich die Beteiligung der Sehhügel“ s ). Jedenfalls ist aber 

*) Vgl. Bericht des Vereins f. Psych. u. Neurol., Sitzung vom 14. Juni 
1910 (Jahrb. f. Psych. u. Neurol. Bd. 31, S. 459 usf.). 

*) Pötzl, Zur Frage der Hirnschwellung und ihrer Beziehung zur 
Katatonie (Jahrb. f. Psych. u. Neurol., 31. Bd., 2. u. 3. H.). 

*) Im speziellen Falle von Pötzl und Raimann fand sich mikro¬ 
skopisch, wie ich einer freundlichen Mitteilung Pötzls entnehme, „beider¬ 
seits eine komplete Degeneration der fronto-pontinen Bahnen und der 
vorderen Thalamusstiele, also eine Absperrung der Stirnlappen von Thala¬ 
mus und Kleinhirn“. 


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Die Schizophrenie osw. 


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nach Pötd außerdem noch die „vorhandene Disposition zur Psychose“ 
von wesentlicher Bedeutung in dem Sinne, daß „die organische Er¬ 
krankung entweder nur als Kombination oder höchstens als auslösendes 
Moment auizufassen ist“. — Mit Recht weist ferner Reiehardt (L c.) 
darauf hin, daß man, wenn es sich um Tumoren der Hypophysen¬ 
gegend handelt, „nicht die Erkrankung der Hypophyse allein für die 
psychischen Störungen verantwortlich machen darf“, zumal wenn die 
Geschwulst, wie dies bei sogenannten Hypophysentumoren so oft der 
Fall ist, „tief in die Hirnsubstanz eindringt oder sogar das gesamte 
basale Gehirn bis zum Balken durchsetzt hat“, sondern in diesen 
Fällen (weiter kommen wohl auch die Fälle in Betracht, in denen das 
Gehirn in der näheren Umgebung durch Druck geschädigt wird. Verl) 
die psychischen Störungen „der komplizierenden Hirnerkrankung“ 
zuzuschreiben habe. Wenn daher bei Hypophysentumoren auffällig 
oft an Dementia praecox zumindest erinnernde psychische Störungen 
Vorkommen (vgl. Schuster *), Formanek 2 ), wird man gut tun, wenig¬ 
stens die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß auch diese Beobachtun¬ 
gen im Sinne unserer Annahme zu deuten seien. 

Aber alle derartigen Fälle können, vorausgesetzt, daß der Zu¬ 
sammenhang zwischen organischer Veränderung und Psychose 
wirklich der von uns angenommene ist, nur beweisen, daß es eine 
symptomatische Katatonie (Hypophrenie nach meiner Bezeich¬ 
nung) bei Herderkrankungen der bezeichneten Region gibt. Nicht 
aber wäre aus ihnen abzuleiten, daß wir für die Hauptmasse der De¬ 
mentia praecox oder auch nur für einen nennenswerten Teil der Fälle 
dieser Krankheit eine organische Läsion im Bereiche des Hirns tammea 
anzunehmen haben. Näher liegt schon die Annahme, daß bei einer 
mehr oder weniger großen Zahl von Fällen eine Schädigung der Funk¬ 
tion. des subkortikalen Zentralorganes durch chemische Noxen, 
wie sie sich etwa aus einer Störung der „chemischen Koordination des 
Organismus“ ergeben, oder auch durch „Stoffwechsclgifte“ vorliege. 
Selbstverständlich könnte daneben auch an eine besondere Über¬ 
empfindlich keit dieses Organes gegen gewisse Stoffwechselprodukte 


*) Schuster , P., Psychologische Störungen bei Hirntumoren. Enke, 

1902. 

*) Formatier, F., Zur Kasuistik der Hypophysengangsgeschwülste. 
Wiener klin. Wschr. 1909, Nr. 17. 


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Berze, 


gedacht werden, welche es mit sich brächte, daß auch solche bereits 
als Noxen aut dasselbe wirken, denen unter normalen Verhältnissen 
eine derartige Wirkung nicht zukommt. Nehmen wir weiter an, daß 
die sich in der erwähnten Überempfindlichkeit ausdrückende Minder¬ 
wertigkeit des Zentralorganes schon in der Anlage begründet sein 
kann, so haben wir damit zugleich eine Vorstellung von der Art der 
Grundlage der endogenen Natur, die der Hauptgruppe der Dementia 
praecox sicherlich nicht abzusprechen ist, gewonnen 1 ). 

Die pathologische Hypofunktion des Zentralorgans äußert sieh 
bald in seiner Unfähigkeit, einen für ein geordnetes Geistesleben er¬ 
forderlichen Grad von psychischer Aktivität (psychischem Tonus, 
Bewußtseinstonus) überhaupt herzustellen, bald in der, die psychische 
Aktivität auf dieser Höhe dauernd zu erhalten. In ersterem Falle 
resultieren Bilder von mehr konstanter Störung, im letzteren dagegen 
Bilder, in denen der Zug der „Launenhaftigkeit“, die „launenhafte 
Inkonstanz“ der krankhaften Erscheinungen, mehr oder weniger 
deutlich hervortritt. Liegt in Fällen letzterer Art ein geringerer Grad 
der Grundstörung vor, so können, in oft überraschend sprunghafter 
Folge, Phasen normaler oder nahezu normaler mit solchen deutlich 
schizophren gestörter Geistestätigkeit abwechseln. Man wird vielleicht 
einwenden wollen, daß diese Annahme wohl nur die sozusagen spontan 
eintretenden Tonusschwankungen erklären könne, gegenüber den, wie 
oft zu beobachten, psychisch bedingten Elevationen der Geistestätig¬ 
keit auf ein höheres, zuweilen geradezu normal erscheinendes Niveau 
aber durchaus versage. Demgegenüber kann aber darauf verwiesen 
werden, daß Affekte — und solche sind in derartigen Fällen wohl 
immer im Spiele — durch ihre die Aktivität, wie bereits erwähnt, 
sozusagen konzentrierende Wirkung für die Zeit ihrer Dauer auch bei 
ansonst unzureichender Aktivität einen Zustand herzustellen ver¬ 
mögen, der zu geordneten psychischen Leistungen befähigt. Außerdem 
ist aber der Gedanke nicht strikt abzuweisen, daß Affekte auch eine 
Hebung der psychischen Aktivität, eine Steigerung des psychischen 


*) Durchaus stimme ich Bleuler bei, wenn er davon spricht, daß wir 
guten Grund zur Annahme haben, daß es auch „konstitutionelle Zu¬ 
stände“ von Schaltschwäche, wie er sagt — von primärer Insuffizienz 
der psychischen Aktivität, wie ich sage —, gebe. 


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Die Schizophrenie uaw. 


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Tonus herbeizuführen imstande seien 1 ). Dies hätte nichts anderes 
zur Voraussetzung, als daß vice versa auch eine Beeinflussung des 
subkortikalen Zentralorganes vom Kortex (von der intentioralen 
Sphäre des Kortex) her stattfinden könne. Dagegen spricht aber in 
der Tat nichts, selbst gegen eine direkte Beeinflussung nicht, zumal, 
abgesehen von Verbindungen der Binde mit andern subkortikalen 
Gebieten, höchstwahrscheinlich sogar von allen Bindenbezirken, eine 
doppelsinnige Verbindung mit dem Thalamus besteht. 

Mit diesem Exkurs auf das somatische Glebiet sollte aber nur gezeigt 
werden, zu welchen Überlegungen und Annahmen sich der Aktions- 
psychologe angeregt sieht, wenn er daran geht, den Versuch einer Er¬ 
forschung des eigentlichen Wesens der Krankheit Schizophrenie, also 
den Versuch einer Aufdeckung des somatischen Funktionsdefektes, 
der hinter der Insuffizienz der psychischen Aktivität steckt, zu machen. 

Der, wie gesagt, einzig möglichen psychologischen Ableitung 
der schizophrenen Symptome aus der Aktivitätsinsuffizienz vermögen 
selbstverständlich auch diese Annahmen keinen Vorschub zu leisten. 
Dies ist aber auch gar nicht ihr Zweck; sie sind nicht als „Arbeits¬ 
hypothese“ gedacht, wie etwa Bleulers Hypothese der „Störung der 
Assoziationsspannung“ als Elementarsymptom der Schizophrenien. 
Sie bringen aber andererseits auch nicht die Gefahr mit sich, die psycho¬ 
logische Ableitung der schizophrenen Symptome aus der Aktivitäts- 
insuffizienz in die Irre zu leiten, wie es bei der Bietderschen Arbeits- 
hypothese, welche die psychologische Ableitung auf einen ganz be¬ 
stimmten Weg lenkt, der Fall sein muß, falls die in dieser Arbeit ver¬ 
tretene Meinung, daß sie irrig sei, richtig ist. Alle psychologischen Er¬ 
wägungen sind durchaus unabhängig davon, wie immer man sich den 
somatischen Hintergrund der Insuffizienz der psychischen Aktivität 
vorstellen mag. 

Auf alle Einzelheiten der Darstellung Bleuler s, wie die schizo¬ 
phrenen Störungen mit der „Schwäche der Assoziationsspannung“ in 
Beziehung stehen sollen, näher einzugehen, möchten wir, um nicht zu 
weitläufig zu werden, lieber vermeiden. Nur einige wenige Punkte 
seien noch kurz berührt. 

Wenn Bleuier angibt, es handle sich bei der Schizophrenie um 
eine „Lockerung der assoziativen Affinitäten“, so schwebt ihm dabei 


1 ) Daß ich selbst nicht dazu neige, diesen Gedanken zu vertreten, 
ist schon früher angedeutet worden. 


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Berze, 


die Vorstellung vor, daß Begriffe zunächst „aufgelöst“ werden,.um 
dann „ineinander zu verschwimmen“. Als Beispiel führt er an: „Die 
doch gewiß recht fest gefügte Assoziation des eigenen Namens, den 
man als Unterschrift setzt, zeigt sich bei einer Schizophrenen zerrissen, 
die schon die drei Buchstaben „Gra“ hingesetzt hat, um „Graf“ zu 
schreiben, dann aber durch die beiden Anlaute an „groß“ erinnert 
wird und nun das a ausstreicht und den Namen zu „Groß“ ergänzt.“ 
Wer wird denn wirklich für einen solchen Fall, wenn er nicht von vorn¬ 
herein dort hinaus will, wo eben Bleuler hinaus will, eine sq umständ¬ 
liche und bei alledem das wesentlichste Moment ganz vernachlässigende 
Erklärung konstruieren ? Es liegt doch auf der Hand, daß die Kranke 
zunächst „Gra“ schreibt, weil sie ihren Namen schreiben will, d. h. 
weil die Intention, ihren Namen zu schreiben, in ihrem Bewußtsein 
rege (aktiviert) ist, daß sie aber dann etwas anderes schreibt, weil die 
Intention, ihren Namen zu schreiben, zu wirken auf gehört hat 
und an ihrer Stelle eine andere Intention, nämlich „Groß“ zu schreiben, 
wirksam geworden ist. Das ist das Wesentliche. Und dieses Wesent¬ 
liche erklärt sich völlig zwanglos aus der Insuffizienz der psychischen 
Aktivität: ob ihrer Insuffizienz reichte die psychische Aktivität unter 
den gerade gegebenen sonstigen Umständen nicht dazu aus, die In¬ 
tention, den eigenen Namen zu schreiben, so lange aktiviert zu erhalten, 
bis der Namen ausgeschrieben war, die Intention „entfiel“ der Kranken 
vorzeitig, so daß sich eine andere an ihre Stelle setzen konnte. Wie diese 
andere Intention angeregt worden ist, ist im Grunde von nebensäch¬ 
licher Bedeutung. Wo die Kraft des Ich, Intentionen zu heben und 
festzuhalten, unzureichend ist, treten immer die durch Impressionen 
geweckten „Assoziationen“ als des Erfolges sichere Konkurrenten auf 
den Plan. So war es auch hier der Fall. Die Intention, etwas zu 
schreiben, konnte gerade noch festgehalten werden, aber die Spezial- 
intention, den Namen zu schreiben, war entfallen. Das optische Bild 
des bereits niedergeschriebenen „Gra“ regte nun infolge der gerade 
gegebenen Konstellation das Wort „Groß“ an und aus der Intention, 
etwas zu schreiben, wurde nunmehr die Intention, „Groß“ zu schreiben. 
Dazu bedarf es aber selbstverständlich keiner „Lockerung der assozia¬ 
tiven Affinitäten“, sondern im Gegenteile bloß desGegebenseins und der 
Wirksamkeit der in Frage kommenden Assoziationen. 

Das Suchen nach einem Wort ist psychologisch das Wirken einer 


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Die Schizophrenie usw. 


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inhaltlich durch den vorschwebenden Begriff oder Gegenstand, um 
dessen Bezeichnung es sich handelt, genau bestimmten Intention. Ist 
diese Intention, wie es die Insuffizienz der psychischen Aktivität mit 
sich bringt, nicht intensiv genug rege oder nicht lange genug wirksam, 
so können alle möglichen „Quertriebe“ außer ihr zur Geltung kommen 
und zur Hebung eines unrichtigen Wortes führen. Zur Annahme einer 
„Lockerung der assoziativen Affinitäten“ gibt auch diese Störung 
keinen Anlaß. 

Wenn ein Kranker erklärt, daß „Epaminondas die Akropolis mit 
Kanonenbooten belagert hat“, so ist nicht, wie Bleuler meint, zu 
schließen, daß „entweder Epaminondas aus Beinen assoziativen Ver¬ 
bindungen mit dem Altertum losgelöst und in die neue Zeit versetzt 
worden, oder die Kanonenboote ihres modernen Charakters entkleidet“ 
seien. Solche Äußerungen zeigen vielmehr, daß der Schizophrene nicht 
imstande ist, die ganze Situation, um die es sich jeweils handelt, 
denkend zu umfassen und daher von irgendeinem Teilmotiv einseitig 
geleitet wird. Im speziellen Falle drängt sich die „Belagerung“ vor, 
alles andere tritt zurück. Assoziationen zu „Belagerung“, darunter 
etwa prävalierend die Erinnerung an eine Zeitungsnotiz über eine Be¬ 
lagerung mit Kanonenbooten, werden rege — und die unsinnige Be¬ 
hauptung des Kranken ist fertig. So erklärt sich überhaupt die große 
Menge der unsinnigen Äußerungen'Schizophrener: aus der pathologi¬ 
schen Dürftigkeit im Gegensätze zur normalen Breite des „Bewußt¬ 
seinsstromes“, d. h. aus der in der Insuffizienz der psychischen Aktivität 
begründeten Unfähigkeit, in einer (Denk-) Intention alle wesentlichen 
Momente einer Gesamtsituation zu erfassen. 

Viel wäre über Bleulers Ansichten über die Genese der „Störungen 
der Logik“ bei der Schizophrenie zu sagen. 

Zunächst erhebt sich die Frage, ob wirklich für alles, was Bleuler 
als Ausdruck einer Störung der Logik hinstellt, diese Deutung zutrifft. 
Daß die Äußerung einer Schizophrenen, sie könne den Boden nicht 
kehren, „weil -sie nicht Französisch kann“, unlogisch erscheint, sei 
zugegeben. Daß aber der Gedankengang unlogisch war, der die 
Kranke zu dieser Äußerung gebracht hat, steht keineswegs fest; wir 
können dies nicht behaupten, weil wir gar nicht wissen, was sich die 
Kranke dabei gedacht hat. Ein Bild aus eigener Erfahrung: Ich habe 
soeben nach dem Schlüssel zu meiner Tischlade gegriffen, — weil es 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 1. 12 


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Berze, 

draußen regnet. Hätte es nicht geregnet, wäre ich ausgegangen. Da 
es regnet, bleibe ich zu Hause; will mich daher beschäftigen und, da 
ich mich an einen unerledigten Akt erinnere, der in der Tischlade liegt, 
greife ich nach dem Schlüssel. Die zunächst unlogisch erscheinende 
Gedankenverbindung stellt sich als logisch heraus bei Aufdeckung der 
Zwischenglieder. So könnte es mm aber auch bei jener Äußerung der 
Schizophrenen sein. Z. B.: Aufgefordert, den Boden zu kehren, emp¬ 
findet sie 'Widerwillen dagegen (vielleicht einfach Negativismus!); 
zugleich mit dieser „Affektlage der Ablehnung“ taucht in ihrer Er¬ 
innerung die Methode auf, in der sie sich seinerzeit, als sie Französisch 
lernen sollte, in derartigen Fällen aus der Affäre zog. Sie „kann den 
Boden nicht kehren, weil sie nicht Französisch kann“, könnte also 
heißen: Da sie nicht Französisch kann und es daher erst lernen muß, 
hat sie keine Zeit, den Boden zu kehren, kann ihn, kurz gesagt, nicht 
kehren. 

Es muß nicht so sein; aber es Kann und wird in vielen Fällen so 
sein. Das Absonderliche wäre dann eigentlich nicht an dem Gdanken- 
gange, sondern an der darstellenden Äußerung gelegen. Der Schizo¬ 
phrene läßt sozusagen außer acht, daß die Sprache ein Verständi¬ 
gungsmittel ist, sprachliche Äußerungen daher darnach einzurichten 
sind, daß sie verstanden werden können, was aber eben oft nicht der 
Fall ist, wenn man nur die Endglieder einer längeren Gedankenreihe 
zum Ausdruck bringt, besonders wenn (fiese Endglieder das Wesent¬ 
liche der z. B. im Kausalnexus stehenden Begriffe gar nicht enthalten. 
Aus der Insuffizienz der psychischen Aktivität lassen sich mehrerlei 
Ursachen für diesen Mangel ableiten. Zunächst ist schon daran zu 
denken, daß auf Grund dieses Defektes die Intention, sich verständlich 
zu machen, beim Schizophrenen nicht in zureichendem Maße rege ist. 
Dann spielt auch hier wieder die aus der Grundstörung entspringende 
Unfähigkeit, die Gesamtsituation zu überblicken, zweifellos eine Bolle. 
Weiter führt die Intentionsschwäche leicht dazu, daß aus der Situation 
nicht die wesentlichen, sondern irgendwelche unwesentliche Momente, 
für welche konstellative Faktoren beliebiger Art begünstigend wirken, 
herausgegrifferi werden, um den Inhalt der Äußerung abzugeben. 

Damit soll aber, wie bereits ausgedrückt wurde, nur gesagt sein, 
daß nicht jede unsinnige Äußerung der Kranken als auf einem Defekte 
des logischen Denkens beruhend angesehen werden darf, dagegen 


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Die Schizophrenie usw. 


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durchaus nicht geleugnet werden, daß ein solcher Defekt bei der 
Schizophrenie besteht. Er steht ja außer Zweifel; hinsichtlich seiner 
Beziehung zur Grundstörung müssen wir allerdings wieder ganz anderer 
Meinung sein als Bleuler. 

Nach Bleuler „ist das logische Denken (nun) entweder eine genaue 
Reproduktion früher erlebter oder eine Bildung analoger Verbindun¬ 
gen“. Unter „früher erlebten Verbindungen“ sind jene „Verbindungen 
unter den Engrammen“ gemeint, welche dadurch entstehen, „daß 
zwei Erlebnisse, oder sagen wir beispielweise die Vorstellung zweier 
Gegenstände, die nebeneinander oder nacheinander Vorkommen, as¬ 
soziativ miteinander Verbunden werden“ (z. B. das Wort „Apfel“ und 
die Vorstellung „Apfel“, ,31itz“ und „Donner“). Bleuler stellt sich 
also strikt auf den Standpunkt der Lehre, daß die Logik des Denkens 
aus der Logik der Tatsachen (der „den Dingen immanenten vernünfti¬ 
gen Gesetzmäßigkeit“, vgl. Eisler, 1. c.) hervorgehe. Dagegen sei 
nichts eingewendet, obwohl es bekanntlich auch andere Lehrmeinungen 
über diesen Punkt gibt. Was aber einer Kritik u. E. nicht standhält, 
st die Auffassung Bleulers im Punkte der Art des Hervorgehens der 
Logik des Denkens aus der Logik der Tatsachen. 

Schon die einfache Reproduktion „früher erlebter Verbindung»!“ 
ist nach Bleuler logisches Denken. Dies ist ein Irrtum. Durch das 
Nacheinandererleben von Blitz und Donner wird, wie Bleuler richtig 
sagt, „eine Assoziation gestiftet“, eine „Erfahrungsassoziation“, wie 
es an andern Stellen heißt. Etwas, was die Bezeichnung Denken ver¬ 
diente, ist dabei nicht im Spiele. Und eine „einfache Reproduktion“ 
dieser Verbindung kann demnach auch noch kein logisches Denken, 
wie überhaupt kein Denken, sein; sie ist nichts als eine Erinnerung an 
zwei einander folgende Erlebnisse. Das Denken ist etwas der „ein¬ 
fachen Reproduktion“ derartiger Verbindung gegenüber durchaus 
Neues, Wesensfremdes. Sein Ergebnis sind Urteile, Urteile, die sich 
auf das in den „Erfahrungsassoziationen“ niedergelegte Nebeneinander 
und Nacheinander der Gegenstände beziehen. 

Es ist somit auch ganz unerlaubt, die „Geleise der Logik“ mit den 
„Erfahrungsassoziationen“ zu identifizieren, wie dies Bleuler tut, wenn 
er das Verlassen der Geleise der Logik im Traume usf. auf die Lockerung 
der Erfahrungsassoziationen bezieht. Die sensualistische Assoziations¬ 
psychologie kann freilich keinen andern Ausweg finden. 

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Berze, 


Der richtige Überblick ergibt sich erst, wenn erkannt und festge¬ 
halten wird, daß die „Erfahrungsassoziationen“ ein Erlebnis der 
Psychosensibilität, die „Geleise der Logik“ dagegen ein Ergebnis der 
auf diese reagierenden Psychomoiilität sind. Wie uns die Verhältnisse 
in der Außenwelt dazu zwingen, unsere Bewegungen, unsere Handlun¬ 
gen in einer bestimmten Art zu gestalten, so zwingen uns unsere in den 
Erfahrungsassoziationen niedergelegten Erlebnisse unser inneres Han¬ 
deln, das Denken in einer bestimmten Art, nach bestimmten Hegeln 
zu vollziehen. Und die Logik ist nichts anderes als die Gesamtheit 
dieser Regeln, dieser „Gesetze des Denkens“. Psychologisch ent¬ 
sprechen diesen den Erfahrungsinhalten gleichsam entspringenden Be¬ 
stimmungen des Denkens Strebungen (Intentionen, Intentionsfolgen) 
von bestimmter Richtung, die selbstverständlich im Wirkungsfalle 
nicht als solche bewußt werden müssen 1 ). 

Erst auf diesem Wege, auf dem Wege der Entstehung von Inten¬ 
tionsschemen auf Grundlage der Erfahrung (der „Erfahrungsassozia- 
tionen“), erklärt sich die Tatsache, daß die aus speziellen Erleb¬ 
nissen ersichtliche Logik zu einem allgemeinen, bei der denkenden 
Verarbeitung jedes beliebigen Bewußtseinsinhaltes verwertbaren Kanon 
wird. An dieser wichtigen Tatsache geht Bleuler ohne weiteres vorüber. 
Das logische Denken ist ihm zwar, wie bereits erwähnt, außer der „Re¬ 
produktion früher erlebter“ die „Bildung analoger Verbindungen“. 
Wie aber dies geschehen soll, wie es die „Erfahrungsassoziation“, 
die durch zwei ganz bestimmte spezielle Erlebnisse „gestiftet“ worden 
ist, machen soll, daß zwei ganz andere Bewußtseineinhalte in eine ihr 
„analoge Verbindung“ miteinander treten, sagt er uns nicht. Er kann 
es uns wohl auch nicht sagen; denn die nackte Assoziationspsychologie 
gewährt keine Handhabe dazu, wodurch sie übrigens abermals ihre 
Unbrauchbarkeit dokumentiert. 

Da die Wirksamkeit der Logik psychologisch als Wirksamkeit 
bestimmter Intentionskomplexe, Intentionsfolgen erscheint, so ist es 
klar, daß eine Insuffizienz der psychischen Aktivität auch einen Defekt 
des logischen Denkens mit sich bringen muß. Die in Frage kommenden 
Intentionen sind nicht kräftig genug, dem Denken die durch die Logik 

x ) Intentionen können wirksam werden entweder „triebmäßig in 
Gestalt einer gerichteten Erregung“ oder „bewußt“, d. h. in selbständigen 
gegenständlichen Akten ( Mittenzwey, Ztschr. f. Pathopsychol. Bd. 2, S. 206). 


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Die Schizophrenie asw. 


159 


geforderte Richtung aufzuzwingen; der Gedankengang verläßt daher 
oft die „Geleise der Logik“. 

Der Defekt der Schizophrenen im Bereiche der Logik ist also, 
genau betrachtet, eine Teilerscheinung der schizophrenen „Direktions- 
losigkeit“, des Defektes der Zielstrebigkeit, als Ausdruck der In¬ 
suffizienz der Intentionskraft. 

Das Denken nach „Erfahrungsassoziationen“ und das Denken im 
„Geleise der Logik“ muß streng auseinandergehalten werden. Das 
Denken, welches über die Erfahrungsassoziationen hinausgeht, von 
ihnen abgeht, ist nicht, wie Bleuler meint, unlogisches Denken. Der 
Gegensatz ist ein ganz anderer: Während das Denken nach Erfahrungs¬ 
assoziationen das „konkrete Denken“ ist (es arbeitet mit Anschauun¬ 
gen und Erinnerungsbildern), ist das über diese Assoziationen hinaus¬ 
gehende Denken das „abstrakte Denken“ (dieses „arbeitet mit Be¬ 
griffen, die es zerlegt und verknüpft“). Logisch oder unlogisch kann 
aber das eine wie das andere sein, logisch, wenn die im Sinne der Logik 
wirkenden Intentionen entsprechend zur Geltung kommen, unlogisch, 
wenn dies nicht der Fall ist. 

Erschwert wird aber der Einblick in Bleulers Auffassung noch da¬ 
durch, daß ihm die „Erfahrungsassoziationen“ wohl einmal (S. 7) 
die „Geleise der Logik“, ein andermal (S. 16) aber die „Denkgeleise“ 
bedeuten. Die Bezeichnung „Denkgeleise“ paßt aber doch nur auf 
Spuren, die von Gedankengängen überhaupt Zurückbleiben, seien sie 
nun logisch oder unlogisch. Der Gegensatz zum Denken mit Einhaltung 
vorhandener „Denkgeleise“, mit andern Worten: zum Denken in bereits 
früher einmal benutzten Bahnen, kann aber nur das neu schöpfende, 
das schöpferische Denken sein. Auch dieses kann wieder logisch oder 
unlogisch sein, je nachdem sich das die gewohnten Bahnen, die „Denk¬ 
geleise“, verlassende Denken in den „Geleisen der Logik“ hält oder 
nicht. Die „Geleise der Logik“ dürfen also nicht mit den „Denk¬ 
geleisen“ zusammengeworfen werden. Bleuler begeht diesen Fehler, 
obwohl er (S. 16) Ideen vorbringt, die ihn geradezu unmittelbar auf 
den fundamentalen Unterschied zwischen „Denkgeleisen“ und „Ge¬ 
leisen der Logik“ stoßen lassen mußten. Er spricht dort von einem 
Berührungspunkte zwischen „leichten Fällen von Schizophrenie“ und 
genialen Leuten, die sich dadurch ergebe, daß bei beiden Gruppen die 
Möglichkeit gegeben sei, daß sich das Denken „aus den eingeübten 


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Berze, 


Bahnen entferne“. Dies kann nur von gutem sein, wenn es sich um die 
Bahnen handelt, welche die Bezeichnung „Denkgeleise“ verdienen, 
nicht aber hinsichtlich der „Geleise der Logik 44 . Wenn ein Genie die 
Geleise der Logik verläßt, dann fördert es nicht etwas brauchbares 
Neues zutage, dann denkt es vielmehr Unsinn wie jeder andere Sterb¬ 
liche in solchem Falle. 

Die gelegentliche Berührung zwischen Schizophrenie und Genie 
ist übrigens in der Kegel x ) eine rein äußerliche. Sie liegt in der Ori¬ 
ginalität gewisser Geistesprodükte. Diese erschöpft aber nicht das 
Wesen des Genies, bildet m. E. nicht einmal das wesentlichste Moment 
an ihm, welches vielmehr in der ausnehmend großen Kraft der denken¬ 
den Gestaltung zu sulhen ist. Sie hat einen hohen Grad von psychischer 
Aktivität zur Voraussetzung, welcher es ermöglicht, daß die besonders 
große Breite des Bewußtseinsstromes den Überblick über ein weiteres 
Tatsachengebiet, als der Durchschnittsmensch mit einem Schlage zu 
erfassen vermag, gestattet, welcher ferner einen höheren Grad von 
Geistesschärfe mit sich bringt, der Beziehungen („Ähnlichkeiten 44 
sagt Bleuler nicht richtig) erschauen läßt, die dem Durchschnitts¬ 
menschen verborgen bleiben. Diese Kraft der Gestaltung fehlt aber 
dem Schizophrenen; seine auf psychische Akte verwendbare Kraft 
erreicht gemeinhin nicht einmal das Durchschnittsmaß, sondern steht 
unter diesem nach Maßgabe der Insuffizienz der psychischen Aktivität. 
Produziert also der Schizophrene unter so und so vielem Unbrauch¬ 
baren einmal etwas brauchbares Neues, Originelles, so ist dies gerade¬ 
so Zufall, wie wenn eine blinde Henne richtig einmal ein Korn findet. 

Also, um kurz zusammenzufassen: Es ist genau zu unterscheiden 
zwischen den „Denkgeleisen“ und den „Geleisen der Logik 44 (Bleuler). 
Die ersteren sind durchaus vergleichbar den Erfahrungsassoziationen; 
wie diese durch die Erfahrung „gestiftet“ werden, so die „Denkgeleise“ 
durch den Denkvorgang. Wie die Erfahrungsassoziationen, die Wah r - 

*) Ich möchte nicht ausschließen, daß der eine oder der andere 
Schizophrene dem Genie näher steht, als hier ausgeführt wird. Eine Abart, 
wenn ich so sagen darf, der Schizophrenie beruht, wie bereits erwähnt, 
auf der Labilität des Bewußtseinstonus. Mit dieser Labilität ist ganz 
gut vereinbar, daß sich der Bewußtseinstonus zuzeiten auch über das 
Durchschnittsmaß erhebt, und daß damit Zustände der „Inspiration“ oder, 
wie sich Stransky einmal ausdrückte, des erhöhten „Arbeitsturgors“ 
herbeigeführt werden. 


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Die Schizophrenie uaw. 


161 


nehmungsassoziationen, sind auch die letzteren, die Denkassoziatio¬ 
nen, bald als simultane, bald als sukzessive charakterisiert. — Die 
‘,Geleise der Logik u dagegen sind Intentionen, Intentionsreihen, In¬ 
tentionsformeln, und zwar offenbar erst aus der Erfahrung abge¬ 
leitete Intentionen, welche hinfort, wenn sie zur Geltung kommen — 
und dies hat nichts anderes zur Voraussetzung als das Gegebensein 
des dem normalen physiologischen Wachzustände entsprechenden 
Mafies von psychischer Aktivität (Gegensatz: Traumzustand, Schizo¬ 
phrenie) und die Verfügbarkeit eines zureichenden Anteiles dieser 
psychischen Aktivität für den gerade in Frage kommenden Denkakt 
(Gegensatz: Bindung durch einen andern Akt, „Tätigkeit neben der 
Aufmerksamkeit“ nach Bleuler) —, das Denken über jede beliebige 
Materie im Sinne der Logik regeln. Die Logik ist psychologisch ver¬ 
gleichbar der Moral; auch diese ist ein Komplex von Intentionsformeln, 
nämlich von solchen, welche das Denken und Handeln im Sinne der 
Sittlichkeit regeln, von Intentionsformeln, auf Grund deren „die sitt¬ 
liche Gesinnung in der praktischen Betätigung wirksam“ (vgl. Kreibig) 
wird. — Der schizophrene Prozeß nun ändert an sich an den Denk¬ 
assoziationen ebensowenig wie an den Wahmehmungsassoziationen. 
Wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, daß der schizophrene Prozeß 
die Assoziationen schädigt, etwa, wie Bleuler meint, im Sinne einer 
„Schwächung der Assoziationsspannung“. Erst das Denken unter 
den pathologischen Bedingungen, wie sie durch den schizophrenen 
Prozeß gesetzt sind, das Denken bei unzureichender psychischer Ak¬ 
tivität, verdirbt sozusagen sekundär den Gehalt der Denkassoziatio¬ 
nen, indem nunmehr aus den gestörten Denkakten hervorgegangene 
unlogische, unsinnige, unbrauchbare Assoziationen den vordem er¬ 
worbenen brauchbaren Assoziationen gegenüber immer mehr an Terrain 
gewinnen. 

Und mm noch einen wichtigen Punkt. Es war zu erwarten, daß 
Bleuler , der Hauptvertreter der Schizophrenielehre, auch eingehend 
zeigen werde, wie seine Hypothese auch die Erscheinung, daß „die 
Persönlichkeit ihre Einheit verliert“, wenn die Krankheit 
(sc. Schizophrenie) ausgesprochen ist, zu erklären geeignet sei. 

Tragen wir nun zusammen, was Bleuler in der zitierten Arbeit zu 
diesem Gegenstände sagt, so muß uns vor allem auffallen, daß er dort, 
wo es sich um die Persönlichkeit handelt, bald von der „aktuellen Per- 


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Berze, 


8önlichkeit“ (S. 12) oder von der „Person“ (S. 17), bald von der „Psyche 
in ihrer Totalität“ (S. 6) oder der „Gesamtheit der Psyche“ (S. 17) 
spricht. Dies wäre statthaft, wenn die Begriffe „Gesamtheit der Psyche“ 
und „Persönlichkeit“ identisch wären. Davon kann aber keine Bede 
sein; die Gesamtheit der Psyohe umfaßt außer der Persönlichkeit, dem 
Ich als dem Subjekte der psychischen Akte, und den zurzeit latenten 
Intentionen auch noch die Dinge, welche dem Ich als Objekte gegen¬ 
überstehen (außer der „Autopsyche“ noch die „Somato“- und die 
„Allopsyche“ im Sinne Wernickes). 

Nicht um die Gesamtheit der Psyche, sondern um die Persön¬ 
lichkeit handelt es sich, wenn von einer „Störung der Einheit der 
Person“ die Bede ist. Man muß daher vor allem einen möglichst 
klaren Einblick in das Wesen der „Person“ und ihrer Beziehung zur 
Gesamtpsyche zu gewinnen trachten, wenn man darauf ausgeht, eine 
Störung der Einheit der Person zu erklären. Dazu bietet nun aber die 
Assoziationspsychologie keine Handhabe; die Schwächen der Assozia¬ 
tionspsychologiesind, wie H. Cornelius mit Becht betont, da auffällig, 
wo es sich um die Erklärung derjenigen Tatsachen handelt, für deren Zu¬ 
standekommen „der Zusammenhang unserer Erlebnisse zur Einheit des 
Bewußtseins maßgebend ist“ (Einl. in d. Phil., S. 192, zit. nach Eisler). 
Bleuler macht daher auch gar keinen rechten Versuch einer Erklärung, 
sondern konstatiert einfach: „Die Aufrechterhaltung der Einheit ist 
(aber) auch schon eine Funktion der allgemeinen Schaltungen über¬ 
haupt.Damit ist unter normalen Umständen die Einheit der 

Psyche gewährleistet; wir möchten geradezu sagen: die Einheit der 
Psyche ist identisch mit der Einheit der Schaltung.“ Dies zu sagen, 
steht Bleuler selbstverständlich frei, er kann der von ihm konstruierten 
„Schaltung“ zuschreiben, was er will; aber erklärt oder bewiesen ist 
damit nichts. 

Die Gesamtpersönlichkeit ist nichts anderes als die Summe der 
Intentionen bzw. Intentionsmöglichkeiten, des Ich. Sie ist der Inbegriff 
„des tendances röunies et associöes cTapres quelques principes gen6- 
raux“ (Paulhari). Die jeweils in Erscheinung tretende Persönlich¬ 
keit, die „Momentanpersönlichkeit“ (vgl. Lipps) ist sozusagen ein 
Ausschnitt aus der Gesamtpersönlichkeit, d. h. ein Komplex von In¬ 
tentionen, der einen bestimmten Teil jener Gesamtheit von Intentionen 
ausmacht. Die einander ablösenden „Momentanpersönlichkeiten“ sind 


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Die Schizophrenie usw. 


163 


einander nicht gleich, sondern voneinander verschieden nach Maßgabe 
der Verschiedenheit ihres jeweiligen Intentionsgehaltes. Die in der 
Momentanpersönlichkeit gerade nicht enthaltenen Intentionen sind 
zurzeit „latent 11 . Sie werden in der Latenz erhalten, ausgesperrt, 
unterdrückt, indem die ganze verfügbare psychische Aktivität auf die 
die Momentanpersönlichkeit zusammensetzenden Intentionen ver¬ 
wendet wird. Man mag die Funktion, die dies bewirkt, die „oberste 
psychische Funktion“, die „Höchstfunktion“, die „Funktion (Inten¬ 
tion) der Ich-Erhaltung“ nennen; sicher ist, daß, was wir als das Er¬ 
gebnis ihrer Wirksamkeit ansehen, im normalen Wachzustände imm er 
gegeben ist, und sicher ist ebenso, daß der Effekt mangelhaft wird, 
wenn die psychische Aktivität unter das dem normalen Wachzustände 
eigene Maß sinkt, woraus sich ergibt, daß sie eine Äußerungsform der 
psychischen Aktivität selbst ist, welche diese aber nur dann zu ent¬ 
falten vermag, wenn sie ein bestimmtes Maß erreicht hat. 

Außer zur Erhaltung der Momentanpersönlichkeit reicht die 
psychische Aktivität im normalen Wachzustände noch zur Erzielung 
eines besonders auffälligen weiteren Effektes hin, nämlich zur aktiven 
Aufmerksamkeit. Geht die Momentanpersönlichkeit aus der Ge¬ 
samtpersönlichkeit dadurch hervor, daß ein bestimmter Teilkomplex 
aus der Gesamtmasse der Intentionen herausgehoben und die übrigen 
in die Latenz verwiesen werden, so geht der Zustand der aktiven Auf¬ 
merksamkeit aus der zunächst sozusagen breiter angelegten Momen¬ 
tanpersönlichkeit in der Weise hervor, daß eine in ihr vertretene spe¬ 
zielle Intention auf Kosten der übrigen in ihr enthaltenen herausge¬ 
hoben, die psychische Aktivität auf sie konzentriert wird. Die aktive 
Aufmerksamkeit ist also eine höhere, ihre höchstmögliche Potenzierung 
die höchste Leistung jener Funktion. 

Ein Absinken der psychischen Aktivität, wie immer es begründet 
sein mag, zeigt sich daher zuallemächst in einer Herabsetzung der 
Fähigkeit zur aktiven Aufmerksamkeit, d. h. der Fähigkeit, aus der 
breiteren Momentanpersönlichkeit in die engere, auf die spezielle In¬ 
tention eingeengte Momentanpersönlichkeit überzugehen und die 
letztere zu erhalten. Hand in Hand damit geht eine Steigerung der 
Ablenkbarkeit. Während unter normalen Umständen die Momentan¬ 
persönlichkeit allen Einflüssen, darunter besonders den Sinnesein¬ 
drücken, als ein mehr fester Block gegenübersteht, was zur Folge hat, 


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Berze, 


daß auch die durch die Einflüsse (Sinneseindrücke, Einfälle usw.) an¬ 
geregten Intentionen in großer Zahl niedergehalten und nur diejenigen 
von ihnen, welche das „Interesse“ zu erwecken imstande sind, in die 
Momentanpersönlichkeit des unmittelbar folgenden psychologischen 
Augenblicks aufgenommen werden, ist die Festigkeit der Momentan¬ 
persönlichkeit bei verminderter psychischer Aktivität in gleichem 
Maße beeinträchtigt und daher in ihrer Zusammensetzung einem ent¬ 
sprechend häufigeren Wechsel unterworfen, indem sich die durch die 
Einflüsse aller Art angeregten Intentionen weit leichter in sie gleichsam 
eigenmächtig einzudrängen, andere Intentionen aus ihr zu verdrängen, 
sie somit umzugestalten vermögen (vgl. „Hypermetamorphose“ nach 
Wemicke, Grundriß der Psychiatrie, 1900, S. 212). Im Bereiche des 
Denkens macht sich die gesteigerte Ablenkbarkeit, und zwar um so 
mehr, als auch die Schwäche der jeweiligen speziellen (Denk-) Intention 
(„idöe directrice“) in dem gleichen Sinne wirkt, in der Form des Ab¬ 
irrens vom eingeschlagenen Gedankengange geltend, indem sich irgend¬ 
wie angeregte andere Intentionen an die Stelle der jeweiligen Leitidee 
setzen. Bei höheren Graden des Aktivitätsmankos kann diese Störung 
den Charakter der „Direktionslosigkeit“ des Denkens annehmen. 

Die bisher betrachteten Erscheinungen, die sich bekanntlich auch 
beim geistig Normalen einstellen im Zustande der Ermüdung, der 
Schläfrigkeit und dergleichen, haben das gemein, daß sie den eigent¬ 
lichen Kern der Momentanpersönlichkeit, das Selbstbewußtsein, das 
Bewußtsein des einheitlichen, aktiven Ich und seiner Kontinuität, 
nicht berühren. Die Störung betrifft nur das Denken (und Handeln) 
des Ich, nicht das Ich selbst. Jener wesentliche Komplex von habitu¬ 
ellen Intentionen, welcher, aus einer Momentanpersönlichkeit in die 
folgende usw. übergehend, die Kontinuität des Ich erhält, bleibt intakt. 

Erst bei einem höheren Grade des Aktivitätsdefektes setzen dann, 
zugleich mit einem entsprechenden Quantitätszuwachs der bisher er¬ 
wähnten Störungen, womit das Auftauchen qualitativ neuer Sym¬ 
ptome wie Halluzinationen, Wahnbildung, Katalepsie usw. einhergehen 
kann, die spezifisch schizophrenen Alterationen der (Momentan-) 
Persönlichkeit ein. Es verliert das Ich seine unter normalen Um¬ 
ständen ihm eigene (relative) Stabilität; dies, weil die psychisohe 
Aktivität und damit jene „Höchstfunktion“ nun nicht mehr dazu 
ausreicht, eine Gruppe von Intentionen als Momentanpersönlichkeit 


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Die Schizophrenie usw. 


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in zureichendem Maße aus der Gesamtheit der die Gesamtpersönlich¬ 
keit bildenden Intentionen herauszuheben bzw. sie in der ihnen durch 
die Heraushebung gegenüber den übrigen zuteil werdenden Ausnahme- 
«tellung zu erhalten. 

Den leichtesten Grad der schizophrenen Persönlichkeitsstörung 
bekommt man, nach meiner Erfahrung zu urteilen, nur höchst selten 
rein zu sehen; eine ganz geringe Zunahme des Defektes scheint bereits 
dazu auszureichen, eine weitgehende Änderung der Erscheinungsweise 
der Störung herbeizuführen. In diesen seltenen Fällen ist nun ganz 
deutlich zu ersehen, daß die schizophrene Persönlichkeitsstörung in 
* ihrer ursprünglichen Feinheit in der Tat das Ergebnis einer mangel¬ 
haften Abhebung der habituell aktiven Intentionen gegen die 
habituell latenten Intentionen ist. Das Ich bzw. die Momentan¬ 
persönlichkeit fließt sozusagen auseinander, in das weite Gebiet der 
Gesamtpersönlichkeit hinein. Ein Kranker dieser Art führte u. a. 
folgendes aus: „Ich bin jetzt ganz anders als früher. Ich weiß jetzt 
alles auf einmal, was ich früher in meinem ganzen Leben nacheinander 
gewußt habe. Das ist ein großartiger Zustand! Man ist nicht ge¬ 
bunden, man ist ganz frei. Man muß nicht so oder so, man kann, wie 
man will, man kann so oder auch das andere, das Gegenteil. Man hat 
einen viel weiteren Gesichtskreis, einen weiteren geistigen Horizont.“ 
Was diesen Kranken dazu bestimmte, seinen Defekt, im Gegensätze zu 
der großen Mehrheit der in einem ungefähr gleichen Stadium der 
Krankheit befindlichen Schizophrenen, in so rosigem Lichte zu sehen, 
war offenbar seine zurzeit (pseudomanische Episode) vorherrschende, 
deutlich gehobene Stimmung. Den meisten Kranken wird der Defekt 
dagegen mehr oder weniger unangenehm fühlbar, vor allem in der 
Form der Unfähigkeit, den äußeren und inneren Einflüssen eine feste 
Persönlichkeit gegenüberzustellen, und weiter der Unfähigkeit, die 
Persönlichkeit als entscheidenden Faktor zwischen ja und nein, 
zwischen Tendenz und Gegentendenz, wirksam werden zu lassen. In¬ 
telligente Kranke drücken dies etwa wie folgt aus: „Es ist mir nicht 
möglich, die Persönlichkeit zu stellen, die notwendig ist“, oder: „Das 

momentane Bewußtsein, wer bist du, wo bist du, was darfst du. 

Ist unbedingt notwendig“ (wird vom Kranken vermißt), oder: „Ich 
bin kein Mittelpunkt weder in affirmativer noch in negativer Be- 


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166" 


Berze, 


Ziehung *).“ Die letztere Äußerung weist zugleich recht bezeichnend 
auf ein Symptom hin, welches von Bleuler den Namen „Ambitendenz“ 
erhalten hat und nach diesem Autor als Teilerscheinung der „Neigung 
der schizophrenen Psyche, die verschiedensten Psychismen zugleich 
mit negativem und positivem Vorzeichen zu versehen (Ambivalenz)“, 
anzusehen ist. In der Gesamtpersönlichkeit sind eben Triebe und 
Gegentriebe, Tendenzen und Gegentendenzen, nebeneinander ver¬ 
treten, die Entscheidung in dem einen oder dem andern Sinne („af¬ 
firmativ“ oder „negativ“, wie jener Kranke sagte) kann nur von der 
bestimmt zusammengesetzten Momentanpersönlichkeit ausgehen; 
mangelt es an der Festigkeit der letzteren, so kommt es zur Ent¬ 
scheidung in vielen Fällen eben nicht bzw. auf Grund einer aktiven 
Entschließung des Ich. Bleuler erklärt, nebenbei bemerkt, mit Recht, 
daß die „Ambivalenz, namentlich in Form der Ambitendenz, auch alle 
Übergänge zum Negativismus hat“. Es liegt auf der Hand, daß der 
Negativismus, welchen wir zweifellos als das Ergebnis einer patho¬ 
logischen Intention (Abwehrtendenz, negativistischen Tendenz *)) an¬ 
zusehen haben, um so leichter in Erscheinung treten kann, wenn nicht 
eine zu bestimmter Entscheidung veranlagte, sondern eine im Sinne 
der Ambitendenz defekte Momentanpersönlichkeit gegeben ist. 

Bei schwereren Graden des Defektes kommt es dann auch zu 
schwereren Störungen der Momentanpersönlichkeit und ihrer Konti¬ 
nuität. Den Übergang zu diesen Störungen zeigen Äußerungen der 
Kranken, die folgendermaßen lauten, an: „Ich habe kein Selbst¬ 
bewußtsein“, „ich habe mein eigenes Ich nicht“, „die eigene Per¬ 
sönlichkeit ist gestört“, „ich habe keine Stabilität“ (!), „ich habe keine 
Persönlichkeitsgefühle“ usw. 8 ). Die Momentanpersönlichkeit ist einem 
übergroßen Wechsel ihrer Zusammensetzung ausgesetzt („ich habe 
keine Stabilität“, „es fehlt mir das seelische Gleichgewicht, die Ba¬ 
lance“). Schon dadurch ist eine richtige Kontinuität unmöglich ge¬ 
worden ; nur mehr Reste des habituellen Intentionskomplexes Ich sind es, 
die eine solche andeutungweise noch erhalten. Zeitweise erscheint da» 
Ich wohl noch in mehr konsolidierter Form, dazwischen aber gibt e« 

x ) Vgl. Berze, Die primäre Insuffizienz der psychischen Aktivität. 
S. 62 . 

*) Bezüglich Ableitung dieser Tendenz vgl. Berze, 1 . c. 

3 ) Vgl. Berze, 1. c. 


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Oie Schizophrenie usw. 


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Phasen, in denen das Ich nicht mehr als einen Schemen darstellt. Hand 
in Hand mit diesem Schwund der Momentanpersönlichkeit, mit diesem 
„Ich-Verluste“, geht die Erscheinung des Vordrängens von Intentionen 
oder Intentionskomplexen, die bisher unter den habituellen Ichkompo- 
nenten keinen Platz gefunden haben, denen jetzt aber durch die 
Schwäche des Zusammenhanges des Ich die Möglichkeit geboten ist, 
sich in dieses einzudrängen; namentlich Intentionen, die in der Zeit 
des suffizienten Ich nicht endgültig erledigt, sondern bloß „verdrängt“ 
wurden, haben jetzt dazu Aussicht. Dieses Eindrängen eigentlich 
ichfremder Intentionen in die Momentanpersönlichkeit führt zu einer 
wahnhaften Veränderung der Persönlichkeit, die bekanntlich mehr 
oder weniger tiefgreifend Bein kann. Wo die Aktivitätsinsuffizienz 
dauernd einen gewissen Grad einhält, ist auch die auf die angedeutete 
Weise herbeigeführte Persönlichkeitsveränderung eine dauernde, wäh¬ 
rend in den Fällen, in welchen die Insuffizienz in der Form der Labilität 
des psychischen Tonus erscheint, parallel mit dem Wechsel zwischen 
Elevation und Depression des Tonus ein Wechsel zwischen normalem 
bzw. nur abgeschwächtem und wahnhaft verändertem Ich geht. Weiter 
führt die Unfähigkeit, eine Momentanpersönlichkeit zu erhalten, auch 
zur Bildung von Intentionszusammenhängen neben der Momentan- 
persönlichkeit. Gerade so wie ein leichteres Absinken der Aktivität 
eine Neigung zum „Denken neben der Aufmerksamkeit“ zur Folge hat, 
ergibt sich aus einem weiteren Absinken von einem gewissen Tiefstand 
an eine Neigung zur Bildung von Persönlichkeiten neben der eigent¬ 
lichen (Momentan-) Persönlichkeit, von bald nur kurzlebigen, bald aber 
dauerhafteren Nebenpersönlichkeiten. Der „Zerfall“ hat damit die 
Persönlichkeit, das Ich, ergriffen. 

Wenn wir sagen, daß es die psychische Aktivität ist, welche es 
macht, daß es zu einer Differenzierung der in der Gesaratpersönlichkeit 
enthaltenen Intentionen kommt, so daß, um mit Bleuler zu reden, jede 
das richtige Vorzeichen erhält und die sozusagen ichreifen, weil der Er¬ 
fahrung und Erkenntnis des Individuums entsprechenden reellen In¬ 
tentionen von den übrigen geschieden werden, mit der Konsequenz, 
daß jene in das aktive Ich (Momentanpersönlichkeit) eingchen, während 
diese in die Latenz verwiesen bzw. vom Ich abgewiesen werden, be¬ 
wegen wir uns auf dem Boden der Tatsachen; denn die Beobachtung 
lehrt uns, daß jede Verminderung der psychischen Aktivität jene Dif- 


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Berze, Die Schizophrenie new. 


ferenzierung in einem ihrem Grade entsprechenden Maße beeinträchtigt. 
Darüber aber etwas aussagen zu wollen, wie es um das somatische 
Korrelat dieser Vorgänge bestellt sei, wäre ein durchaus aussichts¬ 
loses Beginnen, das nur ein phantastisches ßesultat ergeben könnte. 
Rein nur nach Analogien in der physischen Welt zu suchen, bleibt uns 
freilich unbenommen; was aber darüber nur im geringsten hinaus¬ 
ginge, wäre vom Bösen, auch schon die Aufstellung einer „Arbeits¬ 
hypothese“ auf Grund der gewählten Analogie. 

Eine richtige Analogie scheint uns nun weit eher als auf dem Ge¬ 
biete der Elektrizität (Bleuler) auf dem der Optik zu finden zu sein. 
Bekanntlich ist zum möglichst deutlichen Sehen der Farben der 
Gegenstände eine gewisse Intensität der Beleuchtung erforderlich; 
nimmt die Helligkeit (Intensität der Beleuchtung) ab, so nähert sich 
jede Farbe in ihrer Qualität dem Schwarz, d. h. die Differenzierung 
der Farben gegeneinander bzw. der Gegenstände nach Farben wird 
geringer, um schließlich ganz zu verschwinden. Ganz das gleiche ist 
aber auch das Verhältnis zwischen Intensität der psychischen Ak¬ 
tivität und Differenzierung der Intentionen nach „Vorzeichen“ (posi¬ 
tiv-negativ, moralisch—unmoralisch, logisch—unlogisch, real—irreal, 
icheigen—ichfremd usw.). Nur bei jenem Grade von psychischer Ak¬ 
tivität, welcher dem physiologischen Wachzustände entspricht, hält 
die Differenzierung der Intentionen den zur Erhaltung eines normalen 
Geisteslebens erforderlichen Grad ein. Das Absinken der psychischen 
Aktivität führt zu einer Qualitätsnivellierung der Intentionen im Sinne 
einer Verminderung der Wirkung ihrer „Vorzeichen“ — und damit 
zu all* den Erscheinungen, wie sie dem Traumleben und auch dem 
Geistesleben der Schizophrenen eigen sind. 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten 

(mit seltenen» mit der Tat in keinem Zusammenhänge stehen¬ 
den epileptischen Anfällen). 

Gutachten der Wiener medizinischen Fakultät vom 14. Juli 1911. 

Ref.: Hofrat Prot Dr. Heinrich Obcratetner (Wien) und 
Prot Dr. Erwin Stransky (Wien). 

Aktenergebnis: Am 14. 8. 1910 vormittags wurde von einem 
Arbeiter in einem Gebüsch in der sogenannten Binderau im Wiener Prater¬ 
viertel, Ecke Engerthstraße und Dürnkrutplatz, in der Nahe des dort 
befindlichen Sportplatzes, die Leiche einer jungen Frauensperson gefunden, 
die alsbald als die des 20jährigen, der geheimen Prostitution ergebenen 
Dienstmädchens Josefine P. agnosziert wurde. Die Art, wie die Leiche 
zugerichtet war, mußte sogleich den Verdacht aufsteigen lassen, daß hier 
ein Lustmord vorlag. Es wurde sogleich die polizeiliche und sohin die 
gerichtliche Beschau vorgenommen. Über das Resultat der letzteren 
sei nachstehend berichtet: Die Leiche, auf dem Rücken liegend, war 
bedeckt mit einem Haufen Kleider; Schultern und Schenkel lagen nackt; 
der blutbefleckte Oberrock ringförmig um Brust und Rumpf geschlungen; 
das Gesicht war stellenweise mit Blut bedeckt; in der Nähe des linken 
Auges eine seichte, scharfrandige Hautwunde; der untere Teil der Nase 
vom Gesicht durch eine Kontinuitätstrennung abgehoben; seitwärts von 
der Leiche in einem Büschel Kräuter verfilzte Massen von Haaren, vom 
Kolorit jener der Leiche; der Unterrock der Leiche, gleichfalls blutbefleckt, 
zerschnitten, ein Schnitt zieht vorn der Länge nach von unten nach oben; 
auch ein Teil der Bluse fehlt, der Rest zeigt gleichfalls eine kurze Zu¬ 
sammenhangstrennung; auf der Leiche zusammengeknüllt ein Hemd, 
blutdurchtränkt, im unteren Teil feuchte, gelbe Flecken zeigend, innerhalb 
deren verwaschene Blutflecken; außerdem anscheinend Kotspuren; auch 
das Hemd zeigt verschiedene Zusammenhangstrennungen, darunter 
eine große, longitudinale; nach dessen Entfernung fand sich an der Leiche 
selbst eine tiefe, klaffende Wunde, schräg über die rechte Halsseite hin¬ 
ziehend; ferner an der Vorderseite der rechten Schulter drei senkrechte, 
seichte Hautwunden; beide Mammae in doppelbogenförmigen Linien 
vom Rumpfe fast abpräpariert; der so gebildete Lappen wieder von 
drei scharfrandigen Kontinuitätstrennungen durchsetzt; am Bauche unter 
der Unterbrust zahlreiche oberflächliche, sich vielfach kreuzende Haut- 


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170 


Obersteiner and Stransky, 


Verletzungen; eine derselben aber geht oben bis in die Bauchhöhle tiefer 
hinein und zieht senkrecht vom Oberbauch bis handbreit unter den Nabel; 
unterhalb dieser eine neue, tiefe Wunde oben bis in die Bauchhöhle, unten 
in die rechte Schamlippe hineinziehend; weitere lange Wunden am Peri¬ 
neum, um den After, an der rechten Gesäßbacke und den Oberschenkeln; 
Blutaustritt ausschließlich an der Halswunde sowie an zwei Hautwunden 
am Rücken. Dies der Leichenbefund. In dem Kassahäuschen des Sport¬ 
platzes schräg gegenüber der Fundstelle fanden sich Blutspuren am Fu߬ 
boden und an der Tür; einige solche auch an der Außenseite des Häuschens; 
nächst diesen eine große Blutlache; in und vor der Hütte verstreut wurden 
mehrere Haarnadeln und Kleiderfetzen gefunden. 

Die gerichtsärztliche Obduktion der Leiche lieferte dann noch eine 
viel genauere Ergänzung und Beschreibung der zahlreichen Verletzungen, 
welche die Leiche aufwies, und erbrachte den Nachweis, daß auch innere 
Organe (Herz, Niere, Lunge) verletzt waren. Das Gutachten der Gerichts¬ 
ärzte gipfelt in nachfolgenden Schlüssen; Der Tod der P. sei an Ver¬ 
blutung erfolgt; von den zahlreichen Wunden sind der übrigens offenbar 
nicht in einem Zuge geführte tiefe Schnitt am Halse, der die Carotis com¬ 
munis und die Jugularis der rechten Seite eröffnet hatte, sowie eine an 
der Brust Vorgefundene Stichwunde, die sich im weiteren Verfolge als 
eine das Herz durchbohrende erwies, als unbedingt tödlich zu bezeichnen; 
die Verblutung ist aus verschiedenen Wunden erfolgt, hauptsächlich aus 
fünf, größtenteils nach außen; die Form der Wunden läßt auf ein scharfes, 
messerartiges Werkzeug, etwa von der Beschaffenheit eines kräftigen 
Taschenmessers, schließen; die Stiche müssen mit beträchtlicher Gewalt 
geführt worden sein; weiter wiesen eine Reihe von blauen Flecken und Suf- 
fusionen an der Vorderseite des Halses und ein Bruch des Zungenbeines 
sowie Suffusionen und Blutaustritte im Gesicht auf einen Würgeakt hin, 
ob noch bei Lebzeiten oder vielleicht etwa durch Einschnürung des Blusen¬ 
kragens bedingt und in welchem Zeitpunkt überhaupt erfolgt, war nicht 
zu entscheiden; der Reihenfolge der Verletzungen nach dürften dem Be¬ 
funde gemäß zuerst Stichwunden am Rücken, dann solche an der Brust, 
endlich der Schnitt am Halse erfolgt sein; eine große Anzahl von Wunden, 
postmortal erzeugt (völliger Mangel einer Blutung), darunter der große, 
die beiden Mammae abpräparierende Schnitt, jener, der die Bauchhöhle 
eröffnet hat, jene im Genital- und im Beckengürtelbereiche überhaupt. 
Zeichen eines Kampfes waren an der Leiche nicht zu finden. Endlich fand 
sich in den Wäschestücken der Leiche bei mikroskopischer und spektro¬ 
skopischer Untersuchung Blut, biologisch als Menschenblut nachweisbar. 
Samenfäden im Scheidenschleim der Leiche nachzuweisen gelang nicht. 

Der Befünd ließ es so gut wie zweifellos erscheinen, daß es sich 
um einen Mord, und zwar offenbar um einen Lustmord gehandelt haben 
mußte; als Tatort kam das erwähnte Kassahäuschen oder dessen nächste 
Umgebung nicht zuletzt auch darum in Betracht, weil sich dort, abgesehen 


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Lnstmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 


171 


von einigen weiblichen Bekleidungsgegenständen, einige auf die Anwesenheit 
eines Täters hinweisende Sachen, als da sind: ein Bleistift, ein Zollstab 
und eine Postkarte mit aufgedruckter Anschrift einerVersicherungsgesell- 
schaft, fanden. Der Mörder mußte sein Opfer dann vom Tatorte zu dem 
Gebüsch getragen und die Leiche dort verborgen haben. 

Die behördlichen Erhebungen führten gleich vom Anbeginn auf eine 
bestimmte Spur: ein in der Werkstätte der Donauregulierungskommission 
beschäftigter und im XX. Bezirk wohnhafter Zimmermann stand nämlich 
unter den Leuten dort im Gerüche, schon einmal in seiner Heimat, in 
Deutschland, einen Lustmord begangen und sich eine Zeitlang darum in 
Gewahrsam befunden zu haben; gemeint ist der am 22. 1. 1878 zu T. in 
Bayern geborene und dahin zuständige Christian V., Zimmermann, evan¬ 
gelisch, verheiratet, eben der Inkulpat, ein Individuum mit einer recht 
bewegten und ominösen Vergangenheit, deren Schauplatz, wie wir noch 
sehen werden, schon früher einmal vorübergehend Wien gewesen ist. Er 
ward denn auch am nächsten Tage zeitlich morgens in seiner Wohnung 
festgenommen und zum Amte gestellt, und da Helen sogleich Blutflecken 
an seiner Unterkleidung, an seiner Hose (die gerichtsärztliche Unter¬ 
suchung konstatierte, daß es sich um Menschenblut handelte) sowie frische 
Kratzwunden an seiner rechten Hand auf. V. verlegte sich beim Polizei¬ 
verhör anfangs aufs Leugnen. Er wollte die Nacht vom 13. 8., einem 
Samstag, bis zum nächsten Tage, allein und in Gesellschaft, in verschiede¬ 
nen Gastlokalen teils im XX. Bezirk und im Prater, teils im Stadtteile 
Erdberg verbracht haben, gegen Morgen unter einem Baume nahe der 
Schlachthausbrücke ein wenig geschlafen und gegen 5 Uhr früh durch die 
Krieau und das Praterviertel, wo er sich kleine Kommissionen besorgt 
habe, in seine Wohnung gegangen sein, um da nochmals mehrere Stunden 
zu ruhen. Den Sonntagnachmittag habe er dann mit einer früheren 
Konkubine namens B. verbracht. Von einem Bleistift oder einem Zollstab 
wollte er nichts wissen. Sein Messer wollte er Samstag an seinem Arbeits¬ 
orte zurückgelassen haben. Einem Verbrechen erklärte er fernzustehen. 

Nachdem ihm jedoch die verschiedenen Belastungsraomente vor¬ 
gehalten worden waren, die sich aus der Beziehung am Tatorte gefundener 
Gegenstände zum Inkulpaten (Angabe eines Arbeitskollegen), aus an- 
thropometrischen Befunden und dem positiven Ausfall der Polizeihund¬ 
reaktion zusammengesetzten, schritt Inkulpat am 17. 8. spät abends zu 
einem Geständnis der Tat: er erzählte, daß er in der Nacht zum 14. 8. 
auf dem Heimwege von Erdberg nahe der Schlachthausbrücke im 
Prater von einer Frauensperson angesprochen worden sei; er habe sie los¬ 
werden wollen, doch sie sei nicht wegzubringen gewesen; dadurch sei in 
ihm ein Abscheu vor ihr erwacht, zumal er gar kein geschlechtliches Be¬ 
dürfnis empfand; auf dem Sportplatz angelangt, habe er sich niederlegen 
wollen, sie habe sich aber auch sogleich zu ihm gelegt; nun habe er fort- 
gehen wollen, aber sie habe ihn nicht gelassen, ihn gewaltsam zurück? 

Zeitschrift fUr Psjrchistrie. LXXV. 2 . 13 


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Obersteiner und Stransky, 


halten versucht; bei dieser Gelegenheit fühlte er in ihrer Rocktasche 
einen harten Gegenstand, den das Mädchen, als er darnach fragte, als 
eine Schere bezeichnete; als er ihn aber hervorzog, da war es ein offenes 
Küchenmesser; angesichts dieser Waffe, erklärte nun V., „stellte ich mir 
dieses Weib noch grausamer vor, als ich derlei Weiber sonst einschätzte. 
Ich sah in ihr nicht nur allein die möglicherweise geschlechtskranke Frau, 
die den Mann durch ihre Schmeicheleien materiell und physisch zugrunde 
richten kann; ich sah in ihr auch das sogenannte Apachenweib“; in dem 
Sinne habe er sich denn auch zu ihr geäußert und ihr auch gesagt, er 
ersteche sie mit dem Messer; sie habe kein Wort gesprochen, sei ihm viel¬ 
mehr um den Hals gefallen, habe wie eine Dirne „ach geh“ gesprochen; 
da seien seine Wut und sein Abscheu in ihm so mächtig angestiegen, daß 
er, das Messer in der Rechten, es ihr von hinten in den Rücken gestoßen 
habe; lautlos sei sie umgefallen, mit dem Körper in die Hütte hinein; 
er habe sie aber herausgeworfen und ihr noch weitere Stiche versetzt; 
der ganze Vorgang spielte sich blitzartig ab; eine halbe Stunde sei er noch 
bei seinem Werke gestanden, ohne Reue zu empfinden, im Gegenteil, 
mit dem äußersten Haß gegen das Scheusal; seine Wut sei bis zum Par- 
oxysmus gestiegen gewesen, und in dem Zustande möge er wohl zuge¬ 
stoßen haben; er habe die Daliegende betrachtet und sich gedacht*, ob sie 
denn auch wirklich tot sei, andernfalls hätte er ihr, wenn sie sich noch geregt 
hätte, noch einen Stich versetzt, damit sie keinen Mann mehr beleidigen 
könne; endlich habe er die Leiche wegtransportiert, eben in die Binderau; 
dann habe er noch auf dem Tatorte die Fetzen aufgelesen und aufs Gerate¬ 
wohl weggeworfen; das Messer habe er eine Weile betrachtet, dann mit 
sich genommen und im Fortgehen beim städtischen Bade weggeworfen; 
Blutspuren oder Verletzungen habe er an sich nicht wahrgenommen; 
er sei dann allmählich und gemächlich heimgegangen, habe sich da erst 
gewaschen; er habe seine Tat im Vollbewußtsein derselben begangen, 
aus unwiderstehlichem Haß gegen diese Sorte Weiber und ganz speziell 
gegen die Ermordete; „denn das war gerade das richtige, das mit seiner 
Katzenschmeichelei meinen Haß bis zum Paroxysmus gesteigert hat“. 

Dem Wiener Landesgericht eingeliefert, hielt V. bei den dortigen 
Verhören (ab 18. 8.) sein polizeiliches Geständnis aufrecht, lieferte nebstdem 
noch eine Reihe Angaben zu seiner Anamnese und seinem Curriculum vitae, 
von denen ohnehin später die Rede sein wird; von Einzelheiten, die für die 
Tatgeschichte als solche in Betracht kommen, interessieren hier folgende; 
V. gab an, er sei am 13. 8. bis 6 Uhr abends seiner Arbeit nachgegangen, 
habe unterwegs nur 1—2 Flaschen Bier zu sich genommen; gegen %$ Uhr 
abends habe er, nach Besorgung verschiedener Kommissionen, in einem 
Gasthause gegenüber der Nordbahn ein Gulyas und ein Krügel Bier ge¬ 
nommen, sei dann zur Organisation seine Beiträge zahlen gegangen; gegen 
10 Uhr habe er in einer Restauration auf der Wallensteinstraße 2 Krügel 
Bier getrunken, worauf er in den Prater gegangen sei, wo er einen früheren 


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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 


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Bekannten und zwei andere Männer traf, in deren Begleitung er nach 
Erdberg hinüberging, wo in mehreren Gasthäusern mehrere Krügel Bier 
getrunken wurden, in einem Kaffeehause auch schwarzer KaiTee. Gegen 
3 Uhr morgens etwa habe er sich auf der Schlachthausbrücke von seinen 
Begleitern getrennt und habe durch den Prater heimgehen wollen; unter¬ 
wegs habe ihn die P. angesprochen. V. schilderte dann, wie er das Mädchen 
abgewiesen habe und, da sie nicht von ihm wich, aus Angst, sie habe 
vielleicht einen Beschützer in der Nähe, aber auch, da er ob seiner Tripper¬ 
erkrankung (tatsächlich war V. wegen Gonorrhöe in Behandlung) geradezu 
einen Abscheu gegen Prostituierte hege, förmlich geflüchtet sei, doch sei 
das Mädchen nicht zu verscheuchen gewesen, wiewohl er ihr sogar ins 
Gesicht spuckte. V. schilderte dann konform wie bei der Polizei die weiteren 
Hergänge; das Zustandekommen der eigentümlichen Zusammenhangs¬ 
trennungen an den Kleidern wollte er nicht erklären können; er versicherte, 
bei der Tat keinerlei sexuelle Erregung empfunden zu haben. Die Tat 
selber hatte natürlich keine Zeugen. Passanten wollen gegen 3 Uhr früh 
aus der Richtung des Sportplatzes laute Sch merze nsschreie gehört haben. 
Bemerkt sei, daß V., wie festgestellt wurde, am 13. abends bis 8 Uhr in 
Gesellschaft eines Mädchens und tatsächlich dann bei seiner Organisation 
gewesen ist, von wo er sich gegen 10 Uhr entfernte; am Morgen um 9 Uhr, 
also nach der Tat, kam er, etwas erhitzt und übernächtig aussehend, sonst 
aber nicht auffällig, in die Putzerei der Frau Sch. im Praterviertel und 
holte sich von dort seine Wäsche ab. 

Ehe an die eigentliche Vorgeschichte des Inkulpaten herangegangen 
wird, mögen hier noch die Angaben einer Reihe hiesiger Zeugen Erwähnung 
finden, die sich auf Wahrnehmungen aus letzter Zeit beziehen. Ein Arbeits¬ 
genosse, des V., Josef G., nennt ihn einen eigentümlichen Menschen, der 
ein „Gspräg“ zu haben scheine, z. B. habe er gerade am kritischen Samstag 
einen Kollegen, als dieser den Arbeitsplatz dienstlich verlassen mußte, ange- 
schrien; ähnliches sei öfters bei ihm vorgekommen; sonst sei er gutmütig, 
gelegentlich sogar lustig gewesen. Ein anderer Kollege, Felix Sch., hat 
nur das eine Auffällige bemerkt, daß V. sich in letzter Zeit von der Arbeit 
wiederholt auf den Sportplatz zu begeben pflegte; er war im allgemeinen 
ein guter Kamerad; einmal, im Mai 1910, hat er den Zeugen bei der Arbeit 
angeblich grundlos überfallen und blutig geschlagen, eine Affäre, die ein 
gerichtliches Nachspiel gehabt hät, wobei sich freilich herausstellte, daß 
Sch., dem V. damals dienstlich unterstellt, von ihm wegen Trunkenheit 
zur Rede gestellt worden und erst insultiert worden ist, nachdem er selber 
eine drohende Haltung gegen ihn angenommen hatte. Die beiden haben 
sich denn auch ausgesöhnt, und V. ward freigesprochen. Wieder ein anderer 
Kollege, Scha..., nennt V. sehr intelligent, nur zuweilen grundlos heftig. 
Ein weiterer Kollege, K., derselbe, .den V. einmal grob angefahren hat, 
erzählt folgende Geschichte: V. habe im Juli einmal davon gesprochen, 
er habe einem Mädchen begegnet, das die Röcke aufgetrennt hatte, sie 

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174 


Obersfeiner nnd Stransky, 


habe ihn um Nadeln gebeten und er (V.) habe ihr die Röcke mit Zimmer¬ 
mannsnägeln zusammengenäht; sie seien dann miteinander in eine Aü 
gegangen, doch habe er das Weib nicht geschlechtlich gebraucht, da sie 
ihm zu alt war. Dieser Geschichte hat damals auch der Wächter R. zu¬ 
gehört. V. hat beim Verhör dazu gemeint, das sei eine Renommisterei 
seinerseits, aber auch seitens der Zeugen. Der Platzmeister S. vom Sport¬ 
plätze kennt den V. als einen freundlichen, gefälligen Menschen. Gänzlich 
anders aber lautet dagegen die Aussage eines gewissen Ke..., bei dem V. 
im Winter 1910 über 6 Wochen gewohnt hat. Darnach war dieser der Frau 
Ke... gegenüber sehr roh inseinen Reden (V. bestreitet dies entschieden), 
auch pflegte er viel mit einem großen Schnappmesser zu hantieren. Daß V. 
ein Messer besaß, ist auch unter seinen Kollegen bekannt. 

V. war speziell im Kreise seiner Kameraden als Mädchenjäger be¬ 
kannt; man wußte, daß er mehrere Verhältnisse unterhielt, da und dort 
wollte einer, 1. B. K.., gehört haben, daß er Mädchen an sich zu locken 
versucht hätte. Einige Aussagen, die von Frauenspersonen direkt herrühren, 
beanspruchen ein besonderes Interesse: Die Köchin Philomena L. hat 
den Inkulpaten schon bei dessen später noch zu erörterndem ersten Wiener 
Aufenthalt (im Mai 1906) kennen gelernt, und es hat sich zwischen ihnen 
damals ein später intim werdendes Verhältnis entwickelt, in dessen Ver¬ 
folg V. andeutungsweise Heiratsabsichten äußerte. V. hat sich der Zeugin 
gegenüber damals immer anständig und freundlich betragen und insbeson¬ 
dere im Geschlechtsverkehr mit ihr keine Anomalien gezeigt; die Beziehun¬ 
gen zwischen beiden erfuhren durch V.s damalige Anstaltseinbringung — 
hierüber später das Nähere — eine jähe Unterbrechung; in späterer Zeit 
jedoch erhielt die Zeugin von V. Zuschriften aus Nürnberg (V. war nämlich, 
wie wir sehen werden, damals wieder im Besitze seiner Freiheit); es ent¬ 
wickelte sich dann zwischen beiden eine Korrespondenz, die bis Weih¬ 
nachten 1909 dauerte; die Briefe, die V. an die Zeugin richtete, tragen 
zum Teil den Stempel sentimentaler Liebesepistel; er erzählt darin weiter 
auch in Umrissen von seinen Schicksalen, den weiten Reisen bis in den 
Orient, die er gemacht habe (es findet sich darin eine zeitliche Unstimmig¬ 
keit, da V. behauptet, im August 1906 schon wieder in Freiheit gewesen 
zu sein, was falsch ist), und von denen er 1909 wieder in seine Heimat 
zurückgekehrt sei, ohne je die Zeugin haben vergessen zu können, zu der er 
gern wieder käme, wenn sie es nur wolle; mit diesen glühenden Liebes- 
beteuerungen steht nun freilich sein weiteres Verhalten gegen die Zeugin, 
wie wir gleich sehen werden, schlecht im Einklang; V. ist nach dem Be¬ 
richte derselben um Weihnachten 1909 in Wien wieder auf getaucht, hat sie 
auf der Straße erwartet und ihr erklärt, er sei ihr zuliebe hergekommen, 
worauf das frühere Verhältnis fortgesetzt wurde; doch fiel der Zeugin 
seither auf, daß V. kälter gegen sie war als im Jahre 1906, nicht mehr 
derselbe wie damals, was sie ihn auch wissen ließ, ohne daß er ihr wider¬ 
sprach, im Gegenteil meinte er, „das glaube ich“; in der Folge erwischte 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 


175 


ihn die L. wiederholt mit andern Mädchen auf der Straße, so daß sie das 
V erhältnis abzubrechen beschloß. V. wußte sich aber immer wieder bei ihr 
Liebkind zu machen; noch am 12. 8 1910 ward zwischen beiden ein Stell¬ 
dichein für den folgenden, also den kritischen. Tag verabredet, doch blieb 
die Zeugin aus; der letzte Geschlechtsverkehr zwischen beiden hat am 
31. 7. 1910 stattgefunden; Anomalien hat Zeugin an V. auch im vorigen 
Jahre keine bemerkt. Die Handarbeiterin Wilhelmine Sch. kennt den V. 
daher, weil er sie um Weihnachten 1909 einmal angesprochen hat, er hat 
mit ihr mehrmals sexuell verkehrt und sie dafür auch entlohnt; abnorm 
hat er sich nicht benommen, war auch nicht sonderlich erregt. Die Köchin 
Emilie K. ist von einem Manne, in dem sie bestimmt den K. erkennt, 
am Morgen des 14. 8. 1910, also des Tages nach der Tat, um etwa Uhr 
(wie wir aber wissen, ist V. um 9 Uhr in dem Wäscheladen der Frau Sch. 
gewesen) im Prater angesprochen worden; er setzte sich, nachdem er sie 
um Erlaubnis gefragt hatte, zu ihr auf die Bank, stellte sich als V. vor, 
suchte die Zeugin in ein Gespräch zu ziehen, begleitete sie dann, als sie 
Weggehen wollte, ein Stück weit, wollte, als sie ein weiteres Zusammen¬ 
gehen ablehnte, ein Stelldichein mit ihr verabreden, doch ging die K. 
darauf nicht ein; sie hat übrigens an V.s einer Hand einen freilich nicht 
frischen Kratzeffekt bemerkt. V. erklärte die Angaben der Zeugin, unter 
Hinweis auf sein allerdings festgestelltes Alibi, für unmöglich. 

Von besonderem Interesse könnten die Angaben einer Prostituierten 
namens Rosa K. sein (sie hatte diese schon lange vor dem Morde zu der 
Sch. und einer andern Prostituierten gemacht). Diese Zeugin agnosziert 
den V. mit Bestimmtheit als einen Mann, der sie am 30. 4. (früher hatte 
sie angegeben, am 7. 5., korrigierte sich aber später, wollte sich geirrt 
haben) in einem Gasthause im Praterviertel angesprochen und unter Zu¬ 
sicherung einer Entlohnung von 20 Kronen aufgefordert habe, ihm in 
seine Wohnung zu folgen; unterwegs schwenkte V. gegen die Holzplätze 
zu ab, Zeugin widerstrebte dem, da packte sie V. am Arm und zog sie ge¬ 
waltsam durch eine Tür, die er dann wieder absperrte, auf den Arbeits¬ 
platz, in eine Werkzeughütte hinein, wo eine Art Lagerstatt vorbereitet 
war; dann riß er der Zeugin die Kleider vom Leibe, würgte sie am Halse; 
sie erwehrte sich, worauf er ihr in den Finger biß und ausrief: „Du ver¬ 
fluchte Katze, du hast mich ja ganz zerkratzt“; dreimal vollzog dann V. 
den Beischlaf, wobei er einmal sagte: „Ich muß dich ermorden, wenn du 
schreist.“ Nach dem Beischlaf beruhigte sich dann V., half der Zeugin 
beim Einpacken ihrer zerrissenen Kleider, wusch sich selbst, benahm sich 
ganz normal, begleitete die Zeugin ein Stück, versprach, wiederzukommen, 
drohte ihr jedoch, falls sie um Hilfe rufe, mit dem Erstechen; dann ent¬ 
fernte er sich; gezahlt habe er der Zeugin nichts; ein Messer habe sie bei 
ihm nicht gesehen. Diese Schilderung, die Zeugin am 29. 8. beim Gerichts¬ 
verhör gegeben hat, entspricht nun nicht in allen Details jener, die bei der 
Polizei auf Grund ihrer Angaben 8 Tage früher protokolliert wurde, sofern 


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Obersteiner und Stransky, 


sie von V. während des Beischlafes gewürgt worden sei; auch vom Kleider¬ 
zerreißen ist dort nicht die Rede. Es hat sich nun herausgestellt,' daß die K. 
eine psychisch nicht normale Person ist, deren Aussagen gegenüber Vor¬ 
sicht geboten scheint. Einer der gerichtsärztlichen Sachverständigen, die 
den V. später zu untersuchen hatten, Priv.-Doz. Dr. Elzholz, hat sich in 
dankenswerter Weise der Mühe unterzogen, mit der K., deren Aussagen 
unter Umständen von größter Bedeutung waren, am 17. 12. 1910 eine 
persönliche Information aufzunehmen; dabei machte nun die Zeugin zu¬ 
nächst den Eindruck einer Potatrix, bot Zittern der Finger und der Zunge, 
ihre Aussagen klangen sehr unpräzis, sie konnte z. B. nicht angeben, warum 
und in welchem Zeitpunkte ihr V. die Kleider vom Leibe gerissen hat, 
wie oft er den Beischlaf vollzog (trotz Vorhalt ihrer bestimmteren Angaben 
vor Gericht), sie sei von dem vielen Gebrauchtwerden ad genitalia ganz 
blutig gewesen, Samenerguß, deutete sie an, habe sie also überhaupt nicht 
verspürt; Herr Dr. Elzholz hatte den Eindruck, daß die Zeugin völlig un¬ 
zuverlässig sei, so daß sich die Möglichkeit zum mindesten nicht ganz 
ausschließen ließ, als käme sie mit einer frei erfundenen Erzählung. V. selbst 
will von der ganzen Sache nicht das Mindeste wissen. Im übrigen bekannte 
er sich dazu, daß er auch in Wien mit mehreren Frauenspersonen Umgang 
gehabt hat, mit der L., deren Aussagen er als richtig anerkennt, der Sch., 
auch mit Prostituierten; bei einer der letzteren infizierte ersieh im Frühjahr 
1910 mit Tripper. 

Bemerkt sei, daß V. ursprünglich, als er vor dem Richter sein Curricu¬ 
lum vitae erzählte, über seine gleich zu erörternden früheren Sexualdelikte 
sich ausschwieg, sich ausdrücklich als geschlechtlich normal bezeichnete, 
ja leugnete, je eine ähnliche Affäre wie jetzt gehabt zu haben; erst auf 
Vorhalt der Strafkarte bequemte er sich, sich zu diesem Teile seiner Ver¬ 
gangenheit zu bekennen; er habe nicht gedacht, daß es darauf ankomme, 
zumal ja doch die Strafliste kommen werde, entschuldigte er sich. 

V. hat eine äußerst bewegte Vergangenheit hinter sich. Er blickt 
ab 1891 auf eine ganze Reihe von Vorstrafen zurück, 6mal wegen Bettelei, 
lmal wegen Landstreicherei, lmal wegen Ruhestörung, dann 1894 wegen 
Betruges (6 Monate Gefängnis), ein andermal wegen Körperverletzung — 
1897 — (9 Monate Gefängnis), ein andermal — 1899 — wegen des näm¬ 
lichen Deliktes und wegen Sachbeschädigung (1 Jahr Gefängnis); alles bei 
den verschiedensten Gerichten in Deutschland; überdies wird er von zwei 
reichsdeutschen Gerichten (Lindau und Nürnberg) wegen Sachbeschädi¬ 
gung bzw. Unterschlagung gesucht. Eine Leumundsnote der Münchner 
Polizei nennt ihn einen rohen und unverträglichen Menschen. Von den 
Strafvorakten im engeren Sinne — wir werden gleich Gelegenheit haben, 
ein anderes, für unsere Zwecke w r eit schwerer ins Gewicht fallendes Vor¬ 
aktenmaterial kennen zu lernen — liegen zwei vor. Aus dem einen — 
Landgericht München — ergibt sich, daß V. im Jahre 1897 in einer 
Münchner Herberge mit einigen andern.Zimmerleuten, die dort wohnten. 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 


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in eine angeblich von diesen provozierte Keilerei geraten ist, in deren Verlauf 
er einen seiner Gegner mit dem Messer verletzte. V. hat damals behauptet, 
in Notwehr gehandelt zu haben und von seinem Gegner vorher angegriffen 
worden zu sein, doch ward erwiesen (wenigstens laut Urteilsbegründung), 
daß die Streitigkeiten erst dadurch akut wurden, daß sich V., der mit 
seinen Kameraden beim Biere saß, den Scherz machte, eine zufällig herein- 
kommende Frauensperson, die kranke Arme hatte, durch Schläge auf die 
Arme zu quälen; undals sich nachher darüber seine Kollegen abfällig äußer¬ 
ten, ging V. gleich auf einen derselben los; V. hat damals 9 Monate Gefängnis 
erhalten. Im Jahre 1899 hatte V. eine Affäre beim Amtsgerichte Wildun¬ 
gen wegen nächtlichen Exzedierens und Mißhandlung eines Nachtwächters, 
der ihn und seine Radaugenossen zur Ruhe gewiesen hatte; trunken in 
Stärkerem Maße war er damals nicht; Strafe: 1 Jahr Gefängnis. Hier 
interessiert besonders eine Aussage seines damaligen Dienstherrn, des 
Zimmermeisters M. in Wildungen, laut welcher V. einmal den Versuch 
gemacht hätte, dessen Frau zu notzüchtigen. 

V.s Vater soll ein Trinker gewesen sein, ein Bruder ist Epileptiker, 
ein Schwestersohn der Mutter war geisteskrank. Die Mutter V.s (die von 
dem Arzte seines Heimatsortes, Dr. A., freilich als nicht normal bezeichnet 
wird) hat über ihn selbst bei einer Einvernahme im Jahre 1902 angegeben, 
er sei ein ordentlicher Bursche und früher normal gewesen, habe auch früher 
nie epileptische Anfälle gehabt; im Alter von 20 Jahren sei er einmal in 
seinem Heimatort bei einer Streiterei durch einen Steinwurf an der Stirn 
verletzt worden, wonach er tagelang Krämpfe gehabt und vor Schmerzen 
geradezu gebrüllt habe. V. will übrigens schon früher, in Landau, wo er 
auf der Wanderschaft arbeitete, einmal vom 4. Stock herabgestürzt sein; 
dazu kommen Stürze in Erfurt und Sonneberg, doch sind die Zeitdatierun¬ 
gen schwankend. Nach jenem Steinwurf in T. soll er nach Angabe seiner 
Mutter im Geiste nicht mehr so wie früher gewesen sein; schon gleich nach 
demselben fiel der Zeugin auf, daß er sie so starr ansah und im Zimmer 
umhersprang; erst nach % Stunden schien er wieder normal; auch sonst 
kam es in der Folge vor, daß er der Zeugin auf Fragen die Antwort schuldig 
blieb, etwa, wenn sie ihm das Essen vorsetzte, fragte, was sie von ihm 
wolle. Derlei habe sich fast allwöchentlich einmal wiederholt. Vierzehn 
Tage nach dem Steinwurf sei er einmal in der Nacht ausgerissen, nach 
% Stunde heimgekommen, wußte nicht, was er getan. Zeugin schilderte 
den Inkulpaten als einen starken Trinker. Der ehemalige Volksschullehrer 
des V. weiß zu erzählen, daß Inkulpat schon als Schuljunge renitent und 
zu schlechten Streichen geneigt war, roh, rücksichtslos, allerdings ließ seine 
Erziehung zu wünschen übrig. Auch sein ehemaliger Lehrmeister erzählt 
von seiner Roheit und Renitenz, nennt ihn verlogen, ungleichmäßig im 
Arbeiten, wenngleich intelligent und anstellig; er besuchte gern Wirts¬ 
häuser und gab sich viel mit Weibern ab. 

Von besonderem Belang ist der Bericht des bereits erwähnten Arztes 


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Obersteiner und Stransky, 


Dr. A. über den Krampfanfall, den V., und zwar in der Nacht vom 4. zum 
5. September 1898 (nach der oben erwähnten Kopfverletzung), gehabt haben 
soll. Dr. A. erwähnt, daß V. zur Zeit, da er das Trauma erlitt, angetrunken 
gewesen sei. Er erklärt dann, er habe an V. einen Anfall von Epilepsie 
beobachtet; allerdings liefert er leider keine sonst irgendwie oder auch nur 
zeitlich bestimmtere Beschreibung desselben; Simulation aber, meint er, 
sei ausgeschlossen gewesen, da jede Schmerzempfindung und Pupillar- 
reaktion nachgewiesenermaßen aufgehoben war; am folgenden Tage sei V. 
noch benommen gewesen, ob infolge der Anfälle oder von Trunkenheit, 
konnte Dr. A. nicht feststellen. Die angebliche Epilepsie des Inkulpaten 
sollte nicht lange darnach eine große Rolle spielen. V. wurde nämlich im 
Jahre 1898 zum Militär assentiert und rückie nach Wiesbaden ein; allein 
am 2. 10. erleidet er — wie einem mitgeteilten Gutachtenauszuge des 
Stabsarztes Dr. ff. zu entnehmen ist — auf der Straße einen sechsstündigen 
Anfall von Bewußtlosigkeit, angeblich dabei auch Krämpfe, und am 18.10. 
abends fiel er in der Kaserne, in Gegenwart zweier Chargen, ohne Ver¬ 
anlassung zu Boden, mit dem Kopf gegen einen Schrank, dabei Schaum 
vor dem Munde, Krämpfe der Finger, schlug um sich, Atmung beschleunigt, 
Bewußtsein geschwunden, darnach tiefer Schlaf bis zum nächsten Morgen, 
erwacht mit Kopfweh, keine Verletzung, Amnesie. Kurz darauf ward 
Inkulpat wegen festgestellter Epilepsie aus dem Militärverbande ent¬ 
lassen und in seine Heimat geschickt. < Dort soll er im Bekanntenkreise 
renommiert haben, man brauche es nur geschickt anzustellen, um vom 
Militär loszukommen. Wir werden bald hören, welche Bewandtnis es mit 
dieser Behauptung V.s hat. 

V. ist damals nicht lange in T. geblieben; er hatte in T., wo er zuletzt 
gearbeitet hatte (sein Heimatort liegt in einem bayrisch-thüringischen 
Grenzbezirke), ein Verhältnis mit einem Mädchen angeknüpft, das er 
später (1901) heiratete, und mit der er zwei Kinder erzeugt hat; er wandte 
sich also wieder nach S. (in Thüringen), wo er die folgenden Jahre ver¬ 
brachte. Im Jahre 1902 sollte er wegen einer Ehrenbeleidigungssache 
daselbst begutachtet werden (Dr. IC.), benahm sich aber derart roh, daß 
er aus dem Spital entlassen ward; Dr. K. hielt aber (Gründe?) einen post¬ 
epileptischen Dämmerzustand nicht für ausgeschlossen. Das Jahr 1902 
bedeutet überhaupt einen entscheidenden Wendepunkt: Schon im Januar 
jenes Jahres war Inkulpat in Verdacht geraten, mit einem Manne identisch 
zu sein, der eines Abends ein Dienstmädchen namens G. überfallen und, 
als sie sich zur Wehre setzte, in die Wange gebissen hatte und sie dann ins 
Wasser werfen wollte. Am 2. 3. jenes Jahres nun ward V. bestimmt als 
der Täter in einem ganz analogen Falle agnosziert; am Abend dieses Tages 
war nämlich wieder ein Dienstmädchen namens Schi... von einem Manne 
auf der Straße überfallen, zu Boden geworfen und dann gewürgt worden. 
Dabei sprach derselbe keinWort. Als die Überfallene um Hilfe rief, ward 
sie unter fortwährendem Würgen und Schlagen von dem Manne gegen 


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einen Wald zu gezerrt, dann rief er ihr noch die Worte zu: „Du mußt noch 
bis in den Waid, dann mache ich es dir schön, und wenn du jetzt nicht 
ruhig bist, mache ich dich kalt.“ Dann entfernte er sich, da Passanten 
nahten, rief diesen aber noch zu, die Sch. habe ihm Geld herauslocken 
wollen. Das gegen V. eingeleitete Strafverfahren ward nun aber einge¬ 
stellt. V. soll die Nacht nach der Tat sehr unruhig geschlafen, am Tage 
darnach sich im Walde umhergetrieben, erst am 4. 3. wieder zu seiner Frau 
nach Hause gekommen sein und von nichts gewußt haben. Seine Frau 
gab ferner an, er habe in den letzten Jahren epileptische Anfälle mit Amnesie 
öfters gehabt (keine genauere Beschreibung), auch Anfälle, in denen er 
bloß starr blickte und den Kopf hintenüber legte; in solchen Zeiten sei 
er gewalttätig, mißhandle die Gattin. Vor dem 2. 3. kein Anfall. Am 4. 3. 
ward er im Bette liegend vorgefunden, behauptete, nichts zu sehen, war 
vom Nächtigen im Freien ganz steif, rutschte, auf den Bettrand gesetzt, 
herab, fiel auf die Seite. Das Fallen sah indessen nicht recht natürlich 
aus. Das Gesicht war dabei gerötet; auf Befragen konnte V. sich an die 
Zeit bis kurz vor dem Attentate (befand sich da in nächster Nähe des 
Tatortes) erinnern, wußte dann nur, daß er die folgende Nacht daheim 
war, für die Zeit von 11 Uhr vormittags bis 5 Uhr nachmittags des folgen¬ 
den Tages amnestisch, war dann, wie er erzählte, bei diversen Ärzten, 
für die folgende Zeit wieder erinnerunglos; sei am 4. 3. um 6 Uhr morgens 
an der Straße liegend erwacht, ging heim, weckte seine Frau durch Stein¬ 
würfe ans Fenster. Auf Grund dieser Angaben ward V. mittels Ältestes 
des Kreisphysikus (Dr. K.) zur Beobachtung der Landesirrenanstalt in H. 
überwiesen. Dort klar, etwas zurückhaltend und nicht ganz konform 
in seinen Angaben, behauptet, in der zweiten Nacht nach dem Attentate 
Anfälle gehabt zu haben, sonst im ganzen die schon bekannte Darstellung; 
u. a. behauptet er, auch seine Frau schon öfters gedrosselt zu haben. 
Zungenbißnarben wurden nicht gefunden. Während seines Anstaltsauf¬ 
enthaltes mehrmals Kopfschmerzen, es wurden die Supraorbitales gelegent- 
Uch druckschmerzhaft gefunden, auch vasomotorische Erscheinungen; im 
übrigen bot er außer einigen äußerlich provozierten flüchtigen Affekt¬ 
zuständen keine erwähnenswerten Besonderheiten; unterm 10. 4. 1902 
verzeichnet die Krankengeschichte folgenden Vorfall (aus später ersicht¬ 
lichen Gründen hier wörtlich wiedergegeben): „Pat. ist im Garten. Er 
setzt sich zu Boden, dreht sich sitzend im Kreise herum und zupft den 
Rasen ab. Nach etwa 5 Minuten steht er wieder auf. Schlagen mit den 
Armen usw. nicht beobachtet. Er machte den Eindruck, als ob er etwas 
benommen wäre, war aber jedenfalls, als er aufstand, wieder klar. Naoh * 
einer Stunde gibt er mit verdrossenem Gesichtsausdruck an, er habe 
mäßige Kopfschmerzen.“ Paar Tage später trifft Inkulpat wiederholt 
ernste Anstalten zu einem Ausbruch aus der Anstalt (Rechenstiel, Nach¬ 
schlüssel, Dietrich), wird aber daran gehindert; am 28.4. erinnert er nach 
einem neuerlichen Entweichungsversuche den Arzt an den oben beschriebe- 


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Obersteiner und Stransky, 


nen Anfall und fragt, ob man denn, wenn man wegen Geisteskrankheit 
freigesprochen sei, auf Lebenszeit in einer Anstalt interniert bleibe. 

Die letzte Bemerkung nahm wohl Bezug auf die bevorstehende 
Einstellung des Verfahrens; diese war erst später erfolgt, auf einen Bericht 
des Direktors der H.er Anstalt de dato 26. 6. 1902, wonach an V. während 
seines bis zum 26. 5. währenden dortigen Aufenthaltes weder ein epilepti¬ 
scher Anfall noch eine an Epilepsie erinnernde Geistesstörung beobachtet 
worden sei; er sei ein rohes, brutales Individuum, leide aber wohl zudem 
auf traumatischer Basis (siehe oben) an Alkoholintoleranz und alkohol¬ 
epileptischen Anfällen mit entsprechenden Bewußtseinsveränderungen, 
daher, wenn auch nicht mit Bestimmtheit, so doch als möglich anzunehmen 
sei, daß er die ihm damals zur Last gelegte Handlung in einem den An¬ 
forderungen des § 51 reichsd. Str.-G.-B. entsprechenden Geisteszustände 
begangen habe. Bestimmter glaubte dies Dr. P. in B. (Bayern) sagen zu 
dürfen. 

V. war nämlich inzwischen am 26. 5. 1901 von H. in seine heimats¬ 
zuständige Kreisirrenanstalt in B. transferiert worden; dort behauptet er, 
er könne von epileptischen Anfällen gar nichts sagen, habe solche noch nie 
gehabt, nur schwach und schwindlig werde ihm öfters, und im Vorjahre 
habe er durch 11 Wochen an Mattigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Gemütsver¬ 
stimmung, Kopfschmerz und Trübwerden vor den Augen gelitten, arbeite 
seither, da an Höhenschwindel laborierend, nicht mehr als Zimmermann; 
von einem Notzuchtversuch weiß er nach wie vor nichts. Er benimmt 
sich in der Anstalt geordnet, gefügig, hat nie Anfälle; eines Tages erhielt 
er von seiner Frau (die sich früher von ihm hatte scheiden lassen wollen) 
einen Brief des Inhaltes, sie würde sich erhängen, wenn es nicht bald 
anders würde; nicht lange darnach, am 16. 6. 1902, gelingt es ihm, aus der 
Anstalt zu entweichen. 

Die verhängnisvollen Folgen dieses gelungenen Fluchtversuches, 
der übrigens durch die formale Entlassung später sanktioniert wurde, 
sollten nicht lange auf sich warten lassen. Am 4. 9. 1902 um 4 Uhr nach¬ 
mittags wurde zu L. in Thüringen, nicht weit von S., die Nichte des dortigen 
Bahnhofsvorstandes, die 17jährige Ella P., die sich um 2 Uhr nachmittags 
zum Beerenpflücken in den nahen Wald begeben hatte, daselbst ermordet 
aufgefunden; die Umgebung der Fundstelle wies Zeichen eines voraus¬ 
gegangenen Kampfes auf; das Gewand, mit dem die Leiche bekleidet war, 
zeigte an der Rückseite zwei Längsrisse, ebenso das Hemd deren mehrere; 
am Halse rechterseits zeigte die Leiche zwei große, tiefe, klaffende, über- 
• einanderliegende Wunden, auch den Kehlkopf mitbetreffend; Hymen 
unversehrt; Spermatozoen wurden nicht vorgefunden; der Tod war nach 
dem Gutachten der Gerichtsärzte durch Verblutung und Erstickung in¬ 
folge der Wunden am Halse erfolgt. 

Dringende Indizien wiesen alsbald auf den V., der damals in L. 
arbeitete, als Täter hin: Am Abend vor dem Morde hatte er sich an zwei 


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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten nsw. 


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Mädchen, die auf dem Heimwege begriffen waren, herangemacht und 
die eine davon nötigen wollen, sich geschlechtlich gebrauchen zu lassen, 
doch gelang es ihr, von ihm loszukommen; mehrere Zeugen wußten anzu¬ 
geben, daß V. an den zwei Tagen vor dem Morde sowie am kritischen Tage 
selbst in diversen Lokalen Schnaps und Bier getrunken, doch nicht trunken 
geschienen habe, wie er überhaupt den Leuten, die da mit ihm zusammen¬ 
kamen, nicht verändert vorkam; nur am 4. 9., dem kritischen Tage, machte 
er einzelnen, die mit ihm zusammenkamen, den Eindruck, als wäre er 
übernächtig; auffällig war einigen, daß V. am 3. 9., wiewohl doch ver¬ 
heiratet, von Heiratsabsichten sprach; ein Mädchen wußte zu erzählen, 
daß V., den sie vom Sehen kannte, sich ihr am Tage vor der Tat habe an¬ 
schließen wollen; kurz bevor der Mord geschah, hat V. einem gewissen P. 
in einer Kantine erzählt, er habe während seiner Dienstzeit etwas ver¬ 
brochen, jedoch Geisteskrankheit zu simulieren verstanden, sei daher frei¬ 
gesprochen worden, die Leute vom Gericht seien eben noch viel zu dumm; 
auch in S. soll er sich in einem Wirtslokal einmal ähnlich geäußert haben 
(freilich wird von anderer Seite Prahlsucht als ein auffälliger Zug an V. 
hervorgehoben). Etwa um die Zeit, da der Mord sich ereignete, war aber 
vor allem von verschiedenen Leuten ein Mann, auf den das Signalement 
des V. paßte, in der Nähe des Tatortes bzw. einem jungen Mädchen nach¬ 
schleichend gesehen worden; um 3 Uhr nachmittags des kritischen Tages 
hatte ihn ein Bekannter getroffen, dem er erzählte, er gehe zu einem 
Hüttenbau; auf seinem Arbeitsplätze war V. an jenem Tage nicht erschie¬ 
nen. V. ist am 6. 11. wieder in L. aufgetaucht bzw. von Bekannten ange¬ 
sprochen worden, man erzählte ihm auch von der schauerlichen Bluttat, 
er schwieg aber seinerseits dazu; auffällig schien er da nicht. 

V. schien nach alledem dringend verdächtig, der Mörder zu sein, 
und es ward denn auch ein Haftbefehl wider ihn erlassen; am 6. 9. ward V. 
in St. — nahe bei L. — festgenommen und dem dortigen Amtsgericht 
eingeliefert. Er machte zu der Zeit keinen gestörten Eindruck. Seine 
Verantwortung hier gipfelte darin, daß er erklärte, nicht zu wissen, 
was mit ihm seit dem 1. 9., an welchem Tage er noch gearbeitet und zu 
Mittag gegessen habe, geschehen sei; er wisse erst, daß er am Vernehmungs¬ 
tage — 6. 9. — früh in der St.schen Schneidemühle in L., wo allerdings 
Spuren auf gewaltsamen Einbruch eines Eindringlings während jener 
Nacht hinwiesen, erwacht sei, er habe da nichts als seine Hosen am Leibe 
gehabt; er habe sich dann auf den Weg gemacht, sei nach St. gekommen, 
orientierte sich nicht gleich, wo er war. Daß er dort nach Arbeit gefragt 
hat, wie ein Zeuge erzählt hat, wollte er nicht wissen, auch nicht, daß er < 
dort vollkommen bekleidet gesehen worden wäre; er behauptete, den 
ganzen Tag in einem Dusel gewesen zu sein; er habe sich, da reinen Ge¬ 
wissens, auch ruhig festnehmen lassen; er habe jetzt das Gefühl, als hätte 
er längere Zeit geschlafen; er wollte nicht sinnlich erregt gewesen sein, 
auch nicht wissen, daß er Mädchen Anträge gemacht hat, die Ermordete 


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Obersteiner und Stransky. 


gar nicht gekannt haben; Schnaps wollte er vor der kritischen Zeit keinen 
getrunken haben, nur Bier; er erklärte von seinen (schon bekannten) 
Anfällen nie Vorboten zu merken, höchstens selten ein schlechteres Von¬ 
stattengehen der Arbeit. Eine Woche nachher, beim Landgericht M. zu 
seinen Personalien vernommen, kommt Inkulpat mit unsinnigen Ant¬ 
worten: Die Geister der Unterwelt, die zu ihm sprächen, hätten ihm gesagt, 
seine Frau sei gestorben, er solle zu ihr kommen; man habe ihm keine 
Ruhe gelassen; beim Gericht in St habe man das schon gewußt (auf die 
Frage, warum er es dort nicht zum besten gegeben habe): das habe er 
deutlich gemerkt; vorher hatte V. angegeben, von einem Verhör in St. 
überhaupt nichts zu wissen; auf Vorhalt: er wisse es auch nicht, es hätten 
halt dort einige gesessen und mit ihm geredet. Von früheren Strafen 
wollte er sich nur an jene in M. erinnern, die er im Strafhause zu A. ab¬ 
gebüßt habe. Wollte dann auch, trotzdem er es vorher angegeben hatte, 
nicht sagen können, wo ihn überall seine Wanderschaft hingeführt habe. 
Am 20. 9. abermals vernommen, will er entgegen früheren Angaben nicht 
wissen, daß er je Geschlechtsverkehr hatte, seiner Gattin müßten Lumpen 
beigewohnt haben, „die einem quer treiben“, der Richter müsse das 
genau wissen, gehöre auch dazu, „das sind intime Sachen, diejziehen einem 
den Magen aus und setzen Geschwüre ein“, erinnert sich, daß er aus B. 
entsprungen, wollte aber nicht wissen, warum er in die dortige bzw. H.er 
Anstalt gekommen sei. Beim Abgang erklärte er, nicht mehr weiter zum 
Verhör zu kommen. Am 25. 9. gegen 2 Uhr nachmittags zertrümmert 
er im Arrest ein Fenster und liegt !, Stunde später anscheinend in 
Krämpfen, im Gesicht hat er zwei Blutstreifen, unterm Gesäß Nässe 
(Urin?), Einrichtung der Zelle zum Teil demoliert; aufgerüttelt, schlägt 
V. die Augen auf, setzt aber der Anrede Schweigen entgegen; um 4 Uhr 
trifft ihn der Gefängnisinspektor in normalem Zustande; Zuckungen sind 
nicht beobachtet worden, auch nicht vom Gefängnisarzt Dr. F., der ihn 
10 Minuten nach 4 Uhr in der Zelle visitierte; Inkulpat lag da am Boden, 
seine Pupillen waren gleichweit, reagierten prompt. Am 30. 9. zerschlägt 
V. wieder eine Fensterscheibe, murmelt etwas von Gespenstern vor sich 
hin, urinierte wie täglich (seit wann?) ins Bett; am 1. 10. liegt er darin, 
stößt beständig die Worte „das, das“ aus, uriniert ins Nachtgeschirr, 
defäziert aber auf den Fußboden (Bericht des Dr. F .); am 2. 10. trifft 
ihn der Arzt auf dem Strohsack, in Decken gehüllt liegend; aufgefordert, 
erhebt er sich, schwankt etwas; Matratze harndurchtränkt; Inkulpat 
wiederholt, über den Vortag befragt, nur immer das Wort „gestern“; 
(was gesehen, was gehört?) „Trauschein“; ward gegen einen Ober¬ 
aufseher obstinat; am nächsten Tage demoliert er wieder in seiner Zelle. 
Mit Rücksicht auf diese Vorkommnisse wird er am 6. 10. der psychi tri- 
schen Klinik in J. zur Beobachtung eingeliefert. 

In J. verblieb V. bis Mitte November; über sein dortiges Verhalten 
gibt das Gutachten, welches Prof. Dr. B. erstattet hat, Aufschluß. Darin 


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wird V. zunächst als ein zweifellos degeneriertes und dem Trünke ergeben 
gewesenes Individuum bezeichnet; Epilepsie wird als sicher vorliegend 
angenommen; die Reizbarkeit und die insbesondere späterhin bei V- 
zutage getretene Brutalität sowie die aus jüngster Zeit datierenden Sexual¬ 
delikte werden darauf bezogen; Angaben der Frau, wonach er, wenn 
gereizt, in mächtigen Affekt gerate und sich nachher an nichts erinnere, 
und die bekannten Angaben der Mutter werden zitiert, allerdings als 
nicht direkt auf epileptische Zustände hinweisend gedeutet; vor allem 
interessiert, daß in der Nacht vom 13. zum 14. 10., also an der Klinik, 
an V. ein typischer epileptischer Anfall (allerdings nur von einem Wärter) 
beobachtet worden ist (Beschreibung: kein Schrei, Zuckungen mit Armen 
und Beinen nach vorausgegangenem Tonus. Dauer 3 Minuten. Unfrei¬ 
williger L^rinabgang; keine Verletzung); vom Morgen darauf bis zum 
16. 10. müde, etwas benommen, mürrisch, Hypalgesien an verschiedenen 
Ohedmaßen; für den Anfall erinnerunglos; am 29. 10. fällt laut Kranken¬ 
hausgeschichte Inkulpat beim Waschen plötzlich um, schlägt sich die 
Nase blutig; kein Schrei, keine Zuckungen, eine Stunde benommen, 
% Stunde Arme und Beine hypalgetisch; Pupillen reagieren, als nach etwa 
% Stunde der Arzt untersucht (der also offenbar den Anfall selbst nicht 
gesehen hat); dann noch 1 Stunde mürrisch; weitere Anfälle oder neue 
Tatsachen wurden nicht beobachtet; die bisher mitgeteilten erscheinen 
genügend, um die Epilepsie des V. für erwiesen zu erklären; wohl wird 
nicht vergessen, V.s ethische Depravation und speziell Verlogenheit nach 
Gebühr zu unterstreichen; allein es wird angenommen, 'aß seine Raffiniert¬ 
heit nicht so weit reichen könne, um echte epileptische Störungen und 
Amnesien (zumal inkomplete mit Erinnerungsinseln) vortäuschen zu 
können; auch für die kritische Zeit ward ein Dämmerzustand zum minde¬ 
sten als nicht ausschließbar bezeichnet, zumal V. vorher sich alkoholisiert 
und bekanntlich Zeichen gesteigerter geschlechtlicher Springlustigkeit 
gezeigt hatte; zumal auch bei ihm eine epileptische Charakterveränderung 
angenommen wird, für die als ausschlaggebender Beweis schließlich auch 
noch das Hervortreten von Gewalttätigkeitsdelikten in seiner Strafliste 
seit dem ersten Auftreten der Epilepsie (vorher nur Vagabundagedelikte) 
ins Treffen geführt wird, als wahrscheinlich auch die seit 1902 datierte 
Häufung von Sexualexzessen; V., schließt das Gutachten, sei ein Mensch, 
der im Laufe seiner Krankheit die Kraft verloren habe, seine wilden 
Triebe zu bezwingen, sei im Affekt zu jeder Gewalttat fähig, und eine 
solche Affekthandlung müßte auch bei der Mordtat angenommen werden, 
wäre nicht ein Dämmerzustand wahrscheinlich; ergo seien die Voraus¬ 
setzungen des § 51 gegeben. 

Auf Grund dieses Gutachtens ward V. außer Verfolgung gesetzt, 
und die Irrenanstalt mußte ihm alsbald zum zweiten Male ihre Pforten 
öffnen. Uber sein Verhalten daselbst sei hier das Wesentlichste kurz 
mitgeteilt. Am Anfang produziert V. anscheinend Verfolgungsideen, als 


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sei eine Verschwörung gegen ihn im Gange, als würde er vergiftet, doch 
klangen seine Angaben recht rückhaltig; nie Anhaltspunkte für Halluzina¬ 
tionen; er wurde dann in der Folge, wenn irgendwie gereizt, recht gewalt¬ 
tätig, aggressiv, unwirsch, besonders im Juni einmal fast tobsüchtig erregt, 
demoliert, scheint es auf einen Fluchtversuch anzulegen; Pat. erhielt 
übrigens allerlei Vergünstigungen, u. a. auch Bier (!); seit jener Szene 
aber betrug sich V. stets durchaus ruhig und ordentlich; er arbeitete 
fleißig, begann sich lebhaft für Politik zu interessieren, abonnierte auf 
ein (sozialdemokratisches) Blatt und diverse Broschüren und Schriften, 
äußerte, wie schon früher, öfters radikal-sozialistische Anschauungen, 
schien in solchen ganz aufzugehen, übrigens zeigte er großen Lerneifer, 
erlernte autodidaktisch das Französische; Stimmungsschwankungen 
schienen nur auf äußere Anlässe hin sich einzustellen, reizbaren Mit¬ 
patienten trachtete er auszuweichen; Wahnideen äußerte er nicht mehr; 
ward er einmal reizbarer, so wirkte schon die Androhung von Disziplinär - 
mitteln; überhaupt zeigte er Selbstbeherrschung; nach und nach begann 
er allerdings Unzufriedenheit mit seinem Aufenthalt in der Anstalt zu 
bekunden, interessierte sich für die Modalitäten etwaiger Entlassung; er 
begann im Herbst 1904 aus eigenem Antriebe ganz abstinent zu leben. 
Mit der Zeit begann er ein gewisses Selbstgefühl zur Schau zu tragen, 
gefiel sich in dem Gebrauch unnötiger, unpassender Fremdwörter und 
fremdsprachiger Satzgefüge, suchte den Gebildeten hervorzukehren, 
prunkte vor allem gern mit seinem Französisch; die Mitteilung, daß seine 
Frau intime Beziehungen zu andern Männern begonnen (Herbst 1905), 
nahm er in aller Ruhe entgegen; in der Folge kam er auch auf seine Tat, 
sein Leiden zu sprechen, zeigte sich auffällig bemüht, Epilepsie zu be¬ 
streiten, ja einen Dämmerzustand tempore delicti, behauptete, nur ange¬ 
trunken gewesen zu sein und sich der Mordtat zu erinnern; er habe Epi¬ 
lepsie nur simuliert, um vom Militär loszukommen, und auch jetzt wieder 
simuliert; so am 24. 3. 1906; und am 16. 4. nachts entweicht er! 

Wir wissen bereits, daß V. damals nach Wien gekommen ist; hier 
hat er sich, wie er im Laufe der jetzt schwebenden Untersuchung erzählte, 
durch Arbeit fortgebracht, im Stadtbezirk Simmering und bei der Donau¬ 
regulierungskommission; auch das wissen wir, daß er bei seiner damaligen 
Anwesenheit hier jenes Liebesverhältnis (mit der L.) angeknüpft hat, 
welches er in der Folge wieder aufgenommen hat (bemerkt sei hier, daß V. 
später wieder mit seiner Frau freundschaftlich korrespondierte). Lange 
hat sich nun V. seiner Freiheit damals nicht erfreut: Am 18. 8. 1906 ward 
er in Wien festgenommen, zunächst der niederösterreichischen Landes¬ 
irrenanstalt unterstellt, von wo ihn eine Woche später die B.er Anstalt 
heimholte; am 25. 8. trifft er dortselbst wieder ein. Sehr bemerkenswert 
ist, daß niemand anders als V. selbst das jähe Ende dieser kurzen Episode 
provoziert hat. Er schrieb nämlich von Wien aus an einen der B.er 
Anstaltsärzte, wie er später erklärte, aus Anhänglichkeit an ihn, eine 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 


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Ansichtskarte und verriet so seinen Aufenthaltsort, was natürlich alsbald 
zu seiner Ausforschung führte. Er hat sich auf dem Transporte von Wien 
nach B. ruhig und gefügig betragen. Auch nach der erfolgten Einbringung 
in die dortige Anstalt benahm er sich durchaus korrekt, begrüßte den Arzt 
sogar mit einer gewissen Freude, erzählte mit Genugtuung, daß er sich 
in Wien ordentlich durch Arbeit fortgebracht habe, wies ein hiesiges 
Arbeitsbuch und ein Zeugnis vor zum Belege, daß er sich durchaus nicht 
etwa falsch gemeldet habe (nur war sein Name darin angeblich ohne sein 
Zutun verstümmelt), meinte, er habe durch seine tadellose Führung in 
Wien bewiesen, daß er reif sei zum Genüsse seiner Freiheit. In der Folge 
ließ er zwar gelegentlich Drohungen fallen, wieder etwas anzustellen, falls 
er keinen Ausgang sehe, doch war seine Führung fortab eine durchaus 
korrekte, wie in der Zeit vor der Flucht, er bekundete insbesondere keine 
Gereiztheit. Nur war er gern ein wenig von oben herab, auch gegen die 
Ärzte, schreibt z. B. einmal einem Arzt in J., der ihm als Gratifikation 
für eine Übersetzung aus dem Französischen 10 Mark geschickt, einen 
Dankbrief, darin es u. a. heißt, er (V.) sei am berufensten, Generosität 
-zu würdigen. Immer mehr verrät er nun das Bestreben, irgendwie auf 
legalem Wege, sei es auch um jeden Preis, seine Freiheit wiederzuerlangen 
(nur einmal ein mißlungener Ausbruchsversuch); so richtet er am 27. 2.1907 
eine Eingabe an das Generalkommando in Kassel, er habe sich 1898 durch 
Simulation von Krankheit (seil. Epilepsie) gesetzwidrig dem Militär¬ 
dienst entzogen; er spricht in Briefen recht hochtrabend von der sozialen 
Ungerechtigkeit, die seine Internierung involviere; später (1907) wandte 
er sich an die Staatsanwaltschaft in M., erklärt, er habe seinerzeit simu¬ 
liert, kritisiert das J.er Gutachten, bittet, ihm irgendwie zur Erlangung der 
Freiheit behilflich zu sein; auch kommt er wieder einmal den Pflegern 
gegenüber mit der Angabe, er erinnere sich sehr gut, wie er die Ella P. mit 
dem Messer umgebracht habe, er habe damals wohl einen Schnapsrausch 
gehabt, die Amnesie aber nur simuliert; auch daß er die epileptischen 
Anfälle immer nur simuliert habe, erzählt er wieder, gab an, in einer Ge¬ 
fängnishaft einmal bei einem Mithäftling solche gesehen zu haben, daher 
seine Erfahrung; in einem Schreiben an die Mutter spricht er einmal 
davon, daß er der Gefangene einer Eingenommenheit, einer Rache sei, 
läßt sich aber nicht näher darüber aus. Am 11. 1. 1908 ist er nach langer 
Zeit wieder einmal gewalttätig, d. h. schlägt einen Mitkranken, der ihn 
durch Unruhe im Schlafe störte; in der Folge aber wieder ganz korrekt, 
schreibt an seine Mutter wohlgesetzte Briefe. Ein epileptoider oder epi¬ 
leptischer Anfall ist an V. während der ganzen Jahre, die er in der B.e 
Anstalt zugebracht hat, nie beobachtet worden. 

Inzwischen war das Entmündigungsverfahren gegen V. eingeleitet 
und durch Beschluß des Amtsgerichts B. tatsächlich die Kuratel über 
ihn verhängt worden. Zugrunde lag ein Gutachten des Direktors 
der B.er Anstalt Dr. K. Letzterer schildert das uns bereits bekannte 


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Curriculum vitae V.s, u. a. führt er den sonderlichen Einfall V.s, durch 
Briefe seinen Wiener Aufenthalt, nach der Flucht iftf Jahre 1906, zu ver¬ 
raten, auf neuerliche Alkoholzufuhr nach langer Abstinenz zurück (V. be¬ 
streitet aber lebhaft, daß er damals mehr als höchstens 1 1 Wein pro Tag 
getrunken hätte); hier interessiert vor allem, daß dieses Gutachten die 
Friedfertigkeit V.s für gemacht hält, auf seine gelegentlich doch hervor¬ 
brechende Reizbarkeit hinweist, vor allem aber betont, daß er offenbar 
dissimuliere, um nur ja seine Freiheit zu erlangen; und unter Berufung 
auf die Weltgeschichte wird darauf verwiesen, daß es Epileptische gebe, 
die ihr Lebelang gar keine Anfälle hätten, „sondern eine gewisse larvierte 
Epilepsie zeigen, die sich mehr in der rücksichtslosen, ich {K.) möchte 
sagen, fast dämonischen Natur des Betreffenden kundgibt“, eben jene 
epileptische Charakterdegeneration, wie sie dem V. anhafte; als Grundlage 
desselben gilt dem Experten bei V. der Alkohol, gegen den er überaus 
intolerant sei (als Beweis für die Alkoholintoleranz wird der Verlust der 
Selbstbeherrschung angenommen, den V. in dem leichtfertigen Verrat 
seines Wiener Aufenthaltes bekundete). 

V. nahm seine Entmündigung nicht ruhig hin, rekurrierte dagegen 
und erreichte zunächst die Einholung eines Gutachtens von dem Oberarzt 
derselben Anstalt Dr. W .; in diesem Gutachten wird V. mehr von der 
charakterologischen Seite her beleuchtet; er sei ein von Haus aus psycho¬ 
pathisches Individuum; auffällig sei sein Hang zur Selbstüberhebung, 
seine Freude am Prahlen und Imponieren; er sei da selbst oft geziert, 
schrullenhaft, manieriert, geschraubt und schwülstig (Prunken mit Galli¬ 
zismen, selbst in amtlichen Eingaben); er habe ein gutes Gedächtnis, 
verfüge über relativ umfangreiche Kenntnisse, ein gesundes Urteil; trotz¬ 
dem sieht der Experte in den Widersprüchen, die in den Auffassungen 
des V. über seine Person zutage treten (er äußert bald tiefe Reue, nennt 
sich einen Auswürfling, bald schreit er über soziales Unrecht, dessen Folge 
sein Delikt sei, glaubt dieses durch ein paar Jahre Internierung genügend 
gesühnt), sowie in den extrem sozialistischen Anschauungen, dieV. ent¬ 
wickelt hat, ein Zeichen mangelnder Kritik. Auf diese Züge wird der 
Hauptnachdruck gelegt, indes jene der Epilepsie, die auch dieser Experte 
als erwiesen annimmt, in den Hintergrund getreten seien. Nach diesem 
Gutachten wäre V. damals (Herbst 1908) weder als geisteskrank noch 
als geistesschwach anzusehen gewesen. 

Angesichts dieser divergierenden Meinungen ward ein Obergutachten, 
und zwar von der J.er psychiatrischen Klinik, eingeholt, der nun Inkulpat 
zu dem Behuf für die Zeit vom 19. 12. 1908 bis 19. 1. 1909 überstellt 
ward. Dort wurden zwar keine Anfälle beobachtet, doch blieb Prof. B. 
im Wesen bei seinem früheren Gutachten und stellte sich in bezug auf die 
aktuellen Schlußfolgerungen mit Rücksicht auf die Möglichkeit des Wieder¬ 
auftretens schwerer epileptischer Erscheinungen auf seiten K. s; insbe¬ 
sondere betonte er die mangelnde Einsicht V.s in die Schwere der Folgen 


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seines Deliktes. V. glaubte, die Richter würden bei Wiederaufnahme des 
Verfahrens angesichts der von ihm erworbenen Bildung milde sein. Be¬ 
merkt sei, daß V. in J. ein Curriculum vitae verfaßt hat. Abgesehen von 
der schwülstigen, mit unpassenden Gallizismen und falsch verstandenen 
Buchphrasen gespickten Einleitung interessiert hier vor allem der auf den 
Mord an der Ella P. bezügliche Passus, wonach V. erklärt, am kritischen 
Tage, was er vorher nicht gewohnt, Schnaps in reichem Maße getrunken 
zu haben, dadurch arbeitsunfähig geworden zu sein, sich dann in einem 
heißen Trockenraum vormittags zur Ruhe gelegt zu haben und erst wieder 
zu sich gekommen zu sein, als er vor sich sein blutiges Opfer liegen sah; 
dann sei er noch 2 Tage halb betäubt umhergegangen, doch immerhin 
schon bei Bewußtsein. In der Haft habe er sich dann aus Verzweiflung 
wahnsinnig gebärdet. 

Das zuständige Gericht nun akzeptierte weder das Gutachten Di¬ 
rektor K.s noch das B.sche Obergutachten, sondern dasjenige des Ober¬ 
arztes W. (wir erfahren aus der bezüglichen Entscheidung unter anderem, 
daß Direktor K. der Verwaltungsbehörde gegenüber wiederholt den Stand¬ 
punkt vertreten hat, V. sei zurechnungsfähig), und da das Strafverfahren 
gegen V. eingestellt blieb — denn die Epilepsie temp. delicti ward ja nicht 
angezweifelt —, andrerseits aber V. als gegenwärtig praktisch geistig gesund 
und dispositionsfähig erklärt wurde, mußte er aus der Anstalt entlassen 
werden und zwar als geheilt; so geschehen am 6. 11. 1909. 

V. wendete sich zunächst nach Nürnberg und trat von dort die Reise 
nach Wien an; er beabsichtigte anfangs, hier nur Transenalstation auf dem 
Wege nach dem Orient, wo er Arbeit zu suchen gedachte, zu nehmen; 
allein es fand sich, daß er wieder den Posten als Zimmermann bei der 
Donauregulierungskommission bekam; so ist er also hier in Wien geblieben. 
Wie er sich hier durch 8 Monate bis zu dem furchtbaren Morde an der 
Josefine P. führte, wissen wir bereits. 

V. ist natürlich auch anläßlich des jetzt anhängigen Strafverfahrens 
Gegenstand gerichtspsychiatrischer Expertise geworden. Aus dem sorg¬ 
fältig gearbeiteten Befunde und dem äußerst kritisch wägenden Gutachten 
seien hier nur die wesentlichen Ergebnisse mitgeteilt. Zunächst hat die 
längere Beobachtung des Inkulpaten auf der Zelle bzw. durch die gerichts¬ 
ärztlichen Sachverständigen während der jetzigen Haft keinen Anhalts¬ 
punkt für epileptische Anfälle ergeben; überhaupt benahm sich V. während 
der schwebenden Untersuchungshaft vollkommen korrekt; weder Gereizt¬ 
heitsausbrüche noch Verstimmungszustände wurden an ihm beobachtet; 
auch den Ärzten gegenüber benahm er sich durchaus passend, nur einmal, 
da ihm angesichts seines beharrlichen Ableugnens von Epilepsie der 
Ernst seiner Situation im Falle, daß ihm diesbezüglich Glauben geschenkt 
würde, vorgehalten ward, unterdrückte er mühsam eine Zornesaufwallung; 
seine Intelligenz schien durchaus intakt; eine gewisse Neigung, durch 
Gebrauch von Fremdwörtern und philosophasternden Redensarten zu 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXY. 3 . X4 


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imponieren, schien auch jetzt hervorzutreten. Wahnideen, Sinnestäuschun¬ 
gen, greifbare Gedächtnisstörungen bot er nicht. Er erzählte, wie schon 
bei früheren Untersuchungen, daß er darum durch S : mulation sich dem 
Militärdienst zu entziehen gestrebt habe, weil ihm durch eine frühere Ab¬ 
strafung (jene in München) Unrecht geschehen sei; er leugnete besonders 
sexuelle Libido. Die Sache Schi... suchte er ganz harmlos darzustellen, 
als habe das Mädchen eine phantastische Geschichte erzählt; er bestritt 
alles, was über seine abnormen sexuellen Antezedentien bekannt war. 
Bezüglich der früheren Mordaffäre Ella P. blieb er nicht bei der letzten 
uns bekannten Schilderung; er erzählte nun von einer Bewußtseinsinsel 
im Rahmen der behaupteten Erinnerungslücke, die kurze Zeit vor der 
Mordtat disloziert erscheint, er will da mit Kopfschmerzen erwacht, auf 
eine Wiese hinausgetreten sein, den Leuten haben mähen helfen wollen, 
es ging aber nicht; dann wieder Abbrechen der Erinnerung; zu sich ge¬ 
kommen sei er dann im Freien bei finsterer Nacht, kam nach längerem 
Umherirren in die Sägemühle, wo er damals gearbeitet hatte, legte sich 
dort in ein Versteck, hörte dann die Leute von einem Morde reden, den er 
(V.) begangen hätte, hielt sich angsterfüllt bis zur Nacht verborgen, sei 
dann, auf einer Landstraße wandernd, verhaftet worden. Er behauptete 
wieder Alkoholvergiftung zur Zeit jener Tat; mit einer gewissen Selbst¬ 
gefälligkeit posierte er den Wahrheitsapostel, erklärte, nicht als Lügner 
gelten zu wollen, daher gestehe er, die Epilepsie immer nur vorgeschwindelt 
zu haben. Die Vorgänge bei der jetzigen Mordtat schildert er mit manchen 
beim Verhör nicht erwähnten Einzelheiten (die er auch den Referenten der 
Fakultät erzählte, daher sie 'weiter unten berichtet werden sollen); er 
wollte u. a. die Joseflne P. anfangs nur haben verletzen wollen, nur um sie 
loszuwerden, doch drang der Stich zu tief ein; angesichts des Messers sei 
er dann in eine solche Wut gekommen, daß er der Leiche noch 36 Stiche 
beibrachte; die Risse an den Kleidern seien nur durch das Ringen ent¬ 
standen; Inkulpat schilderte dann die weiteren Vorgänge; er beharrte 
darauf, daß er weder in einem krankhaften Zustande noch im Rausch ge¬ 
handelt habe. Das Gutachten der Wiener Gerichtssachverständigen 
(Priv.-Doz. Dr. Elzholz und Prof. Dr. Raimann) betont die schon bezüglich 
der anamnestischen Daten, insbesondere der zeitlichen Lokalisation der 
Schädeltraumen, sich ergebenden Unstimmigkeiten; sie erachten trotz 
des langjährigen Fehlens von Anfällen und des Leugnens solcher durch 
den Inkulpaten den durch Dr. A. beobachteten Anfall für beweiskräftig 
im Sinne von Epilepsie. Auch die Anfälle in J. und beim Militär müßten 
als echt aufgefaßt werden (zeitlich begrenzte Verstimmung im Anschluß 
an einen derselben), jener in H. als Vertigo epileptica; von einer dauernden 
Geistesstörung oder Geistesschwäche sei bei ihm keine Rede; für die Be¬ 
urteilung des jetzigen Deliktes käme in Betracht, daß Inkulpat ein zweifel¬ 
los libidinöses Individuum sei (drei Verhältnisse zu gleicher Zeit); dann 
die Züge von Sadismus, die man annehmen könnte, wären die Erzählungen 


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der Rosa Ku. als zuverlässig zu werten, ferner angesichts der eigentüm¬ 
lichen Zerstörungen an den Kleidern seiner Opfer; daher manches für einen 
Lustmord außerhalb eines Dämmerzustandes, event. durch Hervorbrechen 
sadistischer Züge erst nach Alkoholgenuß, spreche; im konkreten Falle 
sei freilich ein strikter Beweis dafür nicht erbracht; z. B. sei auch die 
Wäsche V.s nicht auf Spermaspuren untersucht worden; viele Angaben 
des V. zeigten, daß er Details bezüglich der Tat (Wegwerfen von Kleider¬ 
fetzen, Ortsschilderung, Ort des ersten Stiches) richtig reproduzierte, 
andere sind sichtlich schlankweg erlogen; doch seien seine Erzählungen 
so zusammenhängend, daß ein Dämmerzustand zur kritischen Zeit wenig 
wahrscheinlich sei; andererseits wollten aber mit Rücksicht auf die Vor¬ 
geschichte des V. die Sachvständigen einen solchen auch nicht bestimmt 
ausschließen, und beantragten bei der Schwierigkeit des Falles selber die 
Einholung eines Fakultätsgutachtens (welches denn auch durch das Gericht 
"von der Wiener medizinischen Fakultät eingefordert wurde). 

Ergebnis der persönlichen Untersuchung.—V. wurde von 
uns als Referenten der Fakultät an 5 verschiedenen Terminen in eingehender 
Weise untersucht. Er erschien dabei stets vollkommen klar, geordnet, 
orientiert, durchaus im reinen über seine Situation. Er legte ein ruhiges, 
passendes, beinahe freundliches Benehmen an den Tag, ging durchaus 
bereitwillig auf die Konversation ein, die Stimmung hielt sich stets ziemlich 
in Mittellage; er war fast auffällig beherrscht, nur beim letzten Examen 
brach da und dort etwas Ungeduld und Erregung hervor, zumal als ihm di« 
Unstimmigkeit vieler seiner Aussagen nochmals eindringlich vorgehalten 
ward. Er befleißigte sich einer ziemlich gewählten Ausdrucksweise, zeigte 
auch jetzt eine gewisse Vorliebe, sich durch Gebrauch von Fremdwörtern 
und gebildeten Redensarten ein wenig hervorzutun, doch konnte man 
nicht sagen, daß er das in allzu aufdringlicher Weise getan hätte. Anhalts¬ 
punkte für das Vorhandensein von Wahnideen oder Sinnestäuschungen 
ergaben sich nicht. 

Im einzelnen bestritt Inkulpat zunächst wiederum, je wirkliche 
epileptische Anfälle gehabt zu haben; er gibt darüber folgendes an; Der 
erste sogenannte Anfall sei beim Militär gewesen, den habe er vorgeschwin¬ 
delt aus den von ihm schon früher auseinandergesetzten Motiven; Dr. A. 
habe gar keinen Anfall gesehen gehabt, sondern die Sache sei die gewesen, 
daß er — Inkulpat —, der selber um den Arzt geschickt hatte (allerdings 
schon am Abend zuvor), damals im Wundfieber gelegen habe, doch nicht 
etwa bewußtlos, er habe ja den Arzt deutlich vor sich stehen gesehen (wie 
Dr. A. die Pupillen untersuchte, erinnere er sich nicht), überhaupt sei er 
nie besinnungslos gewesen, abgesehen von jenem Rauschzustände, in dem 
er die P. in L. ermordete, woran er sich auch nicht erinnere; in J. habe er 
dann wieder Anfälle simuliert, habe es sich zunutze gemacht, daß er als 
Epileptiker gelte. Als er im Gefängnis in M. auf den Fußboden defäzierte, 
habe er das mit Bewußtsein getan, um die Leute zu ärgern. 

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Aufgefordert, zu beschreiben, wie ein epileptischer Anfall aussehe, 
meint Inkulpat, es gebe deren verschiedene: der eine redet vorher irre, 
ein anderer schimpft, den dritten schüttelt es bloß, der vierte sitzt nur 
so da; Leute wieder, die Umfallen, sind nachher matt, kraftlos, erholen 
sich erst nach einiger Zeit; er habe eben vielerlei Anfälle gesehen. 

Inkulpat erklärt, jetzt durchaus auf ein Todesurteil gefaßt zu sein, 
und bestreitet, sich über die Inaussichtstellung eines solchen je alteriert 
zu haben. Er habe diesmal aus reiner Wahrheitsliebe ein Geständnis ab¬ 
gelegt, ziehe Zuchthaus und Galgen dem Irrenhause immer noch vor. 

Inkulpat gibt an, er habe sich vor Jahren einmal freiwillig zum 
Militärdienst gemeldet, wollte damals Berufsunteroffizier werden, zu seinem 
Ärger aber ward er wegen einer geringfügigen Vorstrafe abgewiesen; 
später erfolgte dann die, wie er meint, ungerechte Münchener Strafe, bald 
darauf die pflichtgemäße Einrückung zum Truppendienst; aus Scham, 
weil man ihm da seine Vorstrafen vorhielt, habe er auf Grund seiner im 
Strafhause (siehe früher) erworbenen Kenntnisse Epilepsie zu simulieren 
beschlossen; es sei in der Putzstunde gewesen, er habe auf einem Schemel 
gesessen, da ließ er sich von diesem herabfallen, ballte die Fäuste, brachte 
Speichel hervor, schlug ein wenig nach auswärts; das möge 3 Sekunden 
gedauert haben; dann sei er ruhig liegen geblieben, habe sich ins Bett 
heben lassen, kein Zungenbiß, keine Inkontinenz; auf das hin sei er ins 
Garnisonlazarett überstellt worden, von wo er nach vierwöchiger Beob¬ 
achtung zur Disposition gestellt ward. Ein Jahr darauf habe er bei der 
Generalmusterung dem Militärärzte einfach gesagt, es gehe ihm wie früher, 
worauf er glatt entlassen worden sei. Auf Vorhalt behauptet Inkulpat, 
dem gerichtlichen Experten die nämliche Motivierung für seine Epilepsie¬ 
simulation gegeben zu haben (Nein. Er hat diesem erklärt, daß er aus 
Erbitterung über die ungerechte Strafe allein simuliert bzw. vom Militär 
weggestrebt habe). Bezüglich der Anfälle an der J.er Klinik bemerkt er, 
er habe es dort bequem gehabt, er konnte den Anfall unterm Waschen 
vormachen; er seifte sich das Gesicht ein, um dieses zu maskieren, ließ sich 
dann einfach hinfallen; vorher habe er schon einmal absichtlich ins Bett 
uriniert, das sei der erste sogenannte Anfall in der Klinik gewesen; beide¬ 
mal seien bloß Wärter Zeugen gewesen. Ein Arzt sei bei seinen Anfällen 
nie dabei gewesen. Von dem in H. beobachteten kleinen Anfall will Inkulpat 
gar nichts wissen, spottet darüber, daß er dabei Gras ausgerissen hätte, 
im dortigen Anstaltsgarten gäbe es doch gar keinen Grashalm. 

Seine Gereiztheit im Beginne des B.er Anstaltsaufenthaltes motiviert 
er damit, daß er da unter lauter absonderliche Kranke gesteckt worden 
sei, lauter Gewalttätige, da könne es schon sein, daß er sich selber absonder¬ 
lich benahm. Von Geistervisionen wisse er nichts, da müßten entweder 
ungeschickte Äußerungen seinerseits oder falsche Wärterrapporte vor¬ 
liegen. Daß er im M.er Gefängnis gewalttätig war, gebe er zu, das war aber 
aus Ärger. 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 191 

Über die Hergänge, die zu dem jetzigen Delikt führten, erzählt 
Inkulpat folgendes: Er sei am 13. 8. gegen 6 Uhr abends vom Donauhafen 
heim in die Dresdnerstraße (im XX. Bezirk) gekommen, habe sich umge¬ 
kleidet ; er habe an dem Tage bis dahin höchstens 11 Bier getrunken 'gehabt. 
Er sei von zu Hause zunächst zur Organisation in die Wintergasse gegangen, 
zahlte seinen Beitrag, trank 2 Krügel Bier; dann sollte er ein Stelldichein 
mit der L. haben, die aber nicht kam. Er trank in einem Oasthause nahe 
der Brigittabrücke dann noch 2 Krügel Bier. Nach 10 Uhr sei er langsam 
in den Prater gegangen, um zu „gaffen“, ohne weitere Absichten. Er 
traf dort einen Bekannten und zwei Freunde desselben, mit denen er 
zuerst in einem Gartenrestaurant am Praterstern war, wo er 1 Krügel Bier 
nahm; dann begab sich die Gesellschaft nach Erdberg, wo er in einem 
Gasthause mindestens 2 Krügel Bier trank, dann Einkehr in einem Kaffee 
nahe der Schlachthausbrücke. Dortselbst habe er nur 1 Kaffee getrunken; 
sohin trennte sich Inkulpat von seiner Gesellschaft (deren Teilnehmer 
später nicht eruierbar waren, wie hier bemerkt sei), ging in den Prater 
hinein; er wollte dort, da die Nacht schön war, ein paar Stunden schlafen. 
Auf der Wiese nahe der Brücke erblickte er da nun plötzlich die Umrisse 
einer Gestalt; gegen seine Gewohnheit packte ihn Furcht an. Er eilte also 
weiter gegen die Hauptallee zu, doch die Gestalt kam näher und näher, 
und nahe der Hauptallee sprach sie ihn an; es war eine Frauensperson, die 
ihm bis dahin unbekannte Josefine P.; sie apostrophierte ihn, bat ihn, da 
sie unterstandslos sei, mit ihm gehen zu dürfen. Er sei in Furcht gewesen, 
daß etwa ein Zuhälter in der Nähe lauere, zumal er damals kein Messer 
bei sich trug, habe eilige Schritte genommen. Das Frauenzimmer heftete 
sich aber an seine Fersen, jammerte ihm von ihrer Not, ihrem Spitals¬ 
aufenthalt (es ist richtig, daß die P. eine Zeit vorher wegen einer veneri¬ 
schen Krankheit im Spital gelegen hat) vor; er lehnte immer ab, sie mit¬ 
zunehmen, bei der Krieau sei er sogar schon gröber geworden, da schon 
Behausungen in der Nähe waren und er daher mehr Mut gewann; nichts 
nützte, sie wich nicht von seiner Seite; im bewohnten Viertel angelangt, 
sei er, um sie radikal los zu werden, in ein Kaffee (Ecke Ennsgasse und 
Vorgartenstraße) gegangen. Als er nach 15—20 Minuten herauskam, 
wartete die P. etwa 150 Schritte weit; da er an ihr vorbei mußte, sprach 
sie ihn wieder an. Das war gegen 3 Uhr morgens; um sie wieder los zu 
werden — denn er hatte damals wegen seiner Gonorrhöe absolut keine 
Lust zu koitieren, hätte auch die L. nicht koitiert, wenn sie gekommen 
wäre —, griff er zu einer List, da er wegen seines Trippers nicht das ein¬ 
fachere Mittel des schnellen Heimgehens in seine noch etwa 10 Minuten 
entfernte Wohnung vorzog. Er flüchtete auf den nahen Kricketerplatz; 
die P. aber, eine kräftige Person, groß und stark (das Obduktionsprotokoll 
nennt sie nur mäßig kräftig, mittelgroß), war gleich auch darinnen. Nun 
wollte er hinaus; sie aber kam mit Lamentationen, redete vom Hinlegen, 
verdrehte ihm den Kopf, ließ ihn nicht fort, also blieb er; geschlechtliche 


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Erregung verspürte er nicht. Sie legte sich alsdann hin. Er tat desgleichen 
in der Hoffnung, sie werde einschlafen und er dann das Weite suchen 
können; tatsächlich habe er nach etwa 10 Minuten Weggehen wollen, sie 
sprang aber gleich in die Höhe, nahm ihn um den Hals mit beiden Händen, 
sagte, er solle ihr das nicht antun; er hatte das Gefühl, daß das Mädchen 
sehr stark war, denn er brachte sie nicht von seinem Leibe; während er sie 
umarmte, tastete er an ihrer Seite eine Schere, er zog den Gegenstand 
heraus und gewahrte da, daß es ein Messer war, ca. 12 cm lang und in einer 
Holzschale; nun sagte er, er werde sie stechen, wenn sie nicht loslasse, und 
um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, stach er sie von rückwärts; 
lautlos fiel sie um, mit dem Oberkörper in das Kassahäuschen hinein. Wie 
er nun so das Messer ansah und über das Erlebnis nachdachte, da überkam 
ihn der Zorn, er stach blindlings auf die, wie er meinte, vielleicht noch 
röchelnde P. ein, vielleicht durch paar Minuten. Daß er Körperteile ab¬ 
präpariert hätte oder vielleicht aufgetrennt, glaube er nicht, letzteres 
könnte durch Stich oder Riß zustande gekommen sein. Da er sah, daß 
die Situation so eine unmögliche sei, schaffte er die Leiche, sie am Boden 
schleifend, da er sie nicht zu tragen vermocht habe, in die Binderau hinüber 
etwa 10 Schritte weit; dabei mögen sich die Kleider an der Leiche gerollt 
haben; da der Tag schon zu dämmern begann, sei er die Straße hinunter-, 
sei aber dann noch etwa 1 Stunde umhergegangen; dann sei er zuletzt in 
einen Brot- und Milchladen gegangen, blieb da einige Zeit, trank Milch, 
dann ging er zur Wäscheputzerin; er sann über das Vorgefallene nach, 
dachte, das Frauenzimmer habe es am Ende auf ihn abgesehen gehabt; 
anfangs erwog er Selbststellung, meinte aber, dazu noch Zeit zu haben. 
An ein Aufkommen der Sache habe er nicht gedacht. An das Herausfallen 
der Karte, an den gewissen Zollstab erinnere er sich nicht. Inkulpat 
erzählt diese ganzen Hergänge zwar lebhaft, doch ohne sichtbare Zeichen 
von Reue, wiewohl er erklärt, die Sache sei ihm keineswegs gleichgültig; 
er entschuldigt sich damit, daß er eben die Person für verdächtig gehalten 
habe. Inkulpat versichert wieder ausdrücklich, nie geisteskrank gewesen 
zu sein, nie einen Anfall gehabt zu habea Den L.er Mord anlangend, 
kommt er mit der von früher bekannten Erklärung: Alkohol, Üblichkeiten, 
Hitze, längerer Aufenthalt im Trockenraum, dadurch sei er nicht recht 
bei sich gewesen, zumal er den Schnapsgenuß nicht gewöhnt gewesen sei. 
Es sei ein momentaner Akt geistiger Derangierung gewesen, drückt er 
sich aus, gibt wieder an, sich noch erinnern zu können, wie auf der Wiese 
Leute mähten, er versuchte es auch, doch nahm ihm einer der Männer die 
Sense wieder weg; er glaubt sich jetzt erinnern zu können, daß er die 
damals Ermordete um Wasser angesprochen habe, nichts Näheres. Er 
habe über die damalige Tat viel nachgedacht; ihre ganze Furchtbarkeit 
zu erklären sei er außerstande. 

Auf Vorhalt seiner angeblichen Erzählung, als habe er einmal einem 
Frauenzimmer ein Kleid mit Nägeln zusammengesteckt: das Erlebnis 


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lastmord eines moralisch defekten Sadisten osw. 


193 


habe nicht er, sondern ein anderer Arbeitsgenosse einmal im Kollegen¬ 
kreise erzählt, als obszöne Geschichten zum besten gegeben wurden; 
ihm werde das nur in den Murtd gelegt. Von dem L.er Morde habe er nie 
gesprochen. Daß er jetzt als der Täter ausfindig gemacht ward, sei wohl 
nur dem zuzuschreiben, daß er Sonntags nicht zur Arbeit kam, das und der 
Zollstabfund mögen den Verdacht auf ihn gelenkt haben. Gibt zu, daß 
er vor der Polizei anfangs geleugnet habe. Er habe eben vor der Polizei 
nichts reden wollen. Da ihn aber der Kommissär so bestürmte, habe er, 
protzt Inkulpat, um ihm den Erfolg zu gönnen, schließlich gestanden. 

über sein Sexualleben erzählt Inkulpat: Er habe nie Onanie ge¬ 
trieben. Im Alter von etwa 19—20 Jahren sei er von einem Arbeitskollegen 
in Mannheim in ein Bordell mitgenommen worden; damals erster Ge¬ 
schlechtsverkehr, bis dahin keine Libido. Genuß bereitete ihm dieser 
erste Koitus nicht; bestreitet entschieden perverse Gelüste, Sexuelle 
Träume negiert; will von sadistischen oder masochistischen Gelüsten 
absolut nichts wissen. Mit seiner zukünftigen Frau ward er kurz vor seiner 
Einrückung zum Militär bekannt. Der intime Verkehr mit ihr bereitete 
ihm Genuß. Er habe mit ihr 3 Kinder (falls sie von ihm seien, bemerkt 
Inkulpat vorsichtig); besonders springlustig sei er übrigens auch da nicht 
gewesen, so daß seine Frau eifersüchtig war; war er angetrunken, so war 
seine Potenz geringer; da die Frau sich Seitensprünge erlaubte (nach 
seiner Internierung hat sie tatsächlich anderweitige intime Beziehungen 
angeknüpft), plante er schon vor der Bluttat in L., sie zu verlassen. Ge¬ 
schlagen habe er sie freilich, aber sie habe es doch auch verdient. Weil 
seine Frau ihn betrog, habe er sie betrogen; daher seinerzeit sein zugegeben 
ernster Annäherungsversuch an das Dienstmädchen Schi..., mit der er 
schon früher verkehrt hätte. Wenn diese ihn nachher als fremd erklärt 
hatte, sei das nur „Flauserei“ gegenüber ihrem Liebhaber und andern 
Leuten gewesen; berauscht sei er bei der Szene mit der Schi... übrigens 
keineswegs gewesen. In die L. erklärt Inkulpat wirklich verliebt gewesen 
zu sein; daß er hier in Wien noch andere Verhältnisse unterhielt, will er 
nicht gelten lassen. Die ihm zur Last gelegten Notzuchtsfakta G. und M. 
leugnet er; die erstere kennt er gar nicht, da liege Suggestion vor; die M., 
eine frühere Meisterin, habe er nach einem Krach wegen schlechter Kost 
und elenden Quartiers dort einfach hinausgeworfen, das war alles. 

Inkulpat leugnet Zwangsvorstellungen, Zwangsimpulse, Wach- 
träumerei auf geeignete Fragen. Die Ansichtskarte habe er seinerzeit 
allerdings unüberlegt von Wien nach B. geschrieben, doch hoffte er immer¬ 
hin auf Legalisierung auch der damaligen Entweichung. Den Alkohol 
anlangend gibt er an, er habe als Lehrjunge schon zu trinken begonnen, 
je nach Geldstand getrunken, Bier, Wein, selten Schnaps; dipsomane 
oder pseudodipsomane Episoden sind nicht zu ermitteln. Seit er über die 
Schäden des Alkohols gelesen, sei ermäßig; durch Biersei er nie betrunken 
geworden. Habe er einen Rausch, so sei er etwas heiterer, nie angeblich 


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194. Oberste me r imd 

H<pck^» »»«■tidigaßgfetgübl- ^tB^To^Mas ist vaa 
ihm laßt er . 

j«t.Jt nur die. in T. bei eftuMö SiteiJte erJjiitÄÄ'Vats y«m «rnMltebeü jFßige* r 

-damals 'habe er den. dortig,»* Arzt 0**. J ?»d«m. lassen.- ii.br geus «ei 'dufser 
dAmate noch bin 4>bkkbr : -jg^#r4i«« ^fift.aiii)^-«fayB',:-e«:: (Inkulpat) 

danials regTtlri|fIö« dagbJegäft hätte, wisse e r m öhl , er s^VVtetrnehr ganz klar 
gewesesv» als der Arat kam ' X;rv : -V : .;-.- ; -V./ -. -'.:.. 3‘■[3^3''33 : 3 : r :-.--c'.f / • 

Auf Vorhalt des »chletblan luwtmhnda. def®- ihm »ein ehemaliger 
ScfeuUeUrer gal»? Der sei augb roh gewesen, xfi^i tu, sieh otfc Bettelei 
habe» tusch uhten kommen lassen. ertCachdldigt sich da mit.Arbeits- 
loaigfeaik Auf Verhalt ute« Gutachtens des T?p. ft 3 freut habe ier einfach 
kairt» Antwort gegeben, versa Utbji, weil er kfeft von ihm {röher einmal 
im Krankenhaus* sohle».- bt fc'-haudeli, glaubt»:. f>r, ft. habe ihn übrigens 
mumpA mit »lern Revolver bedroht, w»?«l. UikoJjtai not desse«i Köchin pow- 
s»erU-. Daß er ihm Angabe« über >;f»lepl : :seb« AnthUe .ii»»£titi-5, könnt* er 
.sich, nicht t’ftriner/i. Zu der MynclöS^ So- h- • iv .,<.•! r ■:h?.daß damals 
ein Omngcbweib in da* Zöcbiofcarkam, dpctVsei es frei orfnöden, tfaU ermiss 
mißhamMt habe, die ftahwadori hinten 1h0 mit \b*'cht schwarz gemacht, 
weil er damals einen Post*«. in Starnberg tii-chi gleich thoeu habe ver¬ 
fassen wollen. ; r. ; ;..... '■> ;••'■■ • ■; C • ' ,•' :> • .- .■ \'.V.-. - • 

Auf Vorhaii. söirier inkonformenfrdrsMbmgu» 

B, und J, : OA dicker aufgeteagenc um |aoiif die Wied^o ; > 

■auf »ahme tu evnwmgeo-, der Jor Bericht . sbmdfai nicht', ganz, sei • icil‘' <:ht 
»öt deduziert- Richtig- sei was er :dea Wioner Oejriftbtsax'phrien. » nd -den 
Pakultatsreferenten rrzahlt habe. Bum/loTton uweTAlfcoftoljsteru&g zur Z-d. 

. dpt Tat setea. ja oichf uuv-'T.'rHibyg. ßr hebe ;;»>.)f Vorhalt jiemo* 'Atelir* a«»v 
einem sei her Brief«. w««r fort einem Racheakt spricht) aitUn j .rf<ug^gftglaHbl, 
ein solcher .seifen« ^»ner Fr a»> soi ftcjb nid, an swbgr A nslAHsihfcriiicranig; 
glaubt da» aber heute- hi I* i ‘u<*hr, glaube uber-ba«.^ n , hl, PVinde tii. bülmü. 

Auf Vorh a lt der LeichtfcrligkeHv Olli* dori Iftkuiptu Ä<m zug*tfüi$i$<mr: 

der. Folgen seiner Tate» gtfgmud.ern.tud und •.>(*•)<}. lehnt er Jod»? ^pekui»,- 
ttftn «uif »ntdA. ’fiVdit/et' : Afe.. brl^i'i : .:|r4br- :; -^ti^fe gowärtig *0 eein, mufit 
ohne s*c.h in |»soudiHot>»1 ist ; Ae 11 Dokitnnatiomn} f.ü ergehou 

Y, prttfä«ntiert ipcli- -aH' nSft. :i»(ikk»ttitäg’-' Mbri^cfi'r’''' 

düa tlihiurUAÜpt- »st auffalhg -'iSfÄftkon kaum 

• ;! ; an jjm •fi'rn beidursrouiji biif»; g»olH iodolente. ( jK:ht akkr-eie 

'M«t»i,>•»%f*-fw (Knoche« intakt11mk> m der S: h, -? noch z-wei Haut 

• ‘ '* 5,, ‘ !5 fP-rnvouujHz »i-cUi a«-)g^ben').; -an der Z-tn^r k.n,... \a<!>-u ^ichtfeii 
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Beru'A.!'.:chi*tL 8»hsl, bis ariS-g^rhigo/i Li-lfi'-mor k«’ue.hier irtleriws.,>v.*,*: 

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ö ..uark 4 . sei issttiiifühch noob, du!) >». V,.-während der p*l'4'>o"<v Haft 
^ihjp^scKedft^fÄllft iso^ irgrfiidwefrfio ^efei^heu AuffaUvgkeitt*« 
JpH^tay.fsri wordo|^-Alh4*/'-' : \--' -'r c'-A?" '' -' V * ^ ■;.’' ' ' 

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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten aaw. 


195 


Gutachten. Die Fragestellungen, die sich för die Begutachtung 
im konkreten Falle ergeben, zielen nach drei Hauptrichtungen: 
erstens, ist das Geschlechtsleben des Ch. V. ein normales, oder 
wird es, sei es dauernd, sei es zeitweilig resp. unter bestimmten 
Umständen, durch krankhafte, insonderheit sadistische Antriebe be¬ 
herrscht? zweitens, ist V. ein Epileptiker, oder ist er es nicht? 
drittens, welches war der Geisteszustand des Y. zur Zeit, da er 
die jetzt inkriminierte Mordtat begangen hat? 

Die Beantwortung der beiden ersten Fragen macht es natürlich 
erforderlich, die Yorgeschichte des Y. Revue passieren zu lassen; 
wir haben dabei das Bene, daß wir uns angesichts der vielen 
Gerichtsakten, Krankengeschichten und Yorgutachten, im all¬ 
gemeinen wenigstens, kurz fassen können, denn einzelne Daten 
sind ja strittig und bedürfen daher kritischer Erörterung. 

Möglich ist (die Richtigkeit der beigebrachten Angaben vor¬ 
ausgesetzt), daß Y. als familiär belastet angesehen werden kann. 
Sein Yater war angeblich ein Trinker, die Mutter wird ärztlicher¬ 
seits als nicht normal bezeichnet, in der Seitenverwandtschaft 
kamen angeblich Fälle von Geistesstörung bezw. Epilepsie vor. 
Präziser lautet die Charakteristik des Y. seitens seines ehemaligen 
Schullehrers und seines Lehrherrn: Bei guter Intelligenz Roheit, 
Widersetzlichkeit, Ungleichmäßigkeit, Yerlogenheit, Rücksichts¬ 
losigkeit, Hang zum Wirtshausleben und Schürzenjägerei. Wir 
können daraus immerhin soviel entnehmen, daß dem Ink. gewisse 
Charaktereigentümlichkeiten, mögen sie in späterer Zeit immerhin 
noch schärfer sich markiert haben, mindestens im Keime schon 
vom Hause aus anhaften; es mag seine Richtigkeit haben, daß 
sie dank der mangelnden Erziehung schon früh überwucherten; 
wahrscheinlicher aber ist es wohl, an eine primäre Charakter- 
defektuosität zu denken, denn Erziehungsmängel allein können 
erfahrunggemäß für Eigentümlichkeiten von solcher Art und An- 
daoer nicht verantwortlich gemacht werden. Insbesondere die 
Ungleichmäßigkeit in puncto Arbeitslust haftete Y. anscheinend 
in sehr nachhaltiger Weise an, denn wir hören, daß er ab 1891, 
also etwa vom Strafmündigkeitsalter an — genauere Daten haben 
wir leider hierüber nicht zur Verfügung — wegen verschiedentlicher 
Vagabundagedelikte nicht wenig oft in Kollision mit den Gesetzen 


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196 


Obersteiner und Stransky, 


geraten ist. Die Eigentumsdelikte, die ihm zur Last liegen resp. 
liegen sollen (eine Sache ist noch in Schwebe), lassen ihn von einer 
weiteren Seite her moralisch defekt erscheinen. Am wichtigsten 
aber sind, zumal für die Zwecke unserer Betrachtung, die Roheits¬ 
delikte, deren erstes in das Jahr 1897 fällt: gemeint ist die 
Münchener Angelegenheit. 

Ehe wir darauf näher eingehen, sehen wir uns zu einem kleinen 
Exkurs genötigt. Wir erinnern uns nämlich, daß in dem ersten 
der beiden J.er klinischen Gutachten expressis verbis eine Art 
Zäsur zwischen der Persönlichkeit des V. vor dem Herbst 1898 
und jener seither gemacht wird. In den September jenes Jahres 
fällt bekanntlich das Schädeltrauma, das V. in seinem Heimats¬ 
orte erlitt. Nun ist es mit den Schädeltraumen des V. eine eigene 
Sache: Sicher ist nur, daß er mehrere solche erlitten hat, weil 
erstlich die an seinem Kopfe sichtbaren Narben Zeugenschaft da- , 
für ablegen (eines derselben, eben jenes, das er anfangs September 
1898 in T. erlitt, ist ärztlich verifiziert). Welche von den ernsteren 
Kopfverletzungen aber war die der Zeit nach erste? Diese Frage 
ist bis dato ungelöst; denn Y. hat gelegentlich erzählt, daß er in 
Landau, in Erfurt und anderwärts schon vorher schwere Kopf¬ 
verletzungen erlitten habe, darunter eine durch Sturz aus 4 Stock 
Höhe; er hat aber anderemal wieder, speziell den Referenten der 
Fakultät gegenüber, diese seine Angaben insofern entkräftet, als 
er erst die T.er Kopfverletzung und nur diese als ernstlich und 
von beträchtlichen Erscheinungen gefolgt gelten lassen wollte; was 
aber hier interessiert, ist, daß das erste J.er Gutachten wesent¬ 
lich eben auf Grund dieser Angaben und der Angaben von V.s 
Mutter — sie werden durch den Bericht des Arztes Dr. A. er¬ 
gänzt — anscheinend in den September 1898 das erste Auftreten 
epileptischer Manifestationen bei V. verlegte, und diese Mani¬ 
festationen sollen ja eben gerade an das bewußte Schädeltrauma 
unmittelbar angeschlossen haben; das zitierte Gutachten geht aber 
noch einen Schritt weiter und spricht auch noch von einer epi¬ 
leptischen Charakterveränderung, die um jene Zeit etwa in Er¬ 
scheinung getreten sei; unter anderem wird als Indiz für eine 
solche das damit synchrone Hervortreten von Gewalttätigkeits¬ 
delikten bei dem vorher nur auf andere Art kriminell gewordenen 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten nsw. 


197 




Ink. angesprochen. Hierzu darf aber wohl bemerkt werden, daß 
das Münchener Roheitsdelikt, auf das wir noch später zu sprechen 
kommen, schon in das Jahr 1897 — das Jahr vor dem in T. 
beobachteten posttraumatischen ersten Anfall V.s — zurückdatiert 
und darüber hinaus der schon besagte Leumund, der dem V. von 
Schullehrer und Lehrmeister ausgestellt wird, es mindestens wahr¬ 
scheinlich macht, daß es nicht erst der Epilepsie bedurfte, um V.’s 
Roheit und Reizbarkeit offenbar werden zu lassen; daß er bis in 
sein 19. Lebensjahr keine aus der Strafliste ersichtliche Exze߬ 
strafe erlitten hat, ist gewiß kein Gegenargument, pflegen doch 
die Ausschreitungen Jugendlicher vielfach etwas glimpflicher be¬ 
urteilt zu werden und nicht gleich zu ernsteren Maßregelungen zu 
führen; nicht zu vergessen der bahnenden Wirkung des Alkohols, 
die sich doch erst voll zu entfalten vermag, wenn mit erlangter 
körperlicher Reife und größerer Selbständigkeit das konventionelle 
Bürgerrecht im Wirtshausleben gewonnen ist. 

Wir können uns sonach nicht entschließen, in den Exze߬ 
delikten, speziell denen in München und Wildungen (1897 und 1898), 
die dem V. aktenmäßig zur Last liegen, mehr zu sehen, als den 
Ausfluß seiner genuinen Roheit und Reizbarkeit, Eigenschaften, 
denen freilich die durch den früheren Hang zu Alkoholexzessen 
erzeugte Depravation wesentlich Sukkurs geleistet hat. 

Das Münchener Delikt fesselt aber durch einen speziellen, wenn¬ 
gleich zunächst vielleicht unscheinbaren und bisher anscheinend 
nicht beachteten Zug, der ihm anhaftet, noch unsere Aufmerksam¬ 
keit: Der Urteilsbegründung zufolge soll nämlich die unmittelbare 
Veranlassungsursache jenes Raufhandels die gewesen sein, daß V. 
ein Hausierweib, das leidende Arme hatte, durch Mißhandlung 
derselben quälte. Dieser Roheitsakt des V. zeigt uns nun aber, 
daß eine gewisse Freude an grausamem Tun mit zu seinem Cha¬ 
rakter gehört. Allerdings würde dieses eine Faktum an sich zu¬ 
nächst nur ganz im allgemeinen darauf hinweisen und nicht aus- 
• schließen lassen, daß solohe grausame Triebe bei ihm nur ge- 
, legentlich in trunkener Laune — spielte sich ja doch die da¬ 
malige Szene bei einem Zechgelage ab — zutage treten. Im 
Zusammenhalte aber mit dem, was an V.’s Persönlichkeit in der 
Folge offenbar ward, gewinnt die in Rede stehende Episode ein 

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Obersteiner und Str&nsky, 


markanteres Gesicht und darf vielleicht zunächst als ein Indizium 
für das Vorhandensein sadistischer Impulse schon zu damaliger 
Zeit angesprochen werden. So sehr wir aber gerade diesem da¬ 
maligen Vorfall aus den oben erwähnten Gründen Beachtung 
schenken möchten, so wenig beweiskräftig erscheint in der an¬ 
gezogenen Richtung die hier in Wien spielende Episode, auf welche 
im Zuge des schwebenden Verfahrens anscheinend ein gewisses 
Gewicht gelegt wurde: Angeblich grundlose Mißhandlung eines 
hiesigen Arbeitskameraden; denn es ist erwiesen, daß V. eine 
psychologisch begreifbare Veranlassung gehabt hat, gegen den 
Mann, der ihn selbst beinahe insultiert hatte, tätlich zu werden. 
Wenn endlich ein früherer Wiener Quartiergeber des V. über 
seinen rohen Ton Klage führt, so mag man dies als einen weiteren 
Beweis für V.s Roheit ansehen. Freilich kommt noch ein weiteres 
hinzu, was V. nach allem, was vorliegt, von Haus aus kennzeichnet: 
seine Freude an prahlerischen Reden, seien diese auch brutalen 
Inhaltes; die an ihm konstatierte und konstatierbare Lügen¬ 
haftigkeit wurzelt gewiß zum Teil in dieser ihm anhaftenden 
Charaktereigentümlichkeit. In engerem Konnex damit steht aber 
wohl auch ein anderer Zug, der sich bei V. mit der Zeit entwickelt 
hat und namentlich in B. und gelegentlich seines zweiten J.er 
Aufenthaltes in Erscheinung trat, der auch jetzt nicht ganz zu 
verkennen ist; das Renommieren mit autodidaktisch erworbenen 
Kenntnissen nach der geschmacklosen Art des Parvenüs, insonderheit 
das groteske Protzen mit Fremdausdrücken, mit pseudowissen¬ 
schaftlichen und pseudosozialistischen Phrasen an unpassendem 
Orte, eine Manier, die eine Zeitlang fast bis zur Schrulle aus¬ 
zuarten schien; weiter aber auch die Steigerung des Selbstgefühls, 
die V. lange Zeit zur Schau trug; wir sagen zur Schau trug, denn 
wir lernen den V. auf einer anderen Seite als einen Menschen 
kennen, dem opportunistisches Sichanpassen keineswegs fremd ist: 
hat er sich doch hier in Wien seinen Kollegen gegenüber im 
ganzen als ein guter Kamerad gezeigt und sich auch den hiesigen 1 
Ärzten gegenüber eigentlich angemessen und passend benommen. ^ 
Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß die saloppe Art, I 
in der V. mit den Folgen seiner furchtbaren Delikte spielt, stntzig 1 
machen und an ein extrem, vielleicht krankhaft gesteigertes Selbst- J 
gefühl denken lassen könnte. I 


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UMIVERSITY OF MICHIGAN j 



Lastmord eines moralisch defekten Sadisten nsw. 


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Diese letzten Betrachtungen leiten hinüber zn Y.s intellek¬ 
tuellem Verhalten, dem wir einen Blick znwerfen müssen; daß V. 
von gnter Intelligenz ist, wird von vielen Seiten übereinstimmend 
angegeben. In seinem Gewerbe erscheint er anch, soweit es ihm 
gepaßt hat zu arbeiten, gut qualifiziert. Man darf aber auch wohl 
sagen, daß seine Bildung über den Durchschnitt seiner Kreise 
hinausreicht, und wenn man bedenkt, daß dieser Mensch sich die 
Ellemente dieser Bildung, z. B. französische Sprachkenntnisse, auto- 
didaktisch soweit angeeignet hat, daß er selbst einem Arzte eine 
Übersetzung zu arbeiten vermochte, wenn man weiter berücksichtigt, 
daß Ausdruck und Stil das in seinem Milieu übliche Maß weit hinter 
sich lassen, muß man sagen, nicht ohne Bedauern sagen, daß V. 
ein geistig entschieden begabtes Individuum ist; wenn er damit 
zu protzen liebt und mangels geschulten ästhetischen Sinnes ins 
Geschmacklose und Manirierte gerät, so ist das, wie schon erwähnt, 
mehr eine charakterologische Angelegenheit und involviert keinen 
Hinweis auf eine intellektuelle Störung sensu strictiore; daß die 
Eigenart des Charakters das Urteilen geradeso wie das Streben 
stark beeinflußt, bedarf ja keiner weiteren Erörterung. Ganz gewiß 
kann anch bei V. von einer erworbenen geistigen Schwäche nicht 
die Rede sein, hat er doch gerade in den letzten Jahren seine 
Kenntnisse erheblich erweitert und tüchtig gearbeitet. Notieren wir 
uns hier noch, daß wir bei V. derzeit weder Wahnideen, noch 
Hinweise auf Sinnestäuschungen, noch auch greifbare Gedächtnis¬ 
defekte gefunden haben. Von den vorübergehenden Episoden an¬ 
geblicher Psychose wird später die Rede sein. 

Wir wissen bereits, daß V. mehrfache Schädeltraumen erlitten 
hat, nur deren Zeitpunkt und Schwere wird verschieden angegeben, 
eines ausgenommen; wir wissen aber weiter auch, daß V. schon 
frühzeitig dem Alkohol stark zugesprochen hat; leider wissen wir 
über seine Reaktion auf Alkohol ebensowenig Zuverlässiges, wie 
Über die Folgeerscheinungen, die dieses Gift bei ihm erzeugt hat, 
denn wir sind da auf seine eigenen Angaben angewiesen, die zu 
verschiedenen Zeiten verschieden lauten; derzeit behauptet Ink., 
gewohnheitsmäßig nur Bier getrunken zu haben, früher allerdings 
in beträchtlichem Ausmaße — Ink. ist Bayer! —; seit mehreren 
Jahren will er temperent, das heißt mäßig leben. Über Intoleranz 


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Obersteiner und Stranskj, 


erfahren wir nichts Präzises. Immerhin würde die Tatsache, daß 
V. Traumatiker ist und mindestens früher Potator strenuus war, 
genügen, es verständlich erscheinen zu lassen, daß V. das wurde, 
als was er gilt, ein Epileptiker. 

Ist er wirklich ein solcher? Liegen zwingende Beweise für 
Epilepsie bei ihm vor? 

Überblicken wir, was an Tatsachen über ihn vorliegt, so stoßen 
wir auf den Umstand, daß V. bislang nur ein einzigesmal in einem 
Anfall von einem Arzt gesehen worden ist und das war nach jenem 
schon mehrfach erwähnten Raufhandel in T., in dem er die bewußte 
Blessur davontrug. Die Beschreibung dieses Anfalles, wie sie aus 
den Akten zu entnehmen ist, enthält zwar keine ausdrücklichen 
Angaben über Krämpfe, Zungenbiß usw., erwähnt aber immerhin 
von typischen Charakteristizis eines epileptischen Anfalls: Pupillen¬ 
starre, Empfindungslosigkeit; leider aber büßt diese Beschreibung 
etwas an Beweiskraft ein, aus dem Grunde, weil V. damals nach 
einer frischen Kopfverletzung zur Untersuchung kam, die er noch 
dazu in alkoholisiertem Zustande erlitten hat; er konnte also sehr 
wohl die Erscheinungen einer Commotio cerebri dargeboten haben. 
War er doch noch am folgenden Morgen benommen, wie Dr. A. 
erzählte. Man kann daher nicht sagen, V. habe damals wirklich 
einen veritablen epileptischen Anfall erlitten. 

Auf schwankender Grundlage steht auch, was über die 
sonstigen Anfälle des V. wenigstens auf Grund der Akten bekannt 
geworden ist. Bezüglich der Anfälle beim Militär ist nirgends ein 
Hinweis darauf zu finden, daß ärztlicherseits solche beobachtet 
worden waren, vielmehr erfahren wir, daß nur Mitsoldaten Zeugen 
derselben waren, gewiß keine verläßlichen Beurteiler in der Frage: 
echt oder falsch.. Die beiden Anfälle in J. sind anscheinend auch 
nur von Wärtern beobachtet worden. Dagegen bietet die Be¬ 
schreibung des in H. beobachteten Anfalles soviel Anhaltspunkte, 
daß man ihn ohne Zwang als einen epileptoiden (petit mal) Anfall 
auffassen kann. Was sonst noch über epileptische Anfälle V.s 
erzählt worden ist, sind teils eigene Angaben des V., teils Angaben 
Angehöriger, also zwar subjektiv interessierter Zeugen, die aber 
doch viele der klinischen Erfahrung entsprechende Einzelheiten 
enthalten. Diesen Angaben steht allerdings V.s wiederholtes und 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten nsw. 


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entschiedenes Ableugnen von Anfällen, die er für Simulation erklärt, 
gegenüber; es ist aber zu bemerken, daß bei seinem krampfhaften 
Bemühen, der Irrenanstalt zu entgehen, sein Leugnen nur mit 
Vorsicht entgegenzunehmen ist. Zu anderen Zeiten hat er selbst 
über seine epileptischen Anfälle Angaben gemacht, die unter¬ 
einander nichts weniger denn übereinstimmend sind. Bemerkens¬ 
wert ist, daß weder die langen Jahre hindurch in B. (wo Ink. 
anfangs keineswegs alkoholabstinent gehalten ward), noch in Wien 
Anfälle an ihm beobachtet werden konnten. Daß die dem V. 
schon vom Hause aus eigene Reizbarkeit nicht als Beweis für 
Epilepsie angesehen werden kann, wurde schon früher ausgeführt. 

Alles in allem muß man sagen, daß das Vorkommen von 
epileptischen Anfällen in früheren Jahren bei V. zugegeben, als 
wahrscheinlich zugegeben, mindestens nicht ausgeschlossen werden 
kann. Die Fähigkeit der Simulation epileptischer Anfälle, deren 
er sich beschuldigt, ist dem V. zwar zuzutrauen, es wäre ja wirklich 
möglich, daß er solche einmal zu sehen Gelegenheit gehabt hat 
(worauf es ankommt, weiß er im großen so ziemlich), und daß 
er in unbequemer oder gar kritischer Situation diese seine Kennt¬ 
nisse auch fruktifiziert haben konnte, doch ist nicht wahrscheinlich, 
daß V. die beschriebenen Anfälle etwa durcbgehends simuliert 
hätte. Sicher ist, daß nach 1902 an V. keine wie immer ge¬ 
arteten epileptischen Anfälle beobachtet wurden. Die Epilepsie 
V.s, wenn sie bestanden hat, ist also seither zurückgetreten, ein 
Verlauf, wie er besonders bei Degenerierten nicht selten beob¬ 
achtet wird. 

Wir gelangen nun zur Erörterung des Sexuallebens bei V. 
Da haben wir zunächst festzustellen, daß V. geschlechtlicher Be¬ 
tätigung in normaler Richtung nicht nur fähig ist, sondern daß 
ihm sogar eine ziemlich hohe Appetenz darnach eignet. Sonach 
ist der Schluß gerechtfertigt, daß auch sein sexuales Fühlen durch¬ 
aus imstande ist, sich in normalen Wegen zu halten. Diese 
Feststellung würde nun aber natürlich der Annahme keineswegs 
hindernd im Wege stehen, daß neben den normalen Geschlechts- 
impnlsen, sei es dauernd, sei es nur zuzeiten oder in bestimmten 
Zuständen, abnorme Regungen oder Impulse auftauchen, jene zeit¬ 
weilig sogar in den Hintergrund drängen können. Die ganze Vor- 


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202 


Obersteiner und Stransky, 


gesciliohte V.’s weist nun mit unverkennbarer Deutlichkeit in der 
Richtung der Annahme, daß es sich bei V. um Impulse sadistischer 
Natur handele. Daß eine gewisse Freude an Grausamkeit in ihm 
wurzelt und daß sie, sonst vielleicht latent, gerade unter Alkohol¬ 
einfluß manifest werden könnte, lehrt die bisher wenig beachtete, 
von uns bereits erwähnte Münchener Episode; mag nun zwar auch 
nichts darüber bekannt sein, ob V. damals bei Mißhandlung des 
Weibes sexuelle Wollust empfunden hat oder nicht, so ist doch 
das jedenfalls sicher, daß Sadisten nicht nur in sexualibus grausame 
Neigungen häufig nicht fremd sind, so daß der besagte Vorfall 
* mindestens als Indiz — als mehr wollen wir ihn ja nicht werten 
— bezeichnet werden darf. Während der Untersuchung der Sache 
Schi, hat V. behauptet, seine Frau gewürgt zu haben. Schwer¬ 
wiegender sind die Überfälle auf Frauenspersonen, die bei V. später 
vorkamen (Fälle G. und Schi.), die er unter argen Mißhandlungen 
und Bedrohungen zum Koitus zwingen wollte; auch der Fall Ku. 
gehört als ein bedeutsames Beweismoment hieher, vorausgesetzt, 
daß diese nicht sehr verläßliche Zeugin sich bei der Agnoszierung 
nicht geirrt hat. Am allerschwerwiegendsten freilich sind die beiden 
Mordtaten, die V. auf dem Gewissen hat, der Fall Ella P. in L. und 
der gegenwärtige Fall Josefine P. Die so sorgfältige Leichenbeschau, 
wie sie insbesondere im letzten Falle von den hiesigen Gerichts¬ 
ärzten vorgenommen worden ist, bezeugt zur Genüge, daß ein Lust¬ 
mord, kein Affektmord vorlag und daß angesichts des zum Teil 
förmlich präparatorischen Charakters der auch noch postmortal 
gesetzten Verwundungen an der Leiche und der Läsionen an ihren 
Kleidern — die Ähnlichkeit der Ausführung in gewissen Belangen 
in den Fällen Ella P. und Josefine P. ist eine auffällige — die 
Annahme eines anderweitigen Tötungsmotives an Bedeutung ver¬ 
liert. Alles konvergiert dahin, daß es sich um einen Lustmord 
handelt, und es erscheint uns eigentlich kaum noch notwendig zu 
bedauern, daß nicht auch nach Spermaspuren in V.s Leibwäsche 
gefahndet worden ist. 

Es ist also sicher, daß dem V. sadistische Regungen inne¬ 
wohnen. Nun aber tritt an uns die sehr entscheidende Frage heran: 
gehören sie seinem geistigen Habitualzustande, eventuell vom Hause 
aus, an oder treten sie — wie das ja bekanntlich vorkommt — nur 


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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 


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ab und zu, sei es mehr minder periodisch ans endogener, sei es 
ans exogener Ursache, in specie nnter Alkoholisierung in Er¬ 
scheinung? Und wenn letzteres der Fall ist, welcher Art sind 
diese Seelenzustände, ist insonderheit das Bewußtsein des’ V. darin 
getrübt und handelt es sich in letzterem Falle um Dämmerzustände 
speziell epileptischen Charakters, in denen ja sexuelle Impulse 
abnormer Art nicht so ganz selten auftauchen? 

Eine präzise Beantwortung der Frage, ob in V.s Bewußtsein 
sadistische Regungen stets parat liegen, ist wohl nicht möglich; 
wohl leugnet es V., allein seine Angaben, soweit sie nicht durch 
Tatsachen kontrollierbar sind, können angesichts seiner erweislichen 
Unaufrichtigkeit nur mit Mißtrauen entgegengenommen werden. 
Ein klarer Einblick in sein Innenleben ist also in dieser Richtung 
nicht möglich, und wir müssen es uns mit der Konstatierung der 
Tatsache genügen lassen, daß sadistische Impulse bei ihm wieder¬ 
holt zutage getreten sind. 

Lassen wir die einzelnen bekannt gewordenen Fakta Revue 
passieren, so stoßen wir zuerst auf den Münchener Fall, und damals 
stand V. sicher unter Alkoholwirkung; dann den Fall G., bezüglich 
dessen V. bekanntlich leugnet, und da er damals nicht erwischt, 
erst späterhin als Täter agnosziert wurde, wissen wir nichts über 
seinen damaligen Zustand; folgt der Fall Schi.: Hier hat sich V. 
zuerst hinter Erinnerungslosigkeit geflüchtet, in der Folge aber 
bekanntlich eine ganz andere, man möchte sagen natürliche Dar¬ 
stellung des Falles gegeben. Nun ist Y. gewiß der letzte, dessen 
Angaben Glauben zu schenken ist, anderseits aber erscheint es, 
soweit heute retrospektiv über diese, Jahre zurückliegende, Sache 
ein Urteil abgegeben werden kann, jedenfalls gewagt, auf V.s 
damalige Behauptung einer Erinnerungslosigkeit den Beweis für 
das Bestandenhaben eines Dämmerzustandes zur Zeit des damaligen 
Deliktes aufzubauen, selbst zugegeben, daß Y.s Erinnerungslosigkeit 
mit ihrer weiten Begrenzung und ihren Inseln der Erfahrung nicht 
vollkommen widerspricht. Fazit: Die Frage nach dem Geistes¬ 
zustände Y.s zur Zeit des Faktums Schi, kann ehrlicherweise nur 
mit einem „Non liquet“ beantwortet werden. 

Bald hernach ereignete sich der Fall Ella P.: Welches war 
damals der Geisteszustand Y.s? Die reichsdeutschen Psychiater 

Zeitschrift Ar Psychiatrie. LUV. 2. 16 


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haben diese Frage nahezu einstimmig dahin beantwortet, daß V. 
sich damals in einem epileptischen Dämmerzustände befunden habe 
oder doch — welche Eventualität das J.er Gutachten als eine 
mögliche Alternative gelten läßt — in einem krankhaften Affekt¬ 
zustande, in dem er seine wilden Triebe nicht zu bezwingen ver¬ 
mochte, und der damit einem epileptischen Dämmerzustände gleich¬ 
wertete. Mit jener Reserve, die durch den Umstand geboten ist, 
daß der Fall Ella P. jetzt nur mehr nach den Akten beurteilt 
werden kann, läßt sich sagen, daß ein epileptischer Dämmerzustand 
zur Zeit des Verbrechens nicht auszuschließen ist, wenn sich auch 
manche Bedenken gegen die Annahme eines solchen aufdrängen. 
V. ist der Simulation fähig, hatte damals allen Grund dazu und 
hat anscheinend im Gefängnis in M. wirklich Geistesstörung 
simuliert. 

Faßt man dies alles zusammen, so muß man sagen, daß man 
nach der Vorgeschichte des V. an dem Vorhandensein sadistischer 
Impulse nicht zweifeln kann, aber nicht mit Bestimmtheit sagen 
kann, ob sie bei ihm dauernd bestehen, oder nur zeitweise auftreten 
und ob in letzterem Falle exogene Momente, insonderheit der Alko¬ 
hol, die Rolle des agent provocateur spielen oder nicht; für die 
Annahme einer Periodizität im strengen Sinne fehlt jeder Beleg. 
Ein bloß periodisches Auftreten soloher Impulse müßte man sich 
ja vor allem als allerdings dominierendes Symptom einer periodi¬ 
schen Geistesstörung denken, nach den psychiatrischen Erfahrungen 
vor allem einer epileptischen; von einer anders gearteten Geistes¬ 
störung zu reden, gar von einer periodisch auftretenden, fehlt jeder 
Anhaltspunkt, denn nur in der Zeit der Untersuchung in M. (und 
in der kurz daran schließenden Zeit) hat V. Wahnbildungen, Sinnes¬ 
täuschungen, motorische und affektive Störungen von sensu strictiore 
psychotischer Höhe gezeigt, die aber nach dem früher Gesagten 
simuliert scheinen. Gleich in diesem Zusammenhang ist daran zu 
erinnern, daß er auch in der Zeit der jetzigen Strafuntersuchung 
hier in Wien keinerlei im engeren Sinne psychotische Züge dar¬ 
geboten hat, vielmehr bis auf die gewissen charakterologischen 
Eigentümlichkeiten vollkommen frei erschienen ist. Es bleibt dem¬ 
nach nur noch die Annahme eines endogenen periodischen Auf¬ 
tretens sexueller krankhafter Impulse ohne weitere psychotische 


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Beimengung zu erörtern, speziell mit Rücksicht auf die in Ver¬ 
handlung stehende Straftat. 

Es ist also nach allem trotz des großen Reichtums an Daten 
eine hinsichtlich ihrer kritischen Verwertbarkeit großenteils sehr 
schwanke anamnestische Grundlage, auf der fußend nun an die 
Beantwortung der letzten und entscheidendsten Frage herangetreten 
werden muß: Der Frage nach dem Geisteszustand V.s zur Zeit 
des jetzigen Deliktes. Gleichwohl dürfte es bei präziser Frage¬ 
stellung gelingen, wenigstens einen Teil des schwierigen Komplexes 
▼on Fragen zu lösen. Das Vorleben V.s wurde ja in erschöpfender 
Weise diskutiert, und es ist kaum nötig, noch hinzuzufügen, daß 
sich auch für die letzte Zeit vor dem Delikte nichts, was auf das 
Bestehen einer veritablen, sei es dauernden, sei es vorübergehenden 
psychotischen Störung hinwiese, ergeben hat; auch nichts, was 
auf eine Periode abnorm hoher oder sonst abnormer geschlechtlicher 
Erregung an ihm hingewiesen hätte. Ein Mädchenjäger war er 
ja seinem Leumunde nach immer, und auch bis in die letzte Zeit 
hatte er hier in Wien vielfache, aber ganz normale Sexual¬ 
beziehungen. Die Aussage der Ku. gestattet, wie bekannt, keine 
völlig eindeutige Wertung; und mit der ihm in den Mund gelegten 
Geschichte von dem mit Nägeln zusammengesteckten Weiberrock, 
mit der V. angeblich im Kameradenkreis geprotzt haben soll, läßt 
sich doch eigentlich gar nichts Rechtes anfangen. Man hätte dem¬ 
nach das Augenmerk so gut wie ausschließlich dem kritischen 
Zeitabschnitte im engsten Sinne zuzuwenden. 

V. hat am Nachmittage vor der kritischen Nacht wie gewöhnlich 
gearbeitet; er ist am Abend zuletzt gegen 10 Uhr im Lokale 
seiner Organisation, wo er sich pünktlich zwecks Leistung seines 
Wochenbeitrages eingefunden hat, gesehen worden. Von irgend¬ 
einer Störung, die an ihm da oder dort bemerkt worden wäre, 
hören wir nichts. Seine Angabe, daß er an dem Abend mit der 
L., seiner Geliebten, ein von dieser nicht eingehaltenes Stelldichein 
hätte haben sollen, ist ganz richtig, d. h. durch die Aussage des 
Mädchens verifiziert; also ist, da V. sich dessen erinnert und dar¬ 
über spontan und in logischer Entwicklung erzählt hat, wohl nicht 
anzunehmen, daß schon an jenem Abende sein Bewußtsein in 
greifbarem Maße getrübt gewesen wäre. Er hat dann in vollkommen 

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kontinuierlicher Ordnung erzählt, was er weiter an jenem Abende 
und in jener Nacht unternommen hat, daß er noch mehrere Schank¬ 
lokale besuchte, am Praterstern, im Prater, in Erdberg, fiberall 
Alkoholika konsumierend, in Gesellschaft von Zechgenossen; leider 
sind diese nicht eruiert worden, so daß Zeugenaussagen fiber sein 
damaliges Verhalten nicht vorliegen; nur aus seinem eigenen Munde 
wissen wir, daß er keineswegs berauscht war, als er in früher 
Morgenstunde an der Schlachthausbrficke von seinen Gefährten sich 
trennte. Immerhin dürfen wir wohl das eine feststellen, daß seine 
Erzählungen über das, was bis dahin sich abspielte, noch keinen 
absonderlichen oder unglaubwürdigen Charakter an sich tragen. 

Weniger eindeutig liegen wohl die Dinge von dem Momente 
an, wo seiner Schilderung nach, auf die wir für die Begebnisse 
des wichtigsten Zeitabschnittes leider allein angewiesen sind, die 
unglückliche Josefine P. in seinen Gesichtskreis trat: Es war auf 
den Wiesengründen nächst der Schlachthausbrücke, wo auf V. die 
gewisse Schattengestalt zukam, die sich bald als ein Schutz und 
noch mehr suchendes Mädchen entpuppt haben soll; V. gibt weiter 
an, daß er sich im Dunkel der Nacht vor dem gespenstischen 
Schatten eine Weile gefürchtet habe; es ist fraglich, ob er, der 
Hüne, Grund hatte, das schwächliche Mädchen ernstlich zu fürchten, 
zumal die Angst vor einem in der Nähe lauernden Zuhälter doch 
schon dadurch gegenstandslos werden konnte, daß ihm das Mädchen, 
wie er erzählt, quer durch den ganzen unteren Prater mi t seinen 
weiten, offenen Wiesengründen bis zum Handelskai (Donauufer) 
gefolgt sein soll, ohne daß ein solcher geheimer Beschützer sicht¬ 
bar geworden ist. Doch folgen wir seiner Erzählung weiter: Das 
Mädchen wird ihm gegenüber geradezu unerhört zudringlich, V. 
jedoch, der keine Geschlechtslust verspürt haben will, weist sie 
barsch ab; man müßte jetzt, da die P. zwar allerdings Prostituierte 
war, doch als eine ruhige Person, nicht etwa als eine freche Dirne 
beleumundet wird, meinen, daß ein energischer Laufpaß, den sie 
von einem Manne von der Statur des V. erhalten hätte, reichlich 
genügt haben müßte, sie in die Flucht zu jagen; indes will sich 
V. ihrer förmlich nicht haben erwehren können; das kling t wieder 
nicht so recht wahrscheinlich, zumal angesichts der Tatsache, daß 
die P. nach Statur und Körperkraft an V. nicht entfernt herangereicht 


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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw. 


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hat. Ein Ähnliches gilt von der Geschichte bezfiglioh der schier 
erdrückenden Umarmung durch das Mädchen und von dem Küchen- 
messer in ihrer Rocktasche; schließlich darf aber auch gesagt 
werden, daß die Art, wie V. seine Bluttat motivieren möchte — 
nacheinander hätten drei verschiedene Affekte (Furcht, Ekel, Zorn) 
sein Vorgehen determiniert, demnach ein recht kompliziertes Affekt¬ 
delikt vorläge —, daß diese ganz sonderbare Konstellation von 
Motiven für eine so furchtbare Bluttat nicht eben plausibel sich 
ausnimmt; denn wie ließen sich alle die so sehr, eindeutig auf 
einen Lustmord hinweisenden Verletzungen an der Leiche und 
Zusammenhangstrennungen an ihren Kleiderstücken — in vielen 
Stücken dem Befunde an der Ella P. so sehr ähnlich — auf solche 
Weise erklären, wie es V. glauben machen will? 

Es liegt also auf der Hand, daß dieser Teil seiner Darstellung, 
der sich mit der Exposition und der Ausführung der Tat befaßt, 
nicht wenig an innerlicher Unwahrscheinlichkeit an sich trägt. 
Nun stehen wir vor der Alternative: Liegt hier vielleicht eine 
bewußt erlogene Darstellung seitens des V. vor? Oder handelt 
es sich um Konfabulationen, durch die Erinnerungslücken ausgefüllt 
werden? Welch letztere Eventualität ja die Annahme eines Zu¬ 
standes von Bewußtseinstrübung zur Zeit der Tat in sich schließen 
würde. 

Mangels des Vorhandenseins von Tatzeugen bleibt nichts übrig, 
als der Weg der Rekonstruktion. Im allgemeinen müßte man gewiß 
die Möglichkeit zulassen, daß jemand einen Dämmerzustand durch¬ 
macht und hinterher die durch ihn gesetzte Erinnerungseinbuße, 
sei diese nun komplet oder nicht, durch Konfabulationen ausfüllt, 
die sogar mehr oder minder den Tatsachen nahekommen können, 
zumal wenn ihm etwa durch gemachte Vorhalte — und auch dem 
V. sind solche bekanntlich beim Polizeiverhör gemacht worden, 
ehe er gestand — Material dazu dargeboten wird; allein es fällt 
auf, daß V.s Darstellung bezüglich der Vorgeschichte und der 
\ Motive der Mordtat zwar in kleinen Details schwankend, im übrigen 
\ aber in den Hauptzügen durchaus in sich geschlossen ist, nirgends 
* eine Lücke aufweist und fließend von jenem Momente, wo er, in 
keiner Weise auffällig, zuletzt gesehen worden ist (Organisations¬ 
lokal gegen 10 Uhr abends), bis zu jenem hinüberleitet, wo er 


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wieder mit ernierbaren Zeugen zusammentraf (um 7 Uhr morgens 
in einem Wäscheladen) und nur erhitzt, aber sonst wieder nicht 
auffällig aussah; schon das stimmte nicht ganz zu der Annahme 
bloßer Konfabulation, die ja, zumal es sich um einen gewiß kom¬ 
plizierten Tatbestand handelte, doch viel schwankender und da 
und dort zusammenhangloser erscheinen müßte. Weiter ist auf¬ 
fällig, daß V. vom Anbeginn zuerst mit ganz gewöhnlichem 
Leugnen es versucht hat und zwar in einer Weise, die in nichts 
auf eine damals etwa noch bestehende Bewußtseinstrübung hin- 
weisen würde, dann aber über eindringliches Zureden seitens des 
Polizeiorganes zu einem Geständnis der Tat als solcher kam und 
dabei in der Hauptsache gleich die nämliche geschlossene Dar¬ 
stellung brachte, wie später beim Gerichtsverhör, vor den Gerichts- 
psychiatem, endlich vor den Referenten der Fakultät; sehr fällt 
aber schließlich, wie schon im Gerichtsgutachten ganz richtig hervor¬ 
gehoben wird, ins Gewicht, daß V. bei seiner Schilderung der 
Hergänge Dinge reproduziert, die durchaus den Tatsachen ent¬ 
sprechen, die ihm jedoch wegen ihrer Belanglosigkeit, aber auch 
aus zeitlichen Gründen wohl kaum von irgendwem vorgehalten 
bezw. suggeriert worden sein konnten; so stimmt es zu der An¬ 
nahme der Gerichtsanatomen, daß er den ersten Stich in den 
Rücken geführt hat, was er vom Polizeifunktionär, der es ja selbst 
nicht wissen konnte, wohl nicht erfahren hat; so stimmt es weiter, 
daß er die Leiche aus dem Kassahäuschen ins nahe Gebüsch ge¬ 
schafft haben muß, denn auf diesen Weg wiesen die Vorgefundenen 
Blutspuren am Schauplatz der Tat, des Fundes der Leiche und 
der Umgebung; endlich hat er entsprechend erzählt, daß er Kleider¬ 
fetzen der Leiche in der Umgebung weggeworfen hat, und solche 
sind denn auch tatsächlich dort gefunden worden. Selbst wenn 
man sich nun vor Augen hält, daß es auch im Rahmen von 
Amnesien nach echten Dämmerepisoden Erinnerungsinseln gibt, 
muß man doch sagen, daß ein so verschiedenartige und zeitlich 
so sehr auseinanderliegende Momente betreffendes Detailgedächtnis 
wie im konkreten Falle gegen die Annahme einer greifbaren 
Bewußtseinstrübung und damit eines Dämmerzustandes zur kriti¬ 
schen Zeit sohwer in die Wagschale fällt. Umgekehrt aber fehlt 
für die Annahme eines solchen jeglicher strikter Beweis. Denn 


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so furchtbar und grauenhaft die Tat auch ist, so ist sie ja damit 
noch nicht als Symptomhandlnng einer Dämmerepisode deter¬ 
miniert. Wenn es ja auch denkbar ist nnd hier zugegeben wird, 
daß V. an Epilepsie gelitten haben mag, bewiesen ist damit noch 
nicht, daß seine Lustmorde, in specie der jetzige gerade in 
epileptischen Dämmerzuständen unternommen sind; daß V. in der 
kritischen Nacht einen Krampfanfall erlitten hat, dafür fehlt jeder 
Anhaltspunkt. 

Zum Schluß noch eine kurze Erwägung: Da V. ein Lügner 
ex professo ist, da er gezeigt hat, daß er auch imstande ist, ein 
Risiko einzugehen, wenn er von einem für ihn subjektiv besonders 
gefühlsmächtigen Ideenkreis beherrscht wird (wir erinnern daran, 
daß er den Staatsanwalt zu Hilfe rief, um ja nur den ihm lästigen 
Anstaltszwang loszuwerden), nnd da er vielleicht auch jetzt nichts 
so sehr fürchtet, als eine unabsehbar lange Irrenanstaltsintemienmg: 
wäre es da nicht möglich, daß er sich absichtlich belastet? Dar¬ 
auf ist zu antworten, daß V. bekanntlich über sein Geschlechts¬ 
leben nur wenig gern etwas preisgibt; und daß er speziell über 
seine sadistischen Impulse nicht gern etwas spräche und, um sie 
zu verschleiern, lieber zu unmöglichen Ausreden griffe, wäre durch¬ 
aus begreiflich. Auf andere, aus dem Kreise der rein psychiatrischen 
Erwägungen herausfallende Erklärungsmöglichkeiten wollen wir uns 
natürlich nicht einlassen. Überflüssig aber zu bemerken, daß für ' 
die Annahme einer melancholischen, hysterischen, katatonischen, 
paranoischen oder sonstwie gearteten Geistesstörung, auf deren 
Grundlage krankhafte Selbstanklagen erwachsen, kein Anhalts¬ 
punkt besteht. Denken könnte man ja angesichts des Umstandes, 
daß gegen V. abgesehen von seinem Geständnisse ja nur ein In¬ 
dizienbeweis vorliegt, vorübergehend auch an solche Eventualitäten: 
doch brachten die Tatsachen diesen Gedanken rasch wieder zu Falle. 

Die gefertigte Fakultät faßt demnach ihr Gutachten völlig kon¬ 
form dem von uns erstatteten Referate wie folgt zusammen: 

1. Christian V. ist ein von Hause aus degeneriertes, 
vorwiegend ethisch defektes Individuum mit einer 
besonderen Neigung zu Gewalttätigkeiten; 

2. es ist sicher, daß bei ihm sadistische Impulse be¬ 
stehen; ob sie immer, oder ob sie nur zeitweise, 


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Obersteiner und Stransky, 


insbesondere unter dem Einflüsse des Alkohols vor¬ 
handen sind, läßt sich nicht sicher sagen; 

3. es ist wahrscheinlich, daß V. an epileptischen An¬ 
fällen litt; in den letztep Jahren sind keine epilepti¬ 
schen Anfälle beobachtet worden, auch lassen sich 
unzweifelhafte epileptische Charakterzüge an Y. 
nicht feststellen; 

4. überhaupt sind derzeit an Y. keinerlei Züge zutage 
getreten, die auf eine über den Rahmen der Degene¬ 
ration hinausgehende psychische Anomalie oder 
Krankheit hinweisen würden; 

5. Ein Zustand greifbarer Trübung des Bewußtseins bei 
Y. während derZeit, in welche der Mord an der Jose¬ 
fine P. fällt, ist nicht nachweislich; 

6. Wenn als wahr angenommen wird, daß Y. zu jener 
Zeit unter Alkoholwirkung stand, so konnte durch 
diese, auch wenn es sich nur um eine leichte Alkoho¬ 
lisierung handelte, die geschlechtliche Erregbarkeit 
und Affekterregbarkeit im allgemeinen gesteigert 
worden sein. 

Katamnese des Falles (an Hand des Strafaktes und der 
Berichte aus der Strafanstalt). Am 20. und 21. Oktober 1911 
fand vor dem Wiener Schwurgerichte gegen Christian V. (nach¬ 
träglich war noch daktyloskopisch ein Handabdruck von ihm auf 
einem Schürzenteil der Ermordeten festgestellt worden) nach er¬ 
hobener Anklage wegen Mordes die Hauptverhandlung statt. 

Bei dieser gab V. zu seiner Verantwortung nnter anderem 
noch folgende Einzelheiten an: er habe seine epileptischen Anfälle, 
wie er nunmehr ausführte, nicht simuliert(l); die in München 
erlittene Strafe bezeichnete er als zu Unrecht verhängt; gegen die 
Psychiater äußerte er lebhaftes Mißtrauen zu hegen, sie bauten, 
meinte er, aus einer kleinen Sache ein großes Gebäude auf, ließen 
z. B. jetzt den Sadismus auf marschieren; die Ermordete habe ein 
„mannhaftes“ Auftreten gehabt, er habe sie darum für einen ver¬ 
kleideten Mann gehalten (I); er habe geglaubt, sie führe Böses im 
Schilde; er habe, meinte er, nur einen Totschlag, keinen Mord 
verübt; er habe nach dem ersten Stich aus Wut noch weiter auf 


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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten nsw. 


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die P. losgestochen, wiewohl er sie da bereits für tot (!) gehalten 
habe; V. betonte nochmals seinen körperlichen Erankheitsznstand 
zur kritischen Zeit, daher er damals der Josefine P. gegenüber 
physisch nicht so stark gewesen wäre. 

Auch einige der mündlichen Zeugenaussagen bei der Haupt- 
verhandlung bedürfen hier noch besonderer Erwähnung. So agnos¬ 
zierte die K. den Beschuldigten mit Bestimmtheit. Ein anderer 
Zeuge, Kn., der Geliebte der ermordeten Josefine P., gab über 
deren Charakter noch an, sie sei ein leichtsinniges, aber gutmütiges, 
keineswegs gewalttätiges Mädchen gewesen und habe ein Messer 
nicht besessen. Zeuge Ko.., ein Arbeitsgenosse des V., schilderte 
ihn als sehr rabiat, sobald er in Zorn versetzt worden sei, bestätigte 
aber auch, daß V. geschlechtskrank und derart matt war, daß er 
sich gelegentlich während der Arbeit hinlegen mußte. Der Polizei¬ 
kommissär W. räumte ein, bei seinem Verhöre V. gegenüber die 
Worte gebraucht zu haben: „Ich bin überzeugt, Sie sind der Täter. 
Geben Sie mir die Genugtuung, daß Sie mir die Tat zuerst ein¬ 
gestanden haben/ Schließlich wiederholte eine vielberufene Zeugin, 
die Prostituierte Kn.., im wesentlichen ihre früheren Angaben (siehe 
oben); sie erzählte, daß sie am 19. 9. 1911 ans der Irrenanstalt 
entlassen worden sei; der bei der Verhandlung anwesende Gerichts¬ 
psychiater Privat-Dozent Dr. Elzholz berichtete, er habe die Zeugin 
etliche Monate nach ihrer Abgabe an die Irrenanstalt untersucht 
und damals als intellektuell geschädigte Trinkerin befunden; der¬ 
malen finde er sie, dank der länger dauernden Abstinenz in der 
Anstalt, gebessert, sie habe keine Tremores mehr, ihr Gedächtnis 
scheine jetzt gut. V. beharrte dabei, die Kn. nicht zu kennen. 

Das Urteil lautete auf schuldig, im Sinne der Anklage 
auf gemeinen Mord; die Bejahung der Schuldfrage erfolgte ein¬ 
stimmig, die Ablehnung der Zusatzfrage auf Verübung der Tat 
im Zustande abwechselnder Sinnenverrückung mit zehn (gegen 
zwei) Stimmen. Demgemäß erfolgte die Verurteilung des V. zum 
Tode, welcher späterhin dann die Begnadigung zur Strafe 
des lebenslänglichen Kerkers, verschärft mit Dunkelhaft an 
jedem Jahrestage der Tat, folgte. 

Von Interesse ist noch das Verhalten des V. vor und nach 
der Verurteilung. Nach Schluß des Beweisverfahrens erklärte V. 



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gegenüber dem Gerichtshöfe: »Ich habe meinen Zweck erreicht. 
Ich habe mich dem Irrenhanse entzogen. Ich gebe zu, daß ich 
krank war. Ich bin mit dem Beweisverfahren zufrieden.“ Nach 
der Urteilsverkündignng äußerte er sich wörtlich zum Gerichtshöfe: 
»Ich bin mit dem Urteil zufrieden, wenn ich auch gestehen muß, 
daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben (!). Besser im Strafhause, 
als im Irrenhause!“ In einem Schreiben an den Vorsitzenden 
de dato 8. XI. 1911 verlangt dann V. seine Habseligkeiten und 
erkundigt sich, weswegen ihn eigentlich das Gericht in Lindau 
verfolge. 

V. ward nach Verwerfung der Nichtigkeitsbeschwerde des 
Verteidigers und erfolgter Begnadigung am 2. HI. 1912 der k. k. 
Strafanstalt zu Garsten (Ob.-Ö.) überstellt, wo er bis dato (Ostern 
1918) seine Strafe verbüßt. Über sein Verhalten in der Strafanstalt 
liegt ein vom dortigen Anstaltsarzte — dem wir hiefür freundlichst 
danken — erstatteter, durch Vermittlung des medizinischen 
Dekanates der k. k. Universität in Wien eingeholter Bericht de 
dato 18. H. 1. J. vor. Derselbe lautet: „Der Sträfling V. Christian 
ist körperlich gesund und geistig völlig normal und ist sich 
seiner Handlungsweise vollkommen bewußt. Wahnideen, sowie 
Sinnestäuschungen konnten an ihm nicht beobachtet werden, sowie 
auch epileptische Anfälle bei ihm während der Strafzeit 
niemals festgestellt werden konnten“ (von den Verfassern 
gesperrt). 

Laut Bericht der Strafanstaltsdirektion, für den wir gleichfalls 
freundlichst danken (eingeholt auf dem nämlichen Wege) hat V. 
aus der Anstalt an einen Schüler HaecJcete ein Schreiben gerichtet, 
dessen abschriftlichen Inhalt wir im folgenden wörtlich wiedergeben: 

„Im Gedenken des 16 . d. M. vor Allem meine Liebe und Verehrung 
dem Meister und seinem bedeutendsten Schüler. 

Verzeihen Sie hochgeehrter und nichtbekannter Herr, wenn ich 
mich an Sie mit einer Bitte wende, aber sie entspriest einem aufrichtigem 
Gefühle, dem Glauben an die Güte gewisser Menschenkreise, von denen 
schon unvergängliche Zeit und Raum überwundene Wohltaten ausge¬ 
gangen sind. 

Ich will Ihnen keine Biographie machen, mein Lebensweg hat nichts 
Besonderes an sich. 

Von Natur durch die Geburt mit gutem Rüstzeug ausgestattet, 
aber arm und liebende Eltern nicht gekannt, nur Objekt des Egoismus 


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blieb mir das versagt, was mich zum wirklichen Menschen hatte machen * 
können. 

Erziehung und Bildung. 

So bin ich als halbes Tier durch das Leben gegangen und schließlich 
an diesem trostlosen Orte angelangt. 

Meine Heimat ist nicht weit von Jena, dort am Rennstieg, auf 
bayrisch-sachsen-meiningischer Grenze. 

Ich bin 40 Jahre alt, bereits 8 Jahre hier und nach menschlichem 
Machtspruche für dauernd. 

Aber dieses Leben hat, so paradox es auch scheint, nicht blos Un¬ 
angenehmes, denn durch dieses Ausgestoßensein, diese Isoliertheit zum 
Denken gezwungen, angeregt durch die wohltuende Bekanntschaft großer 
Geister, welche auch für mich gelebt haben, erwachte ich allmählig aus 
einem Traumzustande. 

Der Gegenstand meiner Bitte ist, sehr geehrter Herr, mir des hoch¬ 
verehrten Meisters „Anthropogenie“ zu schenken. 

Vielleicht haben Sie ein älteres Exemplar und dann kann ich mir 
kaum denken, daß ein wenig Freude, wahres Glück vom Gelde abhängen 
soll — Sie werden durch Ihre Güte einen großen Stein zu einem Rohbau 
beitragen. 

Mein kindliches Vertrauen auf das Motto: „Sei edel, hilfreich und 
gut“ gibt meiner Hoffnung Nahrung 

dankbaren Herzens bin ich Ihr 
ergebenster 
Christian V.“ 

Schlußwort. Den Fall V., der s. Z. in Wien viel Aufsehn 
erregte, hat bereits Rechtsanwalt Türkei im Großschen Archiv 
1913 besprochen nnd dabei anch Teile des vorstehenden Fakultäts- 
gutachtens angeführt. Dessen vollständige Veröffentlichung ist 
jedoch durch die Besonderheiten des in jeder Hinsicht bemerkens¬ 
werten Falles um so mehr gerechtfertigt, als ihn Türkei vorwiegend 
vom kriminalistischen Gesichtspunkte aus betrachtet. 

Was zur klinischen Epikrise zu sagen war, scheint aus dem 
Referate der Gefertigten, welches von der Wiener medizinischen 
Fakultät zu ihrem Gutachten erhoben worden ist, so klar und 
eindeutig auf, daß es wohl eines weiteren Beisatzes nicht mehr 
bedarf. 

Daß die von den Gefertigten vertretene Auffassung des Falles 
anch durch seine Katamnese erneut bestätigt worden ist, sei 
hier nochmals hervorgehoben. 


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Fieber und Psychosen. 

Von 

Dr. Harald Siebert, 

Nervenarzt und leitender Arzt der psychiatrischen Abteilung des Stadt¬ 
krankenhauses in Libau. 

Langjährige systematische Untersuchungen über den Einfluß 
des Fiebers bezw. infektiöser Prozesse auf den Verlauf von 
Psychosen gaben mir besondere Hinweise darauf, meine Auf¬ 
merksamkeit während epidemisch auftretender Ruhr- und Typhus¬ 
erkrankungen in der von mir geleiteten psychiatrischen Abteilung 
auf die Reaktionsformen der Seelenstörungen gegenüber solchen 
körperlichen Leiden zu richten. Der Frage, wie weit fieberhafte 
Prozesse akuter infektiöser Krankheiten, sowie künstlich durch 
Tuberkulin bezw. andere toxische Stoffe hervorgerufene Temperatur¬ 
steigerungen auf die progressive Paralyse einen kurativen Effekt 
auszuüben in der Lage sind, bin ich bereits in einer Reihe von 
ausführlichen Abhandlungen nähergetreten 1 ). Das Ergebnis der 
letztgenannten, an einem beträchtlichen Material studierten Aus¬ 
führungen gipfelt in der Erkenntnis, daß immerhin nur ein kleiner 
Teil von Paralysen — anscheinend wohl infolge einer endogenen 
Veranlagung — durch Hyperpyrese und die eventuelle gleichzeitige 
Verwendung antiluischer Mittel im Sinne der Heilung beeinflußt 
werden kann: „Die Neigung zu Besserungsschüben schlummert 
sicher in allen durch eine Fieberkur gut beeinflußten Fällen von 

a ) H. Sieben, Heilbestrebungen in der modernen Psychiatrie. Prot, 
des II. Kurl. Ärztetages. — Ders., Über den Einfluß des Fiebers auf den 
Verlauf von Geistesstörungen. Ptbg. med. Wschr. 1911, H. 40. — Ders., 
Über progressive Paralyse. Ptbg. med. Ztschr. 1914, H. 2. — Ders., Über 
die TuberkuÜnbehandlung der Paralyse Mtschr. f. Psych. u. NeuroL 
1916, H. 4. 


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Fieber and Psychosen. 


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progressiver Paralyse, das Fieber aber gibt den Anstoß zur Re¬ 
mission.“ Es ist mir anch in der Tat nicht unverständlich, daß 
solch eine Heilprozedur gerade in der Behandlung der progressiven 
Paralyse — einem immerhin anatomisch begründeten Gehirn- 
leiden — gute Erfolge zeitigen kann; ich stelle mir diese Um¬ 
wälzungen etwa derart vor, daß in den Fällen, in welchen eine 
tiefe, der „Heilung“ gleichende Remission einsetzt, der krankhafte 
Prozeß noch keine Zerstörung der Ganglienzellen verursacht hat, 
vielleicht sogar, daß lediglich dort verankerte Spirochäten durch 
vorläufige Nahwirkung eine Dysfunktion dieser Elemente hervor- 
rufen; durch das Fieber bezw. den anaphylaktischen Zustand tritt 
eine Veränderung der vasomotorischen Verhältnisse einerseits, der 
Blut- und Lymphbeschaffenheit andererseits ein. Diese neuen 
Bedingungen können auf die Trophik der Hirnzellen einen günstigen 
Einfl uß ausüben, gleichzeitig wäre an die Möglichkeit zu denken, 
daß sie wenigstens einen Teil der vorher therapeutisch nicht 
erreichbaren Spirochäten mobilisieren und hierdurch der Behandlung 
mit unseren antisyphilitischen Mitteln (Quecksilber, Jod, Arsenate) 
zugänglich machen. Zu erwähnen wäre dabei auch noch die 
direkte Einwirkung vieler fieberhafter Prozesse auf die syphi¬ 
litische Infektion überhaupt, auf welche von der Wiener Schule 
hingewiesen wird 1 ). 

Die hier niedergelegten und niederzulegenden An¬ 
schauungen sind jedenfalls nichts mehr als gänzlich Hypotheti¬ 
sche Reflexionen; ob sie tatsächlich auch dem pathologisch¬ 
biologischen Vorgang entsprechen, läßt sich nach dem heutigen 
Stande unserer Kenntnisse nicht sagen, die psychiatrische Literatur, 
welche diesen Fragen nähergetreten ist, hat keineswegs irgend 
eindeutige Antworten erbringen können. Ich habe die dies¬ 
bezüglichen Arbeiten bereits in einer früheren Abhandlung erwähnt 
und will daher bezüglich der Literatur nichts hinzufügen; die An¬ 
sichten über diese Fragen lassen sich so formulieren, daß neben 
wenigen Versuchen, die Beeinflussung der Geistesstörungen durch 
die fieberhaften Vorgänge auf rein psychologischem Wege zu er¬ 
klären, bald die Veränderung der Zirkulationsverhältnisse, bald 


*) B. Müller, Psych.-neuroL Wschr. 4917/18, Heft 1 u. 2. 


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Siebert, 


die Phagozytose, bald das Fieber lediglich als solches zur Deutung 
der Erscheinungen herangezogen worden sind. Abgesehen von 
einzelnen, besonders in Irrenanstalten vorkommenden, fieberhaften 
Infektionen, bin ich durch eine Reihe von Epidemien, welche 
meine Abteilung im Laufe der Jahre heimgesucht, in die Lage 
versetzt worden, den Einfluß des Fiebers auf den Verlauf von 
Psychosen zu studieren. 1916 hatte ich eine Ruhrepidemie 
in der Anstalt, Aber welche bereits eingehend berichtet worden 
ist 1 ), unter 16 Erkrankungen an Dysenterie besserte sich lediglich 
ein Paralytiker, anscheinend beeinflußt durch anhaltende holte 
Temperaturen. Beachtenswert erscheint dabei jedenfalls, daß sechs 
Monate vor dem Ruhranfall eine Tuberkulinkur bei ihm gänzlich 
versagte, — sichtlich ein in dem Sinne zu bewertendes Moment, 
daß hier anfänglich die zum Auslösen der Remission erforderlichen 
Bedingungen nicht gegeben waren. Hingegen trat bei zwei weib¬ 
lichen melancholischen Kranken scheinbar unter dem Einfluß des 
fieberhaften dysenteritischen Prozesses eine evidente Verschlimme¬ 
rung ein, zudem bei der einen Kranken in einem Zeitpunkt, wo 
man eigentlich schon von einer Wiederherstellung der Gesundheit 
im klinischen Sinne sprechen konnte. — 1917 trat im Spät¬ 
herbst eine Typhusepidemie in der Abteilung auf, an der, außer 
einzelnen Gliedern des Pflegepersonals, wiederum sukzessive 10 
Patienten erkrankten. Leider machte die Beschaffung des Typhus¬ 
schutzserums Schwierigkeiten und wurde die Impfung dadurch 
um einige Tage verzögert, so daß dieser Umstand eigentlich die 
großen Dimensionen mitbedingte, welche die Verbreitung annahm, 
denn in der Tat schwanden mit dem Moment der Immunisierung 
durch den Sohutzstoff alle weiteren Erkrankungen. Die an 
Typhus erkrankten Paralytiker und an affektiven Störungen 
leidenden Personen wurden durch die Infektion im Sinne der 
Wiederherstellung ihrer geistigen Gesundheit Oberhaupt nicht be¬ 
einflußt, während in einem weiter unten zu beschreibenden Fall 
schizophrener Psychose eine Oberaus beachtenswerte Ver¬ 
änderung festzustellen war. — 1918 im Juni traten ausschließlich 
in der extrem überfüllten Frauenabteilung epidemisch 12 Fälle 

*) Psych.-neurol Wschr. 1917/18. H. 3/4. 


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Fieber und Psychosen. 


217 


einer influenzaähnlichen Erkrankung auf (bakteriologische 
Untersuchung mußte leider aus ^äußeren Gründen unterbleiben). 
Es dürfte sich dabei jedenfalls um die gleichzeitig in der Stadt 
herrschende „spanische Grippe“ gehandelt haben. Von dieser 
Epidemie sei gesagt, daß in keinem einzigen Fall eine Beeinflussung 
der Psychosen durch dieselbe wahrgenommen werden konnte. 
Tatsächlich war der Verlauf der Störung im Sinne der inneren 
Medizin ohne wesentliche Komplikationen vor sich gegangen, doch 
sprachen das hohe Fieber bis 40° und mehr, die relativ lange 
Dauer der Grippe bis zu 12 Tagen und endlich das anhaltende 
Gefühl von Erschöpfung nach Uberstehen der Attacke in dem 
Sinne, daß jedenfalls eine heftige Toxineinwirkung im Spiele 
sein müsse. 

Die schizophrene Psychose, deren Verlauf durch den Typhus 
abdominalis beeinflußt wurde, kann in folgendem in ihren all¬ 
gemeinen Umrissen geschildert werden. 

Moses D., jüdischer Nationalität, wurde im Alter von 21 Jahren 
im November 1913 erstmadig von mir untersucht. Die Familiengeschichte 
ergab, daß Vater und Mutter Vetter und Kusine waren. Der Vater war 
vor einigen Jahren in einer Anstalt an progressiver Paralyse gestorben, 
die Mutter ist eine exzentrische, sehr erregbare, aber tüchtige und leistungs¬ 
fähige Frau. Zwei Brüder der Mutter desgleichen an progressiver Para¬ 
lyse gestorben. Die Mutter der Mutter wurde in vorgerückten Jahren 
geisteskrank; welcher Art dieses Leiden war, kann nicht festgestellt 
werden, jedenfalls ist sie davon nicht genesen und hat viele Jahre mit 
dieser Störung in Familienpflege gelebt. Die sechs Geschwister des M. D. 
sind gesund und erfüllen im Leben ihre Stellung. 

Der Pat. entwickelte sich gut, hat in früherer Zeit keinerlei Stö¬ 
rungen des psychisch-nervösen Geschehens offenbart. Schulbesuch ohne 
auffallende Eigenschaften, mittelmäßiger Schüler. Mit 16 Jahren wan- 
derte er nach Amerika aus, teils weil er als Jude unter der damaligen 
Oberherrschaft wenig Aussichten auf glattes Fortkommen hatte, teils 
weil er dort durch Vermittlung Bekannter auf guten Erwerb rechnete. 
Etwa vier Jahre hindurch hat er auch dort als Handarbeiter, später als 
Bureauangestellter einen guten Verdienst gehabt und jedenfalls seinen 
Lebensunterhalt gut bestreiten können. Die dort lebenden Verwandten 
haben in der Zeit nichts Auffälliges an ihm wahrnehmen können, er war 
fleißig, solide und sparsam. 

1913 kehrte er unvermittelt zurück, um sich im November zum 
Militärdienst zu stellen. Sein nachdenkliches Wesen, die Klagen über 
Mattigkeit und allgemeine Schwäche veranlaßten die Mutter, sich an 


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Siebert, 


mich zu wenden. Die Untersuchung des M. D. ergab eine schwere Ver¬ 
stimmung und eine Reihe ausgesprochener somatopsychischer Beschwer¬ 
den. Er erklärte dabei, selbst nicht mehr zu wissen, was eigentlich mit 
ihm vorgehe, zuweilen habe er das Gefühl, „seine Person habe sich ver¬ 
ändert, in seinem Körper sei ein anderer Mensch mit einer anderen Seele“. 
Für Sinnestäuschungen sowohl optischer als auch akustischer Natur 
gab es keine Anhaltspunkte. Ein ausgesprochener primärer Affekt ließ 
sich nicht nachweisen, die Verstimmung faßte ich durchaus als ein 
Produkt psycho-motorischer Hemmung auf und weniger als den 
Ausdruck einer anhaltenden traurigen oder ängstlichen Gemütsbewegung; 
die völlige Apathie, die Interessenlosigkeit sich selbst und seinen An¬ 
gehörigen gegenüber sprachen auch in diesem Sinne. 

Nach eingehenden Untersuchungen nahm ich eine in der Entwick¬ 
lung begriffene Defektpsychose degenerativen Ursprunges an 
und begründete alsdann, unter Zugrundelegung der schlechten Prognose, 
seine militärische Untauglichkeit. Der Kranke wurde nun auf ein Jahr 
zurückgestellt. Zur Anstaltsbehandlung, die ich sofort in Vorschlag 
brachte, waren die Angehörigen unter keinen Umständen zu bewegen, 
da sie sich von der Geistesstörung nicht überzeugen lassen wollten. Die 
Orientierung, die Merkfähigkeit und das Gedächtnis waren tadellos; es 
bestand ein schweres Krankheitsgefühl und ein Bewußtsein für die psy¬ 
chische Störung, wenn auch keine Einsicht in dieselbe. — Der Kranke 
lebte nun im Kreise seiner Familie dahin, tat nichts außer Essen, Trinken 
und Spazierengehen, war jedoch zu irgendeiner Tätigkeit auf keine Weise 
anzuhalten. Dabei war er reizbar und grundlos ausfahrend, meist von 
hypochondrischen Grübeleien erfüllt. 

1914 im Herbst sollte er zum Kriegsdienst einberufen werden und 
stellte dabei wiederum ein Zeugnis von mir vor. Dem Gesetz nach mußte 
er jetzt zur Feststellung des Zustandes in eine Anstalt, — dort wurde er 
anfangs für gesund erklärt und lediglich „Blutarmut“ — Pat. hatte einen 
Hämoglobingehalt von 95 % nach Sahli (!) — angenommen. Erst als 
ich eine eingehende Beschreibung der Krankheit einsandte, schloß sich 
die Ärztekommission meinem Gutachten an und befreite ihn von der 
Rekrutierung. 

In einem weiteren halben Jahr trat jetzt die Psychose immer mehr 
hervor, seine Apathie wurde eine vollkommene, er stand kaum mehr 
vom Bett auf, konnte nur mit Mühe zum Essen bewogen werden, ließ 
oft ganze Mahlzeiten aus. Spontan sprach er wenig, er antwortete 
kaum auf Fragen; es war direkt so, als ob man ihn zur Antwort auf¬ 
rütteln müsse. Erfolgte eine Antwort, so konnte man ersehen, daß sein 
Gedächtnis tadellos war und er die Vorgänge der Außenwelt gut erfaßte 
und richtig beurteilte. Im August 1915 stürzte er sich plötzlich mit einem 
Beil auf seine Mutter, dabei ausrufend: „Schlagt das Aas tot“ — und 
drohte sie zu erschlagen. Am nächsten Tage insultierte er öffentlich und 


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Fieber und Psychosen. 


219 


ohne Grand einen Soldaten, worauf er sofort in polizeilichen Gewahrsam 
genommen wurde. Auf meine Vorstellung hin erfolgte nun die Über¬ 
fahrung in die psychiatrische Abteilung, wo ich über zwei Jahre den 
Kranken ununterbrochen beobachtet habe. Ein Motiv für die Bedrohung 
der Mutter konnte von ihm nicht in Erfahrung gebracht werden. Im 
Institut stellten sich in ganz kurzer Zeit schwere katatone Erschei- 
nu nge n ein: ein stundenlanges Verharren in bizarren und verschrobenen 
Haltungen, gänzlicher Mutismus, dabei ein fortgesetztes Grimassieren 
and blitzartiges Zucken in der Gesichtsmuskulatur. Im Sitzen näßte 
er in die Kleider; oft kam es vor, daß ihm von Mitpatienten Rauchwerk 
entwendet wurde und er sich in seiner Teilnahmlosigkeit überhaupt da¬ 
gegen nicht wehrte. Er sprach jetzt, auch reaktiv auf Fragen, selten und 
dann nur einen anscheinend zusammenhanglosen Blödsinn, so daß man 
neben den psycho-motorischen Phänomenen, welche auf eine weitgehende 
geistige Störung schließen ließen, an einen Zustand tiefer Verblödung 
denken mußte. 

Nach dieser Schilderung dürften keine weiteren Zweifel bestehen, 
daß es sich bei D. um eine sichtlich auf degenerativer Grundlage ent¬ 
standene psychische Erkrankung vom Charakter der Dementia prae- 
cox-Gruppe, der Schizophrenie, handelte, und zwar hatte man 
den Eindruck, daß anfangs mehr hebephrene, später mehr katatonische 
Zöge im Spiele waren. Dabei schien der Prozeß bereits abgelaufen zu 
sein, indem man eine schwere Demenz aus dem geistigen Verhalten an¬ 
nehmen durfte. Der Blut-Wassermann war negativ; im Liquor — in 
Hinblick auf die progressive Paralyse des Katers — WaR negativ, Nonne 
negativ, Pleozytose negativ. 

1916 im August erkrankte der Patient an Ruhr und lag $twa 14 Tage 
unter hohem Fieber bei schwerem Kräfteverfall zu Bett. Weder zur 
Zeit der akuten Störung, noch im Anschluß an dieselbe trat eine Beein¬ 
flussung der Psychose zutage, der Kranke erholte sich langsam und offen¬ 
barte unverändert seine Stereotypien und Verschrobenheiten. f ' 

Oktober 1917 — Typhus abdominalis. Der Kranke wurde 
in die Typhusabteilung des allgemeinen Krankenhauses übergeführt. 
Widal +, Typhusbazillen im Stuhl +. In der vierten Krankheitswoche 
Kollaps, äußerst bedrohliche Herzschwäche, darauf schwere Darmblutun¬ 
gen — langsame Besserung, sehr allmähliches Abklingen der Tempera¬ 
tur; dann Typhusrezidiv mit erneut hohem Fieberanstieg. D. war 
jedenfalls Wochen hindurch einer Hyperpyrese von über 39,5 0 ausgesetzt. 
Während der Zeit der schweren Erkrankung ließ sich feststellen, daß 
das psychische Verhalten durchaus ein „typhöses“ war, er verhielt sich 
gänzlich passiv, sprach weder spontan, noch beantwortete er Fragen, 
nahm von der Mutter und den Angehörigen keine Notiz, mußte gefüttert 
werden. Wieviel nun davon auf Kosten der Infektion zu beziehen war 
und wieviel auf die Geistesstörung, ließ sich nicht feststellen. Mit ein- 

Zeitschrift für Psychiatrie« LXXV« 1 16 


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tretender Genesung vom Typhus kam eine auffallende Ver¬ 
änderung im psychischen Geschehen zutage: er wurde freier, 
begann die Personen der Umgebung mit Blicken zu verfolgen, zeigte 
Initiative, indem er selbständige Handlungen verrichtete. Er sprach 
das Personal an, bat um Auskunft über die Zeit, wie lange und woran 
er jetzt krank gewesen, warum er aus der psychiatrischen Abteilung in 
diese verlegt worden sei Er war gegen die Mutter freundlich und zeigte 
sich für jede Aufmerksamkeit dankbar. Die katatonen, rein somatischen 
Projektionsformen der Geisteskrankheit ließen sich nicht mehr be¬ 
obachten. — Tatsächlich besserte sich der Pat. täglich und stündlich 
und konnte, ohne erneut der psychiatrischen Abteilung überwiesen wor¬ 
den zu sein, im Februar 1918 von seiner Mutter nach Hause genommen 
werden. Später kam er besuchweise in die psychiatrische Abteilung, 
erkundigte sich nach einzelnen seiner Mitpatienten und brachte den¬ 
selben kleine Geschenke. 

Auf meine Bitte schrieb er eine eingehende, umfassende Darlegung 
seiner Krankheit nieder, aus welcher ich der Kürze halber lediglich ein¬ 
zelne Punkte herausgreife: Ersichtlich ist aus derselben, daß er schon vor 
meiner ersten Konsultation — bald 6 Jahre sind darüber verstrichen — 
das Gefühl einer sich einstellenden Geistesstörung hatte, auch spricht ein 
lebhaftes Krankheitsbewußtsein daraus, während für die Zeit nach dem 
Typhus durchaus von einer Einsicht in seine psychische Ab¬ 
normität die Rede sein kann. Für die Dauer der Typhuserkhankung und 
die Zeit kurz vor Einsetzen dieser körperlichen Störung besteht völlige 
Amnesie, während für den Verlauf des Anstaltsaufenthaltes das Gedächtnis 
ein völlig lückenloses, ich möchte sagen ganz hervorragendes ist. Er 
erwähnt einzelne Episoden aus dieser Zeit unter genauer Angabe des 
Datums mit einer solchen Ausführlichkeit, wie man so etwas unter keinen 
Umständen von ihm hätte erwarten können. Die Beschreibung seiner 
Spannungszustände, des Mutismus, der Wutausbrüche gibt er eingehend — 
ein Motiv dafür nennt er nicht (konnte es auch auf ausdrückliches Be¬ 
fragen meinerseits nicht geben). 

Ich habe dann weitere 6 Monate den Kranken beobachtet und kann 
behaupten, daß seine psychische Regsamkeit sich nicht verändert hat, 
daß aber der Defekt jedenfalls in einem absoluten Fehlen der Initia¬ 
tive zu suchen ist. Er schmiedet große Pläne, was er tun wolle, ist aber 
zu keiner Tätigkeit oder Arbeit zu bewegen. Ich glaube nun mit ziem¬ 
licher Sicherheit Voraussagen zu können, daß diese tiefe Remission in ab¬ 
sehbarer Zeit wieder ihrem Ende sich zuneigen wird und dann wohl ein 
analog schwerer psychotischer Zustand eintreten muß. 

Dürfen wir nun ans der zeitlichen Koinzidenz von Typhus 
mit andauerndem hohen Fieber und weitgehender Remission 
im Verlauf der Geistesstörung einen ursächlichen Zusammenhang 


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Fieber und Psychosen. 


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zwischen exogener Noxe und Veränderung des psychischen Ge¬ 
schehens erschließen? Es ist das naturgemäß eine Frage, auf 
welche eigentlich, wenn ich mich so ausdrficken darf, die ärztliche 
Individualität des einzelnen eine Antwort geben wird: der thera¬ 
peutische Nihilist wird keinen Zusammenhang erblioken, der 
hoffnungfreudige Symptomatiker wird einen solchen ohne Bedenken 
annehmen. Bei dem Fehlen genauer Kenntnis über das Wesen 
eines solchen Prozesses, wie ihn eine Gehirn- und Geisteskrankheit 
der Dementia praecox-Gruppe darstellt, kann auch tatsächlich von 
einer Beeinflussung im Sinne der pathologischen Anatomie keine 
Rede sein, und es darf lediglich die klinische Beobachtung und 
die Erfahrung in der Beurteilung psychotischer Zustände zu Worte 
kommen. Eine solche läßt mich hier wohl einen kausalen Zu¬ 
sammenhang zwischen Fieber bezw. Infektion und Zurficktreten 
evidenter psychotischer Erscheinungen annehmen. Es dürfte sich 
der Vorgang etwa derart abgespielt haben, daß die rein körperlich 
zu bewertende Infektion bezw. das Fieber durch Ergreifen 
des Zerebrums eine weitgehende Harmonisierung der 
durch die Psychose geschaffenen abnormen Geistes¬ 
funktionen bedingt hat, denn, daß gerade die schwere typhöse 
Erkrankung nach 3 V 2 jähriger Dauer des Seelenleidens diese 
Besserung hervorgernfen hat, muß aus dem rein Zeitlichen mit 
Bestimmtheit vorausgesetzt werden. Die eventuellen Gegenbedenken 
sind bereits oben hervorgehoben. 

Gehen wir nochmals auf den Charakter dieser geschilderten 
Seelenstörung ein, so finden sich einzelne durchaus zu beachtende 
Momente: als am meisten hervorstechend erscheint mir auf alle 
Fälle der Umstand, daß die ursprünglich angenommene schwere 
Demenz eigentlich im Sinne einer Pseudodemenz ausgelegt 
werden mußte, da sich späterhin das psychische Geschehen als 
ungestört erwies, und das geistige Kapital des Kranken im großen 
und ganzen intakt erscheint; wenn auch ein Defekt unverkennbar 
war, so spielte er sich immerhin auf dem Gebiet der Willens¬ 
handlungen, der Initiative, ab. Dieses ist als Tatsache keines¬ 
wegs neu und deckt sich mit der Anschauung und den Beob¬ 
achtungen vieler Autoren; es kann jedenfalls diese Verlaufsart als • 
weiterer Hinweis dienen, daß auch ein verschrobenes Gehirn *— 

16 * 


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Siebert, 


wenigstens für eine gewisse Zeit — in ein normales Gefüge ge¬ 
bracht werden kann, zum mindesten als Mahnung zur Vorsicht 
beim Operieren mit einer unbedingt schlechten Prognose der 
Dementia praecox 1 ). Dann sei weiter auf die ungemein detaillierte 
Erinnerungsfähigkeit des Kranken eingegangen, — wenn diese 
Eigenschaft auch erfahrunggemäß vielen, an einfachen Verblödungs- 
prozessen Krankenden erhalten bleibt, so läßt sich solches wohl 
in den meisten Fällen nur vermuten, jedoch nicht so eklatant be¬ 
legen, wie bei Moses D. Ich will bei dieser Gelegenheit nur auf» 
die von Rieger 2 ) neuerdings niedergelegte Ansicht aufmerksam 
machen, daß für den katatonischen Anfall, im Gegensatz 
zum epileptischen, wohl fast nie Amnesie vorhanden ist — 
eine Tatsache die, glaube ich, vielleicht nur zu wenig Berück¬ 
sichtigung und Beachtung gefunden hat, und an der katatonen 
Erkrankung des D. können wohl guterdings keine Zweifel bestehen. 
Abgesehen von der Eindeutigkeit der Symptome und dem charakte¬ 
ristischen Verlauf können eine psychogen-hysterische Störung oder 
gar eine affektive Psychose sicher ausgeschlossen werden. Nun 
ist ja zu berücksichtigen, daß von Liepmann und Bonhöffer ®) 
Schilderungen degenerativer psychotischer Affektionen entworfen 
worden sind mit ausgesprochen stuporösem Charakter, welche 
durchaus katatonieähnliche Erscheinungen darboten, indes eine 
anscheinend günstige Verlaufsart nahmen. Diese Zustände sind 
vornehmlich bei östlichen Juden beobachtet worden und zeigten 
nach jeder Richtung hin psychogene Beeinflußbarkeit. In einer 
demnächst erscheinenden Arbeit habe ich auch auf diese Fälle, 
unter Zugrundelegung der Ausführungen obengenannter Autoren, 
hingewiesen und selbst zwei Krankenbeschreibungen ähnlicher Art 
gegeben 4 ). Ich glaube nun zwar wohl, daß vielfach auch nach 
Jahren erst der weitere Verlauf des psychischen Geschehens uns 
darüber Aufklärung geben kann, ob in der Tat eine psychogen 
bedingte Störung oder eine Katatonie im Sinne allgemein psychi- 

*) Vgl. Bleuler, Dementia praecox. 1911, S. 209 fl. 

2 ) Heft IX der Arbeiten aus der psych. Klinik zu Würzburg, S. 5. 

3 ) NeuroL Ztbl. 1917, S. 251. Vereinsberichte. 

4 ) Studien über die Kriminalität Geisteskranker. Psych.-neurol. 
Wschr. 


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Fieber and Psychosen. 


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atriseher Diagnostik vorliegt, doch ist in dem hier eingehend ge¬ 
schilderten Fall solch eine Möglichkeit kaum anzunehmen and 
einstweilen durch nichts zu begrönden. — 

Außer den oben angeführten Infektionen, welche meine An¬ 
stalt epidemisch heimsuchten, habe ich noch in großer Anzahl 
sporadisch anftretende fieberhafte Prozesse beobachtet, wie solche 
in psychiatrischen Instituten häufig vorzukommen pflegen, als 
Furunkulose, Erysipelas, durch Traumen bedingte Vereiterungen, 
Abszesse usw. Auch aus dieser reichen Kasuistik habe ich auf 
einen ursächlichen Zusammenhang lediglich in einem einzelnen Fall 
fahnden können, der im folgenden kurz beschrieben werden soll. 

Cila H., 26 Jahre alt, Jüdin. Wurde im Mai 1913 in sehr erregtem 
Zustande nach der Geburt ihres zweiten Kindes aus einer benachbarten 
Kleinstadt eingeliefert. Die Vorgeschichte ergab, daß zwei altere Schwestern 
im Älter von etwa 20 Jahren geisteskrank wurden und in kurzer Zeit 
schwer verblödeten, eine starb bald an Tuberkulose, die andere wird zurzeit 
in einer Pflegeanstalt gehalten. Die Mutter soll eine streitsüchtige, reiz¬ 
bare, aber nicht geisteskranke Person sein, sonstige belastende Momente 
sind nicht gegeben. Entwicklung, Kindheit und Pubertät der H. ohne 
Besonderheiten. In bezug auf Schulbesuch und Lernfähigkeit läßt sich 
nichts Wesentliches sagen, da die Pat. den niedersten und ungebildetsten 
Schichten der jüdischen Bevölkerung entstammt, sie hat jedenfalls sich 
immer als fleißig und strebsam erwiesen. Mit 23 Jahren Heirat. Erste 
Gravidität im 2. Jahre der Ehe. Niederkunft im April 1912. Bald nach 
der Geburt wurde die H. weinerlich und ängstlich, sprach vom Sterben, 
glaubte nicht mehr gesund werden zu können. Schon damals glaubte der 
hinzugezogene Landarzt ein Gemütsleiden annehmen zu müssen und riet 
zur spezialistischen Behandlung, doch trat nach etwa 14 tägiger Dauer 
plötzlich eine fieberhafte Venenentzündung auf, welche einen Transport 
unmöglich machte. Mit Zurückgehen der Phlebitis stellte sich auch eine 
evidente Besserung der psychischen Alienation ein. 

Im April 1913 zweite Geburt. Schon in den ersten Tagen nach 
derselben fiel eine allgemeine Unruhe auf, die Kranke sprach verwirrt, 
schien die Personen zu verkennen und konfabulierte. Die Erregung 
steigerte sich zusehends, so daß ihre Überführung in die psychiatrische 
Abteilung erforderlich erschien. Hierselbst präsentierte sich eine amentia- 
ähnliche Geistesstörung; lebhafte Unruhe, Verwirrtheit, uncharak¬ 
teristische Ideenflucht, Neigung zu Klangassoziationen, Schlaflosigkeit. 
Rein manische oder katatonische Züge waren nicht nachzuweisen. Die 
Hyperkinese hielt unverändert etwa 4 Wochen an; es war Verabreichung 
starker narkotischer Mitte! und Isolierung zeitweise erforderlich. Darauf 
wurde die Patientin von einer Mitkranken so heftig zu Boden geschleudert. 


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Siebert, 


daß hinter dem rechten Ohr ein großer Defekt der Kopf schwarte 
entstand. Nach 3 weiteren Tagen, innerhalb deren die schwere Erregung 
fortbestand, stellten sich hohe Temperaturen infolge weitgehender Ver- 
eiterung der Wunde ein, das Fieber sank dann in ungefähr 7 Tagen mit 
der Reinigung der Wunde, und gleichzeitig trat in ganz kurzer Zeit eine 
vollkommene Beruhigung ein, wobei die Psyche sich gänzlich ordnete. 
Die Kranke erlangte ihre Orientierung wieder und bekundete nach ein¬ 
gehender Aussprache über die Zeit der psychischen Störung eine unver¬ 
kennbare Krankheitseinsicht. Für die Dauer von der Geburt bis zur Ge¬ 
nesung bestand totale Amnesie, sie konnte keine Vorstellungen über 
diese Episode bilden und gab nur an, ein Gefühl allgemeinen Wohlbefindens 
für dieselbe zu besitzen. Über irgendwelche Sinnestäuschungen war nichts 
von ihr zu eruieren. Bald darauf erfolgte die Entlassung, ohne daß weiterhin 
irgendwelche psychotische Erscheinungen gezeigt wurden. 

Juni 1915 3. Entbindung, in deren Folge prompt eine schwere 
Erregung einsetzte, und zwar wesentlich stärker als nach der 2. Geburt. 
Die sprachlichen Äußerungen fehlten jetzt völlig, nur war die Hyperkinese 
viel ausgeprägter, dabei bestand eine unverkennbare Neigung zu Gewalt¬ 
tätigkeiten gegen die Personen ihrer Umgebung. Die Verwirrtheit war 
so hochgradig, daß die Kranke unter sich machte und mit Mühe zu ihren 
Verrichtungen angehalten werden konnte, auch war es schwer, sie zu 
füttern. Dieser Zustand hielt 8 Wochen unverändert an, darauf stellten 
sich Rötung und Schwellung des linken Oberarmes ein, die sich bis über 
die Schulter hinauszogen. Gleichzeitig entwickelte sich hohes Fieber 
40°, und es deklarierte sich das typische Bild des Erysipels. Dauer der 
Erkrankung 12 Tage, darauf Abszedierung oberhalb des Ellenbogen¬ 
gelenks, Inzision, langsame Heilung. Auf der Höhe des Erysipels schienen 
sichtlich deliriöse Prozesse aufzutreten, sie schrie laut, hörte Kanonen¬ 
donner, griff um sich und gestikulierte wild. Mit Abklingen des Fiebers 
umgehende Aufhellung des Sensoriums, Restitution der Orientierung und 
überhaupt des psychischen Geschehens in seine normalen Bahnen, ohne 
Hinterlassung eines nachweisbaren Defektes. Auch jetzt völlige Amnesie 
für die Dauer der Psychose. 

1916 im Juli 4. Geburt, im Anschluß daran eine der vorher¬ 
gehenden analoge psychische Erkrankung. In der 6. Krankheits¬ 
woche Dysenterie mit hohem remittierendem Fieber, ohne daß die Geistes¬ 
störung dadurch beeinflußt worden wäre. Genesung von derselben bei 
Fortdauer der psychotischen Erscheinungen, nach feinem weiteren Monat 
eine rechtsseitige Mastitis mit beträchtlicher Hyperpyrese, deren Aus¬ 
heilung wiederum von promptem Abklingen der Geisteskrankheit be¬ 
gleitet war. — 

Hier haben wir eine Psychose vor uns, welche einerseits sich 
unmittelbar im Anschluß an ein Puerperium entwickelte, 


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Fieber und Psychosen. 


225 


andererseits eine unverkennbare Periodizität in sieh barg und 
dann, jedenfalls was das rein Zeitliche anbetrifft, bei allen Attacken 
mit dem Eintritt einer eitrigen, fieberhaften Erkrankung zum 
Schwinden kam. Wiederum liegt die Frage vor: zufälliges oder 
ursächliches Zusammentreffen? Dabei erscheint es auffallend, daß 
bei der vierten letzten Attacke die Ruhr mit ihrem hohen Fieber 
die Psychose unbeeinflußt ließ, und erst mit Auftreten der Mastitis 
die Wiederherstellung erfolgte. Anscheinend ist die Geisteser¬ 
krankung noch nicht in einem Stadium gewesen, wo Fieber resp. 
Toxinwirkung imstande waren die „latente Normalität“ hervor¬ 
zurufen 1 ), denn daran muß festgehalten werden, daß die äußeren 
Bedingungen nur die Rolle fördernder Momente besitzen, nicht 
jedoch die heilender, — Zeitpunkt des Fiebers, Schwere der In¬ 
fektion usw. sind Fragen, welche sichtlich den rein endogenen Fak¬ 
toren gegenüber von untergeordneter Bedeutung sind, und daher 
glaube ich, daß sowohl bei affektiven als auch intellektuellen 
Seelenstörungen es sich niemals mit Bestimmtheit sagen lassen 
wird, ob und wann exogene Bedingungen in der Lage sind, den 
Charakter und die Verlaufsart der Psychose zu beeinflussen. Ich 
setze aus diesem Grund voraus, daß wir in der Erzeugung von 
künstlichen gesteigerten Temperaturen mittels Tuberkulin, Pepton, 
Natrium nucleinioum und anderer Mitteln selten bei dieser Art von 
Geistesstörungen Besserungen hervorrufen werden, um so mehr, 
als uns weder die Pathogenese der Geisteskrankheiten, noch die 
Art der eventuell bessernden Prozesse selbst bekannt sind. 
Während bei der progressiven Paralyse die Empirie sicher mehr 
positive Erfolge gezeitigt hat, geben die Erfahrungen bei den ein¬ 
fachen Seelenstörungen wohl kaum genau kontrollierbare Anhalts¬ 
punkte. Nehmen wir die vielen Epidemien und die zahlreichen 
Einzelerkrankungen mit hohen Temperaturen, so finden wir immer 
nur seltene Fälle, wo man an eine direkte Heilwirkung glauben 
möchte, am Gros geht das Fieber anscheinend spurlos vorüber. 
Betrachten wir aber umgekehrt das Bild, so sehen wir, daß bei 
Massenerkrankungen Geistesgesunder wiederum auch nur ein 
kleiner Bruchteil im Anschluß an die Infektion psychisch erkrankt, 


*) Rienecker. Allg. Ztsch. f. Psych. 1873. 


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Siebert, Fieber and Psychosen. 


•und daß dabei keineswegs Erschöpfung, Schwere der infektiösen 
Erkrankung oder familiäre Belastung allein den Ausschlag geben 1 ). 
So interessant diese Probleme sind, so unklar gestalten sie sich 
auch und bedingen auf alle Fälle ein eingehendes, noch keines¬ 
wegs abgeschlossenes Studium, ehe man sie anerkennt oder ab¬ 
lehnt. Eine Verarbeitung des einschlägigen Materials kann daher 
nur der weiteren Klärung dieser Probleme zunutze kommen. 


*) Bonhöffer. Infektionspsychosen. 1912. U. Siebert, Zur Klinik 
der Geschwisterpsychosen anscheinend exogenen Ursprunges. 


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Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken 1 ). 

Von 

Dr. Georg Barth, 

Arzt der Lungenheil- and Heimstätte an der Landesanstalt Zschadraß. 

In gleicher Weise, wie in der freien Bevölkerung der alte 
Volksfeind, die Tuberkulose, während des Krieges stetig an wachsend 
eine erhebliche Ausdehnung angenommen hat, ist er auch in unseren 
Irrenanstalten in einem Maße eingefallen, das den Anstaltsarzt 
mit Besorgnis die verheerenden Wirkungen an den gelichteten 
Reihen seiner Pfleglinge betrachten läßt. Falsch aber wäre es, 
Fehlschläge in den Abwehrmaßregeln mit Gründen zu ent¬ 
schuldigen, die, durch die Kriegsverhältnisse bedingt, außerhalb 
unseres Einflusses liegen, und eine gewisse resignierte Tatenlosigkeit 
Platz greifen zu lassen. Uns steht genügend Rüstzeug zur Ver¬ 
fügung, der Tuberkulose auch in den Irrenhäusern wirksam eht- 
gegenzutreten, der wichtigste Grundsatz der Tuberkulosebekämpfung 
heißt auch hier „Vorbeugen“, und die Frühdiagnose hat die 
allergrößte Bedeutung, sie kann über das Schicksal des 
Kranken direkt entscheidend wirken. 

Sicherlich dürfen die Schwierigkeiten nicht verkannt werden, 
die sich einer frühzeitigen Feststellung der Lungentuberkulose ent¬ 
gegenstellen können, die oftmals erst durch wochenlange Beob¬ 
achtungen möglich ist. Eine einmalige Untersuchung vermag in 
Frühfällen nur sehr selten etwas Positives auszusagen. Die 
Hindernisse, die sich bereits bei der Früherkennung an Geistes¬ 
gesunden darbieten können, häufen sich gegenüber unsern Geistes¬ 
kranken in oft recht erheblichem Maße. Wer sich bemüht hat, 

1 ) Aus der Landesanstalt Zschadraß bei Colditz, Sa. (Direktor 
Obermedizinalrat Dr. Dehio). 


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Barth, , 


bei Irren genauere klinische Lungenbefunde zn erheben, weiß wohl, 
daß dies durch mannigfache Umstände sehr erschwert sein kann, 
ja die Untersuchung wird bei Unruhe, Erregung oder Widerstreben 
von seiten des Kranken oftmals überhaupt unausführbar bleiben. 
Große Geduld und Ausdauer werden aber auch bei solchen Kranken 
schließlich doch noch ans Ziel führen. 

Jeder Lungenuntersuchnng hat die Besichtigung des ge¬ 
samten Menschern und dann vornehmlich der Brust vorauszugehen. 
Hierbei ist zu achten auf- die Form des Brustkorbes, seine Breite 
und Tiefe, auf Verbiegungen der Wirbelsäule, Einziehungen der 
Weichteile, Vergleich beider Brusthälften beim Atmen. Schon 
hieraus erhält man nicht selten wertvolle Fingerzeige über den 
Sitz oder den Ausgangsort der Krankheit und das Maß etwaiger 
Schrumpfungen. Nicht unwichtig 10 erscheint ferner die neuer¬ 
dings wieder von Gutstem betonte Prüfung der Algesie, die 
namentlich bei akuteren, sich nicht zu weit von der Oberfläche 
abspielenden Prozessen wertvolle Aufschlüsse gibt 9 . 

Es gelingt oft, durch bloßes Betasten der Brustwand aus'dem 
Zusammenzucken oder schmerzvollen Verzerren des Gesichtes des 
Kranken überraschende Schlüsse über den Sitz des Krankheits¬ 
herdes zu ziehen; dasselbe geschieht mitunter beim Perkutieren 
oder beim Aufsetzen des Hörrohrs. Hierbei bemerkt man nicht 
selten, daß der Kranke namentlich bei kräftigerem Druck mit dem 
Stethoskop husten muß; auch das läßt mit ziemlicher Sicherheit 
auf einen unter der Aufsatzstelle befindlichen entzündlichen Lungen¬ 
herd schließen, (hitstein kommt auf Grund dieser Beobachtungen 
zu dem Schluß, daß in den Brustmuskeln der Phthisiker myalgische 
Veränderungen vorhanden sind, die mit dem benachbarten Lungen¬ 
herde in direktem ursächlichen Zusammenhang stehen. Auch 
G. Rosenbach 10 führt die bei Lungenkranken häufig beob¬ 
achteten Myalgien der äußeren Brustmuskeln auf die bestehende 
Tuberkulose zurück. Beim Perkutieren der Lungen wird oft der 
Fehler begangen, daß die Klopfstärke zu kräftig gewählt wird. 
Empfehlenswert ist möglichst leise Perkussion; freilich verführen 
die oft abnormen Spannungsverhältnisse bei vielen unserer Kranken 
zur lauten Beklopfung. Viele initiale Meine Herde entziehen sich 
bei der zu starken Beklopfung unserer Beobachtung. Bei der 


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Tuberkuloseerkenmmg bei Geisteskranken. 


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Untersuchung der Lungenspitzen ist, wenn angängig, anf die Be¬ 
stimmung der ITrömgrschen Sehallfelder Wert zu legen, die sieh 
wie zwei breite, hellen Lungenschall ergebende Bänder über die 
Schulterwölbung hinwegziehen. Insbesondere muß ein Tieferstehen 
der medialen Grenze als /verdächtig angesehen werden. * Beim 
Beklopfen können zuweilen durch abnorme Muskelspannungen, die 
manchen Krankheitsformeo eigentümlich sind, Schallverkürzungen 
oder Dämpfungen vorgetäuscht werden dort, wo sicher keine sind; 
andererseits kann aus derselben Ursache der Nachweis kranker 
Herde an der Lunge unmöglich sein. 

Die Feststellung des Atmungsgeräusches begegnet zu¬ 
weilen noch erheblicheren Schwierigkeiten; viele Geisteskranke 
lassen sich zu regelmäßigem tiefem Atmen überhaupt nicht be¬ 
wegen. Pieselben Hindernisse treten bei der Prüfung des Stimm- 
fremitus und der Flüsterstimme auf. Daß Eigengeräusche des 
Hörrohrs, falsches Aufsetzen desselben, sowie abnorm starke Be¬ 
haarung des zu Untersuchenden namentlich dem Anfänger irrige 
Schlüsse beizubringen vermögen, soll hier nicht unerwähnt bleiben, 
auch daß bei Druck auf einen Muskel entstehende fibrilläre 
Zuckungen imstande sind, schabende und knarrende Geräusche 
an der Lunge vorzutäuschen. 

Die Untersuchung des Auswurfes ist bei unsem Irren 
wohl in den meisten Fällen ein unmögliches Ding, denn die Mehr¬ 
zahl der Kranken schluckt ihn hinunter. Wir wissen, daß eine 
große Zahl Tuberkulöser, vornehmlich die Verblödeten, überhaupt 
nie husten, selbst nicht bei fortgeschrittener Krankheit oder sogar 
bei starker Beteiligung der Pleura oder des Kehlkopfes. Es folgt 
hieraus, daß dieses landläufige Symptom einer Erkrankung der 
Atmungswege bei Irren in der Bewertung gleich anderen, unter 
normalen Verhältnissen wichtigen Krankheitszeichen niedrig steht. 

Auch das sonst so wichtige diagnostische Hilfsmittel der 
Röntgenuntersuchung vermag uns in der Erkennung der Tuber¬ 
kulose nicht zu fördern. Denn erstens wird wohl nur in wenigen 
Anstalten ein Röntgenapparat zur Verfügung sein, und wenn er 
es ist, so erhebt sich noch die Frage, ob gleichzeitig ein Arzt vor¬ 
handen ist, der hinreichend bewandert ist in der Deutung rönt¬ 
genologischer Lungenbefunde, die namentlich bei Initialfällen nicht 


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Barth, 


immer leicht ist. Außerdem dürften sich hier noch mehr als bei 
den anderen einfacheren Untersuchnngsmethoden die Schwierig¬ 
keiten von seiten des Kranken in verstärktem Grade darbieten. 

Wir sehen somit, daß uns die sonst geübten klinischen Unter- 
snchnngsmethoden bei der Untersuchung Geisteskranker auf ihren 
Lungenzustand nicht überall hin mit Verläßlichkeit folgen, ja die 
Tuberkulose kann sich mangels jeglichen verdächtigen Merkmals 
trotz weiteren Fortgeschrittenseins lange Zeit unserer Kenntnis 
gänzlich entziehen, wie der von Geist 8 angeführte Fall dartut, 
indem ein abweisender Paranoiker scheinbar aus bestem Wohl¬ 
befinden heraus an einer Lungenblutung urplötzlich zugrunde ging, 
bei dem die Sektion eine große Kaverne eigab. Um so mehr gilt 
es, auf jedes verdächtige Symptom peinlich zu achten. 

Allmählich sich entwickelnde Blässe, müder Gesichtsausdruek, 
schlaffes Verhalten bei sonst lebhaften Kränken, Appetitmangel, 
der sich bis zur Nahrungsverweigerung steigern kann, vor allem 
aber auch Abnahme des Körpergewichts, sollen den Irrenarzt ver¬ 
anlassen, den Kranken unter ganz besonderer Obhut zu behalten 
und seine Lungen einer sorgfältigen Beobachtung zu unterziehen. 

Hier ist der Beginn der Vorbeugungsmaßregeln bereits scharf ge¬ 
zeichnet. Bei solchen verdächtigen Fällen sind wöchentlich regelmäßige 
Wägungen unerläßlich. Ist gar eine andere Infektionskrankheit vorauf¬ 
gegangen, so ist eine eingehende Beobachtung des Kranken besonders 
angezeigt. Das gilt vor allem für Rekonvaleszenten nach Grippe und 
Ruhr. Es muß bei der bisherigen Grippeepidemie auffallen, daß die 
Tuberkulösen auch in den Irrenhäusern gar nicht oder nur wenig erstens 
einmal zur Erkrankung an Grippe disponiert schienen, daß zweitens aber 
der Einfluß derselben auf eine bestehende Tuberkulose weder im Sinne 
einer Reaktivierung alter Herde noch einer Verschlimmerung eines mani¬ 
festen Prozesses erheblich war. Diese Feststellung befindet sich in scharfem 
Gegensätze zu Beobachtungen bei früheren Epidemien, bei denen tuberku¬ 
löse Lungenerkrankungen nach Grippe sehr häufig und gefürchtet waren 
(Rotty 15 ). Über die Zusammenhänge der Ruhr mit der Tuberkulose 
läßt sich Bestimmtes nicht sagen, doch will es nach den neuesten Beob¬ 
achtungen (Dehio •) scheinen, daß die erstere der letzteren in erheblichem 
Grade den Boden bereite. Dehio fand weiter eine wesentlich größere Be¬ 
teiligung der Frau an der Ruhrerkrankung gegenüber dem Manne. Es 
liegt nicht fern, aus dieser und aus weiter noch zu erörternden Tatsachen 
eine allgemeine größere Gefährdung der Frau herzuleiten und zu sagen, 
daß weibliche Ruhrkranke besonders geneigt zu tuberkulösen Manifesta- 


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Tuberkoloseerkennung bei Geisteskranken. 


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tionen sind, wie der obige Autor darlegt. Hier ist der Ort, wo an der Er¬ 
örterung der Frage der Ätiologie der Irrentuberkulose nicht vorüber- 
gegangen werden kann. Liegt die Ursache für die Tuberkuloseerkrankung 
in den Anstaltsverhältnissen begründet? Diese Frage ist von Loew 18 
untersucht und für die von ihm beobachteten Verhältnisse verneint worden. 
Wir können dies auf Grund unserer Erfahrungen bestätigen. 

Die Tuberkulose manifestiert sich bald bei einem langjährigen 
Insassen, bald tritt sie bei dem erst wenige Wochen oder Monate 
in Anstaltspflege Befindlichen in die Erscheinung. Ein Faktor, 
der für eine größere Zahl tuberkulös gewordener in Rechnung zu 
stellen ist, mag die aus verschiedenen Gründen während des Krieges 
notwendig gewordene engere Zusammenlegung der Kranken sein, 
mit der daraus hervorgehenden größeren Möglichkeit der Über¬ 
tragung des Tuberkulosevirus, doch wird dies nur für verhältnis¬ 
mäßig wenige Fälle zutreffen. Die allergrößte Zahl unserer 
Anstaltstuberkulosen sind alte Prozesse, die in das 
Zeichen der Reaktivierung getreten sind. Durch das Zu¬ 
sammenwirken verschiedenartiger, teils innerhalb, mehr aber außer¬ 
halb des Kranken liegender Ursachen ist die Latenz des Leidens 
durchbrochen worden. Wir werden weiterhin erkennen, daß die 
Immunisierungsvorgänge, die der Körper der früher, meist schon 
in der Kindheit erworbenen Tuberkuloseinfektion entgegensetzt, 
unter dem Einfluß der Kriegsverhältnisse beeinträchtigt oder ganz 
erloschen sind. Dafür, daß für die überwiegende Zahl der Fälle 
der Zeitpunkt der Ansteckung im Kindesalter zu suchen ist, 
fehlt es nicht an Beweisen (13). Bei einer nicht geringen Zahl 
?on Geisteskranken werden wir mit einer primären Minder¬ 
wertigkeit des Gesamtorganismus zu rechnen haben. Wie schon 
beim Geistesgesunden Nervensystem und Psyche eine erhebliche 
Rolle im Zustandekommen einer Tuberkuloseerkrankung spielen, 
besonders im Kriege, so ist das noch mehr der Fall bei den 
Geisteskranken. 

Hier kann die Psychose vielfach direkt als auslösendes 
Moment erachtet werden. Letzteres kann in verschiedener Ge- 
stalt zur Wirkung kommen. 

Es ist klar ersichtlich, daß bei ohnehin nicht vollwertigen Menschen, 
die im Kriege zudem noch unter ungünstige Lebensbedingungen gesetzt 
sind, Erregungszustände aller Art die Kräftebilanz im Körper in 


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erheblichem Maße schädigen und schon ohne das Hinzutreten weiterer 
ungünstiger Einflüsse den Organismus in den Zustand herabgesetzter 
Widerstandsfähigkeit bringen müssen, so daß hier der Aktivierung der 
Tuberkulose Tür und Tor geöffnet ist. Daß es oft Erregungszustände 
sind, die einen schlummernden Herd erwecken, erhellt daraus, daß wir bei 
vielen unserer Kranken, sobald sie in ein Erregungsstadium getreten waren, 
alsbald die Kennzeichen der aktiven Tuberkulose bemerkten, die zurück¬ 
traten oder ganz verschwanden, wenn der Kranke sich nach einiger Zeit 
beruhigte. Auch aus dieser schwankenden Kurve der Erscheinungen geht 
der tiefgreifende Einfluß der Erregungszustände auf die Tuberkulose ein¬ 
deutig hervor und verleiht erneut dem Schluß Beweiskraft, daß die Lungen¬ 
tuberkulose der Geisteskranken meist schon sehr früh erworben wurde, 
dann längere oder kürzere Zeit schlummerte und dann infolge psychischer 
Erkrankung manifest wurde. 

Eine zweite Grundlage für das Zustandekommen einer tuberkulösen 
Erkrankung bietet der Stupor. Hier mögen Unreinlichkeit, stumpfes 
Verhalten, Verkriechen des Kranken unter die Bettdecke, das ungenügende 
Durchlüftung der Lungen bewirkt, sodann Schwierigkeiten in der Nah¬ 
rungsdarreichung, die sich bis zur Nahrungsverweigerung auswachsen 
können, die Ursache abgeben, daß die Latenz des Leidens aufgehoben 
wurde. 

Hiermit kommen wir auf diejenige Ursache der Tuberkuloseerkran¬ 
kung zu sprechen, die wohl als das durch den Krieg unmittelbar bedingte 
ätiologische Moment zu erachten und für die Entstehung der Irrentuberku¬ 
lose obenan zu setzen ist: die Unterernährung. Sie ist teils eine 
quantitative, teils eine qualitative, wie wir alle am eigenen Leibe kennen¬ 
gelernt haben. Wen wir einerseits vor Augen haben, welche gewaltige 
Mengen Nahrung zu üppigeren Zeiten viele unserer Kranken zu sich zu 
führen vermochten, die jetzt aufzubringen wir nirgends und in keiner.Weise 
in der Lage sind, wenn wir andererseits erwägen, daß der qualitative Wert 
der Kost infolge der durch die Aushungerungspolitik unserer Feinde zu¬ 
tagegetretenen Kriegsverhältnisse niedrig ist, ein Umstand, der bei Kran¬ 
ken mit geringerer Eßlust noch mehr ins Gewicht fällt, so liegt die Ur¬ 
sache zu Bilanzstörungen im Körperhaushalt, die der Tuberkulose den 
Boden bereiten, auf der Hand. 

Nicht ganz einheitlich beurteilt wird der Zusammenhang zwischen 
Krämpfen und Tuberkulose. Es will scheinen, als ob die Erkrankungs¬ 
möglichkeit an letzterer überschätzt wird. 

Hatte die uns benachbarte Epileptikeranstalt Hochweitzschen schon 
im Frieden eine geringe Tuberkulosesterblichkeit, so steht diese auch jetzt 
im Kriege im Verhältnis zu derjenigen bei andern Geisteskrankheiten 
niedrig. Immerhin dürfen wir nicht von der Hand weisen, daß bei einem 
Latenttuberkulösen schwere und häufige epileptische Anfälle die Mani¬ 
festation tuberkulöser Erscheinungen beschleunigen können, so daß wir 


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Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken. 


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imstande sind, mit F&ri 11 zu sagen, daß Schwere und Häufigkeit der 
Anfälle zum Ausbruch einer Tuberkulose disponieren. 

Daß das Senium weit mehr zur Tuberkuloseerkrankung geneigt 
macht, als früher angenommen, sehen wir an der Häufigkeit derselben 
bei alten Personen im Kriege. 

Schon Cornet * und F. Müller 14 haben auf diese Tatsache hinge¬ 
wiesen, und Geigel 1 betont erneut, daß der Marasmus in vorgerückten 
Jahren eine wichtige, vorbereitende Rolle zu spielen imstande ist. 

Wenn wir sahen, daß wir hinsichtlich der subjektiven Angaben, 
nicht minder aber bei Ausfibung der gebräuchlichen Untersuchungs¬ 
methoden bei vielen unserer Geisteskranken zum Zwecke der früh¬ 
zeitigen Tuberkuloseerkennung oft wenig Positives fördern, so 
wollen wir darzulegen versuchen, welche Hilfsmittel uns hierbei 
mit größerer Verläßlichkeit unterstützend zu folgen vermögen. 

Von größter Bedeutung ist die Temperaturmessung. Jede 
fortschreitende Lungentuberkulose, auch im ersten Initialstadium, 
geht mit einer Erhöhung der Temperatur einher. Charakteristisch 
für die langsam sich entwickelnde Tuberkulose sind nicht hohe 
Fiebergrade, sondern subfebrile Temperaturen, welche gewöhnlich 
am Spätnachmittag aufzutreten pflegen. Da es sich bei der be¬ 
ginnenden Tuberkulose um geringe Abweichungen handelt, so sind 
genaue Messungen erforderlich. Wo es sich durchführen läßt, 
sollen rektale Messungen ausgeführt werden. Bei dieser gelangen 
die verdächtigen subfebrilen Temperaturen, die bei den gewöhnlich 
geübten Achselhöhlenmessungen nicht entdeckt werden, eindeutig 
zur Darstellung 1 . Der Tuberkulose eigentümlich ist ferner die 
große Labilität der Temperatur. Nach körperlichen Anstrengungen 
geht diese gewöhnlich weiter in die Höhe und hält sich länger 
auf dieser als beim Gesunden. Das ist bei der Messung unserer 
Kranken wichtig insofern, als Temperaturbestimmungen nach Be¬ 
wegung bei Irren, besonders bei Erregten, keinen Wert besitzen. 
Im allgemeinen ist nur dann mit Sicherheit auf ein richtiges Er¬ 
gebnis zu zählen, wenn man .die Temperatur nach halbstündiger 
völliger Ruhe bestimmt. Nicht minder beachtenswert als die 
abendlichen febrilen und subfebrilen Steigerungen ist das Verhalten 
der Morgentemperaturen. Sind diese (im Darm gemessen) noch 
über 37°, so besteht der Verdacht auf einen progressiven tuber¬ 
kulösen Lungenherd, auch wenn die im Laufe des Tages vor- 


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genommenen Messungen 37,6° nicht fiberschreiten. Das Herunter- 
gehen der Morgentemperatnr bei der Lungentuberkulose ist ge¬ 
wöhnlich das erste Zeichen der eintretenden Besserung, dem 
dann auch das Herabsinken der Abendtemperaturen folgt 2 . Daß 
regelrecht durchgeffihrte Messungen der Temperatur bei Geistes¬ 
kranken oft sehr schwierig anzustellen sind und an Verständnis, 
Geschicklichkeit und Ausdauer des Pflegepersonals sehr hohe An¬ 
forderungen stellen, soll nicht verkannt werden. 

Von nicht geringer Bedeutung für die Frühdiagnose bei Frauen 
sind die Temperatursteigerungen, die im Zusammenhang mit der 
Menstruation auftreten. 

Auf die einzelnen Typen des menstrualen Fiebers bei Tuber¬ 
kulösen einzugehen, ist hier nicht der Ort. Es sei hier gesagt, 
daß genaue Messungen bei verdächtigen Fällen während der 
Menses großen Wert besitzen und daß es mit ihrer Hilfe gelingt, 
manchen initialen Fall zu entlarven. Auch die anderen klinischen 
Symptome gewinnen während der Menses nicht selten an Deut¬ 
lichkeit, weshalb klinische Untersuchung gerade während der 
Periode anzuraten ist. Turban 16 hat oft während derselben 
Bazillen gefunden, während im Intervall keine festzustellen waren. 
Mir selbst gelang es unlängst bei einer vorher unverdächtigen 
Katatonika, die während der Menses subfebrile Temperaturen auf¬ 
wies, über dem rechten Oberlappen deutliche infiltrative Ver¬ 
änderungen (leichte Dämpfung und kleinblasige klingende Rassel¬ 
geräusche) nachzuweisen, die nach den Menses alsbald nahezu ver¬ 
schwanden, um bei den nächsten erneut verstärkt in die Erscheinung 
zu treten. Ist an sich der Einfluß den Menses auf die Vasamotoren 
ein gewaltiger, so macht sich dieser besonders da bemerkbar, wa 
ein Locus minoris resistentiae vorhanden ist. Andererseits sind 
die Tuberkulotoxine starke Vasamotorengifte. Es summieren sich 
also hier zwei Schädlichkeiten, die in gleicher Richtung wirken. 
Kongestion führt zu Giftresorption, zur Intoxikation. Es ist ferner 
bekannt, daß die Tuberkuloopsonine sich unmittelbar vor den 
Menses im Blute vermindern, woraus erhellt, daß ffir die Frau 
die Menstruation eine kritische Phase bedeutet, vor allem, wenn 
bei ihr Neigung vorhanden ist, ihre Latenz zu verlieren. 

Ffir viele lungenkranke Frauen stellt die Menstruation 
in der Tat eine Komplikation ihrer Krankheit dar. 


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Taberknloseerkennong bei Geisteskranken. 235 

Einen nicht geringen Wert messen wir weiterhin der bio¬ 
logischen, kutanen Tnberknlinreaktion nach von Pirquet 
bei, und zwar in diagnostischer, prophylaktischer und prognostischer 
Hinsicht. Sie unterrichtet nicht Aber den Sitz der Tuberkulose, 
sie zeigt lediglich an, daß der Körper irgendwie, irgendwann mit 
Tuberkelbazillen infiziert und die Haut durch die eingetretene 
Toxinbildung seitens des Tuberkuloseherdes im Körper über¬ 
empfindlich geworden ist 8 . Es reagieren also außer den mani¬ 
festen Tuberkulosen auch die klinis ch nicht Tuberkulösen. Im 
Zusammenhang mit dem klinischen Krankheitsbild gewinnt die 
Kutanreaktion an Bedeutung. Ist sie stark positiv, so fordert sie 
zu besonders eingehender Beobachtung des Kranken auf. Nega¬ 
tiver Ausfall spricht im allgemeinen für Freisein von Tuberkulose, 
doch kann die Probe trotz klinisch nachweisbarer Zeichen negativ 
bleiben, und zwar hat dies seinen Grund in gewissen allgemeinen 
konstitutionellen Veränderungen des Organismus. 

Regelmäßig versagt die Hautreaktion bei fortgeschrittenen 
Fällen im dritten Stadium der Turban-Oerhardt sehen Einteilung. 
Die Erklärung ist in der aufgehobenen Fähigkeit zu erblicken, 
Immun- bezw. Abwehrstoffe zu bilden. Sieht man von diesen Aus¬ 
nahmefällen ab, so ist im übrigen der diagnostische Wert der 
Kutanreaktion groß. Für die Impfung eines großen Krankenmate¬ 
rials ist die Methode nach von Pirquet, wie sie auch in anderen 
Anstalten, so Altscherbitz, Kosten, bereits früher durchgeführt 
worden ist, ganz besonders geeignet, denn sie kann auf alle Ver¬ 
hältnisse ausgedehnt werden und ist einfach anzustellen. Lege 
artis ausgeführt, ist sie ein gänzlich ungefährlicher Eingriff, der 
ohne alle Beschwerden, ohne Fieber, ohne lokale oder allgemeine 
Störungen und ohne Komplikationen verläuft. Wir haben in 
Zschadraß die Impfung bei 431 Anstaltsinsassen ausgeführt 
nach der Vorschrift, die ich wohl als bekannt voraussetzen darf 
und die in jedem Lehrbuch der inneren Medizin vorhanden ist. 
Bei positiver Reaktion zeigen die mit Tuberkulin beschickten 
Impfstellen nach einiger Zeit, die zwischen drei Stunden und 
mehreren Tagen schwanken kann, eine entzündliche Reaktion 
mit Schwellung und Hyperämie in Form einer Papel. Im posi¬ 
tiven Falle pflegt sie nach 48 Stunden ihr Optimum erreicht zu 

Zeitsohriit für Psychiatrie, LXXY* 2. 17 


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236 


Barth, 


haben. Nur bei ganz wenigen Patienten gelang es nicht, die 
Impfung zu bewerkstelligen, weil sie sich sehr widerspenstig 
zeigten. Bei genfigend rascher Handhabung, Ablenkung oder Zu¬ 
reden des Kranken war die Impfung fast stets möglich. Sehr 
interessant sind nun unsere Ergebnisse, da sie uns einen hoch¬ 
wichtigen Einblick in den Zustand der immunisatorischen Vor¬ 
richtungen im Organismus unserer Kranken erlaubten und uns 
den Stand der Abwehrvorrichtungen direkt anzeigten. Es ist 
bekannt, daß der negative Ausfall der Ptr^ucf-Reaktion bei 
manifester Tuberkulose prognostisch ungünstig ist, daß eine 
Schnellreaktion für aktive, eine langsame Entwicklung einer 
Spätreaktion für latente Tuberkulose spricht, daß positiver Aus¬ 
fall der Hautreaktion nach 24 bis 48 Stunden in der Mehrzahl 
der Fälle ein Freisein von tuberkulöser Erkrankung (inaktive 
Tuberkulose) anzeigt. ■ 

Es soll hier nicht unterlassen werden, zu betonen, daß 
Tnberkuloseinfektion und Erkrankung streng auseinandergehalten 
werden müssen. Die erstere kann weit zurückliegen und längst 
in die Latenz übergeführt sein, während sich die letztere immer 
durch aktive Erscheinungen manifestiert. Als positiv galten uns 
Papeln mit über 5 mm Durchmesser. Die Ablesung nahmen 
wir nach 24 und 48 Stunden vor. Geimpft wurden 226 Männer, 
205 Frauen. Wir fanden positiven Ausfall nach 24 bis 48 Stunden 
bei 147 Männern, 81 Frauen. Bei allen diesen Kranken bestand 
klinisch keinerlei Verdacht auf Tuberkulosekrankheit, und die 
Pirquet -Probe bestätigte dies. Positive starke Frühreaktion da¬ 
gegen ergaben 25 Männer, 32 Frauen, beutet hier schon die 
biologische Prüfung auf eine Abweichung in den immunisatori¬ 
schen Verhältnissen, so wurde dies erhärtet durch die klinische 
Betrachtung. Es waren dies Leute mit Gesichtsblässe; nicht 
selten handelte es sich um erblich tuberkulös Belastete, die Ge¬ 
wichtsabnahmen aufwiesen, leichte Temperaturerhöhungen boten, 
zuweilen hüstelten, manchmal über Mattigkeit klagten, nachts 
schwitzten und bei denen der objektive Befund an den Lungen 
zwar noch nichts sicher Nachweisbares ergab, bei denen indes 
der dringende Verdacht auf eine initiale Störung der Latenz der 


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Taberknloseerkennong bei Geisteskranken. 


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Tuberkulose augenfällig ist. Bei diesen Tnberkuloseverdächtigen 
konnten wir in der Tat früher oder später den Übergang in das 
manifeste Stadium sicher nachweisen. Positive Reaktion beob¬ 
achteten wir ferner bei 6 Männern und 8 Frauen, die sicher 
manifest tuberkulös waren. Hier liegt die Tatsache vor, daß die 
Abwehrkräfte noch hinreichend im Gange sind; wir würden hier 
demnach die Prognose als nicht ungünstig zu stellen haben, falls 
nicht später noch ein Versagen derselben eintritt. 

Wir kommen nun zu den Fällen, die eine negative Pirquet- 
Frohe darboten. Wir fanden sie bei einer Anzahl fortgeschrittener 
Fälle (9 Männer, 7 Frauen) bei denen wir ein Erloschensein der 
Immunität annahmen und die Prognose ungünstig stellen müssen. 
Der nun folgende letzte Teil unseres Untersuchungsergebnisses 
ist der bemerkenswerteste insofern, als er zu allen früheren Er¬ 
fahrungen im Widerspruch steht. Mußte uns bereits aus dem 
Vorhergehenden die niedrige Ziffer der sicher Tuberkulosegesunden, 
positiv Reagierenden auffallen, so muß dies demgegenüber um so 
mehr die hohe Zahl derjenigen, die negativen Ausfall zeigten, 
es waren dies 39 Männer und 77 Frauen. Bei näherer Beob¬ 
achtung erwies es sich, daß man bei diesen Kranken zwar irgend¬ 
welche manifeste Erscheinungen keineswegs nachweisen konnte, 
indes waren die Kranken durchweg blasse, magere, schwächliche 
Individuen, bei denen zu einem Teil schwächende Krankheiten, 
so Ruhr, Grippe voraufgegangen waren, kurz, deren Konstitution 
sich als sichtlich geschwächt kundtat. Wir haben hier im Laufe 
der Monate manchen dieser Kranken tuberkulös werden sehen, 
eine Tatsache, die uns wohl berechtigt, dieselben als gefährdet 
zu bezeichnen. Daß das weibliche Geschlecht um das Doppelte 
beteiligt ist, nimmt uns nach den sonstigen Kriegserfahrungen 
aus der freien Bevölkerung mit dem absoluten- Vorwiegen der 
Tuberkulose bei Frauen nicht wunder. Es ist unabweislich, im 
Vergleich zu den im Frieden gefundenen Daten, die Ergebnisse 
lediglich auf die Kriegsverhältnisse zu beziehen und hauptsächlich 
durch den Ernährungsfaktor ätiologisch zu erklären. Die erheb¬ 
lich höhere Gefährdung der Frau im Kriege gegenüber der 
Tuberkulose ist auch hier erwiesen. Nachstehende Übersicht 
unserer Beobachtungen zeigt dies auch prozentual berechnet. 

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Bartk, 


Von 226 beobachteten Männern waren: 

tnberknlosegesnnd (-f- Pirquet) 147 = 65,4% 
gefährdet (— „ ) 39 = 17,26%, 

verdächtig (-{-Frühreaktion) 25 = 11,06%, 
manifest (6 -{-, 9 —) 15 = 6,64%» 

Von 205 beobachteten Franen waren: 

tnberknlosegesnnd (-{- Pirquet) 81 = 39,52%, 
gefährdet (— „ ) 77 = 37,56% 

verdächtig (-{-Frühreaktion) 32 = 15,60% 
manifest (8 -f-, 7 —) 15 = 7,32%. 

Folgende sind nnr znsammengefaßt unsere Erfahrungen 
nnd die Maßnahmen, die wir darauf gründeten: 

1. Ätiologisch kommen für die Kriegstuberkulose in den 
Irrenanstalten vornehmlich die herabgesetzten Ernährungsverhält- 
nisse, erst in zweiter Reihe dnrch den Krieg bedingte anderweite 
hygienische Verhältnisse in Betracht. 

2. Es steht fest, daß die Anwendung der klinischen 
Untersnchungsmethoden der Lungen bei Irren äußerst 
erschwert sein kann; regelmäßige Wägungen, genaue Tempe¬ 
raturbeobachtungen, sowie die Kntanprobe nach von Pirquet, 
geben besonders zuverlässige Anhaltspunkte für die Früherken¬ 
nung. Bei der Schwierigkeit derselben erwächst uns die Pflicht, 
von verschiedenen Richtungen auf das Ziel loszu¬ 
steuern und alle diagnostischen Hilfsmittel in Anwen¬ 
dung zu bringen. 

3. Die biologische kutane Tuberkulinreaktion, die wir bei 
431 Pfleglingen durchführten, zeigte uns eine sehr hohe Zahl der 
Tuberkulose gegenüber sicher empfänglichen, anfälligen Elementen, 
namentlich bei den Frauen, die sich zu 37,55°/o als gefährdet 
darstellen. 

4. Durch die kombinierte Untersuchungsmethodik 
gelang es uns, sowohl eine größere Anzahl Gefährdeter auszu- 
sondem in hygienisch besonders günstig beschaffene Räume, so¬ 
wie in fachärztliche Beobachtung und Behandlung zu bringen, 
Zugängliche zu Liegekuren im Freien oder auf Veranden zu be¬ 
stimmen, durch Gewährung von Zulagen zur Kost besonders in 


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Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken. 


239 


Form von Milch and Butter den Ernährungszustand zu heben. 
Auch die bereits Verdächtigen worden dieser Behandlung unter¬ 
worfen. Die Gewichtszunahmen, die Besserung des Allgemein¬ 
zustandes und des lokalen Befundes waren oft erstaunlich. Die 
Erfolge gaben uns somit reoht. Bei den meisten der ge¬ 
fährdeten Kranken konnte ein Ausbruch der Tuberkulose abge¬ 
wendet oder bei beginnenden Prozessen die klinische Latenz her- 
b eigeführt werden. 


Literaturverzeichnis. 

1. Baemeister, Lehrbuch der Lungenkrankheiten, 1915. 

2. Baemeister, Die hausärztliche Behandlung der beginnenden Lungen¬ 

tuberkulose, 1918. 

3. Bandelier und Roepke, Spezifische Diagnostik und Therapie der Tuber¬ 

kulose, 1915, 8. Aufl. 

4. Binswanger und Siemerling , Lehrbuch der Psychiatrie, 4. Aufl., 1915. 

5. Cornet, Die Tuberkulose in Nothnagels Handbuch der Pathologie und 

Therapie. 

6. Dehio, Betrachtungen über die Anstaltsruhr. Psych. u. Neurol. Wschr. 

Nr. 49/50 und 51, 1918. 

7. Geigel, Münch, med. Wschr. H. 24, 1918. 

8. Geist, Tuberkulose in Irrenanstalten. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 61, 

1904. 

9. Gerhardt, Diagnostik und Therapie der Lungentuberkulose, 1913. 

10. Gutstein, Brauers klinische Beiträge zur Tuberkulose Bd. 35, S. 3. 

11. Kraepelin, Psychiatrie, Lehrbuch, 1. Bd., 8. Aufl., 1909. 

12. Loew, Über Tuberkulose in Irrenanstalten. Allg. Ztschr. f. Psych. 

Bd. 73, H. 5, S. 443. 

13. Mach, Tuberkulose. Ergebnisse der Hyiene, Bakteriologie, Immuni¬ 

tätsforschung und experim. Therapie, Bd. II, 1917, S. 622 ff. 

14. Müller, Krankheiten der Atmungsorgane. Mehring-Krehls Lehrbuch 

der inneren Medizin, 6. Aufl., S. 257. 

15. Rolly, Über Influenza. Jahreskurse für ärztliche Fortbildung, Ok¬ 

toberheft 1918. 

16. Turban, Menstruation und Lungentuberkulose. Arbeiten aus Turbans 

Sanatorium Davos. 


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16. Jahresversammlung (2. Eriegstagnng) des Vereins 
Nord westdeutscher Psychiater und Neurologen inRostock- 
Gehlsheim am 27. Juli 1918. 

Anwesend: Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg, Rostock, Ahrens- 
Rostock, Barf urtA-Rostock, Rostroem-Hamburg, RiscAoff-Hamburg-Langen- 
horn, Gertrud Baden he uer-Gehlsdorf, Elfriede Bacigelupo- Bremen, Bremme- 
Gehlsheim, Br ün ing-Rostock, C urschmann-Roslock, Christoffel- Zürich, 
Delbrück- Bremen, UraeseAe-Hamburg, .DaAeZstem-Neustadt, Ewg.ld-Geh\s- 
heim, Fraenkel-H&mbxiTg, Frieboes- Rostock, v. Grabe- Hamburg-Friedrichs¬ 
berg, Jacobsohn- Rostock, JTofeert-Rostock, Römer-ATa/Aa-Hamburg, Krause- 
Gehlsheim, Oberstabsarzt Kobert- S. M. S. Friedrich der Große, Kleist- 
Gehlsheim, L&genau-Neustadt, Martius-Rostock, MerAZin-Treptow, von 
AfieZefzZi-Altona, M eyerso kn - Schwer i n, Malert- Waren, Matusch- Sachsen¬ 
berg, M uZeri-Gehlsdorf, Peters-Rostock, v. Pflug- Rostock, Vnger- Rostock» 
RiedeZ-Lübeck, Runge-Kiel, Ro har dt- Gehlshei m, Re id-Lübeck, Repkewitz- 
Schleswig, RtttersAous-Hamburg-Friedrichsberg, Röper- Hamburg, Riesen- 
feld- Würzburg, RicAter-Rostock, .Staude-Rostock, .Star Ae-Alt-Strelitz, 
Stcyerthal- Kleinen, Saenger- Hamburg, Schoenhals-Berlin, Schmist- Sachsen¬ 
berg, Schlüter-Rostock, »StarAe-Strelitz, RfoZzenAurg-Göttingen, Seyriny- 
Rostock, Thömmer- Hamburg, £7tttz-Rostock, ForAastner-Greifswald, Winter¬ 
stein-Rostock., TFeinAerg-Rostock, v. WdsiefewsAi-Rostock, Villige- Kiel, 
W attenfcerg-Lübeck, F. K. KFa/ter-Gehlsheim, Gr. TFaiter-Gehlsheim, Zappe- 
Schleswig. 

Am Vorabend Begrüßung im Rostocker Hof. 

Sitzung am 27. Juli, vormittags 9—1 Uhr. 

Vorsitzender: 2?Zeist-Rostock-Gehlsheim. Stellvertretender Vorsit¬ 
zender: Wattenberg- Lübeck. Schriftführer: Walter und Ewald-Rostock- 
Gehlsheim. 

Kleist begrüßt die Versammlung auch in seiner Eigenschaft als Dekan 
der medizinischen Fakultät, im besonderen Seine Hoheit Herzog Adolf 
Friedrich von Mecklenburg, sowie den Vertreter der Sanitätsdepartements 
des k. p. Kriegsministeriums und den stellvertretenden Korpsarzt des 
IX. Armeekorps Altona. 


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&au<fe-Rostock begrüßt die Versammlung als Rektor der Universität, 
Marti us -Rostock als Vorstand des Rostocker Ärztevereins. 

Nach geschäftlichen Mitteilungen folgen die Vorträge und Berichte. 

Winterstem-Rostock: Der Stoffwechsel der nervösen Zentralorgane. 

Untersuchungen am isolierten überlebenden Froschrückenmark erge¬ 
ben, daß die Nervenzentren der Sitz intensiver Stoffwechselvorgänge vorwie¬ 
gend oxydativer Natur sind, an denen Kohlehydrate, Fette, Lipoide und Ei¬ 
weißkörper teilnehmen. Die Tätigkeit, hervorgerufen durch elektrische Rei¬ 
zung, ruft eine außerordentliche Steigerung dieser Umsetzungen zum Teil bis 
auf das 3 %fache des Ruhewerteshervor. Die einzelnen Stoffe sind inungleichem 
Ausmaße an dem Ruhe- und an dem Reizstoffwechsel beteiligt. So werden 
z. B. Trauben-und Fruchtzucker in der Ruhe ungefähr in gleichem Umfange, 
bei der Tätigkeit dagegen der erstere in viel stärkerem Ausmaße verwertet. 
Umgekehrt wird Galaktose besonders stark im Ruhestoffwechsel uro- 
gesetzt. Dem entspricht vollkommen die Ersparnis an Fettsubstanzen, 
welche durch die Zufuhr der einzelnen Zucker bewirkt wird. Bei Zufuhr 
von Traubenzucker kann der ganze durch die Reizung bedingte Mehrver¬ 
brauch (Erregungsumsatz) vollständig durch den Zucker allein be¬ 
stritten werden, so daß ein Mehrverbrauch an Fettstoffen und N-haltigen 
Substanzen dann überhaupt nicht stattfindet. 

Aussprache. — Barfurt A-Rostock: Zu den interessanten Mitteilun¬ 
gen des Herrn Winterstein bemerke ich, daß schon der Physiologe E. Pflüger 
in seiner Vorlesung die graue Substanz des Zentralnervensystems als die 
am schnellsten zersetzbare im Organismus charakterisierte. Die Unter¬ 
suchungen, deren Ergebnis Herr Winterstein uns vorlegte, liefern nun den 
Beweis für diese Anschauungen am Rückenmark des Frosches. Ich selber 
habe in „vergleichend-histochemischen Untersuchungen über das Glyko¬ 
gen“ im Zentralnervensystem der Wirbeltiere vergeblich nach Glykogen 
gesucht und daraus auf schnellen Verbrauch desselben geschlossen. Dem¬ 
entsprechend fand ich Spuren von Glykogen im Schlundganglion von 
Schnecken, bei denen ein weniger schneller Stoffwechsel vermutet werden 
kann. Vielleicht darf ich Herrn Winterstein fragen, ob aus neuerer Zeit 
noch Beobachtungen über das Glykogen im Zentralnervensystem vorliegen. 

■ÄioÄerf-Rostock: Wenn von den Biosen eine, nämlich die Laktose, 
imstande ist, den Stoffwechsel des Rückenmarks zu unterhalten, so muß 
dies wohl darauf bezogen werden, daß im Rückenmark ein Enzym vor¬ 
handen ist, welches das Molekül der Laktose in ein Molekül Dextrose und 
ein Molekül Galaktose zerlegt. Die Richtigkeit dieser Annahme würde 
sich leicht experimentell prüfen lassen, falls man das Rückenmark zerreibt 
und mit Aq. dest. und etwas Glyzerin extrahiert. Falls dabei eine Flüssig¬ 
keit gewonnen wird, die an sich Laktose langsam spaltet, dann wäre die 
Richtigkeit der Theorie bewiesen. Solche Versuche sind ohne Mühe an¬ 
stellbar. Ich zweifle keinen Augenblick, daß sie positiv ausfallen werden. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Wafter-Gehlsheim: Fettanhäufung findet sich normalerweise haupt¬ 
sächlich im Mark, unter pathologischen Verhältnissen auch in Nervenzellen 
in stärkerem Maße. Wo findet im Versuch der Hauptfettstoffwechsel statt, 
in Zelle oder Faser?' 

Winterstein (Schlußwort): Über Glykogen liegen in neuerer'Zeit 
einige histologische Untersuchungen an Würmern vor. — Wenn die Ver¬ 
wertung des Milchzuckers eine fermentative Spaltung desselben zur Voraus¬ 
setzung hat, so müßte diese nur in geringer Menge vorhanden sein, um die 
geringe Größe des Milchzuckerersatzes zu erklären. — Eine Feststellung 
des Anteils der grauen und weißen Substanz an den Stoffwechselvorgängen 
war bisher nicht möglich. Vielleicht werden in Angriff genommene Unter¬ 
suchungen über den Stoffwechsel des peripheren Nervensystems gewisse 
Aufschlüsse geben. 

Berichte über endogene Verblödungen. 

I. Kleist , Rostock-Gehlsheim. Klinischer Teil (mit Kranken¬ 
vorstellungen): 

Ob die endogenen Verblödungen eine einzige Krankheit mit ver¬ 
schiedenen Zustandsbildern und Verlaufsformen darstellen, oder ob es 
mehrere endogene Defektpsychosen gibt und welche Arten zu unterscheiden 
sind, kann zwar auf rein klinischem Wege nicht endgültig entschieden 
werden. Der Versuch einer klinischen Sonderung muß aber unternommen 
werden, wenn überhaupt ernstliche Gründe dafür sprechen. Solche Gründe 
sind die große symptomatologische Verschiedenheit der Fälle im Verein 
mit der Beständigkeit gewisser Hauptmerkmale des klinischen Bildes, die 
in der Mehrzahl der Fälle während der ganzen Dauer der Erkrankung 
nachweisbar bleiben. Allerdings ist es notwendig, wirkliche Elementar¬ 
symptome der Unterscheidung zugrunde zu legen und nur solche Krank¬ 
heitsfälle zu besonderen Gruppen zusammenzufassen, die in ihrem ganzen 
Verlauf durch eine bestimmte Art oder Vereinigung von Elementar¬ 
symptomen beherrscht werden, so wie z. B. für die Paralysis agitans 
Zittern und Starre, für die Huntingtonsche Chorea choreatische Zuckungen 
während des gesamten Krankheitsverlaufs kennzeichnend sind. Derartige 
Untersuchungen können nur an Krankheitsfällen vorgenommen werden, 
deren Verlauf man über eine lange Strecke von Beginn der Erkrankung an 
überblickt. Ein solches Material stand dem Vortr. sowohl jetzt in Gehls- 
heim als früher in Erlangen zur Verfügung. Vortr. befürwortet dringend, 
auch in andern Anstalten und Kliniken geeignetes Krankenmaterial in 
dieser Weise durchzuuntersuchen. Zur Bezeichnung der durch bestimmte 
Symptome charakterisierten Psychosen mußten einige neue Benennungen 
eingeführt werden, da die Verwendung der auch sonst gebräuchlichen 
Namen unvermeidlich zu Mißverständnissen führen würde. Folgende 
Arten von Defektpsychosen ließen sich unterscheiden: r r 


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Norddeutscher Verein ffir Psychiatrie und Neurologie. 243 

1. Psychomotorische Verblödungen („Katatonie"). Zu 
dieser Gruppe rechnen alle die Verblödungen, die in ihrem Gesamtverlauf 
durch psychomotorische Symptome beherrscht werden. Die Gruppe ist 
vielleicht selbst eine Summe verschiedener Erkrankungen, denn die einzel¬ 
nen Falle unterscheiden sich zum Teil sehr, sowohl hinsichtlich der Art 
der psychomotorischen Störungen als der Verlaufsform der Erkrankungen. 
Wir unterscheiden stuporöse, erregte, parakinetische, manierierte Formen, 
ferner periodisch erregte und zirkulare (erregt-stuporöse) Erkrankungen; 
dazu kommen Unterarten, die durch stärkeres Hervortreten beglei¬ 
tender Symptome ihre Prägung erhalten; halluzinatorische, verworrene, 
konfabulatorische Formen. 

2. Affektive Verblödungen („Hebephrenie“). Eine kleinere, 
vielleicht auch noch weiter auflösbare Gruppe. Störungen des AfTektlebens 
stehen im Vordergründe. Vortragender trennt eine apathisch-unproduktive 
Verblödung, zu der auch die sog. Dementia Simplex gehören dürfte, eine 
lappische, manieartige Form (die Hebephrenie in engerem Sinne) und eine 
depressive Verblödung. Der Krankheitsbeginn lag bei den Hebephreni- 
achen wie bei den Katatonischen mit wenigen Ausnahmen vor dem 
31. Lebensjahre. 

3. Die inkohärente Verblödung umfaßt wenige Fälle, die in 
ihrem Gesamtverlauf durch Inkohärenz des Gedankenablaufs und Para- 
logien (d. h. Begriffsverwechslungen und Verquickungen, besonders bei 
abstrakten und allgemeinen Begriffen) ausgezeichnet sind. Die Benennung 
Schizophrenie würde für diese Gruppe sehr zweckmäßig sein, wenn sie 
nicht von Bleuler schon für die Gesamtheit der endogenen Verblödungen 
gebraucht würde. Zu Inkohärenz und Paralogien kommt meist eine leichte, 
motorisch-sprachliche Erregung, die die Fälle der erregten Katatonie an- 
nähert. Sprachliche Störungen (Wortverwechslungen, Paragrammatismen, 
Wortneubildungen u. ä.) finden sich häufig. Die von Kraepeltn als Schizo- 
phasie abgesonderten Fälle möchte Vortr. hierher rechnen oder sie doch 
der inkohärenten Verblödung sehr nahe stellen. Es gibt eine akute und 
eine chronische Verlaufsform, bei letzterer treten auch Wahnbildungen 
und Sinnestäuschungen mehr hervor. Zwei Drittel der Fälle erkrankten 
zwischen dem 24. und 29. Lebensjahr, ein Drittel zwischen dem 38. und 
40. Jahr. 

4. Die paranoide Demenz im Sinne des Vortr. betrifft die Fälle, 
deren Kernsymptome unsinnige, auf Begriffsverwechslungen und -verquik- 
klingen beruhende (paralogische) Fehlbeziehungen sind. Dadurch entstehen 
angereimte Verfolgungs- und Größenvorstellungen, die bei gewissen Fällen 
sehr zahlreich und wechselnd, bei andern dürftig und stereotyp sind. Be¬ 
sonders häufig kommen körperliche Beeinflussungsvorstellungen paralo¬ 
gischer Art vor. Regelmäßig sind Sinnestäuschungen, vornehmlich Ge- 
hörstäuschungen und sprachliche Störungen (Wortfindungsfehler, stereotype 
Worte, falsche Wortzusammensetzungen) vorhanden. Das Erkrankungsalter 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


— zwischen dem 29. und 40. Lebensjahr — liegt höher als bei den meisten 
inkohärenten Verblödungen. 

5. Als ideenflüchtig-paranoide Erkrankung wurden vom Vortr. 
schon 1914 *) seltene Fälle bezeichnet, die durch Wahnbildung im Verein 
mit Ideenflucht und einem gewissen Rede- und Bewegungsdrang ihre 
Eigenart erhalten. Die Stimmung ist heiter, auch zornmütig, erotisch. 
Die Wahnvorstellungen sind nicht so verworren wie bei der paranoiden 
Demenz. Erkrankungsalter zwischen 34. und 41. Lebensjahr. Vielleicht 
handelt es sich um dieselben Fälle, die Kraepelin Paraphrenia expansiva 
nennt, da auch bei diesen Kranken manische Symptome beschrieben 
werden. . 

6. Die progressive Eigenbeziehungspsychose. Seltene 
Fälle, deren falsche Begriffsbeziehungen ganz vorwiegend das Bewußtsein 
der Persönlichkeit betreffen, also Eigenbeziehungen sind (Verfolgungs¬ 
und Größenvorstellungen hinsichtlich der Freiheit, Ehre, Tugend, Klugheit, 
der Treue des Ehegatten u. ä.). Die Wahnvorstellungen bleiben größten¬ 
teils im Bereich des Möglichen, weitgehende Systematisierung derselben; 
keine oder nur vereinzelte Sinnestäuschungen, zum Teil Erinnerungs¬ 
fälschungen. Nur leichte sprachliche Störungen und nur geringe Intelli¬ 
genzdefekte (Kombinationsdefekt). Auffällig sind die symbolischen Ab¬ 
sonderlichkeiten einzelner Kranker in Kleidung und Zimmereinrichtung. 
Die Kranken bleiben aber tätig und affektiv rege. Erkrankungsalter um 
das 40. Lebensjahr. Vortr. würde die Kraepelin sehe Paranoia hierher 
rechnen; doch scheinen auch Fälle von Kraepelin?, Paraphrenia systematica 
dazu zu gehören. 

7. Die progressive Halluzinose ist vom Vortr. 1914 l ) unter 
der Bezeichnung „endogene Halluzinose“ aufgestellt worden. Massenhafte 
Sinnestäuschungen, besonders Phoneme. Die Erkrankungen erinnern, 
besonders im Beginn, sehr an die Trinkerhalluzinose. Die Sinnestäuschun¬ 
gen werden anfangs oft als krankhaft empfunden. Verlauf teils allmählich 
ansteigend, teils schubweise remittierend. Wahnvorstellungen, mehr der 
Verfolgung, weit weniger der Größe, treten gegenüber den Halluzinationen 
zurück. Es besteht keine dauernd mißtrauisch-feindselige Stimmung. 
Große Teile der Psyche bleiben unberührt, die Kranken sind geordnet, 
verlieren nur zum Teil an Regsamkeit; eine Kranke war bis zu ihrem Tode 
in der Kriegsfürsorge tätig. Keine katatonischen Zeichen, nur vereinzelte 
und nicht in allen Fällen nachweisbare Wortfehler und Technizismen. 
Erkrankungsbeginn zwischen 30. und 45. Lebensjahr. Von Kraepelins 
Paraphrenia systematica sind die Fälle durch das frühzeitige Auftreten 
und die Massenhaftigkeit der Sinnestäuschungen unterschieden. 


1 ) Kleist, Über paranoide Erkrankungen. Vortrag; Deutscher Verein 
für Psychiatrie. Straßburg 1914. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 71, S. 764 ff. 


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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 245 

8. Phantasiophrenie. Vortr. schlägt diese Bezeichnung für die 
von ihm 1914 als phantastisch-paranoide Erkrankungen beschriebenen 
Psychosen vor, die Kraepelins phantastischer und konfabulatorischer Para¬ 
phrenie entsprechen dürften. Die Elementarsymptome sind Einbildungen 
und Erinnerungstäuschungen. Die Wahnbildung bewegt sich bei einigen 
Fällen mehr auf autopsychischem Gebiet (Größenideen), bei andern mehr 
auf somatopsychischem (phantastisch-körperliche Verwandlungsvorstellun¬ 
gen). Die Wahnvorstellungen widersprechen sich oft und lassen die wirk¬ 
liche Auffassung der Dinge neben sich bestehen. Der Affektwert der 
Wahngebilde ist gering; vorübergehende Affektausbrüche, ohne daß die 
Kranken aus ihrem Wahn die vollen Folgerungen zögen. Es gibt Fälle 
mit von vornherein chronischem Verlauf und solche mit akutem Beginn 
und späterer Besserung. In einzelnen Fällen bilden sich alle Krankheits¬ 
erscheinungen bis auf geringe Reste zurück. Erkrankungsalter 30. bis 
40. Lebensjahr. 

Ein Rückblick über diese Krankheitsformen läßt erkennen, daß die 
ersten 3 — die psychomotorische, die affektive, die inkohärente Ver¬ 
blödung — näher aneinander stehen, da sie sämtlich zu erheblicher geistiger 
Invalidität führen. Nach Kraepelin würden sie zur Dementia praecox 
in der jetzigen, engeren Umgrenzung zu rechnen sein. Die Formen 4—8 
sind paranoide Defektpsychosen, die aber untereinander so verschieden 
sind, daß sie nicht wohl als Spielarten einer und derselben Erkrankung 
aufgefaßt werden können. Die geringste geistige Einbuße findet sich bei 
der progressiven Eigenbeziehungspsychose (6) und der progressiven Hal- 
luzinose (7), während die paranoide Demenz (4), die ideenflüchtig-paranoide 
Erkrankung (5) und die Phantasiophrenie (8) in dieser Hinsicht zwischen 
den Formen 1—3 und 6—7 stehen. 

II. Wa/ter-Rostock-Gehlsheim. Pathologisch-anatomischer 

Teil: 

Nach einleitenden Bemerkungen über die bisherigen histopatho- 
logischen Befunde bei Dem. praecox berichtet Vortr. über seine eigenen 
Untersuchungen. 

W. hat mit einer neuen Gliafärbemethode, die eine elektive Darstel¬ 
lung vor allem der plasmatischen Gliazellen in alkoholfixierten und in 
Paraffin eingebetteten Schnittpräparaten ermöglicht, in 13 untersuchten 
Fällen von Dem. praecox ausgesprochene Veränderungen gefunden. 
11 davon gehörten der Katatoniegruppe an, 1 der Hebephrenie und 1 
der Dementia-paranoides-Gruppe. 

Histopathologisch unterscheidet er vorläufig zwei Formen von Ver¬ 
änderungen. Bei der ersten handelt es sich um zirkumskripte Gliawuche¬ 
rungen im Bereich der Übergangszone von Mark und Rinde, seltener in 
den untersten Rindenschichten. Die Lage dieser Gliawucherungen zeigte 
in allen Fällen (3) untereinander eine außerordentliche Ähnlichkeit und 
konnte bisher nur im Parietal-, Temporal- und Frontallappen festgestellt 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


werden. Die Größe dieser Gliaplaques betrag bis etwa 1,2 mm im größten 
Durchmesser. Sie waren so auffallend, daß sie auch in größeren Schnitten 
mit schwacher Vergrößerung ohne weiteres gefunden werden konnten. 
Entzündliche Erscheinungen fehlten völlig, ebenso ließen sich bisher keine 
Gefäßwandveränderungen an diesen Stellen nachweisen. 

Bei der zweiten Form (10 Fälle) handelte es sich um einen im Ver¬ 
hältnis zum ersten diffusen Prozeß, der, soweit die bisherigen Unter¬ 
suchungen einen Schluß zulassen, hauptsächlich das oberflächlichste Mark 
betrifft, aber auch an fast allen untersuchten Stellen nachweisbar war. 
Nach einem Stadium der Hypertrophie der plasmatischen Gliazellen 
in den erwähnten Gebieten treten, scheinbar manchmal früher, manch¬ 
mal später, starke regressive Veränderungen vor allem im Sinne der 
Klasmaktodendrosis (Cajal) ein, die allmählich zu einem Untergang der 
ursprünglich hypertrophischen Gliazellen führt, so daß schließlich statt 
ihrer Gliazellen mit gegen die Umgebung sehr unscharf abgrenzbarem und 
stark gekörntem Plasmaleib zu finden sind, die mit der benutzten 
Methode nur schwer darstellbar waren. Ob prinzipielle Unterschiede 
bezüglich der verschiedenen Gehirnabschnitte vorhanden sind, worauf 
manches hinweist, ist noch unsicher. 

Daß die gefundenen Veränderungen mit der Psychose in Verbindung 
stehen und nicht etwa die Folgen der zu Tode führenden interkurrenten 
Erkrankung sind, schließt Vortr. daraus, daß erstens diese Veränderungen 
in der angegebenen Form bisher an keinem andern Falle (Paralyse, senile 
Demenz, Arteriosklerose, Idiotie (verschiedene Formen), Manie, Melan¬ 
cholie, verschiedene Formen von Hirntumor (Hirnabszeß) gefunden wurden, 
zweitens, daß die Veränderungen keine Abhängigkeit von der Art und 
der Dauer der körperlichen Erkrankung zeigten — z. B. fand sich bei 
Tod infolge akuter Dysenterie ein weit fortgeschrittener Destruktionsprozeß 
der Glia; bei lange bestehender Phthisis dagegen erst Beginn oder 
Höhepunkt der regressiven Veränderungen —, drittens, daß bei gleicher 
körperlicher Erkrankung (z. B. Phthisis pulmonum) Fälle gefunden wurden, 
die teils zu der ersten, teils zu der zweiten Gruppe im oben erwähnten 
Sinne gehören. 

Wieweit ein Zusammenhang zwischen pathologischem Befund und 
klinischem Bilde besteht, ließ sich vorläufig nicht entscheiden, ebenso¬ 
wenig, ob alle Fälle, die klinisch heute zur Dementia praecox-Gruppe 
gerechnet werden, analoge Veränderungen zeigen. — Die Befunde wurden 
durch Diapositive von Mikrophotographien und durch Originalpräparate 
belegt. 

Der Vortrag erscheint ausführlich an anderer Stelle. 

III. Ewold-Rostock-Gehlsheim: Serologischer Teil. 

Vortr. berichtet über seine Erfahrungen mit dem Abderhalden- 
scheu Dialysierverfahren bei den endogenen Verblödungsprozessen. Nach 


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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 247 

einem kurzen Rückblick auf die in der Literatur bisher gesammelten 
Ergebnisse geht er auf seine eigenen Untersuchungen über. Er stellt sich 
auf den Standpunkt, daß es sich beim Studium der Abwehrfermente um 
spezifische Fermentwirkung handelt, wie auch von den meisten Unter¬ 
suchern anerkannt wird. Bei den endoge en Verblödungen fand er in 
ca. 80% der Fälle positive Reaktionen, etwa 20% waren negativ, 
Zahlen, die mit den Angaben früherer Autoren sehr gut übereinstimmen. 
Bezüglich der Verteilung der positiven Reaktionen auf die einzelnen 
Untergruppen der Dementia praecox fand er ein Überwiegen positiver 
Reaktionen besonders bei Katatonen und Hebephrenen, während sich bei 
inkohärenten und paranoiden Verblödungen mehr negative Resultate er¬ 
geben. Die negativen Resultate lassen sich nicht allein durch Fälle 
erklären, die bereits stationär geworden, auch nicht allein durch solche, 
die noch nicht zu stärkeren Defekterscheinungen geführt haben; auch 
bei fortschreitender Verblödung finden sich mitunter negative Reaktionen. 

Bezüglich des Abbaues der einzelnen Organe und Organgruppen 
ergab sich unter den positiven Reaktionen 

Gehirnabbau in 60 %. 

Genitalabbau in 73%, 

Schilddrüsenabbau in 71%, 

Leberabbau in 19%. 

Auch diese Zahlen stimmen mit den Angaben anderer Autoren 
überein, nur fand sich ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von posi¬ 
tiven Schilddrüsenreaktionen; die Organgruppierung Gehirn und Genital 
wurde in 51%, die Trias Gehirn-Genitale-Schilddrüse in 40% aller posi¬ 
tiven Reaktionen gefunden. Beobachtung einzelner Fälle über längere 
Zeit ergaben keinen deutlichen Parallelismus zwischen klinischem Verlauf 
und serologischem Befund, nur in einzelnen Fällen war ein solcher ziemlich 
ausgesprochen. Um differentialdiagnostische Schlüsse ziehen zu können, 
muß man diese Ergebnisse vergleichen mit denen bei Hysterikern und 
Psychopathen einerseits und Manisch-Depressiven andererseits. Die Unter¬ 
suchungen bei Hysterikern und Psychopathen ergaben den überraschenden 
Befund, daß bei diesen zwar weniger, aber immerhin doch 50% der Fälle 
positive Reaktionen zeigten. Bezüglich der einzelnen abgebauten Organe 
und Organgruppen ließ sich ein Unterschied zwischen Hysterikern und 
endogenenVerblödungen nicht nachweisen. Auch bei Manisch-Depressiven 
fand Vortr. die verhältnismäßig sehr hohe Zahl von 63% positiver Reak¬ 
tionen. Doch war bei Manisch-Depressiven Gehirn- und Genitalabbau 
verhältnismäßig selten, bei Manien dagegen häufig isolierter Schilddrüsen¬ 
abbau, bei Melancholien im Gegensatz zu Manien recht oft positiver Leber¬ 
abbau. Die Trias Gehirn-Genitale-Schilddrüse wurde bei Manisch- 
Depressiven außerordentlich selten beobachtet, so daß sich bis zu einem 
gewissen Grade das manisch-depressive Irresein von der Dem. praecox 
trennen läßt; jedoch darf auch hier niemals die serologische Diagnose 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


die klinische an Wert überwiegen. Nach diesen Ergebnissen dürfte es 
nicht angängig sein, so wie es von der Friedrichsberger Anstalt und Ham* 
burger Klinikern geübt wurde, die Abderhaldensche Reaktion im forensi¬ 
schen Betriebe zu verwerten. Die Reaktion kann bei negativem Ausfall 
dem Kliniker wohl eine willkommene Bestätigung der von ihm schon 
vorher gefaßten Meinung sein, daß es sich wahrscheinlich nicht um einen 
endogen Verblödeten, sondern um einen Psychopathen handelt. Weiter 
darf man aber nicht gehen. Vortr. führt zur Illustration zwei Fälle an, 
in denen die serologische Diagnose zu irrtümlicher Begutachtung geführt 
haben würde. Die Reaktion war nämlich bei zwei Psychopathen zu ver¬ 
schiedenen Malen stark positiv. Auf methodologische Fragen kann sich 
Vortr. nicht einlassen, er hebt nur hervor, daß ein negativer Ausfall der 
Kontrollprobe (Serum allein) keineswegs ein besonders erstrebenswertes 
Moment sei, da auf diese Weise zu leicht ein tatsächlich vorhandener 
Abbau latent bleiben könnte. Es muß aber jeder Abbau, auch der ge¬ 
ringste, als positive Fermentwirkung gebucht werden, da sonst jede Möglich¬ 
keit schwindet, einen Vergleich zwischen Resultaten einzelner Autoren 
anzustellen, da der eine schon positiven Fermentabbau aus seinen Resul¬ 
taten herauslesen würde, wenn der andere die Reaktion als negativ er¬ 
achtet, da ihm der Farbunterschied ein zu geringer erscheint. Zum Schluß 
hebt Vortr. noch einmal hervor, daß es sich für ihn bei der Reaktion mit 
Sicherheit um spezifische Fermentwirkung handelt. Daß sich so häufig 
ein Abbau auch bei Hysterikern und Psychopathen findet, ist nicht so 
verwunderlich, wenn man an die engen Beziehungen zwischen Hysterie, 
manisch-depressivem Irresein und echten endokrinen Erkrankungen 
(Basedow) denkt. Wir können mit der Abderhaldenschen Methode tief 
hineinsehen in den komplizierten Mechanismus der fermentativen Vor¬ 
gänge im Organismus. Die Gesetze, nach denen dieser Mechanismus 
arbeitet, haben wir einstweilen nur zum geringsten Teil erkannt. Ob die 
weitere Aufklärung dieser Gesetze der Abderhaldenschen Methode oder 
einer neuen Technik gelingen wird, bleibt abzuwarten. Wenn auch in der 
Psychiatrie die Methode sich einstweilen praktisch nicht verwerten läßt, 
so hat dies bezüglich der praktischen Verwertbarkeit der Methode bei 
Graviditäts- und Karzinomdiagnosen nichts zu besagen. Daß bei diesen 
Diagnosen die Resultate eindeutiger sind, liegt daran, daß nicht jeder 
Mensch ein Karzinom oder eine Plazenta in seinem Organismus beherbergt, 
und daß infolgedessen auf diese Organe eingestellte Fermente bei dem 
Normalen naturgemäß fehlen müssen. 

(Erscheint ausführlich a. a. 0.) 

IV. Krause-Rostock-Gehlsheim: Kriegsärztlicher Teil 

Beobachtet wurden 35 Angehörige des Heeres bzw. der Marine, 
welche der Gruppe der endogenen Defektpsychosen angehörten. Das 
sind 10% unter den Aufnahmen der geisteskranken Soldaten. Von diesen 


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waren 20 schon vor der Einziehung zum Heeresdienst krank (60%). Es 
wird über die Vorgeschichte dieser Kranken berichtet unter Berücksichti¬ 
gung seltener Erscheinungsformen. Zufällig während der Kriegsjahre 
erkrankten, ohne besondere äußere Schädigung, 10 Kranke (25%). Die 
Vorgeschichte von diesen bietet aber bei allen etwas von der Norm Ab¬ 
weichendes, so daß es manchmal schwer hält, festzustellen, bis wie weit 
die Krankheitserscheinungen der Dementia praecox zurückgehen. Nach¬ 
dem kurz berührt sind die verschiedenen Momente, wodurch die erkrankten 
Leute bei der Truppe aufgefallen sind, erörtert Vortragender ausführlich 
die Frage der Bedeutung einer exogenen Schädigung, welche 5 (15%) 
seiner Patienten erlitten hatten. Körperliche wie seelische Traumen 
erkennt Vortr. in ihrer Bedeutung als auslösend an bei bestehender Krank¬ 
heitsanlage und weist besonders auf die körperlichen Wirkungen von Af¬ 
fekten hin, wie sie in der verschiedensten Weise beobachtet werden. An¬ 
schließend erfolgt die Mitteilung eines Falles von Katatonie, deren Aus¬ 
bruch ausgelöst war durch eine Schreckwirkung. 

Als Krankheitsbilder wurden vorzugsweise Katatonien und Hebe- 
phrenien beobachtet, nur vereinzelt kamen vor inkohärente Verblödungen 
und paranoide Demenzen. 

Von 35 Patienten kam es bei 34 zu deutlichen Defekten. Grund¬ 
sätzlich wurden alle Kranken dieser Gruppe als kr. u. bezeichnet. 

Zur Differentialdiagnose zieht Vortr. außer psychopathischen und 
hysterischen Konstitutionen auch Psychosen heran, die nach Kopfver¬ 
letzungen entstanden sind, wobei auch ausführlich die Krankheitsgeschichte 
eines Patienten mitgeteilt wird, bei dem 2 Monate nach einer oberfläch¬ 
lichen Schußverletzung am Kopf eine Psychose von katatonem Charakter 
auftrat, wahrscheinlich als Äußerung einer Meningitis serosa. Ganz 
selten beobachtete Vortr., daß Beziehungsideen in der depressiven Phase 
bei Zyklothymen Veranlassung zu diagnostischen Schwierigkeiten gaben. 

Unter den Unterscheidungsmerkmalen (vasomotorische Störungen, 
Flexibilitas cerea usw.) ist kein Merkmal als bindend zu erachten, gerade 
die genannten Merkmale werden auch bei Psychosen außerhalb dieser 
Krankheitsgruppe beobachtet. 

Patienten dieser Krankheitsgruppe, die mit den militärischen Straf¬ 
gesetzen in Konflikt gekommen waren, wurden grundsätzlich als nicht 
verantwortlich begutachtet. 

Dienstbeschädigung wurde dann anerkannt, wenn die besonderen 
Umstände des Falles nach Schwere der Schädigung und nach dem zeit¬ 
lichen Verhalten des Ausbruchs der Erscheinungen mit einem hohen Grade 
von Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang sprachen. 
Hierzu rechnet Vortr. auch* die Teilnahme an besonderen kriegerischen 
Aktionen. Vortr. verkennt nicht, daß eine ganz scharfe Grenze sich nicht 
ziehen läßt, daß vielmehr eine Gruppe von Patienten übrig bleibt, die in 
bezug auf ihre D.B. -Frage individuell beurteilt werden muß. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


II. Sitzung, 2y 4 —4% Uhr. 

Von Geheimrat Siemerling -Kiel liegt eine Einladung vor, die nächst¬ 
jährige Versammlung in Kiel abzuhalten, die dankend angenommen wird. 

Vor Eintritt in die Aussprache über die endogenen Verblödungen 
bittet Herr Wattenberg eine Mitteilung machen zu dürfen. Nach Zu¬ 
stimmung der Anwesenden wird ihm deshalb zuerst das Wort hierfür erteilt. 

WaUenberg-Lübeck : Zum Ersuchen des Reichskanzlers vom 4. Juni 
1918, II 3170 betr. Aufnahme usw. von Geisteskranken in Irrenanstalten. 

Unter dem 4. Juni d. J. hat der Herr Reichskanzler ein Ersuchen 
an sämtliche Bundesregierungen gerichtet, aus dem hervorgeht, daß im 
Anschluß an eine unter dem 24. Mai 1902, I 3705 seitens des Reichs¬ 
kanzlers ergangene Rundfrage bereits ein großer Teil der Bundesregierun¬ 
gen eine einheitliche reichsgesetzliche Regelung des Irren¬ 
wesens rücksichtlich der Voraussetzungen, unter denen ein 
Geisteskranker in eine Irrenanstalt gebracht, darin behalten 
werden darf und aus ihr entlassen werden muß, als erwünscht 
bezeichnet haben, und daß bereits die Vorbereitung eines bezüglichen 
Gesetzentwurfes in die Wege geleitet worden ist. Dem Ersuchen war als 
Anlage eine im Kaiserlichen Gesundheitsamte gefertigte Zusammenstellung 
über die zurzeit in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Grundsätze 
für die Aufnahme usw. von Geisteskranken in Irrenanstalten beigefügt, 
und das Ersuchen ging dahin, von dem Inhalt der Zusammenstellung 
Kenntnis nehmen und von etwaigen Ergänzungen oder Berichtigungen 
den Herrn Reichskanzler baldgefl. benachrichtigen zu wollen. 

Redner vertritt den Standpunkt, daß es zwar eine ganze Reihe von 
sehr wichtigen psychiatrischen Aufgaben gebe, die einer Regelung durch 
das Reich dringend bedürften, daß aber die angezogenen Fragen, zum 
mindesten zurzeit und in diesem Umfange, nicht dazu gehörten. Er spricht 
seine Überzeugung dahin aus, daß eine einheitliche reichsgesetzliche 
Regelung der Grundsätze für die Aufnahme, Anzeigepflicht, Beaufsichti¬ 
gung und Entlassung von Geisteskranken aus Irrenanstalten im Umfange 
der aufgeworfenen Fragen bei der Verschiedenheit der Verhältnisse in den 
einzelnen Bundesstaaten und an den einzelnen Landesheilanstalten — 
wie sie aus der beigefügten Zusammenstellung allein schon einwandfrei 
hervorgehe — schwerste Bedenken, sowohl rücksichtlich des Wohles der 
Kranken wie auch der Landesheilanstalten und Universitätskliniken er¬ 
wecken müsse, und daß eine gesunde Weiterentwicklung der Irrenfürsorge 
und der Heilanstalten sich nicht durch äußere Maßnahmen, wie die in 
Aussicht genommenen gesetzlichen Vorschriften, erreichen lasse, sondern 
sich nur organisch von innen heraus, den verschiedenen Bedürfnissen 
und Möglichkeiten entsprecnend, entwickeln könne. 

Redner stellt den Antrag, daß der Verein Norddeutscher 


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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 


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Psychiater und Neurologen sich mit Entschiedenheit gegen 
das geplante Gesetz ausspricbt und bei dem Vorstande des 
Deutschen Vereins für Psychiatrie anregt, Verwahrung gegen 
eine reichsgesetzliche Regelung der in dem Ersuchen des 
Reichskanzlers vom 4. Juni 1918 aufgeführten Fragen im 
Sinne einer Uniformierung und in jetziger Zeit einzulegen. 

Aussprache. — Matusch -Sachsenberg stimmt den Ausführungen 
des Vorredners bei. 

Wcygandt- Hamburg-Friedrichsberg: Es ist höchst dankenswert und 
wichtig, daß Kollege Wattenberg die Angelegenheit einer vom Reich beab¬ 
sichtigten gleichmäßigen Regelung der Bedirgungen, unter denen ein 
Geisteskranker in eine Irrenanstalt aufgenomme'n und dabehalten werden 
darf und aus ihr entlassen werden muß, hier zur Sprache bringt. Die 
Stellungnahme der deutschen Irrenärzte erfordert Vorsicht, da der Versuch 
iweiteUos Gefahren birgt. Bei solchen Zusammenlegungen von mannig¬ 
fachen einzelstaatlichen Bestimmungen kommt vielfach ein unerfreulicher 
Kompromiß heraus, vor allem werden die vorgeschrittenen Bestimmungen 
vielfach zugunsten rückständigerer zurückgedrängt. Ein warnendes Bei¬ 
spiel gab ja bekanntlich die Bestimmung über verminderte Zurechnungs¬ 
fähigkeit, die vor 1867 in fast allen partikularen Strafgesetzbüchern 
Deutschlands vorgesehen war, leider nicht im preußischen, worauf nach 
der Schaffung eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, das 
später vom Deutschen Reich übernommen wurde, Preußen zuliebe auf 
jene wertvolle Bestimmung verzichtet wurde, um deren Wiedereinführung 
bei einem künftigen Strafgesetzbuch sich nunmehr die Psychiatrie seit 
vielen Jahren bemüht 

Die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen über Aufnahme, Festhaltung 
und Entlassung ist an sich wenig empfehlenswert, auch sind im einzelnen 
noch eine Reihe recht reformbedürftiger Bestimmungen darunter. Wenn 
Kollege Wattenberg die Hamburger Bestimmungen als in mancher Hinsicht 
vorbildlich bezechnet hat, so trifft dies im ganzen für die Aufnahme¬ 
bedingungen wohl zu, die in Hamburg hinreichend praktisch sind, so daß 
ohne große Mühe eine rasche Aufnahme in die Anstalt möglich ist, wenn 
auch hinterher noch ein oft langwieriges Bestätigungsverfahren durch 
einen Physikus zu erfolgen hat. Anders steht es mit dem Festhalten und 
der Entlassung. 

In dieser Hinsicht hat Hamburg eine Reihe von Möglichkeiten, daß 
ein Kranker gegen ärztlichen Rat die Anstalt verlassen kann, die man 
andern Orts überhaupt nicht kennt. So besteht die Berufung an das Medi¬ 
zinalkollegium bzw. einen Beschwerdeausschuß, in dem auch Laien Sitz 
und Stimme haben. Nur in Baden bestand eine daran erinnernde Instanz, 
die die Entlassung herbeiführen konnte, der Bezirksrat. Eine gewisse 
Beruhigung des Publikums hinsichtlich der unsinnigen Furcht vor Frei- 

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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


heit&beraubung seitens der Irrenärzte läßt sich immerhin durch solche 
gemischten Ausschüsse unter Laienmitwirkung annehmen. 

Außerdem besteht in Hamburg die Möglichkeit, daß ein Insasse 
Klage gegen den Staat auf Entlassung einreicht bei den ordentlichen 
Gerichten. Daß dies gesetzlich zulässig ist, hat das Reichsgericht ent¬ 
schieden und aus der Polizeigesetzgebung Hamburgs erschließen zu müssen 
geglaubt. Das Verfahren halte ich für äußerst unzweckmäßig. Ganz 
abgesehen davon, daß die Form der Klageführung gegen den Staat wenig 
geeignet ist, die Autorität des Staates zu schützen, bewegen sich auch die 
Gerichte dabei auf einem ihnen ganz fremden Gebiet, während die sonst 
zuständigen Verwaltungsbehörden immerhin mit dem Stoff wesentlich 
vertrauter sind. 

Persönlich halte ich in Fällen, die nach ärztlichem Rat noch nicht 
entlassen werden sollen, die Form der Entlassung gegen Ausstellung eines 
Reverses, in dem der Vertreter des Kranken erklärt, daß er gewarnt sei 
und für die etwaigen ungünstigen Folgen die Verantwortung übernehme, 
im allgemeinen für ganz zweckmäßig. Immerhin kommen gelegentlich 
auch Beschwerden seitens solcher Angehöriger vor, die selber einen Revers 
ausgestellt haben. 

Nicht näher eingehen kann ich augenblicklich auf einzelne Bestim¬ 
mungen, die juristisch höchst anfechtbar erscheinen, so die, daß in dem 
Verfahren der freiwilligen Aufnahme auch von dem wegen Geisteskrank¬ 
heit Entmündigten eine zustimmende Unterschrift gefordert wird, obwohl 
nach dem BGB. jede Willenserklärung eines solchen null und nichtig ist. 

Ebenso ist unhaltbar die Bestimmung über die Aufnahme eines 
Hamburgers, der außerhalb des hamburgischen Staatsgebietes befindlich 
in eine auswärtige Irrenanstalt aufgenommen werden mußte. Hierüber 
Bestimmungen zu treffen, ist lediglich Aufgabe des betreffenden Einzel¬ 
staates, während der Umstand, daß der Aufzunehmende etwa Hamburger 
Staatsangehöriger ist, auf jenes Hoheitsrecht des andern Staates keinen 
Einfluß haben kann. ' 

Daß wir nun angesichts der Gefahr eines ungünstigen Kompromisses 
uns dem Bestreben der Reichsregierung gegenüber prinzipiell ablehnend 
verhalten, erscheint mir nicht angängig, um so weniger, als bereits Bayern. 
Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen und andere Staaten eine für das 
ganze Reich zu treffende Regelung als erwünscht bezeichnet haben. Aber 
man wird gut tun, die Sache zweckmäßigerweise etwas dilatorisch zu 
behandeln, auf die zu solchen inneren Reformen nicht besonders geeignete 
Kriegszeit hinzuweisen und im internen Kreise der Irrenärzte eine geeignete 
Form der Regelung um so eindringlicher vorzubereiten. Der Deutsche 
Verein für Psychiatrie müßte sich ebenfalls mit der Angelegenheit be¬ 
fassen, wenn schon gefragt werden kann, ob von dieser Instanz ein reform¬ 
freudiges und energisches Vorgehen zu erhoffen ist. In unserem Kreise 
des Vereins Norddeutscher Psychiater und Neurologen erscheint es am 


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Norddeutscher Verein für Psychiatrie and Neurologie. 


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zweckmäßigsten, wenn ein Ausschuß diese Angelegenheit durchberat und 
Thesen vorlegt, die möglichst die wichtigsten einschlägigen erstrebens¬ 
werten Reformpunkte einer Irrengesetzgebung und Organisation berück¬ 
sichtigen. Ich möchte mir erlauben, als besonders bedeutsame Gesichts¬ 
punkte in dieser Hinsicht die folgenden hervorzuheben: 

1. Die gemeinsame Verpflegung von Nerven- und psychisch Kranken, 

die sich an den preußischen Kliniken und anderwärts, wie in Lübeck, 
bewährt haben, ist dringend empfehlenswert. * 

2. Errichtung von Polikliniken für nervöse und psychische Krank¬ 
heiten im Anschluß an die Anstalten ist empfehlenswert. 

3. Die Aufnahme in die geschlossene Abteilung ist möglichst zu er¬ 
leichtern. 

4. Bei der Entlassung gegen ärztlichen Rat empfehlen sich Reverse, 
in dem die zuständigen Angehörigen die Verantwortung übernehmen. 

5. Aufsichtskommissionen mit Laien sind sachlich nicht berechtigt, 
diesen jedoch zur Beruhigung der Vorurteile des Publikums. 

6. Entscheidung über Entlassung ist Sache der Verwaltungsbehörden, 
nicht der Gerichte. 

7. Der Anstaltsname soll auf Krankheit, nicht auf Irrsinn hinweisen. 

Riedel-Lübeck: Ich sehe die Frage nicht so schwarz an wie Kollege 

Wattenberg, glaube aber, daß wir, wenn eine reichsgesetzliche Regelung 
der Aufnahmebedingungen in Aussicht genommen wird, nicht prinzipiell 
dagegen stimmen dürfen. Das würde die Irrenärzte wieder in ein falsches 
Licht setzen. An sich ist eine reichsgesetzliche Regelung durchaus er¬ 
wünscht. Ein solches Gesetz kommt auch nicht so schnell zustande. Es 
haben die Einzelstaaten Gelegenheit, sich dazu zu äußern, auf Grund der 
Stellungnahme ihrer Sachverständigen, und das sind mit in erster Linie 
die Anstaltsleiter. Ich empfehle daher, daß innerhalb der einzelnen Bundes¬ 
staaten die Herren Kollegen entsprechend Stellung nehmen, dann werden 
die liberalen Bedingungen, die sich in den verschiedenen kleinen Staaten 
schon bewährt haben und sich nicht zurückschrauben lassen, weitere Aner¬ 
kennung finden. In diesem Sinne befürworte ich die von Herrn Weygandt 
entworfenen Grundsätze. 

BiscAo^-Hamburg-Langenhorn: In Anbetracht der Wichtigkeit der 
Frage scheint ein einfach ablehnender Standpunkt nicht der geeignetste. 
Daß ein solches Gesetz in Aussicht genommen werden würde, war bekannt. 
Nur der Augenblick war etwas überraschend. Es erscheint aber wohl besser, 
darüber auch in unseren Kreisen erst zu beraten: deshalb scheint der Vor¬ 
schlag Weygandts der bessere. Die Wahrnehmung des Standpunktes der 
einzelnen Bundesstaaten wird auch an andern Stellen als hier Verständnis 
finden. 

Kfewf-Rostock-Gehlsheim schlägt vor, einen Ausschuß bestehend 
aus den Herren Wattenberg, Weygandt, Riedel zu wählen, der die Fragen 

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254 Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 

beraten und über dieselben auf der nächstjährigen Tagung des Vereins¬ 
berichten soll. 

Die Versammlung beschließt demgemäß; die genannten Herren¬ 
nehmen die Wahl an. 

Äa/fca-Hamburg-Friedrichsberg: Blutforschung und Jugend¬ 
irresein. Vortr. berichtet über die Ergebnisse der Blutforschung beim 
Jugendirresein (Bestimmung der Blutgerinnungszeit, Blutbild, Abwehr¬ 
fermente Antitrysin, Hormone und vegetatives Nervensystem) mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der im serologischen Laboratorium der Staats¬ 
krankenanstalt Friedrichsberg erhobenen Befunde und zieht die Schlu߬ 
folgerungen in bezug auf Diagnostik, Prognostik und Pathogenese. (Er¬ 
scheint ausführlich a. a. O.) ' 

Aussprache zu den Berichten und Vorträgen über endogene Ver¬ 
blödungen. — Runge begrüßt die Bestrebungen Kleists, die große Gruppe 
der Dementia praecox, die noch größere der Schizophrenie in kleinere 
Gruppen zu zerlegen. Es bestand bisher vielfach eine Neigung, in zweifel¬ 
haften Fällen eine Dementia praecox anzunehmen. Besonders bei den 
reaktiven Situationspsychosen wird nicht selten eine Dem. pr. diagnosti¬ 
ziert. Unter 159 Soldaten mit derartigen reaktiven psychotischen Zu¬ 
ständen, die der Kieler Klinik während des Krieges zugeführt wurden, 
war im Lazarett in 15% fälschlicherweise Dem. pr. angenommen, unter 
24 Imbezillen mit psychogenen Störungen 9mal. R. findet, daß vielfach 
zu wenig nach psychogenen Entstehungsmomenten in derartigen Fällen 
geforscht wird. Die Diagnose ist auch bei Soldaten vielfach dadurch er¬ 
schwert, daß die reaktiven psychotischen Zustände nach Überführung ins 
Lazarett gar nicht oder langsamer abklingen als derartige Zustände bei 
Zivilkranken, speziell Zivilhäftlingen nach Überführung in die Anstalt 
oder bei Soldaten nach Überführung in die Klinik. Aus dem Zustandsbild 
allein ist nicht selten eine Differentialdiagnose nicht zu stellen. R. fragt, 
ob Kleist in dieser Hirsicht bei seinen Untersuchungen bestimmte, für die 
Differentialdiagnose wichtige Momente hat feststellen können. Hervor¬ 
zuheben wäre die außerordentliche Abhängigkeit der reaktiven psychoti¬ 
schen Zustände von äußeren Momenten, von der Situation und Umgebung, 
die zwar bei Dem. pr. nicht ganz fehlt, aber doch seltener und weniger aus¬ 
gesprochen ist. In ganz vereinzelten Fällen, bei denen eine Situations¬ 
psychose sehr wahrscheinlich ist, die Möglichkeit einer Dem. pr. aber hoch 
vorliegt, bringen therapeutische Maßnahmen, besonders Faradisieren, 
durch promptes Weichen der psychotischen Störungen eine Bestätigung 
der Diagnose Situationspsychose. Alle diese Unterscheidungsmerkmale 
haben aber nur bedingten Wert. Die Warnungen vor Anwendung des 
Abderhaldenschen Verfahrens zur Entscheidung in forensischen Fällen 
waren berechtigt R. verweist auf einen kürzlich von anderer Seite aus 
Württemberg veröffentlichten Fall und auf einen selbst begutachteten. 


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Norddeutscher Verein für Psychiatrie and Neurologie. 265 

in denen hauptsächlich auf Grund des Abd. Verfahrens eine Dem. pr. an¬ 
genommen wurde und eine zweimalige Exkulpierung erfolgte, wahrend 
es sich um zurechnungsfähige Psychopathen handelte. 

Rittershaus: Mißerfolge dürfen uns nicht abschrecken. Bei vielen 
Entdeckungen haben oft noch unentdeckte Fehlerquellen das ganze Re¬ 
sultat scheinbar in Frage gestellt. Negativer Ausfall der Abderhaldenschen 
Methode bei Dem. pr. beweist nichts, wir müßten viel mehr Organe unter¬ 
suchen: Thymus, Nebenniere, Hypophyse usw.; vielleicht würde dann der 
Prozentsatz der negativen Fälle sich sehr vermindern. — Positiver Ausfall 
bei nicht Praecox-Kranken ist auch noch nicht geklärt, möglicherweise 
handelt es sich um scheinbare Ähnlichkeiten im Ausfall der Reaktion. 
Andererseits müssen wir, wie Ewald bereits begonnen, nur noch viel syste¬ 
matischer, Serumuntersuchungen machen, ob ein Zusammenhang des 
positiven Ausfalls der Reaktion mit der Menstruation etwa nachweisbar 
ist, und ob sich vielleicht auch bei Männern eine gewisse Periodizität durch 
den Ausfall der Reaktion nachweisen läßt, ohne daß man dabei die Svoboda- 
schen Theorien als richtig zu unterstellen brauchte. Die ganze Frage ist 
noch nicht spruchreif, namentlich in forensischer Hinsicht, aber die Wider¬ 
sprüche beweisen nicht die Unbrauchbarkeit der Methode, sondern können 
nur zu weiteren Untersuchungen anspornen. 

CurscAmami-Rostock betont die Bedenken bezüglich der Bewertung 
der Blutuntersuchung in der Psychiatrie, wie Herr Kafka sie darstellte. 
Er erinnert an die durch Höslin u. a. festgestellte nicht spezifische Natur 
der Lymphozytose, die sich bei vielen Neuropathien und Psychopathien 
findet. Alsdann weist C. auf die von Reiß und Hamburger gefundene 
Brregungsleukozytose hin, die in der Psychiatrie besondere Berücksichti¬ 
gung verdient, und die von Kjär-Petersen beschriebene normale Leuko¬ 
zytosenkurve im Laufe des Tages bei Frauen zwischen 5000 und 20 000, 
die die diagnostische Bedeutung der Leukozytose sehr erschwert. Bezüglich 
der Erytrozytose ist die Reihe der Fehlerquellen und deshalb die Un¬ 
wesentlichkeit geringer Schwankungen nach oben und unten zu bedenken. 
Was die von Herrn Kafka angeführten pharmakologischen Methoden zur 
Feststellung von Vagatonie und Sympathikotonie anbelangt, so gibt C. 
zu bedenken, daß bei allem heuristischen Wert dieser Methoden die innere 
Medizin dazu gekommen ist, die Spezifität dieser Methoden und der andern 
Stigmata dieser Konstitutionen sehr vorsichtig zu betrachten. Häufiger 
als reine Vago- oder Sympathikotonien sind „Heterotoniker“. 

Bischof} betont, daß das Abderhaldensche Verfahren noch weiterer 
Durchforschung bedürfe, später aber möglicherweise auch für die Psychia¬ 
trie größere praktische Bedeutung gewinnen könne. 

Vorkastner fragt Hrn. Kleist , ob er die systematische Paraphrenie 
Kraepelins mit seiner progressiven Halluzinose oder einer andern Gruppe 
seiner Tabelle für identisch hält. 


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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Kleist (Schlußwort): Zu den Bemerkungen von Herrn Runge bestätigt 
K., daß auch ihm die Unterscheidung zwischen Hebephrenie und Katatonie 
auf der einen, psychopathen und psychogenen Psychosen auf der andern 
Seite oft große Schwierigkeiten bereitet hat. Für psychogene Erkrankung 
sprechen die Entstehung im Anschluß an gemütserregende Erlebnisse, die 
Wiederherstellung nach Verbringung ins Lazarett oder bei bevorstehender 
oder nach erfolgter Entlassung, dieAbhängigkeit der Krankheitserscheinun¬ 
gen von Erlebnissen, Wünschen und Befürchtungen (Elektivität der 
Symptome) und die häufigen hysterischen Zeichen. Sorgsame, länger 
dauernde Beobachtung der Persönlichkeit nach allen Richtungen (bei der 
Arbeit und Unterhaltung mit Kranken und Wärtern, wobei oft Dinge, 
die die Kranken dem Arzt verbergen, verraten wurden), führten schließlich 
immer zur Klärung der Diagnose. K. warnt davor, in diagnostisch un¬ 
sicheren Fällen das Kaufmann-V erfahren zur Klärung zu benutzen. Aktive 
Behandlung darf nur bei sicheren funktionellen Erkrankungen angewandt 
werden. Auf die Frage des Herrn Vorkastner erwidert K., daß die Para- 
phrenia systematica Kraepelins mit keiner der von K. aufgestellten Krank¬ 
heitsgruppen genau übereinstimmt. Besonders ist die Paraphrenia syste¬ 
matica von der progressiven Halluzinose durch das frühzeitige Auftreten 
und die Massenhaftigkeit der Sinnestäuschungen bei letzterer geschieden. 
Am meisten Verwandtschaft besteht wohl zwischen der progressiven 
Eigenbeziehungspsychose und der systematisierenden Paraphrenie. Doch 
hält Vortr. es nicht für möglich, diese Fälle von Kraepelins Paranoia zu 
trennen. 

Ewald (Schlußwort): Herr Kafka hat meine Resultate als „er¬ 
schreckend“ bezeichnet, dies kann er tun, wenn er sich ungefähr aut Fauser- 
schen Standpunkt stellt; stellt er sich auf den Pfautschen oder auf den 
iSclWarzschen, so wird er sie noch immer als überraschend gut bezeichnen. 
Das Urteil ist also wohl durchaus subjektiv. — Wenn er sich wundert, 
daß ich trotz dieser Resultate mit solcher Entschiedenheit für die Spezifität 
der Fermente eintrete, so möchte ich nur auf Reaktionen hinweisen, die 
von 5 oder 6 verschiedenen Organen nur 2 oder 3 abbauten, während das 
inaktive Serum keinen Abbau ergab, die Wiederholung des ganzen Ver¬ 
suches aber absolut den gleichen Ausfall wieder ergab. Dies sah ich nicht 
einmal, sondern oft. Ich möchte wissen, wie das mit allgemeinen proteo¬ 
lytischen Fermenten zu vereinigen wäre. — Wenn Herr Kafka meint, man 
tue gut, schwach positive Reaktionen als negativ zu rechnen, so muß ich 
dem entgegenhalten, daß wir uns dann jeder Vergleichsmöglichkeit der 
Resultate verschiedener Autoren begeben, der eine beurteilt dann das als 
positiv, was der andere für negativ hält und umgekehrt. Ich war auf 
diesen Einwand ebenfalls gefaßt und habe eine weitere Zusammenstellung 
von Resultaten gemacht, bei denen ich alle schwach positiven Resultate 
fortließ. Diese ergibt dann allerdings ein Herabgehen der positiven Resul¬ 
tate bei Hysterie ynd Psychopathie auf 25 %, gleichzeitig sinken aber die 


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Resultate bei Dem. pr. auch auf 50%. Ich kann darin keinen Vorteil 
sehen. — Wenn Herr K. jetzt nicht mehr zur forensischen Verwertbar¬ 
keit der Abd. Reaktion neigt, so begrüße ich das sehr, wir sind in dieser 
Hinsicht dann gleicher Ansicht geworden. Sollte die Pritsche Methode 
zu einheitlichen Resultaten führen, so würde das niemand mehr begrüßen 
als ich. Man würde dann auch erheblich leichter Serienuntersuchungen 
anstellen können, da die neue Mikromethode sehr wenig Blut braucht. — 
Gegenüber Herrn Rittershaus sei betont, daß wohl oft auch andere Organe 
angesetzt wurden, aber nicht immer, deshalb sind diese Versuche in meiner 
vergleichenden Statistik nicht verwertet.' Es wäre natürlich denkbar, 
daß die eine oder andere negative Reaktion mit andern Organen noch 
einen Abbau gäbe. Ich denke nicht daran, die Abderhaldensche Forschung 
abzulehnen, wende mich ja nur gegen die forensische Verwertung. — Herrn 
Bisehoff gegenüber sei erwähnt, daß uns einzelne positive Untersuchungen 
bei Normalen veranlaßten, auch auf geistige und körperliche Arbeit zu 
achten, auch auf menstruelle Verhältnisse usw. Diese Untersuchungen 
sind noch nicht abgeschlossen. 

Kafka (Schlußwort): erwähnt gegenüber Herrn Curschmann, daß 
ihm die Fehlerquellen der hämatologischen Untersuchung wohlbekannt 
sind. Er hat auch selbst über die Lymphozytose der Neurotiker berichtet. 
Es handelt sich aber hier meist um Zahlen, die außerhalb der Fehlergrenzen 
liegen, und um Kombinationen verschiedener Besonderheiten; ferner 
scheint, wie im Vortrage hervorgehoben, das Studium des Blutbildes 
weniger die Diagnostik zu befruchten, als bei Serienuntersuchungen 
wichtige Ausschlüsse über den Verlauf und prognostische Anhaltspunkte 
zu geben. Gegenüber Herrn Bischoff hebt K. hervor, daß bei Gesunden die 
A. R. in genügender Anzahl vorgenommen worden ist, zum Teil auch bei 
Erschöpften (eigene Untersuchungen). In Hinsicht auf die Ausführungen 
von Herrn Runge warnt K. davor, Grenzfälle als beweisend für die Fehler 
der A. R. heranzuziehen, und ergänzt einen prägnanten Fall. 

IFeygandt-Hamburg-Friedrichsberg: Über Hydrozephalie. 

Das alte Problem, das Hippokrates bereits interessiert und zu Vor¬ 
schlägen über Ventrikelpunktion veranlaßt hatte, bietet immer noch neue 
Aufgaben. Gratiolet stellt bekanntlich die Theorie auf, daß mäßige Hydro¬ 
zephalie günstige Wirkung auf die Psyche ausüben könne. Prinzipiell ist 
dies durchaus nicht abzulehnen, sehen wir doch beispielweise bei Hypo¬ 
manie unter Umständen eine keineswegs wertlose Leistungssteigerung, 
selbst bei Paralyse wurde es behauptet, wobei Möbius gelegentlich seiner 
Nietzsche -Studien auf eine Kasuistik von Parant hinweisen konnte. Natür¬ 
lich handelt es sich um ein vielgestaltiges Leiden. Anscheinend liegt in 
den meisten Fällen ein entzündlicher enzephalitischer Vorgang zugrunde, 
der aber auch schon ante partum vorhanden gewesen sein kann. Hodenfeld 
fand bei 0,09 % aller von ihm sezierten Kinder der ersten Lebenszeit Zeichen 
von Hydrozephalie, Zuckerkandl bei 127 Schädeln in 27% hydrozephalen 




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Verhandlungen psychiatrischer Vereine. 


Typus. Meyn bezeichnete bei 1169 Hirnsektionen Geisteskranker die in 
474 Fallen vorhandenen Verwachsungen der Hinterhörner als Andeutung 
von Hydrozephalie. Mandl fand in 0,03 % der Geburten Hydrozephalus 
als Geburtshindernis. Nach der Hamburger Medizinalstatistik war 1913 
bei 0,12% der Geburten angeborener Hydrozephalus festzustellen. 

Einen an leichten Hydrozephalus erinnernden Schädelbau findet man 
tatsächlich bei nicht wenigen geistig hervorragenden Männern, manchmal 
mit andern bemerkenswerten Symptomen. Edison hatte in seiner Jugend 
ausgesprochenen Hydrozephalus, Edi .ger hatte das Bild, das ich ihm sandte, 
als verblüffend bezeichnet Schopenhauer wäre zu nennen, von Musikern 
Beethoven, Rubinstein, Wagner, R. Strauß, Reger. Bei Gottfried Keller 
kommen anderweitige psychische Umstände hinzu. Helmholtz ist zu 
erwähnen in Verbindung mit Epilepsie. Besonders zu beurteilen sind 
Menzel und Windhorst wegen des Minderwuchses, der offenbar hypophysär 
aufzufassen ist. Nicht näher eingehen kann ich auf das Problem des ersten 
Napoleon, der zeitlebens doch öfter epileptische Zustände darbot und in 
seinen letzten Jahren an Dystrophia adiposogenitalis litt, offenbar beide 
unter dem Gesichtspunkt einer im frühen Leben entstandenen enzepha- 
litischen Reizung mit hypophysärem Einfluß infolge Druckwirkung des 
Liquor vom Infundibulum her. 

Bourneville erwähnt einen 70 cm Umfang darbietenden Hydro¬ 
zephalusfall mit Lähmung, der über gute Intelligenz und Urteil verfügte. 
Ein Kranker Christians mit 80 cm Umfang lernte Sprachen und hatte 
schöpferisches musikalisches Temperament. In England untersuchte ich 
einen 13jährigen mit 60,5 cm Umfang, der eifrig und geschickt als Tischler 
arbeitete. Barr erwähnt einen Kardinal mit 3,5 1 Hirnflüssigkeit. 

Eine wenig bekannte Form, die in der Monographie von Kalischer 
in Lewandowskys Handbuch überhaupt nicht erwähnt ist, beruht auf 
Chondrodystrophie, Achondroplasie oder Mikromelie. Murk Janson er¬ 
wähnt in seinem Buch über Achondroplasie beiläufig einen Neugeborenen 
und ein 2jähriges Mädchen mit diesem Leiden und verkürzter Schädel¬ 
basis sowie Hydrozephalus. Auch Par rot, Marfan ,und Apert hatten 
erwähnt, daß der Schädel bei Achondroplasie manchmal hydrozephal ver¬ 
größert ist. 

Der sogenannte neugeborene Kretine von Virchow, der zweifellos 
chondrodystrophisch war, ergab bei einer Nachuntersuchung einen durch 
Schädelausguß festgestellten Schädelinhalt von 460 ccm gegenüber 385 
bis 450 beim normalen Neugeborenen. In einem alten Werk .von Sömme- 
ring 1791 ist ein extremer Fall eines neugeborenen Mikromelen mit hoch¬ 
gradigem Hydrozephalus abgebildet. 

Geradezu singuläre Züge zeigt ein Fall, den mir v. Blomberg demon¬ 
strierte, der klinisch und makroskopisch darüber berichtet hat. Ein Kind 
wurde 16 Jahre alt, hatte ganz auffallenden zylinderförmigen Hydro¬ 
zephalus mit höchst eigenartiger Vorwölbung der Schläfenschuppen 


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beiderseits in Gänseeigröße. Die Intelligenz war unter Durchschnitt, doch 
laute das Kind Deutsch und Polnisch, sang, wußte Choräle, rechnetet bis 10, 
schrieb nach Diktat kleine Buchstaben, strickte usw. Mehrfach traten 
epileptiforme Anfälle auf. Die Körperlänge betrug 123 cm, das Hirngewicht 
1250 g; es wurden 1150 ccm Liquor aufgefangen. Die Thymus war 50 g 
schwer. 

Als für Chondrodystrophie beweisend muß ich folgende Punkte 
bezeichnen: 

1. die Körperproportionen, insbesondere den Gegensatz des wohl- 
ausgebildeten Rumpfes gegenüber den kurzen Oberextremitäten; 

2. die Dreizackhand; 

3. die durch Verdoppelung des 1. Metatarsus rechts angedeutete 
Polydaktylie; 

4. die gebogenen Diaphysen mit konkaven Enden; 

5. die Brachyzephalie; 

6. eine Bildung spongiöser Lamellen im Schädel, die oberhalb der 
temporalen Ausbuchtung entstanden waren und an die sonst bei Chondro- 
Dystrophie an der Grenze zwischen Epi- und Diaphyse, manchmal nur 
histologisch, nachweisbaren Lamellen von Bindegewebe mit Neigung zur 
Verknöcherung erinnern; 

7. etwa früh entwickelte Sexualcharaktere; 

8. das heitere, friedliche Temperament. 

Das Vorderhirn war blasig aufgetrieben, die Schläfenlappen wie 
zwei dünne Säcke, die Rinde hatte 1—3mm, das Markl,5—2,5 mm Durch¬ 
messer. Das Okzipitalhirn war weniger komprimiert. Trotzdem ergaben 
Schläfenrindendurchschnitte aus Feld 20 nach Brodmann an einer Stelle, 
wo Rinde und Mark zusammen 3—3,5 mm dick waren und davon */, auf 
Rinde kam, noch ganz korrekte Zytoarchitektonik. 

Durch Zufall konnte ich in den letzten Tagen ein Kind von 5 Monaten 
untersuchen, das andeutungweise ein Seitenstück dazu darstellt. Es 
war gut ausgetragen und schien wohl entwickelt, doch fiel mit 3 Monaten 
der Kopf durch großen Umfang von 46,5 cm auf. In den letzten Wochen 
nahm der Umfang um je 1 cm zu, so daß er mit 5 Monaten 51,3 cm maß. 
Besonders bemerkenswert war nun dabei 

1. ein auffallender Wulst in der linken Schläfengegend; 

2. tiefer, schräger Sitz der Ohren, besonders des linken, das zur 
Horizontale einen Winkel von etwa 35° bildet; 

3. Brachyzephalie; 

4. Hautwülste am Oberarm, besonders rechts; 

5. Andeutung von Dreizackhand. 

Durch Balkenstich, den es gut überstand, wurden 50—100 ccm mit 
Blut gemischten Liquors entleert. 

In unserer anatomischen Sammlung, die 28 Hydrozephaliepräparate 
•enthält, findet sich kein Fall, der auf Chondrodystrophie hinweist. 


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Ein weiterer Fall, dessen Bruder 14 Tage alt mit Hydrozephalus und 
hühnereigroßer Spina bifida starb, zeigte mit 6 Monaten Verdickung des 
Kopfes, mit 10 Monaten einen Umfang von 53,3 cm, die Fontanelle 8:8 cm. 

Es traten tetanieartige Zuckungen auf, die Reflexe waren sehr 
lebhaft, Nackensteifigkeit, Puls 250, Temperatur 40,9°, Benommenheit, 
Exitus vor der geplanten Punktion. Der Liquor war xanthochrom, zeigte 
6—20 Zellen Globulin, Wassermann-Mastixreaktion ergab nach Kafka 
Meningitistyp. ' 

Der Schädel war leicht asymmetrisch, das Hirn wog 1385 g und 
enthielt 200—300 ccm Liquor. Auf dem Durchschnitt zeigte sich links 
kugelförmiger Tumor von 7,3—8 cm Durchmesser, nach vorn in 3 Kugeln 
gegliedert, nach hinten eine große Kugel, mit auffallenden schwarzen 
Schichten. 

Histologisch war es ein Papillom, wohl vom Plexus chorioideus 
ausgehend. 

Es fanden sich ausgesprochene epitheloide Zellen, mehrfach auch 
Riesenzellen mit 2 oder mehr Kernen. Viele neu entwickelte, dünn¬ 
wandige Gefäße, Pigmentschollen, Reste von epitheloiden Zellen und 
Erythrozyten, stäbchenförmige Zellkerne, dann wieder zellarme und blut¬ 
gefäßarme Stellen. Das Pigment ergab Eisenreaktion, die auf seine Her¬ 
kunft aus Blutfarbstoff hinwies. 

In diesem Falle hätte die beabsichtigte Punktion wohl sofortigen 
Exitus gebracht. 

Es muß angesichts der relativen Häufigkeit des angeborenen oder 
früh entstandenen Hydrozephalus, die sich keineswegs scharf scheiden läßt, 
mehr auf Chondrodystrophie geachtet werden. 

(Der Vortrag war veranschaulicht durch 35 Diapositive.) 

Aussprache. — 'FPa&er-Rostock-Gehlsheim fragt, wie sich die Epi¬ 
physe in den beschriebenen Fällen von Hydrozephalie verhielt, da er 
selbst in 2 Fällen Aplasie, einmal völlige Verkalkung dieses Organs bei 
angeborenem Hydrozephalus fand. 

Weygandt (Schlußwort): An der Epiphyse der Fälle wurde bis jetzt 
nichts festgestellt. 


CurscAmann-Rostock: Zur Diagnose und Therapie Meniire- 
scher Zustände. 

Der Meniiresche Symptomenkomplex wird diagnostisch auffallend 
häufig verkannt. Zwei typische, beide auf alte Otitis media zurück¬ 
zuführende Fälle, beide trotz 6- bzw. 2jährigem Bestehen nicht diagnosti¬ 
ziert, erhellen die Gründe der zu wenig durchgedrungenen Diagnose dieser 
Fälle, die beruhen 1. in der allgemeinen Neigung, M. -Komplex nur bei 
schwersten apoplektischen Fällen des ursprünglichen Af.sehen Typus zu 
diagnostizieren; 2. in der Tendenz der Otiater, den Af.sehen Komplex 
nicht als Krankheit sui generis darzustellen, sondern nur als Symptom 


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Norddeutscher Verein für Psychiatrie and Nearologie. 261 

der verschiedenen Erkrankungen des Labyrinths und des N. acusticus 
den Darstellungen dieser einzuschachteln; 3. in der ungenügenden Kenntnis 
des Af.schen Komplexes als dominierenden Symptoms einer Neurose oder 
einer fast reinen „Organneurose“. Auch der Frankl-Hochvrartsche Begriff 
des „Pseudo-Meniöre“ als Aura oder auch Akme eines hysterischen, epi¬ 
leptischen oder hemikranischen Anfalls engt den Af.schen Komplex viel 
eu sehr ein. Besonders wichtig ist der Af.sche Komplex als Syndrom und 
Produkt einer vasomotorischen Diathese (H. Oppenheim u. a.). 

Die letztere Form ist unter den funktionellen Formen bei Kriegsteil¬ 
nehmern besonders häufig. Es bestehen hier Beziehungen zur Hyper- 
aesthesia vestibularis, die infolge irgendwelcher intestinaler Reize (beson¬ 
ders bei bestehender Vagotonie) zum Schwindel führt. 

Der mitgeteilte Fall eines Offiziers, Angina pectoris vasomotoria zu¬ 
sammen mit A/.schem Schwindel, kennzeichnet diese Fälle. Nur bestand 
gesteigerter kalorischer Nystagmus. In zwei andern mitgeteilten Fällen 
klimakterisch-vasomotorischer Neurosen mit Af.schem Komplex war der 
kalorische Nystagmus ganz normal auslösbar. Dieselbe Divergenz findet 
sich übrigens auch beim organ ; sch-bedingten Menigre: bald Steigerung 
bald (häufiger) Herabsetzung des kalorischen Nystagmus interparoxsmal. 
Dies Symptom ist diagnostisch ohne größere Bedeutung, der klinische 
Symptomenkomplex ist wichtiger. 

Besonders wichtig ist die Kombination von alten, latenten, otogenen 
Labyrinth Veränderungen mit nervösen Erschöpfungszuständen ( H . Oppen¬ 
heim) und Präsklerose oder echter Arteriosklerose, aus dieser Kombination 
heraus relativ häufige Entstehung Af.scher Symptome. 

Besonders in diesen Fällen ist Dauerschwindel nicht selten und 
besonders häufig verkannt. Letzterer kommt auch als rein funktioneller 

M. scher Komplex vor, wenn auch selten. Hier bestehen Beziehungen zur 
Vertigo permanens von H. Oppenheim. 

Therapeutisch ist Vortr. unbedingt für die alte Menüre-Chareots che 
Chininbehandlung, die zurzeit weit mehr Gegner hat (Frankl-Hocfuvart, 
Strümpell, Barany, Voß, Penzoldl usw.) als Anhänger. Vortr. bespricht 
die sehr reichhaltige Therapie, die sich unter Vermeidung des Chinins bis 
zur Lumbalpunktion und operativen Maßnahmen gesteigert hat. Die 
eigenen Fälle Curschmanns, 20 organische, 19 funktionelle MenMre- 
fälle, zeigten auf Chinin ausgezeichneten Erfolg, nur 1 oder 2 organische 
blieben ganz unbeeinflußt, desgleichen 3 funktionelle, alle andern wurden 
teils geheilt, teils erheblich gebessert. Auch das (nicht verwertete) Kranken¬ 
hausmaterial C .s spricht in diesem Sinne also gegen die Frankl-Hochwart- 
sche Ansicht. Vortr. hat auch bei vorsichtiger Dosierung und langsamem 
Einschleichen des Chinins nie ausgesprochene Akustikusschädigungen 
gesehen. Also ist die Auffassung von der Wirksamkeit des Chinins bei 
Af.schen Komplexen durch toxische Schädigung bzw. Betäubung des 

N. acusticus (ursprüngliche Charcot&che Ansicht, experimentell durch Witt- 


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maaek begründet) wahrscheinlich nicht richtig. Die neueren experimen¬ 
tellen Arbeiten ( Lindt , Schröder und Hinsberg) machen ebenfalls die spe¬ 
zifische Neurotropie des Chinins bezüglich de&N. acusticus sehr zweifelhaft. 

Nach Vortr. ist die Wirkung vielleicht zum größeren Teil in der 
experimentell ja bekannten vasomotorischen Wirkung des Chinins zu 
suchen, die bei vasomotorischer Ataxie (H. Herz) bewährt ist, auch zur 
Dämpfung der Hyperkinese des Herzens neuerdings empfohlen wurde 
(Winterbach). Alles das berechtigt zur energischen Befürwortung der 
Chininbehandlung aller MeniörezuStände. 

Aussprache. — Saenger- Hamburg kann voll und ganz die Aus¬ 
führungen des Vortragenden unterschreiben. Er wendet ebenfalls seit 
langer Zeit Chinin in der Behandlung des Menidre mit sehr gutem Erfolg 
an, wofür er einen einschlägigen Fall mitteilt. 

H. Curschmann (Schlußwort) bemerkt Herrn Saenger, daß er auch 
selbstverständlich neben dem Chinin als Hauptmittel ab und zu (aber 
relativ selten) Sedativa (Brom) oder Schlafmittel oder gegebenenfalls 
Togika verwendet. Das wesentliche Pharmakon sieht er aber, wi e f Saenger, 
im Chinin. — Bezüglich der Dosierung geht C. ganz langsam einschleichend 
vor: er gibt statt der ursprünglichen Chininpulver Charcots (0,25 g) 
Pillen zu 0,1 g Chinin, sulfur., gibt die ersten 3 Tage 3mal eine Pille, die 
weiteren 3 Tage 3mal 2 Pillen und nur, wenn diese vertragen werden, 

4 mal 2 Pillen 3 Tage lang, alsdann Pause von 3 Tagen. Diese Serie wird 
3—4mal wiederholt. Dann Pause von einigen Wochen und eventuell 
Wiederholung dieser Serien, viele Monate, ja 1—2 Jahre lang, ohne bisher 
je grobe Schädigungen gesehen zu haben. Rentenfälle hat C. in seine 
Statistik nicht aufgenommen. 

Peters-Rostock stellte folgende Patienten vor: 

I. einen 22jährigen Matrosen, welcher bei vollkommener Beschrän¬ 
kung der Auswärtswendung des linken Auges eine deutliche Retraktions¬ 
bewegung des Augapfels beim Blick nach einwärts zeigte; 

2. eine Patientin, welche das Bild der rezidivierenden Conjunctivitis 
petrificans (Leber) zeigte. Wie in dem Falle Sidler-Huguenin, gelang es 
auch in diesem Falle, den Nachweis zu führen, daß es sich um eine Selbst¬ 
beschädigung durch Einbringen von Kalk in den Bindehautsack handelte. 
Es besteht beiderseits ein partielles Symblepharon des unteren Lides; 

3. eine Patientin, welche im Alter von 3 Jahren das linke Auge 
durch Verletzung und das andere durch eine sympathische Ophthalmie 
verloren hatte. Bei der jetzt 18jährigen wurde vor kurzem auf dem rechten 
Auge ein verkreideter Katarakt extrahiert, und es stellte sich ein gewisses 
Sehvermögen wieder her, welches der Patientin z. B. das genaue Erkennen 
von Farben ermöglichte, während das exzentrische Sehen außerordentlich 
zu wünschen übrig läßt, so daß räumlich getrennte Gegenstände nicht 
wahrgenommen werden können. 3 Wochen nach der Operation noch nimmt 
die Patientin besonders den Tastsinn zur Hilfe, um sich über die Natur 


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Torgehaltener Gegenstände, die sie an sich wahrnehmen kann, genauer 
zu informieren. Es steht zu erwarten, daß die Patientin das wiedererlangte 
Sehvermögen in der Folgezeit noch erheblich besser auszunutzen imstande 
sein wird. 

Walter-Ewald. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Die Dr. EdeIsche Heilanstalt für Gentüts- und Nervenkranke zu 
Gharlottenburg konnte am 24. Februar 1919 auf ihr 50jähriges Bestehen 
zurückblicken. Gegründet von San.-Rat Dr. Karl Edel, steht sie jetzt 
unter Leitung von San.-Rat Dr. Max Edel und Dr. Gustav Emanuel. 


Die" Heilanstalt Schweizerhof geht afh 1. April 1919 in den Besitz 
der Provinz Brandenburg über, welche die Verpflichtung übernimmt, die 
Anstalt noch wenigstens 30 Jahre in der bisherigen Weise fortzuführen 
und, falls dann eine Verlegung der Anstalt beschlossen wird, einen Teil 
der durch den Verkauf gewonnenen Mittel einem Unternehmen zu widmen, 
das Geistes- oder Nervenkranken über die dem Provinzialverband gesetzlich 
obliegende Fürsorge hinaus zugute kommt. 


JPeraonaM<io7irio7Uen. 

Dr. Robert Wollenberg, Geh. Med.-Rat und o. Prof., bisher in Straßburg, 
hat einen Ruf an die Universität Marburg angenommen. 

Dr. Otto MönkemöUer, bisher Direktor der Prov.-Anst. Langenhagen, ist 
zum Direktor der Prov.-Anst. Hildesheim, 

Dr. Eduard Schütte, bisher Oberarzt in Lüneburg, zum Direktor der 
Prov.-Anst. Langenhagen, 

Dr. Willy Rizor, Abt-Arzt in Langenhagen, zum Oberarzt an dieser 
Anstalt, 

Dr. Franz Viedenz, Oberarzt in Eberswalde, zum Direktor der Heil¬ 
anstalt Schweizerhof, 

Dr. Wilhelm Schott, vor 'dem Kriege Assistent in Haus Schönow, zum 
Oberarzt in Schweizerhof ernannt. 

Dr. Heinrich Rehr wurde als Oberarzt von Langenhagen nach Lüneburg, 

Dr. Ludwig Loder als Oberarzt von Neuruppin nach Potsdam, 

Dr. Erwin Hoffmann als Assistenzarzt von Potsdam nach Görden ver¬ 
setzt. 

Dr. Kohrer in Breslau hat sich als Privatdozent für Psychiatrie und 
Neurologie habilitiert 

Dr. Kaufmann, Priv.-Doz. in Halle, ist der Titel Professor verliehen 
worden. 

Dr. Wilhelm Tintemann, Oberarzt in Osnabrück, ist am 19. Februar 1919, 

Dr. H. F. Rubarth, Geh. San.-Rat, früherer Direktor der Prov.-Anst. 
Niedermarsberg, und 

Dr. Hermann Köberlin, Oberarzt an der Kreisanstalt Erlangen, sind 
gestorben. 


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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähig¬ 
keit der Schädel-Hirnrerletzten mit Kraepelins 
Methode der fortlaufenden Additionen. 

Von 

Dr. 6. Voß, 

fachärztlicher Beirat für Nervenkrankheiten im Bereiche des VII. A.-K. 

Für die Inangriffnahme dieser Arbeit waren verschiedene Ge¬ 
sichtspunkte maßgebend. Vor allen Dingen handelte es sich um 
den Versuch, die geistige Leistungsfähigkeit der Schädel-Hirn-' 
'verletzten und ihre Arbeitsweise zu prüfen. Dann hatte ich den 
Plan, durch Wiederholung der Versuche den Gang der Er¬ 
krankung in ihrer Einwirkung auf die geistige Leistungsfähigkeit 
zu verfolgen. 

Besonders geeignet schien mir Kraepelins Additions¬ 
methode, um an der Hand einer Gegenüberstellung der Arbeits¬ 
kurven Himverletzter mit mehr oder weniger groben organischen 
Ausfallerscheinungen und der Arbeitskurven Schädelverletzter vom 
Typus der traumatischen Neurose einen Vergleich dieser zwei 
Gruppen durchzuführen. 

Es sind von anderer Seite neue Vorschläge zur Messung der 
geistigen Leistung Schädelverletzter gemacht worden. Mit guten 
Gründen bin ich der alten Kraepelinschen Additionsmethode treu 
geblieben. Erstens verfügen wir über ein, wenn auch nicht völlig 
übereinstimmendes, aber doch reiches Material von früheren Unter¬ 
suchungen, zweitens setzt die Ausnutzung eines psychologischen 
Versuches zu klinischen Zwecken nicht allein technische Fertig¬ 
keit und Vertrautheit mit der angewandten Methode voraus, sondern 
auch eigene, klinische Erfahrung. Eine mehr als 20jährige 
Benutzung der Methode des fortlaufenden Addierens bei den ver- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 3. 19 


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266 


Voß, 


schiedensten Kranken, vor allem bei Tranmatikem, gibt mir die 
Möglichkeit, ihre Ergebnisse kritisch zu verwenden. 

Versuchsanordnung: Wir bedienten uns, wie früher, AerKraepe’ 
{irischen Rechenhefte. Die Vp. hatten die Aufgabe, 15 Minuten lang fort* 
dauernd je zwei einstellige Zahlen zu addieren. Nach 15 Minuten folgte 
eine 10 Minuten lange Erholungspause, dann wieder 15 Minuten Rechnen, 
noch eine 10-Minuten-Pause und der dritte Schlußabschnitt von 15 Minuten 
langem Addieren. Die 5-Minuten-Leistungen wurden durch ein Zeichen ab¬ 
gegrenzt. 

Diese Anordnung hat sich sehr bewährt; sie läßt die Wirkung der 
einzelnen Arbeitsfaktoren klar hervortreten. Zwar stellt sie erhebliche 
Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Untersuchten, doch haben 
nur wenige Vp. versagt. Der Kranke Delaf. (Stirnschuß) bekam, nachdem 
er mit großem Antrieb die Arbeit begonnen hatte, im Verlaufe des zweiten 
5-Minuten-Abschnittes einen schweren epileptischenAnfall. Als er nach 
10 Monaten den Versuch wiederholte, mußte er ihn nach Ablauf der zweiten 
Viertelstunde abbrechen, da leichte Schwindelerscheinungen das Wieder¬ 
auftreten eines Anfalls befürchten ließen. Ein zweiter Kranker, Stü., 
brach nach der ersten Viertelstunde den Versuch ab und gab an, nicht 
imstande zu sein, weiter zu rechnen. Bei der Wiederholung des Versuches 
nach 2 Monaten konnte er ihn, wenn auch unter sichtlicher Anstrengung/ 
zu Ende führen. Be. (Halbseitenlähmung mit Epilepsie) war nicht fähig, 
zu rechnen; zweimal versuchte er vergeblich, über die ersten 5 Minuten 
hinauszukommen. 

Sehr viele Kranke zeigen während des Rechnens starke Rötung des 
Kopfes; fast alle klagen über Kopfschmerz und Schwindel. 

Im ganzen haben 75 von meinen Schädelverletzten den Rechen¬ 
versuch durchgeführt, darunter rechneten 53 lmal, 17 2mal, 4 3mal und 1 
5mal. Die Wiederholung des Versuches wurde meist nach 4—6 Monaten 
vorgenommen. Bei einzelnen Kranken lagen kürzere, bei andern längere 
Zeitabschnitte dazwischen. Nur in einem Falle mußte aus äußeren Gründen 
der zweite Versuch schon nach 4 Wochen stattfinden. Sein Ergebnis 
zeigt, daß von einer Übungswirkung, die etwa vom ersten Versuch hätte 
übrigbleiben können, nicht die Rede ist. Um so sicherer werden wir bei 
den 2 und mehr Monate langen Unterbrechungen eine Beeinflussung des 
2. Versuchs durch die im 1. erworbene Übung ausschließen dürfen. 

Von den 22 Kranken, die wiederholt rechneten, wiesen 14 eine mehr 
oder weniger deutliche Besserung auf; bei 6 Vp. blieb die Leistung unver¬ 
ändert, und bei 2 (Fi. und Weißfl.) schließlich trat eine deutliche Ver¬ 
schlechterung ein (s. Kurven Nr. 1 a und b). Das Verhalten dieser beiden 
letzten Kranken in klinischer Beziehung entsprach völlig der Ver¬ 
minderung ihrer Rechenleistung. Fi. rechnete 3mal in Abständen von 
6 und 2 Monaten. In die Zeit zwischen dem 1. und 2. Versuch fiel die 


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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 267 

wegen JacksonscheT Anfälle vorgenommene Operation, die leider nicht den 
gewünschten Erfolg hatte. 

Weißfl. hatte einen Stirn querschuß erlitten; bis auf eine erhebliche 
Sprachstörung gemischter Form bot er anfänglich keine Abweichungen. 
Er konnte zunächst als Architekt den Unterricht in der Kunstgewerbe¬ 
schule besuchen, wobei nur seine große Ermüdbarkeit störend wirkte. 
Allmählich traten psychische Störungen, Neigung zu Depression mit - 
Selbstmordgedanken, hinzu, die, allerdings in etwas schwächlicher Weise, 
mit Zeiten besserer Stimmung abwechselten. 

Unter den 6 Kranken, deren Leistung keinen deutlichen Fort¬ 
schritt erkennen ließ, möchte ich besonders auf die Kurven von 
Fab. und Lön. aufmerksam machen (s. Kurven Nr. 2a und b). Wir sehen 



hier, daß die Leistungen des 2. Versuches in fast photographi¬ 
scher Treue den 1, Versuch widerspiegeln. Die Viertelstunden¬ 
leistungen betragen bei Fab. im 1. Versuch 238, 322 und 334, im 2. 243, 
339 und 328; die Gesamtleistung beträgt demnach für Versuch I 894, 
für II 920 Nicht nur nähern sich die Leistungen einander auffällig, son¬ 
dern auch ihre Aufeinanderfolge in den einzelnen 5-Minuten-Abschnitten 
ist sehr ähnlich. Allerdings hat Fab. beim 1. Versuch mit, beim 2. ohne 
Antrieb gerechnet, dafür setzt mit der 2. Viertelstunde beide Male eine 
erhebliche Besserung der Leistung ein, die zum Teil als Übungswirkung zu 
erklären ist, zum andern Teil auf Anregungswirkungen mit Fortfall einer 
anfänglich bestehenden Hemmung beruht. Auch bei Lön. differieren die 
einzelnen5-Minuten-Leistungen nur um etwa 5 oder 10 Zahlen; in beiden 
Versuchen zieht sich die Kurve wurmförmig hin, unter dem Einfluß 
geringer Übungswirkung allmählich ansteigend. 

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Die geschilderte ül>miu5‘v(n?u\!n^ io der Arbeitsweise bei wieder* 
holten Versuchen tritt, auch hei 'Vp. ' hm»*. die entweder vme dcUtbeN 
Steigerung uder aber eine yjjffßt\4 %Lüstlingen erketideb iiefew 
is. Kurven ’vr 8 und 4h Zu de» Va tni*■ dcuMidi^r. Besserung gehört 


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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 269 

aber vermindert sich die Leistung langsam, die 2. Pause vermag sie nicht 
mehr zu heben, und das Niveau des 3. Abschnittes liegt deutlich am tiefsten; 
nur sehen wir als weitere Zeichen der vermehrten Leistungsfähigkeit am 
Schlüsse des 2. Versuchs einen geringfügigen Schlußantrieb. Auch bei 
Schna.(4) stimmen die stark gezackten Kurven beider Versuche im allge¬ 
meinen überein. Schna. beginnt beide Male unter dem Einfluß sichtlicher 
Hemmung, zeigt weitgehende Erholung nach der 1. Pause; im 1. Versuch 
tritt die starke Ermüdungswirkung in den zweiten 5 Minuten des 2. Ab¬ 
schnitts hervor, während im 2. Versuch der steile Abfall erst am Schlüsse 
dieses Abschnittes erfolgte. Im 3.Abschnitt bleibt in beiden Versuchen die 
Leistung weit unter dem vorhergehenden, sie erhebt sich in den zweiten 
5 Minuten, um schließlich ziemlich steil abzufallen. DieVersuchsergebnisse 
bei Schna. lassen sich kurz dahin kennzeichnen, daß beide Male starke 
Übungs-, aber noch stärkere Ermüdungswirkungen vorliegen, wobei die, 
auch klinisch, bei ihm sehr deutliche Besserung nicht nur in einer Erhöhung 
der Leistung, sondern auch in einer Abnahme der Ermüdungswirkung 
sich äußert. Auch die beiden Versuche von Weißfl., die oben als Typus 
der Verschlechterung geschildert wurden, lassen in ihren Einzelheiten im 
allgemeinen Übereinstimmung erkennen. Beide Male fehlt der Antrieb, 
und die Leistung ist im zweiten 5-Minuten-Abschnitt am höchsten. 

So können wir feststellen, daß unter den drei Gruppen von Vp. mit 
gestiegener, mit unveränderter und mit verminderter Leistung 
die wiederholten Versuche eine auffällige Übereinstimmung 
in der Arbeitsweise, d. h. in der Form der Arbeitskurve, zeigen können. 
Diese Feststellung ist von besonderem Wert für die Beurteilung der 
Methode des fortlaufenden Addierens. Die Befürchtung, daß die 
Versuchsergebnisst von den Kranken willkürlich gestaltet werden 
könnten, also vonRentenanwärtern etwa absichtlich herabgedrückt werden 
könnten, fällt damit fort. Es ist unmöglich, nach monatelanger Pause 
bei der Wiederholung des Versuchs willkürlich eine derartige Überein¬ 
stimmung in Höhe und Art der Leistung herzustellen. Vielmehr gibt uns 
die in der beschriebenen Weise gehandhabte Additionsprüfung einen 
objektiven Maßstab für die Beurteilung der geistigen Leistungsfähigkeit. 

Ich kehre zu den Kranken zurück, deren wiederholte Leistung 
keinen deutlichen Ausschlag, weder nach oben noch nach unten, erkennen 
ließ. Stie. hatte zwischen den beiden Versuchen die Meningolyse durch¬ 
gemacht ; trotz einer subjektiven Besserung sehen wir die geringe Leistung 
des ersten Versuches sich kaum bessern. Auch die wurmförmige Kurve 
ist bestehen geblieben; sie zeigt weder Antriebs- noch Übungswirkungen, 
läßt keine Ermüdung hervortreten, was bei der geringen Leistung zu 
erwarten ist. Ich komme auf die Eigentümlichkeiten dieser durch den 
Mangel an ausgesprochenem Charakter typischen Kurven zurück; wir 
kennen sie von der Arbeitsweise der traumatischen Neurotiker her 
( Buddee ). 


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270 


Voß, 


Auch die Kurve Ges. gehört in diese Gruppe; sie bildet jedoch schon 
den Übergang zu den eine deutliche Besserung aufweisenden Kranken. 
Das erste Mal war aus äußeren Gründen nicht in Viertelstunden mit 
10-Minuten-Pausen gerechnet worden, sondern nur dreimal 10 Minuten 
mit je zwei Pausen von je 5 Minuten. Dabei hatte sich im letzten Arbeits¬ 
abschnitt deutliche Ermüdung geltend gemacht. Im zweiten, unter den 
gewöhnlichen Bedingungen durchgeführten Versuche sehen wir die Leistung 
noch im vorletzten 5-Minuten-Abschnitt ansteigen, um nur zuletzt abzu¬ 
fallen. So darf man wohl bei Ges. von einer im Laufe von 4 Wochen einge¬ 
tretenen geringen Besserung sprechen, die sich weniger in einer Steigerung 
der Additionszahlen als in verminderter Ermüdbarkeit äußert. Es ist 
nicht anzunehmen, daß die kurze Pause diesen Einfluß gehabt hat; ihre 
Wirkung wurde wohl durch die kurze Arbeitszeit ausgeglichen. 

Besonderen Nachdruck möchte ich auf die Kurven von Krü. legen. 
Es handelt sich um einen 19jährigen, intelligenten Menschen, der durch 
rechtseitigen Schläfen-Scheitelhirnschuß eine schwere, linkseitige Halb- 
sqitenlähmung davontrug. Bei der Aufnahme war er noch kaum fähig, 
zu gehen, die Hand war völlig unbrauchbar; trotz eines großen, röntgeno¬ 
logisch nachweisbaren Fremdkörpers besserte sich der ^körperliche und — 
scheinbar — auch der geistige Zustand sehr rasch. Bei Betrachtung der 
Kurve fällt der Unterschied in der Anfangsleistung auf; man könnte 
denken, der 2. Versuch sei wesentlich besser. Das 6timmt nicht, denn die 
geringen Zahlen der ersten 15 Minuten des 1. Versuchs sind nur durch 
Hemmung bedingt. Die eigentliche Leistung tritt erst im zweiten 
Abschnitt hervor und deckt sich hier in beiden Versuchen fast 
völlig. Der 2. Versuch zeigt eine typische Ermüdungskurve, mit 
Höchstwerten in jedem ersten 5-Minuten-Abschnitt; ähnliche Ermüdungs- 
Wirkungen finden wir auch im ersten Versuch, bei dem anscheinend die 
fehlende Gewöhnung den Typus noch weniger deutlich hervortreten ließ. 
Krü. bietet uns also einen beachtenswerten Hinweis, daß klinische 
Besserung durchaus nicht mit Erhöhung der Leistungsfähig¬ 
keit auf dem Gebiete der geistigen Arbeit einherzugehen 
braucht. Das ist bei Rentenbemessungen sehr zu beachten. i 

Nur kurz noch möchte ich hinweisen auf die Kurve von Del., die 
schon anfangs erwähnt wurde. Ein Vergleich seiner Leistungen ist kaum 
möglich, da der erste Versuch durch einen epileptischen Anfall unter¬ 
brochen wurde. Auch das zweite Mal mußte er am Schluß des zweiten 
5-Minuten-Abschnittes aufhören, da zunehmender Kopfschmerz und 
Schwindelgefühl das Nahen eines Anfalles befürchten ließen. Wir sehen 
hier, daß entsprechend starker körperlicher Anstrengung ( Aschaffenburg) 
auch die geistige Anspannung das Auftreten des epileptischen 
Anfalls begünstigt. 

Man wird diese Erfahrung dahin bewerten dürfen, daß die Rente 
eines traumatischen Epileptikers nicht der Ausnutzung seiner 


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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 


271 


vollen Arbeitskraft angepaßt werden darf, sondern nur der Hälfte bis 
höchstens zwei Dritteln. Diese Feststellung gilt für körperliche so gut 
wie für geistige Arbeiter. 

Unter den Vp., die bei wiederholtem Rechnen eine Besserung 
ihrer Leistung zeigten, steht Gä. wohl an erster Stelle. Im Laufe von 
5 Monaten hat er dreimal gerechnet; während der 1. Versuch unter An¬ 
triebswirkung beginnt und infolge von Ermüdung ziemlich Starke Schwan¬ 
kungen aufweist, ist die Kurve des 2. gleichmäßiger, sie hält sich ununter¬ 



brochen über der ersten. Im 3. Versuch machen sich Antriebs- und Er¬ 
müdungswirkungen wieder geltend, wenn auch weniger als zuerst. Die 
Gesamtleistung erreicht annähernd die doppelte Höhe des 1. Versuchs. 

Auf die Kurven von Lew. undSchna. wurde oben bereits hingewiesen; 
sie zeigten neben der Erhöhung der Leistung ein auffälliges Festhalten 
an ihrer Arbeitsweise, das wir auch bei Schmi. und Schab, finden. Die 
Besserung zeigt sich also ifi diesen Fällen nur in der Erhöhung der Leistung, 
während die Arbeitskurve unbeeinflußt bleibt. 

Recht schwankend sind dagegen die Leistungen von Fl. (s. Kurve 
Nr. 5): Er litt an den Folgen eines Stirndurchschusses. Bis auf geringe 


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3?2 

Itfesie vom. Sprue)!- und'Shhriftstömug konnte roan ihri-für -geheilt. halten. 
UniV dpeb zeigte seiR Yi^lfäUftn bei t^g$tebder /&h^r.e. 

Störungen auf abMalpngü; Vor altern 

fiel seine Entschlußunfökigk/d. wf.ituuc Sütanuuur war schwaiikooä t.tvJ 
■ •• .. li. Durchaus ahrd/dr seinem dtmgen Verhalten ist seine Ar¬ 

ie it - kurve.. Dem steif' vorhanden;!:' guten' W dkm ebt spricht der ity t*; 
vfiüi t Yveswah«rt nai^VriO&hkm Änfaitgsahlileig^ fittr Köir\Y U 

fvhb Y\,n Versuch t— IV feuUm wir ciut-zr Anstieg der LHsUmg. dk* zwar 
i" Jti »lYeii Höhepunkt em/chi/abcr erst in IV eme gewisse Stetigkeit 
•••• 1 etk-ennt'!« -Uißt< Dagegen fgUt thg iütfye V stark ab; 

z/ad/Ak.;,aös iler jilrf ' Sa- der. 

QuXuwu );;. oftiröcht wurde 

i- >• < i - n ;i»u>)i'sonst ps^iiiDtii ein weniger günstige? Bild, sc. daß ö'-r 
r; EhltUifi. .seiner niiiitüi'bclien Vcrwenduog deütöoh kervortral/ 

V:;. ivvfuic* Uii. Ji äu fuur BetiiuVitung der em?:eh»tn Arheit®kurvgij. 

um. den Mnitüß der ,v£t$ddedtdiptt Arbeit**-'; 
nadi Mögliclikeit kjarzusleheu. Ghuch im Beginn der Arbeit 
1 •••■ ••• ;• keinen glefoi.-niaßiger* Verlauf der Kurven : Autriebsvnr kujfe 
gen treiiiVo bekantulidv die Leistung dw'ersten 5.Minüten beiatKbrfdalfSt i: 
um A‘‘fcis^T, die !LdsUuig des '5-Äinbleft-Al>SA’5*hV^^:-h.»ög!itS»--;Üiv^;. 

iiidegd Vp. tirb: sieb 20»n;ik ointj mehr oder minder douUhche AnW/lk-’ 

; ' A-sVätelheft'- / Bleibt hhvgtegen die Aiilaitgstel?biu)k jiirdvr'ktter 

• ■ ■ • : ö. s gavv Um. /j-Mintuei>••Abschnitt es zurück,' so darf mau auf 

>■ Kssviv'knxjg' it jmhl'ieüen. Bei 33 Yp. cvur Ytiesk Hemmung 
. . )>*•' dem Reste der f.'nfersijvhtetJ «rar dk 'Höbt'- der beideQ 

i.,5 nen .Leistungen fast gleich. Da, wir vorhin «eihon hervor- 
•ier Afayiigsanlrieb beim Normalen jutliezii als die. Hegel ange- 
• hu o)iiß ; eo ist es hereeMigt, auch, diese |fi‘Fäija.4bft«öehßh;t<hY 
h# s^4kähjehvi,iWürde ihre Zahl 49* also fgkk ds£ iifr£.mU 

»tri : ‘v u‘k li iigeu .'Arbeit ende ty, erreich«)». Hieraus dürfen wir 'daß 
hon. daß der .Beginn dor Arbeit der Scbadelverletzten 
i,0 -is ilor überwiegenden Zahl der Falle (V9 ■; 20) unter 

B/iijime. : gsWirkung steht. 

>. 'i>. n \vir Yox> • dgi 1 .-im ^ ihifvb ber4fViöhiY^'äi%fo^t’ai^orl^*; 

ypii !' * .•'••■■iifortigkeit ah, so sutit «lie Hüite der LoiHvmg in. engster Ab/ 
h jügA% r ,U YM 1 tlur Die BeurtoihVrfg des Clnmg§-\ 

W ■ 1 : iiungt i| ‘:)Mt {•)<•;?';. von d'-rAiitafigsbuslungi, undroritoita vbn de1»Y' 

kltfütf/firl'ungv Stfehk Begtim des Versuchet unter diu$gt?i>r%fer 
W- Hf ■ : -■vsr.u.jiig, und ivtusht sichjitn S«;hhiß keine stärker^ ErmUdijttg 

kann tuit.-r fjtn.-if.uut/u >un rrh, L,tirh( v Cbtt»gv?uwo. hs vor 

• ■ ; Worden.; I.slt D iW vvgw'i der liijutigkett «i«'} HemmUngswiikun 



>' nie zahle 

titmoölge f/Yit?ieil«Ui}? .vf'r?,h“htel i 

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vrchfge.r ;nn 



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Untersuch liegen über die 


:eM}ge Leistungs fähigkeit usvr 


Ausdeutung frag.i.bet Fälle ab auf die Verwertung addier Kurven, die 
einwandfrei iu die ei«? oder aiufere örujfjjie jSUtd Bürch* 

siefit. der Kurven zeigt, daß mir ; ausgeprägte Ij jbuogs^ii’kuiijgw 

IwJStniidC'ö;. auf/üJlend gering war die tßvuagstuhigkdt wi ’isl Fallen, Bei 


jciirbck., setbst weHR vöd stärkeren jift ttw'• Beginn .fetefei 
die Knde siiiu konnte. Man vergleiche inertu die Kurven von Sehna., 
.sirie. uiid Ifoffin. (s. Kurven Nr. Ga, b «. cj. 

Befrachte!!. wir die Li-fetangon der rait starker Obungswirkung 
ftrBdleifden \ r p,« so faßt ^f^-idtajCr-ittire. Anfongsvverte meist unter der Höhe 
des jrt^itefe 5-Mi«.Uten-Aii!jehrtiUe& steheii. Diese Hemmung finden wir 


*-•»halten sieh die Beide mit ausgeprägt geringer CKimgsfähigfeeif,. 
Ufer feinden ?/j.r Ötnal st-ake Aidridisv/irUnng mut tun '„mud ypurd> fe • '»•' 
.Versuch«- :uii . in.-r IFnuming feegomun. V.;u den i. übriger. V]-. ?.eigten 
4 wüßigeu Äntriefe feifel St' efeefeäbirfee Ujutmmngv Wir könnt»*»demnrtefe 
augkft, da0 fine g«*wisse Afehan.gigk• |f| «wi|. V.• • n V feungsfäifiukr». 
eiaerwifei und Antrieb titul Kl«*tifett» ü$. ;i>'• ,bfei; de.i 
ce i •'t 1 '-•' •» Arbt it k' i! ; >-!eiv.'[ i. • i>- < f h ; . fco An- 

t ■ i-• 1 *~wirk tin*rr h Iu-rvuri red tu . pflegt dfe jÜbotivMahigkeil 
gering i\i kein. >vci 'fea$feg.efeyfe'l«. i*r§ AfeFfefe|r-febtsi- 

vviegi, fei die Ubuiigsw irkin.i/ tet n * 'Lu-ei ■■. es v jjr fette r. 

1 ipf dnw?b d.k t- hfeog steige »Kfefi firfedl^t: *t|e. ßi tnfed u n g 

»ndcegeH., linlW 1 .Kurv«#vfefe^afrfektfebfe,; >|% ^iVi-.^uböni'S 

Btfetl vier' Er m udtini.fc.~tt ; fecit• -/fekife., felfelfdit fete 

Kn rveii vofe %feo^, Ätfe ufefe itek(r j.; W$ ■■»>«*.|| {ei ' r ». 


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H| einc-ft «ehr ähnlichen 'Yeilaul zeigen (s. Kurv* Nr.'.lk * « «. bk Er 
begÄiin jMesjäwl mit Parker tteaijtn«i\g ; die Leistung 1»ob sich dann 
wettilieh rasch, pm afevlr am Schlüsse Jeds* recht 

•ffe|l' abzusinken. Hiervon bildet mir die erste Vi^tcMüüdh dos ‘i.Yer- 

fchdms eine Ausmifoinp. Hier macht sieh di*- BrAiödhhf. : cio^'itbM'g^HeY(.d.< 
vj.-Jniehr stetst dk Leistung bis über die <«rs.le P«u«*- zue» zwp.Heu 
&-Miaö♦ öt* rAjbÄ<:l/f>ilt an,,««) dann allerdings sehr schroff ahzusinke«, JDie 
tJuleradne«!.} des 2. gegenober dem 1. Versuch zeigen %m. sehr >chöh 
den Foriscluitt in der psychischen Leist ungsrähigkciI, der sich »m 
Laufe von 8 ' Monat ch eingestellt hat und auf allen Geh Wien, sowohl 
khrpeilieh als auch geistig, nachweisbar war.'"’-: ; ;v 


So- heg»hat ebenfalls mtt starker Hemmung; während der ersten 
S Älinuterv f teigft \iie Lefetüüg, die lO Minüten Pause latU die Ghungs- 
Wirkung gehr deutlich horynrlretänLln* ersten $-2|Ijn«tep-AbschnHi nach 
der -ersten Pause em-kld die Kurv.j ilnyo Hdhiqmr'kf. Man kann daraus. 
•\ ielle.h. hl *« idk-ßeh, dob dm »Sthluß det* ersten 5 Rfinutviv doch schon Er* 
mtidongswirkungen bestanden, welche die Leistung der letzteit $ Minuten 
vor der ersten Pause heiabdnKhtvjii. Jsach dem Höhepunkte sinkt, die 
Leistung deuHUdi ah; nie swi.Ue Pause genügt imhi «.ehr, um dk- Er¬ 
müdung auszügluicheh; »hd biald sehen wir* nach einer sehr geringCEt 
Lebfung Kähwml der visLn 5 Minuten nach der 2. Pause, den Kranken 
voilig V!»•vage«. Bei Halier. finden wie .kn Höhepunkt der Leistung in 
MiüMI stefc" in den ersten 8 Minuten- er hat offenbar 
mit stuckern-Antrieb gerechnet, In seiner Kitry.itf von Ülwigswirkung 
nhr wenig zu kenuukon. In den ersten 8 Min«len uuehderb Pausa wird 
d< i Höhepunkt der Leistung erreicht.- Hier mAgvn Auint'bswrfcyn«: Und 
'Dbung» aus dem L Teile des Versuches sysaitdacßgcwirkt haben.: •: H.anh 





Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 275 

folgt ein sehr steiler Abfall unter die Hälfte der Leistung des Höhepunktes 
und eine ganz geringe Erhebung nach der 2. Pause, auf die ein weiterer 
ununterbrochener Abfall folgt. Wir haben hier ein selten schönes Bild 
der Ermüdungswirkung vor uns. 

Wie verhält sich nun die Ermüdung zu den oben geschilderten 
Arbeitsfaktoren, dem Antrieb, der Hemmung und der Übung? 
Während wir oben feststellen konnten, daß Übungsfähigkeit und Hem¬ 
mung direkt, Übungsfähigkeit und Antrieb umgekehrt proportional sind, 
läßt sich eine s'olche Abhängigkeit der Ermüdung YOn diesen beiden Fak¬ 
toren nicht feststellen: Unter den 17 Ermüdungsfällen finden wir 8mal 
Antriebs- und 7mal Hemmungswirkung. Mitunter wechseln in einem und 


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demselben Versuch Hemmung und Antrieb miteinander ab. Anders 
dagegen verhält sich die Übung. Ausgeprägte Übungswirkungen finden 
sich nicht weniger als 9mal unter den 17 hier in Rede stehenden Fällen, 
nur 3mal fehlte der Einfluß der Übung völlig, und in den letzten 5 Fällen 
war die Übungswirkung gering. Dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen 
Übung und Ermüdung bei unseren Schädelverletzten stimmt durchaus 
überein mit den Erfahrungen, die früher an gesunden Vp. gemacht wurden 
(Kraepelin und Hylan). 

Es könnte schwer verständlich erscheinen, warum unter unseren 
Schädelverletzten ein verhältnismäßig nur geringer Prozentsatz, nämlich 
17 von 75 Leuten, Ermüdung aufweisen. Es wird allgemein, und nach 
unseren Erfahrungen mit Recht, die große Ermüdbarkeit der Schädel¬ 
verletzten hervorgehoben. Wie seinerzeit die Versuche von Buddee und 
Specht lehrten, lassen sehr geringe Leistungen Ermüdungs¬ 
wirkungen nicht zum Vorschein kommen. Wir werden bald 
sehen, daß die Leistungen unserer Schädelverletzten im Durchschnitt 


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itt!ßcrQr‘lenl]kh niedrig s>i/ick Btnveggn sißh die 5-Mi iruten -Leist u tigert 
pmahßp 4ü q* td ßö '■■$&$: sogar ivA'Srb.cii 20 jjml 40 Äddtiäpne«, so ergibt 
ßiob für rlb“ .fewzoli'eeimöngi die AddUipn. tvei«' etfiäkdli^et Schien, <tf£ 

•i^iii. : ' uigö Z^l! Vvl? b~ ■ * 0 fv;U.üO&-Ü. Es. Ü Ogi, Oüf jöcjt 
JEiru: ■,!.;■■. : .’;(• He^'nwiftgsmfliuni , »'rt so siJirJc smd ^all ümo Er- 

■•••• : - noc? nemkd-trt» nicbt i.if'bfhra- >vfPdt‘i 

keim* sVu- if.tc Kurv« iler so brngsaixi rcthnt-tnJcju Vp. 'vrtdi An- 
f>u!v i':- ki. *i'T. Versuchs -in einer nur rriiig gesellten Linie 

v*>H-, :• ■ l- i •'•ii‘Hut? diese Art' der Kurve.. wii- ei« b>ü?pirEv,u’Eo Hart., 
erd wohl am stärksten Zk-tti. x*uhv'oiso.n. at*, >v»t-oi • 
"f l ■'•■•■■ - • -.. Kurven Nr. '7 a u. b); sit enhuerf. gorodr xe ,.<t> Am 

. i Zuckung bti il« EnUtrhiiig«n akliu?i uef- Muskels. 

uss^n >r tuiae »ivürtf.fc:ssioinfVcir; y^4»i«S:^r : ls4iiikt. df r 
|{< ru . Jii;Eioigcn Baffen ist die Hbniinurig: :iä^^Q^:^söpfe genug-, 

■ üjn (’Wt verhindern jörä^r .eir-^Ewikcii „■ 

Ü ist« ■ : •■ n s ’vV/'Sin.Iis. I>jr Kurvt dar v.-..-suke Hciu.müag 

anigf "ifti'u '. vuu AjifnoR des Vi'HE c ^ s .0? 

dvi* utip uisivodeMtonde wird, 

&»>»«•.. •>, ;-..i imd HolYm. (s. .Kurven Nr. 6;>, h uc) zeigen diesen Typus. 

| • ■ ..rkuiigVu gi-itf-o t.lucn-uvn einer Ktn v*. gont aiuk.re GoslaJt, 

ürsi« (üßgß^fc erfeebKeiie .SrOiüdüilgsV^irkuij'gp.ri, dawi^eUc'»/ 4" Wir 

«t 1 1 . 1 1(. ■ ufe br prför .«finniger k<g^d»äÖigpE untOr gräÄir^ü odfer 

i’* 'ti..;. • .:• • -. g.-r, v. r'rtvifcmlt' Zicl.jüuo.kkurvt. wt* sie beKpü-Jsvv. is.c 

«. i'.in.. ii.t;. . .!•••• Zick. ,'<.'ufrfi. Groß»''ühungsfähigkeil'rrgi'bt whc--. sdi- 
i -i: i ; .,;r... ; . ; j t . grrvtdvtüirl) jiuni fstJihiü, je nach <Ur. Wirkung 'Er 
: . ■ t ?i.m . .: iiji.il i' mW- iaifgsmri abfutlumJv Kurvt. 

;■ •; >fE' ; f)‘ ii' 1 tfiluug dor Vb^tuhSorg^brusöi'' jsf nüob die GfcSÄtrt t- 

; H v'jt' .{ifiuressv:. ßt mjrdo» iin gauson ati 88 Vorsucbsf agou ; 

v ^,dij:rEEii^lE vu>egr J Tii&E ' ti&s ergibt Eibe DukEsobiiitttfletsiniig für ■ 
il'-tt 'ßt; v<W): .Üßl -iddifjoimo, aiso hev' byoyv. Arbi4tÄduui?V vpu 
44 vtiu»u.'.i tH,, t,‘. ^Inhg.vün t.f< AddUtoiieri ^r« .MfftütKy : . ; '. 
' UH' v; ouinu E ; t fiir dir -nil 

Wirvdpttptt aimeiirueiK ifalä t-irip ^Er/«üi|%dsöi». dip 
'i■ i» '.in vii klung ;.!!t'^hvnt<i d*-y Nlr-i,*y.shV' iKbHvi- K.r;<nkei>. 

.•! • i;i ... ; ' !•>■ :ih 5. o»;feab<b*u für vuie Atldikitu r.vwr »••ubttthge»- 
• 'vir.», 'tV»vi<u. !ii)i»gsn»aleriai ■«lieütoi» pur-die Wi-- 
• Hutiii.r, ••• c •“!•' Arii--iK}f;is!ui!t<t it grsund*. *• Kraid-t;. • 

• ß•..:' ••■ ■ •■ i tu;?/*.-!! vms lr;n<Jii.'v t s<beii NcviroUkein viugbth. Aurb 

i 1 ' Iirvhei(}»eTt»>. vvar «.eiitp Y^r- 

Stiel;* ,iuw i*■ .-.'■ • . : tieft- •unltrs uestoitöt. -Seine \' (.. &.\ l:n •> -u 1* 

-• ; : -u l u;rn j-- Ui Minuten tung. vwl-.rs -.<!, •;. ') >i }\:u:b 

f? V'i'H'tri.' • ••»<.; i uf.se t'ingesi hüben wurde. Für .ten \ • rgi•. i. j, »tut iitl t'flt n 
* 11 u L -■" :, • >: geMimlen Ki'anEenWiuMer ßi&jHÜ&k 


Goa gfe 







Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 277 

in Betracht, weil es sich dort ebenfalls um lauter junge, im militärpflichti¬ 
gen Alter stehende Leute handelt, deren Bildungsstand dem unserer 
Soldaten völlig entspricht. 

Bereits im Anfänge der Arbeit habe ich darauf hingewiesen, daß es 
von Bedeutung wäre, die Arbeitskurven Hirnverletzter mit 
mehr oder weniger groben, organischen Ausfallerscheinungen 
den Arbeitskurven jener Schädelverletzten gegenüberzu¬ 
stellen, die dem Typus der traumatischen Neurose ange¬ 
hören. Zu diesem Zweck war es nötig, eine Gruppierung unserer 
Fälle vorzunehmen. Ich betone von vornherein, daß die Unter¬ 
scheidung dieser Gruppen auf große Schwierigkeiten stößt. Wir 
finden alle Übergänge von jenen mit Lähmungen, Epilepsie und 
schweren psychischen Veränderungen behafteten Schädelverletzten bis zu 
den Leuten, die auf organischem Gebiet keinerlei Ausfallerscheinungen 
oder Reizerscheinungen und auch keine Reflexstörungen zeigen, deren 
Schädel und Hirn bis auf geringe knöcherne Veränderungen keine 
Spuren der Verletzung mehr erkennen läßt. Wie ich an anderer Stelle 
ausgeführt habe (Nervenärztliche Erfahrungen an 100 Schädelverletzten, 
Münch. Med. Wschr. 1917, Nr. 27, S. 881), steht die Häufigkeit und Er¬ 
heblichkeit der Beschwerden durchaus nicht in direktem Verhältnis zu 
der Schwere der organischen Störungen. Wir finden vielmehr, daß gerade 
die anscheinend leicht Verletzten ohne organische Ausfallerscheinungen 
die meisten Klagen äußern und sich dem bekannten Bilde der traumati¬ 
schen Neurose nach Kopfverletzung, das wir aus der Friedensarbeit zur 
Genüge kennen, nähern. Aus obigen Gründen wird die Trennung der 
organischen von den mehr funktionellen Fällen stets einen etwas willkür¬ 
lichen Charakter tragen. Immerhin glaube ich, sie einigermaßen richtig 
durchgeführt zu haben, indem ich ihr das Vorhandensein oder Nicht¬ 
vorhandensein organischer Störungen irgendwelcher Art und die Ergebnisse 
längerer Beobachtung zugrunde legte. Es ergaben sich 39 organische und 
36 funktionelle Fälle. Von den oben erwähnten 88 Versuchstagen ent¬ 
fielen 38 mit 20 406 Additionen auf die Neurosen, während die organischen 
Schädelverletzten an 50 Versuchstagen 39 562 Additionen ausführten. 
Das ergibt für die 1. Gruppe eine Durchschnittsleistung von 537 Zahlen 
pro Versuch, 12 Zahlen pro Minute, während die Durchschnittsleistung 
der zweiten Gruppe 791 und 18 betrug. Der Gesamtdurchschnitt betrug, 
wie oben erwähnt, 681 und 15 Additionen; wir sehen also, daß die organi¬ 
schen Fälle in ihrer Leistung ganz erheblich, und zwar um etwa 30%, 
die Neurosen übertreffen. Ich habe zum Vergleich 10 Fälle von nicht 
durch Schädel Verletzung bedingter traumatischer Neurose den gleichen 
Versuch anstellen lassen, wobei ich hervorheben möchte, daß sie nicht 
ausgesucht, sondern der Reihe nach, wie es der Zufall brachte, geprüft 
wurden. Diese 10 Leute führten im ganzen nur 4050 Additionen, im 
Durchschnitt der Versuche also 405 Additionen aus, also addierten sie 


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278 


Voß, 


pro Minute nur 9 Zahlen. Wir ersehen daraus, daß die Rechen¬ 
fähigkeit der reinen traumatischen Neurotiker noch weit hinter den 
Leistungen meiner als funktionell aufgefaßten Schädelverletzten zurück¬ 
bleibt. Diese außerordentlich geringe Leistung der träum atischen Neu¬ 
rotiker kommt einzig und allein durch psychische Hemmung zu¬ 
stande. Ich habe vorhin als Hemmungstypus die „wurmförmige“ Kurve 
bezeichnet; sie findet sich am ausgesprochensten und häufigsten bei der 
nicht organischen Gruppe. Als stärkste Ausprägung der Hemmung haben 
wir die absteigende wurmförmige Kurve kennengelernt. Sie ließ sich durch 
die Annahme einer während der Arbeit wachsenden Hemmung 
erklären. Die 3 für dieses Verhalten als charakteristisch genannten Fälle 
Strie., Scha. und HofTm. gehörten sämtlich den funktionellen Fällen an, 
ja, sie waren auch klinisch als solche gekennzeichnet. So litt beispiels¬ 
weise Scha. an einer hysterischen Lähmung des linken Armes. Dieses 
Ergebnis stimmt völlig überein mit den Erfahrungen, die wir bei Ad¬ 
ditionsversuchen mit traumatischen Neurotikern in der Greifswalder 
Psychiatrischen Klinik machten (s. o. Buddee). Es ließ sich feststellen, 
daß die psychogene Hemmung bei traumatischer Neurose die Neigung 
hat, während der Arbeit zuzunehmen, während im Gegensatz hierzu die 
Hemmung selbst schwerkranker Depressiver aus der Manisch-Depressiven- 
Gruppe im Beginne der Versuche am stärksten ist und bei fortlaufender 
Arbeit mehr oder weniger zu schwinden pflegt (Hutt, Voß). Die psychische 
Hemmung der traumatischen Neurotiker stimmt in dieser Beziehung 
völlig überein mit dem Verhalten dieser Kranken auf anderem Gebiet. 
So sehen wir bekanntlich nicht selten, daß eine hysterische, anfangs nur 
angedeutete Lähmung zunimmt während der Untersuchung, ebenso wie 
bei der Sensibilitätsprüfung zunächst noch schmerzhaft empfundene 
Heize auf der einen Körperhälfte späterhin keine Schmerzreaktion mehr 
hervorrufen. Dieses Verhalten le,gt den Gedanken an willkürliche Über¬ 
treibung oder Vortäuschung nahe; es ist aber eher zu erklären aus der 
unwillkürlichen Verstärkung einer in den Bereich der Aufmerksamkeit 
tretenden, vorher schon in geringem Maße vorhandenen Störung. 

Sowohl Specht als auch Buddee haben sich bei der Anstellung ihrer 
Rechenversuche an traumatischen Neurotikern eingehend mit der Frage 
beschäftigt, ob die geringen Leistungen ihrer Vp. etwa durch willkürliche 
Vortäuschung zu erklären wären. Beide Verfasser lehnten diese Möglich¬ 
keit ab. Auch ich habe oben auf die merkwürdige Übereinstimmung der 
Kurven hingewiesen, welche von einem und demselben Kranken in mehr 
monatigen Zwischenräumen geliefert wurden. Die fast photographische 
Treue, welche beispielsweise in der Wiederholung des Versuches Lw. zeigt, 
läßt eine willkürliche Einstellung der Arbeitsgeschwindigkeit wohl mit 
Sicherheit ausschließen. Ferner läßt die Beobachtung der Kranken 
während der Versuche selbst fast stets erkennen, ob sie mit Eifer bei der 
Sache sind. Die meisten Kranken zeigen eine starke Rötung des Kopfes; 
oft tritt Zittern der den Bleistift führenden Hand bei längerer Arbeit auf. 


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Original fro-m 

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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 


279 


Auch der früher gegen die Anwendung der Jtraepelinschen Rechen- 
methode erhobene Einwand, daß die Arbeit zu eintönig sei und das Inter¬ 
esse der Vp. zu leicht bei der Arbeit erlahme, wodurch das Zustande¬ 
kommen einer Höchstleistung verhindert werde, geht durchaus fehl. Wir 
haben fast stets den Eindruck gehabt, daß unsere Vp. mit ganzem Eifer 
bei der Arbeit waren und nur infolge eintretender Ermüdung in ihren 
Leistungen nachließen. 

Ich fasse meine Ausführungen in folgenden Sätzen zusammen: 

1. Dem allgemeinen Verlauf der Sehädel-Hirnverletzungen ent¬ 
sprechend finden wir bei Prüfüng der Rechenfähigkeit nach einem 
Zeitraum von im Durchschnitt 2—6 Monaten in dem größten Teil 
der Fälle eine Besserung der Leistung. Bei einer geringen Zahl 
von Kranken bleibt die Leistung unverändert und in vereinzelten 
Fällen stellt sich eine Verschlechterung des Ergebnisses ein. 

2. Das Ergebnis der Rechenprüfung entspricht nicht immer 
der Entwicklung des Zustandes in körperlicher Hinsicht: wir finden 
einerseits, daß schwere körperliche Beeinträchtigung mit guter 
psychischer Leistung Hand in Hand geht, während umgekehrt 
bei geringem Ausfall auf körperlichem Gebiet die psychische 
Leistung sehr schlecht sein kann. Der Besserung auf körperlichem 
Gebiet entspricht durchaus nicht immer eine Zunahme der Rechen¬ 
fähigkeit. 

3. Die Arbeitskurve der Schädel-Himverletzten zeigt aus¬ 
geprägte individuelle Eigentümlichkeiten. Bei Wiederholung der 
Versuche halten die Kranken an dem zuerst festgestellten Typus 
häufig so weit fest, daß die späteren Kurven mit nahezu photo¬ 
graphischer Treue die früheren Ergebnisse wiederholen können. 

4. Die meisten Schädel-Hirnverletzten zeigen im Beginn der 
Arbeit eine Hemmung, so daß die Leistung des ersten & Minuten- 
Abschnittes geringer ist, als die des zweiten. 

5. Die Ubungsfähigkeit war bei der Mehrzahl meiner Kranken 
gering. Starke Übungsfähigkeit fand sich oft gepaart mit erheblicher 
Ermüdbarkeit. Wo große Ubungsfähigkeit bestand, ließen sich 
weniger AntriebswirkuDgen feststellen. 

6. Die Gesamtleistung der Schädel-Himverletzten ist niedrig. 
Sie bleibt um etwa Vs hinter der Leistung gesunder Vp. von 
gleichem Bildungsstand zurück. 

7. Unter meinen Schädel-Himverletzten ließen sich, wenn 


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Original fro-m 

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280 Voß, Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 

auch nicht ohne Schwierigkeiten, 2 Gruppen voneinander scheiden, 
a) Kranke mit ausgeprägt organischen Störungen, b) Kranke 
mit hauptsächlich funktionellen (psychogenen) Symptomen. Von 
beiden Gruppen sind alle Übergänge vorhanden; eine scharfe 
Trennung läßt sich nicht durchführen. Zu einer richtigen Be¬ 
urteilung bedarf es eingehender Untersuchung und längerer Be¬ 
obachtung. 

8. Die Rechenfähigkeit der Gruppe a) ist erheblich besser als 
die der Gruppe b). Am geringsten sind die Leistungen von zum 
Vergleich herangezogenen traumatischen Neurosen anderer Her¬ 
kunft (Zitterer, psychogen Gelähmte usw.). 

9. So gut wie körperliche Anstrengung kann auch geistige 
Anspannung bei Schädelverletzten epileptische Anfälle auslösen. 
Diese Erfahrung mahnt zu einer vorsichtigen Einschätzung der 
Erwerbsfähigkeit Schädel-Hirnverletzter im allgemeinen und ins¬ 
besondere Kranker mit epileptischen Anfällen: Wir werden die 
Rente niemals einer mit Höchstanspannung der geistigen oder 
körperlichen Kräfte zu erreichenden Leistung anpassen dürfen, 
sondern sollten dem Kranken nicht mehr als l / a — 1 / 3 seiner Arbeits¬ 
kraft als vorhanden anrechnen. 

10. Auch die vorliegenden Versuche mit der Kraepelinschen 
Rechenmethode haben ihre Brauchbarkeit als klinisches Unter¬ 
suchungsmittel erwiesen; es besteht keine Gefahr, daß die Er¬ 
gebnisse absichtlich verringert oder verändert werden. 

Literaturhinweise. 

Buddee, Über Rechenversuche an Gesunden und Unfallkranken usw. 
Diese Ztschr. Bd. 67, S. 906. 

Specht, Über klinische Ermüdungsmessungen. I. Teil: Die Messung der 
geistigen Ermüdung. Arch. f. d. ges. PsychoL Bd. III, H. 3. 
Hylan und Kraepelin in Kraepelins Psychol. Arbeiten Bd. IV. 

Hutt, ebendort, Bd. V. 

Voß, Weitere Untersuchungen über die Schwankungen der geistigen 
Arbeitsleistung. Internat. Kongr. f. Irrenfürsorge. Berlin 1910. 
Kongreßbericht. 


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Original fro-rri 

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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannes¬ 
alter. 

Von Dr. Oehring. 

Wenn wir unseren Ausführungen hauptsächlich die Geistes¬ 
krankheiten des Mannesalters, also die Zeit vom 35. bis 45. Lebens¬ 
jahre, zugrunde legen, so geschieht dies eines Teiles deshalb, weil 
in diese Grenze die ältesten Jahrgänge der Militärdienstfähigkeit 
inbegriffen sind, anderen Teiles auch deshalb, weil bekannt ist, 
daß diese Periode für den Ausbruch geistiger Störungen ganz be¬ 
sonders disponiert ist. Fallen doch in diese Periode neben dem 
Ausbruch der progressiven Paralyse hauptsächlich auch Er¬ 
krankungen, die mit der Rückbildung Zusammenhängen, weshalb 
gerade diese Formen auch als männliches Klimakterium beschrieben 
worden sind. 

Die Aufgabe der Untersuchung ist es nun, einerseits den 
quantitativen Verhältnissen nachzugehen, andererseits die Formen 
im einzelnen genau zu prüfen und zu studieren und Unterschiede 
festzustellen zwischen den einzelnen Psychosenformen und ihren 
qualitativen Verhältnissen bei Individuen, die nicht den gleichen 
Schädlichkeiten, also Militär- und Frontdienst ausgesetzt waren. 

Wir haben insbesondere der Frage näherzutreten, ob be¬ 
stimmte spezifische Erscheinungen im Verlaufe und im Ausgang 
der Erkrankungen nachweisbar sind und werden nach den ge¬ 
nannten Richtungen hin zu erwägen haben, ob aus quantitativen 
find qualitativen Verhältnissen ein kausaler Zusammenhang 
zwischen psychischen Erkrankungen und Militärdienst sich ergibt. 

Urteile darüber liegen von maßgebenden Autoren nach beiden 
Richtungen vor, sowohl solche, die sich für, als auch solche, die 
sich gegen die Annahme eines engeren Zusammenhanges zwischen 
psychischer Erkrankung und Kriegsdienst äußern. 

Mtaohrift für PsyohUtri«. LXXV. 3. 20 


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Original fro-m 

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282 


0«hni> gf, 


Eine bewnUePp Eofdörn.ag' der Ünidrsmlmog war es natOrlicli, 
daß ebie Qualitative PrübrrjÄ der Fälle hneuizohien und ein. quanti- 
tativer Verirfvkth u<it einem almliehon Material vorgeoonimen 
wurde Za diesem Zwecke unterzöge«, wir die männlichen Zü- 
■gingfr der giekibe« AMn^rindo' in eine«?-Jahre- ans derHeilanstalt 
Dösetv cunvi geamieren Dichtung. 

deshalb mit «fein rniti- 
tärieblaiij didi bei den in der 



zur biJfief Absialt üben^eseti wmi'dluh 

yl^r ße^btzahl der de» Lbiiersudru ngen zugrunde ^fegenden 
le öiidfä^-Vi 

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Ans « 

liesßr ZttsHtümenstelliing ergibt »ich zunätdist» 

daß das 


Manuesalter sowohl bei Soldaten wie bei Zivilisten fast die gleiche 
Anzahl .Ifsyejiosca:. jMtfWdist,Ä.. ' ; 'i /-i - w 

Wie es siel) erblähh daß die einzelnen Psy eh oseuf armen hei 
Milltär|iersoiien twid iZMipersutien hinfeiehUirb derdHktififgkeil ihres 
Auftretens verschieden^: Werte bieteiL werde« wir m den KapiNn 
über die versehiedeiien Kraiikhidlsfomien zu erörtern ' verstürben. 

Wir v^jif'iTden un.'j S'uttiy hst rtir Brspiecfurng der Deine itt tb pi ae- 
oe.x. — An ■ Erkrankungen der .Demtntia pr^t . i ^Druppe Titten •. <»<' 4 <Ai 
<2*2 fft M-nntt^aKer >111 »drei» Sild^fea 3t». u. v. 2 i.NOiw.vit» * W 

veiiiältvH'iitimßijg ludto 2?td, j^c^öfipters weon man ht-dfiiitj daß doThbwUpD 
saeMh le das jugendliche Alit:r eine eilxjkle Disposition zu dieser Erkran¬ 
kung hat. 


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rÄI^TCi 






Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 


283 


schieden. Kraepelin gibt in einer Zusammenstellung von 296 Fällen den 
Wert von 6,5%, Wolfsohn bei 618 Fällen 15% an. Diesem letzteren Er¬ 
gebnis kommt der Prozentsatz von 16,96% bei 337 Fällen der Anstalt 
Dösen ziemlich nahe. 

Unter Meyers sehr großem Soldatenmaterial, welches allerdings die 
Soldaten aller Altersklassen umfaßt, machen die Dementia praecox-Fälle 
sogar nur 7,5 % aus, gegenüber dem Friedensdurchschnitt gewiß keine zu 
hohe Zahl. 

Meyers Material stammt aus dem Jahre 1915. Ob die Differenz 
zwischen seinen und meinen Zahlen durch die Annahme zu erklären ist, 
daß im Verlaufe des Krieges die Spätfälle von Dementia praecox zahl¬ 
reicher geworden sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls ist 
diese Annahme von vornherein nicht von der Hand zu weisen. Wir haben 
dabei nicht nur an direkte Kriegsschädigungen, sondern auch an die ge¬ 
samten Kriegsverhältnisse, die materielle und soziale Lage der später zum 
Kriegsdienste eingezogenen Individuen zu denken. 

Von meinen Fällen kamen auf die hebephrenen einer, d. i. 3,33%, 
auf die paranoide Form 5, d. s. 16,6%, auf die Katatonie 6, d. s. 20% und 
auf die Dementia simplex die übrigen 18, d. s. 60% der Fälle. 19, d. s. 
63,3 %, der Soldaten waren kürzere oder längere Zeit im Felde, die übrigen 
erkrankten in der Heimat. 

Der Frage der erblichen Belastung konnte nicht in erschöpfender 
Weise nachgegangen werden, da die Unterlagen dazu zum Teil mangelhaft 
waren. Nach dem mir zur Verfügung stehenden Material war jedoch 
ungefähr in der Hälfte der Fälle hereditäre Belastung anzunehmen, was 
im Vergleich zu den Erfahrungen anderer Autoren einen mittleren Wert 
repräsentiert. 

In Publikationen Vorsters und Siolis wird als Belastungsziffer 90% 
angegeben, Bleuler nimmt 35%, Kraepelin nur 18—19% an. 

17, d. s. 56,6%, der Fälle zeigten außerdem auch schon vor der Ein¬ 
stellung besondere Erscheinungen seitens ihrer Psyche. Zumeist handelte 
es sich um Individuen mit psychopathischer oder paranoider Konstitution 
oder solche, die von Geburt an als geistig reduziert oder moralisch minder¬ 
wertig zu erachten waren. 

Bemerkenswert ist, daß die Disposition zur Erkrankung bei vorher 
sei es durch Erblichkeit bzw. abnorme Konstitution prädisponierten 
Soldaten bei den im Felde gewesenen höher als bei den in der Heimat 
verbliebenen ist, die ersteren betragen 68,7, die letzteren 60 %. 

Noch augenfälliger ist dies bei den unter gleichen Gesichtspunkten 
begutachteten Insassen der Anstalt Dösen, die außer den gewöhnlichen 
Lebensreizen weiter keinen Schädigungen ausgesetzt waren. Der Er¬ 
krankungsprozentsatz der Belasteten beträgt bei ihnen nur 55%. : ||jJ 

Auf Grund dieser Zahlenergebnisse ist der Schluß, daß der Kriegs¬ 
dienst mindestens eine Verschlimmerung des Leidens bei 


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20 * 


Original from 

UMIVERSITY OF MICHIGAN 



284 


Oehring, 


einer gewissen pathologischen Veranlagung herbeiführen 
kann, nicht von der Hand zu weisen 1 ). 

Gerade diese Tatsache ist ja von außerordentlicher Bedeutung für 
die gutachtliche Tätigkeit des Militärarztes und wurde von uns auch auf 
Grund dieser Erfahrungen stets in diesem Sinne gehandhabt. 

Inwieweit diese rein auf Grund quantitativer Feststellungen ge¬ 
wonnene Behauptung richtig ist, geht später aus der Analyse einzelner, 
besonders charakteristischer Fälle hervor. 

Nach unseren Anschauungen vom Wesen der Dementia praecox 
läßt gerade die Entwicklung dieses Leidens wenig Raum für exogene Mo¬ 
mente, weshalb von maßgebender Seite mit Recht der Zusammenhang 
zwischen Dementia praecox und Kriegsdienst bezweifelt wird. Dagegen 
erscheint jedoch bei genauerer Befassung mit den einzelnen Krankheits- 
bildern die Annahme kausaler Beziehungen wahrscheinlich. 

Bei der Bearbeitung der vorliegenden Fälle konnte in einer Reihe 
derselben teils aus der Entwicklung des Leidens, teils aus seiner Sympto¬ 
matologie ein solcher Zusammenhang als wahrscheinlich angesehen werden. 

Es soll von vornherein zugegeben werden, daß in typischen De¬ 
mentia praecox-Fällen, die von katatonen oder schizophrenen Symptomen 
beherrscht werden, oder bei denen ein mehr oder minder zusammenhängen¬ 
des Wahnsystem hervortritt, für den kausalen Nexus mit dem Kriegsdienst 
keinerlei Anhaltspunkte gefunden wurden. 

Anders mußte aber das Urteil in den Fällen lauten, wo der eklatante 
Erfolg der Anstaltsbehandlung den Gedanken an die Beseitigung schäd¬ 
licher Ursachen erweckte oder die als Erschöpfungssymptome bekannten 
Erscheinungen im Vordergründe standen und eine Ähnlichkeit mit den 
erst in neuester Zeit durch Stelzner abgegrenzten Erschöpfungspsychosen 
von Kriegsteilnehmern hervortrat. 

Hierzu kam noch, wie schon oben angedeutet, der für einzelne Fälle 
erbrachte Nachweis, daß das Individuum seiner Anlage nach ein minder¬ 
wertiges Zentralnervensystem besaß und das von Natur aus bestehende 
mangelhafte Gleichgewicht der psychischen Persönlichkeit einen Angriffs¬ 
punkt für äußere Ursachen bot. 

Die Fälle, in denen kausale Beziehungen anzunehmen sind, lassen 
sich nach meinem Material in solche mit oder ohne pathologische Kon¬ 
stitution einteilen. 

Um für vorstehende Behauptungen den Beweis zu erbringen, ließ es 
sich nicht vermeiden, einige typische Krankheitsgeschichten wenigstens 
auszugweise zu bringen. Als in ihren Symptomen und ihrem Verlaufe 
verwandt, führe ich zunächst folgende zwei Krankheitsgeschichten an; 


1 ) Dieser Behauptung müßte auf Grund zahlreicherer Untersuchun¬ 
gen, vor allem auch an der Hand eines umfangreicheren Materials, noch 
weiter nachgegangen werden. "" 


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Original fro-m 

UMIVERS1TY OF MICHIGAN 



Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 285 

Fall 1. D. R., 43 Jahre alt, gibt an, daß sein Yater lebt und gesund, 
seine Mutter an Altersschwäche gestorben ist. Zwei seiner Schwestern 
sind geisteskrank, über weitere Aszendenz weiß Pat, sonst nichts zu be¬ 
richten^ Er selbst hatte als Kind Masern, ist aber sonst nicht ernstlich 
krank gewesen. In der Schule gut gelernt, nach der Entlassung wurde er 
Gärtner. 1893—1896 aktiv gedient, Alkoholmißbrauch und venerische 
Infektion hat nicht stattgefunden. 

Wurde am 2. September 1914 zu einem Landsturm-Infanterie- 
Bataillon eingezogen. Wegen einer Gonorrhoe erfolgte die Aufnahme ins 
Lazarett, wann, vermag er nicht mehr genau anzugeben. 

Am 4. August 1916 wurde er in unser Lazarett eingeliefert. Der Be¬ 
fund bei der Aufnahme war folgender: 

Äußerst kräftig gebauter, muskulöser Mann, dessen innere Organe 
keinen krankhaften Befund bieten. Befindet sich in starkem Hemmungs¬ 
zustande, hat einen langsamen, schleichenden Gang, bietet deutliche Zeichen 
von Katalepsie. Auf Ansprache nur spärliche sprachliche Reaktion. 

Im weiteren Verlaufe zunächst noch vollkommen stuporös, ver¬ 
weigerte die Nahrung. War später außerhalb des Bettes, jedoch noch immer 
gehemmt und ohne Interesse für seine Umgebung. Gegen Ende des 5. 
Monats trat eine Lösung des Stupors ein. Pat. wurde freier und zugäng¬ 
licher und konnte wesentlich gebessert in häusliche Pflege gegeben werden. 

Fall 2. Soldat B., 39 Jahre alt, wird am 19. Januar 1917 von der 
Front mit Lazarettzug hier eingeliefert. Seit 14. September 1914 ununter¬ 
brochen im Felde. Nähere Angaben über Vorgeschichte sind beim Zu¬ 
stande des Pat. nicht zu ermitteln. 

Pat. ist bei der Aufnahme äußerst stark gehemmt. Sein Gesichts¬ 
ausdruck ist leer und unbeweglich. Reaktion auf Ansprache ganz spärlich, 
kann sich auf die einfachsten Dinge nicht besinnen, woher er gekommen 
und wie lange er bei uns ist. Bietet ferner Haltungsstereotypien und 
ausgesprochene Katalepsie. Es trat hier eine verhältnismäßig rasche 
Lösung des Stupors ein. Pat. wurde lebhafter, brachte subjektive Be¬ 
schwerden vor, z. B. Klagen über Kältegefühl in den Beinen, Kopf¬ 
schmerzen. 

Nach nicht ganz 2 Monaten fast völlig klar, zeitlich und örtlich 
orientiert. Wurde auf Wunsch in sein Heimatslazarett verlegt und ist von 
dort, wie wir in Erfahrung bringen konnten, vollkommen geordnet in häus¬ 
liche Pflege entlassen worden. 

Die Diagnose Dementia praecox ist in beiden Fällen durch die äußerst 
charakteristischen Symptome und durch den Verlauf gesichert. Beide 
zeigen Katalepsie, die zurtickgeht, und einen ausgesprochenen Stupor 
der sich im 2. Falle etwas rascher als im 1. allmählich löst. Beide Pat. 
konnten nach verhältnismäßig kurzer Zeit als wesentlich gebessert von hier 
entlassen werden. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



286 ' Oehriug,- : 

tlnterseVde.ie bestehen sms.:i;ioii heirlcji insofern-. als der entere 
nicht tm Felde war. sondern die Psychbe* sich an eine wegen Gonorrhö»... 
erfolgte |jp?^li]b{;handiü!iK au^cWoß* während döi’ zweite über ,2 
«nijnierti'mrhiMi mi dm- Prent sUnd. 

bfe erstehMllu trat dhrJpsycHöse-r«»ßh de«. An&trengiitigeti '«&$)$&*' 

• Ü*$i Dienstes. in der Heimat, nadi. Einwirkung dt*f godteb müdan 
Umgebung mit ihrer erhöhten Anforderung an Körper und O'ist ä«f, 
'\vä;)i*. ; •• ihr vm jw-ejfen Fälle ein zweijähriger Dienst -tu ehr Front und 
all. s&hftn liörjip.riiirlmtT / Anstrfmgjungeh und Sepilsrben B>stdvüUer»mg€ii 

'fffi?.*'* sß~ i :: " .*• ’". 

Mtterüiag &fei zu bedenken.. 4aß ; ..<&. müh-.)# dteio • um ein 

f ?*m dessen Familie zwei gei^ivr-kfäidtfr ßehsVesteirn 

■^iW'u ' Wertig $ch /■ hirtt bö?ati der Hand der Vor- 
^esel^n.hte auch keine ^nttrtߥJvgeiiiö)ptÖEigftitsjbaöe;« feetstoUeh lassen; 
•Sö.foi. «H'CÜ ifottiefhiftOjö Ahoühtbö möglich, daß “hflihm latent gebliebeRC 
gfeißi '&■ Defekte 

, gifugeu dts&; Di#hiit*t$ ifl. "de? d&hjiteoM Uhd Utagöbting 

■ h.i$w deja nötigt*)! Wldw^l^nd gejbötejt liäb??hv dvie; öS höi eiifötn normal 
•'.■• r'l*:o J edividuuni der Pull gewesen wäre. 

•.vhiitvßlich ist. ütafv noi.h ndt in Erwägung' zu ziehen. -daß für einen 
idi'ut! von 43 döhren selbst »Un Bewülliguog Urs Garnisoiulienstes. nicht 
■.. U t\ tir. ist. 

AaffaiUg lud der Befrachtung beider Fälle .ist im öe gen salz zum 
WM&'tdugh Verlauf der Dementia praecox '<]Tä&'.'xe..c|iaißR^iinäß%' r*«vb @ Aß : . 

der akuten Symptome und der gün-tigu •Vritaui. .ib.uk: Patienten 
0$)Hi; relativ rasdi der ög.nesung cntgegeii ha»;h EüffFruulng hus det» 
gtibüdi^düdeiv Milieu, der eine aus dem Dienste bei der Erßatztrugpß. der 

iftV.l|i i |d&..' , 

Bin schädigender Einfluß des Militär- bzw. Kriegsdienst-»*. .-jj&fc mt 
( itäiiiP^teraj^lger Fälle imü.nes Erä^hleds'bäöliiiitb t vöh der Hand «ir vseüsanv 
tub'diöii ens uiyjS .beij-deraRfiüteriß^ge in,; ilöttlöHgt'n FäUeit ölfle Enfeeb^*- 
■ * dem iur den .Pal. günstigen Sinne getroffen werde«. 

ßate '^öwisso Zusiunmoügeh^rigböH infolge de* Auftrottv^s öiiVgtN 
mmm bieten die folgend«» beiden Falt«--; 

F all 3- ^ B.j 42 Jahre BuUet; seht* nervös, aine, ScbWi^fer 
tu rd' eb 1 'B.rtfthyFgeist eskrajik. Will : lhz|es?il|| E indhed «öhop mit ilem Köpfe 
'.•;< ' -•: iTtd h'r'Popfcs gehabt halinti» ln der SrhaE sei*wer•gelucnf^ >{ü.iUü' 
als l^'Hjyörböiiei?.feinen i r niörhglt. 'viöit-.hyrv-'ö^feh. BeSclW^eTdöft 

?erb-fest snelh und er war bis zu seitieih hÖ-'itfebei^j||thre frei ^ävh»»« Daun 
riet (dötzlic)i wieder Herzklopfen, Köpfse'hjuörÄen r SciVwiPdel- 

g(d»;j|’5 und oll Sttt» FotiKi' hierkte 'Eat^fei» Ka*'hlassa» 

.• iä..'htu jss.es und eine gewisse ,S; üwärl« in der •Äöffässuugsgnbe: 
-;s, N'ove'(»ib>rri91ß.s*iug-t?.ög>.’rn ?■', Joonar IFt? ins PVbt ua» i- di ru 
i • Wurde, bereits am 12. .Februar l'Jl ? ins Kriegslazareft Wilna ein- 

Co gle ■'• 




Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 287 

peliefeH. Grund der Einlieferung war eine ängstliche Erregung, in die er 
geriet, weil er versehentlich in einen Schuppen eingesperrt worden war. 
Als die Truppe abrückte, konnte er infolgedessen nicht mit. Er fürchtete 
nun, von der Truppe zurückgelassen zu werden, und brach die Tür auf. 
Am 10. April 1917 wurde er uns zur Behandlung überwiesen. 

Bei der Aufnahme geistig und körperlich ziemlich gehemmt, stark 
deprimierter Stimmung. Denkt wählend der anamnestischen Fragen 
gewissenhaft nach, Antworten jedoch erfolgen sehr langsam und stockend. 
Bei der Erzählung von seinen geisteskranken Geschwistern fängt er an 
zu weinen. Die Intelligenzprüfung ergibt ziemliche Mängel. 

Auch während des weiteren Verlaufes der Erkrankung immer ge¬ 
drückter Stimmung. Hemmung hat sich zwar etwas gelöst, dafür ist aber 
stärkeres Hervortreten subjektiver Beschwerden, namentlich andauernde, 
heftige Kopfschmerzen sowie ein ausgeprägtes Insuffizienzgefühi in den 
Vordergrund gerückt. Ebenso trat die Abnahme der Intelligenz immer 
' deutlicher in Erscheinung, ohne daß aber bei der Entlassung tiefere Geistes¬ 
schwäche bestanden hätte. 

Pat. konnte schließlich etwas freier, jedoch noch stark über sub¬ 
jektive Beschwerden klagend, in häusliche Pflege gegeben werden. 

Dieses Krankeitsbild gehört mit dem dann folgenden in eine gleiche 
Reihe, stellt aber einen leichteren Fall und verhältnismäßig günstigen 
Ausgang dar. Die Diagnose Dementia praecox ist auch hier symptomato- 
logisch bestimmt und durch den Verlauf gesichert. Der Fall trägt aber 
noch ein besonderes Gepräge. Starkes Hervortreten subjektiver Be¬ 
schwerden, ausgesprochenes Insuffizienzgefühl, ängstlich-hypochondrische 
Züge. Damit erscheinen Beziehungen zwischen einer besonderen Kon¬ 
stitution bei hereditärer Belastung gegeben. Gleichzeitig werden aber auch 
die Folgen der Kriegsstrapazen deutlicher. 

Es war naheliegend, das Krankheitsbild auf psychopathische Kon¬ 
stitution und den Effekt auf Kriegsstrapazen zu reduzieren, wenn nicht 
der ungünstige Ausgang und namentlich der Verfall der Persönlichkeit 
sowie die intellektuelle Einbuße die Diagnose Dementia praecox er¬ 
wiesen hätten. 

Auf die Möglichkeit, daß bei einem an Dementia praecox leidenden 
Individuum eine exogene Reaktion dem Kranfiheitsbild überlagert sein 
kann, sowohl hier wie bei andern Fällen, gehen wir hier nicht näher ein, 
da bei dieser Annahme die Rentenpflichtigkeit der beobachteten Störung 
ja ohne weiteres gegeben ist. 

Der hier zugehörige 2. Fall hat folgende Krankheitsgeschichte: 

Fall 4. S. A., 42 Jahre alt, 1 erblich nicht belastet, von Beruf 
Schuhmacher, bisher noch nicht ernstlich krank gewesen. Wurde am 
3. Dezember*1915 zu einem Infanterie-Ersatz-Bataillon eingezogen. War 
nicht im Felde. Wurde am 27. Juni 1916 in die Heil- und Pfleganstalt 
Homburg aufgenommen, weil er 2 Tage vorher einen Selbstmordversuch 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



288 


Oehring, 


(Halsschnitt und Verletzung am linken Handgelenk) unternommen hatte. 
War dort bis zum 15. März in Behandlung. Während der Dauer des dorti¬ 
gen Aufenthaltes bestand ein starker Depressionszuständ, Teilnahm- 
psigkeit, völlig apathisches Verhalten, ängstlich, weinerliche Stimmung. 

Bei der Einlieferung in unser Lazarett psychisch und motorisch noch 
stark gehemmt. Faßt schwer auf, spricht mit leiser, monotoner Stimme. 
Seine Äußerungen sind von Bewegungen der Extremitäten begleitet, die 
einen ziemlich unkoordinierten Charakter tragen. Zudem besteht ziem¬ 
liche Gliederunruhe. Nach dem Grunde seines Suizidversuches gefragt, 
schaut er den Arzt mit ratloser Miene an und versichert, nicht die Absicht 
gehabt zu haben, sich etwas anzutun. Örtlich leidlich orientiert, zeitlich 
nicht. Klagt über Kopfschmerzen, die er sich infolge Sturzes auf den 
Kopf aus einem Wagen heraus gelegentlich eines Transportes zugezogen 
habe. Spricht dabei in nicht ganz verständlicher Weise davon, daß Kame¬ 
raden ihm eine Kiste auf den Kopf geworfen hätten. Nach vorübergehender 
leichter Lösung der Hemmung ist diese jetzt im weiteren Verlaufe so stark 
geworden, daß auf Ansprache überhaupt keine sprachliche Reaktion mehr 
erfolgt. Pat. befindet sich noch in Anstaltspflege. Stark gehemmt, 
stereotyp in Haltung und Bewegung. Angeredet, beginnt er zu zittern, 
der ganze Körper gerät in schüttelnde Bewegung, ist zu keiner Sprachlichen 
Äußerung zu bringen. 

ln diesem Falle tritt zu den für einen älteren Menschen immerhin 
schwierigen Dienstverhältnissen auch noch ein Kopftrauma hinzu. Der 
Fall hat etwas für Dementia praecox Ungewöhnliches, einmal was die 
Symptome, dann aber auch, was das verspätete Auftreten anbetrifft. Es 
liegt nahe, infolge dieser zwei Momente an einen Zusammenhang mit dem 
Militärdienst zu denken. Dazu kommt noch die Ähnlichkeit mit Fällen 
von Psychose nach Traumen, insbesondere mit den früher als traumatische 
Psychose beschriebenen, die in die Dementia praecox-Gruppe hinein¬ 
gehören. 

Das, was ferner an diesem Falle noch besondere Beachtung ver¬ 
dient, ist neben dem ungünstigen Verlaufe namentlich die Art des End¬ 
zustandes, der sich nicht ohne weiteres in die von Kraepelin festgelegte 
Terminologie einreihen läßt. Wir haben zur Charakterisierung dieses Zu¬ 
standes die Bezeichnung depressive oder ängstliche Verblödung 
gewählt. 

In folgenden beiden Fällen handelt es sich um erneute Schübe von 
Dementia praecox, die mit größter Wahrscheinlichkeit durch den Kriegs¬ 
dienst ausgelöst sind: 

Fall 5. A. H., 45 Jahre alt, Großvater angeblich in einer Nerven¬ 
heilanstalt gewesen, sonst in der Familie keine Nervenkrankheiten. Als 
Kind Bettnässen, von Kinderkrankheiten Masern. Realschule besucht, 
Durchschnittsschüler, Einjährigenprüfung bestanden, wurde Geometer. 


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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 


289 


1902—1912 in der Heilanstalt Dösen mit der Diagnose Paranoia. Der 
Krankheit6verlauf damals war folgender: 

Äußerte bei seiner Einlieferung Verfolgungsideen, fühlte sich von 
unbekannter Seite stark beeinträchtigt. Neigte dann mehr zu Depressions¬ 
zuständen, zeigte starke Hemmungserscheinungen, war im Jahre 1906 
schließlich völlig abweisend. 1907 fing er an, etwas zu arbeiten, versorgte 
Küche und Haus, dabei immer noch zurückhaltend und unzulänglich. 
1909 wurde er regsamer, querulierte viel, zeigte Verschrobenheiten. Die 
letzten beiden Jahre war er ziemlich frei, übersetzte französische Bücher 
ganz ordentlich und konnte schließlich dauernd ruhig und geordnet auf 
Wunsch seiner Angehörigen in häusliche Pflege gegeben werden. 

Am 29. August 1914 trat er als Kriegsfreiwilliger ins Heer ein, kam 
bereits im November ins Feld, wurde aber schon Weihnachten desselben 
Jahres wegen Erschöpfung zum Ersatztruppenteil zurückgesandt. In der 
Heimat wurde ihm sein rechtsseitiger Leistenbruch operiert. Im Juli 1916 
wurde er dann zur Feldzeugmeisterei in Dresden als Geometer versetzt. 

Bereits Anfang August 1916 finden wir ihn schon wieder im Lazarett. 
Wollte wegen seines Bruches angeblich noch eine Nachkur machen. Mitte 
desselben Monats wurde er dann unserer Anstalt zugeführt. 

Bei der Aufnahme fühlte er sich stark beeinträchtigt, sei viel in der 
Presse herumgezogen worden. Bezog alles auf sich. Sein Gesichtsausdruck 
war starr, ausdruckslos, Sprache monoton, Stimmung gedrückt. Halluzi¬ 
nierte dann viel, querulierte stark, schimpfte in gemeinsten Ausdrücken. 

Bereits nach zweimonatigem Aufenthalte ruhiger, geordnet, zeigte 
der Umgebung angemessenes Verhalten. Konnte schließlich frei und völlig 
geordnet in häusliche Pflege gegeben werden. Wie wir in Erfahrung bringen 
konnten, versieht er heute wieder seinen Dienst als Geometer bei einer 
städtischen Behörde 

Es handelt sich in diesem Falle um ein belastetes Individuum von 
psychopathisch-paranoider Konstitution, das unter günstigen Bedingungen 
existieren kann, stärkeren Ansprüchen aber nicht gewachsen ist und keine 
Widerstandsfähigkeit gegen die gewöhnlichen Lebensreize besitzt. 

Von vornherein ist ein derartig veranlagtes Individuum als militär- 
dienstunfähig zu bezeichnen, denn das Soldatenleben, die Reibungen mit 
Kameraden, die Anforderungen einer strengen Disziplin entfachen seine 
querulatorisch-paranoide Konstitution und bieten ihnen ständig Nahrung. 

Gewisse Ähnlichkeit mit dem Geschilderten bietet die Kranken¬ 
geschichte des folgenden Falles. 

Fall 6. O. H., 36jähriger Arbeiter. Vater ein mehrfach bestrafter 
Trinker, eine Schwester leidet an Krämpfen. Pat. hat in der Schule schlecht 
gelernt, wurde nach der Entlassung Arbeitsbursche. Bereits mit 13 Jahren 
wegen Diebstahls, Betteins und Betiugs bestraft. Vom 20.—26. Lebens¬ 
jahre 7mal wegen Betrugs mit Gefängnis, einmal mit 3 Jahren Zuchthaus 
bestraft. 1906 war er in der Irrenabteilung des Gefängnisses Halle wegen 


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Oehring, 


Erhängungsversuches nach einer Gerichtsverhandlung. Bot dort Halluzina¬ 
tionen, Beeinträchtigungsideen, zeigte verschlossenes, ablehnendes Wesen, 
war gemütlich stumpf, der Tod der Mutter löste keinen Affekt aus. 1907 
kam Pat. nach der Heilanstalt Dösen. War anfangs gereizt, neigte zu 
impulsiven Handlungen, bot Bewegungs- und Haltungsstereotypien, hatte 
Sinnestäuschungen und Beeinträchtigungsideen. Meist wenig zugänglich, 
schwankender Stimmung, oft gereizt. Akute Symptome klangen sehr 
langsam ab. 

Anfang 1908 wurde er entlassen und dem Polizeiamt übergeben, 
ist später dann vom Vater wieder aufgenommen worden. Vom 30. Mai 
1910 bis 4. Oktober 1910 zum zweiten Male in der Anstalt Dösen. Äußerte 
wieder Wahn* und Beeinträchtigungsideen. Hielt sich abseits, arbeitete 
im Hause. Akute Symptome klängen diesmal rascher ab. Zeigte sich 
bald ruhig und natürlich. Hatte gelegentlich eines Ausganges Arbeit 
gefunden und wurde als gebessert entlassen. 

1915 eingezogen, kam bald ins Feld. War nur kurze Zeit an der 
Front, mußte sich wegen Kopfschmerzen öfters in Lazarettbehandlung 
begeben, kam deshalb nach der Heimat zum Ersatztruppenteil. 

17. März 1916 ins Vereinslazarett Dösen aufgenommen, zur Beobach¬ 
tung seines Geisteszustandes. Hatte einen Vorgesetzten auf Befragen in 
dienstlichen Angelegenheiten belogen und sich außerdem noch unter Gewehr 
achtungwidrig benommen. 

Bei seiner Aufnahme macht er einen schwerfälligen Eindruck. Seine 
Redeweise ist plump, monoton. Kann sich auf die vorhergegangenen Er 
eignisse nicht mehr recht erinnern. Versucht zwar, den Hergang des 
Zusammenstoßes mit dem Vorgesetzten zu schildern, bleibt jedoch in der 
Erzählung stecken, wiederholt sich immer. 

Im weiteren Verlaufe zeigt er sich ruhig ujjd geordnet, arbeitet 
fleißig im Hause und im Garten. Wird dann zwecks Einleitung des D.-U.- 
Verfahrens seinem Ersatztruppenteile überwiesen. 

Auch hier handelt es sich, wie im vorhergehenden Falle, um ein 
schwer belastetes Individuum, das jedoch außerdem noch degenerativ ver¬ 
brecherische Neigungen zeigt und als moralisch minderwertig zu erachten 
ist. Auf diesem Boden erwuchs ein Krankheitsbild, bestehend aus schizo¬ 
phrenen Symptomen, paranoiden Zügen und schweren Verstimmungen. 
H, ist nicht strafvollzugsfähig, auch für jeden Militärdienst ungeeignet. 

Schon den gewöhnlichen Lebensreizen gegenüber nicht widerstands¬ 
fähig genug, ist dies in noch weiterem Maße den Anforderungen des mili¬ 
tärischen Lebens gegenüber der Fall. 

An der Front kann er sich nur kurze Zeit halten und muß selbst in 
dieser kurzen Spanne Zeit wiederholt ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen 
wegen seiner Kopfbeschwerden. Aber auch den Ansprüchen des Garnison¬ 
dienstes zeigt er sich nicht gewachsen. Strenge Anforderungen an Dis¬ 
ziplin, verbunden mit erhöhten körperlichen Leistungen, entfachen auch 


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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 


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hier seine Neigung zu Gewalttätigkeiten und disziplinwidrigem Verhalten, 
wie aus dem Verhalten gegen seine Vorgesetzten hervorgeht. 

» Daß äußere Reize aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem neu auf- 
treteütlen Schub der Erkrankung Zusammenhängen, geht aus dem Erfolg 
der Anstaltsbehandlung und der dadurch bedingten Entfernung der schädi¬ 
genden Momente hervor, ferner auch aus dem Umstande, daß der Pat. 
längere Zeit, z. B. von 1910 bis zu seiner im Jahre 1915 erfolgten Ein¬ 
ziehung, seinem Berufe nachging, ohne irgendwie etwas Besonderes zu 
bieten. Es liegt nahe, anzunehmen, daß er in diesem Zeiträume unter 
angemessenen Bedingungen gelebt hat. 

Zuletzt noch 2 Fälle, die sich auf der Basis eines angeborenen 
Schwachsinnes entwickelten. 

Fall 7 . R. W., 39 Jahre alt, Schlosser von Beruf, aus gesunder 
Familie stammend. Bis zu seinem ersten Lebensjahre an Krämpfen ge¬ 
litten, in der Schule ganz schwacher Schüler, bereits in der 3. Klasse 
konfirmiert. Nicht geschlechtskrank, trank täglich für 30 Pf. Schnaps 
und 2 Glas Bier. Starker Raucher. 

Mai 1915 eingezogen, September ins Feld. Oktober 1916 verwundet. 
War 9 Wochen in einem Lazarett, dann noch 14 Tage in einem Genesungs¬ 
heim. Januar 1917 kam er als geheilt zur Truppe zurück. Obwohl die 
Truppe gerade in Ruhestellung und außer Gefahr war, bekam er beim 
Krepieren der in weiter Ferne einschlagenden Granaten Schreckanfälle, 
rannte von seiner Lagerstätte ins Freie, zitterte stark, fürchtete, getroffen 
zu werden. 

Konsultierte dieser Zustände wegen den Truppenarzt und wurde 
von diesem als g.*v. zum Ersatztruppenteile zurückgeschickt. Hier ver¬ 
schlechterte sich sein Zustand derart, daß sich am 8 . 4.1917 die Aufnahme 
in unser Lazarett nötig machte. 

W. ist ein mittelgroßer, kräftiger Mann, dessen innere Organe ohne 
krankhaften Befund sind. Bei der Aufnahme gehemmt, hat Verfolgungs¬ 
und Beeinträchtigungsideen, halluziniert stark. Die Intelligenzprüfung 
zeigt Merkmale von Schwachsinn. Nach einem Monat bereits ruhig 
und geordnet, geht mit der Kolonne zur Arbeit. 

Das Krankheitsbild wird dauernd von einer gewissen gemütlichen 
Stumpfheit beherrscht, auch treten im weiteren Verlaufe die erheblichen 
intellektuellen Mängel seines Schwachsinnes zutage. Nach 3 Monate 
währender Behandlung konnte er in häusliche Pflege gegeben werden. 

R. W. zeigt von Haus aus minderwertige geistige Veranlagung, 
außerdem scheint seine psychische Widerstandsfähigkeit* noch durch 
chronischen Alkoholgenuß etwas reduziert gewesen zu sein. Trotzdem 
werden die Strapazen des Frontdienstes über ein Jahr lang bis zu der im 
Oktober 1916 erfolgten Verwundung ertragen. Während der Wundheilung 
noch keine Anzeichen geistiger Störung, erst als Pat. nach erfolgter Ge¬ 
nesung wieder bei der Truppe und damit erneuten Schädigungen ausge- 


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Oehring, 


setzt ist, treten bereits nach wenigen Tagen die ersten Anzeichen der be¬ 
ginnenden Psychose in Gestalt von Schreckanfällen und Angstzu¬ 
ständen auf. 

Daß neben der von Haus aus vorhanden gewesenen Widerstands¬ 
unfähigkeit und den über ein Jahr währenden täglichen Schädigungen des 
Frontdienstes hauptsächlich das Trauma die Schwelle der Reizmöglich¬ 
keiten überschritten und die Veranlassung zum Ausbruch der Erkrankung 
gegeben hat, liegt hier sehr nahe anzünehmen. 

Die Versetzung von der Front in die Garnison und damit die Be¬ 
seitigung der gröbsten Schädigungen reichen nicht aus, um der Psychose 
in ihrem Verlaufe ein Halt zu gebieten. Erst die Entfernung aus jeder 
militärischen Umgebung, die Ruhe und Pflege in der Anstalt bewirken ein 
verhältnismäßig rasches Abklingen der Symptome und stellen den Pat. 
innerhalb dreier Monate soweit her, daß er in häusliche Pflege gegeben 
Werden kann. 

Die Krankengeschichte des 2. Falles ist folgende: 

Fall 8. R. Z., 39jähriger Mann, aus gesunder Familie stammend. 
Als Kind Diphtherie. In der Schule schlecht gelernt, mehrfach sitzen 
geblieben. Nach der Entlassung erst als Knecht, später bei der Bahn 
gearbeitet, später auch noch das Schuhmacherhandwerk erlernt. Will 
auch mal in Leipzig in einer Nervenklinik in Behandlung gewesen sein. 
Näheres darüber kann jedoch nicht in Erfahrung gebracht werden, da Pat. 
schwer besinnlich ist. 1900—1912 aktiv gedient. Pat. ist verheiratet, 
Frau und Kinder sind gesund, war nie geschlechtskrank und im Alkohol¬ 
genuß sehr mäßig. 

August 1914 rückte er ins Feld, kam nach 11 Monaten nach der 
Heimat zum Ersatz-Bataillon, Grund vermag e^ nicht anzugeben. Beim 
Ersatz-Bataillon war er als Kompagnieschuster tätig. 

Eines Tages will er plötzlich ins Lazarett eingeliefert worden sein, 
wann und warum, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Am 26. 4. 1916 
wurde er uns zugeführt. ' 

Bei seiner Aufnahme zeigte er eine ängstliche, ratlose Miene, war 
ziemlich gehemmt, bot Bewegungs- und Haltungsstereotypien. Zeitlich 
und örtlich vollkommen desorientiert. Die vorgenommene Intelligenz¬ 
prüfung weist recht erhebliche Mängel der einfachsten Schulkenntnisse auf. 

Bereits nach einem Monate rasches Abklingen der akuten Symptome, 
Pat. erscheint freier, verlangt spontan Arbeit, bietet bald nichts Besonderes 
mehr. Bis auf die von Haus aus bestehende Intelligenzbeschränkung 
völlig geordnet in häusliche Pflege gegeben. 

Auch hier handelt es sich wie im vorhergehenden Falle um ein geistig 
reduziertes Individuum, das zunächst 9 Monate die Strapazen des Kriegs¬ 
dienstes erträgt, ohne Besonderheiten zu bieten. Obwohl nicht in Erfahrung 
zu bringen war, warum Pat. zum Ersatztruppenteil zurückversetzt wurcle, 
müssen wir annehmen, daß die beginnende Psychose die Veranlassung 


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Geigteakrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 293 

dazu gegeben hat. Sichere Angaben waren darüber allerdings nicht zu 
erhalten. 

Wie in allen hier aufgezeichneten Fällen, so ist auch in diesem der 
eklatante Erfolg der Anstaltsbehandlung und damit die Beseitigung der 
schädigenden Momente beachtenswert und läßt die Vermutung des Zu¬ 
sammenhanges zwischen Kriegsdienst und Psychose als naheliegend er¬ 
scheinen. 

Was die Symptomatologie anbetrifft, so zeigten die hier zur Beob¬ 
achtung gelangten Krankheitsbilder im allgemeinen die für die Dementia 
praecox charakteristischen Erscheinungen. Von besonderen Zügen traten 
wiederholt namentlich starke subjektive Beschwerden hervor, und zwar 
derart, daß es naheliegt, eine besondere Gruppe, die durch die Eigenart 
des Ausganges, d. h. eine besondere Art der Verblödung charakterisiert ist, 
abzugrenzen. Auffällig ist namentlich der in den näher beschriebenen 
Fällen zutage tretende rasche abortive Verlauf der Erkrankung und die 
relative Besserung nach Beseitigung des schädigenden Einflusses. 

Demgegenüber steht die Beobachtung Meyers, der rasches Abklingen 
der Krankheitsfälle im Gesamtüberblick nicht bestätigt findet. Der Gegen¬ 
satz dürfte sich wohl daraus erklären, daß Meyer die Gesamtzahl der Fälle 
beurteilt, während wir hier nur eine gewisse Altersperiode, die 24,59% 
der Fälle ausmacht, getroffen haben und zum Urteil kamen, daß eine sum¬ 
marische Behandlung in der praktischen Beurteilung der Dementia praecox 
bei Kriegsteilnehmern nicht angängig zu sein scheint. 

Von unseren Fällen wurden 22, d. s. 73,3%, als gebessert nach der 
Heimat entlassen und konnten dort ihrem früheren Erwerbe nachgehen 
oder wenigstens nach erfolgter Umschulung einen leichteren, weniger 
geistige Fähigkeiten voraussetzenden Beruf ergreifen. Nur 6, d. s. 20%, 
bedurften weiterhin der Pflege in geschlossener Anstalt. Von 2, d. s. 6,1 % 
der Fälle, konnte das nähere Sciiicksal nicht weiter verfolgt werden, da sie 
vor Abschluß der Behandlung in andere Lazarette verlegt wurden. Unsere 
hier näher analysierten Fälle weisen einige Besonderheiten auf und stellen 
zum Teil komplizierte Krankheitsbilder der Dementia praecox dar. In 
dieser Hinsicht ist einmal bei einzelnen Fällen das relativ späte Auftreten 
(Fall 1 und 2), dann aber auch das Entstehen des Krankheitsbildes auf 
der Basis psychopathischer Konstitution, bei einzelnen Fällen verbunden 
mit moralischer Minderwertigkeit (3., 5., 6.) und auf angeborener Geistes¬ 
schwäche (Fall 7 und 8) anzuführen. 

■ Beziehentlich der Stellung des Krankheitszuslandes der Dementia 
praecox im Gesamtbilde haben* wir es teils mit Ersterkrankungen (Fall 1 
und 2), teils mit Wiederaufflackern eines früheren Dementia praecox- 
Prozesses zu tun (Fall 5 und 6). 

Endlich lag ein Krankheitsbild vor, das unter den Begriff der Pfropf- 
hebephrenie fällt. 

Der Zusammenhang mit dem Heeresdienste tritt aus früher benannten 


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294 


Oehring, 


Umständen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zutage. In einzelnen 
Fällen, in denen auch kein wissenschaftlicher Nachweis zu erbringen ist, 
muß doch praktisch nach den Anforderungen, die an den Gutachter gestellt 
werden, und nach der geläufigen Beurteilung von Zusammenhang exogener 
Ursachen mit Krankheitsschädigungen der Kausalnexus vom Gutachter 
vertreten und die Rentenpflichtigkeit von derartigen Erkrankungen aner¬ 
kannt werden. 

Paralyse. — Von den 122 im Mannesalter stehenden Soldaten 
litten 55, d. s. 45 %, an progressiver Paralyse. Der Wert erhöht sich noch 
um ein geringes, da c«k 4—5 Fälle hinzukommen, von denen der Ausbruch 
der Erkrankung bereits vor das 35. Lebensjahr, das wir als unterste Grenze 
der Untersuchungen gesetzt haben, fällt. Jenseits des 45. Lebensjahres 
kamen bei unserem Material keine Fälle zur Beobachtung. 

Die Zahl erscheint hoch, erstens im Vergleich zu Zugängen an Para¬ 
lysen der Heilanstalt Dösen, wo sie nur 28,5 % beträgt, zweitens aber auch 
unter dem Gesichtspunkte, daß man annehmen sollte, bei den Unter¬ 
suchungen vor der Einstellung werde alles verdächtige Material erkannt 
und ausgemerzt, während doch in Friedenszeiten bei Zivilpersonen Para¬ 
lysen dementer oder depressiver Art längere Zeit hindurch unerkannt 
bleiben können. 

Wenn andere Autoren noch weit geringere Zahlen angeben, bei 
Meyer machen die Paralysen nur 2^5 % aller Zugänge aus, so liegt das 
wohl hauptsächlich daran, daß sie ihre Untersuchungen auf Patienten 
aller Altersklassen stützen, während das von mir einer näheren Betrachtung 
unterzogene Mannesalter doch mit am meisten Disposition zu dieser Er¬ 
krankung zeigt, wie schon in der Einleitung zu dieser Arbeit ausgesprochen 
wurde. 

Angesichts dieser hohen Erkrankungsziffem an Paralyse bei Soldaten 
erscheint die Frage berechtigt, ob eine Paralyse bei Kriegsteilnehmern 
durch Kriegseinflüsse ausgelöst oder wenigstens in ihrem Verlaufe un¬ 
günstig beeinflußt werden kann. Zur Klärung dieser Fragen hat Weygandt 
in seiner Arbeit „Die Kriegsparalyse und die Frage der Dienstbeschädi¬ 
gung“ eine Reihe von Gesichtspunkten aufgestellt deren Bejahung einen 
Zusammenhang zwischen Krieg und Paralyse bedeuten würde. Diese 
Fragen, die es gestatten, die einzelnen Fälle nach der gewünschten Richtung 
hin erschöpfend zu analysieren, seien auch meinen Untersuchungen zu¬ 
grunde gelegt. Sie lauten: 

1 . Treten Paralysen bei Kriegsteilnehmern in einem früheren Lebens- * 
alter auf als bei Zivilpersonen? 

2 . Ist die Zwischenzeit zwischen Infektion und Ausbruch der Para¬ 
lyse kürzer? 

3. Ist der Verlauf der Paralyse rascher? 

4. Ist der Verlauf der Paralyse schwerer? 

5. Ist der anatomische Befund schwerer? 


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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 295 

Zu 1. -Das Durchschnittsalter des Paralysebeginns ließ sich bei 
unseren sämtlichen 55 Fällen feststellen; es betrug 37,2 Jahre. Wenn 
Käs und Regis in ihren Statistiken das 36.—38. Lebensjahr angeben, das 
Durchschnittsalter im Material der Anstalt Dösen 37% Jahr beträgt, 
so läßt die in der Mitte von den durch andere Autorep gefundenen Werten 
stehende Zahl keineswegs die Annahme zu, daß die Paralyse bei Kriegs¬ 
teilnehmern eher ausbreche als wie zu Friedenszeiten. * 

Der Beantwortung der 2. Frage konnte leider nicht in erschöpfender 
Weise nachgegangen werden, da einerseits die Anamnesen der mir zur 
Verfügung stehenden Krankengeschichten infolge der Kriegsverhältnis*« 
mangelhaft waren, andrerseits die Patienten aus andern Lazaretten im 
bereits vorgeschrittenem Stadium der Erkrankung zu uns kamen und der 
Autoanamnese nicht mehr der richtige Wert beizumessen war. In 18 
meiner Fälle war die Inkubationszeit ziemlich genau zu ermitteln, ihre 
Durchschnittsdauer betrug 14,6 Jahre, wobei sich die kürzeste Frist aui 9, 
die längste auf 17 Jahre bezifferte. 

Da nach Friedenserfahrungen die Inkubationszeit einen ziemlich 
weiten Spielraum läßt, nämlich zwischen 2 Jahren und 3 Jahrzehnten, 
so sind 14,6 Jahre absolut nicht als ein auffallend kurzes Intervall zu 
bezeichnen. 

Die in Frage 4 zu erörternde Schnelligkeit des Verlaufes kann zurzeit 
nicht endgültig festgestellt werden, da die größte Anzahl der Fälle noch 
am Leben ist. Von meinen 5,5 Fällen sind 19 gestorben, 17 davon im 
1 . Jahre der Erkrankung. Als Dauer der Erkrankung wurde naturgemäß 
die Zeit vor dem Eintritt in militärische Behandlung bis zum Exitus 
gerechnet. Dabei ergab sich, daß ein Fall nur 5 Tage, einer 3, einer 3% 
Monat in, Lazarettbehandlung waren. Bei je 3 Fällen zog sich das Leiden 
4 Monate, bei je dreien 5 Monate, bei je dreien 6, bei einem 7, bei einem 10, 
bei einem 11, bei einem 13 und bei einem 15 Monate hin. Als Todesursache 
war fast durchweg paralytischer Marasmus anzunehmen, mit Ausnahme 
des einen, nur 5 Tage behandelten Krankheitsfalles, der infolge Erschöpfung 
nach mehrtägigem Toben, und eines andern, der vorzeitig an einer Pneumo¬ 
nie ad exitum kam. 

Wie schon oben erwähnt, starben von 55 meiner Paralysen 17, d. s. 
32,7%, im 1. Jahre der Erkrankung. Das ist entschieden weit mehr, als 
wie es durch Statistiken auf Grund von Friedenserfahrungen festgestellt 
ist, zumal die Zahl sich noch etwas erhöhen wird, da eine Anzahl der Fälle 
nach dem Ergebnis der Beobachtung und nach dem jetzigen Zustande 
sicher noch vor Ablauf des 1. Jahres ad exitum kommt. Aus dem Material 
der Anstalt Dösen starben in den letzten 3 Jahren vor Kriegsbeginn 
durchschnittlich 18 % an männlichen Paralytikern im 1. Krankheitsjahre, 
nach Hoppe sind es 20%, nach Junius und Arndt 19%. Zu dem meinem 
nahezu gleichen Ergebnis gelangt Weygandt mit 34,05% tödlichem Aus¬ 
gang im 1. Krankheitsjahre. 


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296 


Oehring, 


Aber auch abgesehen von dem schnelleren letalen Ausgang scheint 
der Verlauf und der Verfall zum paralytischen Marasmus auf Grund meiner 
und auch anderer Autoren Beobachtung rascher zu erfolgen als in Friedens* 
Zeiten. Ob dies allein den schädigenden Einflüssen des Kriegsdienstes oder 
auch andern jetzt allgemein wirksamen Faktoren zuzuschreiben ist, vermag 
ich nicht zu entscheiden. Daß dies jedoch nicht ganz von der Hand zu 
weisen ist, geht daraus hervor, daß auch der Prozentsatz der im 1. Krank* 
heitsjahre ad exitum kommenden Paralytiker in der Heilanstalt Dösen 
in Kriegszeiten erheblich höher geworden ist. Während es in den letzten 
Jahren vor dem Kriege, wie oben schon angegeben, 18 % sind, starben 1917 
50,33% der männlichen Zugänge an Paralyse, wobei zu bedenken ist, daß 
auch diese Zahl sich noch dadurch erhöhen wird, daß verschiedene Fälle 
auf Grund der Beobachtung und des jetzigen Zustandes sicher noch vor 
Ablauf des 1. Jahres ad exitum kommen. 

Nach den einzelnen Formen geordnet, fallen auf die klassische 18, 
d. s. 32,7%, auf die dement euphorische 30, d. s. 54,5%, auf die dement 
erregte 5, d. s. 9,1 %, auf die vorherrschend depressive 2, d. s. 3,6 % der Fälle. 

Die Zahlen entsprechen ungefähr den Erfahrungen an dem zum 
Vergleich herangezogenen Material der Anstalt Dösen. Hier kommen auf 
die klassische 20 %, auf die demente 58 % und auf die depressive Form 8 %. 

Obduktionsbefunde waren mir leider nur 4 zugänglich, die ich un¬ 
verkürzt wiedergebe. 

Fall 1. Schädeldach mittelgroß, außen und innen glatt. Dura 
mater nicht gespannt, Innenfläche glatt. Weiche Hirnhäute blutreich, 
entlang den Gefäßen und Furchen verdickt. Verdickung besonders deutlich 
und stärker ausgebildet über dem Parietal- und Stirnlappen, wo die Me¬ 
ningen ein bläulichweißes Aussehen haben und mit der Hirnrinde ziemlich 
fest Zusammenhängen. Ebenso beschaffen sind die Meningen über der 
Fissura Sylvii und zwischen den Stirnlappen. Hirnrinde graurot, blutreich 
und im Bereiche des Stirnhirnes makroskopisch deutlich nicht verschmälert, 
ebenfalls sind die Stirnwindungen noch nicht deutlich verschmälert. 

Gehirnsubstanz: Gewicht 1250 g. Ziemlich gute Konsistenz, feucht, 
blutreich. Seitenventrikel stark erweitert, enthalten reichlich unter Druck 
stehenden, klaren Liquor, 3. und 4. Ventrikel wenig erweitert. Pons, Me- 
dulla oblongata, Kleinhirn sowie zentrale Ganglien ohne makroskopisch 
erkennbare Veränderungen. 

Mikroskopisch: Faserschwund in den oberflächlichen Teilen der 
Rinde. Fibröse Verdickung der Meningen. Infiltration derselben mit 
Lymphozyten, einzelnen Plasmazellen und- eosinophilen Zellen. Klein¬ 
zellige Infiltration kleiner, einzelner Venen. Kleine perivaskuläre Infil¬ 
trate in der Rinde. 

Wa.-R.: Liquor + + -J-. 

Krankheitsdauer: 3% Monat. 

Fall 2. Schädeldach sehr dick, besonders in den Stirn- und Hinter- 


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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 


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hauptspartien. Diploe sehr wenig vorhanden. Dura mater gespannt. 
'Weiche Hirnhäute stark ödematös an der Konvexität, besonders auf 
dem Stirnlappen etwas weißlich verdickt, und zwar vorwiegend im Be¬ 
reiche der Furchen. Arterien der Basis zart, sonst o. B. Auf Schnittfläche 
ist Gehirnsubstanz ziemlich feucht und blutreich. Rinde zeigt noch keine 
deutlichen atrophischen Veränderungen. Gewicht 1500 g. 

Wa.-R. im Liquor + + + . 

Krankheit«dauert 3 Monate. 

Fall 3. Schädel ziemlich kurz und breit, biparietaler Durchmesser 
15,5, okzipito-frontaler Durchmesser 17,5. Knochemist dick, stark sklero¬ 
tisch. Weiche Häute ödematös, in den vorderen Partien reichlich verdickt. 

Gehirn: Gewicht 1250 g. Arterien zart. Ventrikel erheblich erweitert 
und mit klarem Liquor gefüllt. Ependym zart. Gehirnsubstanz blaß, 
ödematös, ziemlich fest. Rinde in den vorderen Partien wenig, in.der Zen¬ 
tralgegend und an den Okzipitallappen stärker atrophisch, überall blaß. 
Wa.-R. im Liquor: + sehr stärk positiv. 

Krankheitsdauer: 6 Monate. 

Fall 4. Schädeldach mäßig dick, Dura mater etwas gespannt, 
beim Herausnehmen des Gehirns fließt reichlich klarer Liquor ab. Ge¬ 
wicht: 1350 g. Weiche Häute sehr stark ödematös, an der ganzen Kon¬ 
vexität diffus weißlich verdickt. Seiten Ventrikel sehr stark erweitert, 
mit klarem Liquor gefüllt. Gehirnsubstanz stark ödematös, nur wenig 
bluthaltig. Hirngewicht nach der Sektion 1220 g. Rinde ebenfalls ödema¬ 
tös, im allgemeinen von gewöhnlicher Dicke. 

W.-R. im Liquor: -f-f-F-f. 

Krankheitsdauer: 5 Monate. 

Die Betrachtung der Fälle hat, übereinstimmend mit Weygandt, 
ergeben, daß die Kriegsparalysen schneller zum Tode führen als die 
gleichen Erkrankungen in Friedenszeiten. Allerdings hat sich, wie durch 
die Feststellungen aus dem Material der Anstalt Dösen bekannt, auch die 
Mortalität der Paralyse bei Zivilpersonen in Kriegszeiten wesentlich ge¬ 
ändert, so daß man jetzt von einem schnelleren Verlaufe dieser Erkrankung 
bei Kriegsteilnehmern eigentlich nicht reden kann. Zu ähnlichen Ergeb¬ 
nissen kommt auch Harald Schulz-Henke in seiner Arbeit „Der Einfluß 
des militärischen Kriegsdienstes auf die progressive Paralyse“. Auch er 
beobachtet kein früheres Auftreten und keinen rascheren Verlauf der 
Latenzzeit, hingegen gibt der Verf. einen schnelleren und schwereren Ver¬ 
lauf im Kriege zu. Er vermag die Möglichkeit der schädigenden Einflüsse 
der Kriegserlebnisse nicht ohne weiteres abzulehnen. 

Der von Weygandt in seiner Arbeit geäußerte Wunsch, seitens der 
Militärbehörden möchte ein Hinweis erfolgen, daß die Paralysen zum 
guten Teil unter die Bestimmungen Z. 150 und 151 zu rechnen sind, hat 
sich inzwischen erfüllt, wie aus der kriegsministeriellen Verfügung Nr. 28/6, 
17, s. 1, Nr. 564, Änderung der Dienstanweisung zur Beurteilung der 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 8 . 21 


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298 


0 e h ri ng, 


Militärdiensffähigkeit usw. — D. V. E. Nr. 251 — vom 13. Juni 1917 
hervorgeht. Dort heißt es: 

„Ziffer 150 enthält folgenden Wortlaut: Kriegsdienstbeschädigung 
ist bei allen Dienstbeschädigungen — Ziffer 97—100 — anzunehmen, die 
auf die besonderen Verhältnisse des Krieges zurückzuführen und in der 
Zeit vom Beginne der Mobilmachung bis zum Tage der Demobilmachung 
erlitten sind. 

Ziffer 151. Der erste Absatz enthält folgenden Wortlaut: 

Die Frage des Zusammenhanges mit den besonderen Verhältnissen 
des Krieges muß namentlich bei solchen Gesundheitsstörungen geprüft 
werden, für deren Entstehung oder Verschlimmerung nicht von außen 
einwirkende (sogenannte exogene), sondern in der Veranlagung des Be¬ 
schädigten selbst liegende (sogenannte endogene) Krankheitsursachen 
in Frage kommen, z. B. bei gewissen Arten von Geistesstörungen, ferner 
bei Solchen Gesundheitsstörungen, die zwar durch von außen herantretende 
Einwirkungen hervorgerufen oder verschlimmert sind, bei denen aber der 
Zusammenhang dieser Einwirkungen mit Kriegseinflüssen zweifelhaft 
sein kann. 

Im vorderen Teile des Kriegsgebietes wird (ein Nachweis des Zusam¬ 
menhanges mit den besonderen Verhältnissen des Krieges nur ganz aus¬ 
nahmsweise erforderlich sein, und auch in weiter rückwärts gelegenen 
Teilen des Kriegsgebietes wird er häufig entbehrt werden können, im 
Heimatgebiet dagegen ist er unerläßlich.“ 

Alkoholismus. — Auf unsere 122 im Mannesalter stehenden Sol¬ 
daten kam nur 4 Fall von Alkoholismus, d. ist 0,82%. Diese Zahl ist sehr 
gering, namentlich im Gegensatz zu den Angaben anderer Autoren, wie 
Baller , der bei seinen Kriegspsychosen einen recht hohen Prozentsatz 
alkoholischer Störungen feststellte (14,3%). Allerdings war von diesen 
nur ein kleiner Teil im Felde, die verhältnismäßig hohe Zahl erklärt sich 
aus der reichlicheren Trinkgelegenheit in der Garnison. 

Umgekehrt ist die von uns gemachte Beobachtung bei unseren Sol¬ 
daten darauf zurückzuführen, daß an sich im Felde wenig Gelegenheit zum 
Trinken geboten ist und strenge disziplinelle Verhältnisse übermäßigen 
Alkoholgenuß von selbst verbieten. Wesentlich trägt dazu sicher auch der 
Umstand bei, daß in der Kriegszeit stark alkoholhaltige Biere immer 
seltener gebraut werden, Weine den gewöhnlichen Soldaten des hohen 
Preises wegen nicht zugänglich sind, und Branntweinausschank an Militär¬ 
personen untersagt ist. 

Die hoch erscheinende Zahl der Alkoholisten beim Krankenmaterial 
der Anstalt Dösen, die im Jahre 1913 22,3% der männlichen Zugänge 
ausmachte, ist sicher zunächst auf die reichliche und unbehinderte Trink¬ 
gelegenheit in Friedenszeiten zurückzuführen. Dann ist aber auch zu 
überlegen, daß zu dem Begriff Alkoholpsychosen der Zivilbevölkerung 
oft versteckte Formen der Dementia praecox gerechnet werden. Umge- 


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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 


299 


kehrt erklärt sich der verhältnismäßig hohe Prozentsatz der Dementia 
praecox-Fälle im späteren Alter bei unserem Soldatenmaterial dadurch, 
daß unter den Erkrankungen sicher eine ganze Reihe Alkoholisten stecken, 
die infolge verminderter Widerstandskraft durch die schädigenden Ein¬ 
flüsse des Kriegsdienstes psychische Störungen bekamen, die ohne 
Krieg vielleicht durch Alkohol ausgelöst worden wären. 

Übrigens ist der starke Rückgang der Alkoholisten während des 
Krieges auch von anderer Seite beobachtet worden. So berichtet Bon- 
höfjer darüber an der Hand des Materials der Königlichen Charitö in Berlin. 

Bestätigt wird diese Tatsache auch noch durch die augenfällige Sta¬ 
tistik von Weichbrodt (Psych. Univers. Klinik Frankfurt). Nach letzterem 
war der Prozentsatz an Alkoholisten bei den männlichen Zugängen des 
Jahres 1913 53,7%, 1915 29,6%, 1916 23,3% und bis Juli 1917 7,3%. 

Auch in der Heilanstalt Leipzig-Dösen ist eine ganz erhebliche Ab¬ 
nahme des Zuganges an Alkoholisten festzustellen. Im Jahre 1913 waren 
unter den ftiännlichen Zugängen 22,3%, 1914 10,06%, 1915 5,81%, 1916 
2,6% und 1917 nur 0,89% Alkoholiker. 

Psychopathie. — Der Zugang an Psychopathen war im Vereins¬ 
lazarett höher als in der Anstalt Dösen. Auf die im Mannesalter stehenden 
122 Soldaten kamen 13 Fälle, d. s. 10,65%, auf 112 Anstaltspatienten 
nur ein einziger, d. s. 0,89%. Dieser Umstand ist leicht zu erklären, da 
■es sich doch meist um Individuen handelt, die schon vor dem Diensteintritt 
mit diesen konstitutionellen Zuständen behaftet waren. Zeigten sich doch 
beim Studium der Anamnesen meiner Fälle 80% belastet. Übrigens 
■deuten auf diese starke Belastung bei Psychopathen auch andere Autoren 
Jhin (Stelzner 74%). 

Patienten dieser Art erweisen sich den gewöhnlichen Lebensreizen 
gegenüber gerade noch genügend widerstandsfähig, zumal sie sich in ihrem 
Zivilleben ihr Dasein ganz nach Belieben einrichten können und vor allem 
auch von der Umgebung auf ihren Zustand die nötige Rücksicht genommen 
wird. Mit dem Eintritt ins Militärverhältnis existieren sie mit einem 
Schlage unter viel ungünstigeren Bedingungen. Den Gesetzen strenger 
Disziplin können sie sich nur schwer fügen, und gar bald kommt es zu 
inneren Konflikten der Pflicht mit anders gerichteten Wünschen. Hierzu 
gesellen sich noch bei den im Felde gewesenen Individuen die seelischen 
Erschütterungen und körperlichen Strapazen, denen gegenüber sie sich 
zweifellos nicht so widerstandsfähig erweisen wie ein geistig normal ver¬ 
anlagter Mensch. 

Was die qualitative Wertung der einzelnen Fälle anbelangt, so wird 
derselben die Einteilung der manisch-depressiven Konstitution in die 
Unterabteilungen der konstitutionellen Verstimmung und konstitutionellen 
Erregung zugrunde gelegt. 

Wir fanden zu ersteren gehörend vielfach Depressionszustände, 
Phobien, Willensschwäche und Mangel an Energie. Auch Zwangsvor- 


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800 


0 eb r i n g. 


Stellungen, z. B. der fortwährende Gedanke, einen Vorgesetzten erschossen 
zu haben, und daraus folgende Suizidtendenzen waren festzustellen. 

Unter die 2. Gruppe wären die Sanguinischen zu rechnen. Nach 
unseren und auch nach den Erfahrungen anderer Autoren ( Laudenheimer) 
reagieren diese im Kriege oft mit Erregungszuständen und Neigung zu 
Disziplinwidrigkeiten. Mehrfach konnten wir beim Durchlesen der Akten 
über derartige Individuen Strafen wegen Gehorsamsverweigerung, Wider 
setzlichkeiten oder gar tätlicher Angriffe gegen Vorgesetzte feststellen. 

Was den Ausgang unseres hiesigen Materials anbelangt, so wurden 
ca. zwei Drittel der Fälle als kriegsunbrauchbar aus dem Heeresdienste 
entlassen, unter ihnen hauptsächlich die imbezillen Psychopathen, die in 
folge ihres unmilitärischen Verhaltens durch schlechtes Beispiel nur schädi¬ 
genden Einfluß auf die Disziplin einer Truppe haben. Bei den konstitutio¬ 
nell verstimmten Individuen wurde schon durch den meist zwanglosen 
Aufenthalt in den Lazaretten vielfach Besserung erzielt, und der größte 
Teil von ihnen konnte wenigstens a.-v. Heimat ihren Ersatztruppenteilen 
zugeführt werden. Ob sie sich dort bewährt haben, ist uns unbekannt, 
da über ihr weiteres Schicksal nichts in Erfahrung zu bringen war. 

Was die Frage der Dienstbeschädigung anbetrifft, so war diese in den 
Fällen, wo die Patienten mit bereits nachweisbar krankhafter Veranlagung 
zum Heeresdienste eingezogen wurden, leicht zu klären, zumal die Ver¬ 
mutung nahelag, daß die Schädigungen des Kriegsdienstes bei einer in 
ihrer psychischen Widerstandsfähigkeit reduzierten Person leicht einen 
Angriffspunkt fanden und entweder zum Aufflackern eines abgelaufenen 
oder zur Verschlimmerung eines bestehenden Prozesses führten. 

In derartigen Fällen bildete es natürlich das wesentliche Bestreben, 
den Zustand des Kranken im* Laufe der Beobachtung und Behandlung 
wieder auf jenen Punkt zurückzuführen, der vor der Zeit seiner Einziehung 
angenommen werden mußte, so daß die Patienten als rentenfrei entlassen 
werden konnten. 

Aber auch in den Fällen, wo die Anamnese für uns ohne nachweisbar 
ätiologisches Moment war, ließ sich fast immer für den kausalen Nexus mit 
dem Kriegsdienst der Beweis aus dem Verlauf und der Symptomatologie 
des Krankheitsfalles erbringen. 

Der deutliche Erfolg der Anstaltsbehandlung und damit die Be¬ 
seitigung schädigender Einflüsse, ein Moment, das wir schon bei der Be¬ 
sprechung der Dementia praecox betont und ausein andergesetzt haben* 
verleiht auch hier dieser Annahme größte Wahrscheinlichkeit. 

Wegen der geringen Anzahl der Fälle erübrigt es sich, auf die Be¬ 
sprechung der Kriegsneurosen, die eine dem Bilde einer Unfallneurose 
entsprechende Störung zeigten, näher einzugehen. Diese Frage ist an 
einem umfangreichen Material zu diskutieren, außerdem in der neuesten 
Literatur bereits vollständig behandelt. 

Dasselbe ist von den Kapiteln Neurasthenie und Imbezillität zu 


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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 301 

sagen, auch hier boten die von mir beobachteten Fälle keinen Anlaß zu 
einer spezielleren Besprechung. 

Zusammenfassend können wir den Inhalt obiger Arbeit 
in nachstehenden Sätzen wiedergeben. 

Aufgabe der Untersuchung: Wir versuchen zu klären, ob 
■ Psychosen der Kriegsteilnehmer sich qualitativ and quantitativ von 
denen anderer Personen unterscheiden, die nicht Kriegsteilnehmer 
sind. Zum Vergleich wurden die männlichen Zugänge des Jahres 
1913 in der Heilanstalt Dösen herangezogen. 

Dementia praecox. Bei unserem Soldatenmaterial in 
diesem Alter ziemlich häufig 24,52 °/o, Kraepelin hat 6,5 °/o, Wolf¬ 
sohn 15 °/o, Anstalt Dösen 16,96 °/o. Bei Meyer Dementia praecox- 
Fälle nur 7.5 °/o (allerdings Soldaten aller Altersklassen). Erb¬ 
liche Belastung bei uns in der Hälfte der Fälle, bei Vorster und 
Sioli 30%. bei Kraepelin 19%. Disposition hereditär Belasteter 
zur Erkrankung bei unseren im Felde gewesenen Soldaten 68,7 %, 
bei Garnisondiensttuenden 60%, bei Anstaltsinsassen nur 55%. 
Folgerung: Kriegsdienst kommt eventuell als schädigendes Moment 
in Frage. Zum gleichen Ergebnis gelangt die qualitative Wertung 
der Fälle. Kausaler Nexus zwischen Psychose und Kriegsdienst 
ist aus Symptomatologie und Entwicklung des Leidens anzunehmen. 
Beweis geht aus Analyse einzelner Fälle hervor. 

Symptomatologisch fanden sich im allgemeinen die für 
Dementia praecox charakteristischen Erscheinungen. In manchen 
Fällen starkes Hervortreten subjektiver Beschwerden. Abgrenzung 
einer besonderen Art, nämlich der depressiven Verblödung. Auf¬ 
fällig rasches Abklingen der Symptome nach Beseitigung der 
Schädlichkeiten. 

Eine gewisse Häufung nachstehender Gruppen tritt hervor. 

I. Relativ spätes Auftreten. 

H. Entstehung des Krankheitsbildes auf Basis psychopathi¬ 
scher Konstitution, bei einzelnen Fällen verbunden mit 
moralischer und intellektueller Minderwertigkeit. 

III. Krankheitsbilder auf Basis angeborener Geistesschwäche. 

Paralyse. Paralytiker bei unserem Soldaten material im 
Mannesalter reichlich, 45%, Anstalt Dösen nur 28,5%. An¬ 
gesichts der Tatsache ist Frage berechtigt, ob Krieg mit Ausbruch 


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302 Oehring, Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 

und Verlauf der Paralyse in Zusammenhang zu bringen ist. Be¬ 
ginn der Paralyse bei unseren Soldaten durchschnittlich im 32,2. 
Lebensjahre, Inkubationszeit durchschnittlich 14,6 Jahre, beide» 
keine abnormen Werte. Schnelligkeit des Verlaufs kann noch nicht 
endgültig festgestellt werden, da ein großer Teil der Fälle noch 
lebt, jedoch ist auf Grund eigener und auch anderer Autoren Er¬ 
fahrungen und Beobachtungen ein schnellerer Ausgang und rascherer 
Verfall zum paralytischen Marasmus anzunehmen als in Friedens¬ 
zeiten. 

Alkoholismus. Bei meinem Soldatenmaterial sehr gering, 
0,82%, bei Baller 14,3% (allerdings mit Soldaten aus Heimats¬ 
gebiet). Grund für unsere relativ sehr günstigen Ergebnisse: 
strenge Disziplin im Felde, wenig Gelegenheit zum Trinken. An¬ 
stalt Dösen 1913: 22,3% alkoholische Störungen. Grund: in 
Friedenszeiten unbehinderte Gelegenheit zum Trinken. Rückgang 
der Alkoholiker von verschiedenen Seiten beobachtet. Bonhöffer, 
Kgl. Charitö in Berlin, Weichbrodt, Universitätsklinik Frankfurt a. M., 
ferner eine von mir gemachte Statistik aus der Anstalt Dösen. 

Psychopathie. Bei unseren Soldaten 10,65%, bei Anstalts¬ 
insassen nur 6,89%. Grund: völlig andere Lebensweise, erhöhte 
Anforderungen an Körper und Geist, verminderte Rücksichtnahme 
auf Krankheitszustand als im Zivilleben. Die meisten Psycho¬ 
pathen waren schon vor Einziehung abnorm. 

Zwei Drittel der Psychopathen wurden kr. u., namentlich 
die imbezillen Psychopathen wegen Neigung zu Disziplinwidrigkeiten 
und dadurch bedingtem schlechten Einfluß auf Truppe. Konstitu¬ 
tionell Verstimmte konnten zumeist als a.-v. H. ihrem Ersatz- 
Truppenteil überwiesen werden. 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges 

auf Geisteskranke. 

. Von Dr. Colla, Bethel. 

/ 

Beim Ausbruch des Krieges lag die Versuchung nahe, fest¬ 
zustellen, welchen Eindruck dieses die ganze Welt bewegende 
Ereignis auf unsere Kranken machte. Die ersten Anhaltspunkte 
die ich dabei. gewann, veranlagten mich, planmäßig an depi 
ganzen Krankenbestande, soweit er dazu geeignet war, Unter¬ 
suchungen daraufhin anzustellen. Ich konnte mir natürlich von 
vornherein sagen, daß irgendwelche wesentlichen, neuen Gesichts¬ 
punkte für die Beurteilung der Krankheitszustände dabei kaum, 
zu gewinnen waren; immerhin wurde mir bald klar, daß die 
Äußerungen der Kranken zur Kennzeichnung ihres Geisteszustandes 
in vielen Fällen außerordentlich geeignet waren, und ich erlebte 
bei den Unterhaltungen außerdem manche Überraschung. 

J£s schied von vornherein begreiflicher Weise eine ganze 
Reihe von Kranken aus, so die stuporösen Katatoniker und die 
blöden Paralytiker. Ich habe trotzdem versucht, auch bei Kata- 
tonikem Anknüpfungen zu suchen, so bei einem Kranken G. 
(Fall 1), der ab und zu abgerissene Sätze in den Saal schreit, 
auch allein ißt und meist reinlich ist. Ich erwartete, daß er gelegent¬ 
lich vielleicht einmal in seinen plötzlichen Äußerungen erkennen 
lassen würde, daß er meine Mitteilungen verstanden und bewahrt 
habe. Aber in den ganzen 43 Monaten ist nichts dergleichen zu 
beobachten gewesen außer den kürzlich gefallenen Worten: 
„Haben Sie eine japanische Kriegsmaschine?“ Bei der Sinn¬ 
losigkeit und den vielseitigen Beziehungsmöglichkeiten seiner ab¬ 
gerissenen Äußerungen lege ich aber darauf gar keinen Wert 1 ). 

*) Wir hatten zudem vor dem Kriege auf der betreffenden Abteilung 
einige Zeit einen jungen japanischen Theologen als Hilfspfleger. 

Nachtrag bei der Korrektur: Inzwischen hat sich herausgestellt, daß 
der Kranke vom Kriege weiß und manche Einzelheiten kennt. 


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Colla, 


Ich fahre aber mit meinen Gesprächen vom Kriege bei diesen 
Kranken, auch bei den ganz stuporösen, fort, um später in freieren 
Zeiten vielleicht feststellen zu können,; wie weit' die Kranken 
meine Mitteilungen aufgenommen haben. 

Wo es aüging, bewegte sich meine Untersuchung in der 
Form der freien Unterhaltung. Dabei kam es mir darauf an. 
zu erfahren, was die Kranken über die Ursachen des* Krieges 
dachten, über die jeweilige Lage auf den Kriegsschauplätzen, 
über die politischen Verhältnisse, die Aussichten für unsere Kriegs¬ 
führung und schließlich, ob Neigung bestand, ins Feld zu ziehen. 
So konnte ich ein Bild über ihr Gedächtnis, über ihre allgemeinen 
Kenntnisse, über die Auffassungsfähigkeit, Urteilskraft und über 
ihr sittliches Empfinden erhalten. Gern ließ ich die Kranken 
frei reden und lenkte nur das Gespräch auf gewisse, mir wichtige 
Punkte. Bei einzelnen beschränkte sich die Unterhaltung natür¬ 
lich aber nur auf einfache Fragen und Antworten, und ich habe 
dann, um Vergleichsmöglichkeiten zu haben, wie bei der sonstigen 
Prüfung des geistigen Besitzstandes nach einem bestimmten Plane 
gefragt: 

1. Wissen Sie, daß wir Krieg haben? 2. Mit wem führen wir Krieg? 
3. Wer hat den Krieg erklärt? 4. Warum ist der Krieg gekommen? 
5. Glauben Sie, daß wir siegen werden? 6. Möchten Sie wohl selbst mit 
hinaus ins Feld? , 

Von besonderer Wichtigkeit ist es mir auch gewesen, zu 
erkunden, wie weit der Krieg Einfluß gewonnen habe auf die 
Wahnbildungen der Kranken, auf ihre Sinnestäuschungen und 
sonstige Krankheitsäußerungen. Die Ausbeute ist nach dieser 
Richtung hin, wie ich vorweg bemerken will, etwas spärlich, aber 
einzelne Fälle bieten gerade darin recht Anziehendes in klinischer 
Beziehung. 

Nach Ausscheidung der von vornherein ungeeigneten Fälle 
bleiben 71 übrig, von denen ich über 53 im folgenden be¬ 
richten will. 

Zunächst erwähne ich 5 Kranke, die zur Gruppe der psychopathi¬ 
schen Persönlichkeiten gehören, und zwar zur Klasse der sogenannten 
Haltlosen (i. S. KraepeHns). 

Von ihnen zeigte einer, St. (Fall 2), entsprechend seiner manischen 
Grundstimmung die lebhafteste Teilnahme an allen Ereignissen und offen- 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 305 

barte in allen Besprechungen ein allerdings immer sehr optimistisch ge¬ 
färbtes, aber doch sonst gesundes Urteil. Irgendeine Neigung jedoch, 
am Kampfe gegen die Feinde teilzunehmen, besaß der körperlich gesunde 
30jährige Pflegling nicht. Er war im Gegenteil froh, daß er in der Anstalt 
„in Sicherheit“ war, und eine Einziehung für ihn nicht in Frage kam. 
(Haltlosigkeit, schwärmerische Künstlernatur, sittliche Verfehlungen, 
gänzlicher Mangel an irgendwelcher Einsicht.) 

Ein zweiter, R. (Fall 3), der namentlich in Venere stark zu Aus¬ 
schreitungen neigte, mit völligem Versagen gegenüber ganz selbstver¬ 
ständlichen Pflichten, wollte mit aller Gewalt hinaus ins Feld, was um so 
verdächtiger war, als er sonst alle altruistischen Neigungen vermissen ließ. 
Schließlich gelang es ihm, im März 1915 zu entweichen und sich zu stellen; 
aber bevor er eingestellt werden konnte, entgleiste er in altgewohnter 
Weise so schwer, daß er endlich entmündigt und in eine unserer Arbeits¬ 
kolonien gebracht wurde. 

Zwei weitere Haltlose, H. und A. (Fälle 4 und 5), kümmerten sich 
um den Krieg gar nicht, wenigstens soweit das nach außen hervortreten 
konnte. Sie waren viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten, ihrem 
Kampfe gegen Eltern oder Vormund, Anstalt und „die ganze Philister» 
weit“, wie einer sich ausdrückte, beschäftigt, um im Kriege mehr als ein 
Ereignis zu sehen, das in der Zeitung ganz wie ein anderes, alltägliches 
Vorkommnis behandelt wird. H. warf bei Unterhaltungen wohl einmal 
eine „ulkige“ Bemerkung über den Krieg hin; A. schwärmte für Eng¬ 
land, das Land der Freiheit. 

Die lebhafteste Rückwirkung hatte der Krieg auf d.en fünften 
Psychopathen, Sch. (Fall 6), den Sohn sehr wohlhabender Eltern, der 
sich schon seit Jahren in Anstalten aufhält, bei jedem Versuche, ihm in 
irgendeiner Stellung ein Einordnen in die Lebensverhältnisse zu ermög¬ 
lichen, auf das allerschwerste entgleist, der zwar künstlerisch begabt und 
in allerlei Technik bewandert ist, aber einen gewissen Mangel an Urteils¬ 
kraft erkennen läßt und neben seiner Verschwendungssucht und seiner 
überraschenden Ausdauer im „Herumsumpfen“ eine außerordentliche 
Gemütsroheit zutage treten läßt. Er benutzte am 5. August 1914 die 
Erlaubnis zu einem Ausgange im Anstaltsgebiete, wo er photographische 
Aufnahmen machen wollte, um seinen kostbaren photographischen Ap 
parat zu versetzen und zu entweichen. In seinem Zimmer fanden wir 
einen Zettel folgenden Inhalts: „England hat Deutschland den Krieg er¬ 
klärt, Westdeutschland in Gefahr; rette mich auf neutrales Gebiet!“ 
Unter diesem neutralen Gebiete verstand er zunächst Berlin, wo er den 
Rest seines Geldes durchbrachte, dann ging er nach Zoppot. Bei einem 
Haare wäre er auf seiner Flucht vor den Engländern den Russen in die 
Arme gelaufen; denn das eigentliche Ziel seiner Reise war, wie er später 
angab, seine Heimat, die mitten in einem der großen Schlachtfelder des 
Ostens lag. Sein Verhalten liegt ganz in der Richtung seiner Charakter- 


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306 


Colla, 


anlage, in der Mangel an jedem Mut noch ein hervorstechender Zug war. 
Auch später zeigte er nicht nur gänzliche Teilnahmlosigkeit gegenüber 
für uns günstigen oder ungünstigen Kriegsereignissen, sondern gelegentlich 
eine abschreckende Gefühlsroheit durch nichtswürdige Äußerungen über 
unsere Verluste. 

Ich möchte hier einschalten, daß ich bei einer Reihe von Psycho¬ 
pathen, die früher in meiner Behandlung waren, auch wesentlich bessere 
Erfahrungen gemacht habe. Eine überraschend große Zahl hat sich frei¬ 
willig zum Eintritt in das Heer bei Ausbruch des Krieges gestellt, einige 
sind gefallen, andere ausgezeichnet worden. Eg hat bei vielen sicherlich 
der bloße Drang nach Freiheit, bei andern das Lockende eines voraus¬ 
sichtlich abenteuerlichen Erlebens mitgespielt, was beides ja im allgemeinen 
den Grundlinien ihrer Willensrichtv.ng entspricht. Aber ich habe bei 
einigen auch wirklich eine reine Hingabe an den großen Gedanken des 
Kampfes um Sein und Nichtsein des Vaterlandes gefunden. Von den 
13 ehemaligen Pfleglingen, über die ich unterrichtet worden bin, Sind 5 
gefallen, 3 sind sehr bald körperlich zusammengebrochen, 1 hat wegen 
Fahnenflucht vor Gericht gestanden, ist aber freigesprochen und als un¬ 
tauglich entlassen worden. Ein weiterer, der besonders an Großmanns¬ 
sucht litt und schon früher allerlei Hochstapeleien vollführt hatte, be¬ 
nutzte die Uniform sofort zu Zechprellereien und andern Streichen und ist 
jetzt wieder in einer Anstalt. Über die 3 letzten habe ich nichts weiter 
erfahren können, als daß sie sich zum Eintritt ins Heer gemeldet haben 
und angenommen worden sind. 

Um aber auf meinen eigentlichen Besprechungsgegenstand zurückzu¬ 
kehren, schließe ich hier den Fall eines Zwangsneurotikers an, der an 
Zweifelsucht und starken körperlichen Störungen mit hypochondrischen 
Anwandlungen litt, W. H. (Fall 7). Der begabte und im Verkehr durchaus 
gewandte, 32jährige Kranke aus guter Familie stand dem Kriege auf¬ 
fallend kühl gegenüber. Er hatte allerlei Liebhabereien und namentlich 
künstlerische Neigungen; Unterhaltungen über den Krieg wich er aber am 
liebsten aus, erledigte sie, wenn es nicht anders ging, mit gesellschaftlicher 
Form und Zuvorkommenheit, wobei zu erkennen war, daß er die Ereignisse 
wohl verfolgte, aber nur flüchtige Eindrücke davon hatte. Nie ließ er 
irgendeine Äußerung hören, die auf eine Gemütsbeteiligung hätte schließen 
lassen. Auch seine Miene war stets die eines „reservierten Geheimrats“, 
wie einer seiner Mitkranken sagte. Ich habe bei ihm immer den Eindruck 
gehabt, daß er einzelne Eindrücke gewaltsam zurückdrängte oder ab¬ 
wehrte; so bestand z. B. bei ihm eine völlige Unkenntnis über die jeweilige 
politische Lage, und einer Besprechung der U-Boot-Kämpfe und-Erfolge 
wich er hartnäckig aus, während er über die Ereignisse im Felde stets sehr 
gut unterrichtet war und einer Besprechung darüber in der oben ange¬ 
gebenen Weise sich zugänglich zeigte. Die Frage, ob er keine Neigung 
habe, am Kriege teilzunehmen, erledigt er mit gewohnter Förmlichkeit 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 307 

durch ein sehr gelassenes Nein. Ich habe nicht ergründen können, ob 
hinter seinem Verhalten Zwangsvorstellungen steckten. 

Vor einigen Monaten "haben wir einen Belgier, N. (Fall 8), aufge¬ 
nommen, dessen schon lange bestehende Zwangsneurose (Zwangsdenken) 
durch die Kämpfe um seine Vaterstadt Antwerpen angeblich eine starke 
Verschlimmerung erfahren hat. Dieser Kranke, der sich je nach seinem 
Befinden körperlich beschäftigt und nebenbei auch gute geistige Unter¬ 
haltung in Literatur und Kunst sucht, zeigt ebenfalls äußerlich gar keine 
Teilnahme an den Ereignissen des Krieges, weiß auch über die einzelnen 
Geschehnisse kaum Bescheid. v Hier liegt es ja besonders nahe, anzu¬ 
nehmen, daß die Eindrücke abgewehrt werden, die seinen Zustand ver¬ 
schlimmert haben. Es mag aber auch einfach so liegen, daß der Kranke 
durch seine Zwangsvorstellungen so sehr in Anspruch genommen ist, daß 
er für neue Eindrücke wenig zugänglich ist. Tatsächlich ist er auch sonst 
für äußere Anregungen sehr wenig zugänglich und sucht in freieren Zeiten 
immer nur in seinen alten Liebhabereien Zerstreuung. 

Ich lasse nun 3 Imbezille folgen. Von ihnen ist B. (Fall 9) ein 
thüringischer Bauer, dessen beschränkte Gutmütigkeit von gewissenlosen 
Freunden so ausgenutzt wurde, daß man zur Entmündigung des Kranken 
schreiten mußte. Er hat außer Essen und Trinken keine wesentlichen 
Wünsche und Neigungen, beschäftigt sich nicht und sitzt den ganzen Tag, 
mißvergnügt über seine Anstaltsversorgung, herum. Seine Antworten 
auf die oben gegebenen Fragen sind äußerst bezeichnend: Frage 1: „Nu 
da.“ 2: „Das weeß ich Sie nich.“ 3: „Kann ich ooch nich sagen.“ 4: „Das 
weeß ich ooch nich; nu, ’s werd wohl eener angefangen haben.“ 5: „Nee, 
mei Lieber, ich bleib’ derheeme.“ (Lacht hell auf.) 

Der zweite, M. (Fall 10), ein Berliner Kind (Zwergwuchs, kindliche 
Ängstlichkeit vor Gewittern und „unfreundlichen Menschen“, fleißiger 
Arbeiter und salbungsvoller Briefschreiber), fuhr sogleich auf die erste 
Frage los: „Ich brauch doch nicht mit, Herr Doktor?“ Irgendein Urteil 
über Entstehung und Verlauf des Krieges bildet er sich natürlich nicht. 
Dagegen fragte er wochenlang ängstlich: „Nicht wahr, hier kommt der 
Krieg doch nicht her ?“ Eines Tages kam er aufgeregt zu mir, fast weinend, 
und klagte: „Herr Doktor, der R. neckt mich immer und sagt, ich würde 
eingezogen. Nicht wahr, ich kann doch hier bleiben? Mein Vormund hat 
gesagt, ich wäre viel zu klein.“ 

Eine ebenso große Abneigung zeigt der 3. Imbezille, ein 45jähriger 
Bergmann W. (Fall 11). Seine Antworten auf die Fragen gebe ich eben¬ 
falls wörtlich wieder: Frage 1: „Ja, der Bruder S. hat es gesagt.“ 2: „Na, 
mit den Franzosen.“ 3.: „Die Franzosen“ 4: „Na, wegen die Franzosen.“ 
5: „Na, wer weiß denn.“ 6: „So ’n Krieg ist nichts Genaues.“ Dabei 
steht er verlegen lächelnd an die Wand gelehnt und nestelt an seinen 
Fingern; irgendeine weitere Fr.'ge richtet er nicht an mich, der Krieg ist 
ihm.eine ganz gleichgültige S<"he. 


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308 


Colla, 


Auch die in der geschlossenen Anstalt befindlichen Epileptiker 
zeigen im allgemeinen keine Teilnahme an den Kriegsereignissen, begreif¬ 
licherweise, da bei ihnen ja schon ein ziemlicher Grad von Schwachsinn 
vorausgesetzt werden kann. In einzelnen Fällen bot die Unterhaltung aber 
doch Auffallendes, so besonders bei einem 52jährigen Arzte, F.. (Fall 12), 
der mit 46 Jahren den ersten Anfall bekommen hatte. (Alkohol und Lues 
sind nicht mit im Spiele.) Er war in der geschlossenen Anstalt wegen 
häufiger Dämmerzustände und Erregungen, in denen er gemeingefährliche 
Handlungen beging, und es hatte sich bei ihm ziemlich schnell ein gewisser 
Grad von Schwachsinn mit großer Weitschweifigkeit, Gedächtnisschwäche 
und Einstellung auf das eigene Ich entwickelt. Der Kranke verfügte aber 
noch tibör ganz gute Kenntnisse, las täglich die Zeitung, sprach jedoch 
niemals vom Kriege und ging, wenn die Rede darauf kam, schnell darüber 
hinweg. Ich gebe die erste Unterhaltung mit ihm vom 6. August 1914: 

[Wissen Sie, daß wir Krieg haben, Herr Kollege?] Soo? (Ersieht 
mich erstaunt an.) [Nun, Sie lesen doch die Zeitung, da steht es ja drin.] 
Soo? [Hier sehen Sie doch.] Ja, das steht da. (Er lächelt verlegen.) 
[Nun und?] Ja, wenn es da steht, dann wird es auch so sein. [Wer hat 
denn wohl den Krieg erklärt?] (Er sucht in der Zeitung:) Die Franzosen. 
[Wie denken Sie wohl, daß der Krieg für uns verlaufen wird ?] Ja, das ist 
schwer zu sagen. [Hätten Sie wohl Lust, noch mit ins Feld zu ziehen?] 
Ja, wenn ich gesund wäre. Donnerwetter noch einmal. (Dabei schlägt er 
wütend mit der Faust auf den Tisch.) 

Diese Unkenntnis ist ja sicherlich mit auf den Verlust der Merk¬ 
fähigkeit zu setzen, läßt sich aber daraus nicht allein erklären, zumal der 
Kollege für andere Dinge ein besseres Gedächtnis hatte, z. B. für die Nach¬ 
richten über die soziale Bewegung in seinem heimischen Bergwerksbezirk. 
Offenbar spricht hier auch die Einbuße an Aufnahmefähigkeit für nejue 
Eindrücke mit. Bezeichnend für sein noch sehr lebhaftes Krankheitsgefühl 
ist die Antwort auf die letzte Frage. Hier bricht bei dem körperlich 
kraftstrotzenden, hühnenhaft gebauten Manne trotziger Zorn durch die 
bisherige Gleichgültigkeit durch. 

Ein seit einigen Monaten in der Anstalt befindlicher 52jähriger, schon 
seit 20 Jahren an Anfällen leidender Epileptiker B. (Fall 13), der noch 
sehr umgängig war, aber zeitweise an Zuständen von Verwirrtheit leidet, 
nicht arbeitet und gegen äußere Eindrücke sehr gleichgültig ist, glaubt 
nicht an den Krieg. Auf die Frage, ob er wisse, daß Krieg ist, drohte er 
mit dem Finger und sagte: „Herr Doktor, Herr Doktor, Sie haben mich 
zum besten.“ Inzwischen hat er den Krieg am eigenen Leibe zu spüren 
bekommen; aber wenn er sich beklagt, daß er nicht mehr so viel zu essen 
bekäme wie früher, und man weist ihn auf die Ernährungsschwierig¬ 
keiten im Kriege hin, so sagt er verstimmt: „So? Na, es ist schon gutl“ 
und dreht sich mürrisch um. 

Ein pfälzischer Weinbauer, H. (Fall 14), mit seltenen Anfällen, 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 309 

häufigen Dämmerzuständen und Resten von (alkoholistischen) Sinnes¬ 
täuschungen, dabei einem Schwachsinn, der ihn immerhin noch befähigt,, 
geordnete Briefe zu schreiben, hatte anfangs noch viel Teilnahme an den 
Ereignissen gezeigt und war namentlich um das Schicksal seiner Heimat 
besorgt. Inzwischen ist er aber noch schwächer geworden und weiß kaum 
noch etwas vom Kriege. Nur Heimatbriefe mit Nachrichten über Ange¬ 
hörige, die im Felde stehen, erwecken vorübergehend bei ihm etwas Auf¬ 
merksamkeit für die Zeitereignisse. .Bezeichnend sind zwei von mir nieder¬ 
geschriebene Gespräche mit ihm: 

1. Am 3. August 1914: [Herr H., wir haben Krieg mit Frankreich 
und Rußland. Was sagen Sie dazu?] Isch’s wahr? Nu bewahr’ uns Gott! 
[Wissen Sie, wodurch der Krieg entstanden ist?] Nun von wege dem 
Österreicher, den s’ halt ermordet haben. [Glauben Sie wohl, daß wir siegen 
werden?] Dös will i meine. Die Preuße und die Bayern, die wern’s halt 
schon mache. [Würden Sie auch gern mitmachen?] (Er packt mich am 
Arme und lacht laut:) Hei, wenn i gesund wär\ warum denn nit? 

2. Am 12. Januar 1918: [Nun, Herr H., was sagen Sie denn jetzt 
zum Kriege?] Was für e Krieg? [Nun, wir haben doch Krieg mit der 
halben Welt!] Ja so, von wege dem, daß sie die Fahne naus hänge tue, 
(Er macht seiner Gewohnheit gemäß mit der Hand die Gebärde, als wolle 
er sagen, das sei sehr schwer zu sagen.) [Glauben Sie, daß wir sie alle be¬ 
siegen?] Das kann Ihne der H. nicht sagen, da frage Sie den Soldaten! 
(Er spricht von sich gern in der dritten Person.) [Wer ist denn Hinden- 
burg?] Der Hindenburg, sdl isch, wo uff den Kalender iß uffgemalt. 
[Wie lange haben wir denn wohl schon Krieg?] S’isch scho recht. Er 
dreht sich mürrisch weg. 

Ein 40jähriger Amtsrichter G. (Fall 15), der seit seinem 32. Jahre 
an Anfällen leidet und schnell einen mäßigen Grad von Schwachsinn 
erreicht hat, in den sich Dämmerzustände nach Art des sogenannten 
besonnenen Deliriums einschieben, steht dem Kriege ohne jede sichtbare 
Gefühlsregung gegenüber. Seine Auffassung und Verarbeitung aller 
Eindrücke ist stark verlangsamt, sein Gedächtnis wenig gestört. Er hört 
allen Erzählungen über den Krieg zu, äußert sich aber nie dazu, obwohl 
er täglich die Zeitung liest. Auf bestimmte Fragen über den Krieg gibt er 
kurze Antworten, die erkennen lassen, daß er wohl einzelne Tatsachen 
kennt, aber ihren Zusammenhang nicht beherrscht; auch ein Urteil über 
die jeweilige Kriegslage und die Aussichten für uns kann er sich nicht 
bilden. Beispiel (am 20. Dezember 1915): [Nun, Herr Amtsrichter, was 
sagen Sie denn zur Räumung der Dardanellen?] Ja, was kann ich dazu 
sagen? (Sieht mich scheu und verlegen an, dann nach kurzer Pause, 
indem er nach der Zeitung greift:) Ach ja (lächelnd j, die scheinen ja eine 
Menge verloren zu haben. [Unsere U-Boote haben dazu auch mitgeholfen.] 
Die U-Boote, wieso? [Na die haben doch die feindliche Flotte in Schach 
gehalten.] Ach so, ja das ist wohl wahr. [Wie denken Sie denn über den 


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Co Ha, 


weiteren Verlauf des Krieges?] Ja, was soll man dazu wohl sagen ? [Nun 
glauben Sie an utisern völligen Endsieg?] Ja, das ist schwer zu sagen. 
(Mit Eife») Aber das wollen wir doch hoffen. Als ich das Zimmer ver¬ 
lassen will, sagt er noch: Mein Bruder steht auch im Felde, das wissen 
Sie doch, Herr Doktor? [Ja, wir haben ja schon oft davon gesprochen.] 
Na ja, ich wollte es nur beiläufig erwähnen. 

Die Schwerfälligkeit in der Auffassung, die mangelhafte Urteils¬ 
bildung und schließlich die Beziehung auf das eigene Ich sind äußerst 
bezeichnend. 

An der großen Zahl der in den offenen Häusern und in den Acker¬ 
höfen befindlichen Epileptiker ha^e -ich nur flüchtig einige Beobachtungen 
machen können. Die Teilnahme an den Kriegsereignissen entsprach im 
allgemeinen der Erwartung nach dem Grade ihres Schwachsinnes. Auf¬ 
gefallen ist mir ein ganz schwachsinniger Kranker Th. (Fall 16), der nur 
noch zu regelmäßigen Botengängen benutzt wird. Auf seine Geistesver¬ 
fassung hat der Krieg entschieden auffrischend gewirkt. Es mag das daran 
liegen, daß er in einem Hofe mit einigen arbeitenden Kranken zurückblieb, 
der als Lazarett eingerichtet wurde, und daß die neuen Eindrücke nach 
dem jahrelangen Einerlei der ewig gleichen Botengänge eine gewisse 
geistige Erstarrung hinwegräumten, die sich über seinen Schwachsinn 
gelagert hatte. Er nahm sich eine Soldatenmütze, heftete sich eine „schöne 
große Kokarde“, eine russische, an, die er einem Soldaten entwendet hatte, 
und begrüßte mich eines Tages zu meiner großen Überraschung mit den 
Worten: „So, Herr Doktor, ich habe auch mobil gemacht.“ Er kümmert 
sich um die Ereignisse gar nicht, aber er verkehrt viel mit den Verwundeten 
und trägt immer seine Mütze. Sein Selbstgefühl ist gestiegen, er will bei 
allen Veranstaltungen Gedichte aufsagen, sonst käme er nicht. Kürzlich 
sagte er mir sogar, er .wolle heiraten, er habe viel Glück bei den Frauen. 

Bei den Altersschwachsinnigen trat im allgemeinen in ganz 
besonders hohem Maße die Teilnahmlosigkeit an den Kriegsereignissen 
hervor, wie es ja der Eigenart dieser Kranken entspricht. Außerordentlich 
bezeichnend war dies bei einem alten Volksschullehrer K. (Fall 17), der 
zeitweise noch Spuren einer umfassenderen Bildung erkennen läßt. Meine 
Unterhaltung mit ihm über den Krieg spielte sich so ab (4. August 1914): 
[Herr K., wissen Sie, daß wir Krieg haben?] So? Das ist der 4. Krieg, 
Herr Doktor, den ich erlebe. (Dann miW weinerlicher Stimme:) Habe kein 
Bett, habe keinen Körper mehr. Mit der Beziehung auf seine eigene 
Person war für ihn die Kriegsfrage erledigt, und sie versank sofort in 
seinem Wahne. 

Ein anderer, B. (Fall 18), freute sich nur über ein Bild seines 
Schwiegersohnes in Kürassieruniform. , Bei ihm trat auch sonst die Teil¬ 
nahmlosigkeit und die Einstellung des ganzen Denkens auf das eigene Ich 
besonders hervor, während Gedächtnis und sonstige geistigen Fähigkeiten 
weniger geschädigt waren. Ein dritter, W. (Fall 19), ein 78jähriger 


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Beobachtangen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 311 

gebrechlicher Greis (Sittlichkeitsvergehen, Abnahme der Merkfähigkeit, 
Zerstreutheit, Erschwerung der Auffassung, auch sonst teilnahmlos), 
antwortete auf die erste Frage auch mit erstauntem „So?“ und auf die 
zweite Frage, wer den Krieg erklärt habe: Napoleon. [So? Napoleon?] 
Ich — ich meine die Franzosen. [Nun weshalb wohl?] Das ist immer so 
gewesen. [Wie glauben Sie wohl, daß der Krieg verlaufen wird?] Wie 
meinen Sie das? [Ich frage Sie, ob Sie glauben, daß wir siegen werden?] 
Das werden wir wohl. Es war bei jeder späteren Unterhaltung immer 
für ihn scheinbar etwas Neues, daß Krieg war, entsprechend seiner 
schlechten Merkfähigkeit, während er für die verschiedenen Gerichte bei 
den Mahlzeiten ein gutes Gedächtnis hatte. 

Ein 65jähriger Lehrer A. (Fall 20), den ich zur Gruppe der Presbyo- 
phrenen stelle, beteiligt sich an jeder Unterhaltung lebhaft, musiziert, 
arbeitet fleißig im Garten, sieht mich aber jedesmal sehr erstaunt an, wenn 
ich vom Kriege spreche. In der Unterhaltung gibt er dann manchmal 
ganz treffende Urteile über den Krieg ab, aber offenbar je nach seiner 
gerade bestehenden Stimmung. Von selbst beschäftigt er sich mit den 
Ereignissen gar nicht. Auf die Frage, ob wir siegen werden, antwortet er 
einmal: „Das werden wir doch!“ Einige Stunden später lächelnd: „Das 
können wir wohl nicht.“ Von der früheren Unterhaltung weiß er offenbar 
nichts mehr. 

. Hier möchte ich den Fall eines 49jährigen livländischen Barons X. 
(Fall 21) anführen, der an Schwachsinn nach polyneuritischer 
Geistesstörung litt mit andauernd starker Einbuße der Merkfähigkeit 
und Konfabulation neben dem Wahne des Bestohlenw r erdens. Zwischen¬ 
durch hatte er Schrei- und Lachkrämpfe; auch bestand eine Parese in den 
Beinen: Der Kranke schrieb bis an sein Ende außerordentlich form¬ 
gewandte Briefe, kümmerte sich aber sonst nur um die Befriedigung 
seiner körperlichen Bedürfnisse und um seine Malkunst, die sich indessen 
nicht über die Stufe der Oberländerschen „Schreibhefte des kleinen Moritz“ 
erhob *). Ich habe im September 1915 folgendes vermerkt: [Nun, Herr 
Baron, wie denken Sie denn eigentlich über den Krieg?] Den Krieg? Ich 
weiß nicht, was Sie meinen. [Nun, unseren Krieg mit Rußland und den 
andern Ländern.] Ach ja, ja da da da, ach ich weiß nicht, ich habe aber 
wirklich immer sehr große Schmerzen, Herr Doktor. Ich setzte mich nun 
zu ihm und legte ihm die ganze Kriegslage dar, erzählte ihm von der Ent 
stehung und dem bisherigen Verlaufe des Krieges und bemerkte, wie er 
mir scheinbar aufmerksam zuhörte. Einmal, als ich von den Russenein 
fällen in Ostpreußen erzählte (er war preußischer Referendar und hatte 
bei einem preußischen Husarenregimente gedient), sagte er: „Da, das ist 
_ \ 

1 ) Der Kranke ist im vorigen Winter an Ödemkrankheit gestorben. 
Bedauerlicherweise konnte die Autopsie nicht vorgenomnun werden in¬ 
folge von äußeren, durch den Krieg verursachten Störungen. 


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C olla, 


aber sehr schlimm, Herr Doktor.“ Meine Absicht, am nächsten Tage fest¬ 
zustellen, was er von der Unterhaltung bewahrt habe, erübrigte sich ; denn 
gegen Abend wurde mir mitgeteilt, er habe Gesellschaftstoilette angelegt 
und wolle zu mir kommen, weil ich heute bei ihm gewesen sei und ihn zum 
Abendessen eingeladen habe. 

Von 9 Paralytikern mit bereits stark ausgesprochenem Schwach¬ 
sinn war von vornherein keine Teilnahme am Kriege zu erwarten. Eine 
Ausnahme machte nur ein 30jähriger Landwirt W. (Fall 22), der, von Hause 
aus schwach begabt, mit 20 Jahren angesteckt, im Kriege paralytisch ge¬ 
worden war. Er spricht täglich von seiner Wiedereinziehung, drängt 
lebhaft hinaus, um wieder an die Front zu kommen, hat aber für die Er¬ 
eignisse kein klares Verständnis mehr. Abgesehen von diesem Kriegsteil¬ 
nehmer war die Mitteilung, daß wir Krieg haben, allen noph Wochen 
nach der Kriegserklärung eine Überraschung trotz all der durch den Krieg 
bereiteten Veränderungen in der Anstalt (Personenwechsel, weibliches 
Pflegepersonal usw.) und der Besprechungen der Kriegsereignisse. Auf 
fallend war jedoch bei einem Ingenieur T. (Fall 23), dessen märchenhafte 
Größenvorstellungen sich schließlich in einem mechanischen Hersagen der 
Wörter „1 Million, 2 Millionen, 3 Millionen“ erschöpften, einmal ein plötz¬ 
liches Ausbiegen bei diesem Herzählen in folgender Weise: ,,1 Million, 

2 Millionen, Billionen Millionen, Trillionen, Toten, Franzosen, Franzosen, 
Russen, Fra.... (unverständlich), Nonen, Trillionen, Toten alle Toten 
usw.“ Ich stehe nicht an, da andere Beziehungsmöglichkeiten nicht er¬ 
kennbar sind, anzunehmen, daß hier der Krieg einen schwachen Licht¬ 
strahl in die Geistesnacht geworfen hat. 

Ein adliger Landwirt, v. O. (Fall 24) (einfach schwachsinnige Para¬ 
lyse), dessen Geistesschwäche bei der Aufnahme kurz vor Ausbruch des 
Krieges gar nicht erheblich war, war doch in seiner Auffassungsfähigkeit 
so geschwächt, daß er gleichfalls an den Kriegsereignissen keinen Anteil 
nahm? trotzdem 5 seiner Brüder und 2 Schwäger von ihm im Felde 
standen und er durch zahlreiche Briefe über deren Erleben unterrichtet 
wurde. Während er die Mitteilungen von dem Heldentode zweier seiner 
Brüder ohne Gemütsbewegung entgegennahm, bewirkte die Nachricht 
daß der eine Schwager gefallen sei, später in seinem viel schwächeren 
Geisteszustand einen heftigen Schmerzausbruch. Dieser leitete einen 
äußerst schnellen Verfall mit Verwirrungszuständen ein. 

Besonders auffallend ist mir die mangelnde Teilnahme an den Kriegs¬ 
ereignissen bei einem Hirnluiker, v. C. (Fall 25), (Wahnideen, zeitweise 
lebhafte Sinnestäuschungen, ab und zu epileptiforme Anfälle), einem 
* früheren Offizier, der meist äußerlich nichts Krankhaftes erkennen läßt, 
recht mjtteilsam ist und die ihm anerzogenen Formen gut bewahrt (er 
bittet nach jedem Erregungszustand durch Sinnestäuschungen höflich um 
Entschuldigung, obwohl er weder diese noch seine Wahnvorstellungen 
berichtigt). Ich habe bei oftmaligen Unterhaltungen' mit ihm nie eine 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 313 

Anteilnahme an dem großen Ereignis des Weltkrieges und der Not des 
Vaterlandes entdeckt. Er liest eifrig die Zeitung, verarbeitet das Gelesene 
aber gar nicht; sein Inneres ist offenbar ganz ausgefüllt mit den Verfolgun¬ 
gen, denen er ausgesetzt ist trotz seines äußerlich meist geordneten 
Verhaltens. 

Hier möchte ich einen Fall von Geistesstörung bei multipler 
Sklerose anfügen. Der jetzt 44Jahre alte Pflegling R. (Fall 26) leidet seit 
dem 15. Jahre an Zittern und ist langsam schwachsinnig geworden; zeit¬ 
weise hat er Erregungszustände, sehr selten auch einige Sinnestäuschungen, 
Er ist zeitlich nur im allgemeinen, örtlich und über seine Umgebung gut 
orientiert. Er liest viel, ohne das Gelesene im Zusammenhänge zu ver¬ 
stehen ; dagegen diktiert er ganz geordnete Briefe, schreiben kann er nicht 
mehr. Stark gehobenes Bewußtsein, die Vorstellung, von allen Seiten ge¬ 
ärgert und schikaniert zu werden, vervollständigen das geistige Bild. — 
Der Kranke lebt nur seinen Gedanken an Heiraten und an Heimkehr zu 
den Seinen. Der Krieg hat daher für ihn begreiflicherweise gar keine Be 
deutung. Da sein Wunsch, heimzukehren, während des Krieges uner¬ 
füllbar ist, wird er bei seinem Drängen immer auf den Frieden vertröstet. 
Der Wiederschein davon spiegelt sich in folgendem Gespräch ab: [Nun, 
Herr R., was sagen Sie denn jetzt zum Kriege?] Ja, bester Herr Doktor, 
was soll ich dazu wohl sagen ? [Na, wie lange haben wir jetzt schon Krieg?] 
Na, schon sehr lange. [Wann hat er denn angefangen?] Wohl 1908. 
[Dann hätten wir jetzt schon 10 Jahre Krieg?] Na, das wird wohl so sein! 
[Nun, das stimmt aber nicht ganz.] Na, aber Herr Doktor, ich habe doch 
jeden Tag meine Greifswalder Zeitung. [Was haben wir denn wohl für 
Schlachten gehabt?] Ja, sehen Sie, das habe ich wieder vergessen. [Mit 
wem führen wir denn Krieg?] Na, mit Rußland und — Frankreich. 
[Und mit ?] Und mit England. Es ist auch schon mal Frieden angeboten 
worden. [So?] Na, aber Herr Doktor, ich lese doch meine Zeitung. Wir 
haben doch mal Frieden angeboten an England.! [Glauben Sie denn, 
daß wir den Krieg gewinnen?] Na, gewiß dochl [Was hat die deutsche 
Regierung wohl veranlaßt, Frieden anzubieten?] Na, sie wollen Frieden 
haben. Das ist doch wohl auch recht so! [Nun ja, aber aus welchem 
Grunde wollen sie denn Frieden haben? Die Feinde wollen doch nicht!] 
Na, sehen Sie mal, Herr Doktor, der Krieg hat doch lange genug gedauert. 
Wir müssen doch auch mal wieder aufhören.. 

In seiner Sehnsucht nach Frieden ist von allen einzelnen Ereig¬ 
nissen nur unser Friedensangebot in seinem Gedächtnis hängen geblieben. 

Wenn wir nun zu der großen Gruppe der Schizophrenen übergehen, 
so ist bei der für sie bezeichnenden Abstumpfung des Gemüts, der Erschwe¬ 
rung der Aufmerksamkeit und ihrer geringen geistigen Regsamkeit im 
allgemeinen nicht zu erwarten, daß der Krieg starke Eindrücke bei ihnen 
hinterlasse. 

Das trat besonders hervor bei einem ehemaligen Pastor L. (Fall 27), 
Z«ltaohrilt für P>7«hiatri«. LXXV. 8 . 22 


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314 


Colla, 


der an Sprachverwirrtheit litt und im Laufe des Krieges starb. Sein 
Satzgemengsel war seit alteT Zeit immer durchsetzt von vaterländischen 
Wendungen, Beziehungen auf seine holsteinische Heimat und das 
Herrscherhaus. Ich versuchte verschiedene Male, in seine Reden den 
Krieg hineinzubringen, aber er verwob ihn nur kurz damit und hat von 
selbst in aller Folge seine Sprachverwirrtheit immer nur mit altem Geistes¬ 
besitz genährt, ohne noch fähig zu sein, einen neuen Gedanken hinein¬ 
zubringen. Ich gebe eine Probe (17. September 1914): [Guten Morgen, 
Herr Pastor.] Guten Morgen, Herr Doktor. Ja, meine Herren, wenn wir 
nach der Weise hin uns prüfen und vornehmen, wie wir es in der Jugend 

erlebt haben, im Pfarrhause in H.. sozusagen, wie Se. Kaiserliche 

und Königliche Hoheit Prinz Heinrich und Jhre Kaiserliche und König¬ 
liche Hoheit Prinzessin Heinrich, die. das Pfarrhaus besuchten. Das ganze 
Deutschland.soll es sein. Ja, meine Herren, wir müssen, müssen uns vor¬ 
nehmen zu wollen, nach der Weise hin, daß wir bedenken, was wir schuldig 
sind. Schleswig-Holste in meerumschlungen, meine Herren. [Herr Pastor, 
was sagen Sie zu dem schweren Kriege, den wir mit halb Europa führen?] 
Ja, der Krieg, der Krieg, meine Herren, ist ein schweres Unglück, nach der 
Weise hin, daß wir streben sollen, uns würdig zu zeigen. Blicken wir auf 
unsere Jugendfreuden, heben wir uns heraus, wie Immanuel Kant sagt: 
Du sollst, du sollst; das ist der kategorische Imperativ, meine Herrenusw. 

Ein Kranker, I. (Fall 28), von dem ein naher Verwandter in sehr 
hoher Stellung den Krieg mitmacht, und der an verhältnismäßig leichtem 
Schwachsinn mit andauernd gedrückter Stimmung und schwachem Rest¬ 
wahn leidet, verfolgt alle Ereignisse in der Zeitung mit Eifer, weicht aber 
allen Unterhaltungen und auch einzelnen Fragen über den Krieg beharr¬ 
lich aus. 

Ein Deutscher aus Lodz, R. (Fall 29), der an einfachem Schwachsinn 
•leidet, was ihm aber immerhin noch freien Ausgang gestattet hatte, zeigt 
gar kein Interesse an den Ereignissen und an dem Schicksale seiner Ange¬ 
hörigen in seiner Heimat. Dieser Kranke steht dem Kriege völlig verständ¬ 
nislos gegenüber, obwohl er sonst ganz umgängig ist und viel liest. Das 
ganze Weltöreignis ist ihm etwas sozusagen Sagenhaftes, und er ist immer 
wieder erstaunt, daß andere die Vorgänge ernst nehmen. Er hatte infolge¬ 
dessen das Unglück, daß er durch ein Mißverständnis verhaftet wurde. 
Als er in einer Menschenansammlung in Bielefeld eine Siegesnachricht 
las, lachte er plötzlich hell auf-und machte einige Bemerkungen, die von den 
Umstehenden als Verhöhnung aufgefaßt wurden. Es erhob sich gegen ihn 
der allgemeine Unwille, und der Schutzmann brachte ihn zur Wache. 
Wir haben ihn daher für die Zeit des Krieges in „Schutzhaft“ genommen. 

Besonders bemerkenswert gestaltete sich der Eindruck des Krieges 
auf einen Pfropfhebephreniker, B. (Fall 30), der an schwachem Ver¬ 
folgungswahn, zeitweise gehäuften Sinnestäuschungen und auffallenden 
Erinnerungsfälschungen leidet. Der Kranke (schwere Zange, in der Kind- 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges aui Geisteskranke. 315 

heit Krämpfe, schwache Begabung) versagte überall und bekam mit 
18 Jahren Gehörstäuschungen und einförmige Verfolgungsvorstellungen; 
• er hört im Keller seine Braut schreien, die geprügelt wird, er wird überall 
zurückgedrängt und benachteiligt; nachts wird an ihm manchmal herum¬ 
operiert, das Herz herausgenommen usw. Er zeigt wenig Anteilnahme an 
den Vorgängen in seiner Umgebung, soweit sie nicht sein eigenes Ich be¬ 
treffen, ist aber ein sehr fleißiger Arbeiter, dessen Arbeit allerdings nur 
unter ständiger Aufsicht brauchbar ist; sein Gedankengang ist ganz zer¬ 
fahren. Er ist einer von den wenigen Kranken, bei denen der Krieg den 
Inhalt der Wahnvorstellungen beeinflußt und das ganze Krankheitsbild 
verschoben hat 1 ). Der Fall schien abgelaufen und in seiner Einförmigkeit 
erstarrt. Da überraschte der Kranke durch eine große gemütliche Er¬ 
regung, die ihn bei Beginn des Krieges ergriff. Er wollte Soldat werden, 
zeigte Andeutungen von Größenideen, die sich auf seinem schon früher 
gehobenen Selbstbewußtsein, das sich allerdings nur auf sein gärtnerisches 
Können bezog, aufbauten. Er suchte in die Lazarettabteilungen einzu¬ 
dringen und verursachte dort Störungen, so daß wir ihn beschränken mußten. 
Nach einigen Monaten legte er Ordensbänder (Zigarrenbänder und Flicken) 
an, erzählte, er habe das Eiserne Kreuz, sei Oberstleutnant der Kürassiere 
in Deutz, sprach von Schlachten, die er in Belgien mitgemacht habe, von 
seinem großen Vermögen, von einer „gebildeten“ Braut, er will eine „große 
Hochzeitsreise“ machen usw. Dabei versieht er seine Topfarbeit im Ge¬ 
wächshause emsig weiter und hat für den Zusammenhang der Ereignisse 
und die Bedeutung des Krieges natürlich gar kein Verständnis. Der Verlauf 
und der Ausgang des Krieges ist ihm auch gleichgültig. Auf die Frage, 
ob wir denKrieg wohl gewinnen, antwortete er: „Das ist ganz gleich.“ Die 
Hauptsache ist ihm, daß er „in schöner Uniform mit kann.“ Inzwischen 
ist er auch Kgl. Gartendirektor geworden, hat 84 Prüfungen gemacht, 
13 Jahre im Zuchthaus (Irrenanstalt) gesessen und 6 Jahre die Uniform 
nicht anziehen können; er beschwert sich bei der Regierung, daß sein 
Dienstjubiläum nicht gefeiert worden sei usw. Auch seine Sinnestäuschun¬ 
gen haben sich auf den Krieg eingestellt: es wird immer geschossen. Einen 
Einblick in seine Zerfahrenheit gibt ein Brief an seinen Vormund: 

Geehrter Herr H.. 

Da ich in Barmen am 7. März Hochzeitsreise habe, und die Reise 
besprochen wird, und mir angegeben wird, wann wir Reisen, am besten 

l ) Ich sehe hier ab von den Geistesstörungen der Kriegsteilnehmei, 
wie z. B. des oben erwähnten paralytischen Landwirtes (Fall 22). Bei 
diesen bilden die Kriegsereignisse, wie allgemein beobachtet, ja recht oft 
einen Bestandteil der Wahnbildungen und der Sinnestäuschungen. Na¬ 
mentlich die Vorstellung, am Kriege schuld zu sein, ist mir bei Depressio¬ 
nen oft entgegengetreten und im übrigen begreiflicherweise Sinnestäuschun- 
gen in Form von militärischen Kommandos, von Schießen und anderem 
Kampfgetöse. 

22* 

Gougle 


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Colla, 

im Mai 8 Wochen. Erlaube mir Ihnen dies beizufügen, und hoffe, daß ich 
auch Reise machen kann. Die Reise wfrd 2. Klasse gemacht, am besten 
tagüber, und des Nachts wird geschlafen. Mein Befinden ist ganz gut,* 

nur des Nachts mehr Ruhe, dies Schießen im Schlafsaal muß aufhören. 

Ein schönes Gedicht werde ich Paula machen. Wir binden Dir den jungem 
Kranz mit Veilchen blauer Seite, der liebe gute Ehegatte Adolf seine 
Uniform anzieht usw. Der Brief ist unterzeichnet. 

Adolf B. 

Königlicher Gartendirektor 

Oberstleutnant der Kürassiere Deutz Nr. 4 Graf Haeseler. 

Der Barmer Offizier verein, Garde und Landwehrverband 2. Aufgebot, 
war mit im Kriege. 

Hurra, hurra, hurra. 

13. Zuchthaus, 6. Uniform abgenommen. 

Eine weitere Verarbeitung seiner Wahnvorstellungen, wozu es einige 
Male zu kommen schien, hat begreiflicherweise nicht stattgefunden, sie 
verharren in der einmal angenommenen Form und im ursprünglichen 
Umfange. Es liegt auf der Hand, daß hier Erinnerungstäuschungen in der 
Richtung der Bedürfnisse seiner Selbstüberschätzung eine Rolle spielen. 

Ein leicht schwachsinniger Kranker, K. (Fall 31) (einfacher Schwach¬ 
sinn mit etwas manierierten Bewegungen, Andeutungen von Negativis¬ 
mus und andauernd leicht gedrückter Stimmung), der sich seit Jahren mit 
theologischen und landwirtschaftlichen Fragen beschäftigt, ohne damit 
vom Flecke zu kommen, hat vom Kriege, obwohl er ehemaliger Offizier 
ist, sein Bruder und sein Schwager gefallen sind, tiefen Eindruck nicht 
empfangen. Er vermerkt alle Kriegsereignisse in Gesprächen gleichsam 
geschäftsmäßig, in Eifer und unter Umständen in Hitze gerät er aber nur 
bei Erörterungen seiner landwirtschaftlichen Verbesserungspläne, die aber 
keine eigenen Gedanken sind, sondern nur Werbearbeit für fremde Vor¬ 
schläge in Fachschriften. Entsprechend diesem Hange zum Umgestalten 
und Verbessern, der ihn auch zum Lesen von allerlei Sektirerschriften 
führt, macht er mir auch oft Vorschläge zur besseren Behandlung der 
Verwundeten, für die er nebenbei stets eine sehr offene Hand hatte. So 
schlug er einmal mit Eifer vor, die Wunden mit Schachtelhalm zu ver¬ 
binden nach dem Lesen eines Aufsatzes über den Einfluß der Kieselsäure 
auf die Wundheilung und setzte sich für ein Kieselsäure haltendes Mineral¬ 
wasser lebhaft ein. Auch an das Ernährungsamt trat er mit seinen Ver¬ 
besserungsvorschlägen heran. 

Von 2 Fällen von halluzinatorischem Schwachsinn war der eine, A. 
(Fall 32), überhaupt nicht von der Unterhaltung mit seinen Stimmen 
abzulenken, der andere, S. (Fall 33), wich allen Fragen aus und neigte, 
wie auch sonst dabei, zu Erregungen. 

Ein läppisch Verblödeter, B. (Fall 34), ohne jedes Krankheitsgefühl, 
der immer lebhaft auf seine Entlassung drängt, mischte zwar in sein fast 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 317 

ununterbrochenes Geplauder oft den Krieg, aber nur, um die Folgerung 
daraus zu ziehen, daß er deswegen nach Hause müsse. Jedes Verständnis 
für die Bedeutung der Ereignisse fehlte ihm. 

• Ziemliche Überraschung erlebte ich bei den paranoiden Formen, 
wobei ich bemerken will, daß mir eine Zuteilung der einzelnen Fälle zu 
den von Kraepelin aufgestellten Gruppen der Paraphrenien und der De¬ 
mentia paranoides noch nicht überall zweifellos ist. 

Ein livländischer Forstmann, v. W. (Fall 35) (Verfolgungtfvor- 
stellungen, überall"elektrische und magnetische Beeinflussung, die andern 
Kranken reden über ihn, von Riga her wird er telepathisch beeinflußt, 
Geruchs- und Gehörstäuschungen, Urteilsschwäche), den ich zu Kraepelin s 
Dementia praecox paranoides stelle, und der seit etwa 3 Jahren krank 
■war, hat vom Ausbruch des Krieges Vermerk genommen, ohne irgend¬ 
welche Folgerungen für seine Person und seine Heimat daraus zu ziehen, 
und zwar auch jetzt noch, wo das Schicksal seiner Heimat entschieden 
wird. Das ist bei ihm um so bemerkenswerter, als er früher gerade seinen 
baltisch-deutschen Standpunkt immer hervorkehrte. Dabei ist im übrigen 
bei ihm nur festzustellen, daß er jetzt mehr von Sinnestäuschungen geplagt 
wird. Auch der Verlauf des Krieges fesselt ihn in keiner Weise. Meine 
Mitteilung über die Eroberung von Riga nahm er sozusagen rein ge¬ 
schäftlich entgegen. Auf die Frage, ob er glaube, daß Riga deutsch bliebe, 
antwortet er: Das ist wohl schwer zu sagen. [Ob er es wünsche ?] Würden 
Sie mich dann nach Hause schicken? [Ja, wenn Ihre Schwestern Sie zu 
Hause haben wollen, aber Sie müßten dann doch in eine andere Anstalt 
dort.] So? Meinen Sie? Ja, sehen Sie, Herr Doktor, das ist alles so 
sonderbar hier, die ewige elektrische Beeinflussung usw. Als ich ihn 
kürzlich auf die Umwälzung in Rußland hinwies, sagte er bezeichnender¬ 
weise: „Ja? Na, das war damals (1906) auch schon so.“ Mit dieser Er¬ 
innerung war für ihn das Stück Weltgeschichte erledigt. 

Besonders auffallend war ein anderer Russe von deutschem Adel, 
v. R. (Fall 36), der der Paraphrenia systematica zuzurechnen ist. Er wird 
überall beobachtet und verfolgt, es klopft in der Heizung, das sind Zeichen 
seiner Feinde, die Vögel zwitschern verdächtig, im Eissen sind „Sub¬ 
stanzen“, man haut Holz im Garten, um ihn zu stören und zu schikanieren, 
bei Tische hält ein Kranker den Löffel so merkwürdig, nachts „schwirrt es 
durchs Zimmer“. Daneben bestanden Größenvorstellungen: er ist der 
■erste Minister Rußlands, der vertrauteste Ratgeber des Zaren Nikolaus, 
muß die Kirchen reformieren, verfügt über besondere magnetische Kräfte, 
kann ein Stück Papier durch bloßes Aufdrücken an die Wand fest an¬ 
heften und andere Zaubereien, beherrscht die ganze Mathematik. Auf 
Betreiben des Deutschen Kaisers sei er hier eingesperrt, er droht mit 
Kriegserklärung. Telegraphiert an den König Hakon, er beanspruche den 
Titel des „andern Königs von Norwegen“. Der Kranke ist äußerlich ge¬ 
ordnet, sehr selbstbewußt, meist ruhig und stolz ergeben in das Schicksal, 


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Colla, 


daß er so verkannt wird und sich solche Quälereien gefallen lassen muß. 
Er beschäftigt sich eifrig mit Mathematik und Sprachen, aber ohne Fort¬ 
schritte zu machen, und ging früher viel allein spazieren. Mit dem Kriege 
trat aber eine völlige Wandlung bei ihm ein. Er wurde noch wortkarger 
und ging schließlich gar nicht mehr aus. Ich hatte dann am 17. Oktober 
1914 eine Unterhaltung mit ihm, die ich wie folgt festgehalten habe. 
[Wissen Sie eigentlich, daß wir Krieg haben, Herr Baron?] Ja, das 
weiß ich, aber das geht mich nichts an. Sorgen Sie nur dafür, daß man 
mich nicht immer stört. [Nun aber, wie denken Sie denn als Russe über 
deh Krieg?] (Mit überlegenem Lächeln): Sie irren, ich bin kein Russe, 
ich bin ein Deutscher. [Ich meine, Sie hätten Beziehungen zum Kaiser 
von Rußland?] Nein, Sie irren, das muß ich entschieden ablehnen. [Nun 
was glauben Sie wohl, wie wird der Krieg verlaufen?] Ich sagte Ihnen 
schon, das geht mich gar nichts an, und bitte verschonen Sie mich damit. 
Dabei deutet er höflich nach der Tür. 

Der weitere Verlauf hat sich nun so gestaltet, daß der Kranke von 
seinen Größenvorstellungen gar nichts mehr geäußert hat, aber seine 
vornehm stolze Zurückhaltung hat sich noch gesteigert. Seine Verfolgungs¬ 
vorstellungen haben mehr und mehr eine ganz phantastisch-hypochon¬ 
drische Form angenommen, wozu früher allerdings schon Ansätze sichtbar 
waren. Kürzlich schrieb er an seine Schwester, man hätte ihm Gehirn 
und Rückenmark herausgenommen, und er müsse schwer leiden. Mich 
duldet er nicht mehr als Arzt, er sei in Behandlung von Professor Barde - 
leben, der ihn alle zwei Tage besuche. Hier spielen Erinnerungstäuschun¬ 
gen mit hinein. . 

Es liegt auf der Hand, diesen plötzlichen Wechsel seiner Wahnbildun¬ 
gen zurückzuführen auf den Versuch, angebliche Tatsachen zu bemänteln, 
die ihm seiner Ansicht nach gefährlich werden könnten. Es entspricht 
das auch sonst seiner „Diplomatie“, mit der er sich aus peinlichen Lagen 
zu ziehen pflegte, und dem sehr geringen Maße an Mut, über das er verfügt. 
Ob das Überwuchern der hypochondrischen Vorstellungen psychologisch 
mit dem Zurückdrängen des Größenwahnes und der Furcht vor den Deut¬ 
schen in Zusammenhang zu bringen ist, möchte ich dahingestellt sein 
lassen. Es spielen dabei zweifellos körperliche Mißempfmdüngen eine 
Rolle, die schon früher vorhanden waren, aber durch die Ernährungs- 
schwierigkeiten und den Wegfall ausgiebiger Körperbewegung stark ver¬ 
mehrt worden sein mögen. 

Ein ehemaliger Pastor, H. (Fall 37), den ich der Paraphrenia phan- 
tastica zurechne (hat ein Herz von Quecksilber, fünf Reserveväter, ist 
König von England, in seinem Bauche ist eine „Soldatenkanone“, der 
Pfleger Z. rutsche in seinem Leibe auf und ab, dieser Z. sei fünffach in der 
Welt vorhanden, er äße täglich Menschenfleisch usw.), nimmt gar keinen 
Vermerk vom Kriege, obwohl er geistig regsam und völlig besonnen und klar 
ist. Er beschäftigt sich andauernd mit Übersetzungen aus dem Griechischen 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke- 319 

und Hebräischen. ^Bezeichnend ist folgende Unterhaltung mit ihm. Am 
21. August 1914: [Nun, Herr Pastor, was sagen Sie denn dazu, daß wir 
einen so furchtbaren Krieg haben?] Ja (schlägt sich auf den Bauch), das 
kann mir auch nicht helfen. Schaffen Sie mir lieber das Zeug aus dem 
Leibe. (Er spricht alles ganz ohne sichtbare Gemütserregung, wie wenn 
er irgendeine gleichgültige Sache erledigt.) [Na, wer hat denn den Krieg 
erklärt?] Wer? Na, doch die, die dazu da sind, aber was geht mich das 
an? [Glauben Sie, daß wir gewinnen?] Das wissen die Götter. Schaffen 
Sie mir nur Gesundheit und das Metallwasser aus dem Leibe. [Wie wär’s, 
Herr Pastor, hätten Sie nicht auchLust, auch mit hinauszuziehen ?] Warum 
soll ich mit hinausziehen. Es sind ja soviel Soldaten da. Geben Sie mir 
lieber Heilkraft. 

Ist bei diesem Kranken alles Denken von seinen ungeheuerlichen 
Wahnbildungen in Anspruch genommen und daher seine Stellung zum 
Kriege leicht erklärlich, so überraschte ein anderer Kranker, dessen Krank¬ 
heit noch keine sichere Eingruppierung gestattet, um so mehr. Es handelt 
sich um einen 38 Jahre alten ehemaligen Artilleriehauptmann v. W. 
(Fall 38), der im Jahre 1911 an schleichenden Verfolgungsvorstellungen 
im Anschluß an eine Erbschaftsregelung erkrankte, bei der er sich über¬ 
vorteilt glaubte. Von Hause aus ist er ein geistig etwas schwerfälliger 
Mensch gewesen. Er zog sich von allen seinen Bekannten zurück, witterte 
überall Feinde, wurde abgestumpft für alle Beschäftigung und Unter¬ 
haltung. Dann traten Sinnestäuschungen auf, meist im Gehör, aber auch 
im Körpergefühl, Geruch und Geschmack. Allmählich entwickelte er Vor¬ 
stellungen von einer ungeheuren Verschwörung gegen sich, die bis zum 
Kaiser reicht. Er ist außerordentlich erregbar und zeitweise sehr gefähr¬ 
lich. Beständig hört er sich in gemeinster Weise beschimpft; auch er ergeht 
sich, selbst wenn er ganz ruhig ist, nur in obszönen Schimpfwörtern. Sein 
Gedächtnis ist gut, doch sind Erinnerungstäuschungen vorhanden. Er 
beschäftigt sich gar nicht, liest nur die Zeitung und hier und da ein Buch, 
ist völlig besonnen, zeitlich und örtlich klar, verkennt nur ab^und zu 
Personen und zeigt noch keine Schwächung seiner sonstigen geistigen 
Fähigkeiten. Sein Gemütsleben ist verroht; beim Tode seiner Mutter 
fragte er nur: „Na, was hat sie denn hinterlassen ?“ Als ich ihn an 21. Juli 
1915 kurz nach seiner Aufnahme fragte, wie er denn über den Krieg denke, 
sah er mich erstaunt an und fragte: „Was für einen Krieg? [Nun, wissen 
Sie denn nicht, daß wir einen furchtbaren Krieg mit der halbenWelt haben ?] 
Ach machen Sie doch keinen Unsinh, Sie wollen mich wohl veralbern“. 
Auf weitere Fragen wurde er sehr gereizt, so daß dieUnterhaltung abge¬ 
brochen werden mußte. 

Einige Monate später, als er eine besonders ruhige Zeit hatte, knüpfte 
ich wieder an das Gespräch an. Er fuhr mich an: Ach Quatsch, lassen 
Sie mich doch mit dem Unsinn in Ruhe. [Aber lesen Sie denn nicht in der 
Zeitung darüber, Sie kriegen sie doch jeden Tag, und hören Sie nicht, 


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Colla, 


wie die andern davon erzählen?] Quatsch, was in der Zeitung steht, 
glaube ich schon gar nicht. 

Er steht auch heute noch auf dem Standpunkte, daß das ganze Ge¬ 
schreibe und Getue vom Kriege Unsinn sei. Einmal meinte er: „Sie werden 
wohl Manöver abhalten.“ Es scheint mir, obwohl er sich darüber nicht 
ausläßt, nach gelegentlichen Andeutungen, als halte er die Zeitungsnach¬ 
richten und die Gespräche über den Krieg für eine großartig abgekartete 
Lüge seiner Verfolger, hinter der irgend etwas für ihn Gefährliches stecke. 

Es würde das ganz in die ungeheure Verschwörung gegen ihn passen. 
Aber er ist, wie er öfters sagt, klüger als seine Feinde. Spöttisch lächelnd 
meint er bei jeder Gelegenheit: „Na, denken Sie etwa, ich merkte das 
nicht?“ 

Wieder anders liegt die Wirkung des Krieges auf einen weiteren 
Kranken, Dr. W (Fall 39). Er leidet an Verfolgungs- und spärlichen ‘ 
Größenvorstellungen und hat vor seiner Aufnahme gegen die Vergiftungs¬ 
versuche seiner Feinde, die sogar die von ihm geschossenen Rebhühner 
schon in der Luft vergiften konnten, ein organisches Silbersalz als Gegen¬ 
mittel genommen, und zwar innerhalb mehrere Jahre über 200g, so daß' 
er schwarz wie ein Neger aussieht, worauf er sich übrigens viel zugute tut. 
Vor einigen Jahren schoß er sich eine Kugel durch die Stirn, als er vor den 
Verfolgungen keine Rettung mehr sah; die schwere Verwundung hat 
keine Folgen hinterlassen. Der Kranke verfügt noch über gute Kennt¬ 
nisse, wird aber langsam schwächer und ist gegen alle Eindrücke ziemlich 
gleichgültig; auf Befragen erzählt er wohl noch seinen ganzen Verfolgungs¬ 
roman, der ziemlich verworren ist, aber eine gemütliche oder psychomoto¬ 
rische Reaktion auf diesen ist nicht mehr vorhanden. Dagegen ist er immer 
noch sehr auf eine gute Heirat aus und schreibt seit Jahren an eine Dame 
die er zufällig einmal kennen gelernt hat, ganz schwachsinnige Liebes¬ 
briefe, die immer schließen: Nach wie vor klingt mein Ohr! Er zeigte 
für den Krieg von allem Anfang an eine große Anteilnahme, aber nur am 
Kriege sozusagen als einem summarischen Ereignis; die einzelnen Ge¬ 
schehnisse und der ganze Verlauf bekümmern ihn gar nicht. Schließlich 
offenbarte er in einem Schreiben 'an den Kriegsminister, den er schon wer 
weiß wie oft um eine Anstellung als Offizier gebeten hatte, den wahren 
Grund seiner Kriegsbegeisterung: er wolle ein junges, echt deutsches Mäd¬ 
chen heiraten, aber leider gestatte ihm das seine finanzielle Lage nicht. 
Deswegen bitte er den Minister, den Kaiser zu bewegen, ihn zum Offizier 
zu ernennen, dann würde er in der Lage sein, heiraten zu können. 

Ich schließe nun hier zwei Fälle von Paranoia an. Es handelt sich 
beide Male um alte, zum Stillstände gekommene Erkrankungen ohne 
Rückwirkung auf Gemüt und Handeln nach außen. Der erste betrifft 
einen Buchdrucker, K. (Fall 40), der ein Weltverbesserer ist und schon 
einen ganzen Schrank von Manuskripten über die Lösung der sozialen 
Frage geschrieben hat. Die ganze soziale Gesetzgebung geht eigentlich 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 321 

auf ihn zurück, der Kaiser hätte sich nur seine Ideen angeeignet. Einst 
wird das dankbare Volk die Anstalt stürmen und die zur Rechenschaft 
ziehen, die ihn eingesperrt haben. Die Kriegsereignisse verfolgt er mit 
großer Teilnahme an der Hand der Karten, und in seiner Beurteilung der 
Lage sowie in seinem Verständnis der Zusammenhänge unterscheidet er 
sich nicht vom Gesunden. Auf seine Wahnbildung und seine „wissen 
schaftlichen“ Arbeiten hat der Krieg aber gar keinen Einfluß ausgeübt, 
abgesehen davon, daß er bei seinen Ausführungen gelegentlich so nebenbei 
auf ihre Wichtigkeit auch für die Kriegszeit hinweist. 

Weit mehr tritt der Krieg in Beziehung zu den Wahnvorstellungen 
bei dem andern Paranoiker, einem 48jährigen verabschiedeten Artillerie¬ 
hauptmann W. (Fall 41), und zwar deswegen, weil viele Erscheinungen des 
Krieges, namentlich die der letzten Zeit, ganz in der Richtung seiner 
Wahnbildung liegen. Seine Lebensaufgabe ist nämlich der Kampf gegen 
d : e Demokratisierung des Heeres, gegen die Unvernunft der obersten 
Militärbehörden und der Offiziere, die die Gefahr nicht erkennen, und 
natürlich gegen die Sozialdemokratie. Diese sieht daher in ihm einen 
ganz gefährlichen Gegner und stellt ihm nach; selbst in Italien sah er in 
Zeitungsbemerkungen und Maueranschlägen, daß sie ihm auf der Spur 
war. Als ich einmal eine rötljche Kravatte trug, wurde er mißtrauisch 
gegen mich. Im Oktober 1912 telegraphierte er an den Kaiser: „Heer 
unzuverlässig, da Offizierkorps Verständnis für Volksseele verloren hat 
und, völlig blind, nicht einsieht, daß und warum Unteroffiziere und Sol¬ 
daten Sozialdemokraten sind.“ Bei Ausbruch des Krieges w’ar er lebhaft 
erregt, freute sich zwar über die Begeisterung, traute aber der Sache nicht. 
Mit der ganzen Politik war er stets sehr unzufrieden, was, wie er richtig 
sagt, noch kein Zeichen von Verrücktheit sei. Nun gewann der Krieg 
mit der Zeit doch etwas Einfluß auf sein Handeln: er verlangte des öfteren, 
entlassen zu werden oder sonst eine maßgebende Stelle einzunehmen. 
Im April 1917 telegraphierte er an General Gröner: „Friede durch Re¬ 
volution Wahnidee, tatsächlich Volksselbstmord. Einzelner gegen Massen¬ 
psychose machtlos.“ Als das Telegramm zurückgewiesen wurde, schrieb 
er darunter: Dixi et salvavi animam meam. Das ist außerordentlich be¬ 
zeichnend für die Erschöpfung, die seine Wahngebilde in bezug auf sein 
Handeln und seine Gemütserregbarkeit gefunden haben. Er erlahmt 
auch sonst in allen seinen Plänen bei dem geringsten Widerstande und 
läßt sich z. B. von seinem neuerdings geäußerten Plane, sich im Hilfs¬ 
dienste zu betätigen, immer schnell durch meine Bedenken abbringen. 
Ich unterhalte mich immer gern mit dem vielseitig gebildeten und belese¬ 
nen Kranken, und es ist manchmal rührend, wie bei ihm immer die Sorge 
um Deutschlands Zukunft durchbricht. 

Anschließen erwähne ich hier noch den Fall eines in Neapel geborenen 
Deutschen, eines jungen Kaufmannes St. (Fall 42), dessen Gruppierung 
noch unsicher ist. Er leidet seit einigen Jahren an einem langsam zu- 



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nehmenden Beachtungswahne bei gänzlich ungestörtem Intellekt und ist 
schon seit Jahren mit der Welt etwas in Widerspruch. Ich nahm bei ihm 
eine beginnende Paranoia an, aber er zeigt mehr und mehr so auffallende 
Willensstörungen, daß ich an die Entwicklung einer Dementia paranoides 
denke. Der Kranke ist nur mit sich beschäftigt und schließt sich vom 
Verkehr mit andern Kranken möglichst ab. Für den Krieg^Mt er von 
vornherein gar nichts übrig gehabt ; aber seit die Verpflegung schlechter 
geworden ist, schimpft er auf Deutschland und ergeht sich in Lobes¬ 
erhebungen auf Italien. Daneben räsoniert er über Krieg im allgemeinen 
und dert* jetzigen im besonderen mit fadenscheiniger Rabulistik und an¬ 
spruchsvollen Forderungen („Warum macht man denn Krieg, wenn ich 
dabei hungern soll?“). 

Ich komme nun zur Gruppe der Manisch-Depressiven. Geradezu 
eine klinische Mustervorstellung bot ein 54jähriger Maniker mit alko¬ 
holischem Einschlag, ein Likörfabrikant P. (Fall 43). Er saß singend auf 
seinem Bette, als ich eintrat, ihn begrüßte und fragte, ob er wisse, daß 
der Krieg ausgebrochen sei. Er sprang auf und schrie: „Das ist mir ganz 
egal, aber wir gewinnen 1“ Dabei schlug er sich mit der Hand auf die 
Brust, daß es krachte. Auf meine weitere Frage, ob er Lust habe, mit 
hinauszuziehen, antwortete er; „Ach was! L. S. m. i. A.“ (s. Götz von 
Berlichingen). Darauf sang er die Wacht am Rhein und marschierte nach 
ihrem Takte durch den Saal, was dann aber schnell in der Flucht seiner 
Gedanken unterging. Derselbe Kranke hatte nach Ablauf der Manie 
einen Monate langen leichten Depressionszustand, den er zu Hause durch¬ 
machte. Darin beherrscht ihn die Kriegsfrage, namentlich bezeichnender¬ 
weise die Ernährungsfrage, völlig, und er sah unsere Lage stets im aller¬ 
trübsten Lichte. Früher waren die Depressionen leichter und ohne be¬ 
stimmtes Objekt verlaufen. Der früher übermäßig genährte Kranke kam 
durch die Kriegsernährung tatsächlich auch sehr herunter und starb vor 
kurzem gleich nach der Einlieferung in die Anstalt an einem weiteren 
manischen Anfalle infolge von Myokarditis. 

Ein seit 1909 in der Anstalt befindlicher Hypomaniker, Sch. (Fall 44), 
mit nur kurzen freien Zwischenräumen und bereits erkennbarem Schwach¬ 
sinn steht den Kriegsereignissen gegenüber wie ein Kind, das, mit seinen 
Spielen beschäftigt, nur zeitweise aufhorcht, wenn von etwas Unge¬ 
wohntem die Rede ist, und dann danach fragt. Seine tägliche Zigarre ist 
ihm viel mehr wert als der ganze Krieg. Manchmal fragt er wohl plötzlich, 
obwohl er regelmäßig die Zeitung liest: „Ja, wie ist denn das nun eigent¬ 
lich mit dem Kriege ?“ Als ich ihn Ende August 1914 fragte, ob er wisse, 
daß Krieg sei, befand er sich seit Juni in der Erregung. Ich habe folgende 
Unterhaltung vermerkt: Nanu, Doktor, machen Sie man keenen Unsinn 1 
[Wissen Sie wohl, wer den Krieg erklärt hat?] Na, wer soll den erklärt 
haben, die Franzosen doch, die Rothosen. [Wie denken Sie wohl, daß 
der Krieg verlaufen wird?] Na, die werden ihre Keile schon kriegen. (Er 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 323 

lacht laut. Dann:) Sagen Sie mal, Doktor, wie ist denn nu heute mit 
Aufstehen und einer Zigarre? [Na, Herr S., wie wär’s denn, wenn wir 
beide mit ins Feld zögen?] Ick mit meinem Been? (Verkürzung durch 
Bruch). Na, gewiß doch, Doktor, det machen wir och noch. Eine spätere 
Frage, ob er noch Lust habe, mit hinauszugehen, fertigte er lachend ab: 
„Ach, Sie sind ja verrückt.“ Wenn geflaggt wurde, fragte er: „War 
denn schon wieder en Sieg? Na, die können’t.“ 

Aber das sind alles nur Augenblickserregungen seiner Anteilnahme. 
Auffallend war bei ihm einmal eine kurze, ängstliche Erregung, als aus 
der Senne von militärischen Übungen Geschützdonner herüberschallte. 
Sichtlich erschreckt fragte er mich: „Sagen Sie, lieber Herr Sanitätsrat, 
die kommen doch hoffentlich mit ihrem Krach nicht noch nach Bethel?“ 
„Gott bewahre,“ Wuhigte ich ihn. „Na, ich dachte schon, die Kerls, die 
Franzosen kämen; aber nun können wir heute wohl aufstehen und ’ne 
Zigarre rauchen?“ .Kostbar ist seine plötzliche Höflichkeit zu mir, das 
Gemisch von ängstlicher Erwartung und Galgenhumor, und äußerst be¬ 
zeichnend die schnelle Beruhigung und die Rückkehr in seine Alltags 
wünsche. 

Ein 57jähriger Kaufmann B. (Fall 45), der neben Depressionen Zu¬ 
stände von gehemmter Manie zeigt, denen meist eine kurze Gereiztheit 
voraufgeht, zeigt weder im depressiven noch im manischen Zustande 
irgendwelche Teilnahme an den Kriegsereignissen. Die Nachricht von dem 
Heldentode seines Sohnes traf ihn im Zustande der Depression, die vor¬ 
wiegend eine starke geistige Hemmung erkennen läßt, löste aber keinerlei 
gemütliche Rückwirkung aus. Ich habe eine kurze Unterhaltung mit ihm 
in seinem manischen Zustande am 17. August 1914 vermerkt. Er wälzte 
sich langsam im Bette umher, das Taschentuch als Zipfelmütze auf dem 
Kopfe und eine Wolldecke um die Schultern geschlagen. 

[Nun, Herr B., was sagen Sie denn zum Kriege?] Nun, was sagen 
Sie denn zum Kriege? C’est la guerre. (Lächelt.) [Wollen Sie in den Krieg?] 
Krieg und Siegl N’est-ce-pas? Est-ce que vous ßtes une cruche (oder 
crique?), monsieur? Er drehte sich gelassen um und wendete mir den 
Rücken zu. 

Ein 76jähriger ehemaliger Bergwerksdirektor M. (Fall 46), der seit 
seinem 45. Jahre an hypomanischen Anfällen leidet, aber trotz seines 
Alters und seines langjährigen Leidens wenig Zeichen von Schwachsinn 
bietet, wurde im August 1916 wieder in einem manischen Anfalle bei uns 
aufgenommen. Er erschöpfte sich in seiner Erregung in Briefen an den 
Reichskanzler, Helfferich und alle möglichen Behörden, machte an sie 
Eingaben und ließ alle Kranken unterschreiben. An den Kriegsereignissen 
an sich nahm er natürlich großen Anteil, wirft aber alles durcheinander. 
Als ich ihn einmal darauf hinwies, daß er ja ganz ohne genaue Kenntnis 
der Jeweiligen Sachlage seine Vorschläge für die Friedensbedingungen dem 
Staatssekretär vortrage, meinte er, um die Kriegslage kümmere er sich 


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Golla, 


nicht, das wäre Hindenburg seine Sache. Diesen beglückwünschte er zu 
jedem Erfolge, gibt ihm auch ab und zu Ratschläge, hinkte aber dabei 
meist stark nach. Er forderte von England 60, Frankreich 50, Rußland 40, 
Italien 20 Milliarden, Belgisch- und Französisch-Flandern, die russischen 
Ostseeprovinzen mit Finnland, die Walachei und außer allen geraubten 
Kolonien Marokko und, was er Helfferich besonders ans Herz legt, wenn 
möglich das Gangestal. In ruhigeren Zeiten begnügt er sich mit weniger, 
läßt sich dann auch überzeugen, daß unsere Forderungen von unseren 
Erfolgen abhängen werden. 

Ein ehemaliger Referendar R. (Fall 47), der etwa alle Jahre 2- bis 
3mal 8 bis 10 Wochen lang in mittelschwerer Weise manisch erkrankt, 
war bei Beginn des Krieges in freier Zwischenzeit, in der er immer 
gleichmäßiger, ruh iger Stimmung und äußerlich geordnet ist. Eine leichte 
Hemmung ist bei ihm jedoch auch dann nicht zu verkennen. Dem ent¬ 
spricht es, daß er sich um den Krieg wenig kümmert, auf Fragen darüber 
wohl eine Teilnahme an den Ereignissen erkennen läßt, aber in seinen 
Antworten zeigt, daß er den Zusammenhang der Ereignisse nicht völlig 
erfaßt hat. Daß hier nur eine krankhafte Hemmung, nicht Mangel an 
Urteilsfähigkeit und Auffassungsgabe vorliegt, zeigen die kurzen Zeiten 
des Überganges zur Erregung, wo er durchaus den Eindruck eines ge¬ 
scheiten, sehr lebhaften Menschen macht. In seinen manischen Zuständen 
spielt der Krieg bei seinen Reden nie eine Rolle. Eingeworfene Hinweise 
werden wie andere flüchtig mit verarbeitet und verschwinden in der Flucht 
der Gedanken. 

Auch ein jetzt 20jähriger Kaufmannslehrling, P. (Fall 48), der einige 
Monate vor dem Kriege aufgenommen war, läßt weder in seinen schweren 
Erregungszuständen irgendwelche Verarbeitung der Eindrücke der Kriegs¬ 
ereignisse erkennen, noch zeigt er in den Zwischenzeiten leichter Depres¬ 
sion, wo er auf einer Geschäftsstelle arbeitet, irgendwelche sichtbare 
Anteilnahme am Kriege. Er ist das fast photographische Abbild des vorigen 
Falles bei Unterhaltungen darüber. 

Noch bemerkenswerter war die Teilnahmlosigkeit bei einem Künst¬ 
ler, dessen Familie über Deutschland, Rußland, England und Indien zer¬ 
streut ist, K. (Fall 49). Sein Zustand wechselt zwischen oft lange andauern¬ 
der Tobsucht und Zuständen, die am besten dem Bilde der erregten De¬ 
pression entsprechen mit endlosen Klagen, in denen namentlich das 
Heimweh und die Sehnsucht nach Freiheit eine Rolle spielen. Dazwischen 
schieben sich selten Zustände von manischem Stupor, in denen der Kranke 
zu äußerst schweren Gemütsentladungen neigt. Die Mitteilung, daß der 
Krieg ausgebrochen sei, erhielt er von mir, als er bei abklingender Tobsucht 
im Dauerbade saß. Er war erst einen Augenblick ruhig und lächelte 
dann machte er einen solchenSturm imWasser, daß ich von oben bis unten 
bespritzt wurde, was ihm viel Spaß machte. Als er nach einigen Tagen 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 325 

leicht deprimiert war, sprach ich mit ihm über die Nachricht, daß der 
Kreuzer, der den Namen seiner Vaterstadt führt, sich ausgezeichnet habe. 
In seinem weinerlich kläglichen Tone sagte er: „Das hab ich mir gleich 
gedachj;, daß der eine große Rolle spielen würde.“ Er versank dann in 
seine gewöhnlichen Klagen. Bis zu seiner Entlassung in eine andere Anstalt 
hat er irgendwelche Teilnahme an den Weltereignissen nicht gezeigt. 

Auch die Melancholiker waren begreiflicherweise teilnahmlos, ver¬ 
arbeiteten das Gehörte und Geschaute nicht und lehnten meist ein Ein¬ 
gehen auf dahin zielende Fragen ab. Auffallend war das bei einem 50jähri- 
gen Kaufmann K. (Fall 50), der später durch Selbstmord endete; denn er 
zog sonst die fernstliegenden Sachen in den Bereich seiner Selbstbeschuldi¬ 
gungen. Aber das gewaltige Ereignis des Krieges mit allen seinen kleinen 
Wirkungen in der Anstalt und der Heimat des Kranken glitt einfach an 
seiner inneren Hemmung ab, die ihm offenbar nur erlaubte, seine trüben 
Vorstellungen aus altem Erfahrungsschätze zu nähren. 

Einzig ein zirkulärer Kranker H. (Fall 51), mit leichten hypomani¬ 
schen und depressiven Zuständen, der später nach der Entlassung in der 
Depression seine beiden Kinder und sich erschoß, zeigte immer sehr leb¬ 
hafte Teilnahme an allen Zeitereignissen, die in den depressiven Ab¬ 
schnitten entsprechende Gemütsbetonung hatte und in den hypomanischen 
immer überschwänglichen Ausdruck fand. Er war früher in den Zeiten 
der Erregung viel gereist und hatte manches von der Welt gesehen, und 
sein Seelenleben war daher sozusagen auf Weltgeschehen etwas einge¬ 
stellt, jedenfalls bei weitem mehr als das der großen Mehrzahl der 
andern Pfleglinge. 

Tiefgehenden Einfluß hatte der Krieg auf einen ehemaligen Geist¬ 
lichen M. (Fall 52), der alle paar Jahre wegen starker Erregungszustände 
in die Anstalt kommt. Meist zeigen sich bei ihm nach kurzen Vorboten, 
die in allgemeiner Unruhe, Gesprächigkeit und Vielgeschäftigkeit bestehen, 
sofort Wahnbildungen. Immer sind religiöse Größenvorstellungen vor¬ 
handen, zeitweise tritt dazu der Wahn, dem Kaiser drohe eine Gefahr, 
und der Kranke müsse ihn retten; Sinnestäuschungen kommen hier und 
da vor. Einige Male ging die Erregung bis zur Tobsucht. Der Kranke 
wohnt in seinen freien Zeiten im Anstaltsgebiete in eigener Wohnung; 
er ist außerordentlich fleißig, wenn auch in unfruchtbarer Weise: er 
übersetzt Schiller und andere Dichter ins Lateinische! Bei Aus¬ 
bruch des Krieges warf er sich ganz auf die vaterländische Dich¬ 
tung, die er in großem Umfange, wenn auch ohne besonderen Geschmack, 
doch mit technischem Geschicke übersetzte. Auch verfaßt er eine Ge¬ 
schichte des Siebenjährigen Krieges in Versen. Im November 1916 hatte 
er eine Unterhaltung mit einem Bekannten über die Kriegslage. Bald 
darauf zeigten sich die Spuren stärkerer Erregung. Einige Tage später 
zeigte er den Bekannten bei der Polizei an wegen eines gegen den Kaiser 
geplanten Anschlags. Wir nahmen ihn daher in die Anstalt, wo er bis 


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Colla, 


Februar 1917 in leichter Erregung verblieb, übrigens seine Wahnvor¬ 
stellung bald berichtigte. 

Zum Schlüsse erwähne ich noch einen 30jährigen, periodisch Mani¬ 
schen, K. (Fall 53), der schon 16 Jahre in Bethel lebt. Er kam als „Epi¬ 
leptiker“ her, seine Krämpfe hörten aber nach einigen Jahren auf, und 
epileptische Verblödung trat nicht ein. Dagegen bestand Imbezillität 
mäßigen Grades, und es stellten sich seit dem 18. Lebensjahre zeitweise 
Erregungen ein, die bis zu 13 Monaten dauerten und manchmal bis zu 
hochgradiger Tobsucht gingen. In den Zwischenzeiten war der Kranke, 
der kürzlich an Pleuritis starb, leicht gedrückt, sehr fleißig und von kind¬ 
licher Zutraulichkeit. Als der Krieg ausbrach, befand er sich in diesem 
Zwischenzustand. Er wurde von den Ereignissen tief ergriffen. Da er 
Botengänge besorgte, war er häufig in der Lage, die neuesten Nachrichten 
zu überbringen, die meist allerdings etwas ungenau waren; namentlich in 
der Zahl der Gefangenen und der Beute war er weitherzig. Als ich ihn 
einmal fragte, ob er wohl Lust hätte, mit hinauszuziehen, sagte er in seiner 
wehmütigen Art: „Wenn ich nur könnte!“ In den manischen Zeiten war 
alles wie weggewischt. Weder trat in seiner Gedankenflucht jemals der 
Krieg hervor, noch verarbeitete er Äußerungen darüber von mir anders 
als höchstens rein verbal. So z. B. einmal, als er schwatzend und schimpfend 
im Bette saß (17. Mai 1917): „Den langen Türken 1 ) will ich nicht 
haben! Bäh! Abdul Hazis, Hatschiß heißt er, sagt der Kasper. Der 
Kaspar ißt die Suppe nicht. Wächtler hat mir mein Brot weggenommen. 
Doktor, ich sag’s Ihnen.“ (Droht mit dem Finger.) [Hans, wissen Sie schon 
das Neueste vom Kriege?] „Krieg? Bäh! (Zeigt mir die Zunge.) Krieg 
ich bald zu essen? Doktor, lassen Sie mich in Ruhe. (Kriecht unter die 
Decke und schaut vorsichtig an der Seite heraus.) Nun gehen Sie, Doktor. 
P ötzlich aufspringend): Den Wächter sollen Sie einsperren“ usw. 

Wenn wir die dargestellten- Fälle in ihrer Gesamtheit über¬ 
blicken, so könnte es wundernehmen, daß sich der Krieg nicht 
mehr als es der Fallest, in den Krankheitsäußerungen wider¬ 
spiegelt. Es ist das ja eigentlich nur bei dem Hebephreniker R. 
(Fall 31), bei dem alten Maniker M. (Fall 46) und den beiden 
Paraphrenikem (Fall 36 und v 38) der Fall. Die kurze Kenn¬ 
zeichnung der Krankheitsbilder gibt jedoch, wie ich meine, über¬ 
all eine leichte Erklärung. Es erübrigt sich, darauf näher einzu- 
gehen. Nur einige Bemerkunge möchte ich noch anfügen. 

D$r Paranoiker W. (Fall 41) zieht wohl die Nutzanwendung 
seiner Wahnvorstellungen für den Krieg, und sein Handeln ist 

l ) Ein türkischer Theologe namens Abdul Azis, der den Irrenpfleger¬ 
dienst hier studierte. 


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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 327 

durch die Verhältnisse des Krieges mitbestimmt, aber doch nur, 
weil die Ereignisse des Krieges seinen Wahnbildungen äußerst 
entgegenkommen, und sein Krankheitsbild erhält dadurch in keiner 
Weise eine neue Seite. Auch ist sein Handeln als Ausfluß seiner 
krankhaften Vorstellungen gegen früher gar nicht verändert, 
sondern nur den Verhältnissen angepaßt: telegraphierte er früher 
z. B. dem Kaiser, so wendet er sich jetzt an den Leiter des 
Kriegswirtschaftsamtes in völlig^logisch richtiger Auffassung, daß 
dieser der geeignete Mann sei in seinen sozialdemokratischen Nöten. 

Es wäre ganz lehrreich, feststellen zu können, wie die Ver¬ 
hältnisse sich bei frischen Paranoikern gestalten, ob hier etwa 
ein Ereignis wie der Krieg bei noch produktiver Wahnbildung 
dieser Richtung und Färbung gibt. Nach den Erfahrungen bei 
den Paranoiden v. R. (Fall 36), v. W. (Fall 38) sollte man das 
erwarten, v. R. (Fall 35) leugnet sein ganzes bisheriges Wahn¬ 
gebäude hinweg, weil er den Krieg offenbar mit hineinziojit. Es 
ist freilich auch hier eigentlich keine Neubildung, sondern nur 
ein Aufgehen des Kriegserlebens in dem dazu äußerst gut vor¬ 
bereiteten Wahne, aber doch ein wirkliches Verarbeiten des Er¬ 
eignisses. v. W. (Fall 38) verarbeitet es offenbar auch, wenn 
auch nach außen hin in negativer Weise. Dagegen tritt bei Dr. 
W. (Fall 39) der Krieg nur rein äußerlich mit der Wahnbildung 
in Verbindung, indem er Gelegenheit bietet, alten in den Wahn¬ 
vorstellungen wurzelnden Wünschen auf einem neuen Wege Er¬ 
füllung zu suchen. 

Bei Vergleichung der beiden Paranoiker mit den Paranoiden 
(Fall 36 und 38) drängt sich im übrigen mir doch der Gedanke 
auf, daß hier grundsätzliche nosologische Unterschiede vorliegen. 
Der Paranoiker, der aus einer besonderen Veranlagung heraus 
sozusagen „am Kampfe mit dem Leben“ leidet und dadurch an 
Wahnvorstellungen erkrankt, steht anders einem Zeitereignis gegen¬ 
über als der Paranoide, der aus endogenen Ursachen an Wahn¬ 
bildungen leidet und durch seine Krankheitsäußerungen mit der 
Welt in Kampf gerät. Jener wird sich objektiver verhalten, so¬ 
weit nicht die Ereignisse unmittelbar an sein Wahnbild rühren, 
und tritt ihnen mit ganz anderer Urteilskraft gegenüber als der 
Paranoide. 


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328 -P«iw 

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UNIVERSITV OF MICHIGAN 



Beitrag zu den „Kriegspsychosen“ »!or Zivil¬ 
bevölkerung und zur Psychologie te lijsl eri- 
scheu Dämmerzustandes <). 

Vr,i;i 

0r. 0»kar . ■' 

Oberarst dev L.- I.- A. Lanasbw« ä. W>... i'. Z. ui) Ft!u - 

Die B&ihzi-hymg, «l»S tuu* .d$f '■ Vermehrung • d‘?F 

Psychosen iß ’dter ZivilbpY^i^c'Jtm^ hrjbgeo würde, isi iÄ ab rtb- 
gettm edtsd^ttetc wie dßreh^ Umfrage an Anstalten und r.iVkl rei.elu- 
eutspreelieade yeröffe«tj.! 0 hixngen bewiesen ist. •JmimuUm ktijgt 
juaa nicht in Abrede«teilen, daß Ereignisse;und speriblle. Erleb¬ 
nisse als anslösende Ursache ftir 

den Aöffernelt einer akuten geistigen Stönmg atirgctfeten sind, 
Was dabei das weibliche Geschlecht betrifft, so. si»uJ um 
meiner Tätigkeit .-an der Landes-Irrenanstalt Landshr . ft -v .:. 
den ergten Kri^sraonatea mehrere Fälle bekannt, für welche das 
zpirUfr, f ^ bahd^lte sie}» dabed stets tun Fälle mrduimisch- 

depres.sivetö Irresein nde$ von Bysterie rim weitesten ß \u>, 


dargeboten hafte» öder, ahnt Möd^ten:;^..^h.wer psythtoy/itinselie 
Personen ätumseh^n ;.•' ' .'■ 

Zu der. ersten Qruppd gehörten mehrere Frauen vim ost- 
preußischen Flucht vor den eindjirigenclyö 

Russen teils in ängeiltehe Eitt^nng, teils in tiefe DepJü&idtr'V'iJi--' 
fallen waren, bei oder jtianiakhliHt’he 

stände -.söWß • |a aufgetreten, und eie u nron z. X 

deshalb schon in Anstalten gewesen, 

: ) Aus *rcT L:iijdes-Irrcnanstait Laii<lr;lißr|!:a, W-, Direki> !' "... 
rat Df. Mufih&i. jEingegao^e.a Februar tÄliäv 

2«UMteH' pst .'Vöirtü***-- -LXXV. C,v2,‘i 

■ . 

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Original frerti 

JMtVERSITY OF MICH 






330 


Rein, 


Unter der 2. Gruppe war besonders ein Fall, der mir wegen 
seines Verlaufs und der ganzen Art seiner Erscheinungen als 
interessant und der Veröffentlichung wert erscheint. Es handelte 
sich um die Frau eines höheren Beamten, die bei der Nachricht 
vom Tode ihres als Reserveoffizier im Felde stehenden Mannes in 
einen Erregungszustand mit anschließendem Dämmerzustand ver¬ 
fallen war und in der Anstalt aus dem Dämmerzustand unter den 
Augen des Arztes wieder erwachte. 

Die 33 jährige Beamtenwitwe Herta K. wurde am 28. XI. 1914 
in die Landesirrenanstalt Landsberg a. W. aufgenommen. Nach Angaben 
der Angehörigen besteht keine erbliche Belastung, Pa*, soll aber stets 
etwas ,,nervös“ gewesen sein; sie lebte in sehr glücklicher, kinderloser 
Ehe seit 4 Jahren; die Ehegatten lebten eigentlich nur für einander, 
musizierten viel zusammen und wmrden wegen ihrer übertriebenen An¬ 
hänglichkeit und Zärtlichkeit von den Verwandten oft geneckt. 

Abgesehen von Bleichsucht in den Entwicklungsjahren hatte Pat. 
keine Erkrankungen durchgemacht. Bei Kriegsausbruch ging der Ehe¬ 
mann der Pat. als Reserveoffizier ins Feld; sie war seitdem stets sehr still, 
betete viel, las in der Bibel, musizierte gar nicht mehr. Mit einer Freundin, 
deren Mann auch im Felde war, soll sie verabredet haben, sich mit Gas 
zu vergiften, falls die Männer fielen. Als einmal mehrere Tage keine Nach¬ 
richt vom Manne kam, bekam Pat. „Herzkrämpfe“, die bei neuer guter 
Nachricht vom Manne sofort wieder aufhörten. 

Am 26.11. traf die Nachricht vom Tode des Mannes ein. Pat. schrie 
zunächst lautauf, lachte dann schrill, lief ans Klavier und spielte „wie 
rasend“ Walzer und Gassenhauer herunter, während sie früher mit dem 
Manne nur ernstere Musik gespielt halte. Von da an war Pat. nicht mehr 
zu beruhigen, sie schrie, lachte und weinte durcheinander, suchte überall 
im Hause nach ihrem Manne, versuchte mehrmals Gashähne aufzudrehen; 
betete dann laut, der liebe Gott solle dafür sorgen, daß sie von der Welt 
fortkäme, sonst müsse sie sich das Leben nehmen. Nahrungsaufnahme 
war sehr gering. 

Bei Aufnahme zeigt Pat. ein ruheloses, ratloses Wespn; lächelt bald, 
bald weint sie, fragt nach ihrem „Schatzi“, verlangt „Markenpapier, um 
Schatzis Herz zusammenkleben zu können“. Zeitlich und örtlich nicht 
orientiert, verkennt auch die sie begleitenden Verwandten zum Teil. 

29. 11. Die körperliche Untersuchung ergibt bei der großen, kräftig 
gebauten, ziemlich gut genährten Frau keine krankhaften Veränderungen 
der inneren Organe. Es besteht eine leichte Pupillendifferenz, wohl ange¬ 
borene Anomalie; Ohrläppchen angewachsen. Von seiten des Nerven¬ 
systems außer leichter Dermographie, einer geringen Erhöhung der Sehnen¬ 
reflexe und mäßiger Ovarie keine Abweichungen. Genaue Sensibilitäts- 


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Beitrag za den „Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung. 331 

Prüfung ist wegen des Verhaltens der Pat. nicht möglich; anästhetische 
Zonen bestehen jedenfalls nicht, anscheinend aber allgemeine Hypästhesie. 
Pat. läßt sich bereitwillig untersuchen, ihre Bewegungen haben dabei etwas 
Mechanisches, sind ziemlich langsam; bei der Sensibilitätsprüfung lacht 
Pat., gibt keine richtigen Antworten, sagt: „Das ist mir einerlei, wenn 
man mir weh tut“. 

Während der Untersuchung und des folgenden Gesprächs zeigt Pat. 
dem Arzte gegenüber ein kindlich-zutrauliches Verhalten, ergreift öfters 
seine Hand, nickt und lächelt ihm zu. Sie blickt im Zimmer umher und 
macht zu allem, was sie sieht, ihre Bemerkungen: „Mein Schlafzimmer 
hat auch weiße Möbel“ — „das ist nicht mein Schlafzimmer, ein Spiegel 
fehlt“ — „das sind richtige Vorhänge, die habe ich in unserem Zimmer 
auch“ — „ich habe ja keinen Ring auf, darf ich den nicht haben? Das 
ist schade.“ — Lacht plötzlich beim Anblick des ihr aushilfsweise gegebenen 
bunten Anstaltstaschentuchs auf: „Sehen Sie nur! Ist das nicht ulkig? 
Ich habe doch Frau Hämmerling geschickt, und nun bringt die mir solch 
ulkiges Taschentuch! Ich habe auch ein Taschentuch, ich habe auch 
eine Handtasche, da sind schöne Briefe drin von Schatzi. Gewiß ist da 
auch Schokolade drin; Herr Doktor, darf ich nicht die Schokolade haben ?“ 
Diese und ähnliche Äußerungen werden in kindlicher Art und Weise 
vorgebracht; sowohl die Sprechweise als auch der Gesichtsausdruck und 
sonstige Gebärden haben etwas geziert Kindliches, etwa in der Art, wie 
man oft mit Kindern spricht, deren Art nachahmend. 

Den Arzt erkennt Pat. als solchen, weil er einen weißen Kittel an¬ 
habe; glaubt in Küstrin im Krankenhaus zu sein, wundert sich, daß 
Küstrin ein so großes Krankenhaus habe. Man habe doch mit ihr nach 
Küstrin fahren wollen; weiß nur ungenau, wer sie hergebracht, glaubt schon 
„so lange“ hier zu sein, das könne sie nicht wissen, wie lange (in Wirklich¬ 
keit t Tag). Beim Hören des Ortsnamen Landsberg nennt Pat. ver¬ 
schiedene Bekannte, die dort wohnen. 

(Vornamen?) „Sie dürfen nur Frau K. sagen, sonst heiße ich noch 
Herta, so sagt Mama — und Schatzi sagt Süßerchen.“ 

(Alter?) „Das will ich ausrechnen, Schatzi war 31, im 32. — ja also 
31 und ich bin älter, wohl 2 Jahre älter.“ 

(Wo geboren?) „Wo bin ich denn geboren? — Wo wohnt denn 
Muttchen und meine Schwester? — Meine Schwester, das weiß ich, die 
ist in N. auf dem Postamt, aber da bin ich nicht geboren. — Fragen Sie 
bitte noch einmal — [geschieht] an der Fulda, in R. an der Fulda.“ 

(Wie lange verheiratet?) „Wenn ich nur meinen Ring hätte, da 
steht es drin — 1906, da waren wir verlobt, — und dann waren wir noch 
vier Jahre verlobt.“ 

(Kinder?) „Nein, wir brauchen keine, Schatzi sagt, ich bin sein 
Kind.“ 

(Datum?) „Ach nein — das ist einerlei.“ 

23 * 


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332 


Rein. 


(Jetziges Jahr?) „Ach nein, das ist einerlei“ [zuckt mit den 
Schultern]. 

Pat. schaut dem Arzte zu, wie er schreibt, plötzlich sagt sie lebhaft: 
„Schreiben Sie doch mal an Schatzimann.“ Diktiert dann dem Arzt: 
„Mein süßer Schatzimann, komme doch bald wieder.“ Schweigt, blickt 
ernst vor sich hin, auf Frage des Arztes, wie lange der Mann fort sei, 
seufzt Pat.: „Ach, so lange schon.“ Fährt dann lebhaft fort: „Und dann 
schreiben Sie noch: Ich koche alle Tage Gänsebraten — und dann müssen 
wir noch was Derbes schreiben: Mir tut es leid, daß ich Dir mein Ehren¬ 
wort gegeben habe und nicht so ein Häubchen aufgesetzt habe, weil Du 
so lange weggeblieben bist. — Ja, und wenn Du nicht bald wiederkommst, 
dann glaube ich nicht mehr, daß Du mich lieb hast. — Und dann schreiben 
Sie bitte noch: Ich werde mich auch nicht totweinen, sondern ich werde 
die alte Browningpistole wegwerfen und mir eine neue kaufen.“ 

(Wollen Sie schießen?) „Erst suche ich mir die bösen Menschen, 
die ihm etwas getan haben, und dann schieße ich mich selbst tot.“ 

(Wohin Mann gegangen ?) „Er sagte, er weiß es nicht“ [sehr lebhaft]: 
„Nein, das wußte er auch wirklich nicht, sonst hätte er es mir gesagt; 
er lügt nicht, ich lüge mir auch nie etwas vor.“ 

(Ist Ihr Mann beim Militär?) „Ja, in L. hat er doch immer geübt, 
und da hat er mich doch immer mitgenommen.“ 

Pat. erzählt lebhaft und freudig, daß sie mit ihrem „Schatzi“”in L. 
auf dem Schießstand gewesen und einmal mit ihm im Mondenschein auf 
dem See mit Musik spazieren gefahren, und ähnliche Episoden. „Ich gehe 
immer mit Schatzi mit, ich hätte müssen ganz ungezogen sein und mit 
dem Fuße stampfen: ich will aber mit! —Ach nein, dann hätte er geweint.“ 

In kindlicher Weise spricht Pat. immer von ihrem „Schatzi“, ob der 
denn weiß, daß sie hier sei, sonst könne er sie doch nicht finden, und. da 
sei er sehr traurig. Sie wolle hier bleiben, bis Schatzi sie abhole. Wo 
Schatzi so lange bleibe ? Sie wolle den Vorgesetzten von Schatzi bitten, ~ 
daß er seine Arbeit mit nach Hause nehmen dürfe; das ginge doch nicht, 
daß er sie so lange allein lasse. 

In den folgenden Tagen verhält sich Pat. ruhig, bis auf das kind¬ 
liche Wesen auch geordnet. Zum behandelnden Arzte ist sie stets zu¬ 
traulich-freundlich, zu andern, vertretungsweise auf die Abteilungkommen¬ 
den Ärzten leicht abweisend; spricht mit Kranken und Pflegepersonal 
wenig, schläft viel oder liegt still für sich. Die Nahrungsaufnahme ist 
gering, Pat. ißt nur auf Zureden, „Schatzi habe ja auch nichts zu essen“. 

Längere Gespräche werden meist von Pat. abgelehnt. Als Ref. 
einmal zu ihr vom Kriege spricht, weint sie laüt auf: „Krieg! — das ist 
ein garstiges Wort, das dürfen Sie nicht sagen; Schatzi will nicht, jiaß 
Sie so garstige Worte sagen.“ Darauf wendet sich Pat vom Arzt^ab, 
erfaßt die Hand der Pflegerin und sagt: „Die Schwester ist gut, die sagt 
nicht so garstige Worte.“ 


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Beitrag za den „Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung. 


333 


3. 11. (Aus einem Gespräch mit einem vertretungsweise auf die Ab¬ 
teilung kommenden Arzt.) 

(Wie lange hier?) „Viel zu lange, so lange kann man nicht denken. “ 

(Weshalb hier?) „Ich sollte nach Kflstrin fahren, nach Hause, mein 
Schwager Hellmut und Lie (die Schwester der Pat.) haben mich herge¬ 
bracht. fSie h^ben sich in den Zügen geirrt; wie das möglich ist, weiß ich 
nicht. Herr Oberarzt hat mir gestern gesagt, das ist Landsberg/* 

(Glauben Sie das?) „Ich glaube es, ein Arzt wird doch nicht lügen.“ 

(Wochentag heute?) „Ja, das weiß ich nicht.“ 

(Datum ?) „Dasweiß ich auch nicht.. /aber wissen Sie, am 10.10.10. 
weiß ich immer was, aber ich weiß nicht was ... es war im Herbst, da 
war es“ [spricht nachdenklich verloren vor sich hin]. 

(Was war denn da?) „Ach, es war schrecklich“ ... [seufzt und 
stöhnt]. 

(Waren Sie da krank?) „Ach, wenn ich krank bin, das ist doch 
einerlei — ich kann mich sehr schlecht erinnern, aber es war schrecklich — 
es war ganz furchtbar — ich besinne mich immerzu darauf — [leise und 
geheimnisvoll:] Ja, ich weiß ... [weint laut und sagt mit kindlicher 
Stimme:] „Die vielen Menschen haben das Herz von meinem Lieb kaput 
gemacht.“ 

(Woher wissen Sie das?) „Das weiß ich nicht, ich habe die Augen 
zugemacht, daß ich es nicht sehen soll. Ich fühle es hier ganz genau [zeigt 
auf Herzgegend], es tut immer noch so weh, so weh — und niemand hat 
ihm einen Verband gemacht.“ 

(Woher wissen Sie das?) ,,Ich weiß es ganz genau, ich weiß es ganz 
genau!“ 

(Wer hat es Ihnen erzählt?) [ungeduldig:] „Niemand! — Können 
Sie ihn denn nicht heil machen ? — Ich weiß es ganz bestimmt, Muttchen 
weiß esauchundLieweißes auch.“ — [Leise vor sich hin wimmernd:] „Ich 
wollte ihn ja verbinden, aber ich konnte nicht hinlangen.“ 

(Wieso nicht?) [Ungeduldig ausbrechend:] „Ich war zu weit weg — 
ich wollte meine Hände auf Schatzis Mund auflegen — was mache ich 
denn da? — Sagen Sie es doch! Wissen Sie es auch nicht ? — Dann gehen 
Sie doch fort, wenn Sie es nicht wissen. — Ich hätte müssen viel schneller 
laufen, dann hätte ich ihm helfen können — mein armer Liebling, dul“ 
[Wimmert vor sich hin.] 

üj (Wo ist er denn?) „Schatzi ist weit fort, er hat mich nicht mitge¬ 
nommen; er hat gesagt: Adieu, mein Liebling! [Mit kindlicher Stimme 
fortfahrend:] Ich wollte eine Schwester werden mit einem Häubchen, 
aber er hat es nicht erlaubt, das habe ich ihm versprechen müssen; was 
soll ich nun machen, nun muß ich es halten. — Sein Herz tut ihm schon 
wieder so weh, das fühle ich ganz genau“ [faßt nach ihrem Herzen]. 

(Sind Sie denn verheiratet?) „Na gewiß, es ist doch mein Schatzi- 
mann. — Ich habe drei Ringe, aber die hat mir jemand weggenommen.“ 


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Rein, 


(Haben Sie Kinder?) „Nein, Schatzi sagt: ich ^in sein Kind“ [mit 
verklärtem Augenaufschlag]. 

(Wie lange verheiratet?) „Das weiß ich nicht, aber das steht in 
meinem Ring — 1906.“ 

(Können Sie das nicht ausrechnen?) „Ich kann ja nicht rechnen, 
nun bin ich sehr dumm geworden.“ 

(2 +1?) „4? ...4 .. 4.“ [Leise vor sich, dann laut ärgerlich:] „Ich 
bin doch nicht in der Schule, ich bin schon so alt.“ 

(Wie alt?) ».Viele Jahre — solange Schatzi fort ist, bin ich schon 
viele, viele Jahre älter. Er ist schon so lange weg, und er kommt nie wieder, 

und . er sagt mir nie wieder „guten Morgen“ und „gute Nacht“- 

ich sehe ihn ja doch, er sagt mir öfters „guten Morgen“ und „gute 
Nacht“ [weint wieder leise vor sich hin]. 

(Wissen Sie, daß Krieg ist?) [Unwillig:] „Nein, es soll nicht sein, 
ich kenne die Russen ganz genau. Ich war so lange in L. und Pr., da haben 
wir uns immer mit X. [nennt russischen Namen] besucht.“ 

(Jetzt ist doch Krieg!) „Nein! Sagen Sie mir doch nicht solchen 
Unsinn! Gehen Sie doch bitte fort! Ich bin so müde! [Wendet sich "ab, 
schließt die Augen.] 

(Wann in L. ?) „Jahreszahlen weiß ich nicht, Schatzi mußte dort 
8 Wochen üben, da mußte ich immer mitgehen, er wird mich doch nicht 
allein lassen. .. Ich wollte immer Markenpapier haben und Schatzis 
Herz wieder zusammenkleben, aber niemand hat es mir gegeben ... böse 
Menschen haben es kaput gemacht.“ 

(Wann geboren?) „Ach, das weiß ich nicht, ich bin schon so alt, 
Schatzi ist 31 Jahre alt ... [in kindlichem Tonfall] ich werde mich ope¬ 
rieren lassen. Schatzi soll mein Herz haben, das ist ganz heil, das kapute 
geht doch nicht — dann kann ich ja das kapute haben, wenn es zusammen¬ 
geklebt ist, dann wird es ja kleiner, dann geht es schon für mich.“ 

4. 12. Weinerlich, fragt öfters nach ihrem „Schatzi“, wendet steh 
vom Fenster ab, der blaue Himmel tue ihr weh. Schreibt kindlichen Brief 
an ihre Schwester um Wäsche und Kuchen; am Anfang des Briefes zeichnet 
Pat. einen Hund, erzählt in dem Briefe von einer Schwester, die goldenes 
Haar habe, von dejp „ulkigen Taschentuch“, die Ärzte fragten sie immer 
so dämlich, die glaubten, sie wäre krank; ein Arzt habe „beinahe eine so 
liebe, weiche Stimme wie Schatzilein, aber Schatzimannhat doch schöneres 
Haar. Schreibe Du doch an mein Liebstes,- ja an mein Süßerle, ob er 
mich noch lieb hat, und er soll es mir ganz schnell schreiben.“ Pat. unter¬ 
schreibt sich als „Dein Schwesterlein Herta“. Im Briefe schreibt Pat. 
mehrmals, sie habe noch etwas schreiben wollen, habe aber vergessen, was. 

5. 12. Fragt den Arzt, wann ihr Schatzi komme, der Arzt müsse 
das doch wissen, er sei doch am klügsten hier. 

Bei Besuch des Schwagers verkennt Pat. diesen zuerst, ist dann 
sehr gesprächig. 


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Beitrag zu den ..Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung. 


335 


Am Abend plötzlich Fieber, 39,0°. Leichte bronchitische Erscheinun¬ 
gen und leichte Angina. Pat. ist etwas benommen, führt verworrene 
Reden: „Der Stephan soll die Stiefel ordentlich putzen“, verlangt Wasser, 
trinkt einen Schluck: ^Das soll Wasser sein? Schmeißen Sie mal erst 

i 

den Stephan raus! Der Stephan ist so ungeschickt, er soll mir nicht immer 
Wasser auf die Füße pantschen. Ich habe ganz nasse Füße, ich möchte 
bitte trockne Strümpfe haben.“ 

7. 12. Bronchitis mit hohem Fieber. Pat. klagt viel über Kopf¬ 
schmerzen, liegt sonst still und apathisch im Bett. 

Am Nachmittag plötzliche Erregung: Pat. läuft im Saal hin, und 
1 her, Kopf zurückgebogen, Augen geschlossen; als die Oberin den Saal 
betritt, stürzt Pat. auf diese zu, klammert sich fest an sie und ruft: ,,Sie 
sagen hier, Lodz sei gefallen. Das soll nicht sein; die Russen sollen nicht 
besiegt werden.“ Auf Zureden beruhigt sich Pat. und legt sich wieder 
still ins Bett. 

8.12. Bei Morgenvisite begrüßt Pat. den Arzt wie immer in kindlich- 
zutraulicher Weise, klagt über Kopfschmerzen, sagt dann: „Und noch 
eins wollte ich Sie fragen — was war das nur ? — An zwei Worten haben 
ich es mir gemerkt — wie war das doch ? — Ach ja! L. und Lodz! — Was 
heißt das: Lodz ist gefallen?“ Auf die Erklärung des Arztes, daß doch 
jetzt Krieg sei, blickt ihn Pat. fragend und sinnend an: „Es ist Krieg?“ 
Nach einer Weile fährt sie langsam fort: „Da muß doch Schatzi auch mit — 
als Offizier!“ — Blickt abwesend ins Leere, fragt dann rasch: „Er ist 
doch im Kriege?“ Als der Arzt das bejaht, blickt Pat. eine kurze Zeitlang 
still vor sich hin, ruft dahn: „Ist er tot. — Sagen Sie es mir, Herr Doktqr! 
Er ist tot?“ Auf die bejahende Antwort des Arztes schreit Pat. einmal 
laut auf, schlägt die Hände vors Gesicht, weint, ein Schütteln geht durch 
ihren ganzen Körper; dann ergreift sie die Hand des Arztes, beugt sich 
weinend darüber, verharrt einige Minuten in dieser Stellung, richtet sich 
dann auf: „Ach, ich darf ja nicht weinen als Offiziersfrau.“ Pat. seufzt, 
hält die Hand des Arztes fest umklammert: „Ach, Sie wissen ja nicht, wie 
lieb er mich gehabt hat.“ Weint vor sich hin und sagt leise, wie zu sich 
selbst: „Ich habe nachts immer sein Geigenspiel gehört; alle meine 
Lieblingsmelodien hat er gespielt, aber die letzten Nächte nicht mehr. Ich 
komme nicht wieder, hat er gesagt.“ 

Nach kurzer Zeit richtet sich Pat. auf, trocknet ihre Tränen, dankt 
dem Arzt für sein Beileid, fragt, ob sie nun bald nach Hause könne. 

Das Wesen der Pat. ist von nun an völlig verändert, sie zeigt etwas 
frauenhaft Gefaßtes in ihrem Verhalten, spricht nicht mehr von ihrem 
„Schatzi“, sondern von ihrem Manne, das kindlich-kindische Wesen 
ist geschwunden. 

Pat. hat keine Erinnerung, wann und wo sie die Nachricht vom 
Tode ihres Mannes erhalten hat, nur ganz unbestimmt erinnert sie sich, 
daß wohl ein Brief gekommen. 


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UNIVERStTY OF MICHU6Ä& 



336 


Reip 


Io den folgenden Tagen verhält sich Pat. voÜköimjmit ruhig und 
jg$»o spricht mit Arzt und beim Besuch d«r Angehörigen gefaßt über 
Tod ihres Mäiiaes* wemkoft», «über- 4|« XdJ^Ptt|^^' : i^P;|P*a^ 0 r kind 
<b>>ehuu>io natuflich.eaßreflzen. An ihr Verhaften 
^awUnd^ hat Pht keine Erinnerung- eie weiß aber hh Apgembiaeu. was 
;iiü &% b'-runi vorgelagert ist. 

(to Anschluß an dt« ßfOnchlfA ist ^na 0^^0^'ttehtm niköhdfl^ 

£ttfe i 

>Vn ; >‘b>.. 121 wird • der Fat.: t»; RtrM 
• iiv händek sieb feo( vorstehend gesehiUkrtetuK/snjkbbitsbilU 
mi! einen' hysterischm 'Bämmmi*$tand fei einer psychopathisch 
voräataktöß Pärmn. Wir sehe» afek hier, wie^^hfe feeist bei der¬ 
artigen Zuständen, eine gewisse Zyveckmäßigkeit, die darin liegt, 
iUa- dfe Kranke durch die „Flucht in den Dämmerzustand" einer 
Um ^#irt^»ü6d«ui' aus dem Wege gejbeu oder sie 

weokzieife :feek eine ZeÜlank hinausschiebcui will .. In. unserem 

. •. - r asv/ U *>w, -vV, ' . ;'.v . i Tr .. .. ■, . Jt- ->vr.. vi».fe£Vj r > ’ ■; 

Fäik will die jtmge Fmä, w;Ut schwärmerischer 
Life- -'.Kgei&n ist. dk Akfertd!? vomsoroenv fode nicht verstehen, 
sie ilfeijtht :sie!i. -dl)rlioi»t’ dadurch die 

V *••;. ifkeit in das Utitcrfewüßtsbifj xoxhek; st« gewinnt sie Zelt. 
ni«//$eii' *9ret,I«^i.!D^ ÄVÄp^S.i'^i^rS^' mit dein für sie 
Gedanken. daß ihr Mann; gefallen ist. abziüinden. 
Ifeifefeffe wird dc^^ätemfet^tahd durch tUoen heftigen ßitegungs- 
zfetäßJl mit SeJbstmordveröuehe«. wie er ja durehaus fer Koigaug 
i- . • ;’ Ahisohej Personen zu Exaltationen in derartigen Lagen 

em'isprfeH ■■./■■: ’ofe k •/.’; A'fefeM. 'fe •.Vf'/'-'Vr''’'- ''-•••>• v.-fO 

Thtc^ssant ist die Art, wie sich bei miserer Pgt. der Däniiner- 
Äüstäini gestaltet: sie', spielt g|twi'3^^jäaße.n dk Rolle eines Kindes; 

- Ihr'■ i Ausdrücken. in der Redeweise. 5n Miene and Gebärden, 
!« ih ’ > zutraulich-freundlichen Art dem Arzt gegenüber, in der 
Aiijfjnkhutfeeit durch äußere Eiiidrücke, aii dem Abspringen vom 
ihssiirfif ’ fSthertia, - in dfe FlÜehtigfeit ethd öberfläeiiiiehkdt der 
: zeigt 1 sich ein ausgesprochen kindikhes. mitunter mich 

Stier. Ithdfe ’feich mit •jer gegebenen Lage ab, 
ä8 nadiztidebken und darüber an 

Afeyck . ■ w$pt fe einmal geschieh)!, solenkt sie sieh selbst meist 

keiuidhnii 
kindliche 



Biglsze 


' r,: £y/A£Kri-$S>> <> 

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Beitrag za den „Kriegspsychosen" der Zivilbevölkerung. 337 

Von den Briefen ihres „Schatzi“, die sie in ihrer Handtasche habe, 
kommt sie rasch auf die dort befindliche Schokolade zu sprechen; als sie 
dem Arzt einen Brief an ihren Mann diktiert, geht sie nicht darauf ein, 
wo er ist und wie es ihm geht, läßt nur schreiben, er solle bald wieder¬ 
kommen, sie wolle ihm dann alle Tage Gänsebraten machen. In die Anstalt 
gekommen sei sie dadurch, daß sich ihre Schwester in den Zügen geirrt 
habe; nun wolle sie hier bleiben, bis „Schatzi“ sie abholt. Als davon 
gesprochen wird, daß ihr Mann Reserveoffizier ist, erzählt sie schnell einige 
Episoden aus der Zeit, wo sie mit ihrem Manne zur Übung in Lyck war. 
öfters spricht Pat. auch selbst davon, daß ihrem Manne etwas zugestoßen, 
sie weint auch dabei,doch ist der Affekt nur gering und von ganz kurzer 
Dauer, sie lenkt entweder ganz davon ab oder versucht, sich selbst zu 
betrügen, indem sie es erzählt wie einen Traum oder in kindlicher Auf¬ 
fassung: Böse Menschen haben ihrem Schatzi das Herz kaput gemacht, 
sie will es mit Markenpapier wieder zusammenkleben, wie etwa ein Kind 
seine zerbrochene Puppe heilt, oder sie will sich operieren lassen und ihr 
Herz dem Schatzi geben, dafür dessen zusammengeklebtes nehmen, da 
sie ja kleiner ist. Ihr unangenehme, an den Tod ihres Mannes erinnernde 
Worte und Gespräche lehnt sie ab oder versucht, sie nicht zu beachten; 
so beteiligt sie sich nicht an den Gesprächen anderer Kranker, die auf 
Abteilung viel vom Kriege sprechen; sie verbittet sich direkt so „garstige 
Worte, die man nicht gebrauchen darf, weil Schatzi es nicht will“, oder 
aber sie bezeichnet derartige Gespräche trotzig aufbrausend als unwahr. 

In ihren Briefen an die Angehörigen spricht sie nur fluchtig 
von ihrem Manne, läßt ihn grüßen, vermeidet es aber, nach seinem 
Befinden zu fragen, nur schreibt sie mehrmals, sie habe noch 
etwas fragen'wollen, das sie vergessen habe; im Anschluß daran 
bittet sie dann gleich in kindlicher Weise um Schokolade, Wurst 
u. dergl. Auch diese Vergeßlichkeit ist ein Ausdruck ihrer kindlich 
gerichteten Geistesverfassung, sie ist ja „so dumm“, daß sie nicht 
2 + 1 ausrechnen kann, weder Datum noch Wochentag weiß. 

Daß Pat. in ihrem Dämmerzustände gerade ein ausgesprochen 
kindliches Verhalten zeigt, eine kindliche Psyche angenommen 
hat, entbehrt nicht einer gewissen Logik: zu dem von Pat. un¬ 
bewußt oder bewußt gewollten Nichtverstehen der Kriegsereignisse 
und der Schwere des eigenen Verlustes gehört die Naivität und 
Einfalt eines Kindergemütes. Wie ein Kind beim Tode der Mutter 
zwar weint, aber doch die Schwere des Verlustes nicht begreift 
und sich leicht durch Spiel und andere Eindrücke ablenken läßt, 
dann auch wieder von der Mutter spricht, als ob sie noch am 


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Rein, 


Leben wäre, so geschieht es auch hier: die Kranke weih vom 
Tode des Mannes, sie spricht auch weinend davon, sie kommt 
aber nicht zum vollen Verständnis des Ereignisses. In der Periode 
der kindlichen Geistesverfassung gewinnt die Pat., Zeit, sich erst 
langsam an ihren Verlust zu gewöhnen, so daß sie dann gefaßt 
und ruhig aus diesem Zustande zur Wirklichkeit erwacht. In den 
ersten Tagen des Anstaltsaufenthaltes lenkte Pat. das Gespräch 
viel mehr von ihrem Manne ab, vermied es meist, selbst von ihm 
zu sprechen, später dagegen (so im Gespräch am 3. 12.) geht 
sie schon viel mehr auf dieses Thema ein und kommt von selbst 
darauf zurück; dabei spielt sie auch immer wieder mit dem Ge¬ 
danken des Selbstmordes, den sie ja früher für den Fall, daß ihr 
Mann fallen würde, geplant hatte und in ihrem Erregungszustand 
bei Empfang der Todesnachricht auch zur Ausführung bringen wellte. 

Bereitet sich in dem häufigeren Sprechen von ihrem Manne 
vielleicht schon ein allmähliches Erwachen aus dem Dämmerzu¬ 
stände vor, so tragen dazu wohl die Gespräche der Umgebung 
über den Krieg mit bei; da sie hier immer wieder dasselbe Ge¬ 
sprächsthema hört, kann sie sich dem Verständnis des Gehörten 
nicht länger mehr verschließen. Noch einmal versucht es die 
Patientin mit trotzig abwehrender Erregung das Erkennen der 
Wirklichkeit zu unterdrücken, dann aber tritt, eingeleitet durch 
das Gehörte, das sie sich zunächst erst wieder scheinbar mühsam 
ins Gedächtnis zurückrufen muß, ziemlich plötzlich das Erwachen 
aus dem Dämmerzustand ein und damit auch sofort das volle Ver¬ 
ständnis ihrer Lage und ihres Verlustes. Dieses geschieht inner¬ 
halb weniger Minuten in Gegenwart des Arztes: soeben hat die 
Pat. noch in ihrer krankhaften, kindlich-vertraulichen Art den Arzt 
begrüßt, es folgt ein kurzes Überlegen und Fragen, dann wird sie 
sich der Bedeutung des Wortes „Krieg“ bewußt und weiß damit 
auch sofort, was sie verloren. Der Dämmerzustand ist vorüber, 
das Verhalten der Pat. wieder geordnet; besonders zeigt sie in dem 
nun folgenden natürlichen Schmerzausbruch ein frauenhaft-würdiges 
Benehmen, das in direktem Gegensätze steht zu dem vorherigen 
kindlich-kindischen Verhalten. 

Nicht ohne Einfluß auf die kindliche Gestaltung des Dämmer¬ 
zustand‘s bei der Pat. ist w r ohl ihr Verhältnis zu ihrem Manne 


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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten 

fixen Wahnidee. 

Von 

Dr. August Hegar (Wiesloch i. B.). 

Der verstorbene Psychiater Näcke bedauert in einem „Raritäten 
aus der Irrenanstalt“ überschriebenen Aufsatze 1 ), daß in den Ar¬ 
chiven der großen Irrenanstalten so viele instruktive Fälle für die 
Wissenschaft verloren gehen; er meint, man solle sich nicht ab¬ 
halten lassen, auch einzelne kasuistische Fälle zu veröffentlichen. 
Diese Mahnung ist nicht ganz überflüssig, da es immerhin einige 
Überwindung kostet, den selbst für Doktordissertationen nicht mehr 
beliebten „ein Fall von“ zu beschreiben. Wenn ich mich doch 
entschlossen habe, die nachfolgende Krankengeschichte mitzuteilen, 
so kann ich dies damit begründen, daß man wohl in der psychi¬ 
atrischen Literatur kaum etwas Ähnliches finden wird; wem der 
wissenschaftliche Wert der Veröffentlichung zu gering dünkt, der 
möge immerhin bedenken, daß es auch Liebhaber und Sammler 
von Kuriositäten gibt. 

Unter den ersten Kranken, die 1907 in die neu eröffnete Anstalt 
Wiesloch überführt wurden, befand sich zu meiner Überraschung eine 
alte Bekannte aus meiner Assistentenzeit an der medizinischen Klinik 
inH. Es war „die Frau mit dem Frosch im Leib“. Die klinische Diagnose 
lautete auf Ren mobilis. Die Kranke wurde regelmäßig in den Kursen 
und in der Klinik vorgestellt, um den jungen Medizinern Gelegenheit zur 
Palpation einer lebendigen Niere zu geben; nebenher übte die Erklärung, 
die die Kranke für ihr Leiden gefunden hatte, eine gewisse Anziehungs¬ 
kraft auf das studentische Publikum aus. Fräulein Wilhelmine G., geboren 
1827, stand, als ich sie kennen lernte, im 67. Jahre. Sie suchte in den 
Jahren 1884—1896 ein- bis zweimal jährlich die Klinik auf, sie blieb einige 

*) Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 50. 


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Eine TierUluaion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 341 

Wochen, ging dann von selbst oder auf Anraten des Arztes wieder nach 
Hause. 

Über ihr Verhalten will ich zusammenfassend aus meiner persön¬ 
lichen Beobachtung und aus den Krankengeschichten der medizinischen 
Klinik berichten. Fräulein G. war damals eine wohl aussehende rüstige 
Person mit geringen Altersveränderungen. Appetit, Verdauung, Urin¬ 
entleerung waren geregelt, der Schlaf bis auf zeitweilige Störungen sehr 
gut. Zwischen Nabel und Symphyse fand sich eine sehr bewegliche rechts¬ 
seitige Wanderniere; dieselbe war bei den schlaffen Bauchdecken gut zu 
fühlen, glitt leicht durch die Finger und ließ sich bis 10 cm weit hin und 
her schieben. Auch die linke Niere ließ sich palpieren und war nach unten 
verlagert, aber nur wenig beweglich. Eine auffallende Erscheinung war 
dann noch die enorme peristaltische Unruhe, man konnte schon von 
weitem das Darmgurren bei der Kranken hören. 

Fräulein G. nahm nun an, daß sie einen Frosch im Leibe habe, der 
ihr eine Menge von Mißempfindungen verursache und gegen den sie Hilfe 
bei den Ärzten suchte. Den Sitz des Tieres verlegt sie in den Magen, 
den Darm und die „Wasserblase“, sie bemerkt, wie der Frosch seinen 
Aufenthalt wechselt und oft mit großer Schnelligkeit irgendwo im Leibe 
auftaucht. Er war fast immer in Bewegung, er purzelt im Leibe herum, 
als wäre er im Neckar; er krabbelt, zappelt, kratzt, wühlt, scharrt und 
beißt. Sie fühlt deutlich, wie der feste Gegenstand im Leibe eine wirbelnde 
Bewegung macht, er kugelt durcheinander, bläst sich auf wie ein BlasbaJg, 
wie eine Kugel, schlüpft herum, macht zitternde Bewegungen; direkte 
Schmerzen verursacht er ihr, wenn er sich im Magen anbeißt oder ankrallt. 
Das Gurren im Leibe hält sie für die Töne des Tieres; wenn sie auf den 
Leib drückt, hört sie das Quaken des Frosches, „hören Sie ihn!“. Er 
knurrt besonders stark, wenn er „störrisch“ ist, zuweilen bellt er nachts 
wie ein junger Hund, von Zeit zu Zeit stößt er klagende Laute aus. Bei 
kaltem Wetter fühlt sie, daß er rauher ist, besonders spürt sie dann die 
rauhen Beine, er zappelt bei Witterungswechsel mehr, bei schönem Wetter 
wird er entschieden munterer. Seit seinem langen Aufenthalt in ihrem 
Leibe ist der Frosch gewachsen, er hat sich allmählich an die menschliche 
Nahrung gewöhnt, ja er steigt sogar in den Magen und nimmt die einge¬ 
nommenen Pulver zu sich; wenn sie Obst ißt, freut er sich, wie sie an seinen 
munteren Bewegungen merkt. Bei vollem Magen ist er ruhiger. Er hat 
seine eigene Verdauung; sie schloß dies aus der Tatsache, daß sie einmal 
Blut im Stuhlgang beobachtete. 

Die Kranke litt sehr unter der Unruhe der „Krotz“, besonders wenn 
sie dadurch nicht schlafen konnte. Sie hat schon Versuche gemacht, das 
Tier zu fangön, wenn es an die Oberfläche des Leibes kam; einmal drückte 
sie es so fest, daß sie meinte, es schneide ihr den Magen durch; als es so 
arg tobte, legte sie sich auf den Boden, schob zwischen Leib und Boden 
das Mangelholz hin und her, um es zu zerquetschen, auch durch festes 


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Hegar, 


Zusammenschnürer des Leibes mit einem Strick versuchte sie es zur Ruhe 
zu bringen, alles vergebens, sie habe sich selbst immer weher getan als 
ihm. Die Kranke suchte die Klinik auf, in der Hoffnung, daß die be¬ 
rühmten Ärzte ihr helfen könnten; sie war immer bereit, sich jeder, auch 
der gefährlichsten und schmerzhaftesten Kur zu unterwerfen, wenn 
ihr nur Hoffnung gemacht werden konnte, daß der Frosch sein Ende 
finden werde. 

Man konnte nun nicht sagen, daß die Kranke in der Behandlung 
vernachlässigt worden wäre; Generationen von Ärzten bemühten sich, 
ihr zu helfen. Gewöhnlich wurde erst versucht, ihr begreiflich zu machen, 
daß ein Frosch nicht seit Jahren in ihr leben könne; da dieVerbalsuggestion 
aber bei der Hartnäckigkeit der Idee ganz erfolglos blieb, ging man an 
die Bekämpfung des Tieres selbst. Die Kranke erhielt etwa 70 Narkotika 
und Antipyretika, die ich hier nicht aufzählen will; unsere chemische 
Industrie stand damals noch nicht auf der späteren Höhe ihrer Freigebig¬ 
keit im Zusammensetzen und Empfehlen neuer Mittel, sonst wäre die 
Zahl wohl noch größer geworden. Ich hebe nur einige hervor, so Hyoszin, 
Physostigmin, Erythroplacin, Solanin, Argentum nitricum, Kurare, Pheno- 
koll, Piperazin, Agathin, Cannabis indica. Die Pat. machte nie Schwierig¬ 
keiten, ob das Mittel schlecht schmeckte oder ihr subkutan gegeben 
wurde, ließ sich auch durch die unangenehmen Nebenwirkungen nie von 
neuen Versuchen abschrecken. Einzelnes machte einen besonderen Ein¬ 
druck auf sie, so Äther, Terpentin und besonders Methylenblau. Aber 
jedesmal kam wieder die Enttäuschung. Als die Kodische Entdeckung 
des Tuberkulin kam, was lag näher, als das Wundermittel auch gegen den 
Frosch zu versuchen! Die Kranke wurde zweimal der Kur unterzogen, 
sie bekam Fieber und fühlte sich recht elend, auch der Frosch war still 
wie lange nicht. Als es ihr aber wieder besser ging, fing er gleich an, sich 
zu zeigen, und auch diesmal triumphierte der unverwüstliche Frosch.' Es 
wurde Galvanisation, Faradisation, Franklinisatioh versucht, auch Hyp¬ 
nose und sogar Massage kam in Anwendung. Was der Kranken tatsächliche 
Erleichterung brachte, war die gelegentliche Ordination von Schlafmitteln 
und die Erlenmey ersehe Brommischung, deren Rezept sie sich bei der 
Entlassung immer mitgeben ließ. 

Über die Entstehung ihres Leidens gab mir die Kranke an, daß sie 
etwa in ihrem 50. Lebensjahre aus einem Brunnenwasser getrunken habe, 
da müsse sie den Frosch ganz klein verschluckt haben; es sei dies jedoch 
nur ein nachträglicher Schluß, gemerkt habe sie von dem Verschlucken 
nichts. Sie habe zuerst Wurmsamen genommen; als das Zappeln immer 
stärker wurde, merkte sie, daß es etwas anderes sei als Würmer. Die 
Kranke verhielt sich während der Jahre, die sie die Klinik besuchte, 
immer durchaus geordnet und bot keinerlei Eigenheiten dar. Sie war nie 
unverträglich oder erregt oder machte irgendwelche Schwierigkeiten. 
Was ihre Intelligenz betraf, so wird sie zweimal in der Krankengeschichte 


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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 343 

als geistig gut entwickelt bezeichnet; mir persönlich machte sie den Ein¬ 
druck einer beschränkten Person, jedoch konnte von einem nach außen 
deutlich hervortretenden Schwachsinn keine Rede sein. Ihr Wesen war 
freundlich, aber ohne Zudringlichkeit. Ihre Klagen brachte sie in ma߬ 
vollem Ton und ohne Übertreibung vor, dabei entbehrte sie aber bei 
Schilderung ihres Leidens durchaus nicht des Affektes. Die Stimmung 
war immer etwas gedrückt; den Unglauben der Umgebung nahm sie als 
etwas Unabänderliches hin, dem zu opponieren nutzlos wäre. Sie setzte 
immer ihre Hoffnung auf die Hilfe der Ärzte, obgleich sie auch hier eine 
Einschränkung machte; „Wenn Sie mir helfen wollen, müssen Sie mir 
erst glauben“, sagte sie mir einmal, ein andermal: „Wenn Sie mir nicht 
glauben, können Sie mir nicht helfen.“ 

Ich sprach damals öfters mit der Kranken, da ich mir nicht recht 
denken konnte, daß die Wahnidee isoliert dastelie, konnte aber nicht viel 
von ihr erfahren, nur einmal gab sie mir an, daß sie im ersten Jahre ihrer 
Erkrankung, als sie die ersten Sensationen nachts im Leibe gespürt habe, 
glaubte, ihre Nachbarn schikanierten sie, belästigten sie mit Anwendung 
von Elektrizität oder ähnliclieif Manipulationen. Sie habe Streit be¬ 
kommen und die Wohnung gewechselt; sie sei jedoch bald zur Überzeugung 
gekommen, daß das Einbildung sei, habe später nie den Grund ihres Leidens 
auf die Mitwirkung der Außenwelt zurückgeführt. Fragen über ihr Vor¬ 
leben lehnte sie bestimmt mit den Worten ab: „Darüber will ich nicht 
sprechen.“ Ich hatte natürlich damals keineVeranlassung und kein Recht, 
besondere Nachforschungen anzustellen. Als ich dies, nachdem Fräulein G. 
Pflegling unserer Anstalt geworden war, nachzuholen versuchte, zeigte es 
sich, daß in den langen Jahren manches verloren gegangen war. Ich konnte 
nur noch eine auch schon bejahrte Nichte^ausfindig machen, der ich 
verschiedene zuverlässige Angaben verdanke; außerdem fand sich noch 
ein ausführliches ärztliches Zeugnis aus dem Jahre 1874 vor. 

Eine erbliche Belastung ist nicht bekannt. Der Vater starb mit 87, 
die Mutter mit 78 Jahren; die Geschwister waren gesund. Fräulein G. 
zeigte eine kräftige Konstitution, war nie schwer krank gewesen, galt als 
talentvoll und geschickt in weiblichen Arbeiten, die eigene Schwester hielt 
sie jedoch nicht für besonders begabt. Ihr Temperament sei etwas heftig 
gewesen; sie neigte zu Putzsucht und Eitelkeit. Sie hatte ein Verhältnis, 
aus dem eine Tochter hervorging. Später stellte sich heraus, daß ihr 
Geliebter ein katholischer Geistlicher war; die Sache wurde daher zu ver¬ 
schweigen versucht; Fräulein G. verließ ihre Heimat und wurde Haus¬ 
hälterin. Erst nach Jahren kehrte sie nach M. zurück. Es wurde als 
auffällig angesehen, daß Fräulein G. ihre Tochter in den Theaterberuf 
brachte, was zu ihrer sonst vorhandenen Frömmigkeit nicht paßte. 1873 
zeigten sich die ersten Zeichen einer geistigen Störung: FräuleinG. wechselte 
ihre Wohnung, wurde streitsüchtig und boshaft. Die Periode trat nur 
noch selten ein. 1874 brach dann eine ausgesprochene Psychose aus: 


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Hegar, 


sie glaubte, die Leute sähen sie auf der Straße an, fühlte sich verspottet, 
meinte, es seien Herren in der N ähe, die sie verführen wollten, verkannte 
Personen, sah in ihren Verwandten verkleidete Männer. Schließlich 
stellte sich eine starke Erregung ein: sie lachte und sang vor sich hin, 
riß sich an den Haaren, wollte zum Fenster hinausspringen; sie wurde 
dann in die Irrenabteilung des Landeshospitals zu S. gebracht, wo sie vom 
1. 10. 74 bis 6. 7. 76 blieb und gebessert entlassen wurde.' Eine Kranken¬ 
geschichte fand sich leider nicht vor. Der Frosch wird in dem Aufnahme¬ 
gutachten nicht erwähnt; die Nichte gab auf ausdrückliches Befragen 
an, daß diese Idee mit der damaligen geistigen Erkrankung nichts zu tun 
hätte; Fräulein G. habe ihr später erzählt, sie habe den Frosch beim 
Trinken aus einem Brunnen erworben. Von der Operation, durch die der 
Frosch entfernt werden sollte, wußte die Nichte auch zu erzählen, genützt 
habe dieselbe gar nichts. 

Nach der Rückkehr aus S. lebte Fräulein G. von den Zinsen ihres 
kleinen Vernfögens in M., reiste jedes Jahr einige Wochen „zur Kujp“ 
in verschiedene Krankenhäuser und Kliniken. Im übrigen bot sie nichts 
Besonderes, ihre letzte Wohnung behielt sie fast 20 Jahre bei. 

Im Jahre 1906 beklagten sich die Bewohner des Hauses, in dem sie 
wohnte, daß Fräulein G. in ihrem Zimmer und dem Gange viel schimpfe 
und klopfe, daß sie nachts mit dem offenen Licht im Treppenhaus umher¬ 
laufe. In ihrer Wohnung fand sich eine große Unordnung und Unsauber¬ 
keit. Die Kranke kam dann zuerst in die psychiatrische Klinik zu H. 
und dann nach Wiesloch. Sie war verwirrt, sehr reizbar und mißtrauisch; 
nachts kam es zuweilen zu Erregungszuständen; es bestanden lebhafte 
Sinnestäuschungen, sie hörte die Stimmen von Bekannten, hörte rufen, 
daß der Wagen an der Bahn draußen sei, sah Leute an ihr Bett kommen; 
die Haupt Verfolger sind die früheren Hausbewohner, die sie bestehlen 
und betrügen. Auf Befragen wegen des Frosches gab sie an, derselbe 
mache ihr keine Beschwerden mehr. Ich nahm damals an, daß s’e jetzt 
dissimuliere, um in der Anstalt nicht deswegen für geisteskrank gehalten 
zu werden. Von selbst sprach sie während ihres Aufenthaltes nie davon, 
äußerte auch nie die früheren Beschwerden. Sie wurde in den folgenden 
Jahren zwar geistig klar, konnte gut Auskunft geben, hatte keine Sinnes¬ 
täuschungen und Verfolgungsideen mehr, wurde aber immer stumpfer 
und hinfälliger und schließlich ganz bettlägerig. Sie verlangte bei der 
Visite nur ihre Entlassung und öfters ein Abführmittel. Auffällig war 
bei der allgemeinen geistigen Verödung die gute Erhaltung der Merkfähig¬ 
keit, sie kannte die Namen der mit ihr verkehrenden Personen, beobachtete 
genau die Vorgänge in ihrer Umgebung und konnte darüber berichten. 
Einige Wochen vor ihrem am 18. 11. 15 erfolgten Tode sprach ich noch 
einmal in Gegenwart eines Kollegen mit ihr über ihre Wahnidee. Sie gab 
ganz klar Auskunft, sie habe an einer Wanderniere gelitten, die Geschichte 
mit dem Frosch sei ein Unsinn gewesen, den sie schon lange nicht mehr 


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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 345 

glaube. Sie erzählte auch von der Operation, die man in einem Kranken¬ 
hause zo ihrer Heilung vorgenommen hatte; man habe sie chloroformiert 
und ihr nach dem Erwachen einen Frosch vorgehalten — „ich hab’ das 
natürlich nicht geglaubt“, dabei überzog noch ein vergnügtes Lächeln die 
Züge der 87jährigen. 

Die Obduktion ergab neben hier als unwesentlich zu übergehenden 
Veränderungen, daß die rechte Niere bei Eröffnung der Bauchhöhle unter¬ 
halb des unteren Leberrandes liegt, fast in der Mittellinie; die Fettkapsel 
ist geschwunden, die fixierenden Bänder sind gelockert und schlaff, so daß 
man die Niere ohne besonderen Zug in die linke Bauchseite und unterhalb 
des Nabels hin- und herbewegen kann; die Peritonealkapsel ist mit der 
Niere verwachsen. Kelche und Nierenbecken sind stark erweitert und 
gehen in einen etwa 10 cm langen, häutigen Trichter über, der allmählich 
im Ureter ausläuft. Die Niere selbst bietet das typische Bild der senil¬ 
atrophischen Zystenniere. . Die linke Niere liegt mit ihrem oberen Pol 
unterhalb des letzten Interkostalraumes und ist innerhalb des Peritoneal¬ 
überzugs beweglich. Bemerkenswert ist, daß eine Torsion und rechts¬ 
seitige Skoliose des unteren Abschnitts der Brustwirbelsäule bestand, 
so daß dadurch eine Herabdrängung der rechten Niere von oben nach unten 
und von hinten nach vorn gegeben war. 

Bevor ich einen Versuch mache, die Entstehung der Tierillusion 
bei unserer Kranken zu erkläre^, möchte ich zwei Punkte kurz 
streifen: den nach dem Vorkommen derartiger Illusionen und 
Halluzinationen überhaupt und dann die besondere Psychotherapie 
die auch in Laienerzählungen eine Rolle spielt. Sehr häufig sind 
die Tierphantasmen nach meinen Erfahrungen nicht. Noch am 
meisten trifft man sie bei Katatonikern, aber immer neben zahl¬ 
reichen Halluzinationen auf andern Sinnesgebieten. Der Kranke 
fühlt und sieht massenhaft kleine Tierchen, Schnacken, Würmer, 
Käfer, vorzugweise im Essen, aber auch in den Abgängen, im 
Speichel, auf der Haut, in den Ohren. Die Wahnvorstellungen 
sind viel flüchtiger, wirken lange nicht so aufreizend auf die 
Stimmung des Kranken wie die Gehörstäuschungen, sie werden 
kaum systematisch verarbeitet; nach einigen Monaten findet man 
oft nichts mehr von denselben vor. Im allgemeinen bedeutet ihr 
Vorhandensein schon einen ziemlichen Grad von Verworrenheit. 
Noch seltener sind die isolierten Vorstellungen eines Tieres, hier 
kommen hysterische und hypochondrische Psychosen in Betracht; 
die Tiere sind schon größer und treten zu bestimmten Organen in 
Beziehung, wie zum graviden Uterus, zu Tumoren, z. B. Magenkrebs; 

Zeitschrift für Psycl^Utrie. LXXV. 8. 24 


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l 


Hegar, 


im Gehirn sitzt ein Vogel oder eine Grille, die ständig eintönig 
singen, die Därme erscheinen als Schlangen n. ähnl. Von 
Fröschen im Leib wird öfters in der Literatur berichtet. Daß eine 
Wanderniere als Tier aufgefaßt wurde, konnte ich nur einmal 
finden: bei Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie (1890) 
wird diese Vorstellung als fixe Wahnidee bei paranoischer Hypo¬ 
chondrie kurz erwähnt. 

Es ist verständlich, daß bei der Behandlung derartiger Indivi¬ 
duen entsprechend der Hartnäckigkeit ihres Wahns auoh zu 
kräftigen Mitteln gegriffen wurde. Je schärfer die Wahnvorstellung 
ausgeprägt war und je größer das Tier, desto augenfälliger mußte 
der Apparat sein, mit dem man den Wall der kranken Logik zu 
sprengen suchte. Es kam dadurch zu den bekannten Schein¬ 
operationen, deren Nutzlosigkeit eigentlich vorauszusehen ist. 
Esquirol erzählt in seinem Lehrbuch (1836) unterhaltende Beob¬ 
achtungen. Die in der Krankengeschichte unserer Patientin er¬ 
wähnte Operation zeigt, daß auch noch in unsera Tagen derartige 
psychologische Fehlgriffe gemacht werden. 

Es handelt sich bei unserer Patientin um eine unbelastete, 
wohl nicht sehr begabte Person; eine gewisse körperliche und 
geistige Rüstigkeit dürfte ihr trotz der späteren psychotischen Er¬ 
scheinungen nicht abzusprechen sein. Aus ihrem Lebensgang ist 
nichts Besonderes hervorzuheben. In ihrem 47. Jahre 'zusammen 
mit klimakterischen Symptomen brach eine Psychose aus mit Be¬ 
wußtseinstrübung, Sinnestäuschungen, Verfolgungsideen und Er¬ 
regungszuständen. Über den Verlauf sind wir nicht weiter unter¬ 
richtet. Es trat nach etwa zwei Jahren offenbar eine weitgehende 
Besserung ein; 32 Jahre später kam es dann zu einer neuen 
Störung in Form eines typischen senilen Verfolgungswahns, der 
auch wieder abklang. Von Wichtigkeit ist für die ganze Be¬ 
urteilung die Prüfung, wie sich die Kranke in der Zeit zwischen 
den beiden Anfällen verhalten hat. Sie lebte selbständig, kam 
nicht mit den Anforderungen des Lebens in Widerstreit; ihr äußeres 
Auftreten hielt einer Prüfung stand. Ich glaube ihr langes Ver¬ 
weilen in nicht für Geisteskranke bestimmten Krankenhäusern 
wäre nicht möglich gewesen, wenn bei ihr die Eigentümlichkeiten 
bestanden hätten, wie sie meist nach schweren Psychosen zurück- 


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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 347 


bleiben, wenn noch latente Verfolgungsideen mit Stimmungs¬ 
schwankungen und Reizbarkeit ihr Verhalten bestimmt hätten. 
Wir können als sicher nur das feststellen, daß Fräulein G. eine 
etwas abgestumpfte Persönlichkeit war, [daß sie vdn einer ver¬ 
einzelt dastehenden Wahnidee, die ja schon allein für eine Schwäche 
des Urteilsvermögens sprach, beherrscht wurde und daß diese — 
ein genauerer Zeitpunkt läßt sich nicht angeben — in ungefährem 
zeitlichen Zusammenhang mit einer überstandenen geistigen Er¬ 
krankung stand. 

Wenn ich nun versuche, die psychische Störung der Kranken 
in die uns geläufigen Krankheitsbilder einzureihen, so geht es mir 
wie einem, der zwei ungleiche Schachteln ineinander verpassen will, 
eine Seite steht immer vor und der Deckel läßt sich nicht schließen. 
Von den in Betracht kommenden Krankheitsgruppen tritt uns zu¬ 
nächst die Hysterie entgegen. Die Kranke wurde mehrfach als 
hysterisch bezeichnet. Abgesehen nun von dem Fehlen aller 
sonstigen Symptome — an eine Hysteria monosymptomatica 
glaube ich nicht — spricht besonders der Umstand dagegen, daß 
ihre Sensationen nicht wie die der Hysterie völlig irrige waren, 
sondern daß ein pathologischer objektiver Befund vorhanden war; 
auch wäre der immer gleich bleibende Verlauf für eine Hysterie 
auffallend. Viel näher liegt die Diagnose Hypochondrie: die 
Kranke beobachtet sich gespannt, sie leidet sehr unter ihren Organ¬ 
empfindungen, bleibt in ihrer Deutung unbeeinflußbar trotz großer 
Behandlungsbedürftigkeit. Bei dem abgegrenzten Bilde könnte 
man die Bezeichnung zirkumskripte Hypochondrie r ) wählen. Zur 
Hypochondrie gehört jedoch noch ein etwas stärkerer Anteil von 
neurotischen und affektiven Begleiterscheinungen, als in unserem 
Falle vorhanden ist; auch paßt die wunderliche groteske Wahn¬ 
idee nicht hierher. Die zur Paranoia gehörige paranoische Hypo¬ 
chondrie können wir ausschließen, da ja jeder weitere Ausbau im 
Sinne der Verfolgung fehlt. Wir werden^ schließlich uns mit der 
Diagnose: fixe Idee begnügen müssen. Wieviel Selbständigkeit 
wir dieser Bezeichnung zuerkennen können, hängt eng mit der 
Frage nach der Entstehung der Wahnidee zusammen. Griesinger 

x ) Neißer, Archiv f. Psych. Bd. 36. 

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Hegar, 


bezeichnet die Monomanie immer, als eine sekundäre Erkrankung: 
es verbleibt, aus Melancholie, oder Manie herausgebildet, eine fixe 
Wahnvorstellung bei einer abgestumpften Persönlichkeit, nicht etwa 
der vorige Mensch plus dem einzelnen Irrtum. Schule 1 ) meint, 
daß im Stadium der sekundären Verrücktheit in einzelnen Fällen 
die fixe Idee nicht assimiliert wird, sondern sie bleibt als Se¬ 
quester im Bewußtsein zurück, welches, unfähig zur kritischen 
Vernichtung, das wichtige Format abgekapselt in sich bestehen 
läßt. Der fixierte Wahn kann aber wieder beweglich werden und 
sich zum Zentrum einer neuen Person entwickeln, die ein Doppel¬ 
leben führt und, obgleich in ihrer Gesamtheit krank, gesund er¬ 
scheint, solange der Wahn nicht berührt wird. Beiden Autoren 
nähert sich auch Kraepelin, indem er betont, daß solche Ideen 
auf die Dauer nur das Übergewicht erhalten können, wenn eine 
Umwandlung der Gesamtpersönlichkeit oder eine krankhafte Ver¬ 
ödung des geistigen Lebens eingetreten ist. Die Verbindung mit 
der früheren Psyehose wäre bei unserer Kranken gegeben, wenn 
wir annehmen, daß die Wahnidee aus dem Kreise ihrer früheren 
krankhaften Vorstellungen stammte, oder daß ihre Urteilskraft 
durch die überstandene Geisteskrankheit so geschädigt war, daß 
sie einem absurden Gedanken keinerlei Gegenvorstellungen mehr 
entgegensetzen konnte. Das erstere können wir nun nicht sicher 
behaupten, da wir zu wenig über den Anfall wissen; zur Annahme 
des letzteren kann ich mich nicht recht entschließen, da mir die 
Kranke in ihrem geistigen Bestände nicht so stark verändert 
oder herabgemindert erschien, um einen psychotischen Schwäche¬ 
zustand anzunehmen. Die Einreihung des Krankheitsbildes als 
zirkumskripte Autopsychose im Sinne WernicJces würde am 
wenigsten Schwierigkeiten machen, aber auch hier läßt sich nicht 
alles den aufgestellten Bedingungen einordnen. Es fehlt die Er¬ 
innerung an ein affektbetontes Erlebnis, es fehlt die Ausbildung 
des Beziehungswahnes, wozu doch bei der langen Dauer des Be¬ 
stehens der überwertigen Idee und dem günstigen Boden genügend 
Gelegenheit war. 

Immerhin gestattet die Lehre Wernickes eine Anl ehnung und 

*) Geisteskrankheiten. 1878 


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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 349 

■die Möglichkeit, an ein ganz selbständiges, ohne Zusammenhang 
mit der früheren Erkrankung sich entwickelndes Krankheitsbild 
zu denken. Man wird sich die Frage stellen, ob nicht hier ein 
Fall vorliegt, in dem um eine primär aufgetretene Wahnidee 
eine Psychose entstand, deren einziges Symptom diese Vorstellung 
geblieben ist. Wir wissen, daß die Kranke eine Wanderniere besaß 
mit einer nicht häufig vorkommenden Beweglichkeit. Es handelte 
sich also bei ihr um ein chronisches körperliches Leiden mit mehr 
oder weniger freien Zwischenzeiten. Die Entstehung liegt sicher 
ziemlich weit zurück, aber erst die Menopause mit ihrer Veränderung 
des Seelenlebens, mit ihren nervösen Beschwerden und Mißemp¬ 
findungen brachte der Kranken zum Bewußtsein, daß sie eine Ge¬ 
schwulst im Körper hatte, deren Wirkungen sie um so mehr beun¬ 
ruhigten, als sie keine rechte Erklärung dafür fand und erhielt, 
wie es vielfach bei diesen Leidenden der Fall ist. In den kurzen 
Bemerkungen, die die Lehrbücher über die Psychologie der mit 
Wandernieren Behafteten bringen, finden wir übereinstimmend her¬ 
vorgehoben, daß die Kranken „Symptome der Hypochondrie und 
Hysterie“ haben, daß sie an allgemeiner Gemütsdepression und 
krankhafter Empfindlichkeit leiden, selbst wenn die lokalen Be¬ 
schwerden nicht sehr groß sind. Bei unserer Kranken haben wir 
nun einen' ganz ausgebildeten Symptomenkomplex. Der Niere ist 
es möglich, in einem großen Bezirk des Bauches sich fast frei zu 
bewegen, sie begleitet jede Bewegung des Zwerchfells und der 
Därme, die schlaffen Bauchdecken bieten keinerlei Widerstand; 
die Nierfc sefbst kann sich um ihre Achse drehen, sie folgt dem 
Druck und dem Füllungsgrad der benachbarten Organe, verursacht 
Kompressionen und Insulte entgegenliegender Darmteile. Die er¬ 
höhte Peristaltik der Därme ist eine vielfach beobachtete Begleit¬ 
erscheinung der Wanderniere. Es kommt zu Zerrungen der zur 
Niere führenden oder ihr benachbarten Nervengeflechte. Bei der 
Kranken hat sich eine Hyperästhesie der Darmnerven herausge¬ 
bildet. Wenn auch ausgesprochene Schmerzattacken nicht beob¬ 
achtet wurden, so kam es wohl'auch zu Knickungen des Ureters 
mit akuter Hydronephrose; die merkwürdige Angabe der Patientin, 
daß der Frosch auch in die Wasserblase komme, deutet auf Stö¬ 
rungen der Urinentleerung. Wir müssen bedenken, daß die Organ- 


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350 H e g a r, Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 

empfindungen unter normalen Verhältnissen unbestimmt und von 
geringer Intensität sind; der erschreckende Eindruck, den das auf¬ 
dringliche Erscheinen eines gewissermaßen wild gewordenen Körper¬ 
teils macht, kann daher auch auf eine unversehrte Gemütssphäre 
nicht hoch genug eingeschätzt werden. In ihrem Kansalitätsbe- 
dürfnis dachte die Kranke zuerst an Würmer, um dann im Tier¬ 
reich etwas höher zu steigen. Unterstützt wurde sie durch die 
im Volk sehr beliebte abergläubische Vorstellung, daß man beim 
Trinken am offenen Brunnen leicht Frösche verschlucke. Damit 
war für ihren einfachen Sinn die genügende Erklärung da, „der 
illusorische Erkenntnisakt war vollzogen“, wie Schule sich aus¬ 
drückt. Ihr Wahn ist die langen Jahre etwas ein für allemal 
Fertiges geblieben, er beschränkte sich auf wenige Umdeütungen 
der von der Niere ausgehenden Empfindungen; assoziative Be¬ 
ziehungen zu andern Vorstellungen traten nicht ein. Als mit dem 
zunehmenden Alter, wie gewöhnlich, die Beschwerden der Wander¬ 
niere verschwanden, als die intensiven Reize nachließen, trat auch 
die Korrektur des Wahnes ein; ich glaube jetzt, daß die Kranke 
in den letzten Jahren ihres Lebens davon genesen war. 

Im Kern des ganzen Krankheitsbildes waltet Dämonomanisches. 
Aber nicht ein von außen kommender finsterer Geist quält die 
Kranke, sondern ein Teil ihres eigenen Leibes nimmt die Gestalt 
eines sonst harmlosen Tieres an, das ihr erbittertster Feind wird, 
gegen den sie vergeblich den großen Apparat der medizinischen 
Wissenschaft aufbietet. In der so scharf begrenzten Entstehungs¬ 
weise des Wahns auf Grund eines körperlichen Kraftkheitszu- 
Standes beruht die Unfähigkeit zur Ausbildung eines ausgedehnten 
Verfolgungswahns; alles spricht für die Selbständigkeit der Psychose. 
Wollen wir ihr einen Namen geben, so halte ich die Bezeichnung 
isolierte fixe dämonömanische Wahnidee für die geeignetste. 



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Uber induzierten religiösen Wahn und eine Hexen¬ 
glaubenepidemie 1 ). 

Von 

Wilhelm Mayer (Tübingen-München). 

Nichts beleuchtet besser den Seelenzustand eines großen Teiles 
der jetzigen Bevölkerung als der kürzlich veröffentlichte Erlaß eines 
bayrischen stellvertretenden Generalkommandos, in dem hypnotische 
Vorführungen, in denen besonders die Geister der auf dem Felde Ge¬ 
fallenen zitiert werden, als verboten erklärt werden. Allerorts greift 
das Suchen nach dem Bekanntwerden mit übersinnlichen Gewalten 
um sich (siehe das Anschwellen der theosophischen Bewegung), aller¬ 
orts hören wir vom Auftauchen mehr minder zweifelhafter Persönlich¬ 
keiten, die sich mit Wahrsagen, mit Prophezeiungen usw. befassen. 
Letzten Endes spielt dabei die Ungeduld einer großen Menge nicht 
nur sogenannter ungebildeter Menschen eine Rolle, etwas über die 
zukünftige Gestaltung des Lebens, vor allem etwas zu erfahren über 
das Schicksal der Angehörigen, die im Kampfe stehen. So sehen und 
hören wir allerorts, aus mündlichen Erzählungen, aus Zeitungsnach¬ 
richten, wie die Aufmerksamkeit z. B. elftes Dorfes sich auf Persönlich¬ 
keiten richtet, die im Geruch stehen, Besonderes zu vermögen; wir 
hören, wie z. B. in einem Dorf in einem Hause sich merkwürdige spuk¬ 
artige Dinge zugetragen haben sollen, wie ehrfürchtig staunend die 
Bewohner das Haus umstehen, für sich etwas zu erfahren trachten, 
wie sich ein Zeitungsstreit daran anschließt, wie Psychologen hin- 
reisen und den Unwillen der Bevölkerung erregen, da sie durch eine 
tatbestandsdiagnostische Untersuchung das Ganze als Unfug erklären; 
wir hören, wie allerorts Betrüger sich als Wahrsager etablieren und 

D Aus der psychiatrischen Klinik Tübingen; Vorstand Prof. Gaupp, 
Geschrieben 1917. 


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352 


Mayer, 


besonders in der Großstadt (ich erinnere nur an die Zeitungsinserate 
Pariser, aber auch Berliner Zeitungen) einen Kreis bekommen. 

Daß gerade hier bei uns in Württemberg unter der von jeher 
stark mystisch-spekulativen Bevölkerung der Aberglaube während der 
Kriegsjahre zugenommen hat, war zu erwarten, und wenn das nicht 
an einer Fülle konkreter Beispiele immer gezeigt werden kann, so 
liegt es in der Natur der Sache. In der Sprechstunde sieht man das 
weniger. Nur, wenn starke hysterische Erscheinungen sich bemerkbar 
machen, nur wenn die Angelegenheit einen forensischen Beigeschmack 
bekommt, wird die Klinik oder Poliklinik konsultiert; so bekamen 
wir u. a. ein junges Mädchen zu sehen, um das sich während des Krieges 
die Dorfbewohner scharten, weil es merkwürdige Zuckungen bekam, 
weil es wahrsagen konnte, und weil bei ihm unter allerlei geheimnis¬ 
vollen Andeutungen das Haupthaar verschwand; die Untersuchung 
bestätigte den Verdacht, daß es sich um eine schwere infantile Hysterie 
mit richtigen Anfällen handelte, und daß das Haar von der Kranken 
selbst abgeschnitten war, die auf sehr energische Behandlung bald wieder 
unter den „Normalmenschen“ des Dorfes verschwand. Einen anderen viel 
krasseren Fall sahen wir einige Zeit später; ihm 1 soll der Hauptteil 
dieser Abhandlung gelten; er ist besser untersucht, leuchtet mehr in 
die Psychologie eines Dorfes, ist psychiatrisch nicht uninteressant und 
ist wiederum mit einer uns durch eine Chronik bekannten und volks¬ 
psychologisch interessanten Hexenglaubenepidemie verquickt. 

Im September 1917 schrieb der Ortspfarrer aus einem württem- 
bergischen Dorfe W. $n die Klinik, daß in seiner Gemeinde ein lOjähriger 
Junge sei, der viel von sich reden mache. Er leide an somnambulen Zu¬ 
ständen, habe manches richtig prophezeit, spreche eine merkwürdige 
Sprache, mache auf die Leute im Dorf, einen großen .Eindruck. Die Sache 
sei ihm aber nicht geheuer, und er wäre dankbar, wenn man den Jungen 
einmal auf kurze Zeit aufnehmen wollte. Die Lenrerin, die ihn brachte, 
wußte oder wollte wenig Anamnestisches wissen; sie hatte wohl Angst, 
es könne ihr schaden. Es war nichts von ihr zu erfahren. 

Der körperlich gesunde, kräftige Junge wurde am 21. 9. 17 in die 
Klinik aufgenommen. Er weinte anfänglich stark, war stark von sich 
überzeugt, fühlte sich als wichtige Persönlichkeit, machte einen pfiffigen 
Eindruck; erzählt flott, fühlt sich bald heimisch, bekommt aber bald im 
Bett einen seiner sogenannten Anfälle; er setzt sich plötzlich auf, stiert 
starr nach der Decke, zeigt mit einem Finger hinauf und ruft halb pathe¬ 
tisch, halb ängstlich: „Jetzt kommt er, jetzt kommt er!“ Da die Um- 


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Ober induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 353 

gebung etwas lacht und ihn zurechtweist, gibt er gleich den Zustand 
auf, läuft einige Male ängstlich im Zimmer auf und ab, wird in ein Bad 
gebracht; dort wird ihm die Suggestion erteilt, daß er ganz heile, wenn 
er jetzt ein Bad nehme. Nach einer Viertelstunde kommt er aus dem Bad 
in sein Zimmer, strahlend „jetzt bin ich gesund“, „jetzt ist alles aus mir 
heraus“. Zu seiner Anamnese gibt er selbst nun folgendes an: 

Er sei 10 Jahre alt; gehe in die Volksschule in W. Mit dem Lernen 
gehe es nicht so recht; das Rechnen besonders falle ihm schwer. Sein 
Vater sei am 1. Juli 1916 im Felde gefallen; das habe er ganz genau voraus¬ 
gesagt, und so sei es auch eingetrolTen. Ein halbes Jahr vorher habe er 
schon immer gesagt, daß der Vater an einem Kopfschuß auf Posten fallen 
werde. Das habe ihm während eines Gebetes sein „Führer“ gesagt; den 
„Führer“ sehe er oft; das sei ein weißer Engel. Als der Vater gefallen sei, 
habe man (das bestätigte auch die Lehrerin) aus dem Felde einen Brief 
bekommen, daß er an einem auf Posten erlittenen Kopfschuß gefallen sei. 
Mit der gesunden Mutter stehe er sich gut. Er habe noch eine Schwester 
von.6 Jahren, die aber nie so etwas wie er erlebt habe. Seine Mutter 
sei sehr fromm, ginge viel in die Kirche, noch mehr aber in die „Stunde“ 
(religiöse Sektenversammlungen). Die Mutter habe ihn schon als kleines 
Kind mitgenommen, da habe er schon von dem Hexenprozeß gehört, 
der vor vielen Jahren in W. gespielt habe. Jedesmal, wenn er seine „An¬ 
fälle“ gehabt habe, hätte ihn die Mutter mit in die „Stunde“ genommen. 
Da sei die Bibel für den Jungen ausgelegt worden, man habe viel vom 
Antichrist gesprochen, er habe nicht alles verstanden; die Anfälle hätten 
in der Stunde immer aufgehört. Weil er solche Anfälle habe, hätten ihn 
die Leute in der Stunde gut leiden mögen. An diesen Anfällen 
leide er seit ein paar Jahren. Sie kämen oft einmal, oft aber auch bis zu 
sechsmal am Tage. Es krampft ihn in der Herzgegend, er falle hin; wenn 
er dann bewußtlos sei, komme sein „Führer“, ein Cherubim, zu ihm, 
der habe ein weißes Gewand und goldenes Haar. Dann müsse er laut 
sprechen und beten; die Mutter ruft dann die Leute aus dem Dorfe. Dann 
habe er auch einmal gesagt, daß sein Vater an einem Kopfschuß fallen 
werde. Seitdem hätte er immer über das, was mit den Leuten im Dorfe 
geschehe, reden müssen. Im Juli 1917 habe ihm sein „Führer“ im Anfall 
gesagt, er solle zu seiner Tante gehen, sonst müsse er bestraft werden. 
Er sei hingegangen und habe dort erfahren, daß eine Kuh und ein Schwein 
krank seien. Da sei er in einen Anfall gefallen, habe im Anfall 
einen Sack vergraben, damit die Tiere gesund würden, und habe gebetet. 
Am nächsten Tage seien die Tiere gesund gewesen. Das habe sich gleich 
im Dorfe herumgesprochen. Die Leute hätten dann den „Führer“ gerühmt 
(den Engel nenne er auf dessen Befehl Führer). Mit seiner Mutter sei er 
wegen der Anfälle schon in ... (Gesundbeteanstalt) und bei einem Herrn 
St... gewesen; genützt habe aber auch hier das Beten nichts. 

Diese Angaben macht der nicht intelligente, aber sehr schlaue und 


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pfiffig Ju^ägr' sehr ibfelintsaptrn'daßWts ^ Bi’pdruck hier direkt. 

Kun?äi*afi?*rt«'njf Angabe *Ij»s pjForreris ii(jr Öe... 

jinHödeK/.-ErkAt iü«d- weil •ö'?etgisäi 

\nkitU Kratddiafte. 1 *mehr geboten. Die Mutter 
k«>e taten t\i>- u'n-'ht vfiviK 9O.0' z-U'h aut, wie vm».• svojmisehen war, 

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handeln. 


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Wi. Mit; und iwieres.ssnt war. was de/ Pfarrer der Gemeinde. der den 
Jungen hier besucht#,. iifeer de* Pak '«»d irtsbeKOuder« tlbvr die Zustande 
»ns irtil tt-flie. • • Bei* Pfarrer bra-hlt auch. 2 Büem-/ mH. »n die 

Jungt- im Anfc-il a« «o<:5j. und die •von.der Moüur und .von einer Rodt e von 
Lauter, im Dorf $),* -o Uvea* wie ein*-- hedig* Gdrministhrfft angesGiv« 






Ober intioiit»rt**« rtügjtös«» Wahn und ein»« Hexdngl&tibenojndeflii*’ 


rers\ eöifchidi, * bringo ich hier*lfe |?b<;‘tograjkWt* zwier 
nichts zexgnü *;d».bui a&samm.enhaflgloscs öiscbreibj:ai ^ 

B*£Pfaei*r m&äifs au>fi verberge m Dq>*C aUee y<ir «hm; wett;» eWras 
Bcsondeffts ««*,' ia,u& abe;? in «jn btmadhbiirtes D«H zum .He^ühaimer ;*i 
ln der Gemeinde sei Viel AWgiat&ef«.- • Die Mutter dee Pal. *t’i besonds-» 
dumm und Ä&et’giänidsrh: 4ns läge« so in der Farnihe. Man spräche <n <Jte? 




fpSpS 


Co« gle 


Origiqa'l'fröm;: 

Ä^ERSfaY Öf&illG 





356 


Mayer, 


scher Stimme und starren Augen gepredigt; meist seien es Bruchstücke 
aus der Offenbarung Johannis gewesen. Zahlen über die Dauer 
der Welt (restlos der Offenbarung Johannis entnommen) hätten eine 
Rolle gespielt. Da die Äußerungen des Jungen in diesen Zuständen ihn 
interessiert hätten, habe er die meisten stenographisch aufgezeichnet. 
Ich bringe hier einen Teil des Stenogramms: 

Gespräche des E. B. mit Geistern nach stenographischer Nieder¬ 
schrift des Pfarrers in der Zeit vom 11. 9. 17 an: 

Mamme, lies Psalm 76. — Jetzt müßt ihr 2 Tage da bleiben. Hände 
Zusammenlegen. Das gibt’s nicht, dort hinaus! Ich brauche dich jetzt 
noch nicht. Her ihr 2! Der andere soll auch kommen. Die dürfen erst, 
wenn die fertig sind, kommen. Dann tu ich kein Amt für euch, wenn 
ihr die Hände nicht zusammenlegt. Jetzt die Hände so! (Zur Mutter:) 
Psalm 76! Hände zusammen lassen! Ich jage euch noch fort. (Er springt 
zum Bett heraus.) 

Wieder im Bett: Du schwarzer Satanas, weich im Namen Jesu! 
Der ist mir widerspenstig. Du kannst auf die Gasse hinaus. Ihr könnt 
dableiben. Zu wieviel seid ihr ? Zu 7 ? Wie heißt du ? Daumenfinger 
übers Kreuz. 

(Kommt an die Kommode mit geschlossenen Augen:) Das Buch, 
das schwarze! 

(Er fängt an zu schreiben, rennt wieder davon.) 

Pfarrer: Wo hast du das Buch gekauft? Bei A. . . . 

Er: Psalm 96! Pfarrer: Hast du mich gemeint? Ja! 

Die Schwester kommt ins Zimmer. Er rührt sich nicht. Macht 
dann eine wegwerfende Gebärde. Sie geht. Er öffnet halb die Augen. 

Im Nebenzimmer: Heute nacht 12 Uhr. In 3 Tagen. Morgen in 
8 Tagen dürft ihr kommen. Allemal 3, weiter nicht. Die andere W T oche 
um 7 Uhr. Das sind die 7 Sakramente. Fällt auf den Boden. Wacht auf. 
*,Schon vorbei!“ 

Mamme, ich nehm ihn nicht an. Warum plagt er mich so? Er 
schmeißt den Rechen um und schlägt den Laibschießer aufs Hirn. 

Pfarrer: Was hast du geschrieben? Antw.: Ich weiß nicht. Mutter: 
Was hat er denn gesagt? Antw.: Der Herr Pfarrer wird belohnt. M.: 
Darf der Herr Pfarrer nicht wissen, was darin steht? Antw.: Er wird’s 
schon noch erfahren, es wird noch alles gelesen. Mamme, ich sage meinem 
Führer, ich nehme ihn nicht an. 2 Schwarze sind gekommen. 

Er rennt zur Treppe, die er im Nu hinabspringt. Pfarrer nachher 
zu ihm: Auf einmal fällst du noch hinunter. Antw.: Nein, ich falle nicht, 
mich hütet stets ebber. Pfarrer: Ist dir nicht übel. Antw.: Jetzt ist mir 
ganz wohl, aber nachts habe ich Schmerzen. Heute nacht um 42 Uhr ist 
ein Engel gekommen. Ich habe die Mutter nicht geweckt. 3 Geister, die 
haben eingehen dürfen. Ein Geist ist in einer Wolke hinauf. Das ist 
feierlich gewesen. Oben steht: Unser Vater in dem Himmel oben an der 


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Ober induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 357 

Himmelstör. Dort haben sie hineingedürft. In ein schwarzes Kämmerlein, 
und dann in eine Stube, so groß wie Stuttgart. Lauter Bücher, groß 
und breite. Immer 3 werden in ein Buch geschrieben. 

Pfarrer: Sag mir, was hast du geschrieben? Antw.: Wenn mein 
Führer kommt, kann ich es lesen. Er kommt jetzt nicht, er ist schon das 
Tal hinunter, hinter ihm flattert ein Band, da steht: in den Krieg. — Herr 
Pfarrer, kommen Sie immer um 7 Uhr. Dann dürfen sie es sehen. Das 
ist mir gesagt worden. Frau Pfarrer soll auch kommen. Das ist eine 
fromme Frau, hat der Führer gesagt. 

Die Mutter fängt an zu weinen, der Anfall kommt wieder. 

Am 13. Sept. E. ruft: Psalm 105 beten! Was wollt ihr beten?. Das 
wieder: Jesus nimmt die Sünder an? Guck, ihr könnt’s. Keiner Gnade 
sind wir wert. Sagt’s alle mit einanderher. So so. Wenn ihr nicht beten 
tut, müßt ihr fort, dürft nicht mehr kommen. Ihr wißt, daß ich einge¬ 
schrieben bin, daß ich dazu geboren bin zu dem Heil. So jetzt das Vater¬ 
unser. So weiter, schön die Hände Zusammenlegen. Ihr dürft alle Tage 
kommen, bis euch Gott ruft. Fest beten (wie im Ärger): Psalm 105 beten! 
Mutter liest Psalm 105. Er ruft: Ps. 110. Mutter liest. Wollt ihr nicht 
mehr beten? Jetzt sagt mir: seid ihr etwas Gutes? Sagt die 3 höchsten 
Namen. Kannst du das sagen: Gott der heilige Geist. So. Du auch! Noch 
einmal du! Gott der Vater, der Sohn und der h. Geist. Amen. 

Woher bist du? Von Berlin! Du auch von Berlin? Du von Stutt¬ 
gart! So, was habt ihr angestellt? Was ihr angestellt habt? Sonst 
dürft ihr nicht mehr kommen. Was hat er dir getan, warum hast du dies 
Kind gemordet? Was hat es zu leid getan? Du hast denkt, daß es 
nicht da wäre, daß es nicht Kummer trage. Meine Mutter muß auch 
Kummer tragen. 

Du bist ein Buchhalter. 5 Kinder und eine Mutter. Warum hast 
du der alles aus dem Hals gezogen? Was hast jetzt von deinem Geldsack? 
So daß du viel Geld hast! Warum ... jetzt ein paar Briefe in einem unter¬ 
irdischen Gang im Keern (Keller). 5 Briefe, da will ich nachgucken. Wo 
liegen sie? Soll ich nachgeben? Dann will ich herausfinden, was das 
heißt. So, das heiß ihn. Deswegen bist so wüst gegen mich. Gib Antwort! 
Hast noch Geld darin? Aufmachen! Wieviel Mark sind drin? 35. Was 
hast du mit dem Geld gewollt ? Nicht genug mit deihem Lohn. So in den 
Himmel kommen? 

Du hast 2 Männer gemordet? Du und dein Bruder? Den bringst 
morgen mit. Um y 2 4 Uhr. Wenn der Herr Pfarrer nicht da ist, nicht 
bringen. Warum dann nicht kommen? Ist das ihr Begleiter, daß ihr 
kommen könnt? Warum dürft ihr dann nicht kommen? So weil er 
fromm ist. Das ist ein jeder Pfarrer. Wenn er nicht fromm wäre, hätte 
er kein Menschenherz. Nichtin Himmel. Bin ich nicht fromm ? Ja, wenn 
ich fromm bin, braucht der Pfarrer nicht immer da herlaufen und sich 
plagen. Die andere Woche, um 7 Uhr, so? So lange bleiben wir nicht 


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Mayer, 


mehr, das steck ich auf. Dann will ich ins Bett. Ich bin müde. Das gibt’s 
nicht mehr. Warum um 12 allein, ohne Pfarrer? Weil’s Nacht ist Das 
muß ich nicht wissen. Dann steck ich mein Sach auf. Raus mit der Färb. 
So weil euch da ... Jetzt müßt ihr wieder fort? Aber zu mir selber will 
ich kommen. Fort dürft ihr nicht. 

Wollt ihr nochmals beten. Wenn möchtet ihr in Himmel kommen, 
dann will ich’s meinem Führer sagen. Ich will ihn fragen, wenn ich bei 
mir selber bin. Jetzt laßt mich zu mir selber kommen. So, dann müßt 
ihr fort. Du Schwarzer: Gott hilft. Albert sag’s du. 

Pfarrer wurde am Samstag den 15. geholt. Als er kam, spricht 
E. das Lied: Jesus nimmt die Sünder an. Nachher: Mamme, sie sprechen 
aus mir heraus. Sjeite 119 in der Bibel. Nimm sie zu dir, wenn‘s nur in 
ein Kämmerlein tust. Nimm sie doch gnädig an, sind doch auch deine 
Schäflein gewesen. Sei so gut, gieb ihnen Gnade, sprich nur ein Wort, 
das ist dir ein kleines. Und wirf sie nicht in die ewige Verdammnis. Du 
kannst, jetzt kann auch dieses Wenden. Christi Blut und Gerechtigkeit 
usw. — Herr meinen Geist befehl ich dir, mein Gott weich nicht von mir, 
nimm mich in deine Hände. Die göttlich Kraft macht uns sieghaft durch 
Jesum Christum. Amen. 

Seite 154. Jetzt morgen dürft ihr eingehen. Morgen nimmt euch 
Gott an. Dann dürft ihr nicht mehr in solchen Pfuhl gucken. Er betet: 
Herr sprich nur ein Wort, so ist es schon getan. 

Mutter liest Seite 154. Es klopft lang und stark. E.: H^rr Pfarrer. 
Sie sollen getrost sein, es sei nichts Böses. 

Mit ganz veränderter Stimme: Du sollst glauben und nicht zweifeln 
an Gottes Wort. 

Mamme ist der Herr Pfarrer fort? Da lauft er unter deiner Hand 
durch. Wer? Hermann heißt er. 

Zum Pfarrer: In ihrem Keller ist etwas verborgen. Sind 27 Geister 
drunten. Und die kommen raus. 

Der Anfall kommt wieder. Wühlt im Bett. Schlägt an ein Gruppen¬ 
bild mit geschlossenen Augen, auf die Bilder der im Kriege Gefallenen. 
Er weint. 

Der Junge wurde hier, von seinen Anfällen geheilt, nach kurzer 
Zeit entlassen. Vom Schultheißen, der mit argem Zorn auf derartige 
Dinge in der Gemeinde schaute, erfuhren wir hinterher, daß die Mutter 
des Pat. vor einem Jahre im Dorfe auf freiem Felde ein Sofa ver¬ 
brannt hätte, weil es verhext gewesen wäre. Kurze Zeit nach der Ent¬ 
lassung schrieb der Pfarrer, daß der Junge nun keine Aufregung ins 
Dorf bringe, daß aber schon wieder eine andere Sache „los“ sei, daß 
nämlich eine Frau aus abergläubischen Vorstellungen heraus ihr Kind 
als Holzscheit ins Feuer habe werfen wollen. 


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Ober induzierten religiösen Wahn and eine Hexenglaubenepidemie. 359 

Es war nun sehr interessant, zu verfolgen, daß in dem gleichen 
Dorfe 19 Jahre zuvor eine Sache spielte, die damals großes Aufsehen 
erregte, die zu einem Gerichtsverfahren führte, und die besonders 
kraß den Aberglauben dort aufdeckte. Es handelte sich um eine 
Hexenglaubenepidemie. Ich habe nun versucht, die damaligen Ge¬ 
richtsakten zu bekommen, um ein Bild von der ganzen Angelegenheit, 
die noch im Munde vieler in jener Gegend ist, zu bekommen; es war 
vergebens; die Akten sind nicht mehr da. Dagegen bekam ich über 
jene Zeit ein anderes, vielleicht noch interessanteres Dokument, 
nämlich die Ortschronik des damals amtierenden, jetzt schon lange 
toten Pfarrers, die sich durch eine gute Darstellung, einen angenehmen 
Humor und eine recht kritische Einstellung all jenen „mystischen“ 
Erscheinungen gegenüber auszeichnet. Die Chronik ist etwas behäbig 
und umfangreich, verweilt oft lange bei Kleinigkeiten, aber sie ist 
doch für die Psychologie eines ganzen Dorfes und für den Aber¬ 
glauben seiner Bewohner und der daraus entspringenden Gegensätze, 
Anfeindungen unter den Bewohnern so charakteristisch und wichtig, 
daß ich die Chronik hier wörtlich wiedergeben möchte. Dies ist sie: 

Es sei dem Chronisten vergönnt, zunächst einen Rückblick auf die 
dem Jahre des Beginns dieser Ortschronik unmittelbar vorangehenden 
Jahre zu werfen, da in denselben die Gemüter des ganzen Fleckens durch 
seltsame bingein hochgradige Erregung versetzt wurden. Was der Chronist 
hier zu berichten hat, wirft freilich auf den Kulturstand unseres Land¬ 
volkes am Ende des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts des Dampfes und 
der Elektrizität, ein grelles Licht und zeigt, welche ägyptische Finsternis 
des Aberglaubens, begünstigt wohl einerseits durch den mystischen Zug 
unseres deutschen Volkscharakters überhaupt und des schwäbischen 
Stammes insbesondere, andrerseits wohl auch durch den geringen Bildungs¬ 
grad unseres Landvolkes, noch heutigentags über der bäuerlichen Be¬ 
völkerung sich lagert. Vom Sommer 1896 an bis tief ins folgende Jahr 
hinein stand K. unter den Zeichen der „Hexen“. Seit Sommer 1896 traten 
bei der S. Z., Tochter des Wirtes M. Z., geboren hier den 20. Dezember 1881, 
hysterische Krankheitserscheinungen auf, teils in Gestalt nächtlicher 
Lach- und Weinkrämpfe, welche das vollsäftige, über ihr Alter entwickelte 
kräftige MädchenzumGrausender Nachbarschaft schüttelten, und Während 
derer die Kranke von mehreren Personen von ihren Versuchen, aus dem 
Bett zu springen, gewaltsam zu rück geh alten werden mußte, teils an dem 
von den Medizinern sogenannten „Globus“ (Gefühl des Aufsteigens einer 
Kugel von den Füßen bis zum Halse). Allmählich gestaltete sich dann 
die Krankheit etwas anders: die Kranke begann während jener Anfälle 


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360 


Mayer, 


allerlei tolles Zeug herauszuschwatzen und bekam allerlei Visionen; am 
Abend des Adventfestes 1896 z. B. sah sie den Heiland und einen ver¬ 
storbenen Bruder namens „Hannesle“, und als an diesem Abend der Orts¬ 
pfarrer von einer Verwandten der Familie zu der Kranken geholt wurde, 
da sang sie — in völlig unzurechnungsfähiger Geistesverfassung, denn si*- 
erkannte denselben nicht — das Lied: „Aller Gläubigen Sammelplatz" 
und das Konfirmationsgelübde: Herr Jesu, Dir leb ich usw., und zwar 
mit sanfter, gedämpfter Stimme, so daß man sich an diesem Krankenbett 
fast hätte erbaulich gestimmt fühlen können, wenn nicht fortwährend das 
Mädchen mit wallenden aufgelösten Haaren sich auf seinem Lager auf¬ 
gebäumt hätte, freilich nur, um sofort von etlichen Mädchen niedergehalten 
zu werden, welche auf ihrem Bette saßen, stets bereit, sich mit ihrem Ober 
körper auf und über die Kranke herzuwerfen und ihr so ein etwaige? 
Herausfallen oder Herausspringen unmöglich zu machen. 

Wenn es schon ob all dieser Krankheitszustände vielenLeuten gruselte, 
so sollte es bald noch ganz anders kommen. 

Bald bekam die S. Z. noch eine Kameradin in der Person der Chn 
stine B., Tochter des Bauern J. B. Dieselbe war hier geboren den 1. No 
vember 1878, somit damals ca. 18 Jahre alt und 3 Jahre älter als die Ge 
nossin ihrer Leiden. Auch ein sehr kräftig entwickeltes, groß gewachsenes 
robustes Mädchen, aber, wie der Pfarrer erst später erfuhr, von schwachem 
Nervensystem, in jüngeren Jahren war sie schon mit nervösen Zuständen 
behaftet. Wegen solcher hatte sie einen Dienst, in den sie als ca. 15jähriges 
Kind nach E. gegeben worden war, wieder aufgeben müssen; sie selbst 
mit ihren Angehörigen schrieb freilich jene Erkrankung einem verhexten 
Zimmetstern zu, den sie damals arglos gegessen habe. Ob ein jüngerer 
Bruder von ihr, namens G., auch einmal einen solchen gegessen hatte, 
weiß der Chronist nicht; item, jedenfalls hat auch dieses Kind schon 
nervöse Zustände gehabt. Eigentümlich ist auch der Umstand, daß di*- 
Großmutter dieser Kinder, die Mutter des J. B.', für eine Hexe galt 

Es war im Herbst 1896 — leider vermag der Chronist weder Monat 
noch Tag genau festzustellen —, als die Ch. B. in ähnlicher Weise wie di*- 
S. Z. erkrankte. Da sie auch über Verstopfung und Beschwerden in den 
Gedärmen klagte, gab ihr der behandelnde Arzt, Dr. F. von T., dem nächst - 
gelegenen Ort jenseits der badischen Grenze, ein Abführmittel. Als nun 
gerade niemand von der Familie sich in der Stube befand, da fing das 
Mittel zu wirken an, und dabei geschah nun eine große „Moritat“: 

In der Gelte, welche die Kranke benutzte, fanden sich, mit Kot 
vermischt, vor: eine gerade Stricknadel, eine gebogene Haarnadel, ln 
Absatznägel, 2 Hufeisenstumpen, 2 Tuchflecke, ein handlanges Stück 
Zuckerschnur, 3 Hemdenknöpfe, einer von Bein und einer von Messing. 

Noch am selben Abend, an welchem dieses im vollsten Sinn des 
Wortes Unglaubliche — wie schon gesagt, in Abwesenheit der übrigen 
Familienglieder — geschah, bew. geschehen sein sollte, zogen die L^ute 


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Über induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 361 

den Arzt aus T. dazu und zeigten ihm die ganze Bescherung. Er aber 
drehte sich — so erzählten dem Chronisten die Angehörigen der Kranken — 
ob dieses unerwarteten Resultats seines Abführmittels höchlich über¬ 
rascht auf dem Absatz herum und nahm Gelte samt Inhalt zu näherer 
Untersuchung mit heim. Als der Ortspfarrer auf die Kunde von diesen 
Dingen andern Tages zu dem Mädchen kam und sich die Sache erzählen 
ließ, fand er dieselbe völlig bewußtlos in schweren Krämpfen liegend. 
Von diesen hat es sich zwar rasch erholt, nicht ebenso rasch aber erholte 
sich die Familie mit ihrer Verwandtschaft und Gefreundschaft von dem 
erschrecklichen Eindruck jenes Abends. Wohl gab der Pfarrer sich alle 
Mühe, den Eltern beider Mädchen klar zu machen, daß deren Krankheit 
eine durchaus natürliche Möglichkeit sei. Wohl gab er seinen berechtigten 
Zweifeln an der Möglichkeit und Wirklichkeit jener Stuhlgangs„affäre“ 
ehrlichen Ausdruck. Wohl suchten auch die beiden Ärzte, Dr. S. von M., 
der die S. Z. behandelte und gar oft bei ddr Nacht seine Elektrisiermaschine 
gegen sie spielen ließ, wie auch Dr. F. von T. als Hausarzt der Familie B. 
die Leute zu belehren und zu beruhigen. Aber mit der Dummheit kämpfen 
die Götter selbst vergebens, man dürfte freilich diesem Zitat noch hinzu - 
fügen: auch mit der Lieblosigkeit, der es nicht darauf ankommt, den 
Nächsten zvt verraten, afterreden und bösen Leumund von ihm zu machen: 
die Wurzel des Aberglaubens liegt ja nicht bloß im Verstand, nicht bloß 
in mangelnder Erkenntnis, sie liegt tiefer, im Herzen und des Herzens 
Tücke und Härtigkeit, in der das große Gebot: Du sollst deinen Nächsten 
lieben wie dich selbst, keinen Eingang findet. 

Kurz und gut: die Leute ließen es sich nicht nehmen, daß alle diese 
Dinge nicht natürlich zugehen, daß die „baisen Leute“ vielmehr dabei 
im Spiel sind, daß alles auf Rechnung der bösen Geister und Hexen 
komme. 

In dieser „Überzeugung“ wurden die Angehörigen der Kranken 
mit ihrem nicht kleinen Anhang von zwei sehr verschiedenen Seiten her 
bestärkt. Nach jener Stuhlgangsgeschichte hatte sich J. B. an Pfarrer Bl. 1 ) 
gewendet und diesem den Vorgang berichtet. Man hätte nun füglich an¬ 
nehmen dürfen, daß Pfarrer Bl. zunächst vorsichtigerweise entweder mit 
dem Ortspfarrer oder auch mit dem behandelnden Arzte sich ins Be¬ 
nehmen gesetzt hätte als mit denjenigen Personen, welche den ersten und 
besten Einblick in diese kuriosen Dinge zu besitzen in Anspruch nehmen 
durften. Davon geschah aber nichts. Vielmehr redete er in einem am 
4. Dezember 1896 an B. geschriebenen Briefe von „Zauberei“ und schrieb 
u. a.: „Das soll und darf nicht sein, daß der Feind solche Sachen anrichtet 
in solcher „Unnatürlichkeit““. 

*) Pfarrer Bl. ist ein im ganzen Lande bekannter, viel von’Kranken, 
nicht zuletzt von abergläubischen, aufgesuchter Mann, der wohl eine 
große suggestive Kraft hat. (Ref.) 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 3. 25 


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Mayer, 


Wohl schwächte der Pfarrer Bl. nachher dieses sein Gutachten 
einigermaßen wieder ab, als infolge der steigenden Aufregung in der Ge¬ 
meinde etliche Wochen später auch der Ortspfarrer seinerseits an ihn 
schrieb, ihm mitteilte, daß die Leute glaubten, die Mädchen seien verhext, 
und einzelne Gemeindeglieder als Hexen, die an deren Zustand schuld seien, 
verlästerten, und bei ihm rund heraus anfragte, ob .er solches b illige. 
Daraufhin schrieb Bl. dem Ortspfarrer unter dem 13. Januar 1898: „Wenn 
die Familie B. die Liebe Gottes zu den Nebenmenschen so sehr verleugne, 
daß sie diese öffentlich schmähen, anstatt das Gebot: Liebet eure Feinde 
zu halten, so will ich keine Gemeindschaft damit haben.Wo Aber¬ 

glauben ist, da ist kein wahrer Glaube. Auch wenn eine Krankheit dämoni¬ 
schen Charakter hat, ist’s eine Trübsal, die nur in Buße und Glauben 
getragen und überwunden werden kann.“ usw. 

Auch legte Bl. einen offenen Brief an J. B. bei, in welchem er die 
Leute dringend warnte, sie sollten doch um Gottes willen das Mädchen 
nicht für verhext halten, seine Krankheit als eine natürliche ansehen und 
behandeln, ihrem Pfarrer folgen usw. Aber was half’s? „Was ich ge¬ 
schriebenhabe, das habe ich geschrieben!“ Die Leute bleiben dabei; unsere 
Kinder sind verhext. 

Was aber zugunsten dieser Überzeugung wohl noch schwerer ins 
Gewicht fiel als jenes Gutachten Bl.s, das war das Gutachten der ver¬ 
schiedenen „Hexenbanner“, welche von den Leuten konsultiert wurden; 
darunter besonders ein Schmied von E. im Badischen, namens S., ferner 
ein Schäfer von F., „Schafhannes“ genannt, namens J. -R. Dann soll 
auch einer von B. hier vielfach praktiziert haben. yFer will es diesen Leuten 
so besonders übelnehmen, wenn sie nach dem Grundsatz verfuhren: 
Die Welt will betrogen sein, usw. ? Brachte ihnen doch die Leichtgläubig¬ 
keit der Leute in ihrer Praxis hübsche Einnahmen, zumal sie schlau genug 
waren, auch ohne eigentliches Fordern zu ihrem Gelde zu kommen und 
mit geziemender Gewandtheit sich um die drohenden Klippen der Ge¬ 
werbeordnung herumzudrücken. Die Anfälle der beiden Mädchen wurden 
nun im Laufe des Winters immer heftiger und häufiger, und der ganze 
Krankheitsverlauf trat allmählich insofern in ein ganz neues Stadium, 
als die beiden Mädchen offenkundig nicht mehr bewußtlos und ohne 
die Leute, welche um sie waren, zu kennen, dalagen, sondern dieselben 
wohl kannten und darin wetteiferten, immer tolleres Zeug herauszu- 
schwatzen. I nsbesondcre betrieben sie einen großartigenSport mit albernen 
Drohungen; so z. B. sagte einmal die Ch. B. zu Schullehrer B., als er sie 
einst besuchte: „Schulmeisterle, hinter dich kommen wir auch noch“; oder 
zu ihrem Vater: „Wir werfen Euch von der Scheuernleiter herunter“, so 
daß der Vater, wie er selbst dem Ortspfarrer erzählte, nie mehr dieselbe 
bestieg, ohne vorher ein Vaterunser gebetet zu haben. Oder 
zu einer hiesigen Frau: „Wart du kugelrundes Salzdorle, hinter dich 
kommen wir.“ Daneben beschäftigten sich beide mit allerlei Enthüllungen, 


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Über induzierten religiösen Wahn and eine Hexenglaubenepidemie. 363 

namentlich über Todesfälle von Menschen und Vieh. Es starben damals 
verschiedene Personen, die schon lange krank und siech gewesen waren; 
von ihnen hieß es nun aus dem Munde dieser Konkurrentinnen der alten 
Pythia: „Die haben wir hinausgeschafft“ und dergl. Wer aber diese „wir“ 
waren, das war ja klar. Das waren die bösen Hexen, welche in 
den Mädchen steckten und aus denselben „heraus schwatzten.“ 
Ebenso klar war aber auch, daß all diese Drohungen und Enthüllungen 
unbedingten Glauben verdienten, und man muß anerkennen, daß die 

Einwohnerschaft hiermit nicht kargte. 

Aber sie'begnügten sich nicht bloß mit verschleierter Andeutung 
von allerlei Missetaten, nein, auch über die Personen, die an und in den 
Mädchen als Hexen fungierten, konnte jedermann die gewünschte Aus¬ 
kunft erhalten. Eine ganze Anzahl von Gemeindegliedern, männliche und 
weibliche, alte und junge, lebende und verstorbene, wurden auf diesem 
Wege als schändliche Werkzeuge der finsteren Mächte, wie die Leute zu 
sagen pflegten, entlarvt. Mit besonderer Energie wurden von den beiden 
Kranken 3 hiesige Personen aufs Korn genommen, nämlich eine Jj6jährige 
Frau namens D., ferner ein 22jähriges sittliches Mädchen, K. H., Strumpf, 
kätter genannt, weil ihr verstorbener Vater Strumpfweber gewesen war, 
und ein 68jähriger braver, fleißiger Greis namens J. H., genannt der 
Fronenhannes. v 

Was die erste, die D., betrifft, so- ist dieselbe von Sch. gebürtig, 
und das abergläubische Landvolk pflegt an Leute, deren Wiege nicht 
innerhalb des Heimatlichen Zehntens gestanden ist, gern den Verruf der 
Hexerei zu hängen, wie denn einmal beispielsweise in jenen Zeiten ein 
verheirateter älterer Mann, ein überzeugungstreuer Anhänger des Hexen¬ 
glaubens, im Wirtshaus mit der Faust auf den Tisch schlagend rief: „Alle 
Weiber, die nicht von hier sind, sind Hexen“, aber kleinlaut verstummen 
mußte, als man ihm entgegenhielt: „Dann hast ja auch du eine Hexe 
* zur Frau, denn die deine ist auch nicht von hier.“ Es scheint auch, daß 
die Frau D., welche keine Kinder und wenig Feldgeschäft und manchmal 
freie Zeit hat, manchmal in etwas vorwitziger oder jedenfalls unvor¬ 
sichtiger Weise in fremde Häuser und Ställe hineingelaufen ist, und das 
erweckt gleich Mißtrauen. Die Mutter der Strumpfkätter aber ist eben¬ 
falls nicht von hier und wurde wohl teils aus diesem Grunde, teils wegen 
ähnlicher Unvorsichtigkeit beim Betreten fremden Eigentums von Anfang 
ihres Hierseins an als Hexe gefürchtet: die Hexerei aber erbt sich in den 
Familien fort, und nur die Anwendung der äußersten, besser gesagt un¬ 
sinnigsten, abscheulichsten Mittel, z. B. Hinaustragen einer Gelte 
voll Menschenkotes im Munde auf den Acker, vermag nach 
den Ansichten des Aberglaubens solchen Bann und Familien- 
fluch zu brechen. Und als nun die K. H. im Dezember 1896 ein unehe¬ 
liches Kind gebar als Frucht einer Liebschaft mit einem jungen Gold¬ 
schmied, F. B., dem Bruder des Geliebten der S. Z., da mußte das arme 

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Mayer, 


Würmlein, kaum daß es etliche Tage auf der Welt war, auch schon eine 
Hexe und an den Krankheitszuständen der beiden Mädchen mit schuld 
sein. Der Fronenhannes aber hatte vor Jahresfrist das Unglück gehabt, 
beim Holzmachen im Walde von einem Mitarbeiter mit einem Holzscheit 
am Ohr verwundet zu werden, und da er die Wunde vernachlässigte, 
wurde sie immer schlimmer, bis er endlich sich nach T. wandte, 
wo die Ärzte sich genötigt sahen, ihm das Ohrläppchen abzunehmen. 
Das wußte nun männiglich in K. sehr gut, aber dennoch erschien vielen s 
vielgeglaubter als jener tatsächliche Hergang der Dinge die von der S. Z. 
gegen den Mann ausgesprochene Verleumdung, der Hexenbanner habe 
ihn als den Hauptmann der K.er Hexen erwischt und als Strafe ihm sein 
Ohr abgeschnitten. 

Kein Wunder, wenn solche hochinteressante Enthüllungen ein höchst 
zahlreiches Publikum anzogen. Vordem B.schen Hause stand an manchem 
Vorstellungsabend viel Volkes ungeduldig wartend auf der Straße, 
bis die bereits drinnen Kopf an Kopf Lauschenden genug hatten und 
andern Gelegenheit gaben, ihren Horizont zu erweitern und beim An¬ 
hören def unsinnigen Geschwätze teils sich von einer Gänsehaut um die 
andere überrieseln zu lassen, zum Teil auch bangend und wehklagend, 
wenn ihnen selbst etwas Böses prophezeit worden war, davonzulaufen. 
Die Wirtsleute aber gaben geradezu offizielle Einladungen an gute Freunde 
und Bekannte in den Nachbarorten aus, von welchen auch ausgiebiger 
Gebrauch gemacht wurde, und sie hatten auch nichts dagegen, wenn nach 
beendigter Vorstellung die Leute in der Wirtsstube ihr Gruseln wieder 
hinabzuspülen sich bemühten. Später allerdings wurden wenigstens die 
B.-Leute vernünftiger und ließen nicht mehr Krethi und Plethi herein. 

Leider ist dem Ortsgeistlichen erst hinterdrein zu Ohren gekommen, 
mit welch abscheulichen Zoten jene Produktionen gewürzt waren; sonst 
hätte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um bei den Behörden ein Verbot 
der öffentlichen Schaustellung der beiden Mädchen wegen Gefährdung * 
der öffentlichen Sittlichkeit zu wirken; allein die Gewährsleute des Orts¬ 
geistlichen waren zunächst dezent genug, ihm die volle nackte Wahrheit 
vorzuenthalten und sich auf Andeutungen zu beschränken. So wurde 
z. B. die Strumpfkätter von der S. Z. beschuldigt, einmal mit dem Vater 
ihres Geliebten auf der Landstraße zwischen L. und K. Unzucht getrieben 
zu haben, wobei der Hergang mit allem Detail beschrieben wurde! 

Ihren Höhepunkt aber erreichten diese Schwindeleien, als etwa im 
Monat März oder April ein guter Geist, namens Anna F., als Bundes¬ 
genossin der beiden verhexten Mädchen auf der Bildfläche erschien. Das 
ging so zu. Als die guten Mittel der Hexenbanner nichts halfen, hatten 
zu Anfang des Jahres 1897 die Angehörigen der beiden Kranken ihre 
Zuflucht nach D. genommen, da sie den Pfarrer Bl. daselbst als Ober- 
Hexenbanner betrachteten, und die Kranken für mehrere Wochen dorthin 
verbracht. Daß sie dort keine Anfälle bekamen, ist sehr natürlich. Aber 


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Ober induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 365 

kaum waren sie weder zu Hause, so ging dieselbe Geschichte wieder los. 
Dort in D. nun hielt sich damals ein Mädchen namens Karoline M. auf, 
welches in andern Umständen war und bald darauf geheiratet hat, welches 
auch mit den beiden Mädchen hie und da einige Worte wechselte. Ganz 
zufällig ist der damals hier angestellte Unterlehrer N. nach Jahresfrist 
mit dieser Karoline M. in seiner eigenen Behausung persönlich bekannt 
geworden, als sie einmal mit einer befreundeten Lehrerfamilie, bei welcher 
sie auf Besuch sich aufhielt, in das N.sche Haus kam. Dieselbe hat nach 
Beschreibung des jetzigen Schullehrers N. einen unstäten, unruhigen Blick 
und rote Haare. Beides aber gilt hier als sicheres Merkmal einer Hexe, 
und beides wirft ein interessantes Licht auf den großartigen Humbug, 
zu welchem jene Person derS. Z. nach deren Rückkehr bei ihren erneuten 
Anfällen herhalten mußte. Das kranke Mädchen ist ja erklärlicherweise 
in einer abergläubischen Umgebung aufgewachsen und von derselben tag¬ 
täglich in solchem Wahn bestärkt, selbst bis an den Hals herauf des Hexen¬ 
glaubens voll, und so hielt denn die S. Z. jene Karoline M. ohne Zweifel 
für eine Hexe, und zwar, da dieselbe gerade in D. sich aufhielt, für eine 
in der Bekehrung stehende Hexe. So verbreitete sich nun nach der erst¬ 
maligen Rückkehr der beiden Mädchen von D. die seltsame Kunde im 
Flecken, im Wirtshaus sei ein guter Geist eingetroflen, um für die Kranken 
zu beten und ihnen zu helfen. 

Damit nun das Bild des Gebarens solcher hysterischen Mädchen 
noch deutlicher werde, als es im Bisherigen geworden ist, soll dasselbe 
nach Aufzeichnung eines Augen- und Ohrenzeugen, des eben genannten 
Unterlehiers N., noch genauer geschildert werden. Die schwäbische 
Mundart ist dabei ins Schriftdeutsche übertragen, das Unzüchtige und 
Unflätige ausgemerzt, das Unwesentliche übersehen. Von den Ange¬ 
hörigen dazu, aufgefordert, ging der Genannte an einem Vorstellungsabend 
ins Wirtshaus und wurde dort von der Kranken bzw. von den in ihr stecken¬ 
den Hexen begrüßt mit dem Zuruf: „Hohoho, jetzt kommt der auch noch!“ 
Auf die Frage: „Wer denn?“ kam die Antwort: „Haha, der Lehrer; ich 
kenn’ ihn gut, kannst grad wieder fort, ich bleib eineweg da!“ Dabei 
krümmte und bäumte sie sich wie ein Wurm, bemühte sich, aus dem 
Bett zu springen, sich die Haare auszuraufen, die Decke von sich zu 
werfen und ihre Brust zu entblößen, schlug mit den Armen wie wütend um 
sich, verzog das Gesicht zu höhnischem Grinsen, schlug ein helles 
Gelächter auf und spuckte den Anwesenden ins Gesicht. Während dieser 
Szene aber schrie sie: „Hinmachen wir dich noch! Verrecken mußt du 
noch! ’s ist noch lang’ bis 11 Uhr!“ Als Unterlehrer N. von dem Unge¬ 
wohnten, das er sah und hörte, betroffen, leise das Vaterunser betete, 
wurde das Mädchen einen Augenblick ruhiger, aber bald ging es von 
neuem los. „Schon wieder sind wir da“, schrie sie. „Was willst du denn 
mit deinem Gebettel, du S... ?“ Als N. fragte: „Wer bist du denn?“, 
bekam er den klaren Bescheid: „Die Strumpfkattei bin ich, verstanden?“ 


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„Ach, die ist ja daheim und näht.“ „Nein, da bin ich.“ „Ja, wo soll 
denn dann dein Leib sein?“ „Ha, daheim auf dem Bett, geh hin und 
guck!“ Plötzlich wurde die Kranke wieder ruhiger, tat, als - ob es ihr auf¬ 
stoße und war ganz vernünftig. Triumphierend stießen die Anwesenden, 
einander an: „Habt ihr es jetzt gesehen, wie die Hexe jetzt gerade heraus - 
gefahren ist?“ Das Mädchen klagte, wie matt sie sei, und wie das Lampen¬ 
licht so blende. Als sie aber den Lehrer ansah, lächelte sie, und auf einmal 
begann der tolle Tanz aufs neue. „Schon wieder sind wir da! Jetzt sind 
wir zu 16!“ „Wer hat euch denn geschickt? Seid Ihr wirklich vom 
Teufel?“ „Ich tät auch noch fragen, freilich sind wir vom Teufel!“ „Der 
Teufel hat doch aber jetzt keine Macht mehr, Christus hat ihm volle 
Macht genommen, er ist Sieger.“ „Ach was, der Teufel ist Meister, was 
Jesus, den gibt es ja gar nicht, ich pfeif darauf!“ „Wie bist du denn in 
sie hineingekommen?“ „Kuchen habe ich gegessen und eine Mücke ver¬ 
schluckt, das ist der Teufel gewesen!“ 

In seiner Angst ließ der Vater den „Schafhannes“ von F. holen. 
Als derselbe gegen 10 Uhr eintraf, begrüßten ihn die Hexen mit den 
Worten: „Haha, da kommt der Hannes, das ist ja mein Namensbruder, 
oho, ich bleib’ noch ein’ Weile da!“ Alles mußte nun die Stube räumen 
und den Schäfer mit der Pat. allein lassen. Nachdem Unterlehrer N. in 
der Wirtschaft mittels etlicher Schoppen Bier sich von seinem Gruseln , 
erholt hatte — er war an jenem Abend geneigt, den Zustand der Kranken 
für Teufelswerk zu achten —, ging er wieder in das Krankenzimmer. 
Das Mädchen lag jetzt ganz ruhig da und schien zu schlafen! Wie in 
tiefste Andacht versunken lag der Schäfer, mehr auf der Kranken 
liegend als über sie hingebeugt, da und plapperte unaufhörlich 
über sie hinein. Was er sprach, war nicht verständlich. Doch waren 
immer wieder die Worte vernehmlich: „Im Namen des Vaters und des 
Sohnes und des hl. Geistes!“ Endlich betete er auch noch das Vaterunser, 
wobei er in der 7. Bitte das Geschlechtswort „dem“ besonders betonte. 
Die Anfälle stellten sich in dieser Nacht nicht wieder ein, und der Schäfer 
ging heim, jedoch nicht ohne Begleitung. 

Etliche Tage nachher ging Unterlehrer N. wieder hin. Der Anfall 
selbst bot im ganzen nichts Neues, dagegen lieferte die Kranke dem kriti¬ 
schen Beobachter diesmal einen klaren Beweis, wieviel bewußter Betrug - 
von ihrer Seite bei der ganzen Sache mit unterlief. Unterlehrer N. sah 
ganz deutlich, wie sie, sobald jemand zur Tür hereinkam, mit den Augen 
blinzelte, sie rasch zur Hälfte öffnete und wieder schloß, so daß sie stets 
darüber unterrichtet war, wer im Zimmer zugegen war, obschon sie für 
gewöhnlich mit geschlossenen Augen dalag. Ihre Reden machten an 
diesem Abend auf N. den bestimmten Eindruck, sie sei auch hierbei zum 
Teil bei vollem Bewußtsein gewesen. Merkwürdig war auch, daß sie dem 
Lehrer niemals ins Gesicht spuckte, wie den übrigen Anwesenden. Als 
nun im Verlauf des Abends die Mutter der Kranken einnfal betete: „Christi 


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Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck“ usw., gab sie diesen Vers 
in folgender Weise wieder: „Christi Blut und Gerechtigkeit ist nicht mein 
Schmuck und Ehrenkleid, darin werde ich nicht vor Gott bestehen“ usw. 
Ebenso machte sie es mit dem Vaterunser, als jemand dieses betete: 
„UnserVater nicht in dem Himmel, dein Name werde nicht geheiliget“usw. 

Zum dritten Male ging N. hin, als der „gute Geist“ angekommen 
war. „Guten Abend, Sophie!“ Mit hoher, dünner Stimme sprach das 
Mädchen: „Ach, ich bin doch nicht die Sophie, ich bin doch die Anna!“ 
„Was, Anna, du bist doch die S., deine Hand habe ich in meiner Hand, 
du sitzest da, sonst niemand anders!“ „Ach, ich kenne dich ja gar nicht, 
das verstehst du gar nicht! Ich habe zwei .„Geister“!“ „Ja, wer bist du 
denn?“ ..Ach, ich bin gekommen, für die Mädchen zu beten, denn sonst 
würden sie noch viel kränker, die bekämen den Veitstanz?“ „Wer hat 
dich denn geschickt?“ „Niemand; ich weiß halt, daß die Mädchen krank 
sind, und da bin ich gekommen.“ „Ja, wie kommst du denn da herunter 
mit deinem Geist?“ „Haha, fragst du gespäßig; weißt, ich bin halt 
halt da, ich muß es eben sagen, eine Hexe, aber das glaubst du am Ende 
nicht.“ „Ich war früher eine Hexe, jetzt habe ich mich bekehrt, aber 
noch nicht ganz, und ich muß noch zwei Jahre in der Bekehrung stehen, 
die ganze Bekehrung dauert 7 Jahre.“ „Wie kamst du denn dazu, daß 
du dich bekehrt hast?“ „Mein Schatz hat mich so weit gebracht. Ich 
hab’ einmal einen Mann seine Scheuer herabgestürzt, daß er gestorben 
ist, und dann hat mir mein Schatz keine Ruhe mehr gelassen; aber ich 
hab’ dann viel dadurch von den andern zu leiden gehabt.“ „Du sagst, 
du habest zwei Geister, wo ist denn dann dein anderer ?“ „Der ist in D.“ 
„Wo?“ „In meinem Stüble und schläft.“ Hier legte das Mädchen ihre 
Arme bloß, und auf die Frage, warum sie das tue, antwortete sie: „Ha, 
ich hab’ halt so eine Freude an meinem Speck.“ Auf die 
weitere Frage: „Weiß denn das der Herr Bl. *)?“ sagte sie: „Ja.“ „Hat 
er es denn dir nicht untersagt, fortzugehen?“ „Doch, aber ich bin doch 
fort wegen der Mädchen.“ „Wie bist du denn heruntergekommen?“ 
„Auf einer Katze!“ „Hinter oder voran?“ „Nein, auf dem Rücken.“ 
„Wer hat dich denn dieses Kunstwerk gelehrt?“ „Meine Mutter hat 
mich eben auch einmal mitgenommen; ich kann’s nicht mehr genau sagen, 
wie es gegangen ist!“ 

In dieser albernen Weise ging das Gespräch weiter und lieferte nichts 
anderes, als was das Mädchen von früher her über Hexen und Hexen¬ 
wesen aus dem Munde ihrer Umgebung vernommen und in sich aufge¬ 
nommen hatte. Um 10 Uhr abergab die Kranke bzw. der in ihr wohnhafte 
gute Geist allen Anwesenden zum Abschied die Hand mit der Bemerkung, 
um 11 Uhr müsse sie zu Hause sein. Dann stieß es ihr auf, worauf das 
Mädchen sich in ihrem Bette hinsetzte und ganz gescheit und vernünftig 


) jener bekannte Pfarrer 


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Mayer, 


war. Von dem guten Geiste hierzu ermuntert, reisten bald darauf die 
beiden Mädchen zum zweiten Male nach D., woselbst sie ganz gesund und 
normal waren. 

Leider sollte nun die Anwesenheit der hilfreichen ,,Fräulein Anna“ 
für die Angehörigen ihrer beiden Schützlinge verhängnisvoll werden. 
Dieselbe wünschte eines Tages die Katharine H. zu sprechen. Man schickte 
hin, und in der Absicht, zu beweisen, welch gutes Gewissen sie habe, erschien 
dieselbe auch wirklich im Wirtshaus. Bei diesem Anlaß war auch die 
Mutter der Ch. B. anwesend, und von dieser wie auch vom Wirte wurde 
die H. gröblich beleidigt. Erstere warf dem Mädchen vor: „Seit deine 
Mutter meinem Maidle im Wald Stachelbeeren gegeben hat, ist sie krank, 
und wenn die Fräulein Anna nicht gekommen wäre, hättet ihr unser 
Maidle noch umgebracht.“ Der Wirt aber wandte gegenüber der Kath. H. 
wiederholt die Hexenbeschwörungsformel an, bestehend in den oftmals 
hintereinander zu sagenden Worten: „Ich bitt* dich um Gottes willen.“ 
Auch hat der Wirt eines andern Tages die H. und die D., als sie an seinem 
Hause vorübergingen', bedroht, er stoße ihnen doch noch einmal die Mist¬ 
gabel in den Leib. Daraufhin hat nun die Kath. H. gegen die Frau B. 
und den Wirt Klage angestrengt wegen Beleidigung und Bedrohung. Die 
angestellten Sühneversuche waren ohne Erfolg, vielm ehr wurde die Klägerin 
hierbei nur aufs neue beleidigt. Am 15. Mai 1897 kam es zur Verhandlung 
zu L. Zahlreiche Zeugen waren dazu geladen, neben einer Anzahl von 
Parteigängern des Hexenglaubens auch der Ortspfarrer, der Ortsvorsteher 
und Dr. F. von T. Letzterer legte zum allgemeinen Erstaunen des an¬ 
wesenden Publikums auf dem Tische des Gerichts jene seltsamen Dinge 
nieder, die nach Behauptung der Gh. B. an jenem Abend aus ihrem Leibe 
gekommen waren. Die beiden Angeklagten wurden zu Geldstrafen und 
zur Tragung der Kosten verurteilt. Die beiden kranken Mädchen hatte 
man dabei ruhig in D. gelassen. 

Groß war über dieses gerichtliche Erkenntnis die Freude aller derer, 
welche für Hexen galten. Ein Söhnchen der Frau Schultheiß, einer hoch¬ 
achtbaren, herzlich frommen Frau, welche aber trotzdem als Hexe galt 
und im Verlaufe der Vorstellungen im Wirtshaus von der S. Z. auch als 
solche gebrandmarkt worden war, meinte am Abend des Gerichtstages: 
„Nun lacht doch die Mutter auch wieder“. Die armen Leute tyußten eben 
wohl, was für sie bei jener Verhandlung auf dem Spiele stand. Groß war 
aber auch die Wut der Familie B. und Z. und ihrer beiderseitigen Ver¬ 
wandten und spnstigen Gesinnungsgenossen; und sie ward noch größer, 
als am 14. Juni 1897 die Strafkammer des Landgerichts zu X. die von den 
Verurteilten eingelegte Berufung verwarf und dieselben zu den Kosten 
erster und zweiter Instanz verurteilte. Der Ortsgeistliche freilich und der 
Ortsvoasteher, welche es in L. für ihre Pflicht gehalten hatten, kräftig 
für die unglücklichen Hexen einzutreten, mußten ihren „Unglauben“ — 
denn so bezeichnet der Aber- speziell der Hexengläubige den Standpunkt 


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des Aufgeklärten — und ihren Freimut schwer büßen. Wenn sie den 
beiden Vätern der krank gewesenen Mädchen begegneten, so waren sie 
,,Luft“ für dieselben, und ohne Gruß, ja zum Teil mit gehässigen Reden 
geleitet gingen sie an ihnen vorüber. Besonders wurde der Kirchenbesuch 
empfindlich durch all’ diese Geschichten beeinträchtigt. Da bekanntlich in 
den Augen vieler derselbe in erster Linie dem Pfarrer zuliebe geschieht, 
so war am Sonntagvormittag die Landstraße nach Y. schwarz von Scha¬ 
ren „Andächtiger“, die ihre Erbauung im Gotteshause der Nachbar¬ 
gemeinde suchten, wobei es ' manchen unter den frommen Pilgern 
natürlich auch nicht unerwünscht war, wenn an der Straße ein Wirts¬ 
haus mit seinem langen Arm ihnen zuwinkte, neben der geistlichen auch 
die leibliche Stärkung nicht zu kurz kommen zu lassen. 

Aber was schadet das? Männiglich war doch klar geworden, daß 
es recht unangenehme Folgen haben kann, einen Nebenmenschen der 
Hexerei zu zeihen, ohne ihn gerade auf dem Besenstiel zum Schornstein 
hinausreitend gesehen zu haben, und nur in den vertrauten und ver¬ 
schwiegenen Zirkeln ihrer Gesinnungsgenossen wagten es nunmehr die 
Hexengläubigen noch, die Namen der bösen Hexen zu nennen. Wenn 
nur durch den ganzen Gang der Dinge den armen Leuten die Augen über 
ihren unglückseligen Wahn selbst aufgegangen wären! Sollte aber dem 
geneigten Leser dieser Wunsch im Herzen aufgestiegen sein, so muß der 
Chronist bedauern, denselben als einen „frommen“ in des Wortes vollster 
Bedeutung bezeichnen zu müssen, denn er ist fest überzeugt, daß noch in 
vielen Jahren bei diesem und jenem Vorkommnis bei Mensch und Vieh 
gezischelt und getuschelt werden wird: „Das ist nicht mit rechten Dingen 
zugegangen, das haben die „baisen Leut’“ getan!“ Der Vater des Lichtes 
woll’s bessern! Amen. 

Dies die Chronik. Die Zeitungen brachten damals über den Prozeß 
eine Notiz, die ich hier der Abrundung halber folgen lasse: 

„Daß im Zeitalter der Elektrizität und des Dampfes noch der krasseste 
Aberglaube wuchert, beweist eine Gerichtsverhandlung, die sich dieser 
Tage vor der X.er Strafkammer abspielte. Es handelt sich um einen 
veritabeln Hexenprozeß, der kaum glaubliche Dinge an das Tageslicht 
förderte. Stuttgarter Blätter berichten darüber: Der Besitzer der Wirt¬ 
schaft .. • in ... hat eine Tochter, ein 13 Jahre altes hysterisches Mädchen. 
Da die Krankheit des Mädchens den Bürgern höchst seltsam vorkam, 
hielten sie das Mädchen für verhext, und da es in den Anfällen meistens 
den Namen der .. in den Mund nahm, war dieses junge, unbescholtene 
Mädchen die Hexe. Als Rädelsführerin der Hexen wurde eine ältere Frau 
namens A. D. bezeichnet. In welchem Maße der Hexenglauben in diesem 
Dorfe verbreitet ist, beweist der Umstand, daß der Pfarrer von ...» der 
sich mit andern die größte Mühe gab, den Aberglauben auszurotten, vor 
Gericht erklärte, wenn er gegen diesen Aberglauben gepredigt hätte, so 


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370 


Mayer, 


wären ihm drei Viertel der Gemeinde nicht mehr in die Kirche gegangen. 
Nach der Schilderung des Rechtsanwaltes Dr. L., der als Nebenkläger 
auf trat, ist in W. wie in andern Orten der Umgegend noch allgemein der 
Glaube verbreitet, daß daselbst eine ganze Reihe von weiblichen Hexen, 
ja auch ein Hexenmeister, dessen Eigenschaft erblich sein soll, leben. 
Sie verhexen Menschen, Vieh, Schweine und Kühe, und zwar werden den 
zu Verhexenden Früchte oder sonstige Nahrungsmittel eingegeben. Ist 
nun einmal eine Person oder ein Tier verhext, so bekommen sie alle mög¬ 
lichen bösen Anfälle, welche sich so steigern, daß sie zuletzt den Tod zur 
Folge haben. Es wurde festgestellt, daß unter den dortigen Bürgern 
einige waren, die den beiden vermeintlichen Hexen Todesfälle letzter Zeit, 
Krankheiten aller Art von Tieren und Menschen zuschrieben. Hiergegen 
werden Hausmittel angewendet, darunter zum Teil nicht wiederzugebende 
Sprüche aus der Bibel. Doch das Hauptmittel ist der Hexenbanner, der 
mit vielem Kostenaufwand herbeigeschafft wird, und der sich nur mit 
blanken Goldfüchsen bezahlen läßt, deren die W.er genug zu besitzen 
scheinen, denn 8—10 Häuser usw. hat er, jedenfalls eine bekannte Per¬ 
sönlichkeit von E., ,,fest“gemacht. Der Name ist nicht zu erfahren, da 
die Leute glauben, wenn dieser genannt werde, so haben die angewandten 
Hilfsmittel keinen Wert. Wie die Anklage ausfuhrt, wurden die beiden 
„Hexen“, als sie am 26. März an dem W.-Wirt und seiner Tochter vorüber¬ 
gingen, von diesem bedroht und gröblich beschimpft. Auch von den 
übrigen Dorfbewohnern mußten sie sich in djer Öffentlichkeit allerlei be¬ 
leidigende Bemerkungen gefallen lassen, wie' z. B.: „Die muß man ver¬ 
brennen“ usw. Die H. erhob wegen dieser Beleidigungen gegen zwei 
Weiber, die sich dabei am meisten hervortaten, Klage, und diese wurden 
vom Schöffengericht L. zu Geldstrafen von 50 und 60 M. verurteilt. Die 
Strafkammer verwarf die Berufung und verurteilte die Beklagten zu den 
Kosten erster und zweiter Instanz.“ 

Wenn derlOrtspfarrer am Schlüsse seines trefflichen Berichtes 
meinte, daß noch in vielen Jahren bei diesem und jenem Vorkommnis 
bei Mensch und Vieh getuschelt werde: „Das haben die „baisen Leut’“ 
getan“, so hatte er recht. Er kannte seine Dorfbewohner und wohl 
die Menschen aus der weiteren Umgebung gut. Der Hexenglauben, 
der Aberglauben, die Sucht „Unbekanntes“ zu wissen, wahrzusagen, 
zu prophezeien, sie jst, wie unsere Beispiele im Beginn der Abhandlung 
zeigten, noch heute genau so stark wie damals. Das ist für den, der 
sich etwas im Volksaberglauben a ) im allgemeinen und speziell in dem 

J ) Wuttke, Deutscher Volksaberglaube der Gegenwart, Heike ig, Ver 
brechen und Aberglaube, und zahlreiche Veröffentlichungen im Archiv für 
Kriminalanthropologie und Kriminalistik geben überreiches Material. 


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Ober induzierten religiösen Wahn and eine Hexengl&ubenepidemie. 371 


des stark mystisch-grüblerisch-spekulativ veranlagten württembergi- 
schen Volkes auskennt, nicht verwunderlich. Wie stark der Hexen¬ 
wahn auch noch in Deutschland *) zu Hause ist, wie er hier immerhin 
noch öfters ein kriminelle Bedeutung hat, zeigt eine Reihe Vorkomm¬ 
nisse aus den letzten Jahren, welche das Gericht beschäftigten (ich 
erinnere an die Veröffentlichungen von HeUwig über Beleidigung und 
Körperverletzung infolge Hexenwahns und andere Arbeiten HeUwigs , 
an die Beispiele Löwenstimms, an Gaupps Beitrag zur Lehre vom 
psychopathischen Aberglauben u. a. m.). Auf die kriminelle Bedeutung 
will ich hier nicht eingehen, nur noch einmal daran erinnern, wie stark 
überall und in allen Ländern während des Krieges und je länger er 
dauert, viele Menschen nicht nur in der Großstadt (hier mehr zu 
gewerbsmäßigen Wahrsagern, zu okkultistischen Vereinen, zu spiri¬ 
tistischen Sitzungen, zu theosophischen Klubs), sondern auch auf dem 
Lande (hier wiederum mehr zu alten, in „heiligem' 4 Geruch stehenden 
Frauen) allgemein zu Erscheinungen sich hingezogen fühlen, die etwas, 
wie sie meinen, „Mystisches 44 an sich haben, die sie trösten sollen, und 
die sie retten sollen von der qualvollen Brutalität und Realität dieser 
Zeiten. So haben sich die Bewohner des Dorfes zu unserem Patienten, 
jenem aus starr-abergläubischer Familie stammenden, 
schwach begabten, zu hysterisch-somnambulen Zuständen 
neigenden, stark mit religiös-induziertem Wahn behafteten 
Knaben hingezogen gefühlt, haben ihm, nachdem er zufällig einmal 
(obwohl auch das nicht sicher feststeht und eine Erinnerungsfälschung 
nicht ausgeschlossen ist) etwas Richtiges „vorausgesagt hat 44 , wie 
einen Seher behandelt und betrachtet, damit des Jungen Glauben 
an sich gestärkt und ihn, der neben seiner sicheren hysterischen Ver¬ 
anlagung ein großes Stück Schläue und Pfiffigkeit sein eigen nennen 
konnte, dazu gebracht, daß er ruhig, mit kalter Miene dazuschwindelte. 

Der Fall bot psychiatrisch nichts Außergewöhnliches, auch der 
Inhalt der hysterisch-somnambulen Zustände bot das in zahlreichen 
einschlägigen Publikationen bekannte Bild vom Glauben an Geister, 
an Hexen, von starren religiösen, zum Teil nicht verdauten Bildern 
aus der Offenbarung Johannis; der Hexenprozeß in derselben Gemeinde 
ist in seinem Inhalt auch von vielen andern, weit krasseren Fällen 

*) mehr in den slawischen Ländern. 


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U^yEtr.oilAnv a ; l*e»: die Mögbdikwt #t JDarfeieilnng jltfc Abcrgli«dmjs 

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Wirtsehafüiclie und soziale Lage des Irreupflege- 

Personals. 

Von 

Oberarzt Dr. Kngc, Heilanstalt Strecknitz-Lübeck. 

Völlige Einigkeit herrscht darüber, daß ein tüchtig geschultes, 
leistungsfähiges und gesittetes Pflegepersonal. eine, Hniiptvorau’- 
»et2nng für eine geordpete Irrenfümirge bildet. Über die Wege 
aber, die mr Erreichung dieses Zieles führe», sind di*.* um - 
schiedensten, z. T. recht gegensätzlichen Vorschläge 
werden. Bei der Feststellung der Forderungen, die für die- Be* 
tmhaffung eines guten Pflegepersonals iii Frage kommen, kann 
schon d&dnreh eine verschiedene Behhndliing and Beurteilung ge¬ 
geben sein, daß iuejif alle Anstalten «Be gleichen Bedürfnisse haben 
Örtliche VerhäitKtBse t. B. können eine besondere BeTöcksichtigunir 

eTfarderfl.'.^Ädr. -safaheu. besonderen Verhältnisse abeT sollen bet 

. 

«achstehhnder Betrachtung außer Acht gelassen-und nur die breite 
Masse der größeren. Provinzial- und Bundesanstalten berücksichtigt 
werden. 

Eine Keilte von Leitsätzen, die von Fachmännern eifirigst etr- 
örtert und erwogen sind, seien im folgenden wiedergegeheD. 
(Siebe Bericht über die Jahresversammlung des Vereins der deut¬ 
schen Irrenärzte zu Heidelberg am 18- und 19. Sept. 1896.) An 
ihrer Hand Bollen die einschlägigen Verhältnisse besprochen werden. 

Der erste und wichtigste Satz lautete: Es ist anzust reben., 
daß für die Behandlung Geisteskranker ein bosyodi f • 
anhgebildetes Personal gewonnen werde, das möglichst 
längere Zeit io Dienst bleibt. 

Der springende Punkt dieses Satzes ist der, ob es erwünscht 
ist,, ein Personal za gewinnen, dae die Irren pflege als Lebenaberuf 


Co gle 


Ofj'tVEdsm''0P : iiii( 







374 


Enge, 


wählt, oder ein Personal mit beschränkter Dienstzeit. Während 
die vorsichtige Fassung des Leitsatzes beweist, daß man damals 
dieser Frage noch zweifelnd, jedenfalls unter allerhand Ein¬ 
schränkungen, gegenüberstand, so hat die Erfahrung der Jahre in 
stetig wachsenden Kreisen die Meinung immer mehr gefestigt, daß 
die Krankenpflege der Geisteskranken Sache eines Berufes werden 
müsse, daß es im Interesse der Kranken liegt, daß (las Irrenpflege¬ 
personal der Irrenanstalten ganz oder teilweise wenigstens ein 
Berufspflegepersonal werde. Was man unter dem Begriffe „Berufs¬ 
pflegepersonal“ zu verstehen hat, das sei mit kurzen Worten dahin 
begrenzt: 

Jede Irrenanstalt soll bemüht sein, die Pflege ihrer Kranken 
solchen Personen anzuvertrauen, die mit ihrer ganzen Existenz an 
die Anstalt gebunden sind, und welche die Pflege der Geistes¬ 
kranken zu ihrem Lebensberuf gemacht haben. Jede Anstalt soll 
einen festen Stamm von Personen besitzen, die den Entschluß ge¬ 
faßt haben, an dieser Anstalt zu dienen, solange ihre Dienst¬ 
fähigkeit es gestattet. Nur in diesem Sinne ist der Ausdruck 
„Berufspflegepersonal“ zu verstehen, nicht aber so, daß man un¬ 
bedingt an die Schaffung eines allgemeinen Irrenpflegerstandes 
denken müßte, welchem die einzelnen Anstalten ihr Personal zu 
entnehmen hätten. 

Die Vorzüge eines Berufspflegepersonals würden folgende sein: 

Es würde sich eine größere Ständigkeit des Personals ein¬ 
stellen. Eine Hauptklage vieler Anstalten bezieht sich doch heute 
immer wieder auf den raschen Wechsel, und man muß diese Klage 
als berechtigt anerkennen, wenn jedes Jahr 50°/o und mehr des 
Personalbestandes aus einer Anstalt ausscheidet und durch neue 
Kräfte ersetzt werden muß. Hinzu kommt noch, daß Hand in 
Hand mit dem raschen Wechsel des Personals auch eine Abnahme 
der Güte desselben einherzugehen pflegt. Es ist klar, daß unter 
solchen Verhältnissen eine sachgemäße und humane Pflege sehr 
in Frage gestellt werden kann. Daß die Beschaffenheit von Be¬ 
rufspflegepersonal eine bessere sein wird, braucht kaum noch be¬ 
sonders betont zu werden. Denn es ist ohne weiteres einzusehen, 
daß Personen, die nicht daran denken, die Anstalt, an der sie die 
Irrenpflege ausüben, zu verlassen, ihren Dienst und ihre Pflichten 


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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 375 


ganz anders auffassen als solche, die den Dienst in eiher Irren¬ 
anstalt nur als vorübergehenden Notbehelf ansehen und bei ihrem 
Eintritt in die Anstalt vielleicht schon wieder den Termin wissen, 
an welchem sie wieder aastreten werden. 

Das Personal soll möglichst längere Zeit im Dienst bleiben, 
so heißt es in dem 1. Leitsatz. Anch hier wieder die große Vor¬ 
sicht in der Fassung der Forderung. Es hat nämlich nicht an 
Stimmen gefehlt, welche eine langjährige Dienstzeit des Pflege¬ 
personals als nicht empfehlenswert bezeichneten und den Verbleib 
des Personals in dem Dienst der Anstalt auf eine 5—6 jährige 
Dienstzeit beschränkt wissen wollten. Begründet wurde diese An¬ 
sicht damit, daß der dauernde Umgang mit Geisteskranken auf 
die körperlichen und geistigen Kräfte aufreibend wirke, und daß 
infolgedessen auch das ursprünglich gute Personal mit der Zeit 
an seiner Güte einbüße. Mag man auch zugeben, daß man solche 
Erfahrungen gelegentlich an langgedientem Personal machen kann, 
so dürfte doch die daraus gezogene Forderung, ein Personal mit 
beschränkter Dienstzeit anzustreben, keineswegs richtig sein. 
Wenn die geistigen und körperlichen Kräfte der Beteiligten vor¬ 
zeitig aufgerieben werden, so erscheint vielmehr der Schluß zu¬ 
lässig, daß dort die Gestaltung des Pflegedienstes eine nicht richtige 
ist. Dann ist hier der Hebel einzusetzen, und es ist zu verlangen, 
daß der Pflegedienst so einzurichten ist, daß er seine erschöpfende 
und aufreibende Wirkung möglichst verliere. 

Pflegepersonal, das jahrelang den Dienst in einer Irrenanstalt 
versehen hat, nach einer gewissen Dienstzeit einfach entlassen zu 
wollen, nur weil es in seiner Leistungsfähigkeit naohläßt, würde 
einen Akt großer sozialer Härte darstellen, den Krankenanstalten 
nicht vollziehen sollten. Zum mindesten müßte dieser Akt da¬ 
durch gemildert werden, daß man den Entlassenen eine Geld¬ 
entschädigung gewährt oder ihnen irgendeinen anderen Dienst 
in einer anderen Verwaltung sichert. Wollte man wirklich eine 
beschränkte Dienstzeit des Pflegepersonals aus den angegebenen 
Gründen für berechtigt halten, so müßte man denselben Grundsatz 
auch für die Anstaltsärzte in Anwendung bringen. Nicht nur das 
Pflegepersonal, sondern auch die Ärzte können durch den Dienst 
vorzeitig verbraucht werden und so in ihrer Leistungsfähigkeit 


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376 


Enge, 


leiden. Nbch hat hier aber niemand den Vorschlag gemacht, die 
Dienstzeit der Ärzte auf kurze Zeit beschränken zu wollen. Eine 
solche Maßnahme würde auch den Interessen der Kranken ebenso 
zuwiderlaufen wie den Lebens- und Existenzinteressen der Irren¬ 
ärzte. Mit dem Pflegepersonal verhält es sich ganz ebenso. 

Es gilt also die Forderung, daß das Pflegepersonal der Irren¬ 
anstalten ein Berufspflegepersonal werde, das gewillt ist, seinen 
Beruf so lange auszuüben, als es seine Dienstfähigkeit gestattet. 

Und bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit darf man keinen 
andern Maßstab anlegen als es bei andern Berufen üblich ist. 

Um nun ein tüchtiges Berufspflegepersonal zu erlangen, ist 
es in erster Linie notwendig, die soziale Stellung und die wirt¬ 
schaftliche Lage des Pflegepersonals so zu gestalten, daß junge, 
kräftige, körperlich und geistig gesunde, unbescholtene und bildungs¬ 
fähige Leute veranlaßt werden, die Irrenpflege als Lebensberuf 
zu erwählen. 

Mit der sozialen und wirtschaftlichen Stellung des Pflege- ( 
Personals beschäftigen sich die nächsten Leitsätze. Ein 2. Leit¬ 
satz lautet: 

Jede Anstalt soll ihr Pflegepersonal möglichst selbst 
heranbilden, d. h. Direktor und Ärzte der Anstalt sollen 
das Pflegepersonal in der Krankenpflege unterrichten. 

In diesem Leitsatz ist die Frage, woher wir geeignetes Per¬ 
sonal beziehen sollen, dahin beantwortet, daß die Direktion jeder 
Anstalt die Anwärter für den Irrenpflegedienst selbst wählen und 
zu Pflegern heranbilden soll. Niemand wird die Vorzüge einer 
solchen Einrichtung verkennen. Man tut recht daran, anzunehmen, 
daß der ärztliche Leiter einer Irrenanstalt selbst am besten weiß, 
welche Personen von den sich Meldendenden für seine Anstalt 
am geeignetsten sind. Es ist zweifellos vorteilhaft, wenn das neu 
eingetretene Pflegepersonal seine Probezeit unter den Augen des 
Direktors abmacht. Es scheint aber entschieden zu weit gegangen, 
wenn man, wie das vielerorts geschieht, grundsätzlich die An¬ 
stellung eines Pflegers oder einer Pflegerin ablehnt, die bereits in 
einer andern Anstalt als solche angestellt gewesen sind. Man hat 
diese Maßnahme damit begründet, daß man solche Leute, die schon 
in einer andern Irrenanstalt oder Krankenanstalt gedient haben. 


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Wirtschaftliche and soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 377 

schlechtweg als unbeständige und nach Abwechslung strebende 
Menschen bezeichnet, die für den Irrenpfiegedienst ungeeignet seien. 
In einer' solchen Verallgemeinerung ist eine derartige Behauptung 
aber unzutreffend, und die Ausschließung solcher Personen, die bereits 
an anderen Anstalten tätig waren, bedeutet einerseits eine soziale 
Härte und andererseits eine unvorteilhafte Beschränkung des An¬ 
gebots. Die Gründe eines Anstaltswechsels können in größerer, 
Zahl durchaus berechtigt sein und brauchen keineswegs eine ge¬ 
eignete Beschaffenheit der Betreffenden auszuschließen. Nur einige 
Beispiele dafür. Die Entlohnung des Pflegepersonals ist nicht an 
allen Anstalten die gleiche. Viele Pflegepersonen sind aus den ver¬ 
schiedensten Gründen genötigt, einen möglichst großen Verdienst 
zu erringen. Wer nun die Anstalt wechselt, um sich im Lohn 
zu verbessern, dem wird man dieserhalb nicht die Geeignetheit 
absprechen müssen. Pflegt man doch auch in anderen Berufen 
es niemand übelzunehmen, der seine Stellung wechselt, um sich 
wirtschaftlich zu verbessern. Andere werden ferner durch ver¬ 
wandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen zu einem An¬ 
staltswechsel veranlaßt. Ist es doeh für manchen nicht gleichgültig, 
ob er in der Anstalt oder in ihrer Nähe einen geeigneten Anschluß 
hat oder nicht. Schließlich scheint es nicht nötig zu sein, daß 
das Pflegepersonal auf die Einrichtungen und Gepflogenheiten eines 
Direktors und einer Anstalt eingeschworen ist. Brauchen doch 
diese durchaus nicht immer allgemein anerkannt oder die einzig 
richtigen zu sein. In anderen Berufen wird es auch nicht ohne 
weiteres als ein Fehler ausgelegt, wenn jemand sich in der Welt 
umgesehen hat und andere Einrichtungen' kennengelernt hat. 
Wer aus diesen oder ähnlichen Gründen die Anstalt wechselt, ge¬ 
hört deshalb noch nicht zu den sogenannten Wandervögeln, die 
gewohnheitsmäßig von Anstalt zu Anstalt ziehen, und die aller¬ 
dings für einen Pflegedienst ungeeignet sind. Diese Elemente fern¬ 
zuhalten, dürfte nicht schwer fallen; dazu ist eine so schroffe 
Maßregel wie die erwähnte nicht erforderlich. 

Daß jede Anstalt sich ihr Personal selbst heranbilde, ist ein 
Weg, um ein tüchtiges Berufspflegepersonal %u erlangen, nicht aber 
der einzige Weg. Das beweisen andere, bereits bestehende Ein¬ 
richtungen. In manchen, besonders katholischen Ländern, hat 

ZMtMhritt flr PayeUatri«. LXXV. S. 26 


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378 


Enge, 


man die Krankenpflege religiösen Genossenschaften und Order 
übertragen und ihnen somit auch die Auswahl der einzelnen Per¬ 
sonen überlassen. Auch von diesem Vorgehen werden günstig 
Erfahrungen berichtet. 

Im Königreich Sachsen hat man die Auswahl der Anwärter 
für den Pflegedienst dem Staate selbst überlassen. Man hat dort 
besondere Pflegeschulen errichtet, aus denen sämtliche Landes- 
anstalten ihr Personal beziehen. Auch diese Einrichtung hat siel 
durchaus bewährt. Man sieht also auch hier, es führen viel* 
Wege nach Rom, und man wird kaum den einen Weg als den 
einzigen und allein richtigen bezeichnen können. Welchen Wo¬ 
zu r Heranbildung und Erziehung des Personals man nun ein- 
schlagen will, immer wird eine gewisse Auswahl nötig werden, 
da nur eine bestimmte Anlage einen Erziehungserfolg ermöglich:. 
Bei dieser Auswahl wird jeder, sei es nun Anstaltsdirektion, se: 
es Ordensgemeinschaft, oder der Staat selbst, sich Mittelspersonen 
und Vertrauensmänner bedienen, die Leute zur Auswahl Zufuhren 
Hinsichtlich dieser Auswahl seien noch einige ganz allgemein- 
Bemerkungen gemacht. 

Bezüglich des Lebensalters der Anzustellenden empfiehlt cs 
sich vor allem, über eine gewisse Altersgrenze nicht hinauszu 
gehen, d. i. durchschnittlich eUva das 25. Lebensjahr. Junge 
Leute sind bildungsfähiger und erlernen daher die Pflege Geistes¬ 
kranker leichter als ältere Personen. Da, wo ein ruhelohnbe¬ 
rechtigtes Personal besteht, erfordert schon die Rücksicht auf dir 
Geldverhältnisse eine solche Altersbegrenzung. Als unterste Grenz« 
dürfte man das 18.—20. Lebensjahr annojimcn können. 

Unerläßliche Bedingungen für den Pflegedienst sind selbstver¬ 
ständlich völlige geistige und körperliche Gesundheit und ein ein¬ 
wandfreies Vorleben, ein guter Leumund. 

Als Pfleger eignen sich besonders gut junge Leute, die eben 
ihre Militärdienstzeit hinter sich haben und mit einem guten 
Führungszeugnis entlassen sind, als angehende Pflegerinnen solch«- 
junge Mädchen, die aus der Familie oder einem häuslichen Dienst 
kommen. 

Bemerkenswert ist, daß auch heute noch in der überwiegenden 
Mehrzahl das Pflegepersonal aus den niederen sozialen Schichten 


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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irren Pflegepersonals. 379 


stammt. Es ist nun die Ansicht vieler, daß mehr noch als die 
Krankenpflege die Pflege der Geisteskranken in die Hände Ge¬ 
bildeter gelegt werden müßte, da es sich in der Irrenpflege um 
das tiefinnerste Verstehen, um den Takt des Herzens und des 
Kopfes handelt und gesellschaftliche Untugenden hier besonders 
stark empfunden werden. Es mag daran sehr vieles Wahrheit 
sein. Es gibt aber auch sehr viele, die von Pflegepersonen, die 
den gebildeten Ständen entstammen, wenig Gutes gesehen haben, 
da dieselben meist sehr empfindsam sind, oft von vornherein eine 
herausgehobene Stellung beanspruchen und sich nicht allen Dienst¬ 
leistungen unterziehen wollen. Auch wird man nicht behaupten 
können, daß tüchtige Charaktereigenschaften, ’ auf die es ja in 
erster Linie ankommt, nur bei den sogenannten gebildeten Ständen 
anzutreffen sind. Tatsache ist schließlich, daß unter den besseren 
Ständen heutzutage nur eine sehr geringe Vorliebe für den Irren¬ 
pflegeberuf vorhanden ist. 

Daß eine Schulung und Ausbildung des Pflegepersonals not¬ 
wendig ist, darüber sind alle Anstaltsärzte einig. Es versteht sich 
dies übrigens von selbst, wenn man nur Leute in den Pflegedienst 
aufnehmen will, die noch keinen Pflegedienst getan haben. 

Die Einführung in die Irrenpflege geschieht zunächst an der 
Hand einer genauen Dienstanweisung und einer Hausordnung, so¬ 
dann durch Fachunterricht und schließlich durch eine planmäßig 
durchgeführte dienstliche Verwendung jedes einzelnen. Haupt¬ 
sache bleibt, daß alles unter ärztlicher Aufsicht geschieht. 

Über die Art, wie der Unterricht erteilt werden soll, kann 
man verschiedener Meinung sein. Ihn abzuhalteu, ist Sache der 
Arzte. 

Was soll gelehrt werden? Der Hauptwert wird zu legen sein 
auf die Technik der Krankenpflege, insbesondere der Irrenpflege. 
Hier muß das Pflegepersonal auch praktisch mit allen Ver¬ 
richtungen vertraut gemacht werden, die in der Irrenpflege Vor¬ 
kommen. Mit rein medizinischen Einzelheiten der Anatomie, 
Physiologie und anderer Fächer wird man sparsam umgehen 
können, die wissenschaftliche Belehrung mehr dahin richten, daß 
das Pflegepersonal es lernt, wie sich z. B. Angst, Selbstmorddrang, 
Sinnestäuschungen und andere Erscheinungen des Irreseins zu 

26 * 


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380 

X 

äußern pflegen. Mit solchen Kenntnissen wird das Personal den 
Arzt wirklich unterstützen können. 

In manchen Ländern z. B. England, Amerika, Österreich, in 
Deutschland im Königreich Sachsen, macht das Pflegepersonal 
einen geordneten Bildungsgang durch, etwa folgender Art: Nach 
einer bestimmten Probezeit nimmt das Pflegepersonal an den Lehr- 
kursen teil, die sich gleichfalls über vorgeschriebene Zeitläufe er¬ 
strecken. Nach Beendigung derselben legt es vor einer Behörde 
eine Prüfung ab und erhält einen Prüfungsausweis. Erst dann 
erfolgt die endgültige Anstellung als Pfleger. So wird beispiels¬ 
weise im Königreich Sachsen verfahren, wo die Pflegeordnung für 
die Landesheil- und Pflegeanstalten bestimmt, daß der Anstellung 
eine Ausbildung im Pflegerhause und ein Hilfspflegerdienst von 
mindestens zweijähriger Dauer vorauszugehen hat. 

Die Frage, ob nun eine solche Ausbildung und Prüfung eine 
unerläßliche Voraussetzung für eine feste staatliche Anstellung 
bilden sollen, hat vielfach zur Erörterung gestanden. Die deutschen 
Psychiater haben sich in ihrer Mehrheit nicht für Einführung von 
Prüfungen und Erteilung von Befähigungsnachweisen des Pflege¬ 
personals erwärmen können. Man hat darin allerlei Gefahren er¬ 
blickt, so z. B. daß durch sie Überhebung, Strebertum und Halb¬ 
bildung gezüchtet würden, daß ferner die Anstalten dadurch Per¬ 
sonal, dessen Wert nicht auf theoretischen Kenntnissen beruht, 
sondern in Vorzügen des Charakters, verlieren würden. Man hat 
auoh geltend gemacht, daß Prüfungen keinen rechten Aufschluß 
über die Leistungsfähigkeit des Personals geben können. Mag 
vieles daran auch richtig sein, man wird die Bedenken doch nicht 
in dieser krassen Form zu teilen brauchen. Heutzutage wird in 
allen öffentlichen Dienstzweigen, die eine Sonderausbildung nötig 
machen, der Befähigungsnachweis durch eine Prüfung verlangt. 
Auch bei nicht öffentlichen Berufen, z. B. den Handwerkern, ist 
dies schon der Fall. Jedenfalls wird ein Beruf dadurch in seinem 
Ansehen nach außen hin gehoben, was auch nicht ohne Bedeutung | 
ist. Und noch etwas anderes. Schon vor Jahren sind Vor- I 
Schriften über die staatliche Prüfung von Krankenpflegepersonen J 
in Kraft getreten mit der ausdrücklichen Nebenbestimmung, daJß j 
die Krankenanstalten bei der Auswahl der erforderlichen Kräfte I 


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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 381 

die geprüften Pflegepersonen zu bevorzugen haben. Dem werden 
sich anf die Dauer auch die Irrenanstalten nicht entziehen können. 

Schließlich sei noch erwähnt, daß einige Psychiater empfehlen, 
neben dem Fachunterricht dem Personal eine bessere Allgemein¬ 
bildung zuteil werden zu lassen. Zweifellos hat auch dieser Vor¬ 
schlag sein Gutes. Mancher kann nicht in höhere Stufen auf¬ 
rücken, weil ihm gewisse grundlegende Fähigkeiten allgemeiner 
Bildung z. B. richtiges Schreiben und Rechnen usw. fehlen. 

Ein 3. Leitsatz beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen 
Stellung und Sicherung des Pflegepersonals. Er lautet: 

Es sind Einrichtungen zu treffen, durch welche die 
Zukunft des Pflegepersonals möglichst sichergestellt 
wird. (Entsprechend hohes Anfangsgehalt, Steigerung 
des Gehaltes mit der Dienstzeit, Geldbelohnung nach 
längerer Dienstzeit, Ruhegehalt, Witwen- und Waisen¬ 
versorgung, Ausdehnung des Unfallversicherungsgesetzes 
auf das Irrenpflegepersonal.) 

Bezüglich der wirtschaftlichen Stellung des Pflegepersonals 
kommt vor allem eine angemessene Bezahlung in Betracht. Viel¬ 
fach steht die Besoldung des Personals noch in keinem rechten 
Verhältnis zu der Fülle der Togenden, die wir von ihm verlangen. 
Die Höhe des Gehaltes wird natürlich verschieden sein, je nachdem 
die Anstalt in der Nähe einer großen Stadt oder auf dem Lande 
liegt, sie wird aber die ortsüblichen Löhne der dienenden Klasse 
erheblich übersteigen müssen, wenn der Pflegeberuf wirklich be¬ 
gehrenswert erscheinen soll. Wichtig ist ferner, das Anfangsge¬ 
halt verhältnismäßig hoch zu nehmen, da die Erfahrung gelehrt 
hat, daß davon vorzugsweise die Zahl und die Güte der sich 
meldenden Anwärter abhängt. Ferner ist von Bedeutung, daß das 
Gehalt mit der Dauer zufriedenstellender Dienstleistung steigt, und 
daß eine Gehaltsordnung die Erhöhungen und deren Eintritt genau 
regelt, so daß jeder die Gestaltung seiner wirtschaftlichen Lage 
genau überblicken kann. 

Neben einer angemessenen Bezahlung ist die wichtigste Ma߬ 
nahme wirtschaftlicher Sicherung des Pflegepersonals die Ver¬ 
leihung der Ruhegehaltberechtigung. Diese ist sozusagen eine un¬ 
erläßliche Voraussetzung für die Erlangung eines tüchtigen Berufs- 


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382 


Enge, 


% 


Pflegepersonals.. Denn wer einigermaßen an seine Zukunft denkt, 
wird darauf großen Wert legen. Demnach muß die Forderung 
erhoben werden, daß jeder durch Unglücksfall, Krankheit oder 
Alter dienstunfähig gewordenen Pflegeperson. ein ausreichendes 
Ruhegehalt gewährt werde, und daß auch den Witwen und Waisen 
verstorbener Pfleger angemessene Unterstützungen zu leisten sind. 
Am befriedigendsten würde die Frage der Ruhegehaltsberechtigung 
gelöst werden, wenn die Provinzen und die Staatsverwaltungen 
selbst die Ruhelöhne für das Pflegepersonal ihrer Irrenanstalten 
ohne weiteres auf sich nehmen wollten. Bei der großen geldlichen 
Belastung aber wird man sich dazu nicht überall verstehen wollen 
und können, wenigstens nicht in vollem Umfange. 

Hier bleibt dann der andere WSg, daß Anstalt, Anstaltsper¬ 
sonal und'Staatsverwaltung Zusammenwirken, um eine Ruhelohns¬ 
kasse für das Pflegepersonal zu schaffen. Das Pflegepersonal wird 
sich jedenfalls zur Zahlung von Beiträgen bereit finden, wenn da“ 
durch eine bestimmte Regelung der Ruhelöhne erreicht werden 
kann. Zur Zahlung von bloßen Zuschüssen würden sich Staat 
und Gemeinden immer herbeilassen. Daß sich auch auf diesem 
Wege etwas Gutes erreichen läßt, beweist die auf genannter 
Grundlage schon 1894 gegründete „Pensionskasse für die ober- 
bayrische Kreisirrenanstalt in München“, die jeder eingetretenen 
Dienstunfähigkeit gegenüber in ausreichender Weise gerecht werden 
konnte. Alle anderen Einrichtungen der Fürsorge für eintretende 
Dienstunfähigkeit stehen weit hinter den Vorzügen eines gut ein¬ 
gerichteten Pensionswesens zurück. 

Erwähnt seien noch die Sparkasseneinrichtungen, die soge¬ 
nannten Rücklagen von Gehaltsteilen. Dazu hat man folgendes 
vorgeschlagen. 

Der Lohn des ersten Dienstmonats soll in einer öffentlichen 
Sparkasse verzinslich angelegt werden. Bei jeder weiteren Lohn¬ 
auszahlung hat der Pfleger einen neuen Beitrag einzulcgen oder 
das Nichteinlegen vor dem Direktor zu rechtfertigen. Die Spar¬ 
kassenbücher bleiben unter dem Verschluß des Rechnungsführers 
der Anstalt, der auch die Einlagen besorgt und das Sparkassen¬ 
buch nur nach vorher eingeholtcr Genehmigung des Direktors Jin 
den Eigentümer verabfolgt. 


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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 383 


Ganz abgesehen davon, daß dieses Verfahren eine recht weit¬ 
gehende und in unsere Zeit nicht passende Bevormundung enthält, 
hat es noch den Nachteil, daß jeder einzelne nur für sich spart 
und doch der Not preisgegeben sein kann, nämlich wenn eine 
Dienstunfähigkeit eintritt zu einer Zeit, wenn die Ersparnisse noch 
sehr gering sind. Fließen die Einlagen des einzelnen in eine 
Ruhelohnkasse, so sparen alle für einen und einer für alle und 
die Zukunft des einzelnen ist gesichert, mag er nun früh oder 
spät dienstunfähig werden. 

Eine andere Fürsorgeeinrichtung für eintretende Dienstun¬ 
fähigkeit des Personals bildet die Gewährung von Geldbelohnungen 
für Dienstzeit von bestimmter Dauer. Auf die verschiedenen 
Grundsätze über die Bewilligung von solchen Dienstbelohnungen 
sei nicht näher eingegangen. Sie lassen sich eigentlich nur dann 
empfehlen, wenn man den Austritt der Pflegepersonen nach be¬ 
stimmter Zeit für wünschenswert hält. Daß aber schon nach 
5—6 jähriger Dienstzeit eine Invalidität eintreten müsse, das ist, 
wie bereits ausgeführt, nicht richtig. Daß das gewährte Geld in 
kurzer Zeit zwecklos vergeudet worden ist, daß minderwertige 
Persönlichkeiten in Erwartung der Dienstbelohnung länger im 
Dienst bleiben, bessere trotz der zu erwartenden Belohnung früher 
abgehen, das alles sind unangenehme Erfahrungen, die man mit 
der Verleihung von Dienstbelohnung gemacht hat 

Zum Schluß sei hier noch erwähnt, daß das Pflegepersonal 
auch an der Reiclis-Invaliditäts- und Altersversicherung, an der 
Unfall- und Krankenversicherung in möglichst weitem Umfange 
teilzunehmen hat. — 

Ein 4. Leitsatz bezieht sich auf die innere Gestaltung des 
Pflegedienstes und ist in folgende Worte zu fassen: 

Es sind Einrichtungen zu treffen, durch welche die 
notwendige Erholung und Schonung des Personals ge¬ 
währleistet wird. (Genügende Anzahl im Verhältnis zum 
Krankenbestande. Regelung der Arbeitszeit. Regel¬ 
mäßige dienstfreie Zeiten. Besondere Erholungsräume. 
Bestimmter Urlaubsanspruch mit Fortbezug des Gehaltes. 
Geeignete Wohnung und Beköstigung.) 

Ein Haupterfordernis ist, daß das Pflegepersonal mit Rück- 


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384 En ß®. 

sicht auf Zahl und Artung der Kranken genügend zahlreich sein 
muß. 

Zum andern muß die Einrichtung des Dienstes darauf hin¬ 
zielen, daß die erschöpfenden Wirkungen, die in einem dauernden 
Umgang mit Geisteskranken zweifelsohne liegen, möglichst abge¬ 
schwächt werden. Ein gutes Mittel, um die körperliche und 
geistige Frische des einzelnen länger waohzuhalten, ist die Ab¬ 
wechslung im Dienst. Unter diesem Gesichtspunkt ist es unzweck¬ 
mäßig, daß' das Personal jahrelang denselben Dienst zu leisten hat. 
z. B. ständig auf der gleichen Abteilung und bei den gleichen 
Kranken Verwendung findet. Heutzutage ist das noch der Fall, 
weil man bei der geringen Auslese oft froh ist, jemand gefunden 
zu haben, der sich für den einen oder anderen Posten besonders 
gut eignet. Eine solche einseitige Verwendung aber ist auch nicht 
mit einer möglichst vielseitigen Ausbildung des Personals in Ein¬ 
klang zu bringen. Für die Erholung und Sohonung des Personals 
sind regelmäßige freie Zeiten erforderlich. Jede Woche einen 
freien Nachmittag und alle 14 Tage einen freien Sonntag dürfte 
ein erfüllbares Verlangen sein. Viele Anstalten stellen denen, die 
ihre freie Zeit nicht außerhalb derselben verbringen wollen, wohl¬ 
eingerichtete Erholungsräume, Pflegerheime, zur Verfügung. Es ist 
dies eine dankenswerte Einrichtung, vor allem wenn, wie im 
Königreich Sachsen, diese Heime auch als Unterkunfts- und Er¬ 
holungsstätten für die Zeiten längeren Erholungsurlaubs dienen 
können. Zu warnen aber ist davor, irgendeinen Druck hin¬ 
sichtlich der Benutzung dieser Einrichtungen ausüben zu wollen, 
sondern im allgemeinen empfiehlt es sich, die Wahl des „Wie und 
Wo“ der Erholung den einzelnen zu überlassen und nicht in 
Standes- und Lebensgewohnheiten ohne zwingenden Grund ein¬ 
zugreifen. 

Als wichtige Forderung ist noch zu erheben: Das Personal 
soll alljährlich auf einen längeren Urlaub mit Fortbezug des Ge¬ 
haltes Anspruch haben. Eine Dauer von 14 Tagen wird man als 
angemessenes Mindestmaß bezeichnen können. Viele Anstalten 
gehen auch erheblich über diese Frist hinaus. Daß gegebenen¬ 
falls aus Gesundheitsrücksichten auch einmal ein wesentlich 
längerer Urlaub mit oder ohne Gehaltsbezug bewilligt werden soll, 
kann als selbstverständlich gelten. 


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Wirtschaftliche and sociale Lage des Irrenpflegepersonals. 385 


Wenige Worte seien noch den Wohn- und Beköstigungsver¬ 
hältnissen gewidmet. 

Es ist eine gewöhnliche Erscheinung, daß man nicht aus¬ 
reichende Räume für das Pflegepersonal vorgesehen hat. Ein 
eigenes Zimmer für das Pflegepersonal ist sehr selten zu finden. 
Zwei, drei und noch mehr wohnen in einem Raum. Die Mehrzahl 
des Irrenpflegepersonals ist sogar gezwungen, mit den Kranken in 
den verschlossenen Krankensälen zusammen zu schlafen. Wenn 
man diejenigen Kranken, deren Zustand die Beigebung einer 
Pflegeperson Tag und Nacht erforderlich macht, möglichst alle auf 
einem Wachsaal unterbringen würde, so könnte die immerhin recht 
einschneidende Maßnahme des Zusammenschlafens des Personals 
mit den Kranken sicher wesentlich eingeschränkt werden. Das 
Pflegepersonal würde in überwiegender Mehrzahl darin eine 
wesentliche Erleichterung seines Dienstes sehen. Gerade von 
Leuten aus sozial höheren Schichten hört man öfters die Äußerung, 
daß ihnen das Zusammenschlafenmüssen mit den Kranken und 
auch mit mehreren anderen Pflegepersonen die Freude an ihrer 
Tätigkeit verleidet. 

Eine andere sehr häufige Klage des Pflegepersonals betrifft 
die Kost. Es bestehen darüber in verschiedenen ärztlichen und 
fachwissenschaftlichon Zeitschriften umfangreiche Abhandlungen, 
die dartun, daß es sich dabei nicht etwa um unberechtigte Unzu¬ 
friedenheiten handelt, sondern um Verhältnisse, die dringend der 
Abhilfe bedürfen. Einzelheiten sollen hier nicht aufgerollt werden* 
Eine gute und reichliche Ernährung ist von augenfälliger Bedeutung 
für die Leistungsfähigkeit und für die Krankheits- und Sterblich¬ 
keitsverhältnisse des Pflegepersonals. Mohr als es bisher geschieht, 
könnte auch auf küchentechnische Dinge Rücksicht genommen 
werden. Die Nahrung soll nicht nur reichlich, sie soll auch 
schmackhaft, appetitlich und abwechslungsreich sein. Viel wird 
gegen den obersten Grundsatz einer guten Küche gefehlt, nämlich 
das Essen frisch sofort aufzutischen, wenn es tischfertig ist. — 
Nur soviel über die Beköstigungsfrage des Pflegepersonals. 

Vorstehend sind in kurzen Zügen die Wege gezeichnet, die 
geeignet erscheinen, den Irrenpflegeberuf begehrenswert zu machen 
und ein tüchtiges Berufspflegepersonal heranzuziehen. Für das 


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386 


Enge, 


I 

männliche Personal besonders stellt sich noch die Notwendigkeit 
heraus, ihm die Möglichkeit einer Familiengründung zu erleichtern. 
Dies geschieht aber durch die Herstellung gesunder Wohnungen 
für Verheiratete. Auch hierin haben zahlreiche Provinzialver¬ 
waltungen bereits Mustergültiges in freigebiger Weise geleistet. 

Die Regelung nach den besprochenen Richtlinien stellt in 
vielen Punkten eine Geldfrage dar. Trotz der Schwierigkeiten und 
der Opfer, die damit verknüpft sind, darf man hoffen, daß sie in 
absehbarer Zeit allgemein durchgeführt wird. Daß bei der Her¬ 
anziehung und Ausbildung eines guten Pflegepersonals vom An¬ 
staltsarzt ein erheblicher Teil Arbeit, und zwar sozialer Arbeit im 
Interesse seiner ihm anvertra'uten Kranken zu. leisten ist, geht aus 
den gemachten Ausführungen zur Genüge hervor. f 

Leider hat der große Weltkrieg uns auch auf dem Gebiete 
der Fürsorge für ein gutes Irrenpflegepersonal zurückgebracht. 
Die Beschaffung von Ersatz für das zum Heeresdienst eingezogene 
männliche Pflegepersonal ist auf große Schwierigkeiten gestoßen. 
Dabei soll anerkannt werden, daß öffentliche Arbeitsnachweise. 
Hilfsdienstpflichtstellen, Sanitätsärater und Generalkommandos sich 
eifrig bemüht haben, die entstandenen Lücken auszuffillen. Aber 
den zu stellenden Anforderungen hat der so gewonnene Ersatz 
meist nicht genügt. Nur eine im Krieg aufgenommene Einrichtung 
hat sich bewährt, d. i. die Verwendung von weiblichen Pflege¬ 
personen bei der Pflege von männlichen Geisteskranken. Mit ver¬ 
hältnismäßig wenigen Ausnahmen war es vor dem Krieg Grund¬ 
satz, auf der Männerabteilung nur männliches Personal zu ver¬ 
wenden. Damit hat man im Kriege gebrochen, und die gemachten 
Erfahrungen haben gelehrt, daß weibliches Pflegepersonal auch 
auf Männerabteilungen mit Vorteil verwendet werden kann. Zwar 
kann die Pflegerin nicht allgemein auf Männerabteilüngen Ver¬ 
wendung finden, aber sie kann zu einem Teil den Mann ersetzen 
und ihn in manchen Teilen sogar übertreffen. Besonders geeignet 
ist weibliche Pflege für das Lazarett, die Siechenabteilung und 
auch als Extrapflegerin, während für die unruhigen Männerab¬ 
teilungen sich männliches Pflegepersonal besser eignet. Es steht 
infolge des Männermangels nach dem Kriege zu erwarten, daß in 
vielen Anstalten die Verwendung weiblichen Pflegepersonals auf 


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% Kleinere Mitteilungen. 

\ 

Zu Dr. K. E. Mayers Aufsatz: „Blücher in kranken Tagen“ 
(diese Zeitschr. Bd. 24, Heft 4—6). — Nun ist also auch unser braver, 
alter Vater Blücher psychiatrischem Forschertrieb zum Opfer gefallen! 
Stabsarzt Dr. Mayer hat es unternommen, des Marschall Vorwärts Seele 
zu sondieren. Ob es recht getan war, seine gelegentlichen psychischen 
Eigentümlichkeiten unter die kritische Lupe zu Jiehmen und damit an 
dem Nimbus dieses unseres Nationalheros aus Deutschlands größter Zeit 
zu rühren, wage ich zu bezweifeln. Denn wenn auch die Feststellung 
einer zeitweisen Anomalie den Helden und seine Taten bei psychiatrisch 
denkenden Menschen nicht herabsetzen kann und wird, so urteilt die 
Menge, wenn sie solche Reflexionen aufgreift, doch anders, und das Votum 
aus berufenem Munde: „Blücher war periodisch geisteskrank“, scheint 
nicht geeignet, „ihn dem Volke menschlich näher zu bringen“, sondern 
birgt vielmehr die Gefahr in sich, unserer materiellen und für Ideale nicht 
mehr empfänglich erscheinenden Gegenwart auch noch leuchtende nationale 
Güter der Vergangenheit zu zertrümmern. 

Aber abgesehen davon kann ich auch den psychiatrischen Deduk¬ 
tionen des Verfassers nicht folgen. Mayer behauptet: „Blücher litt an 
manisch-depressivem Irresein“, und et* kommt zu diesem Resultate letzten 
Endes lediglich auf Grund der Tatsache, daß Blücher mehrere Attacken 
einer Depression durchmachte, worin er eine Periodizität sehen will. Bei 
dieser Diagnose störte ihn nicht das völlige Fehlen einer manischen Periode, 
indem er ausführt, was ja auch nicht zu beanstanden ist, daß dieselbe 
auch zur Annahme einer derartigen Psychose nicht unbedingt notwendig 
sei; er stieß sich nicht an dem Umstand, daß sich die melancholischen 
Phasen erst ip vorgerücktem Lebensalter geltend machten, auch nicht 
an der Form derselben, nämlich dem Unmutscharakter über körperliche 
Leiden und der durch dieselben bedingten Verurteilung zur Untätigkeit, 
auch nicht an den ausgesprochen hypochondrischen Vorstellungen und 
gelegentlichen Illusionen auf der Höhe der Verstimmung. Wohl scheint 
er anfänglich nicht ohne gewisse Bedenken an der Richtigkeit seiner 
Theorien gewesen zu sein, aber die Stärke und Dauer der Depressionen 
und das Fortbestehen derselben über die Störung des Allgemeinbefindens 
hinaus, oder in einem anderen Falle die Besserung der Verstimmung trotz 


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Kleinere Mitteilungen. 


389 


andauerndem körperlichen Leiden hat dann doch oiTenbar -edle Bedenken 
besiegt und die Annahme einer Selbständigkeit des psychischen Krank¬ 
heitsbildes, nämlich des manisch-depressiven Irreseins, gefestigt (S. 36i, 
Abs. 2). 

Ich glaube aber, auf der Beobachtung mehrerer Verstimmungs¬ 
attacken im Leben eines Menschen darf man, selbst wenn die soeben 
angeführten Gründe zutreffen, nicht ohne weiteres die Diagnose manisch- 
depressives Irresein aufbauen, und möchte, wenn denn schon einmal 
Blüchers Anomalie diagnostiziert werden soll, einer anderen Auffassung 
Ausdruck geben. Ich glaube, wie gesagt, nicht an eine periodische Melan¬ 
cholie und möchte trotz aller von Mayer dafür angeführten Gründe 
der hypochondrischen Natur der Depressionen Blüchers festhalten und 
dieselben als eine Teilerscheinung einer mäßigen Psychopathie erklären. 

Die Psychopathie ist eine angeborene Konstitutionsanomalie, die, 
ganz allgemein ausgedrückt, in einer Seelenzwiespältigkeit besteht, zufolge 
der sich die Seelentätigkeit^der betreffenden Individuen in schroffen 
Kontrasten bewegt. Impulsivität und Stimmungswechsel sind zwei der 
fast nie fehlenden Symptome dieses Leidens, die man stets bis in die 
früheste Jugendzeit zurückverfolgen kann und feststellen muß, wenn 
man überhaupt die Diagnose Psychopathie stellen will. 

Diese Züge finden wir nun in Blüchers Leben in reichlicher Anzahl. 
Uber erbliche Belastung ist zwar nicht viel zu sagen, aber die Impulsivität 
in der Aszendenz (Vorfahr Totschläger im Jähzorn) und in der Deszendenz 
die geistige Erkrankung seines Sohnes geben doch zu denken und lassen 
die Annahme einer gewissen Degeneration auch bei ihm nicht ganz von 
der Hand weisen. 

Er hat als Kind, wie er selbst von sich sagt, „alles versäumt, was 
er hätte lernen sollen“; das deutet auf eine gewisse innere Unrast und 
psychische Zerfahrenheit hin, die sich auch in seinem ganzen ferneren 
Leben nicht völlig verleugnet. Impulsive Triebe veranlaßten seinen Ein¬ 
tritt mit 16 Jahren in schwedischen Heeresdienst; „lockerten ihm den 
Säbel“ bei geringfügigsten Anlässen, lieferten ihn manchen Leidenschaften 
aus (Spiel)jind ließen ihn an keinem Orte lange ausharren und heimisch 
werden, alles Anzeichen einer psychopathischen Persönlichkeit! Das 
hinderte selbstverständlich nicht, daß er trotzdem oder vielleicht gerade 
deshalb ein militärisches Genie wurde, weiß man doch, daß Genie und 
Anomalie recht nahe Verwandte sein können. 

Wie bei den meisten Psychopathen traten dann mit zunehmendem 
Alter auch bei Blücher die trüben Gefühlstöne häufiger und nachhaltiger 
in den Vordergrund; er wurde zum Schwarzseher (siehe S. 328, Abs. 3), 
besonders als sich körperliche Beschwerden einstellten. Er spielte mit 
Todesgedanken bei entsprechenden Gelegenheiten (siehe S. 336, Abs. 3) — 
eine fast typische psychopathische Erscheinung ! — Wenn er nicht völlig 
der sogenannten konstitutionellen Verstimmung anheimfiel, so verdankte 


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390 


Kleinere Mitteilungen. 


er das wohl nur dem Umstande, daß der Grundzug seines ganzen Wesens 
früher so ausgesprochen sanguinisch und impulsiv war und ihn der Ab¬ 
lenkung und Beeinflußbarkeit durch die Vorgänge in seiner näheren und 
ferneren Umgebung zugänglich machte. 

Die einzelnen Attacken seiner psychischen Verstimmung haben aber, 
das läßt sich nicht leugnen, die frappanteste Ähnlichkeit mit den genannten 
Verstimmungen der Psychopathen. Hier wie dort finden wir den aus¬ 
gesprochenen hypochondrischen Typus, wobei bemerkt werden mag. 
daß auch bei dem Psychopathen häufig jeder reale Grund für die hypo¬ 
chondrischen Klagen fehlt. Bei Blücher war dies nicht einmal der Fall, 
er litt wirklich körperlich — Kopf, Unterleib, Gicht usw. — und wenn 
man nun noch bedenkt, daß „jede martervolle Untätigkeit“, — wobei 
ich bei dem Epitheton „martervoll“ nicht gleich an Schmerzen denken 
möchte, — an und für sich schon seiner impulsiven Natur im höchsten 
Grade zuwider war, so kann man die Intensität seiner Depressionen ver¬ 
stehen und braucht nicht „weitgehende Selbständigkeit“ derselben im 
Sinne einer melancholischen Periode des manisch-depressiven Irreseins 
anzunehmen. 

Aus diesem konstitutionellen Grunde heraus erklärt sich auch die 
Beobachtung des gelegentlichen Aufhörens der Verstimmungen noch 
während des Fortbestehens der körperlichen Beschwerden oder des um¬ 
gekehrten Falles, was Mayer als ganz besondere Stützen seiner Diagnose 
benutzt. Die hypochondrischen Depressionen der Psychopathen sind er¬ 
fahrunggemäß nicht in jedem Falle an körperliche Beschwerden gebunden, 
sie sind vielmehr meist psychogener Natur, und daher hat der Verfasser 
bis zum gewissen Grade auch wiederum recht, wenn er eine „weitgehende 
Selbständigkeit des Blücherschen Krankheitsbildes“ annimmt, nur irrt 
er in bezug auf dessen Ätiologie und Rubrizierung. 

Was nun endlich die sogenannten Wahnbildungen Blüchers auf der 
Höhe der schwersten Attacken anbctrifFt, so wäre das, selbst wenn es sich 
um echte Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen gehandelt haben 
sollte, auch bei psychopathisch bedingten Verstimmungen nichts Unge¬ 
wöhnliches. Aber ich habe mich nicht davon überzeugen können, daß 
man in den Äußerungen Blüchers: er habe einen Kopf von Stein, einen 
Elefanten im Leibe u. a., derartiges zu sehen hätte. Ich neige vielmehr 
der Ansicht zu, als seien das nur mißmutige Beschreibungen krankhafter 
Organgefühle gewesen; das darf man schon, glaube ich, aus der Art der in 
gleicher Verfassung produzierten „Sinnestäuschungen“ schließen, die 
in der Tat nichts anderes als allenfalls Illusionen sind, d. h. von krankhaft 
überreizter Phantasie beeinflußte falsche Auslegungen realer Vorgänge 
bzw. Erscheinungen. Ich möchte nur zum Beweise hervorheben den auf 
Seite 336 geschilderten Vorgang, wo der kranke Blücher in einem weißen 
Ofen mit einer auf demselben auf einer Säule stehenden Urne eine weiße 
Gestalt zu sehen glaubte, die die Säule umfaßt, den Kopf an die Urne 


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Kleinere Mitteilnngen. 


391 


gelegt und ihm gewinkt habe; oder ferner (S. 350) die Erscheinung seines 
Freundes Zastrow als Lieht gestalt, was sich dann als der Feuerschein 
einer Feldschmiede entpuppte u. a. m. Diese illusionären Umdeutungen 
harmloser Gegenstände im Zwielicht oder in krankhafter Verfassung ist 
geradezu ein klassisches Symptom psychopathischer Seelen, das findet 
man bei fast jedem einzigen derartigen Individuum. 

So spricht also m. E. alles für die Annahme konstitutionell-hypo¬ 
chondrischer Verstimmungszustände und gegen Depressionsphasen eines 
manisch-depressiven Irreseins. Und da eine mäßige Psychopathie, als die 
das Blüchersehe Leiden anzusprechen wäre, noch bei weitem nichts mit 
Geisteskrankheit zu tun hat, so wäre auch das Odium hinfällig, das anderen¬ 
falls sich an die Lichtgestalt dieses unseres populärsten Nationalhelden 
herandrängen könnte. Dr. Baller-C winsk. 

Erwiderung. — Dem Verfasser vorstehender Entgegnung auf 
meine Blücherskizze, Herrn Dr. Baller, habe ich vor allem zu erwidern: 
Blücher ist keine „Lichtgestalt", kein vom grauen Nebel der Sage um- 
wobener Held der Vorzeit, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, 
mit Fehlern und Krankheiten, aber mit noch viel mehr mannhaften und 
gewaltigen Eigenschaften des Charakters und des Willens. 

Baller wirft mir nun vor, daß ich ..gelegentliche psychische Eigen¬ 
tümlichkeiten" Blüchers ,,unter die kritische Lupe nehme", und daß durch 
meine Schuld nun „unser braver, alter Vater Blücher psychiatrischem 
Forschertrieb zum Opfer gefallen“ sei. Diese Anschuldigung kann ich nicht 
anerkennen. Ich habe nicht etwa „gelegentliche psychische Eigentüm¬ 
lichkeiten" Blüchers zusammengesucht und zu einer psychiatrischen 
Diagnose verdichtet, sondern ich Süchte Klarheit darüber zu gewinnen, 
was an den allgemein bekannten Behauptungen, daß Blücher an „Irrsinn" 
gelitten habe, daß er geglaubt habe, einen Elefanten im Leibe zu haben 
und dergleichen, richtig ist, oder was diesen Behauptungen zugrunde liegt. 
Jedes eingehende geschichtliche Werk aus den Tagen der Freiheitskriege 
enthält derartige Behauptungen zum Teil in einer so schroffen Form 
(vgl. Pertz-Dolbrück, „Gneisenau", 1800, Bd. IV, S. 110/111 und viel 
stärker Delbrück in „Gneisenau bei Laon", Mil. Wochenblatt 191ß, Nr. 4, 
S. 70 fl., wo er davon spricht, „daß der Feldherr vorübergehend irrsinnig 
wurde" u. a.), daß mir auf meine Blücherarbeit der Verfasser der neuesten 
Blücherbiographie, Exz. von I nger, in einem zustimmenden Brief nahe¬ 
legte, diesen unhaltbaren Behauptungen von dem „Irrsinn Blüchers" 
öffentlich einmal ausdrücklich entgegenzutreten. Dies hätte er nicht 
getan, wenn nicht ans meinen Darlegungen hervorgegangen wäre, daß 
ich die Krankheit Blüchers milder beurteile als z. B. der Geschichtsforscher 
Delbrück. Denn wenn Delbrück vom „Irrsinn" Blüchers spricht, so ent¬ 
stehen durchaus falsche, übertriebene Vorstellungen von den Erkrankungen 
Blüchers, die in geschichtlichen Darstellungen als „Schwermutszustände 1 * 


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392 


Kleinere Mitteilungen. 


oder als „schwermütig hypochondrische Verstimmungen" bezeichnet 
werden sollten. Demnach kann von Zerstören eines „Nimbus" für alle, 
die Blücher kennen und verehren und denen er als Mensch und Persön¬ 
lichkeit mehr ist als bloß der „brave, alte Vater Blücher“, nicht die Rede 
sein. Aber auch sonst schienen mir Nichtfachleute in meiner Blücher¬ 
darstellung keine Verunglimpfung des urwüchsigen originellen Mannes 
zu erblicken, sie freuten sich vielmehr an der menschlich großen Persön¬ 
lichkeit, die nach diesen Untersuchungen nicht etwa, wie man sonst hören 
kann, „halb verrückt“ war, sondern nur vorübergehend an Krankheiten 
des Gemütes litt. Eben die Beurteilung Ballers ist mir ein weiterer Beweis 
dafür, daß ich in meiner Darstellung fern davon bin, die Erkrankungen 
Blüchers als krankhaftere Zustande zu schildern, als sie es in Wirklichkeit 
waren. Sonst wäre es nicht denkbar, daß Baller sie lediglich als Ausdruck 
einer Psychopathie, als psychopathische Verstimmungen ansieht. Aber 
trotzdem muß ich dieser Auffassung entgegentreten. Ich setze voraus, 
daß die Diagnose ohne Tendenz gestellt wird. Denn es handelt sich doch 
darum, einen im vollen Licht der Geschichte stehenden Mann klar zu 
sehen. Die Erwägung, daß die Diagnose „periodische Geisteskrankheit“ 
oder vielmehr „Schwermut“ auf „die Menge, wenn sie solche Reflexionen 
aufgreift“, ungünstig wirkt, darf daher nicht bestimmend sein. Baller 
spricht von „gelegentlichen psychischen Eigentümlichkeiten“ und ähn¬ 
lichem. Das ist zu wenig gesagt. Es handelte sich vielmehr um ausge¬ 
sprochene Krankheitszustände. Das beweist vor allem der Umstand, 
daß seine zeitgenössische Umgebung ihn auch für ausgesprochen krank 
ansah, obwohl doch der Laie sehr dazu neigt, sogar da noch psychologische 
Zusammenhänge zu erblicken, wo die neuere Psychiatrie nur noch psycho¬ 
logisch nicht mehr verständliche Auswirkungen einer Geisteskrankheit 
erkennt. Wenn Baller aber der Diagnose nur einen andern Namen geben 
will, indem er von „konstitutionell hypochondrischen Verstimmungs¬ 
zuständen“ spricht, so bin ich vom Standpunkt seiner Nomenklatur fast 
mit ihm einverstanden. Denn ich gebe zu, daß auch für mich zwischen 
Psychopathie mit Neigung zu Stimmungsschwankungen, zwischen Zyklo¬ 
thymie und manisch-depressivem Irresein bzw. periodischer Schwermut 
mehr ein quantitativer als ein qualitativer Unterschied besteht. Immerhin 
betonen die beiden ersten Bezeichnungen mehr die krankhafte Anlage, 
letztere aber sind mit einem in den Zwischenzeiten gesunden Nervensystem 
eher vereinbar und lassen die Krankheitszustände mehr selbständig und 
zeitlich begrenzt erscheinen. Dies trifft aber bei Blücher zu. Ich glaube 
auch, wir tun gut daran, derartige Zustände schwerer Verstimmungen, 
welche Wochen und Monate lang einen Menschen zu jeder Arbeit unfähig 
machen und ihm seine Umgebung in krankhafter Verzerrung zeigen, 
eben als das zu bezeichnen, was sie sind, nämlich als richtige Krankheiten, 
als Depressionen, als Schwermut und nicht bloß als gelegentliche psychische 
Eigentümlichkeiten; wir müssen aus praktischen und wissenschaftlichen 


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Kleinere Mitteilungen. 


393 


Gründen Grenzen ziehen. Gerade aus dieser Begrenzung entspringt aber 
für die Betrachtung Blüchers nebenbei der weitere Gewinn, daß wir sagen 
können: in der Zwischenzeit war Blücher gesund, alle anderen Eigentüm¬ 
lichkeiten gehören zu seinem Charakter, auch krankhaft manische Zu¬ 
stände kennen wir bei ihm nicht, woran vielleicht der psychiatrisch ge¬ 
bildete Geschichtsforscher denken möchte. Klarheit und Wahrheit rüöken 
die Gestalt Blüchers nur mehr ins Licht. Ja, ich halte es für viel günstiger, 
ohne bei meinen Ausführungen an eine Tendenz in dieser Richtung zu 
denken, wenn man sagen kann, daß Blücher eine gesunde, eigenartige, 
geniale Persönlichkeit mit vorübergehenden Depressionen war, als wenn 
man ihn, wie Baller es tut, einen Psychopathen nennt. 

Dr. E. Mayer. 


Eine Anzahl deutscher Psychiater, die an den Bezirksanstalten 
Elsaß-Lothringens tätig waren, sind ihrer Stellen enthoben und nach 
Deutschland abgeschoben worden.’ Das gleiche droht den Ärzten der 
Provinzialanstalten Posens. Es wird für diese Kollegen sehr schwer sein, 
eine neue Stellung zu finden, da die öffentlichen Anstalten infolge der 
Rückkehr der zum Heere eingezogenen Anstaltsärzte und der Verminderung 
der anstaltbedürftigen Kranken reichlich mit Ärzten versehen sind und 
daher eine Neuanstellung nur in einzelnen Fällen in Frage kommen kann. 
Der Vorstand des Deutschen Vereins für Psychiatrie hat sich nun an die 
zuständigen Behörden der Einzelstaaten, der preußischen Provinzen und 
dar bayrischen Kreise mit der Bitte gewandt, sobald ein solcher Fall ein- 
tritt, die wegen ihres Deutschtums vertriebenen Anstaltsärzte Elsaß- 
Lothringens und Posens in erster Linie zu berücksichtigen. Er hofft 
damit keine Fehlbitte zu tun. Sehr wünschenswert aber wäre es, daß 
auch die Kollegen, die als Sachverständige di« Behörden in solchen Fragen 
beraten, sich der Sache annehmen und gegebenenfalls es als ihre Ehren¬ 
pflicht ansehen, jenen Männern, die, aus ihrem Amte herausgerissen, 
nicht nach Unterstützung, sondern nach Arbeit verlangen, diesen Wunsch 
nach Möglichkeit erfüllen zu helfen. Die Zentralfürsorgestelle für elsaß- 
lothringische Beamte im Reichsamt des Innern wird über Namen, frühere 
Stellung und jetzige Adresse der in Betracht kommenden gern Auskunft 
geben. 


Die Heinrich Laehr-Stiftung überwies im Rechnungsjahr 
1. 4. 1918—1. 4. 1919 Herrn Prof. Dr. /sserfm-München 1200 M. zur Fort¬ 
setzung seiner psychologisch-phonetischen Untersuchungen. Das Ver¬ 
mögen der Stiftung bestand am 1. 4. 1919 aus 

Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXV. 3. 27 

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394 


Kleinere Mitteilangen. 



5 000 M. 
100 000 „ 
37 000 „ 
96 500 „ 
70 000 „ 
52 000 „ 
39 000 „ 
29 000 

24 000 „ 

4 000 „ 

5 000 „ 

25 500 „ 
20 000 „ 

16 000 „ 

5 910 


3% preuß. 
3 %•% „ 

4 % 


Konsols 


99 


eingetragen im Staatsschuldbuch und 
der Darlehnskasse Berlin verpfändet 


° /O 

5% 

5% 

4 H% 

5% 

4%% 

4y 2 % 

5% 

5% 

5% 


5% 


1. Kriegsanleihe 

2 . 

3. 

4. 

5. ,, 

6 . 

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eingetragen im Reichsschuldbuch und 
der Darlehnskasse Berlin verpfändet 


der Darlehnskasse Berlin verpfändet 


7. 


7. 


8 . 


9. 


der Darlehnskasse Berlin verpfändet 
eingetragen im Reichsschuldbuch und 
der Darlehnskasse Berlin verpfändet 
eingetragen im Reichsschuldbuch. 


Guthaben bei der Darmstädter Bank. 


Dagegen schuldete die Stiftung der Darlehnskasse Berlin 357 610 M. 


Personalnachrichten, 

Dr. Karl Wickel, San.-Rat, Oberarzt in Dziekanka, ist zum Direktor 
der Landesanstalt Haina (Reg.-Bez. Cassel), 

Dr. Joh. Bresler, Oberarzt in Lüben, zum Direktor der Prov.-Anstalt 
Kreuzburg, . 

Dr. Georg Stertz, Prof., Oberarzt in Breslau, als Nachfolger von Prof. Ernst 
Rüdin zum Oberarzt der psychiatr. Klinik in München ernannt 
worden. 

Dr. H. Willige, Prof., Oberarzt in Halle, ist als leitender Arzt zur 
Privatanstalt Ilten übergesiedelt. 

Dr. Hans Grühle, Priv.-Doz. in Heidelberg, hat den Titel Professor . 
erhalten. 

Dr. E. L. Brückner, Oberarzt in Hamburg-Langenhorn, ist als Stabsarzt 
d. R. in der Kampfzone im Osten am Fleckfieber gestorben. 

Dr. Wilhelm Plaskuda, Oberarzt in Lübben, ist gestorben.. 


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and Konstaminopel gesammelten Erfahrnen. l --,]‘ '■‘■■/- .•;.' 1 

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Carl Moeli, 

dem diese Blätter gewidmet sind, und dessen Bild — aus der 
Zeit kurz vor dem Kriege stammend — sie einleitet, blickt aui 
10. Mai 1919 auf 70 Jahre eines arbeitvollen, aber auch unge¬ 
wöhnlich erfolgreichen Lebens zurück. Den Tag so zu feiern, 
wie es uns sonst wohl ums Herz wäre, verbietet die Not, die 
jetzt über Deutschland hereingebrochen ist, und wäre auch nicht 
im Sinne des Jubilars. Aber daß seine Mitarbeiter und Freunde 
den Tag benutzen, um ihm Früchte ihres Fleißes darzubringen, 
gestattet auch die schwere Zeit, die gerade zur Arbeit und 
zur Vereinigung auffordert, und zum Sammeln solcher Früchte 
dürfte neben dem Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 
dessen Mitherausgeber Moeli ist, unsre Zeitschrift vor andren be¬ 
rufen sein, weil sie in besonders nahen Beziehungen zum Deutschen 
Verein für Psychiatrie steht, dessen Vorsitzender der Jubilar ist. 
Mögen ihm die Darbietungen als Zeichen dankbarer Verehrung 
willkommen sein! 

In Cassel geboren, hat Modi , nachdem er in Marburg. 
Würzburg und Leipzig studiert und als Assistent der inneren 
Kliniken in Rostock und München seine medizinischen Kenntnisse 
befestigt und erweitert hatte, seine psychiatrische Laufbahn ganz 
an Berlin geknüpft. Zuerst unter C. Westphal in der Charite, 
dann an den städtischen Anstalten Dalldorf und Herzberge tätig, 
erlangte er durch seine wissenschaftlichen und praktischen Lei¬ 
stungen wie durch seine für alles Neue offene, aber auch scharf 
und bedächtig abwägende, ebenso lebendige und frische wie 
liebenswürdige und gesellige Persönlichkeit eine mit den Jahren 
rasch zunehmende Bedeutung. Wie vielseitig die Anforderungen 
waren, die an ihn gestellt wurden, ist daraus zu ersehen, daß er 
neben der Leitung der städtischen Anstalt Herzberge (1893—1914) 
als Privatdozent (seit 1883) und ao. Professor (seit 1892) regel¬ 
mäßig Vorlesungen an der Universität hielt, Mitglied der wissen- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 28 

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396 


Vorwort. 


schaftlichen Deputation (seit 1892) und des Reichsgesundheitsrates 
war, den städtischen Körperschaften als Berater diente — so 
besonders auch beim Bau der beiden neuen Anstalten in Buch —, 
im Kultusministerium und später im Ministerium des Innern als 
Hilfsarbeiter eine ausgedehnte Tätigkeit entfaltete und dem 
Deutschen Verein für Psychiatrie (seit 1905) Vorstand. Daneben 
sei an die große Arbeit erinnert, die ihm zwischendurch aus der 
Teilnahme an Kommissionen erwuchs, namentlich an denen zur 
Abänderung des deutschen Strafgesetzbuchs und der Strafproze߬ 
ordnung. Zur Bewältigung dieser so verschiedenen Anforderungen 
war nicht nur rastloser Fleiß und genaue Zeiteinteilung, sondern 
auch ein klares Ergreifen der leitenden Gesichtspunkte und ein 
genauer Überblick über die Einzelaufgaben erforderlich, und allein 
Moelis hervorragende Fähigkeit zum Zusammenfassen im Verein 
mit seiner Neigung, jede Frage hin und her zu wenden,-sie von 
immer neuen Seiten zu betrachten und alle ihre Beziehungen 
sich gründlich zu vergegenwärtigen, ehe er eine Entscheidung 
traf, ermöglichte es ihm, in der Fülle der Einzelheiten die ihm 
vorschwebenden Ziele nicht zu verlieren und in allem die Grund¬ 
züge auszuprägen, die sich ihnl als nötig ergeben hatten. So 
vereinigte er Festigkeit im Wesentlichen mit großer Beweglichkeit 
in Nebensachen und konnte in leitenden Stellungen Ordnung und 
maßgebenden Einfluß aufrechterhalten und doch seinen Mit¬ 
arbeitern weitestgehende Freiheit gewähren. Gerade diese Eigen¬ 
tümlichkeit schuf ihm die Möglichkeit, die Leitung seiner großen 
Anstalt, die ihm die stete Vertrautheit mit allen praktischen und 
wissenschaftlichen Fragen sicherte, gewissermaßen als Unterlage 
für seine weitergehenden Leistungen bis vor kurzem beizubehalten, 
was einem Andren trotz größtem Fleiße kaum ohne Vernach¬ 
lässigung eines oder des andren Amts so lange gelungen wäre. 
Daß ihm die hierzu erforderliche Rüstigkeit und Frische erhalten 
blieb, ist freilich nicht zum wenigsten auch der stillen, unermüd¬ 
lichen Fürsorge seiner Gattin zu danken, die, wie sie in früheren 
Jahren ihm bei seinen mikroskopischen Arbeiten eine treue Helferin 
war, so auch später an allem, was ihn in seiner vielseitigen 
Tätigkeit beschäftigte, stets lebhaften Anteil nahm und in der 
Sorge für sein Wohl aufging. 

Schließlich machte doch das Anwachsen der Aufgaben im 


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Carl Moeli. 


397 


Ministerium und das zunehmende Alter eine Entlastung nötig. 
Aber bald, nachdem Moeli vor 5 Jahren sich entschlossen hatte, 
die Leitung von Herzberge niederzulegen, brach der Krieg aus 
und brachte ihm an Stelle der direktorialen Tätigkeit eine erheb¬ 
liche Vermehrung der übrigen Geschäftslast, da er, um Kräfte 
für andere'Zwecke freizumachen, die Vertretung seiner Mitarbeiter 
im Ministerium in aufopferndster Weise übernahm. Die Folge 
war dauernde Überanstrengung, die im Verein mit der Ernährungs¬ 
knappheit ihm schwere, noch immer nicht ganz überwundene 
Krankheit zuzog. Möge das neue Lebensjahr ihm völlige Ge¬ 
nesung bringen! 

Ich lasse einen Bericht Falkenbergs über Moeli als Anstalts¬ 
direktor und eine Würdigung seiner Tätigkeit im Ministerium 
durch Exz. Kirchner folgen, die beide besondres Interesse er¬ 
regen dürften, und schließe mit einer, wenn auch gewiß unvoll¬ 
ständigen Zusammenstellung seiner bisherigen wissenschaftlichen 
Arbeiten. H. L. 


In kurzen Worten dem gerecht zu werden, was die Anstalt 
Herzberge ihrem ersten Direktor Moeli verdankt, ist keine leichte 
Aufgabe; hat er doch mehr als 21 Jahre rastlos an der Vervoll¬ 
kommnung der Anstalt gearbeitet und allen ihren Einrichtungen 
den Stempel seiner starken Persönlichkeit anfgeprägt. Ein er¬ 
schöpfendes Bild der direktorialen Tätigkeit Moelis *zu geben, ist 
daher schwer möglich; dankbare Verehrung will aber versuchen, 
wenigstens das für sie besonders Kennzeichnende hier festzuhalten. 
Hierzu gehört vor allem die großzügige Auffassung, die Moeli 
von den Aufgaben eines Anstaltsdirektors hatte. Wenn er auch 
die Zügel der Verwaltung straff in der Hand behielt und auch 
dem Detail lebhaftes Interesse entgegenbrachte, ohne das ja nach 
einem Worte Steins niemand Verwaltungsbeamter sein kann, ging 
sein Bestreben doch stets dahin, seinen Mitarbeitern und Beamten 
nach Möglichkeit freie Hand zu lassen. Von der Überzeugung 
durchdrungen, daß das Gedeihen des Ganzen wesentlich von der 
Arbeitsfreudigkeit des einzelnen abhängt, und daß es kein besseres 
Mittel gibt, die Lust und Liebe zur Arbeit zu steigern, als die 
Gewährung möglichst weitgehender Selbständigkeit, sah er seine 
Aufgabe nicht darin, sich um jeden Einzelfall zu kümmern und 



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398 


Vorwort. 


jede Einzelfrage seiner Entscheidung vorzubehalten, sondern in 
der Aufstellung allgemeiner Grundsätze und Richtlinien, nach 
denen gleiche und ähnliche Fragen dann erledigt werden konnten, 
ohne daß jedesmal ein besonderes Eingreifen des Direktors not¬ 
wendig geworden wäre. Freilich bedurfte es, um eine derartige 
Organisation zu schaffen und im Gang zu halten, in der die 
einzelnen Dienststellen möglichst selbständig, unter eigener Ver¬ 
antwortung und doch nach gemeinsamen Gesichtspunkten arbeiteten, 
jenes großen praktischen Geschickes und weiten Blickes, wie sie 
Moeli eigen sind. Und wenn er bei der Erledigung der Geschäfte 
Wert legte nicht nur auf sachliche, sondern auch auf formale 
Korrektheit, so war auch dies nicht etwa der Ausfluß eines un¬ 
fruchtbaren Bürokratismus, sondern der Erkenntnis, daß dadurch 
die glatte Durchführung der von ihm vertretenen dezentralisieren¬ 
den Grundsätze erleichtert werde. 

Namentlich seinen älteren Mitarbeitern ließ er in ärztlichen 
Dingen völlig freie Hand, verlangte dafür aber von ihnen, daß 
sie auch in schwierigeren Fragen unter eigener Verantwortung 
selbständig ihre Entscheidung trafen. Er wußte, daß es in einer 
Anstalt von dem Umfange und der Aufnahmeziffer wie Herzberge 
für den Direktor unmöglich sei, sich um den einzelnen Kranken 
so zu kümmern, wie es von dem behandelnden Arzt verlangt 
werden muß, und überließ daher die eigentliche ärztliche Be¬ 
handlung und Beurteilung des Einzelfalls seinen Ärzten, während 
er sich selbst mehr als consiliarius betrachtete; aber auch als 
solcher suchte er niemals seine etwa abweichende Meinung mit 
Hilfe der Autorität, die er als Direktor beanspruchen konnte, zur 
Geltung zu bringen. Weit wichtiger war ihm, seine Ärzte zu 
eigenem selbständigen Denken und Handeln anzuregen. Trotz 
aller äußerer persönlicher Zurückhaltung war daher überall der 
lebendige, nie rastende, auf das Wohl seiner Kranken und das 
Gedeihen der ihm anvertrauten Anstalt bedachte Geist Moolis zu 
spüren. Auf das sorgfältigste verfolgte er die hygienischen und 
sonstigen in der Behandlung der Geisteskranken gemachten Fort¬ 
schritte, um sie für seine Anstalt nutzbar zu machen und weiter 
auszubauen; die Einrichtung der Herzberger Familienpflege und 
der Beiratsstelle für entlassene Geisteskranke sind, um nur einiges 
zu nennen, sein eigenstes Werk und berühren sich mit jenen 


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Carl Moeli. 


399 


Fürsorge-Bestrebungen (Maßnahmen gegen den Alkoholmißbrauch 
und seine Folgen, Fürsorge für psychopathische Jugendliche u. ä.), 
deren Förderung Moeli auch über den Rahmen der Anstalt hinaus 
sich besonders angelegen sein ließ. Auch seine Reisen und 
häufigen Besuche anderer Anstalten gaben ihm vielfache An¬ 
regungen zur Einführung neuer und Vervollkommnung eigener, 
schon früher selbst geschaffener Einrichtungen: es sei hier nur 
an die mustergültigen Einrichtungen für die Pflege und Unter¬ 
bringung ansteckender Kranken, die Operationszimmer, Dauerbäder 
u. ä. in Herzberge erinnert. — 

Wie er aber selber bei allem weitgehenden Interesse für die 
Fragen der Praxis nicht in dieser aufging, sondern trotz der ge¬ 
waltigen Arbeitslast, die auf ihm ruhte, immer noch Zeit zu 
fruchtbarster literarischer Tätigkeit fand, sah er es auch gern, 
wenn seine Ärzte sich wissenschaftlich beschäftigten. Sie hierbei 
nach Kräften zu fördern und ihnen durch die Bereitstellung be¬ 
sonderer Laboratoriumseinrichtungen und die Beschaffung etwaiger 
sonstiger technischer Hilfsmittel behilflich zu sein, lag ihm be¬ 
sonders am Herzen. 

Dem gleichen Zweck dienten auch die Referierabende, die 
Moeli schon in Dalldorf eingeführt hatte, die dann in Herzberge 
bis in die letzten Jahre hinein weiterbestanden, und auf denen 
untfer Heranziehung # des reichen Krankenmaterials der Anstalt 
wissenschaftliche Fragen mannigfacher Art erörtert wurden. Ge¬ 
rade hier pflegte Moeli gern aus der Fülle seiner Erfahrung und 
seines reichen Wissens zu geben, liebte es aber auch, wenn 
in freier, zwangloser Aussprache Einwände vorgebracht wurden, 
und ließ willig andere Ansichten gelten, wenn sie genügend begrün¬ 
det werden konnten. Die Teilnehmer an diesen Abenden, nament¬ 
lich aus den früheren Jahren, die jetzt in ganz Deutschland verstreut 
sind, werden sich gewiß auch jetzt noch gern jener Stunden erinnern. 

Sein besonderes Interesse wandte Moeli der Heranbildung 
und Erhaltung eines brauchbaren Pflegepersonals zu, für dessen 
berufliche Hebung durch Unterricht in der Anstalt und durch 
zeitweilige Überweisung einzelner an andere Krankenhäuser zur 
Fortbildung auf chirurgischem,Gebiet und in der Pflege anstecken¬ 
der Kranker, einschließlich der Desinfektionsmaßnahmen, er nach 
Möglichkeit sorgte. Auch die Bestrebungen des Personals nach 


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400 


Vorwort. 


wirtschaftlicher Besserstellung und Erleichterung des Dienstes 
fanden bei ihm volles Verständnis: so führte er, zum Teil angeregt 
durch das Studium englischer Anstalten, die er auf seinen ßeisen 
persönlich besucht hatte, schon bald nach Eröffnung der Anstalt 
Herzberge grundsätzlich durch, daß die Pfleger nicht mehr unter 
den Kranken, sondern getrennt in eigenen Zimmern schliefen, 
sorgte dafür, daß die tägliche Arbeitszeit durch dienstfreie Zwischen¬ 
pausen für die Einnahme der* Mahlzeiten und zu sonstiger Er- 
•holung unterbrochen wurde, und richtete auf den einzelnen 
Häusern besondere Zimmer ein, in denen das Pflegepersonal sich 
in der dienstfreien Zeit zur Ruhe und Erholung zusammenfinden 
konnte.- 

So ist die Anstalt Herzberge, in der sich ein gut Teil der 
Lebensarbeit Moelis verkörpert, in Wahrheit sein Werk geworden, 
und leicht wurde es ihm gewiß nicht, als er sich gleich nach 
Vollendung des 65. Lebensjahres von ihr zu trennen entschloß. 
Freilich hatte damals noch niemand außer ihm selbst ein Nach¬ 
lassen seiner Arbeitskraft bemerkt; gewohnt, an sich selbst die 
höchsten Anforderungen zu stellen, glaubte er aber doch, jüngeren 
Kräften Platz machen und sich auf die Tätigkeit an anderer, 
wichtigerer Stelle beschränken zu sollen, um mehr Zeit und Muße 
für die Vollendung von Arbeiten zu haben, die ihn schon lange 
beschäftigten. Die Dankbarkeit und Verehrung seiner Schüler 
und früheren Mitarbeiter ist ihm auch dorthin gefolgt, und gern 
gedenken sie, die ihm in den Jahren gemeinsamer Anstaltstätig¬ 
keit auch persönlich nahe treten durften, mit herzlichsten Wünschen 
des nunmehr Siebenzigjährigen. Falkenberg. 

Am 15. Februar 1892 trat Carl Moeli als Hilfsarbeiter und 
am 17. April 1893 als ordentliches Mitglied in die Wissenschaft¬ 
liche Deputation für das Medizinalwesen ein, am 1. Oktober 1893 
wurde er als ständiger Hilfsarbeiter in die Medizinalabteilung des 
Kultusministeriums berufen und am 1. April 1910 trat er mit 
dieser zum Ministerium des Innern über. Er gehört jetzt also 
mehr als 27 Jahre der Deputation • und mehr als 25 Jahre dem 
Ministerium an. In dieser Zeit hat er eine umfassende Arbeit 
geleistet und einen hervorragenden Einfluß auf die ^Gestaltung 
und Verwaltung des Irrenwesens in Preußen ausgeübt. 


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UNIV-ERSETY OF MICHIGAN 



Carl Moeli. 


401 


Auf Grand eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Deputation 
vom 9. Oktober 1886 war durch Ministerialerlaß vom 19. Januar 
1888 die Aufnahme und Entlassung in Privatirrenanstalten und 
deren Beaufsichtigung geregelt worden. Die Durchführung dieses 
Erlasses stieß jedoch auf Schwierigkeiten, weil die Zahl und Ein¬ 
richtung der betreffenden Anstalten der Zentralinstanz nicht hin¬ 
reichend bekannt war. Auf Hoelis Rat wurde dem zunächst 
durch eine genaue Registrierung abgeholfen. Sodann wurde für 
eine der Natur der Anstalten entsprechendere Art der Beaufsichti¬ 
gung, die bis dahin lediglich durch den zuständigen Kreisphysikus 
und den Regierungs- und Medizinalrat, meist gelegentlich anderer 
Dienstreisen, ausgeübt worden war, Sorge getragen. Durch 
Ministerialerlaß vom 11. Mai 1896 wurden Besuchskommissionen 
geschaffen und eine Geschäftsordnung für diese gegeben. Diese 
Kommissionen, deren zunächst 17 ins Leben gerufen wurden, und 
deren jeder ein hervorragender Fachmann beigegeben war, hatte 
die Aufgabe, die Einrichtung, Leitung und den ganzen Betrieb 
der Anstalt vom Standpunkte der wissenschaftlichen Psychiatrie 
zu prüfen und den Leitern gegebenenfalls Anregungen und Rat¬ 
schläge zu erteilen, während die hygienisch-technische Über¬ 
wachung der Anstalten den Medizinalbeamten überlassen blieb. 
Gemäß Ministerialerlaß vom 14. Januar 1897 haben die Besuchs¬ 
kommissionen über ihre Tätigkeit und ihre Wahrnehmungen all¬ 
jährlich an die Zentralinstanz zu berichten. Die Tätigkeit der 
Kommissionen, die sich weniger auf die in der Mehrzahl vor¬ 
züglich eingerichteten und geleiteten Privatanstalten für zahlende 
Kranke, als auf die zahlreichen kleineren Privatanstalten für Kranke, 
die dort auf Kosten der Provinzen oder Kommunen untergebracht 
werden mußten, erstreckte, erwies sich bald als außerordentlich 
segensreich und fand nicht nur in den Kreisen der Staats- und 
Provinzialbehörden, sondern auch bei den Anstaltsleitern selbst 
die verdiente Anerkennung. Sie gewährleistet eine einheitliche 
und wissenschaftlich auf der Höhe stehende Pflege und Behand¬ 
lung der Kranken. 

Eine weitere wesentliche Maßregel, die auf Moelm Rat durch¬ 
geführt wurde, war die Regelung der Organisation und des ge¬ 
samten Betriebes aller Privatanstalten, insonderheit der Aufnahme 
und Entlassung der Geisteskranken durch Ministerialerlaß vom 


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UNIVERS1TY OF MICHIGAN 



402 


Vorwort. 


26. April 1896. Er enthielt genaue Vorschriften über die Aus¬ 
wahl, die Vorbildung und die Tätigkeit der Anstaltsärzte, die 
Einrichtung und die Leitung der Anstalten und die Aufnahme 
und Behandlung freiwilliger Pensionäre. Auf Grund der inzwischen 
gemachten Erfahrungen wurden diese Bestimmungen durch 
Ministerialerlaß vom 26. März 1901 der Entwickelung der Wissen¬ 
schaft entsprechend abgeändert und vervollständigt unter Berück¬ 
sichtigung der verschiedenen Interessen der Kranken unter und 
über 18 Jahren. Der Erlaß ermöglicht, den Verschiedenheiten 
der einzelnen Anstalten tunlichst Rechnung zu tragen und auch 
bezüglich des Nachweises der erforderlichen psychiatrischen 
Kenntnisse der Leiter deren Eigenart und Entwickelung weit¬ 
gehend zu berücksichtigen. Eine genaue Regelung erfuhr auch 
der Unterricht und die Beaufsichtigung dieses Unterrichts in An¬ 
stalten für jugendliche Epileptiker und Idioten. 

Zahlreiche weitere Ministerialerlasse bauten die Vorschriften 
über die Einrichtung und Leitung der Privatheilanstalten weiter 
aus. Insbesondere wirkte Moeli mit bei den neuen Vorschriften 
über Anlage, Bau und Einrichtung von Krankenhäusern usw. 
vom 11. August 1913. 

Besondere Sorgfalt wurde der Aufnahme, Unterbringung und 
Behandlung gefährlicher und verbrecherischer Personen zugewandt, 
die früher fast ausschließlich in den Gefängnissen und Zucht¬ 
häusern untergebracht, für die aber neuerdings hauptsächlich auf 
Moelis Rat besondere Abteilungen für gefährliche Geisteskranke 
in den Irrenanstalten geschaffen wurden, um sie einer zweck¬ 
mäßigen und wirksamen Pflege und Behandlung zuzuführen. Der 
hiergegen anfänglich bestehende Widerstand, der hauptsächlich 
finanzielle Gründe gehabt hatte, nahm je länger je mehr ab. 
weil man sich allseitig von der Zweckmäßigkeit der Neuerung 
überzeugte. 

Moeli und SkrzeczTca führten auch die psychiatrischen 
Fortbildungskurse für die Kreisphysiker ein, um die bei vielen 
von diesen bestehenden Lücken in der Psychiatrie ausfüllen zu 
helfen. Diese Kurse, die sich. ausgezeichnet bewährt haben, 
waren bis zur Durchführung der Medizinalreform die einzige für 
den Kreisphysikus bestehende Gelegenheit, sich fortzubilden. — 
Aus ihnen sind die auf meine Veranlassung eingerichteten Fort- 


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Garl Moeli. 


403 


bildungskurse für die Kreisärzte hervorgegangen, die sich außer 
auf Psychiatrie auf Hygiene, gerichtliche Medizin und Medizinal¬ 
verwaltung erstreckten. 

Die Verhältnisse der Geisteskranken außerhalb der 
Irrenanstalten erfuhren. eine neue Regelung durch den Mini- 
sterialerlaß vom 3. Juli 1896. Es wurden Anregungen und 
Weisungen gegeben über die Anzeigepflicht, die periodische Be¬ 
sichtigung, die Zahl der in den einzelnen Familien unterzubringen¬ 
den Kranken usw. Weiter wurde versucht, das Los der Schwach¬ 
sinnigen zu verbessern, namentlich für ihre Erziehung zu sorgen, 
um sie, soweit es ihre Beschränktheit zuläßt, zu brauchbaren 
Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen. 

Das Referat des Psychiaters im Ministerium ist zurzeit nur 
nebenamtlich. Trotzdem hat Moeli es verstanden, es, der Wichtig¬ 
keit der Psychiatrie entsprechend, allseitig'auszubauen und in wahr¬ 
haft wissenschaftlichem Sinne zu bearbeiten. Jährliche Bereisungen 
der Anstalten von je einer Provinz gaben ihm Gelegenheit, 
seine Kenntnis der Anstalten und ihres Betriebs zu erweitern und 
seine reichen Erfahrungen in den Dienst der Anstaltsleiter zu 
stellen. Neben der Tätigkeit in der Medizinalabteilung nahmen 
Moeli zahlreiche wichtige Gutachten in der wissenschaftlichen 
Deputation in Anspruch, die fast sämtlich von ihm und dem 
Ordinarius der Universität bearbeitet wurden. Das Bild von 
Mortis Tätigkeit würde aber nicht vollständig sein, wenn ich 
nicht erwähnen würde, daß er auch Mitglied der Kommission des 
Strafgesetzbuches und des Reichsgesundheitsrates ist. 

Mit höchster Anerkennung und aufrichtigem Dank schaut 
die Medizinalverwaltung auf Moelia vielseitige Tätigkeit- und 
wünscht von Herzen, daß sie dem Staate noch viele Jahr/ zum 
Wolile der Allgemeinheit erhalten bleiben möge. 

' Ministerialdirektor Prof. Dr. Kirchner. 


Schriften Moelis. 

1H80. Ein Fall von amvotrophischer Lateralsklerose. Areh. f. Psyeh. 
Bd. 10, S. 718. 

über die Häufigkeit von Geistesstörung bei Tabetikern. Allg. 
Ztschr. Bd. 07, S. 530. 


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404 


Vorwort.* 


1881. Zwei Fälle von Myelitis. Arch. Bd. 11, S. 757. 

Uber psychische Störungen nach Eisenbahnunfällen. Berl. klin. 
Wschr. Nr. 6 (AUg. Ztschr. 38, 4 (Lit.), 459). 

1882. Die Reaktion der Pupillen Geisteskranker bei Reizung sensibler 

Nerven. Arch. 13, 202. 

1883. Über ophthalmoskopische Befunde bei Geisteskranken. A. Z. 40,657. 
Akute halluzinat. Verwirrtheit bei einer Bleivergiftung. Charite- 

Ann. Jg. 8 (A. Z. 40, 6 (Lit.), 122). 

1884. Uber einige symptomatologische und pathologisch-anatomische 

Verhältnisse des Alkoholismus. Berl. klin. Wschr. Nr. 14 
(A. Z. 41, 6 (Lit.), 81). 

Statistisches und Klinisches über Alkoholismus. Charitö-Ann. 
(A. Z. 42, 3 (Lit.), 131. 

1886. Was lehren die in Dalldorf gemachten Erfahrungen für die Frage 

nach der Unterbringung geisteskranker Verbrecher? A. Z. 
43, 298. 

1887. Wirksamkeit des Jendrassikschen Handgriffs. Neurol. Ztlbl. S. 21. 
Über die Pupillenstarre bei progressiver Paralyse. Arch. 18, 1. 

1888. Über irre Verbrecher. Berlin, Fischer. 

1889. Über Befunde bei Erkrankung des Hinterhauptlappens. Neurol. 

Ztlbl., S. 439. 

Demonstration eines Falles von Entwicklungshemmung einer Klein¬ 
hirnhemisphäre durch Veränderung der rechten unteren Hinter - 
hauptgrube. Neurol. Ztlbl., S. 553. 

1890. Über abnorme Schädel. A. Z. 47, 411. 

1891. Lüge und Geistesstörung. A. Z 48, 257. 

Gegenwärtiger Stand der Aphasiefrage. A. Z. 48, 489. 

Über Syphilis des Nervensystems. Verh. d. Ges. d. Naturf. u. Ärzte. 
(A. Z. 49, 4 (Lit.), 301). 

Veränderungen d. Tract. u. N. opt. b. Erkrankung des Ökzipital- 
hirns. Arch. 22, H. 1. 

1892. Über Erkrankungen in der Haube der Brücke, mit Bemerkungen 

über den Verlauf der Bahnen der Hautsensibilität. Arch. 24,655. 

1893. Über atrophische Folgezustände in sensiblen Bahnen des Gehirns. 

Neurol. Ztlbl., S. 503. . 

M. und Skrzeczka, Superarbitr. über den Geisteszustand der Witwe 
B. Vierteljschr. f. ger. Med., 3. Folge, 6. Bd., H. 1 (A. Z. 50, 
Lit., 55). 

M. u. Jolly, Superarb. betr. d. Geisteszustand des Postsekretärs M. 
Ebenda, 3. Folge, 6. Bd., Suppl. (A. Z. 50, Lit., 56). 

1894. Kurze Bemerkungen zur Behandlung der Epilepsie. A. Z. 51, 487. 

1895. Über Lähmung im Gebiete des N. peroneus bei progressiver Paralyse. 

Neurol. Ztlbl., S. 98 (A. Z. 51, 995). 

1896. Akute Störung des Bewußtseins außerhalb der Epilepsie. Neurol. 

Ztlbl., Bd. 16, S. 46. 


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Qrigiral fran\ 

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Carl Moeli. 


405 


Die Irrenanstalt Herzberge, mit Bemerkungen über den Bau von 
Anstalten für Geisteskranke. Berlin (A. Z. 54, Lit., 169). 

1897. Weitere Mitteilungen über die Pupillenreaktion. Berl. kliiy Wschr. 

Nr. 18, 19 (A. Z. 55, Lit., 51). 

Ein Fall von Amnesie. A. Z. 54, 717. 

1898. Über atrophische Folgezustände in Chiasma und Sehnerven. 

Arch. 30, H. 3. 

1899. M. u. Pistor, Obergutachten über den Geisteszustand des Kauf¬ 

manns L. Vjschr. f. ger. Med. 3. Folge, Bd. 17, H. 2 (A. Z. 56, 
Lit., 49). 

Die Geisteskranken im BGB. und in der ZPO. Berlin, Hirschwald 
(A. Z. 56, Lit., 288). 

1900. Über die vorübergehenden Zustände abnormen Bewußtseins infolge 

von Alkoholvergiftung und über deren forensische Bedeutung. 
A. Z. 57, 169. 

Demonstr. d. automat. Exzenter-Rotationsmikrotoms Herzberge. 
A. Z. 57, 599. 

Material zu § 1569 BGB. Psych. Wschr. Nr. 39. 

1901. Über Hirnsyphilis. Berl. klin. Wschr. Nr. 4 (A. Z. 59, Lit., 214). 
Über Familienpflege Geisteskranker. Berl. klin. Wschr. Nr. 26 

(A. Z. 58, 693). 

Über Atrophie im Sehnerven. Arch. 34, 323. 

Zur Statistik der Anstaltbehandlung der Alkoholiker. A. Z. 58, 558. 
Über Hysterie. A. Z. 58, 740. 

1902. Über Rückenmarkserkrankungen auf syphil. Grundlage. Berl. 

klin. Wschr. S. 481. 

1903. Die Imbezillität. Deutsche Klinik am Eingang des 20. Jahrhunderts. 

Berlin, 1903. 

Die Geisteskranken in zivilrechtlicher Hinsicht. Klin. Jb. Bd. 11, 
S. 177. 

Einiges über die Weiterentwicklung der Anstalten der Stadt Berlin 
für Geisteskranke. Psych. Wschr. Jg. 4, S. 457. 

1904. Jolly und M., Obergutachten betr. einen Fall zweifelhafter Dienst¬ 

fähigkeit bei Paranoia chron. Vjschr. f. ger. Med. 27, 219 
(A. Z. 54, Lit., 28). 

1905. Über das zentrale Höhlengrau bei vollständiger Atrophie des Seh¬ 

nerven. Arch. 39, 437. 

über die zur strafrechtlichen Verfolgung zurechnungfähiger Minder¬ 
jähriger gemachten Vorschläge. Arch. 39, 1281. 

1906. Die in Preußen gültigen Bestimmungen über die Entlassung aus 

den Anstalten für Geisteskranke. Samml. zwangl. Abh. aus 
dem Geb. d. Nerven- u. Geisteskrankh. Halle, Marhold, VII, 2. 
Einige Bemerkungen über die 3. Anstalt für Geisteskranke der 
Stadt Berlin in Buch. A. Z. 64, 375 

1907. Die Tätigkeit des Sachverständigen bei Feststellung des Geistes- 


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406 


Carl Moeli. 


• Zustandes im Zivilverfahren. Handb. f. ärztl. Sachverständigen¬ 
tätigkeit. Braumüller. 

1910. Die Bestimmungen über Unzurechnungfähigkeit und verminderte 

Zurechnungfähigkeit im Vorentwurf eines deutschen Straf¬ 
gesetzbuchs. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 5. 
über den Entwurf des Strafgesetzbuchs: über die strafrechtliche 
Zurechnungfähigkeit. Neurol. Ztlbl., S. 331 u. 390. 

Die Aufgaben der ärztlichen Praxis bei der Fürsorge für psychisch 
Kranke. D. med. Wschr. 2207. 

1911. Bemerkungen zum Vorentwurf des StGB.s. Jb. f. Neurol. u. 

Psychol., Jena, Fischer. 

Die Aufgaben der ärztlichen Praxis bei der Fürsorge für psychisch 
Kranke. Ztschr. f. ärztl. Fortbildung Nr. 6. 

Bemerkung über die ,,psychischen Mängel“ als Strafausschließungs¬ 
grund. Psych.-neurol. Wschr. Jg. 13, Nr. 11. 

1913. Behandlung der Vergiftungen mit Weingeist. Handb. d. ges. Ther. 
(Penzoldt u. Stintzing), 5. Auf!., Bd. 1. 

Über Anwendung des § 202 StPO, bei Personen, die im Verlauf 
einer Untersuchung geisteskrank befunden werden. Mschr. f. 
Krim.-Psych. 9, H. 11—12. 

Bemerkungen über die Regelung des Rechtsverhältnisses der in 
Anstaltsbehandlung oder in Pflege fremder Personen befind¬ 
lichen Geisteskranken in Preußen. Ebenda 10, H. 8. 

Die Beiratstelle als Form der Fürsorge für aus Anstalten entlassene 
Geisteskranke. VeröfT. a. d. Geb. d. Med.-Verwaltung Bd. 2. 

H. 2. Berlin, Schütz. 

I9l-i. Zur Strafgesetzgebung. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 3. 

1915. Weitere Bemerkungen über die Rechtsverhältnisse der in Anstalten 
gelangten Geisteskranken in Preußen. Mschr. f. Krim.-Psychol. 

I, H. 8. 

Bonhöffer und M., Obergutachten betr. die Verantwortlichkeit des 
Irrenarztes für den Selbstmord eines Geisteskranken. Vschr. 
f. ger. Med., 3. Folge, 49. 

Die Fürsorge für Geisteskranke und geistig Abnorme nach den 
gesetzlichen Vorschriften, Ministerialerlassen, behördlichen 
Verordnungen und der Rechtsprechung. Halle, Marhold. 

1917. Zur Erinnerung an Heinrich Schüle. Arch. 57, 526. 

1918. Uber Vererbung psych. Anomalien. Berl. klin. W T schr. Nr. 25—27. 
Die Berücksichtigung der geistigen Anomalien durch die Zivilgesetz¬ 
gebung der Schweiz und Österreichs. Vschr. f. ger. Med. 
Bd. 56, H. 1—2. 

1919. Die Anstaltsaufnahmen zur Vorbereitung eines Gutachtens über den 

Geisteszustand eines Angeschuldigten und zur Feststellung des 
Geisteszustandes eines zu Entmündigenden in Preußen. 
Psychol.-neurol. Wschr. Jg. 20, Nr. 37—40. 


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Über die Emährungsverhiiltnisse in der 
Irrenanstalt Buch während des Krieges 1914/18 

und deren Folgen. 

Von 

Geh. Sanitätsrat Dr. A. Richter in Buch. 

Als nach Ablauf der ersten zwölf Kriegsmonate die Gewichts¬ 
abnahmen unserer Patienten deutlicher in die Erscheinung traten 
und sich einzelne derselben über knappe Beköstigung zu beklagen 
begannen, veranlagte ich eine Zusammenstellung der Patienten¬ 
gewichte nach den monatlich in die Wägebücher der Häuser ein- 
getragenenen Ergebnissen. 

. Die Zusammenstellung erfolgte so, daß einmal die monat¬ 
lichen Gewichte der gesamten Patienten jedes Hauses — die 
Wägungen erfolgten stets im Hemd — zusammengezählt und mit 
der Anzahl der gewogenen Patienten geteilt und kurviert wurden, 
und zwar zurückgreifend bis Juli 1914, und daß überdies die 
gesamten Gewogenen in vier Rubriken: Gewichtszunahmen, Ge¬ 
wichtsstillstand, Gewichtsabnahmen bis 1 kg, Gewichtsabnahmen 
über 1 kg, und zwar gleichfalls häuser- und monatweise, unterge¬ 
bracht wurden. Die erstere Berechnung wurde dann weiterge¬ 
trieben, indem die Gewichte der sämtlichen Männer bezw. Frauen 
zusammengezogen und jedes dieser beiden Gesamtgewichte mit der 
Anzahl der gewogenen Männer bezw. Frauen geteilt wurde, und 
schließlich wurden in derselben Weise die Männer- und Frauen¬ 
gewichte gemeinsam behandelt. Die letzteren beiden Verfahren 
wurden gleichfalls kurviert, so daß ich eine Männer- und eine 
Frauenkurve bekam und eine Kurve, in welcher die sämtlichen 
Gewogenen der Anstalt beider Geschlechter enthalten waren. 

Das Resultat ergab nun Gewichtsabnahmen, und zwar waren 


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ifjts ftitliter, 

»fe ggfttJlgft 'VO» fiM bg «h Attgu$i 1^14 aut 

00 kg un • pp* Inn b.5 hg. die ^'raüß'ßgewiaii!«' 

.vöu . 04,8 % iw August J4414 'auf 49*7 kg tm Ä«gt|Rt 1915. also-. 
am 5*1 kg., Und i\M Gewicht der beiden %i 

von 58,8 kg rU>i i>>S.,7 kg _al.se aueh fcim'5,t 
Stellung «fa»r' [iubrijkaJgeWu.lite tcel siatijirlicb aiiai.bg. »bs 

tm -mui- von #0i? Seite erdgcgtwt wurde, daß die**. Gewichts- 
• i.ü.iiioM'-i •-. k-drit |«i -:jw elf ui Hotwendjgef\yeiso auf' die Ernähr 
tto Anstalt; .mriiekgefn'h.rt werden iiiitöfen, bat 
o ii j«- ll iu.nl in Wuldgarten -— mh danke ihm zu- 

gbieh «u dieser beateuk am seine Gewichts- 

iwoltuie und eie hü- <h. •••::.• - : ; :-.beo gieidifaUsein kontinuierlich^ 
•:*.nkeo -dt Rri^Wuiti. .i-nd **» sänket* seine .Männergewiehtc 
■ • 1 i■ tjß.ö kg im A-ygoW ;i"Mf mt 58.3 kg tm August: 1915, aiso 
.t!n 5.2 kg. und :<mm- t^K-oge wichte in derselben Zeit von 
u(') 5 kg'- änf; 5.ä,2 kg, also rtm .4,3 feg.Da nun Wuhlgarten nach 
denselben Speisebestmimmigeo verpflegt wie Buch und die andern 
Berliner stäiUist hm* jbim» an statten rsneh Itt diesen fielen die (?</- 
Kudook is'i der Sohlnß' 4aB die Gewichtsriickgänge 

aut die Vo'ddioguijgvsretlvkltniisse zurükzufähreti waren. 

15? 0 hierbei bemerkt. daß Wuldgarten and Buch bia zum 
l.<. :mv n i. • ••■ UGcu jrtäp-H regelmäßig miteinander-aus-* 

und daß. wahrend die "Gewiebtskurven. der Männer 
beider Anstalten sieh schneide». : . <Ki& Mäuuer derselben 

rti.-,o im Dirndfrchmll uny <*>:>:.!• .neteh seh\yer sind, die Wuhlgariener 
Ü:reiudnkt»rvß stets über der Saeiier steht, die krampfkraoMen 
Frauen Vwdbgärleus also schwerer sind, als die B.tK-ber geistes- 
kt :iiik(*it !• i;.m u. was vielleicht twi zu .erklären, ist. daß die Bacher 
Fnififfigv\'-..--iw.e durot* die hinfälligen Paralysen gedrückt- die 
i.m wieder darob die rüstigen Krimi- 

, -o Wublgävtejöot 'i;u:uetknr?£ «ntpörgeltobeil werden, so 
i ■-.•!!,;ii der rüstigem Kriminellen (ca. 225. jetzt 1621 
auch die ßoelo r Müaoerkuirvg^ainkem wSrde, die Ursache des 
Wldb^fü^bsAfer Kursen. hed#r G<^dhlbclder äläft' nicht iu Wuhl- 
garttou söiideto ib gtv ?itchen wäre^; • -A 

Wed'-i :,•(•} cm* ii ar.i e;ue andere interessante,' Tötsaeite hi« 
•/mvio.-vMi W-U*r- nd de- ?*o* Her männlielnm Patienteu hei einem : 

, 

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Uber die Emährungsverhäitnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 409 


Durchschnittsalter von 46 Jahren 165;0 cm nnd die weiblichen 
bei einem von 49 Jahren 153,6 cm hoch waren, berechnet 
Quetelet ( Villaret, Handwörterbuch der gesamten Medizin 1900, 
S. 157) die Männerkörperhöhe bei einem Alter von 25 Jahren 
auf 167,5 cm und die der Frauen bei gleichem Alter auf 157,9 cm: 
darnach dürften die Irren bei ihrer geringeren Körperhöhe auch 
etwas leichter sein, als die in Freiheit befindliche Bevölkerung, 
und tatsächlich berechnet Quetelet ebenda den Mann mit 40 Jahren 
auf 67,0 kg (Buch 63,1), die Frau mit 60 Jahren auf 58,0 kg 
(Buch 54,8). Die männlichen Paralysen messen aber 168,1 dm, 
die weiblichen 157,1, sind also beide länger als die übrigen Irren, 
wohl deshalb, weil bei den Irren das Moment der Degeneration 
überwiegt, während die Paralytiker an einer Infektionskrankheit 
leiden; wenn aber die weiblichen Paralysen doch nicht das 
Queteletsche weibliche Durchschnittsmaß erreichen, so liegt das 
wohl daran, daß unter ihnen wiederum die degenerierten Prosti 
tuierten sich befinden. Nachstehender Überblick erläutert das 
Gesagte: 


Bücher Irre ins- M. 

gesamt.165,0 cm 63,1 kg (46 Jahr) 

Bücher Paralysen 168,1 cm 

Quetelet .167,5 cm (25 Jahr) 67,0kg 

(40 Jahr) 


F. 

153,6 cm 54,8 kg (49 Jahr) 
157,1 cm 

157,9 cm (25 Jahr) 58,0 kg 
(60 Jahr) 


Das jüngere Durchschnittsalter der Bücher männlichen über 
die Bücher weiblichen Irren insgesamt ist wohl auf das zahlen¬ 
mäßige Uberwiegen der männlichen Paralytiker zurückzuführen, 
welche meist im jüngeren Alter erkranken. — 

Immerhin beruhigte mich die Kongruenz der Bücher und 
Wuhlgartener Durchschnittsgewichtskurven nicht vollständig; ich 
griff also mit den Durchschnittsgewichtsberechnungen zurück bis 
auf das Jahr 1906, dem Eröffnungsjahr der Anstalt Buch. Was 
ergab sich nun? 

Der tiefste Männergewichtsstand vor dem Kriege war auf 
Januar 1909 mit 63,2 kg verzeichnet, zu den 57,6 kg des August 
1915 also mit immer noch einer Differenz von 5,6 kg; der höchste 
auf April und Juni 1907 mit 70,5 kg, zu den 63,1 kg des August 
1914 allerdings mit einer Differenz von 7,4 kg, hohe Durchschnitts- 


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410 


Richter. 


gewichte der ersten Anstaltsjahre, bedingt durch große Aufnahmen 
im Kremser transportabler, rüstiger Patienten. Von Januar 1910 
ab sanken die Männerdurchschnittsgewichte ganz allmählich von 

67.2 kg auf 63,1 kg des August 1914. Die erste Männerwägung 
(November 1906) hatte ein Durchschnittsgewicht von 69,8 kg 
ergeben. 

Die Frauendurchschnittsgewichte erreichten ihren tiefsten 
Stand vor dem Kriege mit 53,4 kg März 1912; zu den 49,7 kg 
des August 1915 also immer noch 3,7 kg Differenz; ihren höchsten 
Stand erreichten sie im Juni 1907, Januar 1908 und September 
1910 mit 56,0 kg, ergibt zu dön 54,8 kg des August 1914 nur 

1.2 kg Differenz. Die erste Frauenwägung erfolgte Januar 1907 
mit 65,4 kg, eine Höhe bedingt wie bei den Männern. Von 
dieser ersten Wägung erfolgte ein jähes Abstürzen auf die 56,0 kg 
des Juni 1907, woran sich so ziemlich eine Kontinua zu den 
54,8 kg des August 1914 schloß. 

Die Gewichte der beiden vereinten Geschlechter hatten ihren 
tiefsten Stand vor dem Kriege im September 1907 mit 56,5 kg, 
Differenz zu den 53,7 kg des August 1915 2,8 kg, höchster Stand 
November 1906 mit 69,8 kg, Differenz zu den 58,8 kg des August 
1914 11,0 kg. 

Also auch das Zurückgreifen auf die Gewichtsbestimmungen 
bis 1906 bezw. 1907 ergab keine derartig stetigen Gewichts¬ 
abnahmen wie die zwölf Monate August 1914 bis August 1915. 
Zur Erklärung derselben bleibt also nur übrig, die Ernährungs- 
verhältnisse heranzuziehen. — 

Seit August 1915 sanken nun die Gewichte weiter, und zwar 
die der Männer bis November 1915 auf 57,1 kg, bis Februar 
1916 stiegen sie wieder auf 58,6 kg, von da fielen sie bis Sep¬ 
tember 1917 auf 48,1 kg und stiegen wieder bis Oktober 1918 
auf 51,0 kg; die Differenz von Oktober 1918 zu den 63,1 kg 
des August 1914 war also 12,1 kg. Die Frauengewichte sanken 
bis November 1915 auf 48,7 kg, stiegen bis Januar 1916 wieder 
auf 50,0 kg, um bis September 1918 wieder auf 39,7 kg zu 
fallen und bis Oktober 1918 auf 39,8 kg zu steigen; die Differenz 
von Oktober 1918 zu den 54,8 kg des August 1914 ist demnach 
.sogar 15,0 kg. Die gemeinsamen Gewichte fielen bis November 


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Über die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Huch usw. 411 

1915 auf 52,8 kg, stiegen bis Januar und Februar 1916 auf 

54.3 kg, fielen wieder im September und Dezember 1917 auf 

44.4 kg, um bis Oktober 1918 auf 44,5 kg zu steigen; die Diffe¬ 
renz von Oktober 1918 zu den 68,8 kg des August 1914 ist dem¬ 
nach 14,3 kg. Die Männer hatten also überhaupt das niedrigste 
Gewicht im September 1917 mit 48,1 kg, die Frauen im Sep¬ 
tember 1918 mit 39,7 kg und die niedrigsten gemeinsamen Ge¬ 
wichte beider Geschlechter fallen auf September und Dezember 
1917 mit je 44,4 kg; die Differenz zu August 1914 (63,1 kg) 
betrug darnach bei den Männern 15,0 kg, bei den Frauen (54,8 kg) 
15,1 kg und bei dem gemeinsamen Gewicht (58,8 kg) 14,4 kg. — 

Im allgemeinen scheinen Männerdurchschnittsgewichte von 
50 kg und Frauendurchschnittsgewichte von 40 kg auf die Dauer 
nicht vertragen zu werden, ohne daß gelegentlicher Tod eintritt 
(vgl. Rubner, Halbmonatschr. f. soz. Hyg. u. prakt. Med. vom 
21. Nov. 1918); jedenfalls scheinen die Patienten durchschnittlich 
nicht leichter werden zu können. Das Skelett eines Mannes wiegt 
übrigens 6—8 Kg, ca. 15% des Gesamtgewichts (Bischoff). 

Es muß von vornherein betont werden, daß sich unsere Patienten 
zu Beginn des Krieges zum Teil in einem Zustand von Überernährung 
befanden. Verpflegt wurden sie während des Krieges vom Gutsbezirk 
und der Abteilung des Magistrates für Nährmittel (Brotkommission, 
dann Einkaufskommission genannt). Alle rationierten Nahrungsmittel 
sollten wir eigentlich vom Gutsbezirk bekommen, auch etwas Nährmittel 
(Erbsen, Bohnen, Linsen, Hirse, Grieß, Graupen, Hafergrütze, Buch¬ 
weizengrütze, Sago, Reis, Nudeln und Makkaroni), den Löwenanteil an 
Nahrungsmitteln bekamen wir aber vom Osthafen, Fleisch und Fleisch - 
waren von der städtischen Schlachterei Hobrechtsfelde. 

Gleich mit Beginn des Krieges mußten nun seitens der städtischen 
Behörden Bestimmungen betr. Kürzung der Beköstigung erlassen werden. 
Januar 1915 Einführung des K-Brotes. 1. Februar 1915 wurde auf gesetz¬ 
lichem Wege die Brotration verkleinert: die Frauen bekamen vor 1. Februar 
280 g, die Männer 400 g, nach 1. Februar 250 resp. 800 g, erstere also 30, 
letztere 100 g weniger pro Kopf und Tag. August 1915 zufolge Magistrats¬ 
verfügung Erhöhung der Brotmenge um 36 g pro Tag und Kopf, Zucker¬ 
zubuße bei Notwendigkeit; jedoch bereits vorher seitens der Anstalt Reis- 
und Zuckerzubuße. Im November 1915 lauteten die Höchstsätze der 
Beköstigung für arbeitende Kranke I. Fornj 3. Tisches bessere Wurst- 
Sorten 40 g, gewöhnliche 40/50 g, abends 60 g und 90 g, Fleisch zu Mittag 
175 g Hammel oder 160 g Schwein, 50 g Zucker täglich. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 29 


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412 


Richter. 


April 1916 Ermäßigung des KartolTelverbrauches von 14 Pfund 
auf 10% Pfund pro Kopf und Woche. Im Mai 1916 waren nur 500 g an 
Fleisch und Fleischwaren pro Kopf und Woche zu verbrauchen, der Fleisch¬ 
verbrauch hatte sich nach der für die Zivilbevölkerung festgesetzten 
Rate zu richten; als Ersatz für den Ausfall kamen in erster Reihe See¬ 
fische, Heringe, Eier und Käse in Betracht; 7 Pfund Kartoffeln pro Kopf 
und Woche. Im Juni 1916 konnte zum Kaffee kein Zucker mehr gegeben 
werden. 

Seit 1. Februar 1917 traten die Bestimmungen des Präsidenten des 
Ernährungsamtes in Kraft: „Die Insassen der Anstalten für Geistes¬ 
kranke und Sieche gelten hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln 
als der gesunden Zivilbevölkerung gleichgestellt, mit Ausnahme der- 
, jenigen, die einer diätischen Behandlung bedürfen. Diese werden den 
Kranken in öffentlichen Krankenanstalten gleichgestellt.“ 250 g Fleisch 
pro Kopf und Woche. Ende Februar 1917 350 g Fleisch, 3 Pfund Kar¬ 
toffeln und 4 Pfund Kohlrüben pro Kopf und Woche. März 1917 250 g 
Fleisch, 3 Pfund Kartoffeln, 4 Pfund Kohlrüben, 1950 g Brot, 200 g Zucker 
pro Kopf und Woche. Seit April 1917 500 g Fleisch und 1600 g Back¬ 
ware resp. Mehl pro Kopf und Woche. Von Mai 1917 ab 2000 g Nähr¬ 
mittel (exkl. Brot) pro Kopf und Monat. Juni 1917 500 g Fleisch, 110 g 
F^tt, 1600 g Brot pro Kopf und Woche. Nach den Speisebestimmungen 
konnten wir 600 1 Milch pro die verlangen ( l / s Mager-, */* Vollmilch) be¬ 
kamen aber nur 80—4401. Juli 1917 wurde für 5 Pfund Kartoffeln (Wochen¬ 
menge) bis auf weiteres Ersatz in Mehl oder Gebäck gewährt (in letzter 
Zeit hatte es überhaupt nur 3 Pfund Kartoffeln pro Woche gegeben, dafür 
Haferflocken und dergleichen aus unsern Beständen) und zwar für 1 Pfund 
Kartoffeln 70 g Mehl oder 100 g Gebäck; außerdem aus unsern Beständen 
an Nährmitteln so viel als möglich. Vom 23. August bis 2. November 
1917 wurde für die arbeitenden Patienten eine Brotzusatzmenge von 
450 g pro Kopf und Woche bewilligt (ohne diese Zusatzmenge bisher 
1950 g pro Kopf und Woche inkl. Mehl). Seit Oktober 1917 statt 5 Pfund 
7 Pfund Kartoffeln pro Kopf und Woche. Seit November 1917 sollten 
die 60 jährigen Patienten (123 M. + 163 F. = 286 Patienten bei einem 
monatlichen Durchschnittsbelag von 1665, + 8 Personal = 294 Köpfe) 
pro Kopf und Monat 1 Pfund Haferflocken bekommen; es waren aber 
beim Gutshof nicht genug vorhanden. Im November 1917 gab es auf 
unsern besonderen Antrag 20 Zentner Reis (die ersten 12 Zentner hatten 
wir, ebenfalls auf unsern besonderen Antrag, Juli 1917 bekommen). Seit 
November 1917 gab es die Woche einmal Eier zu Mittag, pro Kopf 2 Stück; 
die Arbeiter bekamen die Woche einmal zum Frühstück ein Ei. Die Ge¬ 
wichtszunahmen vom Dezember 1917 auf Februar 1918 (Männer von 
49,0 auf 50,8 kg, Frauen von 40,1 auf 40,9 kg, gemeinsam von 44,4 auf 
45,5 kg) waren auf die reichlichere Gabe von Kartoffeln, Nudeln, Graupen 
usvv. zurückzuführen. Die durchschnittlichen Kosten für die drei Tische 


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Original fro-m 

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Über die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Bach usw. 41 3 


betrugen für das Jahr 1917: 1. Tisch 3,87 M., 2. Tisch 2,23 M., 3. Tisch 
1,22 M. 

Vom 23. Februar bis 7. März 1918 gab es nur die Hälfte der gesetz¬ 
lichen Menge Fleisch pro Kopf und Woche, 92 g, vom 7. März 1918 ab 
wieder die volle gesetzliche Menge, 185 g pro Kopf und Woche, vom 15. März 
ab 250 g Fleisch und Wurst pro Kopf und Woche. Mitte März 1918 be¬ 
kamen die bettlägerigen Patienten (314 M. -+- 504 F. = 818 Köpfe von 
1603 Patienten) je 204 g Zwieback extra als nachträgliches Weihnachts¬ 
geschenk. Vom 17. Juni 1918 ab wird das Brot von 1950 auf 1750 g inkl. 
35 g Mehl pro Kopf und Woche herabgesetzt; Kranke II. Form bekamen 
3 Semmeln oder 1 Semmel und 6 Zwieback pro die. Von Anfang Juli 
1918 ab bekamen die Patienten (687 M. + 848 F. = 1535 Personen) 160 1 
Milch pro Tag und nur noch — nominellI — 1 Pfund Kartoffeln pro Kopf 
und Woche, in Wirklichkeit gar keine, 14 Tage lang, bis zur neuen Kar¬ 
toffelernte, ohne Ersatz; auf unsere Eingabe an die Einkaufskommission 
bezüglich der wieder zurückgegangenen Patientengewichte wurden uns 
10 Doppelzentner Suppe Nr. 12, 3 Doppelzentiter Kartoffelsuppe und 
3 Doppelzentner Kriegssuppe überwiesen; nach obigen 14 Tagen gab es 
wieder 7 Pfund Kartoffeln pro Kopf und Woche bis zum heutigen Tage. 
Mitte Juli 1918 gab es statt 180 nur 90 g Fleisch zweimal die Woche für 
alle drei Tische (1520 Patienten — 681 M. -(- 839 F. und etwa 25 Personen 
1. jund 2. Tisches), es kamen 120 Pfund Schweinefett und 360 Pfund 
weiße Bohnen, sowie 20 Zentner Reis auf besonderen Antrag. Anfang 
August 1918 bekamen 756 bettlägerige Patienten (274 M. + 482 F. = J56 
von 1482 Patienten) wieder je 230 g Zwieback, es gab aber nur noch die 
Hälfte Backwaren und Weizenmehl (statt dessen Schwarzbrot) und von 
Mitte August ab nur noch Schwarzbrot. Die gesetzlich festgelegten drei 
fleischfreien Wochen kamen auch für uns in Betracht und fielen je eine 
auf August, September und Oktober. Von Mitte August bis Mitte Oktober 
1918 sollte die bisherige Überweisung von Nährmiteln für die „gesunden“ 
Insassen auf die Hälfte herabgesetzt und nur die Lieferung der Nähr¬ 
mittel für die „kranken“ Insassen in der bisherigen Höhe weiter erfolgen; 
wir gaben jedoch bei der Verpflegungsstärke sämtliche Insassen als „krank“ 
an. In der einen fleischlosen Woche wurde die Brotmenge auf 1850 g pro 
Kopf und Woche heraufgesetzt. Anfang September 1918 teilte uns der 
Gutsvorsteher mit, daß auf das Anfang März 1918 für die 70jährigen 
und älteren (82 Personen im März 1918 bei 1596 Monatsdurchschnitts¬ 
belag) in Aussicht gestellte Krankenbrot (80 g Zwieback u. dergl. pro Tag) 
nicht zu rechnen wäre, da die Festsetzungen über die Ernte erst in zwei 
Monaten erledigt sein dürften. Von Anfang September 1918 ab gab es 
wieder Zwieback und Semmel für die 2. Form 3. Tisches statt des Schwarz¬ 
brotes. Mitte September 1918 1715 g Brot pro Kopf und Woche. Ende 
Oktober 1918 trafen zufolge meiner Vorstellung betr. des abermaligen Ge¬ 
wichtsrückganges der Patienten bis Mitte September 5 Zentner Reis ein. 

29* 


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Original fro-m 

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414 


Richter, 


Neben den angeführten Nahrungsmitteln wurde den Kranken bis 
13. Oktober 1916 zum Streichen des Brotes 20 g Margarine pro Kopf und 
Tag verabfolgt; von da ab erhielten sie infolge Verfügung der Butter¬ 
versorgungsstelle Groß-Berlin nur eine Wochenmenge von 90 g Margarine; 
diese wurde für Sonntag und Montag verausgabt, an den übrigen Wochen¬ 
tagen erhielten sie je 30 g Marmelade oder Kunsthonig. Seit dem 4. Februar 
1918 verabfolgen wir eine Wochenmenge von 70 g Margarine für 2 Tage; 
für die übrigen Wochentage wieder je 30 g Marmelade oder Kunsthonig. 

Es folge noch die Oktoberverpflegung 1918 pro Kopf: 8,439 kg Brot, 
0,292 kg Margarine, 0,434 kg Schrotkaffee, 1,429 kg Kochzucker, 26,689 kg 
Kartoffeln, 0,237 kg kons. Apfelmus, 7,668 kg frischer Weißkohl, 0,064 kg 
Knochenbrühextrakt, 1,188 kg Syrup, 3,17 kg Milch, 0,696 kg Mehl, 
2,638 kg frischer Spinat, 1V 2 StückjEier, 0,006 kg kondensierte Milch, 
5*/» Stück Hering, 2,470 kg frische Mohrrüben, 0,102 kg Blutwurst, 0,008 kg 
Rinderknochenfett, 0,056 kg kons. Kürbis, 0,089 kg Leberwurst, 0,178 kg 
gelbe Erbsen, 0,073 kg Weißkäse, 0,529 kg Rindfleisch, 0,018 kg Schmalz, 
0,735 kg frischen Rotkdhl, 0,114 kg^dörrtes Leipziger Allerlei, 0,052 kg 
Kunsthonig, 0,057 kg Roßfleisch, 0,020 kg Hirse, 0,570 kg frische Kohl¬ 
rüben, 0,717 kg frischer Wirsingkohl, 0,777 kg Maggisuppe, 0,114 kg 
weiße Bohnen, 0,092 kg Grieß, 0,117 kg Graupen, 0,071 kg Backobst, 
0,165 kg Hafergrütze, 0,007 kg Reis, 2 Stück Rettige, 0,815 kg frische 
Kohlrabi. Wer Lust hat, berechne die Kalorien. 

Obige Zusammenstellung der Beköstigung während des Krieges 
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll nur eine 
Vorstellung geben vom besten Willen, der vorhanden war, die 
Schwierigkeiten, mit welchen die Verpflegung zu kämpfen hatte, 
zu überwinden, und von deren Unregelmäßigkeiten und Ungleich¬ 
heiten. Ihre Hinlänglichkeit, eventl. Unzulänglichkeit- wird das 
nun Folgende beleuchten. 

Gleich nach Bekanntgabe der Gewichtsverhältnisse - der In¬ 
sassen der Irrenanstalten an die Deputation für die städtische 
Irrenpflege wurde das Medizinalamt der Stadt Berlin mit der 
Prüfung der Verpflegungsverhältnisse in den Irrenanstalten be¬ 
traut, und es erfolgten seitens des Medizinalamts Kalorienberech¬ 
nungen der verabreichten Nahrungsmittel. Juli 1914 waren ge¬ 
geben 2695 Kalorien, Dezember 1914 2649, März 1915 2321, 
Juli 1915 2444, November 1915 2980, März 1916 2658, Juli 
1916 2311, November 1916 2149 und Januar 1918 nur 1987, 
die niedrigste nachgewiesene Kalorienzahl. Es muß nun hierbei 
hervorgehoben werden, daß den Berechnungen selbstverständlich 


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Original fram 

. UMIVERSITY OF MICHIGAN 



Ober die £rnährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 415 

nicht die kalorimetrischen Untersuchungen der verabfolgten Nah¬ 
rungsmittel selbst zugrunde lagen, denn das würde ja einen 
ungeheueren Aufwand von Arbeit und Zeit erfordern, sondern 
die Berechnungen erfolgten, wie gewöhnlich, nach tabellarischen 
Normen, und es ist tatsächlich eine Kongruenz zwischen obiger 
Kalorienkurve und den Gewichtskurven zu konstatieren, ja dem 
Gewichtsaufstieg vom November 1915 bis zum Februar 1916 geht 
der steile Anstieg der Kalorienkurve von 2444 Kalorien .des 
Juli 1915 zu den 2980 Kalorien des November 1915 voraus, wenn 
die Gewichtszunahmen auch nicht in dem Maße erfolgten, wie 
der Anstieg der Kalorienkurve erwarten lassen müßte. Für die 
Praxis wird überhaupt zunächst das Wiegen der Patienten aus¬ 
schlaggebend sein, aber beide, Wägungen und Kalorienberechnungen 
des Verabfolgten, müssen einander ergänzen wegen der zweck¬ 
mäßigen Zusammensetzung auch der einzelnen Bestandteile der 
Nahrungsmittel und wegen ihrer gegenseitigen Mengen. Wie ich 
hOrte, begann man übrigens auch die Truppen zu wiegen, im 
Felde und im hiesigen Vereinslazarett. Da nach Hindhede (Mod. 
Ernährung S. 41). bei sitzender Lebensweise die Zahl der Kalorien 
auf 2500 und noch weniger herabgehen kann, hätten wir bis Juli 
1916 (2311 Kalorien), gesunde Verpflegte vorausgesetzt, noch 
gar v nicht ungünstig verpflegt gehabt. Die Kriegsernährungsver- 
hältnisse „ dürften übrigens zur Lösung der Frage des Eiwei߬ 
minimums im Hindhede sehen Sinne etwas Wesentliches beige¬ 
tragen haben. 

Bis zum Jahre 1916 waren nun auch die Gesundheitsverhält¬ 
nisse der Patienten trotz ihrer, mit Ausnahme des Anstieges von 
November 1915 bis Februar 1916, stetigen Gewichtsverluste nicht 
ungünstig gewesen; da traten in der zweiten Hälfte des Jahres 
1916 (Kalorienmenge!) höhere Intermissionen der Monatsmorta¬ 
litätskurve auf, die Kranken bekamen ein auffällig bleiches Aus¬ 
sehen, und mit dem Januar 1917 machte sich die Odemkrankheit 
geltend, an welcher zeitweise^ zwischen 30 und 40 Patienten 
litten; dieselbe ist auch bis zum heutigen Tage nicht geschwunden, 
wenn auch verringert. Zu allem Unglück setzte im Januar 1917 
eine Ruhrepidemie ein, die bis März anhielt, im April erlosch, 


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416 


Richter, 


aber von Mai bis November zum zweitenmal auftrat. Im August 
1917 erreichte die Sterblichkeit mit 126 Personen (1698 Durch¬ 
schnittsbelegung des August 1917) eine noch nie dagewesene 
Höhe. Die Ruhrepidemie war ihrer Intensität wie Extensität nach 
keine milde, und sei hierbei nur erwähnt, daß gelegentlich einer 
Ruhrepidemie der Anstalt in den Jahren 1911/13 von 70 Er¬ 
krankten nur 4 starben. 

Die Abhängigkeit der_ödemkrankheit von den Ernährungsverhält¬ 
nissen ist ja allgemein anerkannt. Die Ödemkrankheit wird nicht etwa 
durch Herzschwäche hervorgerufen — der Puls der ödemkranken war 
nicht schlechter als der der übrigen bettlägrigen Irren, und die betr. 
Kranken boten meist gar kein allgemeines ödem dar, sondern meist nur 
lokales —, ebensowenig durch eineNierenaffektion, denn der Urin hatte auch 
kein Eiweiß, ebensowenig durch eine Erkrankung der Kapillaren — dazu 
kommt und schwindet die Krankheit zu schnell, sondern sie besteht in 
einer durch die veränderten Ernährungsverhältnisse bedingten Ver¬ 
änderung des Chemismus der Körpersäfte, welche ein größeres Diffusions- 
vermögen derselben bedingt, und so besteht zwischen ihr und der Pollakisurie 
eine gewisse Analogie, des veränderten Chemismus der Körpersäfte und des 
Urins, welcher dort den Säfteaustritt bedingt aus den Gefäßen, hier das 
häufige Urinieren. Leider konnten wir wegen Personalmangels während 
des Krieges nur selten Sektionen vornehmen, wir zapften aber unmittelbar 
post mortem zwei Leichenödemflüssigkeit der Bauchhöhle ab, und Professor 
Boruttau an der physiologisch-chemischen Abteilung des Krankenhauses 
im Friedrichshain, dem ich auch an dieser Stelle meinen besten Dank aus- 
spreche, hatte die Güte, eine Probe zu untersuchen; „sie entsprach den 
gewöhnlichen Verhältnissen der Kriegsödemkrankheit“. 


Qualitative Untersuchung 
Eiweiß vorhanden, 

Quantitative Untersuchun 
Dichte: 1,011,' 

Zucker 

G 

o 

'O 

Trockensubstanz 1,3 %, 

Harnsäure 

1 

Chlor 0,32 % = 0,55 NaCl, 

Bernsteinsäure 


Stickstoff 0,20 %, 

Echtes Muzin 

Pseudomuzin (Metalbumin)i 

nicht 

Eiweiß ( Esbach ) 1,2 %, 


Auf die Ruhr hatten die knappen Ernährungsverhältnisse der An¬ 
stalt nur insofern einen Einfluß, als sie die von ihr Befallenen weniger 
widerstandsfähig machten, und insofern muß auch die Virulenz der Epi¬ 
demie, namentlich auch mit der von 1911/13 verglichen, ihre Bewertung 
resp. eine Einschränkung finden. Jedenfalls handelte es sich um Bazillen¬ 
ruhr und wurden Flexnersche Pararuhrbazillen, Y-Pararuhrbazillen, 
auch «yAtga-Ä'rMse-Ruhrbazillen vom städtischen Medizinalamt nach- 


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Ober die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 417 


gewiesen, wenn auch die Untersuchungen nicht in dem Maße von 1911/13 
durchgeführt werden konnten; überdies schien diesmal der Bazillus schneller 
vergänglich zu sein. Es erkrankten während der Epidemie, eigentlich 
waren es ja zwei, bei einer täglichen Durchschnittsbelegungszahl von 1674, 
375 Patienten und zwar 168 Männer (darunter 5 Pfleger) und 207 Frauen 
(darunter 19 Pflegerinnen); eine Patientin erkrankte zweimal. Es starben 
an ihr resp. ruhrartigen Erkrankungen und deren Schwächezuständen 
50 Männer und 53 Frauen = 103 Personen, darunter kein Personal! 

Die Ödemkrankheit und die Ruhr der hiesigen Anstalt, ebenso die 
Grippe, von welcher 1918 die Patienten befallen wurden, werden voraus¬ 
sichtlich später noch an anderer Stelle besprochen werden. 

Was die Mortalität der Anstaltsinsassen während der Kriegs¬ 
jahre betrifft bei ihrer Abhängigkeit von den obwaltenden Er- 
nähmngsverhältiiissen, so sei der Originalität halber darauf hin¬ 
gewiesen, daß die größte Monatsmortalität seit der Eröffnung der 
Anstalt Buch im Jahre 1906 bis zum Kriege, ohne daß hierfür 
eine besondere Ursache festgestellt werden konnte, auf den Monat 
Juli 1914 fiel (27 Männer und 23 Frauen = 50 Personen bei einer 
täglichen Durchschnittsbelegzahl von 1769). Sie sterben „ruck¬ 
weise“, sagte ein alter Oberpfleger. 

Die Monatsmortalität der Jahre 1916 (tägliche Durchschnitts¬ 
belegzahl 1769), 1917 (1674) und die bisherige von 1918 (1609) 
gestaltete sich folgendermaßen: 



Jan. 

Febr. März April Mai 

Juni 

Juli 

Aug. 

Sept. 

Okt. 

Nov. Dez. 

1916 

17 

17 

23 

25 

23 

23 

28 

16 

34 

24 

18 35 

1917 

56 

54 

62 

48 

51 

36 

76 

126 

83 

60 

56 63 

1918 

74 

43 

46 

56 

32 

39 

45 

30 

49 

59 



Die Mortalität betrug in den Rechnungsjahren 1913/17: 1913 
(täglicheDurchschnittsbelegzahl 1757): 302,1914(1769): 337,1915 
(1768): 222, 1916 (1769): 398, 1917 (1674): 762! Sie stieg 
also trotz des Rückganges der Belegstärke im Jahre 1917 außer¬ 
ordentlich, während sie im Jahre 1915 aus unbekannten Gründen 
— oder waren die Patienten bis 1914 zu dick gewesen? — 
gegen die Vorjahre erheblich sank. Der Anstieg erfolgte bereits 
1916, wenn wir nicht sogar schon im Jahre 1914 die erste An¬ 
deutung des Aufstieges suchen wollen; aber die sieben ersten 
Monate des Rechnungsjahres 1918 (siehe obige Tabelle) ergeben 
gegen die sieben letzten Monate des Rechnungsjahres 1917 nur 
310 Tote gegen 425, also erfreulichen Rückgang. 


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418 


Richter, 


Prozentual ausgedrtickt starben in den beregten fünf Rech¬ 
nungsjahren 1913/17 in Buch 0,047%, 0,052%, 0,035%, 0,062% 
und 0,124%! 

Im großen und ganzen verlaufen übrigens die Mortalitäts¬ 
kurven der drei Berliner Irrenanstalten gleich, und zwar prozen¬ 
tual berechnet; nur Wuhlgarten bleibt tief zufolge des weniger 
siechen Materials. Die höchste Sterblichkeit im Jahre 1917 hat 
Herzberge mit 0,153%, dann kommt Buch mit 0,124%, dann 
kommt Dalldorf mit 0,103% und zu unterst steht Wuhlgarten mit 
0,064%. Wir hängen, wie schon angedeutet, in dieser Beziehung 
von dem uns zustehenden Material ab, denn Verpflegung und 
Behandlung sind die gleichen. . . ^ 

Die prozentual berechneten Mortalitätskurven der Filialen der 
vier Anstalten verliefen auch so ziemlich gleich und stiegen gleich¬ 
falls samt und sonders im Jahre 1917. — 

Aus den Betrachtungen der klinischen Verhältnisse der An¬ 
stalt Buch geht demnach hervor, daß die Ernährung der Pati¬ 
enten seit der zweiten Hälfte des Jahres 1916, wie auch außer¬ 
halb der Anstalten, für die Zustände vieler, namentlich lauter und 
schwerer Kranken, ungenügend wurde: die Ernährung genügte 
weder der Menge, noch der Zusammensetzung nach, namentlich 
fehlte es an Fetten und den erforderlichen Mengen Zerealien und 
Leguminosen. Die Frage der Verpflegung der Anstaltsinsassen 
war gesetzlich geregelt, mehr in sozialem als wissenschaftlichem 
Sinne gelöst worden, aber durch die Strenge der Zeit diktiert. 

Es wurden nun noch nach verschiedenen Gesichtspunkten die 
Wägeresultate der Patienten der einzelnen Häuser oder einzelner 
Patienten weiter verwertet. 

Die Kurve der Männerlandhäuser, Arbeiterkolonnen und Hand¬ 
werker, — jetzige Belegstärke 67 Patienten — zeigt zufolge der Rüstig¬ 
keit der Patienten im allgemeinen einen höheren Stand und zufolge des 
lebhafteren Wechsels der Patienten verschiedener Körperschwere von 
jeher erheblichere Schwankungen, aber doch auch vom Juli 1914 ab bis 
zun» Oktober 1918 einen Absturz von 69,9 auf 59,5 kg. — Haus I, gleich¬ 
falls ruhige Männer, Arbeiterkolonnen und Handwerker — jetzjge Beleg- 
slärke 72 Patienten —, zeigte zufolge der größeren Stabilität seines Mate¬ 
rials von jeher eine gleichmäßigere Kurve; dieselbe stürzt vom Juli 1914 
bis Oktober 1918 von 66,8 auf 54,6 kg. — Haus III, Männeraufnahme- 


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Über die Ernährungsverhältoisse in der Irrenanstalt Buch usw. 419 

haus — jetzige Belegstärke 90 Patienten —, zeigte zufolge des häufigeren 
Wechsels seiner Patienten immer etwas lebhaftere Schwankungen seiner 
Kurve als Haus I, wenn auch nur kleinere, aber in derselben Zeit einen 
Absturz von 58,7 auf 48,4 kg; von Juli bis Oktober 1914 war erst noch 
ein Aufstieg der Gewichtskurve bis auf 63,4 kg erfolgt, weil damals sich 
die Zugänge noch m besserem Ernährungszustände befanden als die 
Insassen. — Haus V, ein Männer-Pflege- resp. Siechenhaus — jetzige 
Belegstärke 97 Patienten —, zeigte von jeher zufolge seines stabilen, 
überwiegend siechen Materials eine ruhige Gewichtskurve; Gewichts¬ 
abfall vom Juli 1914 bis Oktober 1918 von 59,9 auf 47,5 kg. — Die Kurve 
von Haus VII, des 2. Männerpflegehauses — jetzige Belegstärke 98 
Patienten —, ist fast identisch mit der von Haus V, naturgemäß, zufolge 
des gleichen Materials, Absturz von 58,7 auf 44,9 kg. AbsturzdifTerenz 
zu HausV nur 1,4 kg. —Auch die Kurve von Haus IX, dem Überwachungs¬ 
haus für leichtere kriminelle und fluchtverdächtige Männer — jetzige 
Belegstärke 84 Patienten —, zeigt die üblichen Schwankungen mit einem 
Absturz von 66,6 kg, dem ungefähren Ausgangsgewicht von Haus I, 
ruhige Männer, auf 51,1 kg. — Die Kurve von Haus XII, kriminelle 
Männer, — jetzige Belegstärke 33 Patienten*—, zeigt eine gewisse Un¬ 
ruhe; Absturz von 64,8 auf 54,6 kg. — Auch die Kurve von Haus XIII, 
schwerste kriminelle Männer — jetzige Belegstärke 49 —, zeigt lebhafte 
Schwankungen und Absturz von 70,9 auf 55,0 kg; die Insassen hatten 
also das ungefähre Ausgangsgewicht der Männerlandhäuser. 

Die Kurve von Frauenlandhaus II, viele unruhige Frauen — 
jetzige Belegstärke 118 —, verläuft seit Eröffnung der Anstalt ziemlich 
einförmig; Absturz von 56,5 auf 38,4 kg. — Recht monoton verläuft die 
Kurve der beiden Landhäuser für ruhige Frauen (IV und VI) — jetzige 
Belegstärke zusammen 52 —, und zwar seit Eröffnung der Anstalt; Ab¬ 
sturz von 58,2 auf 38,6 kg. — Auch die Kurve von Haus II, ruhige, be¬ 
schäftigte Frauen — jetzige Belegstärke 100 —, verläuft ruhig; Absturz 
von 59,2 auf nur 46,6 kg; von diesem Hause gehen nämlich 36 Patien¬ 
tinnen, einen Tag um den andern 18, nach der Kochküche Gemüse putzen 
und essen dort reichlich Mittagbrot! — Die Kurve von H aus IV, Frauen¬ 
aufnahmehaus — jetzige Belegstärke 110 —, ähnelt der von Haus III, 
dem Männeraufnahmehaus, aber die Kurve von Haus IV zeigt noch mehr 
Erhebungen zufolge besser genährter Zugänge; Absturz von 54,9 auf 

42.8 kg. — Die Kurven der Häuser VI und VIII, Frauenpflege- resp. 
Siechenhäuser — jetzige Belegstärken 164 und 165 —, sind gleichfalls 
fast identisch, wie die der beiden Männersiechenhäuser V und VII, aber 
ruhiger als die der Männersiechenhäuser zufolge der geringeren Kranken¬ 
bewegung, und diese ist wieder bedingt durch den geringeren Bestand 
und Abgang der Paralysen (ungefähr nur die Hälfte), welche zumeist 
in den Siechenhäusern liegen. Gewichtsabsturz Haus VI von 52,3 auf 

36.9 und Haus VIII von 51,6 auf 37,0 kg, also auch hierin so ziemlich 


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420 


Richter, 


identische Verhältnisse. — In Haus X, dem Frauenüberwachungshause — 
jetzige Belegstärke 98 —, lagen von jeher gewalttätige oder fluchtver¬ 
dächtige Patientinnen; die Kurve verläuft relativ gleichmäßig, Absturz, 
von 56,1 auf 41,1 kg; die Insassen waren also schwerer als die der Frauen- 
siechenhäuser und blieben es auch. — Haus XI, die Infektionsbaracke — 
jetzige Belegstärke 15 —, zeitweise mit Männern, zeitweise mit Frauen, 
zeitweise mit beiden belegt, zeigt eine groteske Kurve; Männerabsturz 
vom Juli 1914 bis August 1916 von 62,2 auf 52,9 kg, Frauenabsturz von 
46,5 im Februar 1917 auf 40,5 kg im Oktober 1918. 

Die Abstürze vom Juli 1914 auf Oktober 1918 erleichtert der folgende 
Überblick: 


Männerlandhäuser . 

..69,9—59,5 kg 

Landhaus. 2. 

.56,5—38,4 kg 

Haus I. 

..66,8—54,6 kg 

Landhaus 4 u. 6 .. 

.58,2—38,6 kg 

Haus III . 

.. 58,7—48,4 kg 

Haus II. 

.59,2—46,6 kg 

Haus V. 

. .59,9—47,5 kg 

Haus IV . 

.54,9—42,8 kg 

Haus VII . 

..58,7—44,9 kg 

Haus VI . 

.52,3—36,9 kg 

Haus IX . 

. .66,6—51,1 kg 

Haus VIII . 

.51,6—37,0 kg 

Haus XII . 

. .64,8—54,6 kg 

Haus X . 

.56,1—41,1 kg 

Haus XIII . 

. .70,9—55,0 kg 

Haus XI . 

i .46,5 — 40,5 kg 


Im übrigen zieht sich durch die Kurven aller Häuser der. 
gemeinsame Ernährungsabstieg vom Juli 1914 bis zu den letzten 
Monaten des Jahres 1915, der gemeinsame Anstieg zu den ersten 
Monaten des Jahres 1916, dann der tiefe Abfall zu den letzten 
Monaten des Jahres 1917 und ein abermaliger kleiner Anstieg 
bis Oktober 1918. Jedenfalls ergibt sich aus dem Geschilderten 
die Notwendigkeit der Geschlechterdurchschnittskurven, damit 
durch Verlegungen von einem Haus in das andere nichts ver¬ 
loren geht; aber immerhin wäre es denkbar, daß Kurvenschwan¬ 
kungen selbst der Geschlechtereinheitskurven nicht durch Er¬ 
nährungsschwankungen der Mehrzahl der Patienten, sondern durch 
schwere Ab- und leichte Zugänge selbst weniger Patienten be¬ 
dingt sein kannten oder umgekehrt, bei der ganz erheblich über¬ 
wiegenden Stabilität des Materials und der Verteilung dieser 
extremen Fälle auf so viele Insassen kann sich aber dieses 
Eintreffen kaum wesentlich bemerklich machen; überdies ist eine 
Täuschung über den Ernährungszustand der Patienten nach dieser 
Richtung hin durch das z. T. gestaffelte Rubrikalverfahren — 
einzelne Fälle verteilen sich, mehrere zeigt es an —, welches 
übrigens auch die Zu- und Abgänge der letzten vier Wochen ein- 
begreifen kann, und die Einzelbeobachtungen kontrolliert. Sonst 


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Ober die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 421 


können Gewichtsschwanknngen einzelner noch durch psychische 
Veränderungen mit Ernährungsschwankungen bedingt sein. 

Die Momente der Evolution und Involution spielen bei unserm 
Material und der erforderlichen Zeitlänge zu ihrer Geltendmachung keine 
Rolle. Immerhin sei noch erwähnt, daß trotz gleicher Verpflegung auch 
scheinbar ganz gleiche Patienten doch nicht immer in gleicher Weise zu- 
oder abnehmen. Die durch Besucher mitgebrachten oder geschickten 
Nahrungsmittel müssen natürlich im Auge behalten werden. — 

Es wurden dann noch auf einem Schema die bis auf Eröffnung der 
Anstalt zurückgeführten Kurven der Männerlandhäuser (beschäftigte), 
von Haus XII (kriminelle Männer), Haus III (Männeraufnahmehaus) 
und Haus VII (Männersiechenhaus), in verschiedenen Farben auf¬ 
gezeichnet, und es zeigte sich, wie schon aus den betr. Zahlentabellen 
ersichtlich war, daß die Kurve der Männerlandhäuser und von Haus 
XII einander beständig schnitten und die Kurve von Haus III immer 
unter ihnen blieb, noch weiter darunter die von Haus VII, die letzteren 
beiden aber immer in ziemlich gleichem Abstand; es war also immer das 
gleiche Krankenmaterial in diese vier Häuser gelegt worden. — In gleicher 
Weise wurden vier Frauenhäuser kurviert: Frauenlandhäuser IV und VI 
(ruhige Frauen), Haus X (unruhige), Haus IV (Aufnahme) und Haus VIII 
(Sieche); diese vier Frauenkurven blieben alle vier näher aneinander, 
aber die der beiden Landhäuser und von Haus X (die oberen) schnitten 
sich weniger oft, Haus IV wahrte den Abstand von Haus X, schnitt 
sich aber zeitweise mit Haus VIII. Dezember 1914 liefen Haus X und 
IV ineinander über, Dezember 1915 trat auch die Kurve der beiden 
Frauenlandhäuser hinzu, und während nun die Kurven dieser drei Häuser 
bis März 1918 durcheinander liefen, sank die Kurve der Frauenlandhäuser 
August 1917 unter die beiden ersten, welche sich wieder trennten (IV oben), 
während Haus VIII seit November 1913 immer zu unterst blieb. 

Weiter wurden auf einem Schema die bis zur Eröffnung der Anstalt 
zurückgeführten Kurven von vier Männern vier verschiedener Häuser 
und verschiedener Ausgangsgewichte aufgetragen: einer Dementia para¬ 
noides von Haus XIII, einer Dementia praecox von Haus VII, einer 
Paranoia hallucinatorica chronica von den Männerlandhäusern und einer 
jugendlichen Verblödungspsychose von Haus I. Diese vier Kurven grup¬ 
pierten sich verschieden, ohne daß man etwas Charakteristisches ent¬ 
decken konnte, sanken natürlich, wie alle, in den Kriegsjahren. — In 
derselben Weise wurde mit fünf Frauenkurven verfahren: zwei Dementia 
praecox und drei Dementia paranoides; auch sie boten nichts Charakte¬ 
ristisches dar. — 

Mehr versprachen die drei folgenden Kurvengruppen. 

Auf der einen wurden die Gewichte von 35 Patienten des Hauses I 
nach dem Lebensalter in zwei Durchschnittskurven untergebracht, Alters¬ 
grenze 50 Jahre; die 17 älteren (51—72 Jahre) hatten Juli 1914 die schweren 
Ausgangsgewichte (Durchschnitt 70,2 kg), die 18 jüngeren (19—50 Jahre), 


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Richter. 


die leichteren {64,9 kg Durchschnitt). Von Juli 191? an stiegen die jüngeren 
bis Mai 1918 von 49,2. auf 51,5 kg, kreuzten mit 51,5 kg die älteren bei 
51,0 kg, stehen jetzt November 1918 mit 53,8 kg nur 600 g unter den 
älteren, schnitten also nach dreijährigem, ziemlich parallelem Verlauf 
schließlich doch besser ab. 

Auf der zweiten Kurvengruppe wurden die Gewichte derselben 
35 Patienten nach der Gewichtshöhe in zwei Durchschnittskurven unter¬ 
gebracht, Gewichtsgrenze 67,5 kg (das Durchschnittsgewicht der in Be¬ 
tracht kommenden 35 Patienten), 16 über, 19 bis 67,5 kg und darunter. 
Die 16 schwereren hatten Juli 1914 das Ausgangsgewicht von 78,4, die 
19 leichteren von 58,2 kg. Die 16 schwereren sanken bis November 1917 
auf 53,8, also um 24,6 kg, die leichteren auf 48,3 kg, also nur um 9,9 kg, 
Differenz beiden Kurven im November 1917 nur noch 5,5 kg; FalldifTerenz 
14,7 kg. Von da ab stiegen die schwereren bis November 1918 auf 58,2 
(um 4,4 kg), die leichteren auf 49,3 (um 1 kg); die schweren hatten also 
rapider ab- und etwas Schneller wieder zugenommen. Es sei hierbei noch 
bemerkt, daß die 16 schwereren Patienten im Juli 1918 bei einem Durch¬ 
schnittsgewicht von 55,9 kg unter das Durchschnittsgewicht des Juli 
1914 (67,5 kg) der gesamten in Betracht gezogenen 35 Patienten herab¬ 
gesunken waren (was also nicht etwa den tiefsten Gewichtsstand der¬ 
selben überhaupt bedeutet, der ja, wie schon gesagt, im November 1917 
mit 53,8 kg stattfand) und daß unter diesen 16 schwereren Patienten 
überhaupt die stärksten Gewichtsrückgänge sich befanden. 

Schließlich wurden die Gewichte derselben 35 Patienten nach der 
Körpergröße in zwei Durchschnittskurven untergebracht, Grenze 1,64 m, 
18 1,64 m und darüber, 17 bis 1,64 m ausschließlich; die 18 größeren hatten 
Juli 1914 das Ausgangsgewicht von 70,4 kg, die 17 kleineren von 64,3 kg: 
die Kurven verliefen eigentlich ganz parallel und schienen den Beweis 
zu erbringen, daß Große und Kleine in demselben Tempo abnehmen. 

Dann hatte ich noch auf zwei Formularen nach den beiden Ge¬ 
schlechtern die Gewichtszunahmen, Stillstände und Abnahmen monatlich 
in drei verschiedenen Farben seit August 1915 kurvieren lassen; da beide 
Geschlechter gleich verpflegt werden, zeigten diese beiden Geschlechter- 
tableaux natürlich ziemliche Kongruenz: die Abnahmen waren am reich¬ 
lichsten vertreten, nahmen die höchste Kurve ein, in der Mitte befinden 
sich die Zunahmen, die Stillstände befinden sich in der Minorität, ihre 
Kurve steht am tiefsten. 

Dieses bringt mich darauf, noch einiges über die Zweckmäßigkeit 
resp. Nützlichkeit der ganzen Kurviermethode überhaupt zu sagen: es 
ist die Sinnfälligkeit, welche auch bei mehreren Kurven auf einem Tableau, 
zufolge der Verschiedenfarbigkeit derselben nicht beeinträchtigt wird: 
man hat den Überblick über die Ernährungsverhältnisse der Patienten 
i n der Gewalt, denn eine Kurvenlinie ist viel übersichtlicher, als geschriebene 
Zahlenreihen. 

Ebenso einleuchtend ist die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit der 


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Ober die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 428 


Durchschnittsgewichtsberechnungen. Natürlich muß es sich dabei um eine 
genügend große Anzahl von Patienten handeln, und wenn die tägliche 
Durchschnittsbelegstärke der Anstalt vom Jahr 1 y 14 bis zum Jahre 1918 
von 1769 auf 1509 zurückging, so war die Belegstärke der einzelnen 
Häuser für diese Berechnungsmethode doch noch vollkommen hoch 
genug. Eine durch die Durchschnittsberechnungen über die Ernährungs¬ 
verhältnisse der Patienten verursachte Täuschung, so, daß eine Gewichts¬ 
abnahme der Mehrzahl der berechneten Patienten durch eine gewaltige 
Gewichtszunahme der Minderheit und umgekehrt, verwischt erschiene, 
wird auch hier durch das Rubrikalverfahren und ergänzend durch die 
Einzelgewichtsprüfungen kontrolliert. Idealer wären natürlich die Durch¬ 
schnittsberechnungen immer derselben Anzahl von Patienten und am 
idealsten immer derselben Patienten, wenn aber, wie in Buch, die bei 
weitem größte Anzahl der Patienten stabil ist, die Gewogenen zum 
mindesten über 4 Wochen in der Anstalt sich befinden (Wägedistanz), 
so behalten diese Durchschnittsberechnungen vollkommen ihren Ver¬ 
gleichswert. Der Beweis hierfür und der Zuverlässigkeit der Methode 
überhaupt liegt übrigens schon im gleichmäßigen Sinken der Durch¬ 
schnittsgewichte beider Geschlechter zweier Anstalten der gleichen Ver¬ 
pflegung während dieser vier Jahre; das ist kein Zufall. 

Das Verfahren schließt natürlich das Anlegen von Gewichtskurven 
für bestimmte Patienten nicht aus, im Gegenteil, es würde überhaupt 
sehr zweckmäßig sein, wenn für die Krankengeschichte eines jeden 
Patienten eine Gewichtskurve angelegt werden könnte! 

Die Methode der Gewichtskontrolle, welche Falkenberg bei der 
Revision der Kommunalkranken der Stadt Berlin anwendet, z. B.: von 
28 Patientinnen wogen 7 über 100 Pfund, 4 unter 80 Pfund, keine unter 
70 Pfund, erinnert an die von mir zugleich angewandte „Rubrikalmethode' 1 , 
welche die sämtlichen Patienten in drei resp. vier Rubriken nach Zu¬ 
nahme, Stillstand und Abnahme bis und über 1 kg unterbringt, erschöpft 
aber nicht und erleichtert nicht genügend den Vergleich mit den vorher¬ 
gehenden Wägungen. 

Um nun noch einen praktischen Schluß aus der ganzen Ar¬ 
beit zu ziehen, so halte ich es nicht ffir notwendig, alle Patienten 
nach dem Kriege wieder vollkommen auf das Gewicht yor dem 
Kriege zurückzubringen, im Gegenteil, während des Krieges kam 
in Buch viel weniger und nur ganz leichter Dekubitus vor, so daß. 
der Schluß auf die Schwere des Körpers als Mitursache desselben 
berechtigt ist. — 

Meine Arbeit endet ohne Ende; möchten bald glücklichere 
Zeiten wiederum ein Steigen der Gewichts- und Sinken der Mor¬ 
talitätskurven herbeiführen, um der Arbeit auch bald einen gün¬ 
stigen Schluß hinzufügen zu können. 


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Das Luminal bei der Behandlung der Epilepsie 1 )* 

Von 

Direktor Dr. Otto Hebold. 

Es sind in den 25 Jahren, die die Berliner. Anstalt für 
Epileptische im Betrieb ist, mancherlei neue Arzneimittel zur Be¬ 
kämpfung der Epilepsie versucht, mancherlei Zusammenstellungen 
dieser Mittel empfohlen worden; meist waren es Bromverbindungen, 
welche Nachteile, die die bisher üblichen Bromsalze bei alleiniger 
Anwendung und an und für sich in manchen Fällen zeigten, ver¬ 
meiden oder ihre Wirkung übertreffen sollten. Keines dieser 
Mittel hat die allgemeine Einführung so gelohnt, wie in neuester 
Zeit das Luminal, das kein Brom enthält, sondern Phenyläthyl- 
malonylham8toff ist. 

Unsere Versuche damit begannen wir im Februar 1915. 
Seine Anwendung wurde im Laufe der Zeit immer mehr ver¬ 
allgemeinert, da wir die bisherigen guten Ergebnisse anderer 
Beobachter im großen und ganzen bestätigen konnten. 

Das Mittel ist teurer, als die bisher für gewöhnlich allgemein 
verordneten Bromsalze. Es kommt für die Draußenkundschaft 
hinzu, daß es in Pulverform verordnet werden muß, da die kleinen 
Dosen, die bei der Epilepsie verwendbar sind, nicht in Pastillen¬ 
form im Handel sind, sondern erst die Schlaf erzeugenden Dosen 
von 0,3. In der Anstalt verwenden wir Pastillen von 0,05, die 
in einer städtischen Hauptapotheke für uns dargestellt werden. 
Vergleicht man die Preise der einfachen Stoffe, so kostet jetzt 
die mittlere Gabe (4,0) Bromkalium etwa 2 V 2 Pfg-, 4 mal 0,05 

l ) Aus der Berliner städtischen Anstalt für Epileptische, Wuhl- 

jjarten. 


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Das Lumina] bei der Behandlung der Epilepsie. 425 

Lominal aber 30 Pfg. Es wird das bei der Verwendung zu 
beachten sein. 

Unter seiner Anwendung machten wir eine auffallende Wahr¬ 
nehmung über das Körpergewicht, das in den Kriegsjahren in 
höherem Maße beachtet wurde und bekanntlich recht zurückging. 
Es stellte sich nämlich heraus, daß in der Mehrzahl der Fälle 
das Körpergewicht der mit Luminal behandelten Kranken im 
Gegensatz zu den übrigen hinaufging und sich höher hielt. 
Happich 1 ), der die Gewichtzunahme auch erwähnt, schiebt es an¬ 
scheinend auf die beruhigende Wirkung des Luminals. Er schreibt: 
„Merkwürdig ist die große Gewichtzunahme bei luminalberuhigten 
Kranken.“ Die Erklärung liegt wohl in einer Beeinflussung des 
Stoffwechsels. 

Für die Anwendung des Luminals wird in den bisherigen Veröffent¬ 
lichungen, über die sich eingehende Auszüge in E. Mercks Jahresberichten 
der Jahre 1912 bis 1916 befinden, kurz gesagt, daß es bei der Epilepsie 
da angezeigt ist, wo die Bromsalze versagen. Weiterhin hat es sich bei 
verschiedenen Geistesstörungen, wie ebendaselbst wiedergegeben wird, 
und was ebenso für die entsprechenden Störungen bei der Epilepsie zu 
beachten ist, von günstigem Einfluß gezeigt. 

Schon die ersten Mitteilungen weisen einhellig darauf hin, daß die 
Wirkung eine pünktliche und auffallende ist, daß die Ergebnisse zur 
Ausdehnung der Anwendung ermuntern, um so mehr, als kleine Dosen 
genügen und störende Nebenerscheinungen ausbleiben oder unbedenklich 
sind und bald verschwinden. Als solche werden bei empfindlichen Kranken 
Schlaftrunkenheit, Kopfschmerzen und Exantheme erwähnt, die sich 
leicht vermeiden lassen, wenn man mit kleinen Gaben beginnt und zu 
höheren erst übergeht, wenn sich eine größere Verträglichkeit eingestellt 
hat. Jedenfalls tritt keine Anhäufung ein, wie oft bei Brom. Die Urteile 
sind darin einig, daß die Zahl der epileptischen Anfälle wesentlich ver¬ 
mindert wird und sie ähnlich wie auch durch die Bromsalze selbst zum 
Schwinden gebracht werden können, und daß das Luminal auch wirkt. 
wo diese versagen. 

Die Erfahrungen sind indessen nicht gleichartig. Klotz *) fand z. B.» 
daß es bei organisch bedingten Epilepsien nicht hilft, und rühmt es bei den 
Epilepsien der Kinder, während es nach Kutzinski *) bei infantiler Epilepsie 


*) Happich , Münch, med. Wschr. 1914, S. 1844. 

*) Klotz, Therap. Monatsh. 1915, S. 132. 

3 ) Kutzinski, Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 1914, Bd. 36, Nr. 2. 


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426 


Hebold, 


weniger wirksam war. Fuchs *) bemühte sich, die Anzeigen für die ver¬ 
schiedenen Formen eingehend festzulegen. Nach ihm bieten die besten 
Aussichten die klassischen Formen, die geringsten die paranoid reizbaren 
und die infantil euphorischen. Das Genauere möge man bei ihm wegen 
der ihm eigenen Einteilung nachlesen. 

Sonst wird die beruhigende Wirkung bei mittelschweren und schweren 
Erregungen, bei Delirien, bei Verstimmungs- iftid Angstzuständen ange¬ 
führt, mögen diese Erscheinungen bei Katatonie, bei Paralyse, auch wohl 
bei Epilepsie vorliegen. 

Für die Anwendung des Luminals bei der Epilepsie ergeben 
sich für uns verschiedene Voraussetzungen, die man dahin ein¬ 
teilen kann, daß man, von der Brombehandlung ausgehend, ent¬ 
weder festgestellt hat, daß diese keinen Einfluß auf die Anfälle 
und andere Erscheinungen dieser Nervenkrankheit hat, oder daß 
mit der Brombehandlung trotz der günstigen Einwirkung auf die 
Nervenkrankheit Nachteile und Ubelstände sich einstellten und so 
Gegenanzeigen sich geltend machten, die daneben, wenn man 
aus irgendeinem Grunde von seiner Anwendung bisher nicht 
absehen konnte, eine Bekämpfung mit noch anderen Mitteln 
erforderten. Weiterhin kam man, wenn bisher keine Behandlung 
mit Bromsalzen stattgefunden hatte, dazu, Luminal zu versuchen, 
wenn man nach der bisherigen Erfahrung von vornherein Brom¬ 
salze verwerfen mußte, die man doch sonst in die vorderste Reihe 
der Arzneimittel bei Behandlung der Epilepsie stellte und auch 
noch zu stellen hat. 

Es ist nun bekannt, daß man den sog. kleinen oder Schwindel- 
anfällen mit den bisher fast ausschließlich gebrauchten Mitteln 
nicht beikommen kann. Meist treffen wir diese häufigen kurzen 
Bewußtseinsstörungen bei den der Anstalt anvertrauten Kindern 
an. Aber hierbei versagte auch das Luminal völlig, so oft wir es 
auch versuchten, was sich mit den Erfahrungen Kuteinskis deckt. 

Anders ist es mit. schweren Anfällen, die auf Brom nicht 
zurückgehen. Da lohnt sich ein Versuch mit Luminal. 

Brom wird in mancherlei Beziehung von gewissen Kranken 
nicht vertragen. 

In Betracht kommen zunächst und häufig solche, die von 

*) Dr. W. Fuchs, Epilepsie und Epilepsiebehandlung. Leipzig 
1914, S. 12. 


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Das Lumkiai bei der Behandlung der Epilepsie. 


427 


Hauterkrankungen danach heinigesucht werden, Krankheiten, die 
nur nach Aussetzen des Mittels entfallen oder mit Anwendung 
weiterer Arzneimittel, bei denen Arsenik im Vordergründe steht, 
bekämpft werden konnten. Eine häufige Begleiterscheinung ist 
die Akne, die oft den ganzen Körper befällt, und die Dermatitis 
ex bromo (das Bromoderma), die gewöhnlich an den Unterschenkeln 
init Krusten bedeckte Geschwüre bildet, derartige Bildungen aber 
auch sonst am Körper auf der Grundlage von Entzündungen, 
beim Abheilen von Furunkeln und selbst, wie wir sahen, an Impf¬ 
pusteln entstehen läßt. Hierbei hatten wir bislang leidliche Er¬ 
folge mit Sabromin, dann aber ganz gute mit Luminal, so daß 
wir dieses jetzt in allen Fällen jeder andern Behandlungsweise 
vorziehen. 

Im Gegensatz hierzu können wir so gut wie keine Beob¬ 
achtungen anführen, wo Hauterkrankungen die Anwendung von 
Luminal verboten hätten. In einem Falle traten zwar zwei bis 
drei Monate nach der Verabreichung von 3 mal 0,1 täglichen 
Gaben auf der von der zerebralen Kinderlähmung betroffenen 
Seite am Unterschenkel, dem Gesäß und oben auf der zweiten 
Zehe oberflächliche Hauterosionen auf, worauf das Luminal aus¬ 
gesetzt wurde: ähnliches kam aber seitdem bei wieder eingeführter 
und lange fortgesetzter Behandlung nicht wieder vor. 

Unangenehm bemerkt wird der Einfluß des Broms auf das 
geistige Verhalten in manchen Fällen und nach längerer Ver¬ 
abreichung, wo es hemmend wirkt. Die Verallgemeinerung dieser 
Wahrnehmung von der schädlichen Wirkung, die untQr den Laien 
recht verbreitet ist, bringt viele Kranke dazu, sich auch unter 
ärztlicher Überwachung dagegen zu sträuben und sich zu weigern, 
es einzunehmen. In gewissen Fällen rufen die Bromarzneien 
aber auch geradezu Erregungen mit Verwirrtheit hervor. Diese 
Wirkung ist nicht so bekannt, als sie beachtet zu werden ver¬ 
dient. Um sie hervorzurufen, bedarf es nicht einmal großer Dosen, 
auch findet man bei denselben Kranken zeitliche Unterschiede. 
Die Fälle lassen sonst nichts Besonderes, was darauf hinwiese, 
erkennen. Wenn man das Bromkalium nicht ganz aussetzen 
wollte, verlangte die Verabreichung bisher eine ganz besondere 
dauernde Überwachung, da in der rechtzeitigen Abstufung und 


Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXV. 4/5. 

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428 


Hebold, 


Wechsel der Gaben, der immer wieder eintreten mußte, der 
Nutzen hießt zu verkennen war. Hier war ein Ersatz durch 
'Luminal, das in‘größeren Dosen als Beruhigungs- und Schlaf¬ 
mittel erprobt war, in Betracht zu ziehen. In der Tat stellten 
wir fest, daß es schon in kleinen Gaben, wenn das anfängliche 
Ermüdungsgefühl überwunden war, eine gewisse geordnete Reg¬ 
samkeit hervorrief und Erscheinungen von Unruhe und mit 
Hemmung verbundener Verwirrtheit sich besserten. In einem 
solchen Fall blieb sogar das überaus lästige und besonders nachts 
recht störende laute Aufschreien, das sich an die häufigen, von 
da ab seltener gewordenen Anfälle anschloß, aus. 

Bei hochgradiger Reizbarkeit' die mit heimtückischen An¬ 
griffen auf andere meist hilflose Kranke verbunden war, wirkte 
das Luminal besänftigend, so daß die Kranken mit kurzen seltenen 
Unterbrechungen mit anderen zusammen sein und regelmäßig 
beschäftigt werden konnten. Ferner konnte bei Zuständen seelischer 
Verstimmung und bei Angstzustäden, in gewissen Fällen neben 
gleichzeitiger Darreichung von Bromwasser, eine Besserung be¬ 
merkt werden. 

Recht augenscheinlich war der gute Einfluß in einem Falle, 
wo nach den Anfällen sich ein Zustand von Erregung und hallu¬ 
zinatorischer Verwirrtheit von längerer Dauer eingefunden hatte. 

Der Kranke Paul St., geboren den 5. VIII. 1858, seit dem 21. Lebens¬ 
jahre krampfkrank, nebenher zum Trünke geneigt, seit 1904 zum 13. Male 
in der Anstalt, hatte in den Jahren nach seiner letzten Aufnahme im 
Jahre 1913 50 bis 80 Anfälle jährlich, da er sich weigerte, eine Bromarznei 
zu nehmen, war leicht erregbar und kam leicht zu Streit. Nach einem 
Urlaub im April 1914, wo er trank, äußerte er eigentümliche Beobach¬ 
tungen, die auf Sinnestäuschungen beruhten, und wurde nach 5 Anfällen 
erregt und verwirrt. In der Folgezeit war er oft recht laut und störend. 
Dann äußerte er seit November 1914 Sinnestäuschungen, es komme 
Wasser aus dem Luftschacht getropft und ähnliches, und sprach davon, 
daß er viel Geld habe, versprach dem Oberpfleger 2000 M., der Vater 
habe in der Lotterie gewonnen. Er war 2 Wochen mit Unterbrechungen 
abgesondert. Die Monate Januar, Februar und März 1915 waren mit 
Erregungen, die von Sinnestäuschungen gefördert wurden, ausgefüllt. 
Auch wurde er gewalttätig. Er erhielt nunmehr seit dem 5. III. 1915 
zweimal täglich 0,1 Luminal, vom 3. IV. ab zweimal täglich 0,15, seit 
dem 5. IX. wieder zweimal täglich 0,1 mit dem Erfolg, daß die Anfälle 


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Das Luminal bei der Behandlung der Epilepsie. 


429 


selten auf traten, die halluzinatorischen Zustände ausblieben und sein 
Verhalten dauernd ein ruhiges und gehaltenes war, nur ganz selten sich 
nach Anfällen kurzdauernde Zustände von Verwirrtheit einstellten. 

An dieser Stelle ist auf eine eigenartige Wirkungsweise ein¬ 
zugehen, die das Lumina! den Bromalkalien an die Seite stellt, 
daß nämlich dadurch, und zwar bei mittleren Dosen, schon Er¬ 
regungszustände hervorgerufen wurden. Ich wähle aus dem von 
uns Beobachteten drei Fälle aus, bei denen es besonders deutlich 
hervortrat. 

Die ledige Hedwig H., geboren den 7. VI. 1867, seit dem 1. VIII. 1889 
in Anstaltsbehandlung, in der Kindheit an Epilepsie erkrankt, leidet an 
häufigen bald kleinen, bald ausgebildeten Krampfanfällen, an deren Ende 
sie immer furchtbar erregt war, loslief, alles niederrennend, auch Sachen 
zerstörte und beschädigte, nicht zu halten war, spie und um sich biß, 
was so bis zu 15 Minuten andauerte. Dies änderte sich auch nicht unter 
der Behandlung mit 6,0 Bromkalium. Seit dem 16. I. 1911 wurde das 
Bromsalz fortgelassen, nachdem vorher die Gabe verringert worden war. 
Es änderte sich wenig im Krankheitsbilde und an der Zahl der Anfälle, 
deren sie gegen 20 im Monat hatte. Sie erhielt dann im Jahre 1915 vom 
4. XI. ab zweimal 0,05 Luminal, vom 11. XI. dreimal 0,05, vom 18. XI. 
viermal 0,05, vom 23. XI. ab sechsmal 0,05, und die Anfälle blieben aus, 
das Gewicht stieg um 1 Kilo in dieser Zeit. Am 19. XI. wurde sie dann 
sehr unruhig, schwatzte fortwährend dieselben unsinnigen Redensarten. 
Unruhe und Verwirrtheit steigerten sich in den folgenden Tagen. Sie 
war dann ganz durcheinander, redete fortwährend in großer Erregung 
vor sich hin, sie sei gesund, habe 100 Millionen auf der jüdischen Bank, 
wolle einen Kerl haben. Dazwischen weinte sie. Es wurde nun die Luminal- 
gäbe verringert, so daß sie am 28. XI. fünfmal 0,05, am 30. XI. viermal 
o,05, am 2. XII. dreimal 0,05, am 4. XII. zweimal 0,05 und am 6. XII. 
einmal 0,05 erhielt. Danach hatte sie gleich in den folgenden zwei Tagen 
je einen Anfall und dann noch acht im Monat Dezember. Die Erregung 
dauerte noch bis in den Anfang Dezember an. Nach den Anfällen am 
7. und 8. Dezember hatte sie nur einen kurz dauernden Erregungszustand 
und zeigte seitdem wieder ein ruhigeres Verhalten. Nach den weiteren 
Anfällen war sie unter dem Einfluß der geringen Luminalgabe nicht ganz 
so erregt und so lange verwirrt wie früher. Da aber immer noch Auf¬ 
regungszustände vorkamen, wurde fortan vom 25. II. 1916 an morgens 
und abends je 0,05 Luminal verabreicht. Danach wurde das Verhalten 
erträglich. Auch die Zahl der Anfälle wurde günstig beeinflußt. Als im 
Juni 1917 wiederum ein Zustand von Erregung mit Weinen und Schreien 
eintrat, ging man am 19. VI. auf 0,05 täglich herab, setzte das Luminal, 
obschon sie ruhiger geworden war, am 14. VII. ganz aus und gab statt 

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430 


Hebold, 


seiner 2,0 Brk. Sie war zunächst einige Tage erregt und verwirrt, wurde 
dann ruhiger, und die Anfälle mehrten sich sehr. 

Die kleine Kranke Margarete H., geboren den 26. IX. 1906, seit dem 
15. X. 1914 in der Anstalt Wuhlgarten in Behandlung, nachdem sie seil 
Februar desselben Jahres (im 8. Lebensjahr) an Krämpfen erkrankt war, 
erhielt, weil sie trotz Bromkalium zahlreiche kleine und große Anfälle 
hatte, seit dem 7. IV. 1917 zweimal 0,05 Luminal, seil dem 2. X. morgens 
0,05, abends 0,1 Luminal, seit dem 11. II. 1918 zweimal 0,1 mit sicht¬ 
lichem Erfolg in der Herabminderung der Anfälle. Seit der letzten Steige¬ 
rung der Arznei zeigte sie ein verändertes Wesen. Es wechselte große 
Heiterkeit und Niedergeschlagenheit. Sie konnte stundenlang über dieselbe 
Sache jammern und war durch nichts abzulenken, schlug die Hände vor 
das Gesicht, stützte das Köpfchen auf und sagte immerfort: „Ach, diese 
schreckliche Angst und die Anfälle, immer quälen sie mich und lassen 
mich nicht schlafen.“ Brachte man sie auf einen anderen Gegenstand, 
so hörte sie flüchtig hin und setzte sofort mit Jammern wieder ein. Oft 
wurde sie totenbleich und sagte, es sei ihr schlecht. Auf. diese kleinen 
Anfälle hatte das Luminal keinen Einfluß. Auch wurde sie erregbar, 
zankte sich und lärmte. Am 9. VI. wurde, da sie ein papulöses Exanthem 
an beiden Backen, Handrücken und Ellenbogen bekam, die Dosis auf 
zweimal 0,05 Luminal herabgesetzt und der Ausschlag mit Zinkpulver 
mit Erfolg behandelt. Von einem kurzen Urlaub kam sie im Juli in einem 
Hemmungszustand zurück. Da sie wieder mehr über nächtliche Angst¬ 
zustände klagte, wurde am 25. XI. die Abenddosis auf 0,1 erhöht. Die 
Durchschnittsgewichte waren 1914 27 kg, 1915 25 kg, 1916 25% kg, 1917 
28 kg (nach Luminal) und 1918 .91 kg. 

Bei dem Kranken Bernhard Str., geboren den 29. VI. 1902, der seit 
dem 1. Lebensjahre an Krämpfen leidet und seit dem 19. V. 1913 mit 
kurzer Unterbrechung in Anstaltsbehandlung ist, einem streitsüchtigen, 
ungebärdigen und lügnerischen Jungen, wurde statt der'4,0 Brk., die er 
täglich erhielt, Luminal gegeben, da er dauernd recht viele Anfälle hatte. 
Er erhielt seit Oktober 1915 zunächst 0,05, dann allmählich steigend 
zweimal 0,1 Luminal, ohne daß eine wesentliche Wesensänderung eintrat: 
Die Zahl der Anfälle ging darauf etwas zurück. Im Januar 1918 trat aber 
ein manischer Zustandein. Er-zeigte ein gehobenes Selbstbewußtsein, 
machte dem Arzt beim Besuch recht förmlich eine tiefe Verbeugung mit 
militärischem Gruß, während er sonst mit gehobenem Kopfe dastand, 
und erklärte, er werde jetzt ein ganz anderer Mensch werden, werde seine 
Mutter unterstützen, nicht mehr lange Finger machen, er werde sich eine 
Braut nehmen. Er hielt dabei das Gesangbuch in der Hand, indem er auf 
die zehn Gebote hinwies. Gelegentlich behauptete er auch frei von Krämpfen 
und gesund zu sein. Seit Ende Februar erhält er nur noch zweimal 0,05 
Luminal täglich. Sein Befinden und Verhalten hat sich gebessert, und er 
kann jetzt dauernd mit Arbeit im Freien beschäftigt werden. 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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UNIVERSfTY OF MICHIGAN 



Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter 
Geisteszustände, insbesondere nach § 81 der Straf- 

prozeJßordnung. 

Von 

Sanitätsrat Dr.TJratz, Oberarzt der Irrenanstalt Dalldorf, 
psychiatr. Sachverständigen am Kammergericht and den Berliner Landgerichten. 

Wenn wir heute der Befruchtung so vielfältiger, fast aller 
Arbeitsgebiete der Psychiatrie durch Moeli dankbar uns erinnern, 
muß auch Erwähnung fin'den, daß Moeli im Verein mit Stra߬ 
mann, Leppmann, Strauch, Stoermer u. a. im Januar 1914 die 
forensisch-medizinische Vereinigung ins Leben gerufen hat. An 
dieser Stelle haben Ärzte im Verein mit Juristen die verschieden¬ 
sten ihnen gemeinsamen Fragen zu lösen unternommen. An 
dieser Stelle sollten auch die nachstehend abgedruckten Dar¬ 
legungen, ergänzt durch einen juristischen Korreferenten, Herrn 
Landgerichtsrat Dr. Sontag , zur Erörterung gelangen. Der Aus¬ 
bruch des Krieges hat damals unser Vorhaben vereitelt. 

In dieser dem Gründer der forensisch-medizinischen Ver¬ 
einigung gewidmeten Festschrift sollen unsere Vorschläge jetzt, 
erweitert durch unsere Kriegserfahrungen, den Ärzten und Juristen 
vorgelegt werden 1 ). 

Die Anstaltsbeobachtung zur Klarstellung schwer zu beur¬ 
teilender Geisteszustände ist auch von juristischer Seite immer 
hoch bewertet worden und stellt zumeist die ultima ratio dar. 
Auch wenn ausnahmweise nach dem Gutachten des Anstaltsarztes 
noch eine Überprüfung — etwa durch das betreffende Medizinal¬ 
kollegium — eintritt, wird diese größtenteils auf den Fest¬ 
stellungen der Anstaltsbeobachtung fußen und höchstens eine 
andere Auslegung dieser Feststellungen finden. 

*) Zwei neuerliche, unsern Gegenstand berührende Aufsätze Moeli& 
konnten noch bei der Korrektur verwertet werden: a) Die Anstaltsaufnahmen 
zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand eines Angesciml- 
digten (StPO. § 81) und zur Feststellung des Geisteszustandes eines zu Ent¬ 
mündigenden (ZPO. § 656) in Preußen. (Psych.-Neur. Wchnschr. 1918/19, 
Nr. 37/38 u. 39/40.) b) Die Berücksichtigung der geistigen Anomalien durch 
die Zivilgesetzgebung der Schweiz und Österreichs. (Vjschr. f. gerichtl. Med.. 


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altsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 433 


1 • 


Das Menschenmaterial der Anstaltsbeobachtung. 

Im Jahre 19'09 sind, wie ich seinerzeit für den internationalen 
Psychiaterkongreß in Berlin in dem damals auf Moelis Anregung von 
mir herausgegebenen „Führer durch das psychiatrische Berlin“ zusammen¬ 
gestellt habe, in den fünf öffentlichen Anstalten Groß-Berlins, d. h. in 
der Charitö, den drei städtischen Irrenanstalten und der Anstalt für Epi¬ 
leptische, 122 Männer und 2 Frauen von den Gerichten zur Beobachtung 
des Geisteszustandes nach § 81 der StPO, begutachtet worden. 

Nach den Verwaltungsberichten des Berliner Magistrats-, welche ich 
dank der Freundlichkeit des Herrn Geheimrat Bonhöffer durch die Zahlen 
der Charitö ergänzen konnte, hat sich die Zahl der in Groß-Berlin nach 
§ 81 Beobachteten in den letzten 10 Jahren in keiner Richtung wesentlich 
geändert und beträgt im allgemeinen jährlich 100—120 Personen, in der 
überwiegenden Mehrzahl Männer. Über die Hälfte kommt aus der Unter¬ 
suchungshaft. 

Außerordentlich klein ist die Zahl derjenigen, welche im Entmündi¬ 
gungsverfahren nach § 656 ZPO. zur Beobachtung in die Anstalt geschickt 
werden. Etwas häufiger ereignet es sich bei den Groß-Berliner Gerichten, 
daß bei anderen bürgerlichen-Rechtsstreiten, bei denen der Geisteszustand 
einer Person zweifelhaft erscheint, dieser vom Gericht aufgegeben wird, 
sich eine bestimmte Zeit in einer Anstalt beobachten zu lassen. 

Viel zu wenig, wie das jüngst Frölich ausgeführt hat, wird die Be¬ 
obachtungin der Irrenanstalt bei zweifelhaftem Geisteszustände im Renten¬ 
streit von den Berufsgenossenschaften und Versicherungsämtern in An¬ 
spruch genommen. Die modernen Irrenanstalten mit ihren vielfältigen 
Beschäftigungsgelegenheiten und ihrer Kenntnis auch der durch Alter, 
Unfall und sonst bedingten geistigen Störungen sind zur Beurteilung der 
Frage der Erwerbsfähigkeit besonders geeignet. Die Versicherungs-Spruch - 
behörden pflegen aber den Betreffenden immer wieder durch einen Arzt 
in der Sprechstunde beobachten zu lassen, allenfalls die ihnen sonst für 
die Behandlung und Begutachtung chirurgischer und nervöser Fälle be¬ 
kannten Heilstätten, aber keine Irrenanstalten heranzuziehen. 

Der Einweisung in die Irrenanstalt stellen sich im Rentenverfahren 
und im bürgerlichen Rechtsstreit zuweilen Schwierigkeiten seitens des 
Willens der zu begutachtenden Person entgegen, die auch im Strafver¬ 
fahren gelegentlich vorhanden sind, nur hier naturgemäß weniger Berück¬ 
sichtigung finden. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in der öffentlichen 
Irrenanstalt erscheint nicht jedem verlockend. Er würde erleichtert, wenn 
die Anstalt Pensionärabteilungen oder eigene Häuser für die in der Anstalt 
rasch zu geistiger Klarheit zurückkehrenden Morphinisten, Alkoholiker, 
Psychopathen usw. besitzt. Die entsprechenden Zahlen für ganz Preußen 
s. bei Moeli, Psych. Wchnschr. Am zweckmäßigsten ist, wie für Dalldorf 
und Herzberge in Aussicht genommen, die Angliederung räumlich ge¬ 
trennter Nervenabteilungen, deren Sonderstellung Doch durch einen 
eigenen Namen verdeutlicht werden kann. 


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484 


B ratz. 


Der Kreis der nach § 81 »StPO, zu Beobachtenden würde sich erheb¬ 
lich vermehren, wenn die Änderung der Gesetzgebung zwischen die Geistes¬ 
gesunden und die Unzurechnungsfähigen noch die Klasse- der Minder¬ 
wertigen, d. h. der Zurechnungsfähigen mit geistigen Mängeln, stellt. 

Sobald auf Minderwertigkeit, eben Zurechnungsfähigkeit mit geistigen 
Mängeln, erkannt ist, erhebt sich die von uns allen soviel erörterte und 
gefürchtete Krage der Behandlung dieser Rechtsbrecher, der Art ihrer 
Bestrafung, ihrer Sicherung und Beaufsichtigung. Welch eine genaue 
und gründliche Kenntnis der ganzen Persönlichkeit und des gesamten 
Lebensganges des Rechtsbrechers gehört dazu, um diese Maßnahmen für 
den Einzelfall richtig und zweckentsprechend zu trefTen. Liegt es da nicht 
für den Richter nahe, die Vorbereitung für beide Urteile, ob Minder¬ 
wertigkeit vorliegt und wie der betreffende Minderwertige behandelt 
werden soll, gleich vor der Hauptverhandlung durch die psychiatrische 
Anstaltsbeobachtung zu beschaffen? 

Schon jetzt — ohne gesetzliche Bestimmung — arbeiten in der 
Praxis Juristen und Ärzte überall mit dem Begriffe der Minderwertigkeit. 

Die Geistesart der Personen, welche zur Beobachtung nach § 81 in 
die Anstalt kommen, hat sah in den letzten 20 Jahren nach Meinung 
aller von mir befragten Fachgenossen wenig geändert. 

Es werden jetzt höchstens 40 Prozent der nach § 81 zur Beobachtung 
kommenden als chronisch oder zur Zeit der Straftat geisteskrank und unzu¬ 
rechnungsfähig angesehen. Mehr als 55 Prozent sind als minderwertig 
erachtet, dabei ein großer Teil mit starker Übertreibung der geistigen 
Mängel: 2—5 Prozent sind geistesgesunde Simulanten. 

Das Krankenmaterial der eingewiesenen Rechtsbrecher hat nun 
eine bestimmte Färbung. Die ausgesprochenen Paralytiker und-chroiu- 
schen Paranoiker bzw. Dementia praecox-Kranken mit »Sinnestäuschungen 
und Wahnvorstellungen werden oft schon durch die betreffenden Privat¬ 
ärzte, besonders aber durch die Gerichtsärzte erkannt und ohne Anstalts¬ 
beobachtung begutachtet. Etwas häufiger fließen uns Alkoholisten, Morphi¬ 
nisten, Epileptiker, Imbezille und Senildemente zur Beobachtung zu. 

Die große Mehrzahl aber aller zu Beobachtenden sind Psychopathen 
in all ihren Abarten, solche mit dauernder Hemmungslosigkeit und Un- 
stetheit oder mit triebhaften Zuständen, solche mit Abweichungen des 
Geschlechtslebens, solche mit und ohne Hysterie, zumeist dauernd mit 
seelischen Mängeln behaftet, andere außerdem vorübergehend nach körper¬ 
lichen und besonders nach seelischen »Stößen geistig erkrankend. Eine 
große Zahl der Psychopathen, welche in die Anstalt nach § 8t der StPO, 
kommen, verdanken diesen Aufenthalt einem mehr oder minder erheb¬ 
lichen Schuß von zweckbewußter »Simulation oder Übertreibung. Psycho¬ 
pathen können ferner Erscheinungen früherer oder vorübergehender 
geistiger Krankheit, welche ihnen als selbsterlebt bekannt sind, zum 
Zwecke der Täuschung in der allmählich sich einstellenden Gesundung 
beibehalten oder wieder hervorheben. Sic können aber auch noch, wenn 


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Die Anstaltshcobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände nsw. 4B5 

sie etwa unter dorn seelischen Stoße der Untersuchungshaft wirklich leicht 
geistig erkrankt sind. z. B. wenn sie zeitweise schreckhafte Visionen haben, 
oder wenn sie ihre Beziehungen zur Umgebung schon schief, fast wahnhaft 
auffassen. mit dem aus der gesunden Zeit festgehaltenen Motiv, krank zu 
erscheinen und straffrei zu werden, die wirklichen Krankheitserscheinungen 
durch Täuschungsversuche maßlos verzerren. 

Wer diese verwickelten Verhältnisse kennt, welche die Natur mit der 
Erkrankung der Psychopathen schafft, wird sich nicht wundern, wenn 
hier die Gutachten nicht nach dem einfachen Schema ausfallcn: geistes¬ 
krank oder nicht krank, wenn vielmehr die berühmten Bandwürmer von 
Endurteilen entstehen, z. B.: zur Zeit der Tat zurechnungsfähig, in der 
Untersuchungshaft geistig erkrankt, in der Anstaltsbeobachtung simu¬ 
lierend. aber nicht mehr geisteskrank: ob 8 Wochen später verhandlungs- 
fähig. hängt von dem Maße der bis dahin festgehaltenen seelischen Be¬ 
ruhigung ab, unter Umständen von der Führung der Hauptverhandlung. 

Wie stellt sich nun im allgemeinen der Ausgang der Anstaltsbe¬ 
obachtung? 

Bekanntlich werden jetzt, trotzdem das Menschenmaterial im wesent¬ 
lichen das gleiche geblieben ist, weniger für unzurechnungsfähig erklärt 
als vor 10—20 Jahren. 

Von 43 Männern, welche in 2 Jahren vor dem Kriege in Dalldorf von 
den hiesigen Ärzten nach § 81 beobachtet wurden, waren die Ergebnisse 
folgende: 14 wurden als zur Zeit der Tat unzurechnungsfähig erklärt; 
bei 4 bestanden wenigstens begründete Zweifel an der Zurechnungs¬ 
fähigkeit im Sinne der bekannten Reichsgerichtsentscheidung: 23 unter¬ 
lagen nicht dem § 51 StGB., waren aber dauernd minderwertig: 2 wurden 
als geistig gesund bezeichnet. 

Ich habe innerhalb 10 Jahren bis 1912 in den Anstalten Wuhlgarten 
und Dalldorf 48 Männer nach § 81 beobachtet: von denen waren 18 zur 
Zeit der Tat unzurechnungsfähig, 28 waren zurechnungsfähig, aber minder¬ 
wertig. Einen rein geistesnormalen Simulanten habe ich ein- bis zweimal 
gesehen. 

Die Anstaltsbeobachtung nach § 81 ergibt also in Verhältnisanteilen 
aus diesem kleinen aber gleichmäßigen Material von Menschen, welche 
die mit mir arbeitenden Kollegen bzw. ich selbst begutachtet haben, 
berechnet: Auf 100: 38 Unzurechnungsfähige. 58 Minderwertige, 4 Geistes¬ 
gesunde. 

Mein größeres, allerdings durch den Krieg nicht ohne weiteres ver¬ 
gleichbares Material bis 1918 kommt zu den gleichen Verhältnisanteilen. 
An diesem Ergebnis, an der jetzt gegen früher geringeren Zahl der für unzu¬ 
rechnungsfähig erklärten, hat der Wechsel der wissenschaftlichen An¬ 
schauungen, die kritischere und strengere Stellung der modernen Psychiatrie 
einen Anteil. Wir haben gelernt zu erkennen und zu werten, wie oft 
Hysterische und Hystero-Psychopathen, um der Feststellung einer Straf¬ 
tat zu entgehen, auch ohne klar bewußte Simulation nach ihrer ganzen 


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436 


Br atz, 


Wesensart Krankheitserscheinungen übertreiben und fälschen. Aber 
ebenso offen muß ich hier meine Meinung dahin darlegen, daß in der 
Übung der Minderwertigkeitserklärung' bereits das Pendel zu weit nach 
der anderen Seite schwingt. Für die hemmunglosen Psychopathen, die 
gleichzeitig nach ihren Verstandesleistungen schwachsinnig sind, müßte 
m. E. der Anstaltsarzt, der nicht schematisch diese Krankheitsform mit 
dem Endgutachten ,,Minderwertigkeit“ verknüpft, sondern den Einzelfall 
sorgfältig prüft, öfter, als es jetzt geschieht, den Schutz des § 51 verlangen. 

Wie dem auch sei, im wesentlichen ist unser zahlenmäßiges Ergebnis, 
wie wir gesehen haben, durch die Artung des zur Anstaltsbeobachtung 
kommenden Menschenmaterials bedingt, das in Wirklichkeit die zweifel¬ 
haften, schwer oder doch nicht rasch zu beurteilenden Geisteszustände 
umfaßt. 

Es wurde schon erwähnt, daß die gerichtsärztlichen Gutachter schon 
jetzt, ohne gesetzliche Einführung des Begriffs der Minderwertigkeit bzw. 
der geminderten Zurechnungsfähigkeit, doch mit dieser Feststellung 
arbeiten. Der Unterschied zwischen der jetzigen Übung und dem beab¬ 
sichtigten Zustande ist nur der, daß jetzt der Richter bei Berücksichtigung 
der Minderwertigkeit nicht an einen gesetzlich festgelegten Strafrahmen 
gebunden ist, und daß er auf Sicherung und Verwahrung jetzt nicht er¬ 
kennen kann. Aber jetzt schon beachtenswert scheint die hohe Zahl der 
Minderwertigen, welche die Beobachtung nach § 8t aufzeigt, diejenige 
Form der Begutachtung, welche einerseits mit Hilfe behördlicher Auf¬ 
klärung der Tatsachen, andererseits mit der Anstaltsbeobachtung der zu 
prüfenden Menschen arbeitet und deshalb für sich in Anspruch nehmen 
kann, am tiefsten in die Persönlichkeit einzudringen. Diese Form der 
Begutachtung erachtet schon jetzt unter den ihr zur Prüfung der Zu¬ 
rechnungsfähigkeit überwiesenen rund 60 Prozerit als minderwertig, d. h. 
als zurechnungsfähig, aber mit geistigen Mängeln dauernd behaftet. 

Die hohe Zahl der Minderwertigen, ihre klinisch nahezu gleich¬ 
mäßige Zusammensetzung aus hemmunglosen bzw 7 . schwachsinnigen 
Psychopathen macht es dem Psychiater zur Pflicht, sie auch nach ihrer 
Wesensart näher zu betrachten. Dabei ergibt sich nun folgendes: Erstens, 
die Rechtsbrüche der Minderwertigen beginnen in sehr frühem Lebens¬ 
alter. Zweitens, sie werden fast durchweg rückfällig. Es handelt sich 
nach der Art der Rechtsbrüche im wesentlichen um drei Klassen: a) die 
Rückfallsdiebe, wobei ich alle vom Gesetzgeber unterschiedenen Eigen¬ 
tumsvergehen, wie Unterschlagung, Urkundenfälschung, Betrug wegen 
der psychologisch gleichen Art hier zusammenfasse; b) die übererregbaren 
Rohlinge; Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Beleidigung, Wider¬ 
stand usw. sind hier zusammengefaßt; c) Sittlichkeitsverbrecher. 

Die Auffassung, welche erfahrene Psychiater wie Kraepelin schon 
immer gehabt haben, daß auch die nicht zur Begutachtung kommenden, 
wegen Rückfalls immer wieder verurteilten Diebe, Rohlinge und Sitt- 


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Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände asw. 437 

lichkeitsverbrecher bei ärztlicher Prüfung sich als minderwertige, mit 
dauernden seelischen Mängeln behaftete Menschen erweisen, hat sich 
mir auch vor den Kriegsgerichten bestätigt. Die Kriegsgerichte haben 
in weit größerem Umfange als die bürgerlichen Gerichte psychiatrische 
Beobachtung angeordnet. Mehr als 500 Rechtsbrecher habe ich in 4 V, 
Kriegsjahren als Stationsarzt einer Nervenstation und Fachbeirat eines 
Armeekorps begutachtet. Wieder hat es sich gezeigt, daß die drei ge¬ 
nannten Klassen der Rückfälligen fast durchweg Minderwertige waren. 
Und für eine vierte Klasse fand sich hier die Bestätigung. Wir Psychiater 
kannten schon aus dem bürgerlichen Leben die Unstetheit der hemmung¬ 
losen Psychopathen, welche sie immer wieder ihre Beschäftigung und ihren 
Aufenthalt wechseln ließ. Nur wird solche hemmunglose Unstetheit im 
bürgerlichen Strafgesetzbuch nicht mit Strafe bedroht und kommt nur 
ausnahmweise zu gerichtlicher Beurteilung. In militärischen Verhält¬ 
nissen ergab sich die unerlaubte Entfernung, bei denen, die nicht zurück¬ 
zukehren beabsichtigen, Fahnenflucht bena~nnt. Und siehe da: alle mehr 1 
als einmal sich unerlaubt Entfernenden — viele hatten sich dreimal und 
öfter entfernt — erwiesen sich bei psychiatrischer Prüfung als Minder¬ 
wertige. 

So interessant und grundsätzlich wichtig für die ärztlich-klinische 
Betrachtung dieser Zuwachs der Minderwertigen durch die Unsteten ist. 
für die bürgerlichen Verhältnisse der nächsten Zukunft können wir uns 
auf die schwer genug wiegende Frage beschränken: Was folgt aus dieser 
Beschaffenheit der Rückfallsdiebe, Rückfallsrohlinge und rückfälligen 
Sittlichkeitsverbfecher als minderwertiger, mit seelischen Mängeln dauernd 
behafteter Menschen für ihre Behandlung? 

Vermutlich wird die Änderung der Gesetzgebung der nächsten Zeit 
sich in der Richtung bewegen, dem Angeklagten weitgehenden Schutz 
zu gewähren: Erleichterung der Verteidigung, durchgehende Möglichkeit 
der Berufung, Mitwirkung des Laien an der Rechtsprechung und andere 
Maßnahmen sind als Schutz für den Angeklagten gefordert. 

Alle solche Schutzmaßnahmen sind das wichtigste Interesse des¬ 
jenigen, der zum erstenmal in seinem Leben vor Gericht gezogen wird. 
Solchen Personen wären auch ohne weiteres alle diejenigen gleichzusetzen, 
welche später wegen eines anderweitigen Vergehens oder erst jahrelang 
nach der ersten Anklage wegen des gleichartigen Vergehens vor Gericht 
gezogen werden. Bei allen diesen Personen, die ja geistesgesund und nach 
ihrer Geistesart fähig sind, sich vor Rechtsbrüchen zu bewahren, wird die 
moderne Gesetzgebung in ihrem und in der Gesellschaft Interesse den 
Gesichtspunkt voranstellen können. Unschuldige vor Strafe zu schützen, 
Schuldige unter Berücksichtigung der obwaltenden Umstände strafrecht¬ 
lich mit dem Ziele mi behandeln, sie vor einem zweiten Rechtsbruch zu 
bewahren. 

Ganz anders bei den Minderwertigen, wie wir sie in der' genannten 


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B ratz. 


Kalogor io der rückfälligen Diebe, Rohlinge und Sittliehkeits Verbrecher 
^ vor uns haben. Sicher verdienen sie nach ihrer krankhaften Eigenart 
mehr unser Mitleid als moralische Entrüstung. Sie sind wie mißratene 
Kinder. Weder ihnen noch der menschlichen Gesellschaft ist damit gedient, 
daß sie vor der Aburteilung ihres dritten oder vierten Diebstahls alle Ma߬ 
nahmen der Verteidigung und alle Instanzen der Rechtsprechung durch¬ 
laufen können und diese Instanzen zuungunsten der erstgenannten Per¬ 
sonen belasten. Vom ärztlichen Standpunkt aus wäre es wünschenswert, 
für diese Rückfälligen eigene gesetzliche Bestimmungen zu schallen, sie. 
möglicherweise sogar vor eigene Kammern zu verweisen, die sich ein¬ 
gehend mit der Behandlung derselben befassen. Wenn die vor dem Kriege 
erstrebte zeitweise Verbringung der Minderwertigen in angegliederte 
Sonderabteilungen der Irrenanstalten oder eigene Bewahranstalten bei 
unserer jetzigen traurigen Finanzlage vorerst undurchführbar ist., so wird 
eine gewisse Sicherung doch auch mit geringeren Mitteln, wie mit zwang¬ 
weiser Anweisung des Aufenthaltes und der Beschäftigung, Bestellung einer 
mit vormundschaftlichen Rechten ausgestatteten Schutzaufsicht 1 ). für 
gewisse Zeilen und bis zu einem gewissen Grade zu erreichen sein. Bei dem 
Vorschläge eigener Kammern schwebt mir neben den Erfahrungen der 
Jugendgerichte vor. daß schon jetzt bei den Kriegsgerichten für alle 
Arten von Angeklagten der gleiche Richter als t'ntcrsuchungsführer und 
auch in der Hauptverhandlung tätig ist und genau die Person des An¬ 
geklagten kennenlernt, besser als es in einer vielköpfigen öffentlichen 
Haupt Verhandlung möglich ist. 

Technik der Anstaltsbeobachtung;. 

Ich bin ein großer Freund der Anstaltsbeobachtung nach § 81 und 
glaube, daß dieselbe im Interesse der Rechtspflege schon jetzt häufiger 
angewandt werden müßte. Ob Schlaflosigkeit. Kopfschmerzen, ob Krämpfe 
oder andere anfallweise Nervenstörungen bestehen, kann die Tag und 
Nacht fortgesetzte Anstaltsbeobachtung gewissermaßen spielend klar¬ 
stellen, während sie ohne dieselbe immer zweifelhaft bleiben, f*ber Sinnes¬ 
täuschungen wird am ehesten die Anstaltsbeobachtung Licht bringen. 
Die zwangweise Fernhaltung der Berater und der Hilfsmittel des gewöhn¬ 
lichen Lebens bringt oft schon Klärung. Bei einem jungen Kaufmann 
und notorischen Wechselschieber hatten sechs beamtete Arzte Reaktions- 
losigkeit der Pupillen sowie seelische Hemmung und Abstumpfung auf 
Grund der Sprechstundenuntersuchungen begutachtet, ln der Anstalts¬ 
beobachtung hörten alle diese Erscheinungen nach etwa einer Woche 
allmählich auf, und es ergab sich, daß sie durch Morphiumgebrauch herbei¬ 
geführt waren. Die so wichtige Klarstellung des ganzen Lebensganges 
durch Herbeiziehung aktenmäßigen und krankengeschichtlichen Materials 
und die Besprechung der sichergestellten Erlebnisse mit der Person selbst, 

l ) Vergl. Modi, Vjschr. f. geriehtl. Med. 1918. S. 134. 


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Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 43 «) 


die Beobachtung ihrer Erinnerung und ihrer Gefühlsreaktion bezüglich 
bestimmter Erlebnisse ist am besten in der Anstalt durchführbar. 

Aber zu einer häutigeren Anwendung der Anstaltsbeobachtung 
müßte m. E. eine jetzt nicht vorhandene Vorbedingung erfüllt werden, 
eine größere Kürze. Das ganze Verfahren krankt jetzt, ebenso wie ein 
wesentliches Glied derselben, wie das schriftliche Gutachten, an einer 
sachlich zumeist nicht' erforderlichen Breite und Umständlichkeit. 

Wird jetzt, sei es vom Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt, sei 
es in der Haupt Verhandlung, die Anstaltsbeobachtung beschlossen, so 
bedeutet das im allgemeinen eine Unterbrechung des Verfahrens auf 
mindestens ein Vierteljahr, sehr häutig auf ein halbes Jahr und länger. 
Eine solch lange Unterbrechung bringt natürlich mannigfache Mißslande 
mit sich und muß an sich schon für den Richter ein Gegengrund für die 
Anwendung des § 81 sein. 

loh möchte eine Reihe von ärztlichen Vorschlägen für die Abkürzung 
des Verfahrens den Fachgenossen unterbreiten: Oft kommt der zu Beob¬ 
achtende in die Anstalt, aber noch keine Gerichtsakten. Ich brauche 
nicht auszumalen, daß eine rasche und durchdringende Erforschung der 
Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten erschwert ist, wenn der Arzt nicht 
einmal die Art der Straftat kennt, geschweige denn etwaige Vorgulachten 
und andere Einzelheiten. 

Dqs Verfahren muß sich behufs möglichster Beschleunigung folgender¬ 
maßen abspielen: Mindestens bei Eintreffen des Angeklagten, besser 
schon eine Woche vorher, müssen die Akten in den Händen des Arztes 
sein. Der Arzt muß dann seinerseits sofort die ersten Tage ausnutzen, 
d. h. er muß alsbald die Akten sorgfältig durchsehen, erforderlichenfalls 
sich einen Auszug oder eine Abschrift von allen interessierenden Akten¬ 
stellen entnehmen. Viel weiter geht ein Vorschlag meines Herrn Korre¬ 
ferenten, der empfiehlt, daß der Untersuchungsrichter Duplikatakten 
dem Arzt der Irrenanstalt zugehen läßt. —Trifft der zu Beobachtende in 
der Anstalt ein, so muß der Arzt, bewaffnet mit der Kenntnis der Akten, 
am besten noch den Tag der Einlieferung benutzen, solange der Ange¬ 
klagte noch unbekannt mit den Verhältnissen der Anstalt und von 
etwaigen anderen Rechtsbrechern nicht unterrichtet ist, um erstmalig 
über den Geisteszustand des Angeklagten sich zu unterrichten. 

Die allgemeinen Anordnungen für die Beobachtung werden bei 
diesem ersten Vorbesuche getroffen, die beteiligten Ärzte und Oberpfleger 
von der Sachlage unterrichtet. Zweckmäßigerweise wird ein Pfleger, 
der im Aufenthaltsraum des Neuaufgenommenen seinen Dienst hat, mit 
der besonderen Beobachtung des Betreffenden beauftragt. Er muß täg¬ 
lich seine Beobachtungen niederschreiben, muß sich freundlich mit. dem 
Angeklagten stellen. Dabei muß der Pfleger zwar von seiner Aufgabe 
den Angeklagten möglichst wenig merken lassen, braucht aber durchaus 
nicht wie ein Spitzel zu handeln: er wird im Gegenteil ausdrücklich darauf 


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Br atz, 


aufmerksam ztrmachen sein, daß er sich mehr abwartend verhalten muß und 
niemals in seinem Erkundungseifer dem Angeklagten etwas vorlügen dürfe. 

Der Arzt, der täglich von dem Ergehen des zu Beobachtenden Kennt¬ 
nis nehmen muß, wird außerdem noch seine besonderen Vorbefeuche fort¬ 
setzen, d. h. eingehend unter Benutzung des Aktenmaterials mit dem 
zu m Beobachtenden außerhalb der Krankenabteilung in der Ruhe eines 
besonderen Zimmers — erforderlichenfalls unter .Zuziehung eines Proto¬ 
kollanten — sich beschäftigen. Auf die Gefahr hin, in der Erwähnung 
von Kleinigkeiten lehrhaft zu erscheinen, möchte ich raten, diese Vor¬ 
besuche soweit als möglich in den späten Nachmittagstunden, im Winter 
beim traulichen Schein der Lampe vorzunehmen. Es scheint, als ob sich 
die Seele mancher normalen und besonders vieler nervösen Menschen 
mehr gegen Ende des Tages löst und mitteilsamer wird. Aber auch die 
ganze Stimmung auf der Krankenabteilung einer Heilanstalt ist vormittags 
vor, während und nach der ärztlichen Visite, zu welcher Zeit alle Wünsche 
der Kranken, alle ärztlichen Anordnungen, die wesentlichen Teile des 
laufenden Dienstes sich abspielen, naturgemäß nicht so ruhig, nicht so 
geeignet zu einer offenen Aussprache als gegen Abend. Und es muß doch 
unser Hauptbemühen sein, den zu Beobachtenden zum Reden zu bringen, 
zur rückhaltlosen Darlegung der von ihm angenommenen Krankheits¬ 
erscheinungen und des Herganges der Straftat. 

Aus diesem Grunde empfehle ich dem Arzte dringend, bei dem Ver¬ 
dachte der Simulation oder der Übertreibung von Krankheitserschei¬ 
nungen die eigene Auffassung dem zu Beobachtenden nicht vorzeitig zu 
verraten und ihn nicht etwa durch eine Mahnung zur Wahrheit oder eine 
Kritik einer Einzeldarstellung zu reizen. Zu derartigen ärztlichen Ein¬ 
wirkungen, die erforderlichenfalls bis zu eindringlicher Mahnung gesteigert 
werden können, ist noch am Ende der Beobachtung Zeit, und sie werden 
um so wirksamer sein, je mehr sie schon auf umfassende Beobachtung 
sich stützen. 

Bei den ersten Vorbesuchen muß der Arzt die Lebensgeschichte des 
zu Begutachtenden so genau mit demselben durchgehen, daß die Herbei¬ 
ziehung aller sich dabei ergebenden Akten und Krankheitsgeschichten, 
die Bestellung von Angehörigen und Bekannten zur Rücksprache mit 
dem Arzt alsbald lückenlos erfolgen kann. 

Ich empfehle des weiteren, nach einigen Wochen, und zwar sobald 
die eingeforderten Akten eingetroffen und die Vernehmungen der An¬ 
gehörigen beendet sind, während der Angeklagte noch in der Anstalt ist, 
das Konzept des schriftlichen Gutachtens, und zwar zunächst die Vor¬ 
geschichte, schon niederzuschreiben. Man hat dabei den Vorteil, etwaige 
Lücken zu erkennen, und kann noch Rückfragen an den Angeklagten 
oder die Angehörigen stellen. 

Zumeist am gleichen oder folgenden Tage, jedenfalls, sobald das 
Ergebnis der Beobachtung im wesentlichen feststeht, schreibe ich, wahrend 


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Die Anst&ltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 441 

der Angeklagte noch da ist, in Fortführung des Konzeptes auch den zweiten 
Teil desselben nieder, die Darstellung der Anstaltsbeobachtung einschlie߬ 
lich der körperlichen und geistigen Untersuchung. Bei der Niederschrift 
der eigenen Beobachtungen stellen sich fast regelmäßig noch kleine Un¬ 
klarheiten oder Lücken der Untersuchung heraus, die bei Anwesenheit 
des zu Beobachtenden rasch beseitigt werden können. 

Zu diesem Zeitpunkte, wo die gutachtlichen Erwägungen, welche . 
die ganze Beobachtung begleiten, sich zu der letzten Schlußfolgerung 
verdichten, ja oft noch bei der Niederschrift dieses gutachtlichen Teiles, 
ist der Angeklagte noch in der Anstalt. Die Reinschrift des Gutachtens 
geht bei dieser Arbeitsweise zugleich mit der Aufforderung zur Abholung 
des Angeklagten oder mit dem Angeklagten aus der Anstalt ab. Andern¬ 
falls folgt sie in einer Woche etwa, nachdem der Angeklagte die Beobach¬ 
tung verlassen hat. 

Gegenüber der von den meisten Kollegen geübten Arbeitsweise, 
mehrere Wochen nach dem Abgänge des Beobachteten das Gutachten 
niederzuschreiben, hat die von mir vorgeschlagene und auf meine An¬ 
regung auch von den hiesigen Kollegen erprobte Methode neben der er¬ 
heblichen Beschleunigung des ganzen Verfahrens den Vorteil, daß die 
Aufmerksamkeit des Gutachters nicht durch längere, zerstreuende Pausen 
unterbrochen wird. Das wird der Richtigkeit der Erwägungen oft förder¬ 
lich sein, in jedem Falle kommt es der Darstellung zugute. 

Als ein nur gelegentlich passendes, dann ausgezeichnetes Mittel, 
den Anstaltsaufenthalt abzukürzen und doch die Beobachtung wirksam 
zu ergänzen, hat sich mir ih Einzelfällen bewährt, den Rechtsbrecher 
in seine Wohnung zu entlassen und ihm nach einigen Tagen einen unan¬ 
gemeldeten Besuch zu machen. Außerhalb der Anstalt erscheinen die 
Wirklich-Kranken oft noch leidender. Simulanten aber, die beim Ver¬ 
lassen der Anstalt mit tausend Gebrechen aus dem Bett sich erheben, 
trifft man rauchend und singend oder, was auch in solchem Falle viel 
sagt: nicht zu Hause. 

Ich bin bei der geschilderten eindringlichen Art, der Persönlichkeit 
des Rechtsbrechers nahezukommen, vielfach mit 2—3 Wochen Beob- 
ächtungszeit ausgekommen. In der Mehrzahl der Fälle konnte ich die 
Angeklagten nach etwa 4 Wochen aus der Anstalt entlassen. Es empfiehlt 
sich zuweilen, wenn z. B. der zu Begutachtende Sinnestäuschungen oder 
andere, weniger durch die ärztliche Exploration als durch die laufende 
Beobachtung zu klärende Krankheitserscheinungen behauptet, oder wenn 
er der ärztlichen Erforschung ablehnendes Verhalten oder ein bewußt 
angenommenes Benehmen entgegensetzt, von weiteren ärztlichen Be¬ 
sprechungen abzusehen und den Betreffenden anscheinend unbeachtet 
auf der Krankenabteilung sich ausleben zu lassen. Auch in solchen zeit¬ 
raubenden Fällen, in denen erst nach 2 Wochen die ärztlichen Unter- 


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B r a t z ,- 


suehungen wieder einsetzten, bin ich mit.den genannten Fristen zumeist 
ausgekommen. 

Durch Riickspracfie mit einer Reihe von erfahrenen Kollegen habe 
ich feststellen können, daß es vielleicht nur einer Anregung bedarf, um 
die jetzt in etwas schematischer Weise oft auf 6 Wochen ausgedehnte 
Reobachlungszeit künftig in der Mehrzahl der Falle um ein Drittel zu 
verkürzen. Nur in schwierigen Fallen, wenn ich nach 4 Wochen bezüg¬ 
lich meines Endgutachtens noch im ernsten Zweifel bin, dehne ich die 
Beobachtung bis zu der gesetzlich zulässigen Zeitdauer aus. 

Es hat einige Male unliebsames Aufsehen erregt, wenn gefährliche 
flewohnheitsvrrbrccher gelegentlich der Beobachtung ihres Geistes 
zustandes durch Entweichen aus der Irrenanstalt dem Arme der Gerechtig¬ 
keit sich entzogen haben. Der Anstaltsarzt darf natürlich über seine 
Beobachtungsmaßnahmen die Sicherung nicht vergessen. Ich bin der 
Ansicht, daß die Einrichtungen unserer großen Irrenanstalten, wenn 
sie planmäßig angewandt werden — oft allein schon Bettruhe bei Ent¬ 
fernung der Kleider —. genügen, um wenigstens für die Dauer von wenigen 
Wochen einen geschickten Ausbrecher festzuhalten. Aber eine Forderung 
muß dabei auch an die richterliche Behörde erhoben werden. Es ist zweck¬ 
mäßig. wenn diese auf Entweichungsverdachtige gleich bei der Einweisung 
in die Anstalt aufmerksam macht, damit das Unglück nicht geschieht, 
ehe die Anstalt den Betreffenden kennenlernt. 

Kehrt der Angeklagte aus der Anstalt in Untersuchungshaft zurück, 
so ist es notwendig, daß an die Leitung des Untersuchungsgefängnisses 
ein kurzes Befundattest über den gegenwärtigen Geisteszustand des An¬ 
geklagten sogleich mitgeht. Das wird um so notwendiger, wenn ent¬ 
gegen den hier dargelegten Grundsätzen der Arzt sein ausführliches Gut¬ 
achten erst viele Wochen später dem Gericht erstattet. 

Es ist eine außerordentlich mißliche Lage, wenn die Ärzte des Unter¬ 
suchungsgefängnisses einen simulationsverdächtigen oder sonst schwer 
zu beurteilenden Rechtsbrecher in die Irrenanstalt überführt haben und 
nach der Rückkehr desselben in das Untersuchungsgefängnis in die Lage 
kommen, dem ihnen unbekannt bleibenden Anstaltsurteile entgegen¬ 
gesetzte Entscheidungen zu treffen. y 

Welche Verwirrung entstehen kann, wenn das Anstaltsgulachten 
über den Geisteszustand des Beobachteten nicht rechtzeitig an die in 
Betracht kommende Behörde weitergeleitet wird, erhellt aus einem Vor¬ 
kommnis der jüngsten Vergangenheit. Ein in der städtischen Irrenanstalt X 
Beobachteter wird bei der Rückführung in die Untersuchungshaft als 
haftunfähig bezeichnet, und zwar, wie gemeint, aber nicht angegeben war. 
wegen schwerer Lungentuberkulose. Das einige Wochen später ergehende 
ausführliche Gutachten erklärt den Betreffenden als geistesgesund und 
zurechnungsfähig. Inzwischen war er aber dem Polizeipräsidium zur Ver¬ 
fügung gestellt. Der Kreisarzt fand nichts besonders Abnormes, nahm 


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Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 443 

aber an, daß die Irrenanstalt ihn wegen Geisteskrankheit für haftunfähig 
erklärt hatte, und schickte ihn nach der städtischen Irrenanstalt Y. Die 
Irrenanstalt Y findet den Überwiesenen geistesgesund und entläßt ihn 
bald, und nun erscheint auch das übereinstimmende Gutachten der Irren¬ 
anstalt X. 

Am besten wird in allen Fällen der Beobachtung von Untersuchungs¬ 
gefangenen nach § 81 sogleich der Richter das Ersuchen stellen, daß, 
abgesehen von dem ausführlichen begründeten Gutachten, bereits am 
Tage der Überweisung in das Untersuchungsgefängnis ein Befundattest 
über den Geisteszustand, insbesondere die Fähigkeit, in Haft, Einzelhaft 
oder Gemeinschaftshaft zu verbleiben, an dieses mitzugeben ist. 

Das schriftliche Outachten. 

Auf die Gefahr hin, gegen alteingewurzelte, liebgewordene Gewohn¬ 
heiten anzukämpfen, möchte ich es aussprechen, daß unsere schriftlichen 
psychiatrischen Gutachten, insbesondere die aus § 81 erfolgenden, im all¬ 
gemeinen zu lang sind. 

Mit größerer Kürze werden sie m. E. ihren Hauptzweck besser er¬ 
reichen, vom Richter in allen Einzelheiten gelesen und aufgenommen 
zu werden. Aber auch an sich betrachtet, sagen wir als schriftstellerische 
Leistung angesehen, wird unser Gutachten mit größerer Kürze klarer, 
ich wage zu sagen, schöner werden. 

Fast alle nach Anstaltsbeobachtung schriftlich erstatteten Gut¬ 
achten enthalten mit dem Titel „Vorgeschichte“ eine vollständige Lebens¬ 
geschichte der Person, welche mit den gutachtlich oft belanglosen Ahnen 
beginnt, das Leben des Betreffenden lückenlos bis zur Straftat durchläuft 
u nd dann diese, auch wenn sie in der Anklageschrift schon dargestellt ist. 
mit dem Untertitel „Straftat“ noch einmal erzählt. 

Statt dieses langen Teiles würde oft und fast immer, wenn die Vor¬ 
geschichte bereits von einem Vorgutachter in den Akten dargestellt ist, 
genügen eine Darstellung der eigenen vorgeschichtlichen Erhebungen des 
Gutachters, und zwar nur soweit sie Neues beibringen, z. B. die früher 
noch nicht gemachten Mitteilungen der Angehörigen. Dieser Teil kann 
dann zur Beruhigung des Gewissens „zur Vorgeschichte“ überschrieben 
werden. 

Ist ein Überblick über das gesamte Leben erforderlich, etwa zum 
Beweise zahlreicher Wiederholungen von Einzelhandlungen, welche 
seelische Mängel verraten, so kann an Stelle einer breiten Erzählung 
zuweilen eine Geschichtstabelle zur Kürze helfen. Ich habe diese Art der 
Darstellung der Vorgeschichte vor vielen Jahren von Herrn Med.-Rat 
Stoermer gelernt und sie seither vielfach angewendet. Solche Tabelle 
braucht nur drei Rubriken: die Zeiten, die Tatsachen und die Aktenstelle 
zu enthalten. Je nach Lage des Einzelfalles füge ich der Tabelle eine 

Zeitschrift fflr Psychiatrie. LXXY. 4/5. 31 


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444 


Bratz, 


vierte Rubrik bei, welche mit Stichwort den Richter auf die jeweilige 
gutachtliche Bedeutung der betreffenden Tatsache hinweist. 

Die Beobachtung in der Anstalt wird von vielen Ärzten breit, von 
Tag zu Tag der krankengeschichtlichen Niederschrift folgend, vor¬ 
getragen. Ich empfehle statt dieser zeitlichen Folge die eigenen Beob¬ 
achtungen nach sachlichen Gesichtspunkten zusammengefaßt darzustellen 
und so über Benehmen des Rechtsbrechers, Schlaf, etwaige Anfälle, Äuße¬ 
rungen zur Straftat, kapitelweise zu berichten. Der Bericht wird dadurch 
kürzer und für den Richter durchsichtiger. 

Nun weiß ich wohl, daß mancher Arzt die Einzelheiten der Beob¬ 
achtung, die für den Richter belanglos sind, für etwaige folgende ärztliche 
Gutachten glaubt aktenmäßig festlegen zu sollen. Ich empfehle, auch in 
solchen Ausnahmefällen die Kürze und Übersichtlichkeit der eigentlichen 
Darstellung nicht zu stören, aber als Anhang die betreuenden Teile der 
Krankheitsgeschichte abschriftlich dem Gutachten beizufügen. 

Diesen Ausweg lernte ich durch Herrn Prof. Licpmann kennen und 
verfahre seither ausnahmweise ebenso mit etwaigen von mir beschafften, 
die Vorgeschichte betreffenden Aktenstellen, welche ich ausführlich nicht 
dem Texte des Gutachtens einverleiben'mag, aber dem Nachgutachter 
bereitstellen wilL 

In der geschilderten Weise werden wir die beiden bisher längsten 
Teile des Gutachtens, I die Vorgeschichte und II die eigene Beobachtung, 
wesentlich kürzen können. Enthält Teil I und besonders II die aufge¬ 
fundenen Krankheitserscheinungen schon nach sachlichen Gesichts¬ 
punkten geordnet und nicht nur nach der zeitlichen Folge die Gescheh¬ 
nisse, so wird Teil III das eigentliche Gutachten, den ich „Beurteilung' 4 
oder „Zusammenfassung*, überschreibe, um so eher darauf verzichten 
können, noch einmal Teil I und II gedrängt zu wiederholen, sondern gleich 
die Diagnose und die Begründung des Gutachtens bringen. 

Diesem Strebennach Kürze und insbesondere der Anwendung dieser 
Kürze auch auf Einleitung und Schluß stehen nun bis zu einem gewissen 
Grade entgegen zwei 60 Johre alte Ministerialerlasse. 

Nach dem Preußischen Ministeffalerlaß vom 20. I. 1853. welcher 
durch die Ministerialverfügung vom 11. II. 1856 erweitert wurde — zitiert 
nach Leppmann, Sachverständigentätigkeit —, muß ein schriftliches 
Gutachten folgendes enthalten: 

1. Die bestimmte Angabe der Veranlassung zur Ausstellung des Gut¬ 
achtens, des Zweckes, zu welchem dasselbe gebraucht werden und der 
Behörde, Korporation oder Privatperson, welcher es vorgelegt werden 
soll. Außerdem muß Ort und Tag der stattgefundenen ärztlichen Unter¬ 
suchung resp. der wiederholten ärztlichen Untersuchungen oder bei längerer 
Beobachtung die Zeit derselben angegeben werden. 

2 . Folgen die etwaigen Angaben des Kranken oder der Angehörigen 
und der Umgebung des Kranken über seinen Zustand (= Teil I unserer 


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D ie Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 445 


Darstellung); die Angaben des Kranken aber nur'in dem Falle, daß man 
ihn (Neurastheniker, Morphinisten) für zurechnungsfähig erachtet, sonst 
folgen alle Aussagen des Kranken besser sub 3, d. h. nicht unter der Anam¬ 
nese, sondern im Stat. praes. 

3. Gesondert von den Angaben zu 2 , die eigenen tatsächlichen 
Wahrnehmungen des Begutachtenden (= Teil II unserer Darstellung). 

4. Die aufgefundenen wirklichen Krankheitserscheinungen, also 
die eventuelle Diagnose eines krankhaften Seelenzustandes. 

5. Die tatsächlich und wissenschaftlich motivierte Schlußfolgerung 
aus der Diagnose, d. h. Nutzanwendung auf die bei der Begutachtung 
in Betracht kommende Frage (4. und 5. = Teil III). 

6 . Die Versicherung, daß die Mitteilungen des Begutachteten oder 
der Angehörigen oder der Umgebung richtig in das Gutachten aufgenommen 
sind, daß die eigenen Wahrnehmungen des Ausstellers überall der Wahr¬ 
heit gemäß sind, und daß das Gutachten auf Grund der eigenen Wahr¬ 
nehmungen nach dessen bestem Wissen und Gewissen abgegeben wird. 
Diese Versicherung wird bei den amtlichen Gutachten auf den Diensteid, 
bei den gerichtlichen auf den im allgemeinen oder im besonderen Falle 
geleisteten Sachverständigeneid zu erstatten sein resp. *kie Bereitwilligkeit 
enthalten müssen, das Gutachten auf Verlangen mit dem Sachverständigen¬ 
eide zu bekräftigen. 

7. Sollen die Gutachten mit dem Datum der Ausstellung und voll¬ 
ständigen Namensunterschrift versehen sein. Bei den amtlichen ist Be¬ 
zeichnung des Amtscharakters und ein Beidrücken des Amtssiegels er¬ 
forderlich, bei den privaten die Zufügung des Privatstempels oder Siegels 
erwünscht. 

Nach Nr. 1 dieser Ministerialforderungen sind unsere Einleitungen, 
welche die auftraggebende Behörde, alle uns gestellten Fragen, alle be¬ 
nutzten Akten, Zeit der Untersuchung usw. aufzählen, so umfangreich 
geworden, daß bekanntermaßen jeder Kenner, Jurist wie Arzt, die Gut¬ 
achten so liest, daß er zunächst die ersten Seiten überfliegt und sucht, 
wo der eigentliche Text und damit die Lektüre beginnen soll. 

Ein Gutachten nach § 81 bildet doch kein Buch für sich, sondern 
kommt, durch Begleitschreiben der Anstalt oder mit den Gerichtsakten 
abgesandt, sicher in diese hinein. Da genügt statt seitenlanger Einleitung 
für gewöhnlich die Überschrift: Fachärztliches Gutachten über die Fragen 
Blatt x und y der Strafsache gegen Müller, Aktenzeichen so und so. Die 
benutzten Akten mache ich dann im Text da kenntlich, wo ich sie zitiere. 

Die feierliche Schlußversicherung der Gewissenhaftigkeit, welche 
die Ministerialverfügung vom 20 . I. 1853 den Ärzten vorschreibt, 
nimmt auf Kosten der Übersichtlichkeit die letzte halbe Seite in An¬ 
spruch. Fort mit diesem alten Zopfe ! 

Viele Ärzte haben sich an die strenge Innehaltung des Ministerial- 
schemas gewöhnt. Aber auch nach Leppmanns Auffassung ist das Schema 

31* 


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Bratz, 


der Ministerialverordnungen nur ein solider Anhalt für Anfänger. Mit 
wachsender Kunst soll der Gutachter den Erfordernissen des Einzelfalles 
gerecht werden. 

An einem Einzelfall fnöchte ich entwickeln, wie das nach Anstalts¬ 
beobachtung zu erstattende Gutachten am klarsten und kürzesten von der 
Bindung an das Schema sich freimachen kann: Ein im Weltkriege zum 
zweiten Male wegen Drucks und Vertriebs von Brotkarten zur Verant¬ 
wortung gezogener Setzer klagt in der Untersuchungshaft über Gesichts¬ 
und Gehörstäuschungen. Der Gefängnisarzt findet in der Vorgeschichte, 
die er genau in seinem Gutachten darstellt, nichts erheblich Krankhaftes, 
kann aber eine Beobachtung auf die Wirklichkeit und Art der behaupteten 
Sinnestäuschungen im Gefängnis nicht durchführen und stellt deshalb 
Antrag aus § 81. In der Irrenanstalt stellt sich heraus, daß der Setzer an 
Sensationen im Kopf, Angstgefühl und Visionen leidet, als ob die Decke 
sich teilt, daß er aber das Krankhafte dieser Sensationen jeden Augen¬ 
blick erkennt, und daß in keiner Weise von einer halluzinatorischen Psy¬ 
chose die Rede sein kann. In solchem Falle beginne ich die Darstellung 
mit Hervorhebung, der gutachtlichen Frage, die der Gefängnisarzt vor¬ 
fand, gebe sogleich die Antwort, welche die Irrenanstaltsbeobachtung 
lieferte, und füge dann kurz, nur soweit ich Neues beibringen kann, die 
Vorgeschichte an, immer unter Bezug auf das Vorgutachten, so daß die 
ganze Darstellung in einem Fluß bleibt und nur den Gedanken entwickelt, 
daß jetzt die vorhanden gewesene Schwierigkeit beseitigt ist. 

In ähnlicher Weise werden wir oft für das nach § 81 zu erstattende 
Gutachten davon ausgehen können, in welchem Stadium und zu 
welchem besonderen Zwecke vom Richter die Anstaltsbeobachtung verfügt 
ist, und unsere Darstellung vor allem von dem Gesichtspunkte leiten 
lassen, dem Richter ein klares Bild der neuen durch unser Gutachten 
entstandenen Beleuchtung des betreffenden Geisteszustandes zu geben. 

Heutzutage wird dieser Zweck des Gutachtens, der Rechtspflege zu 
dienen, zu oft vergessen und allzu häufig eine nach dem Schema ablaufende 
Darstellung gegeben, als ob diese ein zur wissenschaftlichen Veröffent¬ 
lichung bestimmtes, in sich abgeschlossenes Werk wäre. 

Und dazu ein offenes Wort auch an den Juristen ! Wenn künftig 
nach den hier gemachten Vorschlägen unsere Gutachten kürzer ausfallen, 
so bitten wir, sie bezüglich der Gebühren nicht mit der Elle zu messen. 
Jeder Erfahrene weiß, daß es viel schwieriger ist, alles Erforderliche ge¬ 
drängt und übersichtlich darzustellen, als auf vielen Seiten ganze Auszüge 
aus Akten und Krankheitsgeschichte nach der zeitlichen Folge aneinander¬ 
zureihen. 

Im Interesse der Rechtspflege sollte ein fachärztliches Gutachten, 
besonders ein nach § 81 erstattetes, niemals mit einem non liquet endigen. 
Nach Moeli (Psych. Wchnschr.) schließen in Preußen 3 Prozent der 
nach § 81 veranlaßten Beobachtungen und 3 Prozent Anstaltsbeob- 


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Die Anstaltsbeobachtang zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 44 7 

achtungen im Entmündigungsverfahren mit unbestimmtem Ergebnis. 
Ist ausnahmweise ein Fall durch die Beobachtung nicht so geklärt, wie es 
im allgemeinen gelingt, so soll der Beobachter diese Lage frei und von 
vornherein in seiner Darstellung kenntlich machen. Aber zu irgendeiner 
Überzeugung muß er sich durchringen, dazu ist der Sachverständige da. 
Und diese wohlerwogene Überzeugung soll er auch möglichst ohne ein¬ 
schränkende Vorsichtswörtchen aussprechen. Mit einem „wahrscheinlich“ 
kann der Richter wenig anfangen. Zum mindesten „mit hoher Wahr¬ 
scheinlichkeit“ muß das Gutachten ergehen, besser „mit an Sicherheit 
grenzender Wahrscheinlichkeit“ und viel besser ohne solche Floskeln. 
Zumeist liegt die Unsicherheit des Urteils ja nicht an dem Versagen der 
fachärztlichen Wissenschaft, sondern daran, daß versäumt worden ist, 
genügend tatsächliche Unterlagen für das Urteil zu beschaffen. 

Über manche Einzelheiten der Anstaltsbeobachtung werden wir den 
Juristen zu hören haben. 

ln Haftsachen gehen alle Briefe vom und an den Angeklagten, auch 
während er in der Anstalt zur Beobachtung sich befindet, zuerst durch 
die Hand des Untersuchungsrichters bzw. Staatsanwalts. Auch jeder 
Besuch bei dem zu Beobachtenden bedarf der vorherigen richterlichen 
Genehmigung. Nun gibt aber ein flotter, unbefangener brieflicher und 
persönlicher Verkehr des zu Beobachtenden so zwanglos einen Einblick 
in seine Interessen, Verstandeskräfte und seine Wesensart, daß es be¬ 
dauerlich ist, diesen Verkehr während der Anstaltsbeobachtung zu hemmen. 
Die richterliche Kontrolle des Briefwechsels und der Besuche sollte m. E. 
auf besondere vom Richter namhaft gemachte Fälle beschränkt bleiben. 

Ich lasse die Angehörigen, nachdem ich sie zunächst über den Geistes¬ 
zustand des Rechtsbrechers gehört habe, zu einem ersten Besuch desselben 
gern in meiner Gegenwart zu und leite die Unterhaltung auf die von mir 
gewünschten Punkte. 

Auch die unauffällige Beobachtung der Unterhaltung des Rechts¬ 
brechers mit seinen Angehörigen kann zuweilen die Erforschung seines 
Geisteszustandes fördern. 

Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich, daß Besuche von Ange¬ 
hörigen die Beobachtung stören und gefährden. 

Wenn unsichere Tatsachen, z. B. Angaben von Bekannten des 
Rechtsbrechers über frühere Dämmerzustände desselben eine wesentliche 
Grundlage des zu erstattenden Gutachtens bilden sollen, empfiehlt es 
sich zuweilen, vor Erstattung desselben die Klarstellung und Erhärtung 
dieser Grundlagen durch eidliche Zeugenvernehmungen zu beantragen. 

Wenn nun ein Angeklagter erst in der "Hauptverhandlung nach § 81 
in die Anstalt geschickt wird und der ärztliche Sachverständige für sein 
Gutachten noch solche-Zeugenvernehmungen braucht, wie ist das anzu- 
s teilen? 

Ferner: Ist die zur Beobachtung angestellte experimentelle Alko- 


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Br atz, 


holisierung des zu Beobachtender^erlaubt, wenn sie Schaden von irgend¬ 
welcher Dauer nicht bewirkt? 

.Ich wende das Alkoholexperiment selten an, weil die Bedingungen 
der Wirklichkeit, in der neben dem Alkohol andere Schädlichkeiten, wie 
die physikalische und die seelische Atmosphäre der Kneipe, eine bedeut¬ 
same Rolle spielen, nicht durch das Experiment nachzuahmen sind. 
Dennoch ist es im Einzelfalle wertvoll. Z. B. behauptete ein gerissener 
Simulant, schon nach zwei Schnäpsen oder drei Glas Bier sinnlos betrunken 
zu sein und die Straftat in solchem Zustande begangen zu haben. Es 
erwies sich im Experiment, daß er ein weit über die Norm trinkfester 
Herr war. 

Ob andere kleine, noch weniger eingreifende Experimente zum 
Zwecke der Beobachtung erlaubt sind, wird nicht im allgemeinen zu‘ 
beantworten sein, sondern im Einzelfalle vom Takte des Arztes abhängen. 
Er wird gut daran tun, auch Simulanten niemals die Unwahrheit zu sagen. 
Dabei kann doch im Einzelfalle eine Überrumpelung oder ein ähnlicher 
experimenteller Trick von Nutzen sein. So habe ich gegenüber einem 
schweren hysterischen Stupor, in welchem der simulationsverdächtige 
Angeklagte höchst einsilbig und mit einem Minimum von Bewegungen 
verharrte, einmal einen blinden Feuerlärm inszeniert. Alles stürzte auf 
den wohlgelungenen, mit Rauchentwicklung begleiteten Alarm aus dem 
Zimmer, nur der Kranke blieb ruhig sitzen und erwies so die Echtheit 
seiner Hemmung. 

Im ganzen nimmt ja die Psychiatrie der Simulation gegenüber eine 
mildere Stellung ein als der Richter, und zwar nicht aus Humanitäts¬ 
dusel, sondern gezwungen durch naturwissenschaftliche Erkenntnis. Es 
geht aus meinem Material zahlenmäßig hervor, was der schon lange ge¬ 
hegten Meinung der Psychiater entspricht, daß nur bei 3 bis höchstens 
5 Prozent der zur Beobachtung überwiesenen Rechtsbrecher geistes¬ 
gesunde Simulanten waren, daß aber viel mehr minderwertige, mit seelischen 
Mängeln behaftete Personen außerdem Symptome von Geisteskrankheit 
übertrieben oder vortäuschten. Viele solcher Hysterischen, Psychopathen, 
pathologischen Lügner sind zu der Neigung, sich zu irgendwelchen Zwecken 
unwahre Tatbestände zu suggerieren und sie so nach außen hin vorzu¬ 
tragen, nach ihrer ganzen seelischen Veranlagung disponiert. 

Aber wir Psychiater sollen doch von solcher naturwissenschaftlichen 
Erkenntnis uns nicht zu weit in der praktisch-forensischen Anwendung 
tragen lassen. Ich will offen gestehen, daß ich früher diese, wie ich glaube, 
fehlerhafte Übung gehabt habe. Hatte ich erkannt, daß es sich um zu¬ 
rechnungsfähige Menschen mit psychischen Mängeln handelte, die simu¬ 
lierten, so pflegte ich im schriftlichen Gutachten die Tatsache der Simu¬ 
lation nicht gar zu dick zu unterstreichen und in dem kurzen mündlichen 
Vortrage in der HauptVerhandlung überhaupt nur ganz kurz zu erwähnen. 

Die Folge solcher Art Darstellung des Sachverständigen ist, daß 


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Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 449 

I 

die Simulation der Minderwertigen vom Gericht als straf verschärfendes 
Moment nicht erfaßt und bewert et'wird. Ich glaube aber jetzt, daß wir, 
schon damit das Heer der Minderwertigen nicht über Gebühr anschwillt, 
der Simulation in praxi möglichst hemmend entgegentreten müssen. 

Trotzdem unter den Sachverständigen unserer Sensationsprozesse 
oft ein Anstaltsarzt sich befindet, welcher den Angeklagten nach § 81 
beobachtet hat, kommt es immer wieder vor, daß die Gutachten unsicher, 
mit vielen Wenn’s und Aber's ausfallen, und vor allem, daß die Gutachten 
der Sachverständigen sich schnurstracks widersprechen. Es ist dies eine 
höchst bedauerliche, die Rechtsfindung und das Ansehen der Psychiatrie 
außerordentlich schädigende Erscheinung. Solche Vorkommnisse, soweit 
sie nicht in der menschlichen Natur begründet sind, seltener zu machen, 
scheint mir so wünschenswert, daß ich Anregungen in dieser Richtung 
nicht unterlassen möchte: 

Die Spannung, welche der Verlauf vieler Sensationsprozesse hervor¬ 
ruft, beruht vielfach darauf, daß der Hergang der etwaigen Straftat bei 
Beginn des Prozesses noch im Dunkeln liegt. Ich erinnere an den Prozeß 
der Frau v. Sch., in welchem der Anteil der Angeklagten an der Erschießu ng 
ihres Gatten erst nach der Klärung der Ausführung der Mordtat durch 
ihren mitangeklagten Geliebten vorstellbar war. 

Ich erinnere aus jüngster Zeit an den Prozeß der schönen Sünderin, 
der Hedwig M., in welchem zwei himmelweit verschiedene Möglichkeiten 
der Erschießung des Exgeliebten Vorlagen. Entweder die planmäßig 
verabredete oder, eine affektmäßig aus den aufs fürchterlichste gequälten 
Gefühlen des in ihrem Liebesglück bedrohten Weibes im Momeat hervor¬ 
gerufene Schießerei. 

Nun ist klar, daß bei einem Psychopathen, einem Hysterischen, 
einem Trunkenen, für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit es von 
außerordentlicher Wichtigkeit ist, den Hergang der Straftat genau zu 
kennen, insbesondere in die Wagschale werfen zu können, ob ruhige Über¬ 
legung oder hochgradiger Affekt bei der Tat vorlag. Die Hauptverhand¬ 
lung nimmt bei der Fragestellung an den Sachverständigen gar keine 
Rücksicht auf die schwankende Tatsachengrundlage der Begutachtung. 
Ja, der Vorsitzende, der die Fragen an den Sachverständigen formuliert, 
darf aus sich heraus in diesem Augenblicke noch nicht einen bestimmten 
Hergang der Straftat zugrunde legen. In solchen Fällen möchte ich nun 
anregen, daß der Sachverständige, welcher nach § 81 das schriftliche 
Gutachten erstattet und in der Ruhe der Anstalt auf Grund der Akten 
und der Kenntnis der Persönlichkeit die verschiedenen Möglichkeiten des 
Herganges der Straftat zur Begutachtung sich konstruieren kann und 
muß, daß dieser Sachverständige in solchen Fällen vor Erstattung des 
Gutachtens eine Rückfrage an das Gericht stellt und formell ersucht, 
ihm bestimmte vom Gericht, unter Umständen nach Anhörung der Ver¬ 
teidigung, formulierte Möglichkeiten des Herganges der Straftat als Grund- 


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B r a t z, Die Anstaltsbeobachtung usw. 


läge der an den Sachverständigen gerichteten Fragen vorzulegen. Die 
Begutachtung der Zurechnungsfähigkeit wird dann möglicherweise für 
die verschiedenen aufgestellten Hergänge verschieden ausfallen. Aber 
für die Hauptverhandlung wird eine erheblich bessere Rücksichtnahme 
auf die Bedürfnisse der Begutachtung und ein viel bestimmterer Ausfall 
des Gutachtens die Folge sein. 

F An Stelle eines zweiten förmlichen Vorschlages zur Vermeidung der 
Meinungsverschiedenheit psychiatrischer Gutachten möchte ich ein ein¬ 
schlägiges Erlebnis berichten. 

Vor der Strafkammer einer Provinzialhauptstadt, in welcher einige 
Berliner nachts, von einer Kneiperei zurückkehrend, eine Aufsehen er¬ 
regende Begegnung mit Schutzleuten gehabt hatten, sollte der Haupt¬ 
angeklagte wegen der Frage eines pathologischen Rauschzustandes be¬ 
gutachtet werden. Von der Universität der betreffenden Provinz, in deren 
psychiatrischer Klinik der hochgeborene Rohling nach § 81 beobachtet 
war, war der betreffende Professor und aus Berlin ich geladen. Ich hatte 
für mein schriftliches Gutachten umfangreiche Zeugenvernehmungen über 
nicht forensisch gewordene Trunkenheitsabenteuer aus der Offizierszeit 
des Angeklagten veranlaßt und auf Grund deren Ergebnisse auf Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit zur Zeit der Straftat begutachtet. Von der Beob¬ 
achtung nach § 81 erfuhr ich erst nach Erstattung meines schriftlichen 
Gutachtens durch eine Karte des mir gut bekannten Universitätslehrers 
und verabredete daraufhin ein Zusammentreffen. Mein Bekannter sagte 
nun im letzten Augenblick wegen dringender Behinderung ab und erschien 
aus dem gleichen Grunde erst während der Verhandlung im Gerichtssaal. 
Nun hielt der Vorsitzende eine Ansprache an uns mit einer captatio bene- 
volentiae beginnend, er habe hier zwei Autoritäten vor sich, diejenige der 
Provinz und eine andere aus Berlin, aber leider beide völlig entgegen¬ 
gesetzter Meinung. Ob wir uns nicht nach mündlicher Aussprache einigen 
könnten. Wir berieten nun ein paar Minuten im Gerichtssaal in Flüster¬ 
sprache unter den Augen aller Anwesenden. Ich erfuhr durch diese Unter- 
* redung, daß man in der Klinik AlkoholeXperimente gemacht und patho¬ 
logische Rauschzustände nicht beobachtet hätte. Natürlich wurde ich 
durch das entgegengesetzte Urteil meines erfahrenen Freundes stutzig, 
aber ich konnte doch nicht in 5 Minuten die Feinheiten des Alkohol¬ 
experimentes hinreichend würdigen, um daraufhin mein aus etwa zehn 
übereinstimmenden eidlichen Zeugenaussagen konstruiertes Urteil umzu- 
werfen. Ich milderte die Bestimmtheit meines Gutachtens und stellte dem 
Gericht anheim, dem auf Grund der Anstaltsbeobachtung und der Kenntnis 
meines Gutachtens erfolgten, entgegengesetzten Sachverständigenurteile 
Rechnung zu tragen. Nachdem die Verhandlung vorüber war, konnte 
ich das schriftliche Gutachten durch die Freundlichkeit meines Bekannten 
in Ruhe lesen und mit ihm besprechen. Ich gewann dabei die. Überzeugung, 
daß ich mit meinem Gutachten unrecht hatte. Aber wenn der Vorsitzende 


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8ontag, Korreferat. 


451 


uns Gelegenheit gegeben hätte, eine halbe Stunde außerhalb des Gerichts¬ 
saales uns ruhig auszusprechen, oder besser, wenn er mir das entgegen¬ 
gesetzte schriftliche Gutachten des anderen Sachverständigen vor der 
Hauptverhandlung zugänglich gemacht hätte, so wäre sicher in diesem 
Falle die unangenehme Verschiedenheit der mündlichen Gutachten vor 
dem Gericht vermieden worden. 

Die wesentlichen Ergebnisse möchte ich zum Schluß in einigen 
Sätzen herausheben: 

1. Das gesamte Verfahren der Anstaltsbeobachtung nach 
§81 bedarf ebenso wie das schriftliche Gutachten in den meisten 
Fällen der Kürzung. 

2. Um so mehr wird es in Zukunft auch der Beobachtung 
der Minderwertigen dienstbar-gemacht werden können. 

3. Die Minderwertigen, d. h. die Zurechnungsfähigen mit 
dauernden seelischen Mängeln, bilden mehr als die Hälfte aller 
nach § 81 der St.-P.-O. in der Anstalt Beobachteten. 

4. Fast alle rückfälligen bezw. gewohnheitsmäßigen Rechts¬ 
brecher, insbesondere in den drei Klassen der Diebe, der Rohlinge 
und der Sittlichkeitsverbrecher, sind — soweit sie nicht geistes¬ 
krank sind — minderwertig. 

5. Die rückfälligen Rechtsbrecher müssen künftig entsprechend 
ihrer von der Geistesgesundheit abweichenden Eigenart eine ge¬ 
sonderte Behandlung im Strafrecht und Strafprozeß erfahren. 


Korreferat 

zu vorstehendem Aufsatze des Herrn Sanitätsrats Dr. Bratz. 

Von 

Landgerichtsrat Dr. Ernst SOntag, Berlin. 

Den klaren und ideenreichen Ausführungen des Herrn Sani¬ 
tätsrats Dr. Bratz zur Frage der Anstaltsbeobachtung zwecks 
Prüfung zweifelhafter Geisteszustände habe ich nur wenige Sätze 
beizufügen. 

Was wären wir Juristen gegenüber Verbrechern, deren Zurech¬ 
nungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit zweifelhaft ist, ohne die 
Hilfe der Psychiater und in besonders schwerwiegenden Fällen ohne das 
Mittel der von diesen angewendeten Anstaltsbeobachtung. So bekenne 
auch ich mich als ein Freund dieses Mittels und bedauere, daß es nicht 


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452 


S on tag, 


noch häufiger als bisher angewendet wird. Freilich persönlich weiß ich 
mich von dem seitens des Herrn Referenten erhobenen. Vorwurf frei, 
daß nämlich in den Rentenstreiten der Berufsgenossenschaften und Ver¬ 
sicherungsämter die Anstaltsbeobachtung viel zu wenig angewendet werde. 
Ich selbst habe als Vorsitzender des Schiedsgerichtes für Arbeiterversiche¬ 
rung im Eisenbahndirektionsbezirke Kattowitz in zahlreichen Fällen, 
insbesondere wenn Renten wegen Kopfverletzungen beansprucht wurden, 
den Irrenanstalten in Rybnik und Tost die Rentenkläger zur Beobachtung 
überwiesen und von beiden Anstalten, insbesondere aus der Feder des 
Herrn Oberarzt Dr. Fünf stück — dessen ich hier anerkennend gedenken 
möchte —, die wertvollsten, unsere Urteile oft entscheidend beeinflussenden 
Gutachten erhalten. 

Auch der Bratzschen Forderung ist unbedingt beizutreten, daß der 
Gesetzgeber zwischen die Unzurechnungsfähigen und die Zurechnungs¬ 
fähigen die Klasse der Minderwertigen einschiebe. Gerade die Praxis der 
Kriegsgerichte während des Krieges hat uns gezeigt, wie unentbehrlich 
dieser Zwischenbegriff ist. Für die künftige Gesetzgebung wird es freilich 
nicht genügen, den Begriff der Minderwertigen festzulegen und einen 
milderen Strafrahmen für diese zu spannen, sondern es wird vor allen 
Dingen den Richtern das Recht gegeben werden müssen, auf dauernde 
Verwahrung gewisser zur Rückfälligkeit neigender Minderwertiger zu er¬ 
kennen. Bratz bezweifelt, ob das bei unserer jetzigen traurigen Finanzlage 
möglich sein wird, aber ich meine, daß die Schaffung solcher Verwahrungs¬ 
anstalten nur eine scheinbare Mehrausgabe ist; denn-wenn wir die von 
Bratz zutreffend als minderwertig gekennzeichneten Rückfallsdiebe, 
Rückfallsrohlinge und rückfälligen Sittlichkeitsverbrecher beim vierten, 
fünften oder meinetwegen auch sechsten Rückfall lebenslänglich inter¬ 
nieren, so werden wir ' 

1. die Vermögenswerte sparen, die andernfalls künftig von diesen 
Verbrechern entwendet oder zerstört (Arbeitskraft) worden wären, 

2. die Zeit unserer Polizeibeamten, Richter und Irrenärzte erheb¬ 
lich weniger in Anspruch nehmen, damit aber in absehbarer Zeit an diesem 
Beamtenpersonal und damit wieder an Geldausgaben sparen können; 

3. sind auf die Kosten dieser Sicherungsanstalten die Kosten mit 
anzurechnen, welche uns die Verbrecher durch die zweifellos wieder in 
ihrem künftigen Leben noch zu verbüßenden Gefängnis- und Zuchthaus¬ 
strafen verursacht hätten. — Das friedliche Bürgertum hat einen Anspruch 
darauf, daß nicht Menschen immer wieder auf es losgelassen werden, 
von denen Psychiater und Juristen mit absoluter Gewißheit Voraussagen 
können, daß sie den Rechtsfrieden der Allgemeinheit doch stets durch neue 
Verbrechen stören werden 1 ). 


*) Vgl. Sontag, Roter Tag, Nr. 146 vom 25. Juni 1918: ,,Zu den 
Einbruchdiebstählen in Berlin“. 


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Korreferat. 


453 


Sollte man aber das m. E. sehr gut angelegte Geld für solche Siche¬ 
rungsanstalten nicht glauben aufbringen zu können, dann möge man die 
Einführung der Kastrierung für gewisse besonders schwer Rückfällige in 
Erwägung ziehen. Ich hatte bisher immer Bedenken, dieses Radikal¬ 
mittel zu vertreten, aber nach der Verwilderung, welche dieser Krieg 
uns gebracht hat, wird man sich in der Tat fragen mü'ssen, ob wir nicht zu 
denselben Strafmitteln greifen, welche die Staaten Jowa, Nebraska und 
Mississippi schon seit Jahren mit Erfolg anwenden. 

Dagegen verspreche ich mir von den von Bratz empfohlenen ge¬ 
ringeren Mitteln der zwangweisen Anweisung des Aufenthalts, der Zwangs¬ 
beschäftigung und der Bestellung einesVormundes nichts. Für den Zwangs¬ 
aufenthalt kämen natürlich, da die Verbrecher aus den Großstädten ent¬ 
fernt werden sollen, nur kleine Ortschaften in Betracht. Hier habe ich 
aber im Schutzhaftdezernat eines Generalkommandos während des Krieges 
Gelegenheit gehabt, ausgiebige Beobachtungen zu machen, wie weder 
die Polizei noch die Bevölkerung kleiner Orte den dorthin überwiesenen 
Verbrechern gewachsen isi Die Kleinstädter haben die Minderwertigkeit 
der ihnen zugewiesenen Schutzhäftlinge nicht erkannt, wohl aber sich 
von pathologischen Lügnern und Schwindlern so blenden lassen, daß 
diese eine große Rolle in den kleinen Orten gespielt und diese Rolle vielfach 
zur Begehung neuer Verbrechen benutzt haben. Demgegenüber würde 
auch die Autorität eines Vormundes nicht aufkommen. 

II. — Erfreut hat mich das offene Wort Bratz\ daß die schriftlichen 
Gutachten der Psychiater vielfach an einer unnötigen Breite und Um¬ 
ständlichkeit kranken. Darüber haben wir Juristen unter uns oft genug 
Klage geführt. Es gibt, wie ich verraten will, sogar Kollegen, die ein 50 bis 
00 Seilen langes Gutachten überhaupt nicht lesen, sondern nur nachsehon, 
zu welchen Endergebnissen der Gutachter kommt. Natürlich ist vor 
allem, wie dies auch Bratz ausführt, in den meisten Fällen die sehr lange 
Erzählung des Vorlebens und des Tatbestandes der zur Frage stehenden 
Anklage entbehrlich. Dieses Material ist in der Regel in den Akten ander- 
weit enthalten. 

Ebenso iröchte i<h in Übereinstimmung mit Bratz einer Abkürzung 
der Anstaltsuntersuchung das Wort reden. Zwei bis drei Wochen werden 
in der Regel genügen. Freilich muß der Gutachter dann in die Lage ver¬ 
setzt werden, die Akten schon studieren zu können, noch ehe der zu»Beob- 
achtende bei ihm eintrifit. In einem unlängst veröffentlichten Aufsatze 
habe ich noch vor Kenntnis des Bratzschen Berichtes ausgeführt: „die 
mit Abfassung von Gutachten gemäß § 81 StPO, betrauten Ärzte der 
Irrenanstalten haben mir mehrfach erklärt, daß sie die Beobachtungen 
für die Angeklagten oft abkürzen könnten, wenn sie die Akten einige 
Tage vor Einlieferung des Angeklagten erhielten. Dann könnten sie sie 
zum Zeitpunkt der Einlieferung des Angeklagten schon studiert haben,und 
die intensive Beobachtung könnte sofort einsetzen. Heute verstreichen 


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S o n t a g, Korreferat. 


kostbare Tage, bis die Akten dem eingelieferten Angeschuldigten nach- 
folgen, und weitere, bis sie der beobachtende Arzt studiert hat“ 1 ). Als'Mittel 
zur Abhilfe dieser Beschwerde und auch sonst als wertvolles Mittel zur 
Beschleunigung großer Strafsachen habe ich vorgeschlagen, daß die Proto¬ 
kolle über Vernehmung der Angeschuldigten und der Zeugen in der Schreib¬ 
maschine sofort mit zwei Durchschlägen angefertigt würden, von denen 
der eine für die Staatsanwaltschaft, der andere für die Irrenärzte, für 
auswärtige Vernehmungen usw. bestimmt wäre. 

Den kürzer gefaßten und schneller abgelieferten Gutachten soll 
gewiß keine verkürzte Zahlung entsprechen, denn weit schwerer ist es, 
darin stimme ich ebenfalls Brau bei, in knapperer Zeit dieselben Er¬ 
mittelungen anzustellen und in gedrängterer Form alles Erhebliche zu 
sagen. 

Endlich ist auch die Forderung Brau' dankbar zu begrüßen, daß 
der Gutachter sich zu einer klipp und klaren Entscheidung entschließen 
möge. Nichts macht uns Juristen die Rechtsfindung schwieriger als ein 
Gutachten, das sich um eine klare Antwort herumdrückt und mit einem 
„einerseits, andererseits“ schließt. 

So darf ich wohl meinen Bericht dahin zusammenfassen, 
daß durch eine Verwirklichung der .Bratschen Forderungen das 
Verfahren der Anstaltsbeobachtung an Brauchbarkeit für die Praxis 
noch gewinnen und uns Richtern im Kampf gegen das durch 
Krieg und Revolution vermehrte Verbrechertum "ein noch wert¬ 
volleres Hilfsmittel sein würde als bisher. 

x ) Sontag, Reformvorschläge für die Technik des Voruntersuchungs¬ 
verfahrens, Blätter für Rechtspflege im Bezirke des Kammergerichts 
Nr. 11/12 vom 15. Dezember 1918, S. 82 ff., insbesondere S. 85. 


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Der Aufbau der Psychose. 

Ein klinischer Versuch. 

Von 

Karl Birnbaum, Berlin-Bach. 

Themen dieser Art pflegt die klinische Psychiatrie mit über¬ 
legenem Lächeln entgegenzunehmen. Sie sind ihr, kurz gesagt, 
müßige Spekulationen. Ihre vorherrschend auf die Erfassung 
von Krankheitsgruppen und -typen gerichtete Einstellung, für die 
oft genug das wissenschaftliche Interesse am „interessanten Fall“ 
mit der diagnostischen Klärung erschöpft ist, macht sie von 
vornherein für solche ganz außerhalb dieses Rahmens liegende 
Gesichtspunkte unempfänglich. Eine Betrachtung nun gar, die 
die Psychose im allgemeinen — gewissermaßen als ein Einheits¬ 
phänomen — ins Auge faßt, also anscheinend die von ihr ständig 
betonten grundsätzlichen Wesensunterschiede der Sondertypen 
wieder fallen läßt, muß ihr ebenso grundsätzlich abwegig 
erscheinen. Und schließlich muß sie auch den Begriff des Krank¬ 
heitsaufbaus als einer klinischen Betrachtung unwürdig ablehnen, 
da er weder klinisch irgendwie festgelegt und anerkannt noch 
überhaupt aus den üblichen' klinischen Anschauungen ohne weiteres 
ableitbar ist. 

Die ablehnende Haltung erscheint zu weitgehend, ihre Gftnde 
sind nicht genügend stichhaltig. Die Gefahr einer rein spekula¬ 
tiven Betrachtung läßt sich vermeiden, wenn man sich streng an 
die Empirie und ihre Grenzen hält und sich immer wieder an 
den klinischen Tatbeständen orientiert. Der gegen die allgemeine 
Betrachtung der „Psychose“ erhobene Einwand wird hinfällig, da 
den Wesensdifferenzen der Einzeltypen auch bei der allgemeinen 
Erörterung gebührend Rechnung getragen werden kann. Der 


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Birnbaum. 


Aufbau selbst schließlich läßt sich — mag er auch bisher klinisch 
nicht genügend festgelegt sein — sehr wohl als ein bestimmt 
geartetes, klinisch wohl charakterisiertes, durch andere patholo¬ 
gische Begriffe nicht ersetzbares pathologisches Phänomen erfassen 
und formulieren; 

Im übrigen ist der Aufbaubegriff der letzten psychiatrischen 
Entwicklung durchaus nicht ganz fremd, wenn dies auch nicht 
immer klar erkannt und bewußt geworden ist. Er erhebt bei¬ 
läufig auch gar nicht Anspruch auf unbedingte Neuartigkeit. Die 
zunehmende Skepsis gegenüber den immer erneuten Krankheits¬ 
aufstellungen und -differenzierungen, den ewigen Um- und Neu¬ 
gruppierungen von Krankheitstypen auf der einen —, das wachsende 
Interesse an der Individualgestaltung des Einzelfalls auf der 
andern Seite haben allmählich eine Betrachtung unter diesem 
Gesichtspunkt stärker hervorgedrängt. Ihren vorläufigen Höhe¬ 
punkt hat diese in dem gegenwärtigen Bestreben erreicht, den 
Aufbau der kriegspsychoneurojisehen Störungen nach Vor¬ 
bereitung, Auslösung, Symptomen- und Verlaufsgestaltung usw. 
aus dem Zusammenwirken der verschiedensten, inneren wie 
äußeren, normalen wie pathologischen, physischen wie psychischen, 
individuellen wie sozialen Momente erschöpfend zu erfassen. Für 
das eigentliche Psychosengebiet ist allerdings eine solche Be¬ 
arbeitung bisher wohl kaum versucht worden. Zum mindesten 
nicht vom Boden der Schulpsychiatrie aus. Von anderer Seite 
wenigstens gelegentlich, freilich mit anfechtbaren Mitteln, d. h. 
fast stets mit einer Fülle abseitsführender Theorien und oft genug 
auch mit unzulänglichem klinischem Anschauungs- oder Er¬ 
fahrungsmaterial. 

Alles dies wäre an sich schon Grund genug für die Psychiatrie, 
nun von sich aus einmal diese Aufgabe systematisch vorzunehmen 
und den Blick, statt wie bisher stets auf die Krankheits form, 
nun einmal grundsätzlich auf ihre Zusammensetzung, ihren Auf¬ 
bau hinzulenken. Sie darf überdies aber auch klinischen Ge¬ 
winn davon erhoffen. Das Einsetzen des eigenartigen Aufban¬ 
begriffs in die klinische Betrachtung ermöglicht eine der bisherigen 
ferner liegende Einstellung und Orientierung und damit eine 
neue, sei es kritische, sei es produktive Stellungnahme. Und 


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Der Aufbau der Psychose. 


457 


eine solche läßt auf allen Gebieten der Psychiatrie: auf allgemein 
psychopathologischem wie speziell klinischem, auf diagnostischem 
wie klassifikatorischem usw., reichliche Gelegenheit zu neuen 
Einwänden und Nachprüfungen, neuen Fragestellungen und 
Anregungen erwarten. Was schließlich dann als Endprodukt bei 
einer solchen Aufbaubetrachtung herauskommt, ob ein wirklicher 
positiver klinischer Gewinn oder eine bloße Verwicklung in un¬ 
fruchtbare Hypothesen, das läßt sich freilich nicht vorweg über¬ 
sehen. Doch darf dies gewiß kein Hinderungsgrund sein, und so 
muß schließlich trotz mancherlei Bedenklichkeiten der Versuch, 
auf diesem Wege weiterzukommen, einmal gewagt werden. 

Der klinische Aufbau in dem Sinne, wie er hier verwertet 
werden soll, ist ein sehr komplexer Begriff, der sich auf 
höhere klinische Einheiten, auf ganze abgeschlossene Er¬ 
krankungen — Individualfälle wie Krankheitsspielarten und Krank- 
* heitstypen — bezieht. Er faßt in seinen Rahmen die Gesamtheit 
aller am Krankheitsfall beteiligten Erscheinungen: die durch 
Symptome und Verlauf repräsentierten Krankheitsbestand¬ 
teile, die Zusammenhänge, in die sie eingefügt sind, die 
Vorgänge, aus denen sie sich ergeben, die Faktoren, durch 
die sie bedingt sind, zu einer Einheit zusammen. D. h. um den 
Aufbaugesichtspunkt gleich in der Kennzeichnung dieser Momente 
schärfer hervortreten zu lassen: Jene genannten, als Aufbau- 
produkte, Aufbaumechanismen und Aufbaudetermi¬ 
nanten sich darstellenden klinischen Gebilde machen 
in der Besonderheit ihres Zusammenhangs und Zu¬ 
sammenschlusses innerhalb des Krankheitsrahmens 
das Wesen des klinischen Aufbaus aus. Eine etwas farb¬ 
lose Formulierung, der die nähere Betrachtung bald anschaulichere 
Gestalt und festeren Kern geben wird. 

Zunächst einmal gilt es ganz allgemein und grundsätzlich, 
über diese Aufbaumomente und die Art ihrer Beteiligung am 
Aufbau der Psychose Klarheit zu schaffen. Es geschieht dies am 
sichersten unter Heranziehung und Festlegung einiger — in der 
Hauptsache übrigens weder neuer noch neuartig verwerteter — 
Termini technici, die von vornherein die ganze klinische Struk¬ 
turanalyse wesentlich erleichtern und vereinfachen. Daß freilich 


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Birnbaum, 


die klinischen Aufbauverhältnisse nicht durchweg und nicht ganz 
so einfach -liegen und nicht immer so eindeutig erfaßbar sind, 
wie es hier im Interesse der übersichtlichen Heraushebung der 
Haupttatbestände zur Darstellung gebracht wird, ist mir keines¬ 
wegs entgangen, und naheliegende Einwände habe ich mir selbst 
entgegengehalten. Es erscheint mir aber unzweckmäßig, einen 
solchen ersten Versuch gleich vorweg mit allen vorkommenden 
Komplikationen zu belasten und durch sie zu erschweren. 

Von vornherein sind eine Anzahl differenter Aufbauerschei¬ 
nungen entschieden auseinanderzuhalten, mögen sie auch im 
jeweiligen Einzelfall sich verschmelzen oder wenigstens äußerlich 
schwer voneinander zu scheiden sein. -Das gilt in erster Linie 
von zwei alle Krankheitsfälle durchsetzenden Grundphänome¬ 
nen: einmal solchen, die auf die eigentliche KrankheitsVer¬ 
ursachung sich beziehen, indem sie den Krankheitsfall in seinem 
ganz spezifischen Charakter, seinem So-und-nicht-andere-sein 
erwirken, sodann aber solchen, die für die Krankheitsau-s- 
gestaltung in Betracht kommen, indem sie den ätiologisch 
bereits in seiner Grundform, seinem spezifischen Grundcharakter 
festgelegten Krankheitsfall den Inhalt, die Färbung, die Sonder¬ 
gestalt usw. geben. Die erstere Phänomenengruppe soll — wie 
mir scheint, mit genügender unmittelbarer Kennzeichnung durch 
das Wort — als pathogenetische, die letztere .als pathoplasti- 
sche herausgehoben werden. 

Innerhalb beider Gruppen treten gleich noch einige weitere 
Anfbaumomente heraus, denen im einzelnen zwar eine verschiedene 
Wertigkeit für die pathogenetischen und pathoplastischen Vorgänge 
und Bildungen zukommt, die aber jedenfalls von grundsätzlich 
geringerer klinischer Dignität als jene Grundmomente selbst sind. 
Zunächst solche, die mehr allgemeine Bereitschaften, all¬ 
gemeine pathogenetische und pathoplastische Hilfen 
abgeben. Soweit sie auf erstere Bezug haben, sollen sie auf 
prädisponierende (vorbereitende), soweit sie für die letzteren 
in Betracht kommen, als präformierende (vorbildende) ge¬ 
sondert werden. 

Ihnen schließen sich dann noch Erscheinungen von noch 
geringerer klinischer Wertigkeit an, insofern sie die anderweitig 


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solcher Fälle erkenne». Wettt-gsfam ' eine vorläufige Audi :-u • 
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Betraetri wie mqerKmiÄtfaehe (endokrine Störungen. Arien-"•!•;!* ■• 
rose «.«.). biologische ■'(•Konstitution; Alter. woibik-he £<• • •« 
Phasen u<\\\) so gm wie psychologischo (Erlebnisse. Afiltotf 
SummonsGuiflüsse). Sodann iiigen sich diese m ‘eesduec- 
Richtung und vermittelst der vorscloedenen MccbanisuHvn wirk, 
samen Momente; in gAü? yerschiedener Weise fcerjiii; Krankheit? 
uufban zusammen, in dem je nach der Eigenart dos Falls van 
bald diese bald jene Einzelfaktoren im Sinne der PftthoKeoosn; 
der P&thuplastik. der Priidisposition. Provokation tiswg ”J?i ; 
wirksam sind und sich bald so. bald andere verbinde?.: mul 
mischen. Und schiielSbeh tragt iar Erweiterung -des klnriVsden 
P o 1 y ttwir^lki &tt»nj8 und znr Vervk'lgßsfaU%OHg der Aflfbauyery 
hiiltnisse nichi sum wenigsten noch bei, daiä unter de« Aufhau* 
deteniiiuan?<*n gerade diejenigen tone besondere Rolle zu ajjfefab 

*)vliitBS^gorfage kli nische Wenigkeit der provozierenden Elemrhtc 
nehHeöt srilföl^rslÄiiitlic.h ci.ru* hohe p r akrt i «<?h «rnicht aus. Bfc M \<w t (*r< 
ijöh <oa : ki:|#ip^R.r■ fEdrnRuriU, ob^ jnfol^ dr*a 

uiits «idnr Mldcu.s {ti-*v*v/,j.M*oidcr Faktot*v« jemand .von 'einer 
kfaakheit t/cfftlUsD oder zeittehenü Von ihr yoysehiWit w'trd-y 1 ::! ,• 

Z«il*ielirit» Mir Hijchiitw?. IjXXVv 4/5; • , ,• -Nf' 

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460 


Birnbaum, 


pflegen, die in Wirkungsweise und -produkten besonders weit¬ 
gehende Variationen gestatten. Es sind dies die psychischen 
Faktoren, denen ihre natürliche Affinität zu seelischen Vor¬ 
gängen im allgemeinen (und daher auch zu den abnormen) von 
vornherein eine Vorzugstellung im klinischen Aufbau gewährt. 
Sie beherrschen vor allem das besonders wichtige, weil wohl für 
jeden Krankheitsfall in Betracht kommende Gebiet der Patho- 
plastik: Psychoplastische — und wenn man noch weiter spe¬ 
zialisieren will: thymo 1 )-, ideo-, ethoplastische 2 ) Gebilde kom¬ 
plizieren in vielgestaltigen Niederschlägen (wofür später noch 
genügend Beweise) allenthalben alle möglichen psychotischen Fälle. 

Wie ohne weiteres zu ersehen, macht übrigens diese ver¬ 
schiedene Wertigkeit der psychischen Beeinflussungsarten eine 
Differenzierung des klinischen Psychogeniebegriffs 
unabweisbar. Neben den Erscheinungen eigentlicher Psychoge¬ 
ne se, das heißt wirklicher psychischer Verursachung, sind solche 
der Psychoplastik, d. h. der psychischen Ausgestaltung patho¬ 
genetisch anderweitig festgelegter Bildungen, der Psychoprovo- 
kation, der psychischen Auslösung anders verursachter Phäno¬ 
mene usw. entschieden auseinanderzuhalten. 

Natürlich haben die verschiedenen Aufbaumomente ent¬ 
sprechend ihrer verschiedenen, in Art, Umfang und Zusammen¬ 
setzung wechselnden Beteiligung am Aufbau der einzelnen 
Krankheitsformen auch eine verschiedene klinische Wertigkeit im 
Rahmen der verschiedenen Typen: das Trauma, bei der Kommo- 
tionspsychose pathogenetisch ausschlaggebend, ist etwa bei einer 
epileptischen nur provozierend, bei einer psychogenen nur prä¬ 
disponierend oder — den Symptomencharakter färbend — nur 
pathoplastisch beteiligt. Das alkoholische Agens, für das Trinker¬ 
delirium pathogen, bereitet für eine hysterische Störung nor den 
Boden vor, gibt für eine schizophrene halluzinatorische Erregung 
pathoplastisch den alkoholisch gefärbten Symptomeninhalt, wirkt 
endlich beim pathologischen Rausch nur auslösend. Oder: die 
Konstitution, die für gewisse degenerative Störungen die durchaus 


l ) Sich im wesentlichen mit Maiers katathymen deckend. 
*) Vom Charakter determiniert. 


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Der Aufbau der Psychose. 


461 


spezifische pathogene Determinante darstellt, gibt bei zahllosen 
andern Krankheitsformen nur die allgemein prädisponierende oder 
speziell präformierende oder pathoplastische Aufbaukomponente 
ab usw. usw. 

Gerade diese Differenzen in Aufbauanteil und -Wertigkeit der . 
einzelnen klinischen Determinanten bei den verschiedenen Psycho¬ 
sen legen ebenso wie die grundsätzlichen Unterschiede im allge¬ 
meinen Aufbau überhaupt: daß bei bestimmten Krankheitsformen 
>/):i 3 ; ende, prädisponierende, pathoplastische usw. Momente 
eine wesentliche Rolle spielen, bei andern dagegen nicht in Be¬ 
tracht kommen, — gerade diese allenthalben feststellbaren Auf¬ 
baudifferenzen legen es nahe, sie zur Erfassung von klinischer 
Eigenart und Stellung des einzelnen Krankheitsfalls und darüber 
hinaus überhaupt zur Differenzierung der festgelegten Krankheits¬ 
typen sowie zu ihrer Zusammenordnung in einem klinischen 
System zu verwerten. Ich komme darauf später noch zurück, 
wenn erst einmal ein Gesamtüberblick über das klinische Gebiet 
unter diesem Gesichtspunkt gewonnen ist. 

Mit den Aufbaudeterminanten wechseln natürlich auch die 
Krankheits mechanismen, d. h. die Vorgänge, die im Einzelfall 
dem pathogenetischen, pathoplastischen, provozierenden, prä- 
formierenden usw. Geschehen zugrunde liegen. Klare Einsichten, 
wie das Trauma, der Alkohol, das Alter, die Konstitution, der 
Charakter, das Milieu u. a. in dem oder jenem Sinne wirken, 
fehlen bisher so gut wie ganz. Zum mindesten für die Mecha¬ 
nismen nicht-psychischer Art, die irgendwie auf bestimmte Hirn¬ 
prozesse zurückgeführt werden müssen. Zum Glück sind sie für 
die Aufbaubetrachtung ohne wesentlichere Bedeutung, und Hypo¬ 
thesen wie etwa die von Jelgersma für die pathogenetischen Vor¬ 
gänge bei den exogenen Psychosen herangezogenen erübrigen sich 
, hier. Die psychisch bedingten, psychogenen und vor allem 
psychoplastischen Mechanismen lassen sich — weil in der Haupt¬ 
sache-psychologisch verständlich — schon eher übersehen 1 ), und 


i) Der in jüngster Zeit klinisch so stark betonte Gegensatz zwischen 
kausalen und verständlichen Zusammenhängen kommt im übrigen für 
den Aufbau nicht wesentlich in Betracht. 

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462 


Birnbaum, 


ohne weiteres kann man wenigstens solche, bei denen es sich 
um eine normal -psychologische Verarbeitung pathologischen 
Materials handelt (halluzinatorisch abgeleiteter Erklärungswahn, 
kombinatorische Weiterführung paranoischer Vorstellungen und 
dergl.), von anderen trennen, bei denen umgekehrt eine patho- 
psychologische Verarbeitung normalpsychischen Materials vor¬ 
liegt (autosuggestive Realisierung von Wunsch Vorstellungen und 
ähnliches). 

Der polymorphe Aufbau der Psychose aus bestimmten 
verschiedenen pathogenetischen, pathoplastischen usw. Determi¬ 
nanten schließt im übrigen an sich nicht aus, daß einzelne von 
ihnen gewissermaßen zusammenfallen, daß das pathogenetische 
Moment zugleich Träger des pathoplastischen ist, daß vom prä¬ 
disponierenden oder provozierenden Faktor zugleich psycho- 
plastische Einflüsse ausgehen usw. Das psychische Erlebnis, das 
etwa das hysterische Delir provoziert, bestimmt zugleich auch 
psychoplastisch seinen Inhalt. Die pathologische Konstitution, 
die die Prädisposition für die schizophrene Störung abgibt, be¬ 
dingt zugleich pathoplastisch auch ihre besondere, etwa periodische 
Verlaufsform usw. usw. Auch diese Zusammendrängung der 
Aufbauanteile auf einzelne Determinanten bringen klinische Ver¬ 
wicklungen mit sich und erschweren insbesondere die klinische 
Einordnung des Falls aus der Aufbaueigenart heraus. ‘ 

Den Aufbauprodukten selbst — und das ist die Haupt¬ 
komplikation und -Schwierigkeit — kann man in allen Fällen 
durchaus nicht immer ansehen, durch welche Aufbaudetermi¬ 
nanten sie zustande gekommen sind. Die gleichen oder wenigstens 
gleich aussehenden Krankheitserscheinungen — Symptomenbilder 
wie Verlaufsformen — können durchaus verschieden, bald patho¬ 
genetisch, bald pathoplastisch usw., bedingt sein. Der Depressions¬ 
zustand, der bei der echten melancholischen Störung pathogene¬ 
tisch durch die Konstitution festgelegt ist, ist beim Psychopathen 
psychoplastisch durch depressive Erlebnisse determiniert. Der 
periodische Krankheitsablauf, beim manisch-depressiven Irresein 
wieder pathogenetischen Ursprungs, hat etwa bei der Schizo¬ 
phrenie seine Ursache in der pathoplastischen Wirkung der 
besonderen konstitutiven Komponente. Die Prädominanz von 


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Der Aufbau der Psychose. 


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Gehörshalluzinationen ist in einem Falle lediglich pathoplastisch 
durch psychische Momente — Niederschlag einer aufregenden 
Unterhaltung —, im andern durch lokale Prozesse — Ohren¬ 
erkrankung —, in einem dritten durch konstitutive Eigenheiten 
— Zugehörigkeit zu einem auditiven Sinnestyp — und nur in 
einem vierten pathogenetisch durch den Grundcharakter der 
Störung gegeben. Vielfach hindert die unzulängliche Einsicht in 
die allgemeinen klinischen Zusammenhänge überhaupt die richtige 
Zuweisung der Krankheitserscheinungen. Gewiß sind im allge¬ 
meinen die groben Grundformen wie etwa die organischen De¬ 
menzsyndrome pathogenetisch abzuleiten, und die speziellen Aus¬ 
gestaltungen, also etwa die Inhalte von Wahnideen und Sinnes¬ 
täuschungen, padio- bezw. psychoplastisch, doch kann man schon 
nicht mit gleicher Bestimmtheit sagen, ob etwa die angeblich 
bevorzugte Rot-(Blut-)halluzination der epileptischen Delirien, ob 
die schizophrenen Wahninhalte von Gedankenentziehung, ob die 
alkoholische Angstemotion lediglich ein pathogenetisches oder 
pathoplastisches Phänomen oder nicht etwa teils das eine, teils 
das andere, oder gar bald das eine, bald das andere darstellen. 
Läßt man bei der Schizophrenie nur das. was nach Bleuler zu 
den Grundsymptomen gehört, als pathogenetisch gegeben gelten, 
und versucht man alles sonstige anderweitig, speziell bei den 
pathoplastischen Erscheinungen, unterzubringen, dann merkt man 
erst so recht die Schwierigkeiten einer einwandfreien Entscheidung. 

Die gleichen Versuche bringen noch eine weitere, für die 
klinische Systematik ungemein schwerwiegende und folgenreiche 
Erscheinung: den überraschend hohen Anteil der pathoplasti¬ 
schen Vorgänge am Psychoseaufbau und seinen großen klini¬ 
schen Umfang überhaupt zum Vorschein. Das Gebiet des 
Pathoplastischen geht weit über das hinaus, was so im allge¬ 
meinen und von jeher als sein Wirkungsbereich anerkannt wurde: 
die Determinierung von Halluzinations- und Wahninhalt von dem 
persönlichen Erfahrungskreis, dem Milieu, den allgemeinen Zeit¬ 
anschauungen u. dgl. aus. Neben den bloßen Symptomeninhalten 
werden ganze Symptomenbilder und -phasen, neben den symptoma- 
tologischen Zügen auch die Verlaufsformen und Ausgänge patho¬ 
plastisch bestimmt. Bei den verschiedensten Krankheitstypen, 


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464 


Birnbaum, 


exogenen so gut wie endogenen, und von den verschiedensten 
äußeren wie inneren Determinanten her, von psychischen Ein¬ 
wirkungen, körperlichen Schädigungen, von Konstitution, Charakter¬ 
eigenart und vielem andern ausgehend, findet man diese patho- 
plastischen Wirkungen wieder 

Das allgemeine Verhältnis zwischen den sich allent¬ 
halben im Krankheitsrahmen treffenden und kreuzen¬ 
den Hauptdeterminanten des klinischen Aufbaues, den 
pathogenetischen und pathoplastischen Erscheinungen, 
wird übrigens durch die sonst üblichen klinisch-analytischen Ver¬ 
suche eigentlich nicht erschöpfend erfaßt. Was man etwa mit 
Neißer als primäre, direkt vom Krankheitsprozeß gegebene, 
und sekundäre, psychologisch von jenen erst abgeleitete Er¬ 
scheinungen anspricht, deckt sich mit den genannten Aufbau¬ 
determinanten ganz gewiß noch nicht, so gewiß auch die primären 
Phänomene grundsätzlich für die pathogenetischen, die sekundären 
in der Hauptsache für die pathoplastischen in Anspruch genommen 
werden können. Die Gruppierung nach Elementar- und zu¬ 
sammengesetzten Erscheinungen ist ihrem Wesen nach über¬ 
haupt anders orientiert, wenn auch unverkennbar speziell die 
Elementarphänomene vorwiegend im Bereich der pathogenetischen 
zu suchen sein dürften. Auch die Bleulersche Trennung von 
Grundsymptomen und akzessorischen scheint mit der hier 
angestrebten nicht identisch, wenigstens wenn man sich an Bleulers 
eigene Definition: Grundsymptome in jedem Fall bei gewisser 
Krankheitshöhe vorkommend, daher wohl in nuce, wenn auch 
nicht manifest, stets vorhanden; akzessorische beliebig fehlend, 
auftretend, sich kombinierend, verschwindend — hält. Sieht man 
mit Maier in den Grundphänomenen die für den inneren Krank¬ 
heitsprozeß typischen, in den akzessorischen nur die der Er¬ 
scheinungsform der einzelnen Symptome eignen Bildungen, dann 
scheint allerdings eine weitergehende Übereinstimmung gegeben, 
ohne daß aber die akzessorischen Momente den ganzen Bereich 
des Pathoplastischen zu umfassen vermögen. 

Es kommt nunmehr darauf an, unter dem Aufbaugesichts¬ 
punkt zu den klinischen Krankheitsformen selbst Stellung 
zu gewinnen und sie in ihrer Eigenart nach dieser Richtung zu 


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Der Aufbau der Psychose. 


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erfassen. Dabei systemlos alle Einzelformen durchzugehen, 
erscheint, weil keinen klaren Überblick gewährend, ermüdend und 
wenig fruchtbar. In Betracht kommt daher nur eine gruppen¬ 
weise Übersicht. Ihr müssen zur Erleichterung der Aufbau¬ 
betrachtung speziell die von dieser nahegelegten Richtlinien zu¬ 
grunde gelegt werden. Damit ist ohne weiteres die patho¬ 
genetische Gruppierung die gegebene, also eine solche, die 
nach den für den spezifischen Krankheitscharakter ausschlag¬ 
gebenden, ursächlichen „pathogenen“ Faktoren vorgenommen ist. 
Danach sind in der bekannten Weise drei * klinische Gruppen 
aufzustellen: die exogenen, durch der Außenwelt oder dem 
Körper entstammende physische Noxen bedingten, die endogenen, 
konstitutiv bedingten und die psychogenen, durch psychische 
Agentien bedingten. Bei dieser Gruppierung müssen so gut wie 
die Eigenart und Differenzen der pathogenen Faktoren selbst, so 
auch die Eigenart und Unterschiede der sonstigen Aufbaukom- 
ponönten der betreffenden Gruppe halbwegs charakteristisch zum 
Ausdruck und prägnant zur Gegenüberstellung kommen. 

Innerhalb der Gruppe der exogenen, auf materiellen Hirn¬ 
schädigungen beruhenden Psychosen treten die Aufbauerscheinungen 
bei den ausgeprägten organischen Demenzpsychosen von 
vornherein erheblich zurück und dies um so mehr, je weit¬ 
gehender und tiefgreifender die Hirnschädigung ist. Bei den 
schwersten Yerfallsformen kommen sie daher überhaupt kaum 
noch in Betracht. Aber auch in den weniger schweren Fällen 
pflegt die pathogene Wirkung des spezifischen Agens zu weit¬ 
gehend das Krankheitsbild festzulegen, als daß für andere, zu¬ 
mal pathoplastische Wirkungsmöglichkeiten noch genügend Raum 
bliebe. Daher kann vom Aufbaugesichtspunkt aus speziell die 
geringe Pathoplastik als bezeichnendes Merkmal der organi¬ 
schen Formen gelten. Immerhin geben doch auch selbst diese 
Demenztypen in einem, wenn auch geringem Umfang einige 
Grundlagen für einen klinischen Aufbau. Nur muß man von 
jenem bezeichnenden klinischen Phänomen ausgehen, das, wie 0 
ich meine, mit sachlicher Rechtfertigung und ohne geistreich sein 
"sollende Künstelei mit einem bereits in ähnlichem Sinne verwandten 
Ausdruck als Abbau (v. Monakow) hingestellt werden kann. 


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Birnbaum. 


Dieser rein pathogenetisch determinierte Abbau, der 
bei diesen organischen Psychosen an/dem hochkonstituierten und 
-aufgebauten psychischen Einheitskomplex der vollentwickelten 
Gesamtpersönlichkeit vor sich geht 1 ), gibt in zwei charakteristi¬ 
schen Formen die Basis für eigen- und neuartige Aufbauphäno¬ 
mene: Einmal ganz allgemein durch Herabsetzung des psy¬ 
chischen Organisationsniveaus, durch Herabsinken auf 
ein primitiveres seelisches Funktionssystem, wie es in 
dem Wesen der Demenz, bezw. in weniger schwerer Form in 
der durch die organische Hirnschädigung bedingten Charakter¬ 
degeneration gegeben ist. Hier kommt die Schwächung des 
psychischen Funktionsoberbaus, der höheren seelischen Regulier- 
und Hemmungsmechanismen, — deren weitgehende' allgemeine 
pathologische Wirkungen (im Sinne der Hemmungs- und Direk- k • 
tionslosigkeit, der egozentrisch eingeengten Triebhaftigkeit usw.) 
ja zur Genüge bekannt sind, — als wichtiger Symptomen¬ 
bild ner zur Geltung. Durch die Beeinträchtigung der Maß- und 
Gleichgewichtsbeziehungen zwischen den psychischen Funktionen, 
speziell den intellektuellen und affektiven, durch Versagen der 
richtigen intellektuellen und emotionellen Steuerung, durch das 
unverhältnismäßige Übergewicht des Affektiven bei den seelischen 
Abläufen und nicht zuletzt durch die Bevorzugung emotioneller 
Denkmechanismen (verstärkte Wunsch-, Ichbetonungseinflüsse und 
dergl.) wird die Produktion von neuartigen psychotischen Gebilden, 
insbesondere von Wahngebilden, ermöglicht. Diese nicht eigent¬ 
lich spezifisch organischen, sondern auf organischem Boden auf¬ 
gebauten, durch psychologische Tendenzen und psychologische 
Mechanismen entwickelten Wahnvorstellungen — expansive, 
hypochondrische, Beeinträchtigungsideen usw. — erhalten allerdings 


*) Die fertige psychische Persönlichkeit läßt sich — in nahe¬ 
liegender Analogie mit den psychischen Krankheitsfällen — alsein gleich¬ 
falls geschlossenes psychisches Einheitsgebilde auch unter dem Aufbau- 
' gesichtspunkt erfassen: Sie ist in ihrer Eigenart durch biogenetische 
Momente (speziell Rassen-, Geschlechtstypus, individuelle Konstitution 
usw.)inder Grundformfestgelegtunddurchbio- bzw. psychoplastische 
(Alterseinfluß, physische Einwirkungen, Lebensschicksale, Milieu usw.) 
im einzelnen ausgestaltet. 


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Der Aufbau der Psychose. 


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gewöhnlich durch ihr Vereinzeltbleiben, unzulängliche Motivierung, 
lockeren Zusammenhang und dergl. einen bezeichnenden organisch- 
dementiven Einschlag. 

Noch wesentlicher erweist sich für den Symptomenaufbau 
im organischen Rahmen die mit der eben gekennzeichneten eng 
zusammenhängende zweite Abbauform: die Frei- und Mani- 
festmachung, die Aktivierung und Mobilisierung der 
konstitutiven Grundkomponenten der befallenen Persönlich¬ 
keit und zwar auch der sonst gebundenen, gehemmten und 
latent gehaltenen. Auch diese vom organischen Abbau vor¬ 
bereitete schärfere Heraushebung und verstärkte funktionelle Wirk¬ 
samkeit konstitutiver Eigenheiten: persönlicher Dispositionen, 
präformierter Mechanismen usw. — insbesondere auch patholo¬ 
gisch angelegter —, gibt den Abbaupsychosen einen symptomato- 
logischen Sonderzuwachs.. ln diesem Sinne kommt zunächst das 
Auftreten gewisser affektiver, charakterologischer und dgl. Ano¬ 
malien im Rahmen der organischen Störungen in Betracht (für 
Hirnherderkrankungen beispielweise von Reichardt , für senile 
von Gaupp u. a. anerkannt), des weiteren dann das Vorkommen 
allerhand nervöser, hysterischer und sonstiger psychopathischer 
und degenerativer Symptomenkomplexe auf dem organisch-psy¬ 
chotischen Boden — bei der Paralyse, der luischen Demenz usw. 
(Fauser u. a.). Aber auch sonstige mehr oder weniger als 
spezifisch den betreffenden organischen Störungen zugerechnete 
Symptomenbilder müssen im Sinne des Vorliegens einer konsti¬ 
tutiven Pathoplastik bewertet werden. Pernets Untersuchungen 
an einem größeren Paralysenmaterial unter dem Gesichtspunkt 
besonderer verlauf bestimmender Momente ergaben für die expan¬ 
siven Formen eine Begünstigung durch euphorische Konstitution, 
für die depressive durch die pathologische Konstitution überhaupt 
(depressive, reizbare, indifferente Psychopathie, direkte und kolla- 
terale psychopathische Belastung, auch israelitische Rasse usw.). 
In analoger Weise werden von Ziehen senile Demenzen, Paralysen 
usw., die unter dem Bilde der Melancholie oder mit zirkulärer, 
periodischer Ablaufsform verlaufen, konstitutiv-pathoplastisch 
aus dem Zusammenhang mit entsprechender Belastung abgeleitet, 
und schließlich hat man sogar ganze als selbständige organische 


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Birnbaum, 


anerkannte Krankheitsbilder aus dem tiefgreifenden Hineinspielen 
der konstitutiven Komponente in den pathogenetisch festgelegten 
zerebralen Prozeß erklärt.' Seelert spricht mit beachtlicher, wenn 
auch nicht ganz durchschlagender Beweiskraft die paranoiden 
Krankheitsbilder des höheren Lebensalters als Reaktionen be¬ 
stimmt gearteter affektiver Konstitutionen auf den organischen 
Hirnprozeß an. Er sieht also in der Hauptsache nur das Sub¬ 
strat für das Wahnmaterial, gewisse körperliche und psychi¬ 
sche senile Beschwerden und Mängel als pathogenetisch fest¬ 
gelegt an, baut dagegen die «eigentlichen Kardinalsymptome und 
speziell den Wahnvorgang selbst auf der konstitutiven Kompo¬ 
nente und den ihr eignen psychologischen Verarbeitungstendenzen 
auf. In woht noch weiterem Umfange verschieben sich für 
Beichardt die Aufbauverhältnisse, indem er die. funktionellen 
(melancholischen, hypochondrischen, paranoiden usw.) Störungen 
des Seniums überhaupt und allgemein als endogene Reaktions¬ 
formen auf einen langsam verlaufenden zerebralen Prozeß auffaßt 
und damit also der Konstitution die Bedeutung des eigentlichen 
pathogenen Moments in diesen Fällen zuspricht')• 

Mag man nun auch im einzelnen allen solchen Auffassungen der 
Aufbauverhältnisse nicht so weitgehend folgen, so wird man über die Tat¬ 
sache selbst doch nicht hinwegkommen können, daß manche organisch - 
psychotischen Gebilde und Episoden in ihrer Sondereigenart nicht einfach 
und rein pathogenetisch festgelegt sind, sondern sich erst aus dem Zu¬ 
sammenwirken der pathogenen Vorgänge mit andern Einflüssen ergeben. 
So wird man beispielweise die provokatorische Beteiligung fremd¬ 
artiger Determinanten bei jenen Episoden deliranter Verworrenheit 
u. dgl. auf organisch defektiver Basis anerkennen müssen, wie sie 
Beichardt als akute Reaktionen auf äußerliche Schädlichkeiten heraus¬ 
hebt. Oder man wird p sych op last isch e Sondereinflüsse bei jenen 
(speziell von Bleuler betonten) Schwankungen in der Ausprägung der orga¬ 
nischen Symptome heranzuziehen haben, die in Form von gefühlsbeein¬ 
flußten Verstärkungen der Aufmerksamkeits-, Auffassungs- und Gedächt¬ 
nismängel, in elektivem Versagen an sich und sonst noch leistungsfähiger 
psychischer Funktionen zum Ausdruck kommen^xun. m. 

Die klinische Bedeutung dieser besonderen Aufbauphänomene geht 
im übrigen erheblich über den einfachen Tatbestand des Vorkommens 


1 ) Die folgenden aus Raummangel kleingedruckten Abschnitte 
sind dem übrigen Text gleichgeordnet. 


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Der Aufbau der Psychose. 


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funktioneller, endogener und sonstiger wesensfremder Sym- 
ptomenkomplexe bei organischen Störungen hinaus. Sie liegt, 
wie schon ausgeführt, vor allem in zwei Momenten: 1. Manche als typisch 
für die Krankheitsform geltende senile, paralytische usw. Krankheits¬ 
merkmale von Symptomenbild und Verlauf sowie manche als charakte¬ 
ristisch bewertete Krankheitsspielarten erweisen sich in der Hauptsache 
nieht sowohl pathogenetischer als pathoplastischer Herkunft und ver¬ 
lieren damit eigentlich ihre Wertigkeit als dem Krankheitstypus unbedingt 
wesenszugehörige Erscheinungen. Und 2. eng damit zusammenhängend: 
Selbst pathogenetisch so eindeutig und einheitlich aussehende und klinisch 
so gut faßbare Krankheitsformen, wie gerade die organischen, zeigen 
sich bei näherer Strukturzerlegung nicht selten polymorph und hetero¬ 
gen zusammengesetzt. — 

Die exogenen Störungen im engeren Sinne, die durch infektiöse, 
toxische, autotoxische, traumatische usw. Hirnschädigungen verursachten 
psychotischen Typen, erscheinen in ihren symptomatologischen und Ver¬ 
laufsbesonderheiten relativ rein und weitgehend pathogenetisch fest¬ 
gelegt durch die von Bonhöffer herausgehobenen spezifisch ^exogenen 
Schädigungstypen (Delirien, epileptiforme Erregungen, amentiv- 
halluzinatorische, inkohärente und katatonische Komplexe usw.„) mit 
ihren charakteristischen"Verlaufsformen des kritischen oder lytischen Ab¬ 
falls der amnestischen Phasen, der emotionell-hyperästhetischen Nach ¬ 
zustände. Daß die spezifische, pathogenetische Festlegung bei ihnen nicht 
so weit geht, um auch noch jeder einzelnen exogenen Spezialnoxe 
entsprechend spezialisierte klinische Grundformen zuzuordnen, 
braucht an den grundsätzlichen pathogenetischen Zusammenhängen nicht 
stutzig zu machen. 

Immerhin weisen die Sonderformen und EinzelTälle allenthalben 
noch auf die wesentliche Mitbeteiligung verschiedenartiger weiterer Auf¬ 
baukomponenten hin. Der maßgebende Anteil psycho- und thymo- 
plastischer Determinanten für den Inhalt von Infektionsdelirien u. dgl. 
ist weitgehend erwiesen (Kriegstyphusfälle und ähnliches). Bleuler sieht 
sogar in den Infektionsdelirien in der Hauptsache Komplexdelirien, d. h. 
er scheint nicht nur anzuerkennen, daß sie von Wunscheinflüssen psycho- 
plastisch bestimmt, sondern darüber hinaus auch von ihnen psycho* 
provoziert sind. Pathoplastische Einflüsse werden sodann ganz all¬ 
gemein in weitgehendem Maße für sonstige klinische Eigenheiten der 
exogenen Psychosen herangezogen. So werden Symptomen- sowohl wie 
Verlaufseigentümlichkeiten dieser Störungen etwa zu Alter, Kräfte¬ 
zustand, Konstitution in innere Beziehungen gesetzt, wie beispielweise 
Bonhöffer ihre manischen Varianten als wohl konstitutiv bedingte an¬ 
spricht. Und jüngst noch hat Ewald, aus dem besonderen Anteil der konsti¬ 
tutiven Aufbaudeterminänte eine Sonderstellung der protrahierten sym¬ 
ptomatischen Psychosen vom Charakter der Amöntiaform proklamiert 


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Birnbaum, 


und aus Variationen dieser konstitutiven Komponente noch besondere 
symptomatologisch gekennzeichnete Spielarten (der halluzinatorischen, 
inkohärenten, psychomotorischen Verwirrtheit) abgeleitet. 

Speziell auch ein prädisponierendes Aufbaumoment in Form 
einer spezifischen Veranlagung gilt ziemlich allgemein bei diesen exogenen 
Störungen als unumgänglich notwendig. Wenn allerdings einer der mono¬ 
graphischen Bearbeiter dieser Krankheitstypon — Schröder — diesem 
Anlagefaktor gelegentlich einen solchen Anteil zuerkennt, daß er ihn im 
Einzelfall höher einschätzt, als die eigentliche pathogene Noxe selbst, 
so scheint mir mit dieser Verschiebung von klinischem Charakter und 
Wertigkeit der einzelnen Aufbaudeterminanten die klinische Stellung der 
Psychosen selbst als exogene in Frage gestellt und ihre Zuordnung zu 
dieser Krankheitsgruppe nur noch mit der Denominatio a potiori be¬ 
gründet. 

Einen recht weitgehenden Aufbaupolymorphismus läßt übrigens auch 
der anerkannteste Typ einer rein exogenen Psychose, das Alkoholdelir, 
erkennen. Pathogenetisch durch dieses toxische Agens festgelegt — 
der Zusammenhang im besonderen, die Beteiligung etwaiger ätiologischer 
Zwischenglieder u. dgl.- kann hier außer acht bleiben —, zieht es im ein¬ 
zelnen zu seinem Aufbau noch alle möglichen anderen Momente heran: 
prädisponierende wie Unterernährung, Erschöpfung, Schädeltraumen, 
provozierende wie Körperverletzungen, Infektionskrankheiten usvv., 
in symptomatologischer Richtung pathoplastisch wirkende, z. B. 
Angsthalluzinationen erzeugende Herzschwäche und Atemnot {Bleuler), 
den Delirinhalt psychö- bzw. thymoplastisch bestimmende individuelle 
Gewohnheiten (Berufsdelir, Kneipendftlir usw.), schließlich dann auch 
noch pathoplastisch den Verlauf beeinflussende, z. B. die Krankheits¬ 
korrektur erschwerendes hohes Alter, körperliche Dekrepidität ( Schröder) 
usw. — sind in dieser Hinsicht anzuführen. 

Speziell für die Alkoholhalluzinose wird ziemlich grundsätzlich 
der pathogenetische Alkoholfaktor als an sich für den spezifischen Krank¬ 
heitscharakter unzureichend erklärt und die Notwendigkeit der Heran¬ 
ziehung weiterer grundlegender Aufbaudeterminanten, speziell konsti¬ 
tutiver ( Bonhöffer, Schröder), hervorgehoben. Aus dem verschiedentlich 
herangezogenen auditiven Anlage-Sinnestyp würde sich freilich nur 
gerade der halluzinatorische Sondercharakter mit seiner bezeichnenden 
Prädominanz der Akoasmen pathologisch ableiten lassen, nicht aber die 
sonstigen vom typisch exogenen Bilde abweichenden Eigenheiten. Daß 
im übrigen eine Auffassung, die die Alkoholhalluzinose geradezu als spezi¬ 
fische Reaktionsform einer besonders veranlagten Person aufstellt (z. B. 
Bonhöffer s. Schröder), wiederum den Krankheitstypus selbst stark ver¬ 
schiebt, und zwar speziell in der Richtung auf die konstitutiven Typen hin, 
sei im Hinblick auf die klassifikatorische Wertigkeit des Aufbauprinzips 
wieder ausdrücklich hervorgehoben. 


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Der Aufbau der Psychose. 


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Am bezeichnendsten tritt wohl die Heterogenität des Aufbaus im 
Rahmen einer als exogen anerkannten Psychose beim chronisch-alko¬ 
holischen Eifersuchtswahn, der „Alkoholparanoia“, hervor. Ver¬ 
schiedenartigere und -wertigere Aufbaudeterminanten, als bei diesem 
gleichfalls als einheitlich und geschlossen geltenden Krankheitstyp heran¬ 
gezogen zu werden pflegen, sind kaum noch denkbar. Eine vom Alkohol¬ 
einfluß bedingte und geprägte äußere Situation speziell sexueller 
Färbung: ehelicher Zerfall: vom Alkohol beeinflußte körperliche 
Veränderungen in der Sexualsphäre: herabgesetzte sexuelle Leistungs¬ 
fähigkeit; vom Alkohol gesetzte gesamtpsychische Veränderungen: 
alkoholische Charakterdepravation *) mit Urteilsschwäche, Einsichts¬ 
losigkeit und emotiver Denkneigung bei sexualethischem Manko (und 
eventuell noch gesteigerter sexueller Begehrlichkeit) und schließlich — 
wenn auch wohl mehr akzidentell — noch psychotische, alkoholische 
Erscheinungen: sexualpsychoplastisch determinierte, halluzinatorische 
und deliriöse Erlebnisse — diese teils präformierenden, teils provozierenden, 
teils patho- und psychoplastischen Momente gelten seit Krafji-Ebin« als 
die Komponenten einer selbständigen Krankheitseinheit, deren Zusammen¬ 
hang mit dem ihre anscheinende Spezifität verbürgenden Alkoholfaktor 
zwar nicht abzuleugnen, aber zum mindesten doch sich als teilweise recht 
lose, teils recht heterogen darstellt. Hinzu kommt in manchen Fällen 
schließlich noch, um das Maß der Heterogenität des Aufbaus ganz voll zu 
machen, eine Aufbaukomponente, die ihrem Wesen nach mit dem patho¬ 
genen alkoholischen Momente ganz gewiß nichts weiter zu tun hat, sondern 
vielmehr aus rein natürlichen psychologischen Bedürfnissen — kognitiven 
wie emotionellen — stammt und daher als ein allgemeiner psychoplastischer 
Faktor anzusprechen ist. Es ist die Systematisierungstendenz, jene stark 
symptomenbiidende und -erweiternde Kraft, die sich auch sonst noch im 
klinischen Bereich findet (unter anderem ja auch bei der Alkoholhallu- 
zinose) und die mit besonders starker Wirkungskraft sich speziell als 
kombinatorisch wirkendes Moment maßgebend am Aufbau der reinen 
Wahnpsychosen beteiligt. — 

Daß alles in allem ein so vielseitig aufgebauter alkoholischer Krank¬ 
heitstypus nicht gerade den Anforderungen entspricht, die ein um die 
Reinheit und Einheitlichkeit psychiatrischer Krankheitstypen besorgter 
Psychiater speziell an eine ätiologisch abgeleitete Krankheitsform stellen 
müßte, wird nicht gut zu bestreiten sein. Zudem entfernt sich der klinische 
Vorgang in manchen hierher gerechneten Fällen von „Alkoholparanoia“ 
eigentlich recht weit von dem, was die typisch exogenen Psychosen im 


*) Daß auch die sogenannte alkoholische Charakterdegeneration 
nicht allgemein rein alkoholisch-pathogenetisch, sondern zum Teil sehr 
weitgehend konstitutiv-pathoplastisch abgeleitet wird (z. B. von Bleuler), 
sei nebenbei hier eingefügt. 


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Birnbaum, 


allgemeinen und die typischen Alkoholpsychosen im besonderen in Bild 
und Verlauf bieten, und nähert sich so weitgehend anderen klinischen 
Typen (etwa den konstitutiven nach Art der pathologischen Entwick¬ 
lungen), daß eine klinische Umrangierung wenigstens so mancher Fälle 
von chronischem Eifersuchtswahn zum mindesten nahegelegt wird. Was 
dabei speziell klassifikatorisch noch besonders ins Gewicht fällt, ist die 
Tatsache, daß in vielen dieser Fälle die klinische Stellung der Alkohol- 
komponente als wirklich pathogenetische nicht einmal über jeden Zweifel 
sichergestellt ist. Vielmehr ergibt in äußerlich durchaus ähnlichen und 
daher hierhergerechneten Fällen die Aufbauanalyse, daß in der Haupt¬ 
sache der Alkohol nur pathoplastisch auf den Wahn- und Halluzinations¬ 
inhalt gewirkt hat, daß aber das pathogenetische Moment ganz anders¬ 
woher stammt,' etwa von der pathologischen Konstitution wie bei der 
Paranoia, von noch unbekannten Hirnschädigungen wie bei den para 
phrenen Formen. 

Die richtige Einstellung des Alkoholmoments in den klinischen 
Aufbau, speziell in Beziehung auf Pathogenese und Pathoplastik, erscheint 
überhaupt als grundlegende Voraussetzung für die richtige Stellungnahme 
gegenüber gewissen Alkoholpsychosen. Ich denke speziell an die chronisch- 
halluzinatorischen und -paranoischen. Das Bestehen initialer alkohol» 
psychotischer Bilder, das „Herauswächsen“ anscheinend aus einer akuten 
alkoholischen Erkrankung, die alkoholische Färbung des klinischen Bildes, 
zumal in der Art der Sinnestäuschungen und der AlTektlage (Angst), die 
halluzinatorischen Schwankungen — Exazerbationen und Nachlässe — 
in Abhängigkeit vom Alkoholgenuß, alle diese vielfach als ausreichende 
Beweisstücke für die wirklich alkoholische Natur der Störungen heran¬ 
gezogenen Erscheinungen scheinen mir mit der Existenz pathogenetisch 
durchaus andersartiger Psychosen, degenerativer, schizophrener usw., bei 
lediglich pathoplastischem Alkoholeinschlag sehr wohl vereinbar. Einer 
den Aufbau voll erfassenden klinischen Diagnostik müßte es gelingen, noch 
vor dem Manifestwerden der die Diagnose sichernden andersartigen (schizo- 
dementiven usw.) Merkmale die nichtpathogenetische Beteiligung des 
Alkoholfaktors bei solchen „chronischen Alkoholpsychosen“ heraus zu 
erkennen. — 

Die ganze klinische Bedeutung des Aufbauphänomens und die ganze 
Schwierigkeit seiner Analyse kommt am prägnantesten bei der Schizo¬ 
phreniegruppe zum Ausdruck. Daß hier überhaupt eine Betrachtung 
unter diesem Gesichtspunkt mit einiger Aussicht auf Erfolg möglich ist. 
ist das zweifellose Verdienst Bleulerschcr Arbeiten, deren - Wert für die 
Aufbauklarlegung klinischer Fälle überhaupt nicht hoch genug veran¬ 
schlagt werden kann. Natürlich ist eine volle sichere Erfassung der Aufbau- 
Verhältnisse im Schizophreniegebiet so lange nicht durchführbar, als über 
die zugrunde liegenden und grundlegenden pathogenetischen Vorgänge bei 
dieser Krankheitsform noch keine Klarheit besteht. Immerhin erscheint 


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Der Aufbau der Psychose. 


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als Grundlage für die Aufbaubetrachtung halbwegs ausreichend verwertbar 
die wohl ziemlich sicherstehende Tatsache ihrer pathogenetischen Zuge¬ 
hörigkeit zu den exogenen Typen, ganz gleich, mit was für pathogenen 
Noxen (autointoxikatorischen, innersekretorischen Stoffwechselstörungen 
usw.) man im besonderen auch rechnen mag. Freilich werden damit 
zunächst nur einige wenige und nicht einmal immer als typisch schizophren 
anerkannte Bilder, die den exogenen Grundformen noch am ehesten 
analog sind (katatonische, dissoziative u. a.) pathogenetisch erfaßt, da¬ 
gegen noch nicht einmal mit genügender Sicherheit die eigentlichen spezi¬ 
fisch-schizophrenen Grundstörungen und -tendenzen, in denen die „Asso- 
ziations- und Schaltspannungsschwäche“ (Bleuler) charakteristisch zum 
Niederschlag kommt. Immerhin genügt doch wenigstens diese patho¬ 
genetische Begrenzung, um für den enormen schizophrenen Formenkreis 
mit allen seinen mannigfachen als mehr oder weniger charakteristisch 
geltenden Bild- und Verlaufsbesonderheiten noch auf die unumgängliche 
Beteiligung weiterer Aufbaukomponenten hinzuweisen. In diesem 
Sinne erscheint es bezeichnend genug, daß Bleuler zum Verständnis für 
die „kontinuierliche Schattierung der Dementia praecox vom Gesunden 
bis zu ihrer schwersten Erscheinung“ die Beteiligung vieler Faktoren 
und ihrer Kombinationen betont, daß er beispielweise für die Schwere 
der Krankheit die anderen psychischen Eigenschaften ihres Trägers, die 
in unendlicher Weise wechseln können, mit heranzieht. 

Als wichtigste Aufbaukomponente der schizophrenen Störungen 
darf wohl ganz allgemein die Konstitution gelten, deren Beteiligung 
durch gewisse Tatsachen der Heredität und der prämorbiden patho¬ 
logischen Eigenart des Erkrankten nahegelegt und sichergestellt wird. 
Sie kommt zunächst rein pathogenetisch in Betracht, und zwar sowohl 
in mehr allgemeinem und ziemlich unbestimmtem Sinne als einfach prä¬ 
disponierend, wie vor allem mit mehr oder weniger spezifischem Sonder¬ 
charakter (Bleulers Erbschizose ?) unmittelbar den Krankheitstypus 
festlegend. Vielfach zunächst latent, pflegt sie dann durch provozierende 
Faktoren (Schizophrenie im Anschluß an Infektionskrankheiten, Traumen, 
Wochenbett, Strafhaft usw.) manifest und aktiv,zu werden. Sie kommt 
weiter, und zwar meist in Form irgendeiner bestimmten psychopathischen 
Konstitution, auch pathoplastisch — sympt'omen- und verlaufs¬ 
gestaltend — in Betracht. Fälle, in denen konstitutionelle Dispositionen, 
phantastisch-pseudologische oder paranoisch-querulatorische u. a., sich 
unverkennbar in einem schizophren-paranoiden Symptomenbilde nieder¬ 
schlugen, sind mir beispielweise wiederholt begegnet. Schizophrenien 
mit manisch-depressiven Symptomenkomplexeh dürften in ähnlichem 
Sinne aufgebaut sein, wie ja auch Ziehen auf zirkuläre und periodische 
Verlaufsförmen der Hebephrenie bei entsprechend Belasteten hinweist. 
Alles dies sind Erfahrungen, die zwar im einzelnen erst noch durch Sonder¬ 
untersuchungen gesichert und ausgebaut werden müssen, immerhin aber 


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Birnbaum, 


doch schon jetzt das eine beweisen, daß mancherlei schizophrene Er¬ 
scheinungen, und zwar sowohl solche, die als mehr oder weniger typisch, 
wie auch solche, die gerade als atypisch gelten, konstitutiv pathoplastisch 
abzuleiten sind. 

Unter den exogenen Aufbaudetermrnanten der Schizophrenie 
mag zunächst der Kommotionstraumen als prädisponierender und 
provozierender Momente im Hinblick auf gewisse Kriegserfahrungen 
wenigstens gedacht werden. Auch an die psychischen Faktoren sei 
hier erinnert, da sie zu mancherlei klinischen Komplikationen und diffe¬ 
rentialdiagnostischen Schwierigkeiten führen können. Von klinischen 
Autoren hat sie wohl Bleuler zuerst und bis jetzt wohl auch noch am weit¬ 
gehendsten anerkannt. Auch wer sich, wie Verfasser selbst, nicht voll 
empfänglich erweist für die Beweiskraft so mancher von anderen Forschern 
als durchaus durchsichtig und einleuchtend hingestellten psychoplastisch- 
schizophrenen Zusammenhänge, wird über die Beteiligung psychischer. 
Komponenten bei diesen Störungen nicht glatt hinweggehen können. 
Auf die provozierende, d. h. also den Krankheitsausbruch veranlassende 
Bedeutung psychischer Faktoren legt vor allen Bleuler einen ungewöhnlich 
großen Wert, und es wirkt unter den heutigen psychiatrischen Zeitläuften 
doch einigermaßen überraschend, w-enn er gerade die verunglückte Liebe 
ausdrücklich als krankheitauslösendes Moment herauszuheben für nötig 
hält. Da die Untersuchungshaft, d. h. eine Situation von anerkannt starkem 
Affektwert, im allgemeinen den Ausbruch von Schizophrenien nicht nach¬ 
weislich zu fördern pflegt (im Gegensatz zur Strafhaft), und da auch die 
Kriegserregungen ihn anscheinend nicht nachweislich begünstigt haben, 
so wird man eine psychoprovozierende Aufbaudeterminante bei der Schizo¬ 
phrenie, wenigstens soweit der Ausbruch der Krankheit selbst in Betracht 
kommt, nicht so hoch veranschlagen können. Dagegen scheint mir die 
Psychoprovokation von schizophrenen Krankheitssymptomen, Sym- 
ptomenkomplexen und Episoden, das psychisch bedingte Neuauftreten 
von Syndromen ungleich sicherer gestellt, und die psychoplastische 
Bild- und Verlaufsgestaltung, wie übrigens auch die psycho¬ 
plastische Symptomenverstärkung und Verschärfung (durch Erlebnisse, 
Milieu, Situation usw.) drängt sich in manchen Fällen, etwa bei Haft¬ 
schizophrenien, geradezu auf. Raeckes katatonische Situationspsychosen 
des Gefängnisses mit Ganserbildern, Dämmerzuständen, simulatiformen 
Syndromen der verschiedensten Art sowie mit gewissen der Haftsituation 
entsprechenden Verlaufsschwankungen gehören hierher. Auch die Bleuler- 
schen Versetzungsbesserungen weisen grundsätzlich in die gleiche Rich¬ 
tung. — Daß eine solche gelegentlich recht w-eitgehende Symptomen- 
und'Verlaufspsychoplastik den typisch-schizophrenen wie überhaupt den 
prozeßpsychotischen Charakter solcher Störungen über lange Zeit und 
weite Krankheitsstrecken hin verdecken und damit ganz andersartige 
Krankheitstypen (paranoische, degenerative, hysterische, psychogene. 


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Der Aufbau der Psychose. 


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auch manisch-depressive usw.) Vortäuschen kann, soll demnächst einmal 
an einer Zusammenstellung langfristig beobachteter Fälle dieser Art dar¬ 
getan werden. Es zeigt den ganzen Tiefstand der Aufbaudiagnostik, daß 
die Veröffentlichung solcher- Kasuistik sich noch im Hinblick auf dia¬ 
gnostische Verfehlungen der Praxis rechtfertigen läßt, denn im Grunde 
bieten ja solche Fälle wissenschaftlich nichts Besonderes mehr, sobald 
man sich des ganzen Umfangs der pathoplastischen und speziell psycho- 
plastischen Vorgänge im schizophrenen Rahmen bewußt geworden ist. 
Wissenschaftliche Bedeutung würden solche Fälle allerdings noch einmal 
erlangen können, wenn es gelänge, einen Einblick in die tieferen Ursachen 
dieser Vorherrschaft der Patho- und Psychoplastik im Krankheitsbilde zu 
gewinnen. — Im übrigen findet man, das muß doch nochmals gesagt 
werden, eine ausgesprochene und weitgehende Psychoplastik bei der 
Schizophrenie lange nicht so häufig als man nach der starken Betonung 
dieses Moments bei manchen Autoren erwarten müßte. 

Folgerichtig hat das Anfbauprinzip über die allgemein schizophrenen 
Formen hinaus auch noch auf die einzelnen Spielarten Anwendung zu 
finden. Doch fehlt es hier noch an allen und jeden klinischen Voraus¬ 
setzungen. Den einfachen dementiven Formen als rein pathogenetischen 
die zusammengesetzteren, die paranoiden usw. als durch patlioplastisehe 
Einschläge bedingte gegenüberzustellen, liegt nahe, doch reicht das, was 
man etwa als pathoplastische Determinanten heranziehen könnte — bei 
den paranoiden etwa eine zu solcher Verarbeitung geneigte individuelle 
Eigenart, reiferes, zu verstandesmäßiger Stellungnahme tendierendes Alter, 
gewisse, die emotionelle Gedankenbewegung anregende und überwertige 
Komplexe erzeugende Erlebnis- und Milieueinflüsse u. dgl. — zum er¬ 
schöpfenden Aufbau der einzelnen Spielarten durchaus nicht aus. Weiter 
kommen wird man hier erst können, wenn eine sit venia verbo: ,,all- 
gemeine Pathoplastik“ geschallen ist und damit die zahlreichen, 
zum Teil noch recht fraglichen Zusammenhänge zwischen allgemeinen 
Faktoren und pathologischen Erscheinungen — zwischen höherem Alter 
und depressiver Stimmungslage, zwischen Juvenilität und schnellem 
psychischen Verfall u. ähnl. — geklärt worden sind. 

Jedenfalls tritt auch für die Schizophrenie trotz aller Unklarheiten 
und Unsicherheiten im einzelnen aus der Aufbauanalyse in großen Um¬ 
rissen wieder zutage: der heterogene Charakter von sonst als gleichwertig 
schizophren geltenden Krankheitsmerkmalen je nach ihren pathogeneti¬ 
schen oder pathoplastischen Beziehungen, der heterogene Aufbau von als 
typisch, klinisch rein und einheitlich geltenden schizophrenen Psychosen 
selbst und schließlich der möglicherweise weitgehend (oder gar rein ?) patho¬ 
plastische Ursprung spezieller schizophrener Spielarten. Wieweit wir 
dabei freilich vorerst noch von grundsätzlich entscheidenden Aufbau¬ 
ergebnissen entfernt sind, beweist der Ausspruch des Autors, der bisher 
am tiefsten in die innere Struktur der Schizophrenie eingedrungen ist: 

Zeitschrift für Psychiatrie« LXXV. 4/5. 33 


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Birnbaum, 


„So kann zurzeit niemand ausschließen, daß nicht auch Psychosen, die 
wir von der Hauptgruppe der Schizophrenie nicht unterscheiden können, 
bloße psychische Reaktionsformen sind“ (Bleuler). 

Mit den konstitutiven Krankheitstypen verschieben sich 
die Aufbauverhältnisse gegenüber den exogenen grundsätzlich und 
weitgehend. Der endogene Faktor, der bisher nur prädisponie¬ 
rend. präformierend oder pathoplastisch wirkte, wird nun patho¬ 
genetisch ausschlaggebend, der exogene steigt umgekehrt von 
der Stellung einer pathogenetischen zur Rolle einer lediglich 
provozierenden oder pathoplastischen — gelegentlich auch prä¬ 
disponierenden und präformierenden — Aufbaukomponente hinab. 
Mit dieser Konstitution — auf deren allgemeinen Charakter in 
seinen Beziehungen zur Pathogenese hier nicht näher einzugehen 
ist — kommt übrigens auch die Erbkomponente: das heredi¬ 
täre Moment, bisher in der Hauptsache nur prädisponierend und 
pathoplastisch beteiligt, als rein pathogenetische Determinante 
mit in den Krankheitsaufbau hinein. Ein näheres Eingehen auf 
die hierdurch gegebenen, zu komplizierten und durch die Tat¬ 
sachen überdies noch nicht genügend sichergestellten Zusammen¬ 
hänge würde nutzlos abseits führen. Bleulers Darlegung über 
den Mendelismus bei Psychosen, speziell bei der Schizophrenie, 
deutet sohon zur Genüge den ganzen Umfang der Schwierig¬ 
keiten an. 

Es kann auch dahingestellt bleiben, wie weit das klinisch 
wichtige Moment des Lebensalters, das ja auch pathologisch 
vielseitig — sowohl pathogenetisch wie pathoplastisch, wie prä¬ 
disponierend usw. —in Betracht kommt (Begünstigung heboider 
Symptoraenfärbungen, hysterischer Psychosen durch das Ent¬ 
wicklungsalter, paranoischer durch das Reifealter, depressiver 
durch das vorgerückte usw.) mit für die Konstitution heranzu¬ 
ziehen ist. Die Tatsache der altersbedingten Konstitutions- 
änderungen legt eine Angliederung an dieser Stelle nahe. 

Mit der gegebenen pathogenetischen Kennzeichnung als kon¬ 
stitutiver ist der Aufbaucharakter wenigstens der leichter über¬ 
sehbaren Krankheitstypen — etwa der manisch-depressiven 
Formen — unbeschadet gelegentlicher Komplikationen ausreichend 
festgelegt. Mögen im einzelnen auch provozierende Momente. 


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Der Aufbau der Psychose. 


477 


vor allem psychische, den Krankheits- oder Anfallsausbruch be¬ 
stimmen, mögen pathoplastische und speziell psychoplastische 
Faktoren auch einmal Syraptomenbild oder Verlauf beeinflussen, 

— bestimmte Erlebnisse oder Milieubeziehungen etwa den Kern 
für manisch-depressive Wahnbildungen abgeben, Situationseinflüsse 
Steigerungen und Nachlässe der thymopathischen Phasen nach 
sich ziehen —, der Krankheitstyp ist in seinem spezifischen 
Grundcharakter nach Bild und Ablauf von der — übrigens nicht 

- immer in ihrer Eigenart nach außen erkennbaren — Konstitution 
festgelegt und dies gelegentlich selbst so einheitlich und weit¬ 
gehend, daß sogar für Sondereigenheiten des Einzelfalls kaum 
noch weitere Aufbaudeterminanten heranzuziehen sind. Die 
Untersuchungen von Reiß lassen in dieser Hinsicht die engen 
Sonderbeziehungen zwischen ausgesprochenen thymopathischen 
Spezialkonstitutionen (manischen, depressiven) und entsprechen¬ 
den parathymen Psychosen erkennen. Sie weisen allerdings zu¬ 
gleich auch umgekehrt auf das Vorkommen weniger durchsichtiger 
Verhältnisse, auf die Vielgestaltigkeit und Kompliziertheit dieser 
Beziehungen zwischen thymopathischer Konstitution und Störung 
in manchen andern Fällen dieser scheinbar einfach aufgebauten 
Krankheitsform hin. 

Verwickelter und beziehungsreicher gestalten sich von vorn¬ 
herein die Aufbau Verhältnisse bei den mit den sogen, degene- 
rativen Konstitutionen zusammenhängenden psychischen 
Störungen. Die degenerativen Konstitutionen selbst — zu ihnen 
ist übrigens auch ein nicht geringer Teil der einfachen Scbwach- 
sinnsformen zu rechnen — erledigen sich als klinische Typen 
für die Aufbaubetrachtung ohne weiteres. Pathogene Konstitution 

— im allgemein pathologischen Sinne — und degenerative 
Konstitution als klinischer Typ fallen hier zusammen, sind 
identisch. Als pathoplastische Aufbaukomponenten kann man bei 
ihnen noch, wenn man will, Alters-, Milieu- und dgl. Einflüsse 
heranziehen, da sie nicht selten Sonderformen: juvenile, Milieu¬ 
varianten usw. von einigermaßen charakteristischer Prägung ab¬ 
geben. . 

Anders liegen die Aufbauverhältnisse bei den aus den dege¬ 
nerativen Konstitutionen herauswachsenden psychotischen Formen, 

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Birnbaum, 


d.< h. den wirklich pathogenetisch durch diese festgelegten. Die 
rein additiven psychotischen Störungen auf der Basis einer 
degenerativen Konstitution nach Art des komplizierenden Alkoholis¬ 
mus und Morphinismus bieten ja trotz ihrer unverkennbaren 
pathologischen Affinität zur degenerativen Konstitution und trotz 
des Hineinspielens der degenerativen Komponente ins Symptomen- 
bild keine tieferen pathogenetischen Beziehungen zu dieser. Für 
die richtige klinische Erfassung dieser degenerativ psychotischen 
Form lassen sich übrigens ähnliche Gesichtspunkte wie bei den 
organisch-regressiven Typen heranziehen. Wie dort der destruk¬ 
tive Persönlichkeitsabbau sich als eigenartiger Krankheits- 
nnd Symptomenbildner erwies, so hier der evolutiv unzuläng¬ 
liche Persönli'chkeitsaufbau. Die von ihm gegebene mangel¬ 
hafte Entwicklung des innerpsychiscben Reguliersystems, die 
unzureichende Festigung des psychischen Funktionssystems, die 
mangelhafte Geschlossenheit der seelischen Gesamtorganisation 
usw. geben die charakteristischen Determinanten für die anto- 
chthonen und reaktiven psychotischen Schwankungen u. dgl. ab. 

Diese degenerativ verursachten Störungen stellen sich, wie 
bekannt, verschieden dar: einmal als sogenannte pathologische 
Reaktionen, d. h. vom Aufbaugesichtspunkt betrachtet: als 
durch Außenreize, insbesondere psychische, provozierte und mobi¬ 
lisierte episodische Manifestationen der degenerativen Konstitutions¬ 
grundform. (Sie äußern sich teils in Steigerungen oder verstärkten 
Ausprägungen der pathologischen, thymo- oder noopathischen 
Konstitutionen, teils in Störungen, die sich im Sinne der durch 
die Konstitution vorgebildeten Funktionsanomalien — dissoziativen, 
hysterischen u. dgl.— bewegen.) Zum andern bieten sie sich als 
sogenannte pathologische Entwicklungen dar, d. h. als 
abnorme natürliche Weiterführungen der in der Konstitution 
gegebenen psychischen Anomalien, die gewöhnlich in weitgehender 
Wechselwirkung mit und unter spezieller Ausgestaltung durch 
Milieueinflüsse vor sich gehen. 

An beiden konstitutiven psychotischen Typen sind, wie man 
sieht, psychische Faktoren wesentlich mitbeteiligt, speziell 
psychoprovokatorische bei den Reaktionen, psychoplastische bei 
den Entwicklungen. Bieser besondere Anteil des psychischen 


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Der Aufbau der Psychose. 


479 


Moments am Anfbau der konstitutiv degenerativen Störungen wie 
flberhaupt deren ausgesprochene psychoplastische Zugänglichkeit 
liegt, das ist ja ohne weiteres durchsichtig, in der natürlichen 
Wesens Verwandschaft der psychopathischen mit der normal¬ 
psychischen Konstitution begründet. Auch für sie ist daher ebenso 
wie für letztere das psychische Moment das wesensadäquate. Damit 
gesellt sich die ausgesprochene psychoplastische Tendenz zu den 
allgemeinen Charakteristika dieser konstitutiven Störungen, und 
sie kann für einzelne psychoplastisch in besonderem Maße zu¬ 
gängliche Typen, speziell die hysterisch-degenerativen, als geradezu 
spezifisch gelten. 

Mit der Kennzeichnung als pathologische Reaktion im kli¬ 
nischen Sinne — denn nur um eine solche kann es sich 
handeln; pathologische Reaktion im allgemein-patholo¬ 
gischen Sinne ist schließlich jede beliebige abnorme Reizbeant¬ 
wortung — ist also in jedem Einzelfall der Charakter der Störung 
festgelegt und damit zugleich auch über die klinische Stellung 
der sonstigen Aufbaukomponenten entschieden. Alles, was sonst 
als Ursache noch in Betracht gezogen wird, — toxische, trauma¬ 
tische, psychische usw. Noxen — kann in Wirklichkeit nur pro¬ 
vozierend, pathoplastisch u. dgl. beteiligt sein, ist daher auch 
■oft genug nach Art und Grad unspezifisch, ist auswechselbar und 
steht in qualitativ und quantitativ uncharakteristischem Verhältnis 
zu den zugehörigen klinischen Produkten. Bei dieser grundsätz¬ 
lichen klinischen Sonderstellung der pathologischen Reaktionen 
erscheint es mir daher auch nicht als ein Streit um Worte, 
vielmehr als ein Streit um die Sache, wenn beispielweise die 
Frage nach dem Wesen der traumatischen Neurose einen vor die 
Alternative stellt, ob spezifischer, durch die Eigenart der äußeren 
traumatischen Noxe festgelegter selbständiger Krankheitstyp oder 
lediglich vom Trauma provozierte und höchstens noch von ihm 
pathoplastisch beeinflußte Manifestation einer pathologischen Kon¬ 
stitution. 

Im übrigen zeigen selbst so eindeutige und einfache Spiel¬ 
arten der pathologischen Reaktion, wie der sogen, pathologische 
Rausch, daß auch hier die Aufbauverhältnigse nicht immer gleich¬ 
artig und einfach liegen. So erfaßt beispielweise die einfache 


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Birnbaum, 


480" 

Formel: die Konstitution als pathogenes, der Alkohol als pro¬ 
vozierendes Moment, durchaus noch nicht zugleich den. bezeich¬ 
nenden Rauschcharakter der Störung (Bewußtseinstrübung, kurz¬ 
dauernder Verlauf, terminaler Schlaf usw.) und es muß hier zum 
mindesten noch eine vom Alkohol gegebene pathoplastische Kom¬ 
ponente mit herangezogen werden. Auch manche andere Er¬ 
scheinungen: der gleichzeitig provozierende und psychoplastische 
Anteil psychischer Faktoren beim Blaukoller, das psychoplastische 
Hineinspielen von Wunschmomenten (phantastische Größenideen 
und dgl.) bei manchen Rauschfällen, der Zusammenhang mit 
einer schwer alkoholischen Konstitution beim deliranten Rausch 
u. a. m. weisen auf vielgestaltigere und kompliziertere Aufbau¬ 
verhältnisse hin. Bezeichnenderweise und eigentlich ganz folge¬ 
richtig werden die eigentlich reinsten alkoholisch provozierten 
Reaktionsformen — etwa nach Art der vom Alkohol ausgelösten 
hysteriformen Episoden, Ganser- und sonstige Dämmerzustände 
— Überhaupt nicht in den Rahmen der pathologischen Rausch¬ 
formen mit einbezogen. 

Tritt bei den pathologischen Reaktionen vor allem das psycho- 
provozierende Moment als wesentliche Aufbaudeterminante neben 
die pathogene Konstitution, so bei den pathologischen Ent¬ 
wicklungen das psychoplastische. Exogene psychische Faktoren: 
Erlebnisse, Lebensschicksale, Milieu- und Situationseinflüsse treten 
hier in enge Beziehung und Wechselwirkung zur endogenen 
psychopathischen Konstitution, um unter entsprechender Weiter¬ 
führung der mit der Konstitution gegebenen pathologischen Eigen¬ 
heiten eine immer weitergehende seelische Umgestaltung herbei¬ 
zuführen. Sie finden ihren charakteristischsten Niederschlag, ihre 
prägnanteste Objektivierung in Wahnanschauungen, die von der 
Konstitution in den Grundformen festgelegt, von psychoplastischen 
Einflüssen im einzelnen ausgestaltet, von natürlichen psychologi- 
sehen Bedürfnissen und Tendenzen — kognitiven, logischen, 
emotionellen — zusammengefaßt und kombinatorisch ausgebaut, zur 
Krankheitseinheit der Paranoia zusammengeschlossen werden. 
Die so entwickelte Paranoia 1 ) mit ihrem geschlossenen Wahn- 

l ) Im Interesse der allgemeinen Gesichtspunkte, auf die es hier 
allein ankommt, ist der Paranoiatyp (wie übrigens auch vorher die patho- 


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Der Aufbau der Psychose. 


481 


System stellt so, wenn der Ausdruck gestattet ist, die vollendetste 
Aufbaupsychose dar. Mit ihrer auf immer weitergehenden Ver¬ 
einheitlichung und Geschlossenheit der Krankheitsbestandteile 
hinarbeitende Progressivität, ihrem systematischen Aufbau tritt 
sie damit in charakteristischen — äußeren wie klinischen — 
Gegensatz zu den Zerfallspsychosen, deren „systematischer“ Abbau 
umgekehrt den psychischen Zusammenhang und die Persönlich¬ 
keitseinheit progressiv zerstört. 

Die klinische Streitfrage nach der grundsätzlichen Chronizität 
und Unheiibarkeit bezw. nach der Existenz einer akuten Form 
der Paranoia erscheint aus den Aufbauverhältnissen heraus be¬ 
antwortet. Gestattet — wie zugestanden werden muß — die für 
den Krankheitstyp ausschlaggebende pathologische Konstitution 
an sich eine akute Steigerung und Verschärfung, eine episo¬ 
disch verstärkte Wirksamkeit ihrer pathogenen Dispositionen 
sowie auch umgekehrt ein schnelles Zurückgehen dieser Kon¬ 
stitutionssteigerungen und damit eine Abschwächung der von ihr 
ausgehenden pathologischen Tendenzen in begrenzter Zeit, 
erweisen sich — wie gleichfalls zuzugeben jst — Chronizität, 
Progressivität und Unheilbarkeit auch als psychoplastisch 
von äußeren Beziehungen (ungünstigen Milieu-Situationsverhält¬ 
nissen usw.) festgelegte Verlaufsformen, — dann liegt kein Grund 
vor, nicht auch pathogenetisch zusammengehörige paranoische 
Typen von verschiedenem Ablaufcharakter anzuerkennen. 

Des weiteren wird man von den Aufbaubesonderheiten aus¬ 
gehend auch die paranoischen Spielarten schärfer erfassen 
müssen. Bisher begnügte man sich meist damit, lediglich nach 
den Verschiedenheiten des äußeren Bildes, die bestenfalls patho- 
beziehungsweise psychoplastisch abgeleitet werden (Eifersuchts¬ 
wahnformen im Zusammenhang mit biologischen Sexualver¬ 
änderungen und dergl.), zu differenzieren. Tiefere, wirklich 
pathogenetisch ausschlaggebende Wesensunterschiede werden da¬ 
mit gewiß nicht gewonnen. Dazu müßte man vielmehr von den 

logische Reaktion) im Sinne der jetzt ziemlich allgemein anerkannten 
Auffassung angenommen. Meinen eigenen Standpunkt habe ich in anderem 
Zusammenhang (Zur Paranoiafrage: Zeitschr. f. d. ges. Psych. u. Neurol. 
Bd. 29, 1915) spezialisiert. 


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Birnban m. 


verschiedenen Konstitntionsgrundformen mit ihrer in emo¬ 
tioneller Intensität, Nachhaltigkeit usw. variierenden psychischen 
Reaktivität ausgehen. Vielleicht läßt sich hier an den von 
Kretschmer in seiner ungewöhnlich guten Arbeit über den sensi¬ 
tiven Beziehupgswahn unternommenen Versuch einer psychia¬ 
trischen Charakterlehre anknüpfen, ' 

Erschwerungen in der richtigen Aufbauerfassung der klinischen 
Typen mit ausschlaggebenden konstitutiven Determinanten sind 
— dies noch zum Schluß — durch mancherlei Komplikationen 
gegeben. So durch das nicht seltene gemeinschaftliche Vorkommen 
verschiedener Konstitutionsformen, von denen die eine patho¬ 
genetisch, die andere pathoplastisch mitspricht (so etwa bei 
Ziehens degenerativen Modifikationen der Manie, Melancholie 
und Paranoia mit ihrem besonderen atypisierenden degenerativen 
Symptomen- und Verlaufeinschlag); oder durch die nicht seltene 
Mischung von Krankheitselementen verschiedener konstitutiver 
^Pathogenese im gleichen Krankheitsfalle (Mischung von hysteri¬ 
schen und manisch depressiven Syndromen usw.). Auch die ver¬ 
breitete und weitgehende anderweitige Beteiligung der Konstitution 
bei den verschiedensten pathogenetisch anders bedingten Krank¬ 
heitstypen — prädisponierender, pathoplastischer usw. Konstitu¬ 
tionsanteil an der Schizophrenie, den exogenen Psychosen und 
älinl. — pflegt in klinisch nicht ohne weiteres durchsichtigen 
Fällen die pathogenetischen Zusammenhänge verworrener zu 
gestalten. Ob es berechtigt ist, für einzelne symtomatologische 
und Verlaufseigenheiten so weitgehend zugehörige Konstitutions¬ 
determinanten anzunehmen, wie Kleist es mit seiner Aufstellung 
von autochthon-labilen, reaktiv-labilen, zyklisch-psychomotorischen 
und dergl. Konstitutionen tut, muß so lange dahingestellt bleiben, 
als man die Konstitution nicht direkt und unmittelbar zu erfassen 
vermag, sondern erst aus den jeweiligen Krankheitsäußerungen ab¬ 
leiten muß. — 

Die letzte in Betracht kommende Gruppe, die psychogenen 
Krankheitsformen im eigentlichen Sinne, d. h. also die wirklich 
ursächlich von einem psychischen Agens in ihrem spezifischen 
Charakter abzuleitenden, pflegt man in diesem spezifischen Sinne 
weitgehend abzulehnen und im allgemeinen der konstitutiven 


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Oer Aufbau der Psychose. 


483 


Gruppe anzugliedern, beziehungsweise sogar in ihr auf gehen zu 
lassen. Doch rechtfertigen zahlreiche und klinisch entschieden 
belangvolle Momente meines Erachtens ihre Sonderstellung als 
selbständige Krankheitsgruppe. Zunächst das nicht so seltene 
nachweisliche Fehlen einer pathologischen Konstitution; sodann 
im Fall ihres Bestehens ihr unspezifisch’er Charakter: die 
zugrunde liegende pathologische Konstitution erweist sich in den 
verschiedenen Fällen ganz verschieden geartet und bedingt, zum 
Teil als nur erworben und selbst temporär, sie ist kurz und gut 
gewissermaßen auswechselbar, ohne daß damit eine Änderung 
des Krankheitscharakters der betreffenden Fälle verbunden ist, 
eine Erscheinung, die natürlich nur möglich ist, wenn eben der 
Konstitution keine spezifisch pathogene Bedeutung zukommt; und 
schließlich vor allem die Tatsache, daß die spezifischen Krank¬ 
heitserscheinungen — die psychogenen Grundformen — sioh wohl 
restlos aus der besonderen Wirkungsweise der — stets vorhan¬ 
denen und durchaus unumgänglich notwenigen — psychischen 
Noxen ableiten lassen. — Mil dieser Aberkennung des spezi¬ 
fisch pathogenetischen Anteils der Konstitution bei diesen 
eigentlichen psychogenen Störungen soll selbstverständlich ihr 
sonstiger oft wichtiger Aufbauanteil an diesen Krankheitsformen, 
insbesondere ihr prädisponierender und pathoplasti scher, nicht in 
Abrede gestellt werden, — ein Anteil, der übrigens gelegentlich 
auch nicht-konstitutiven Elementen (der Erschöpfung, dem 
Trauma usw.) in gleicher Weise zukommt. Ebensowenig soll 
auch verkannt werden, daß die Grenze zwischen konstitutiven und 
psychogenen Störungen in praxi nicht immer so scharf gezogen 
werden kann, wie sie theoretisch dem pathogenetischen Prinzip 
nach erscheint. Daß insbesondere in der Verfolgung klinischer 
Reihen sich ein ziemlich fließender Übergang zwischen diesen Typen 
unter Verschiebung der klinischen Stellung von Konstitution und 
psychischem Faktor und ihres gegenseitigen Verhältnisses im 
Rahmen des Aufbaus feststellen läßt, d. h. also ein Absteigen der 
Konstitution von der Höhe des pathogenen Moments zur bloßen 
Stellung eines prädisponierenden bezw. pathoplastischen auf der 
einen und umgekehrt ein Aufstieg des psychischen Faktors von 
der bloßen provozierenden und ev. psychoplastischen Bedeutung 


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484 


Birnbaum, 


bis zur pathogenetischen hinauf. Eine die klinischen Verhältnisse, 
zumal in klassifikatorischer Hinsicht komplizierende Aufbau¬ 
verschiebung, die ja zur Genüge von den Kriegserfahrungen her 
illustriert wird. Bei den als gemeinhin als Kriegshysterien zu¬ 
sammengefaßten Störungen finden sich ja alle nur denkbaren 
Abstufungen von den psychisch provozierten Manifestationen einer 
konstitutiven Hysterie am einen Ende bis zu den psychisch ver¬ 
ursachten „hysterischen“ Störungen der konstitutiv normal Ge¬ 
arteten am andern/ Diese eigentümlichen inneren Beziehungen 
zwischen zwei pathogenetisch im Prinzip auseinanderzuhaltenden 
Krankheitstypen — auf die sich daraus und aus andern Momenten 
ergebenden klinischen Schwierigkeiten bin ich an anderer Stelle 
eingegangen 1 ) — können an sich nicht weiter überraschen. Sie 
erklären sich aus der schon-erwähnten weitgehenden Wesensüber- 
einstimmmig der pathologischen Konstitution mit der normalen. 
Speziell aus der beiden eignen besonderen Affinität zu psychischen 
Momenten ergibt sich auch die zunächst so befremdende Tatsache, 
daß hier durch provokatorische psychische Einflüsse psychopatholo- 
gische Mechanismen in Bewegung gesetzt werden, die dort durch 
psychische Einflüsse überhaupt erst zustande kommen. 

Sind so die psychogenen Krankheitstypen in der klinischen 
Grundform und dem spezifischen Grund Charakter durch ihre 
besondere Pathogenese, d. h. durch die Eigenart der psychischen, 
speziell Emotionswirkungen auf das seelische Leben, festgelegt 
— bezüglich der Einzelheiten wird auf meine jüngst erschienene 
Abhandlung über die „psychische Verursachung seelischer 
Störungen und die psychisch bedingten abnormen Seelenvorgänge“ 
(Wiesbaden 1918) verwiesen —, so zeigen sie sich in ihren 
Spezialgestaltungen gemäß der ihrem Wesen eignen psychi¬ 
schen Zugänglichkeit durch psychoplastische Einflüsse weit¬ 
gehend determiniert, und sie ergeben so durch die vielfachen, 
von den verschiedensten Seiten her beeinflußten Variationen der 
Symptomen- und Verlaufsgestaltung eine ungewöhnliche Fülle von 
psychoplastisch differenzierten Formen. Es ist daher wohl auch 
kein Zufall, daß gerade die psychogenen Störungen der Ausgangs- 

1 ) Birnbaum, Klinische Schwierigkeiten im Psychogeniegebiet. 
Monatsschr. f. Psych. u. NeuroL 1917, Bd. 41. 


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I 


Der Aufbau der Psychose. 485 

punkt für solche Aufbaubetrachtung und der Haupttummelplatz 
für Aufbauanalysen geworden sind, und daß speziell die psycho- 
traumatischen Störungen des Krieges, die auf eine in dieser Hin¬ 
sicht gerade genügend vorbereitete wissenschaftliche Einstellung 
trafen, zu einer — wenn auch nicht direkt ausgesprochenen — 
Anerkennung der klinischen Aufbauphänomene geführt haben. 
Es kann nicht Sache der hier versuchten allgemeinen Betrachtung 
sein, nun im einzelnen den Aufbauverhältnisseif bei diesen klini¬ 
schen Typen nachzugeheu, bloß weil sie die Aufbauerscheinungen 
in gewöhnlichem Umfang, in ungemeiner Vielseitigkeit, in be¬ 
sonderer Ausprägung und in charakteristischster Form darbieten. 
Jedenfalls i&t es hier noch mehr als sonst Erfordernis, 'daß man 
grundsätzlich über die übliche äußere Kennzeichnung des Krank¬ 
heitsbildes hinausgeht und, statt dieses als etwas einfach Gegebenes, 
Unabänderliches hinzunehmen, vielmehr beweiskräftig zu zeigen 
sucht, wie in jedem Falle eine Anzahl nach Art, Zahl und Zu¬ 
sammensetzung wechselnder Aufbaudeterminanten sich durch ihre 
funktionelle Wirksamkeit zur Einheit des Krankheitsbildes zu¬ 
sammenschließt. Insbesondere: wie aktuelle und vergangene 
seelische Geschehnisse, wie klarbewußte oder halb- oder unbe¬ 
wußte Vorstellungen und Erinnerungen; wie bestimmt gefärbte 
und gerichtete Gefühlsbewegungen, wie allgemein menschliche 
und besondere individuelle seelische Tendenzen, Gewohnheiten, 
Wünsche, Neigungen, Bestrebungen, wie Erlebnisse, Milieu und 
Situationsfaktoren, wie Temperament, Charakter und psychische 
Konstitution und darüber hinaus, wie selbst die körperliche Kon¬ 
stitution und ihre Beeinflussungen durch äußere Schädlichkeiten, 
kurz und gut: wie die verschiedensten Momente von Vorleben 
und gegenwärtiger seelisch-körperlicher Verfassung und Ein¬ 
stellung in wechselseitiger Verknüpfung und variierendem Einfluß 
prädisponierend oder präformierend, patho- wie psychoplastisch 
am Gesamtaufbau sich beteiligen. 

Alles in allem ergibt sich hier ein wichtiges Gebiet von 
weitreichendem klinischen Aufbau mit vielseitigem, vor allem 
psychoplastisch bedingtem Polymorphismus, der es gestattet, 
innerhalb des psychogenetischen klinischen Gesamttyps noch 
psychoplastisch determinierte Untergruppen zu unterscheiden, 



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Birnbaum, 


die durch sozial-psychische und sonstige gemeinschaftliche psychi¬ 
sche Bedingungen geschaffen und zusammengehalten werden 
(psychogene Unfall-, forensische Psychosen usw.). 

Auch bei den psychogenen Formen sollen im übrigen die 
Schwierigkeiten nicht übersehen werden, die sich aus gewissen 
Aufbaubesonderheiten und speziell von den psychischen Deter¬ 
minanten Tier ergeben. Die Hauptbedenklichkeit ist darin ge¬ 
legen, daß die gleichen psychischen Mechanismen, die hier 
pathogenetisch ausschlaggebend beteiligt sind, bei andern 
klinischen Krankheitsformen in anderer Wirkungsform, vor allem 
psychoplastisch wirksam, wiederkehren. Daß die klinische 
Eindeutigkeit der psychogenen Typen dadurch nicht wenig be¬ 
einträchtigt wird, wird man zugeben müssen, ohne sie deswegen 
als aufgehoben zu erklären. Diese klinisch verwirrenden Tat¬ 
sachen zeigen eben nur, wie gerade das. psychische Moment in 
vielseitigen Formen in die Klinik der Psychosen hineinspielt und 
wie die Aufbaubetrachtung noch am ehesten dazu angetan ist. 
in dieser Hinsicht Klarheit zu verschaffen. — 

Dieser allgemeine Überblick über die Aufbauverhältnisse bei 
den verschiedenen Psychosengruppen gestattet wenigstens einige 
allgemeine grundsätzliche klinische Schlußfolgerungen. Spezial¬ 
erkenntnisse bezüglich der einzelnen Krankheitstypen können 
freilich erst durch eine vertiefte Strukturanalyse der Sonderformen 
selbst gewonnen werden. Insofern bedarf diese Darstellung von 
vornherein wesentlicher Ergänzungen. 

Die grundlegende Tatsache, von der auszugehen ist, ist der 
Aufbau wohl aller, auch der scheinbar einfachsten und einheit¬ 
lichsten, Krankheitsfälle aus verschiedenartigen und -wertigen 
Determinanten. Unter ihnen stehen an erster Stelle, weil grund¬ 
sätzlich an allen Krankheitsfällen beteiligt und durchweg das 
ganze klinische Gebiet durchziehend, die als pathogenetisch und 
pathoplastisch herausgehobenen. Ihr pathologischer Charakter, 
ihre pathologische Wertigkeit und ihr gegenseitiges Verhältnis 
gewinnt daher für die Erfassung, Bewertung und Differenzierung 
aller klinischen Erscheinungen — Symptomen- und Verlaufs¬ 
gebilde so gut wie ganze Krankheitsformen, Typen so gut wie 
Spielarten und Individualfälle — maßgebende Bedeutung. Daß da- 


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Der Aufbau der Psychose. 


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bei den pathogenetischen Phänomenen gegenüber den pathoplasti- 
schen an allgemeinpathologischer, diagnostischer und klassi- 
fikatorischer Dignität grundsätzlich der Vorrang einzuräumen ist, 
ergibt sich aus der Kennzeichnung ihrer* allgemeinen Natur. — Was 
zunächst die äußeren Krankheitsmerkraale: Symptomenbild 
und Verlauf, angeht, so gelten sie jetzt so gut wie früher ziem¬ 
lich durchweg als Gebilde von höchster klinischer, für den Krank¬ 
heitscharakter ausschlaggebender Wertigkeit. Kraepelin hat dies 
erst unlängst wieder in seiner Kennzeichnung von Zielen und 
Wegen der klinischen Forschung anerkannt. Die klinische Digni¬ 
tät des Symptomenbildes hat freilich auf Grund mannigfacher 
Erfahrungen über den oft unspezifischen Charakter und die all¬ 
gemeine Verbreitung vieler Symptome (Halluzinationen, Wahn¬ 
ideen usw.) entschieden an Gewicht eingebüßt, und zum mindesten 
sieht man sich gezwungen, bei der klinischen Verwertung zwischen 
Phänomenen, die erfahrunggemäß bei den verschiedensten Krank¬ 
heitsformen Vorkommen können, und solchen, die sich auf einzelne, 
ganz bestimmte beschränken, streng zu scheiden. Die Aufbau¬ 
analyse bestätigt zunächst die Berechtigung einer niedrigen klini¬ 
schen Einschätzung der Symptome im allgemeinen, noch mehr 
aber die Notwendigkeit einer prinzipiell differenten Bewertung der 
einzelnen. Und zwar ist dafür nicht sowohl die immerhin 
täuschenden Zufälligkeiten unterliegende Erfahrung über das an 
bestimmte Psychosen gebundene oder nicht gebundene Auftreten 
der einzelnen Symptome,- sondern die Aufbauerfassung, d. h. vor 
allem die Klarstellung ihres pathogenetischen oder pathoplastischen 
Charakters ausschlaggebend. Freilich ist, wie schon anfangs 
erwähnt, die einwandfreie klinische Verwertung der Symptome 
unter' diesem Gesichtspunkt vorerst noch erschwert durch die 
Unsicherheit in der Trennung der pathogenetischen und patho¬ 
plastischen Gebilde, deren restlose Durchführung zu den not¬ 
wendigen klinischen Zukunftsaufgaben gehört, vor der Hand 
allerdings bei den Mängeln einer tieferen Einsicht in die ätiolo¬ 
gischen Mechanismen und Zusammenhänge noch wenig aussichts¬ 
voll erscheint. Diese bestehenden Unzulänglichkeiten in der 
Differenzierung der beiden Symptomenformen machen sich not¬ 
wendigerweise auch in der klinischen Systematik geltend. Es 


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Birnbaum, 


kann beispielweise gelegentlich eine von vornherein verlorene 
Liebesmüh bedeuten, wenn man aus der Übereinstimmung oder 
Verschiedenheit des Symptomenbildes als solchen zu einer Ent¬ 
scheidung über die Wesenszusammengehörigkeit oder -Verschieden¬ 
heit von Krankheitsfällen zu kommen sucht, wie es etwa in der 
Streitfrage: „Involutionsmelancholie und manisch-depressive Psy¬ 
chose“ geschehen ist. Die äußeren symptomatologischen Über¬ 
einstimmungen zweier Krankheitsbilder beweisen eben die Identität 
ebensowenig wie die Differenzen ihre grundsätzliche Verschieden¬ 
heit, weil beide hauptsächlich pathoplastisch bedingt sein können. 

Besondere Schwierigkeiten für diese notwendige Differen¬ 
zierung pathogener und pathoplastischer Symptome dürften im 
übrigen speziell von den psychoplastischen Phänomenen aus¬ 
gehen, zumal wenn bei ihnen tatsächlich solche Verkleidungen 
und Verdeckungen der Zusammenhänge eine Rolle spielen, wie 
sie von manchen Autoren in Gestalt von Verschiebungen, Ver¬ 
dichtungen, Übertragungen, symbolischen Umsetzungen, Konver¬ 
sionen und ähnl. anerkannt werden. Aber auch sonst bedingen 
— wie leicht zu übersehen — die psychoplastischen Momente 
klinische Erschwerungen auf symptomatologischem Gebiete,, indem 
sie auf der einen Seite äußerlich übereinstimmende Krank¬ 
heitserscheinungen bei pathogenetisch verschieden¬ 
wertigen Grundformen herbeiführen (z. B. analoge haft¬ 
psychotische wie überhaupt forensisch-psychotische Bilder mit 
Ganser- und sonstigen hysteriformen Symptomen, querulatori¬ 
schen Überwertigkeitswahnbildungen usw. bei schizophrenen und 
degenerativen Typen), auf der andern verschieden aussehende 
Modifikationen pathogenetisch wesensgleicher Grund¬ 
formen, wie sie die äußerlich weit auseinander strebenden 
Bilder psychogener Störungen bei verschiedenartigen Milieu- und 
Erlebniseinflüssen darbieten. Alles Tatsachen, die samt und sonders 
dazu angetan sind, den pathognomonischen wie differential-diagno¬ 
stischen Wert der Symptomengebilde zu beschränken. 

Die Verlaufsformen vermochten länger und in höherem 
Maße die ihnen zugesprochene, grundsätzlich hohe klinische 
Wertigkeit sich zu erhalten. Galt es doch lange Zeit überhaupt 
als über jede Diskussion erhaben, daß gerade sie das Wesen der 


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Der Aufbau der Psychose. 


489 


Krankheitsform spezifisch zum Ausdruck bringen, d. h. also 
grundsätzlich pathogenetisch determiniert sind. Die Aufbauanalyse 
hat auch in diese Auffassung eine Bresche gerissen und auch 
hier klinisch differente Verlaufserscheinungen herausgeholt. Sie 
hat beispielweise gezeigt, daß die periodische Verlaufsform, 
die zumeist als rein pathogenetisch festgelegt angesehen wurde, 
in vielen Fällen lediglich pathoplastisch durch die besondere 
Konstitution des Erkrankten gegeben ist, und daß also die 
periodischen Psychosen an sich noch keine spezifischen Krank¬ 
heitseinheiten bedeuten. Sie hat weiter gelehrt, daß in den 
natürlichen, pathogenetisch gegebenen Ablauf der Psychosen sich 
Episoden anderer Art. die durch materielle (traumatische, toxische 
usjw.) oder psychische Reize provoziert sind, also reaktiv psy¬ 
chotische Phasen einschieben-und damit den spezifischen Krank¬ 
heitsverlauf verändern können. Und sie hat schließlich 
bewiesen, daß es ganz allgemein neben pathogenetischen Ver¬ 
laufsformen auch pathoplastische gibt. Zumal bei gewissen 
funktionellen, konstitutiven, wie vor allem psychogenen Krankheits¬ 
typen trat unverkennbar zutage, daß selbst so schwerwiegende, 
anscheinend zutiefst im Wesen des KrankheitsVorganges selbst 
wurzelnde Verlaufseigenheiten, wie Progressivität und Unheilbar¬ 
keit. sehr wohl durch psyehoplastische Beziehungen, äußere Be¬ 
dingungen psychologischer Art herbeigeführt sein können. Ein¬ 
dringlich genug spricht auch in diesem Sinne, wenn selbst ein Autor 
wie Kraepelin. der von jeher wohl am stärksten die Abhängigkeit 
von Ablaufsweise und Ausgang vom Krankheitsprozeß als solchem 
betont hat, wenn gerade er bei gewissen Typen — Paranoia und 
Querulantenwahn — die Progressivität und Unheilbarkeit aus 
äußeren psychologischen Faktoren — grundsätzliche bezw. tat¬ 
sächliche Unmöglichkeit eines befriedigenden Abschlusses des 
Kampfes zwischen krankhaften Ansprüchen und Widerstand der 
Umgebung — ableitet. 

Für gewisse Verlaufserscheinungen, wie beispielweise den 
sozusagen psychologischen Krankheitsabbau — die Promptheit 
und Schnelligkeit in der Gewinnung der Krankheitseinsicht, 
in der Korrektur von Sinnestäuschungen und Wahnideen, sowie 
umgekehrt für das mehr oder weniger lange Verharren darin 


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490 


Birnbaum, 


usw. — wurden übrigens ja von jeher psychoplastische Momente, 
die durch die individuelle Eigenart, intellektuelle Fähigkeiten usw. 
gegeben sind, herangezogen. 

Auf die auch hier wieder zur Geltung kommenden Schwierig¬ 
keiten einer reinlichen Scheidung und Abgrenzung des patho¬ 
genetischen und pathoplastischpn Verlaufsanteils — z. B. bei den 
konstitutiven Krankheitsformen — braucht nicht erst neu hin¬ 
gewiesen werden. Ebenso ist die praktische Bedeutung dieser 
klinischen Verhältnisse offenkundig, daß die Prognose durchaus 
nicht (was bisher so ziemlich ein psychiatrisches Dogma) aus¬ 
schließlich an den Krankheitstyp gebunden und eindeutig, einzig 
und erschöpfend durch ihn allein gegeben ist, daß vielmehr 
allenthalben — und selbst bei pathogenetisch so weitgehend 
festgelegten Krankheitsformen wie den organischen und exogenen 
— pathoplastische Momente (Konstitution, Alter, somatischer und 
psychischer Allgemeinzustand usw.) mit heranzuziehen sind. 

Auch der klinische Wert der Einzelphasen verschiebt sich 
unter der Aufbaubetrachtung in gewissem Sinne gegenüber den 
herkömmlichen Anschauungen. Ganz allgemein wird man aus 
den bekannten Gründen derjenigen Verlaufsphase die größte 
Dignität zuerkennen müssen, in der die pathogenetischen Er¬ 
scheinungen am stärksten und reinsten, die pathoplastischen am 
schwächsten und seltensten zum Ausdruck und Niederschlag 
kommen. Diese Verhältnisse sind nun — dies gerade ein wesent¬ 
liches Ergebnis der Aufbauanalyse — durchaus nicht einheitlich 
und gleichmäßig für alle Krankheitstypen festgelegt, sondern 
variieren vielfach mit ihnen. Seit Krappelin wird bekanntlich der 
Hauptwert auf die Endformen gelegt, insofern die spezifischen 
Eigenheiten besonders prägnant in ihnen Zurückbleiben sollen. 
Diesen Standpunkt bestätigt wenigstens bis zu einem gewissen 
Grade auch die Aufbaubetrachtung. Zunächst darf ganz allgemein 
zugegeben werden, daß die wesentlichen, d. h. also die patho¬ 
genetisch festgelegten Erscheinungen ihrer ganzen Natur nach die 
konstanteren, feststehenden, sich gleichbleibenden, die patho¬ 
plastischen die labileren, unbeständigeren, wechselnden sind, und 
daß das, was vom Anfang bis zum Ende den Krankheitsverlauf 
durchzieht und bis zum .Schluß erhalten bleibt, nicht sowohl die 


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Der Aufbau der Psychose. 


491 


mehr zufälligen, nebensächlichen pathoplastischen Einschläge, als 
die pathogenetischen Grundformen sein durften. Dazu kommt, 
daß von allen Verlaufsphasen erfahrunggemäß vor allem die 
Anfangsstadien, weil zumeist mit nur leichteren Abnormisierungen 
einhergehend, pathoplastischen und speziell psychoplastischen 
Beeinflussungen besonders zugänglich sind und damit also am 
ehesten unspezifische — lediglich psychoprovozierte oder psycho- 
plastische Bildungen darbieten. Immerhin gilt dies doch nicht 
allgemein — am ehesten wohl noch für schizophrene wie auch 
organische Krankheitsformen —, und gewisse andere Erfahrungen 
weisen nach anderer Richtung. So neigen manche Krankheits¬ 
gebilde, wiewohl sie an sich ganz verschiedener Genese sein 
können, so etwa überwertige Komplexe, wie sie bei Schizo¬ 
phrenie, Paraphrenie, Paranoia, psychogenen Störungen usw. 
Vorkommen, von sich aus in ziemlich übereinstimmender Weise 
zu gewissen speziell psychoplastischen Weiterbildungen in Form 
von progressiven kombinatorischen Wahnvorgängen, und sie ge¬ 
langen damit zu Endergebnissen und Endformen, in denen dann 
diese sekundären psychoplastischen Produkte durchaus vor¬ 
herrschen, die primären pathogenetischen dagegen weitgehend 
zurücktreten. In solchen und anderen Fällen ähnlicher Art be¬ 
deutet es naturgemäß eine nicht belanglose Fehleinschätzung der 
Endformen, wenn man in ihnen ohne weiteres den Ausdruck und 
Niederschlag des spezifischen Krankheitsprozesses sieht. Besonders 
deutlich wird dieser Fehlschluß übrigens bei gewissen nach rein 
psychologischen Gesetzmäßigkeiten fortschreitenden Typen von der 
Art der Paranoiagruppe. Bei ihnen wird der eigentliche patho¬ 
genetische Grundcharakter, der sich speziell an\ Anfang im Ent¬ 
stehungsmechanismus noch deutlich kundgibt, im weiteren Verlauf 
mehr und mehr durch psychoplastische Bildungen überlagert und 
verdeckt, und den über Jahr und Tag hindurch ausgebauten 
Wahnsystemen kann man es dann am Ende durchaus nicht mehr 
ansehen, welchem Sondertypus sie eigentlich — ob dem para¬ 
noischen, paraphrenen oder psychogenen — zuzuweisen sind. 
Es erscheint nun — um noch weitergehend in gleichem Sinne, 
aber nach anderer Richtung hin vorzustoßen — zum mindesten 
nicht ohne weiteres ausgeschlossen — wenn auch vielleicht vorläufig 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 34 


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492 


Birnbaum, 


in der wissenschaftlichen Phase der Überbewertung pathogene¬ 
tischer und der Unterbewertung pathoplastischer Krankheits- 
phänomene noch ganz indiskutabel —, daß beispielweise gewisse 
Erfahrungen der somatischen Medizin über das durchaus ver¬ 
schiedenartige Zustandekommen gewisser Endzustände vom Cha¬ 
rakter der Schrumpfung und des Schwundes mutatis mutandis 
auch für die Psychosen Geltung haben. Das heißt also vor allem, 
daß auch für manche klinischen Ausgänge in Demenz nicht 
sowohl das eigentliche pathogenetische Moment und damit das 
„Wesen“ des Krankheitsprozesses, als vielmehr der Einfluß patho¬ 
plastischer Faktoren des Alters, des Kräftezustandes, der indivi¬ 
duellen Konstitution und Hirnorganisation usw. den Ausschlag 
geben, und daß dann also selbst die scheinbar eindeutigste Krank¬ 
heitsgruppe, die sogenannten Demenzpsychosen, unter einem von 
dem bisherigen wesentlich abweichenden Gesichtspunkt neu ge¬ 
ordnet werden müßte.. 

Verliert damit der Endzustand in gewissen Fällen seine 
bisherige hohe klinische Wertigkeit, so erhöht sich in diesen 
vielfach umgekehrt die klinische' Dignität der sonst recht gering 
eingeschätzten, ja wohl unterschätzten Initialphase. Gerade 
sie läßt beispielweise bei den chronisch progressiven Wahn¬ 
bildungen den für den klinischen Typ charakteristischen und 
entscheidenden pathogenen Mechanismus und überhaupt die 
pathogenen Zusammenhänge klar und scharf hervortreten, die, 
wie erwähnt, im weiteren Verlauf durch individualpsychologische 
Reaktionen, psychologische Weiterverarbeitungen und sonstige 
psychoplastische Bildungen überwuchert und überdeckt werden. 

Alles in allem ergibt sich so eine Verschiebung der 
klinischen Wertigkeitsskala der äußeren Krankheits¬ 
merkmale. Statt yrie bisher etwa zu sagen: Die Symptome 
sind klinisch grundsätzlich 'geringwertiger als der Verlauf, die 
Initialphase als das Endstadium usw., würde es nun heißen: 
Symptomen- und Verlaufseigenheiten, wie geartet sie sonst auch 
sein mögen, sind klinisch um so hochwertiger, je einwandfreier 
sie pathogenetisch festgelegt sind, um so geringwertiger, je mehr 
sie pathoplastisch bedingt sind. Eine Stellungnahme, die im 
Prinzip einen Übergang, ein Zurückgehen von den äußeren 


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Det Aufbau der Psycho#*. >;j 493 

Erscheinnugeu auf dieinneren Slrukturvcrbättniasc des Krank¬ 
heitsfalles bedeutet. 

L’ö»t damit ist man nun auch schon zur grcntisätzUchen 
Stellungnahme gegenaber den Krankheitsfftllbn selbst den Typen 
wie dpa Spielarten und .den JödmdaatfäJiea sie 

ist in gewissem S»»ne dwre.b 4*e Aufbauajiajlyso fesrtgelis^t. 

Zunächst die Frage des k{Ässifik&töifächen Prinaips. Die 
äußeren Kränkbeit^i^rkina^;;-^^-' Symptomen- wie Yerlaufsbild 
könuen nach dem Creaa^ten — auch night zusammen gaüömoicn 
als Symptomen- und Yerlaufseiöbek — gekori wegen der Ver¬ 
einigung und untergeijiedlösen Ver^niekunl: patliegeaetiscber and 
paniopknslisclier /GeV»!#:' utekt v^ljftfce 

Basis fftr die Anfsteiruug echter rcinnF Krönid)ejtsty]ien und für 
ihre richtige Zagam m Unordnung in ehte^y-ab- 
geben. Daran kann auch die Tatsache nicht a ändern, daß > 
praktischer 'Erfahrung Sfl Verbindung mit wissMischaftiicher In¬ 
tuition sehr wohl glucken kann nüd oft. genug., geglückt ist. 
lediglich aus diesen äußeren Merkmalen heraus einwandfreie, 
d. h. der bisher möglichen analysierenden Nachprüfung stand- 
haltende Krankheitsfarmeu zu gewinnen, ßoeh deutet Seiton die 
Hüüfig'keU atypisch er Fälle auf der einen, scheinbarer Misoh- 
und ühergungsfälie auf der andern Seite auf die nicht tmzweU 
-deutige Typizität mancher «0 gewonnener. KraTikhe.itsfur.rneu hin, 
wie ja fibfirliaiipt ein Kmnkheitshu^Tdf, der lediglich' auf der 
Sam fite #r tat. gleiche? 'WS«ö]l30o«^l$ehrojBiÄi äußeren Merk¬ 
male anfgebftur ist. unzureichend erscheinen muß. Die ganze 
Auftouibcträolitipig verweist: jedenfalls gnujdsätzlleh auf df&V 
pathogenetische Moment eis dasjenige, welches ul fern mit 
Sicherheit die .wesentlicher!, hellten arid spezifischen Eigenheiten 
des Typus erfassen und damit die einzig sichere Gruadlag^ 
die klinische Typen- und System fhidung abgeheu kann. Damit 
Wird, also unbedenklich die - kiassifikatorisehc Vorrangstellung de.-, 
ätiologischen Prinzips anerkannL und diesurn so bernitwilbge- 
als dagegen erhobene Ein wände, wip; Wteehiedene Psyciiufeii 
trotz gleicher Ursachen; gleiche Psychbie« trotz versehledeöei - 
Ursachen u. n. in., gerade voll der AuflmuanaJyse her als nicht 
genügend stichhaltig zurückgewiesen werden kdaneii. Es bedinge!! 

C° gle • L^R^W-oSlOHl 





494 


Birnbaum, 


eben neben den kausal gewiß nicht wenig ins Gewicht fallenden 
Variationen des pathogenen Agens selbst, den Verschiedenheiten 
in Intensität, Dauer usw. der einwirkenden Noxe — es bedingen, 
sage ich, neben diesen gewiß nicht zu unterschätzenden patho¬ 
genetischen Verschiedenheiten vor allem die sonstigen Aufbau¬ 
determinanten, die qualitativ so weitgehend variierenden prädis¬ 
ponierenden, präformierenden, provozierenden und pathoplastischen 
Faktoren inneren und äußeren Ursprungs, ganz erhebliche Diffe¬ 
renzen für die gleichen Krankheitsformen, Differenzen, die dann 
fälschlicherweise gegen das ätiologische Prinzip als solches ver¬ 
wertet, anstatt der unzulänglichen Aufbauanalyse zur Last gelegt 
zu werden. Auf ähnliche Mängel in der richtigen und voll¬ 
ständigen Erfassung und Bewertung der verschiedenen Aufbau¬ 
determinanten und ihrer gegenseitigen Stellung im Krankheits¬ 
rahmen scheinen mir übrigens auch jene klinischen Fehltypen 
zu beruhen, wie sie beispielweise jetzt gelegentlich vom Kriegs¬ 
material aus unter falscher Einschätzung des im wesentlichen bloß 
prädisponierenden und pathoplastischen Anteils des Erschöpfungs¬ 
moments in Form von neuartigen Erschöpfungspsychosen auf¬ 
gestellt worden sind. Im übrigen ist es bei der Zusammen¬ 
gesetztheit des Aufbaus mancher Krankheitsformen durchaus 
nicht immer so einfach, das eigentliche pathogenetische Moment 
herauszuerkennen, und so kann es beispielweise bei dem Schwer¬ 
hörigenwahn mehr oder weniger strittig sein, ob man den exogen 
somatischen Faktor der Schwerhörigkeit oder das endogene 
Moment einer abnormen (paranoiden) Charakterkonstitution oder 
schließlich selbst das mitbeteiligte Rückbildungsalter in Anspruch 
nehmen will. 

Naturgemäß sind auch manche wissenschaftliche 
Strömungen und Einstellungen einer richtigen Aufbau¬ 
erfassung nicht immer günstig. Daß beispielweise eine so vor¬ 
wiegend organisch orientierte Epoche, wie die erst kurz ver¬ 
flossene, ohne weiteres dazu neigte, das pathogenetische Moment 
zum Schaden des pathoplastischen zu überbewerten, beweist — 
um nur etwas anzuführen — Wernickes ausdrücklicher Hinweis 
auf „die Norm der Lokalität und die Ätiologie“ als die höchst 
wahrscheinlich „einzigen“ Bedingungen für die Gestaltung 


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Der Aufbau der Psychose. 


495 


der speziellen Symptomatologie eines Krankheitsbildes. Umgekehrt 
unterschätzen gewisse Richtungen der Jetztzeit, die speziell den 
psychoplastischen Bildungen ihr ganzes Interesse zuwenden, 
unwillkürlich das eigentliche pathogenetische Moment und tendieren 
dazu, den Krankheitsfall in der Hauptsache einfach aus dem 
unterschiedlos pathoplastischen und speziell psychoplastischen 
Zusammenwirken einer Anzahl Determinanten abzuleiten. Auch 
manche klinischen Systeme, die auf einem bestimmten klinischen 
Faktor sich aufzubauen suchen — etwa auf dem hereditären 
Moment (Schule), dem Alter (Savage) usw. —, scheinen mir der 
Vielgestaltigkeit der Aufbauverhältnisse im allgemeinen und ihren 
Verschiebungen be/ den verschiedenen Krankheitsformen im be¬ 
sonderen nicht genügend Rechnung zn tragen. Sie lassen zu 
sehr außer acht, daß das betreffende Moment zwar jeweils als 
wirksames Agens nachweisbar sein kann, aber in wechselnder, 
nicht immer gleichwertiger Rolle, und daß also beispielweise 
dem Alter und der hereditären Konstitution durchaus nicht immer 
eine pathogenetische, sondern auch eine bloß prädisponierende, 
pathoplastische, provozierende usw. klinische Bedeutung zukommt. 

Im übrigen gestattet die Aufbaubetrachtung eine gewisse 
Gruppierung und Differenzierung der Krankheitstypen. 
Verfolgt man speziell im Hinblick auf das Verhältnis zwischen 
pathogenetischen und pathoplastischen, insbesondere auch psy¬ 
choplastischen Momenten die ganze Reihe der Krankheits¬ 
formen, von den organischen ausgehend über die exogenen im 
engeren Sinne hinweg bis hin zu den verschiedenen funktionellen, 
den konstitutiven wie schließlich den psychogenen, so zeigt sich 
im großen und ganzen ein Aufsteigen, eine Zunahme des Aufbaus 
in Umfang und Vielseitigkeit und damit Hand in Hand gehend eine 
entsprechende Zunahme der patho-(psycho-)plastischen Momente. 
Das heißt, di6 erstgenannten Typen heben sich als verhältnis¬ 
mäßig einfach aufgebaute, im wesentlichen durch den pathogenen 
Faktor, die Hirnschädigung, eindeutig festgelegte und von ihr 
ableitbare Krankheitsformen entschieden von den hochzusammen¬ 
gesetzten, durch starke patho-(psycho)plastische Einschläge deter¬ 
minierten konstitutiven und psychogenen ab. Damit gewinnt 
aber auch die pathoplastische Komponente selbst, je nach ihrem 


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Birnbaum, 


stärkeren Hervortreten oder Znrücktreten, eine gewisse, eigentlich 
unerwartete, pathognostische und diagnostische Bedeutung. Denn 
mag auch das pathogene Moment, weil die spezifische Grundform 
abgebend, für die Aufstellung und Feststellung des Typs ent¬ 
scheidend sein und bleiben, und mag auch die Pathoplastik, weil 
allenthalben im klinischen Bereich zur Geltung kommend und 
zumal als psychoplastische Zugänglichkeit selbst den ihr an sich 
wesensfremden organischen Prozessen nicht fremd, im allgemeinen 
diagnostisch irrelevant sein, so weisen doch die psychoplastischen 
Einschläge bei besonderer Ausprägung und großem Umfang auf 
das Vorliegen funktioneller, speziell konstitutiver und psychogener 
Störungen hin, und die Tatsache der weitgehenden Symptomen- 
und Verlaufspsychoplastik (wie übrigens der ausgesprochenen 
Psychoprovokation) kann dann ausschlaggebende diagnostische 
Bedeutung bekommen, also beispielweise bei einem unklaren, 
deliranten oder anderen Zustande die Entscheidung für Hysterie 
und gegen Epilepsie und Schizophrenie geben. 

Auf der andern Seite ist aber daran festzuhalten: mit dem 
Nachweis des eigentlichen pathogenen Faktors ist über die klinische 
Zugehörigkeit des betreffenden Falls zu bestimmten — etwa 
organischen, exogenen usw. — Krankheitstypen entschieden, und 
diese Entscheidung kann durch den weiteren Nachweis selbst 
weitgehender psychoplastischer Gebilde nicht mehr in Frage ge¬ 
stellt werden. Auch der eben vollzogene Rückschluß von dem 
Vorliegen in Umfang und Ausprägung ungewöhnlicher psycho¬ 
plastischer Momente auf das Bestehen einer funktionellen und 
speziell psychogenen Störung ist nur und nur solange gestattet, 
als in andere Richtung weisende Merkmale pathogenetischen Cha¬ 
rakters ausgeschlossen sind. 

Durch solche Erwägungen ist dann auch der Standpunkt 
gegenüber etwaigen Aufstellungen neuartiger Krankheitstypen 
gegeben. Solche erscheinen nur berechtigt, wenn ihre Sonderart 
einwandfrei auf pathogenetische Momente zurückzuführen ist. 
Gegen die klinische Selbständigkeit von Krankheitsbildem, die 
lediglich pathoplastisch abzuleiten sind, müssen entschiedene 
Zweifel erhoben werden, mögen sie auch in Symptomen und Ver¬ 
lauf noch so eigenartig erscheinen. Sie können dann bestenfalls 


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Der Aufbau der Psychose. 


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nur den Rang von Varietäten, von Krankheitsspielarten in An¬ 
spruch nehmen. Sind die Verhältnisse bezüglich der Pathogenese 
überhaupt noch unentschieden, so ist auch die klinische Sonder¬ 
stellung der Krankheitsform noch ungesichert. Überlegungen 
dieser Art kämen u. a. auoh für den als psychogene Sonderform 
herausgehobenen Begnadigungswahn der Lebenslänglichen oder 
den Verfolgungswahn der Schwerhörigen in Frage, solange bei 
manchen der hierher gerechneten Fälle die Möglichkeit noch 
offen bleibt, daß es sich nicht um neuartige psychogene Störungen, 
sondern um bloße psychoplastische Modifikationen feststehender 
Krankheitstypen, also etwa um Spätkatatonien oder Involutions¬ 
psychosen mit psychoplastisch von Milieu und Situation bestimmter 
Symptomatologie handelt. 

Im übrigen erfordert — um auch darauf noch einmal kurz 
zurückzukommen — die Notwendigkeit einer rein pathogeneti¬ 
schen Ableitung echter Krankheitstypen durchaus nicht etwa, 
daß nun alle charakteristischen Krankbeitsbestandteile einheitlich 
pathogenetisch festgelegt sein müssen. Die Tatsache der 
polygenen und heterogenen Zusammensetzung von 
Krankheitsfällen und Typen durchzog die ganze obige Aufbau¬ 
betrachtung, und selbst der Zusammenschluß organisch bedingter 
und funktioneller Erscheinungen in einem Krankheitsrahmen 
etwa bei senilen Störungen bot kein Hindernis für ihre Aner¬ 
kennung als echte Krankheitstypen. Man braucht daher auch 
dem Standpunkt Aschaffenburgs , wonach die Geschlossenheit 
eines Krankheitstypus unvereinbar sei mit dem Auftreten von 
der Krankheit wesensfremden Erscheinungen durchaus nicht so 
bedingunglos, wie eigentlich zu erwarten, beizupflichten. Die 
pathogenetische Einheitlichkeit aller Krankheitsmerkmale mag 
Voraussetzung für einen idealen Krankheitstyp sein, für eine 
echte oder wenigstens für eine praktische Krankheitseinheit ist 
sie es jedenfalls nicht. Wäre diese Homogenie der Krankheits¬ 
elemente Bedingung, so wäre jedenfalls das Suchen nach echten 
Krankheitstypen ein ziemlich eitles Bemühen. 

Die Aufbaumomente und speziell wieder die Beziehungen 
zwischen pathogen und pathoplastisch spielen schließlich auch 
in die grundsätzliche Auffassung von Krankheitsfamilien und 


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Birnbaum, 

-Varietäten mit hinein. Als selbstverständlich muß zunächst 
auch hier wieder gelten, daß die pathogenetische Übereinstimmung 
allein das Bindeglied für natürliche Kran^heitsfamilien abgibt, 
und daß lediglich pathoplastische Übereinstimmungen, selbst wenn 
sie zu ganz umfassenden Symptomen- und Verlaufsgemeinsamkeiten 
führen, die Vereinigung zu einer klinischen Gruppe noch nicht 
rechtfertigen. Damit ist beispielweise auch zur Genüge gesagt.’ 
wie man sich zu den schon:wiederholt herangezogenen chronisch 
progressiven, systematisierenden Wahnbildungen ohne Defektaus¬ 
gang zu stellen hat. Daß es insbesondere für ein reinliches 
klinisches Empfinden nicht angeht, pathogenetisch nachweislich 
verschiedene Fälle dieser Art auf schizophrenem, paraphrenem. 
paranoischem Boden wegen der weitgehenden äußeren Überein¬ 
stimmung in innere Wesensverbindung zu bringen und ohne 
weiteres fließende Übergänge zwischen ihnen anzuerkennen. Daß 
Krankheitsgruppen nach Art der Schwangerschaft?-, Wochenbetts-. 
Gefängnispsychosen kaum irgendwelchen klinischen Wert als 
Krankheitsgruppen aufweisen, so lange das namengebende Moment 
an den einzelnen Krankheitsfällen in wechselnder Weise beteiligt 
ist — bald pathoplastisch, bald provozierend, bald nur prädisponie¬ 
rend usw. —, ist zu selbstverständlich, als daß es mehr als eine 
bloße Erwähnung verdient. 

Kann für die Aufstellung von Krankheitsfamilien nur das 
pathogene Moment bestimmend sein, so muß man für die Krank- 
heitsspielarten auch das pathoplastische daneben gelten lassen. 
Durch diese Heranziehung der verschiedenen Aufbaudeterminanteo 
kommt dann eine ziemliche Variabilität in die einzelnen Typen 
hinein, die um so größer zu sein pflegt, je umfassender der Auf¬ 
bau ist, und je mehr vor allem pathoplastische Faktoren mit¬ 
sprechen. Speziell bei den konstitutiven und psychogenen Störungen 
bringt es die ausgesprochene psychoplastische Zugänglichkeit neben 
anderen Gründen mit sich, daß diese Formen gegenüber den 
anderen sich durch eine besondere Variationsfähigkeit und Va¬ 
riationsbreite und damit eine besondere Fülle von Spielarten 
auszeichnen. 

Da im übrigen neben den pathoplastisch bedingten Spiel¬ 
arten natürlich auch die pathogenetisch bedingten in Betracht 


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Der Aufbau der Psychose. 


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kommen, kann die verschiedene klinische Wertigkeit von pathogen 
und pathoplastisch auch für die Bewertung der Varietäten nicht 
belanglos bleiben. Erforderlich wird die grundsätzliche Ausein¬ 
anderhaltung von Spielarten höherer und niederer Ordnung, 
je nachdem sie, durch Varianten des pathogenen Agens selbst 
gegeben, an den allgemeinen Grundformen vor sich gehen oder 
aber, lediglich durch pathoplastische Abwandlungen bedingt, sich 
im wesentlichen nur auf die Spezialausgestaltung beschränken. 
Daß Änderungen des pathogenen Agens in Qualität, aber auch 
in Intensität, Dauer, Umfang usw. recht tiefgehende klinische Va¬ 
rietäten zustande bringen können, beweisen mancherlei klinische 
Ergebnisse, beispielweise im Bereich der exogenen Psychosen, 
wo ja nach der verschiedenen Stärke der Hirnschädigung ganz 
gegensätzliche, teils homonome, dem Hirnmechanismus wesens¬ 
gemäß, teils heteronome, dem natürlichen psychischen Geschehen 
fremde Syndröme auftreten (Kleist), oder wo je nach der ver¬ 
schiedenen Dauer der Einwirkung teils unspezifische Störungen 
(bei akuter), teils spezifische (bei chronischer) sich einstellen 
(Jelgersma). Und daß umgekehrt die pathoplastischen und zumal 
psychoplastischen Unterschiede vielfach klinisch ungleich unwesent¬ 
lichere Varietäten ergeben, darauf weist schon die Erfahrung hin, 
daß diese Spielarten in fließenden Übergängen zu den Individual¬ 
fällen mit ihren fallweise variierenden Typusausgestaltungen hin¬ 
überführen. 

Endlich wird man auch bei den sonstigen klinischen Vari¬ 
anten — den vom Typus sich entfernenden atypischen Fällen 
ijnd den andern Typen sich nähernden „Übergangs- und 
Mischfällen“ — gleichfalls die grundsätzliche Klarstellung, ob 
pathogenetisch oder -plastisch bedingt, nicht entbehren können. 
Daß auch hier die pathoplastischen Faktoren (Konstitution usw.) 
sehr ins Gewicht fallen können, dafür spricht beispielweise die 
schon früher herangezogene Tatsache der durch die degenerative 
Konstitution modifizierten und komplizierten Krankheitsbilder: 
Psychosen der russisch-jüdischen Bevölkerung und dergl. Dafür 
weiter die speziell von Oaupp betonte Komplizierung des klinischen 
Bildes durch die geistige Struktur des Erkrankten, die hohe Be¬ 
teiligung der oberen Stände mit ihrem reicheren Seelenleben an 


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Birnbaum, 


den ganz unklaren, überraschend verlaufenden, nicht diagnostizier¬ 
baren Fällen. Diese Erkenntnis, daß so manche atypische Krank¬ 
heitsfälle lediglich auf gewisse Besonderheiten^ihrer Aufbaudeter¬ 
minanten zurückzuführen sind, dürfte, wenn nichts Besseres, so 
wenigstens das eine Gute haben, daß sie einer zu weitgehenden 
Neigung zur klinischen Aufsplitterung von Krankheitsformen und 
-Spielarten ein Halt zuruft. 

Selbstverständlich birgt das Aufbauprinzip bei unkritischer 
oder einseitiger Anwendung auch Gefahren in sich, und speziell 
die Gefahren einer Übertreibung für die klinische Systematik 
dürfen nicht übergangen werden. Sie liegen im wesentlichen in 
der Richtung einer weitgehenden Auflösung der Krankheitstypen 
als pathogenetischer Einheiten. An dem einen Ende steht die 
Individualpsychose: in ihrer Besonderheit nur einmal ver¬ 
treten, in ihrer Form nur einmal gegeben, stellt sie lediglich das 
Aufbauprodukt aus den verschiedenen inneren und äußeren indi¬ 
viduellen Determinanten — Konstitution, Alter, Geschlecht, Cha¬ 
raktereigenart auf der einen, äußere Noxen, 1 Milieu, Situation, 
Erlebnisse usw. auf der andern Seite — dar. An dem andern 
Ende — im Grunde zugleich mit ihr gegeben — steht die Ein¬ 
heitspsychose. Ihrem Wesen nach völlig amorph und unbe¬ 
stimmt, ist sie die allgemeine Resultante aus dem Zusammen¬ 
wirken einer allgemeinen Prädisposition zur Geisteskrankheit von 
innen und irgendeines provozierenden Momentes von außen, wobei 
erst die individuell wechselnden sonstigen Aufbaudeterminanten 
ihr prägnante Züge verleihen 1 ). 

Das ist gewiß zu weit gegangen. Immerhin scheint mir eine 
Fragestellung von nicht so weitgehender Einseitigkeit wenigstens 
der Nachprüfung wert. Kommen psychische Krankheitszustände 
vor, etwa Depressionszustände, die in der Hauptsache einfach als 
das Ergebnis eines unglücklichen Zusammentreffens und Zusammen- 
• wirkens verschiedener unspezifischer äußerer und innerer Momente 
— körperliche Schwächung, seelische Erschütterungen, besondere 

x ) Die Neumannsche Einheitspsychose, aus der Auffassung heraus¬ 
gebildet, daß die verschiedenen Krankheitsformen nur verschiedene 
Stadien ein und desselben Krankheitsprozesses sind, ist natürlich etwas, 
ganz anderes. 


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Der Aufbau der Psychose. 


501 


— nicht abnorme — psychische Individualität usw. — anznsehen 
sind, ohne daß man dabei ein bestimmtes Einzelmoment als 
das pathogenetisch wirklich ausschlaggebende ansprechen darf? 

Im übrigen scheinen mir Anschauungen, die sich in dem hier 
angedeuteten allgemeinen Kreise bewegen, der modernen Psychiatrie 
überhaupt nicht ganz fremd zu sein. So spielt beispielweise in 
den Bleulerschen Hinweis, daß die Begleitpsychosen, die sich 
neben der Schizophrenie in den Sippen Dementia praecox-Kranker 
finden, Äußerungen von Komponenten oder Komponentenkombina¬ 
tionen sein könnten, die in andrer Gruppierung die Dementia 
praecox bilden, doch wohl die (von ihm selbst übrigens abgelehnte) 
Anschauung einer Erbeinheitspsychose beziehungsweise einer 
konstitutiven Einheitspsychose hinein. Wenn nun Hinrichsen gar 
die Meinung ausspricht, daß „je nach den Resistenzen in einem 
psycho-zerebralen System bei wahrscheinlich gleichem Grund¬ 
prozeß manisch-depressive oder typische Dementia praecox-Symp- 
tome in Erscheinung treten können“ 1 ), das heißt also, falls ich 
recht verstehe, daß letzten Endes zwei grundsätzlich so verschiedene 
Typen wie die schizophrenen und manisch-depressiven nur kon¬ 
stitutiv bedingte Varietäten des gleichen Krankheitsprozesses be¬ 
deuten, so scheint mir dies allerdings in seinen Konsequenzen 
ein vernichtender Vorstoß gegen unser ganzes klinisch-psychiatri¬ 
sches System, dessen Berechtigung noch eines eindeutigen Nach¬ 
weises bedarf. 

% 

Weniger weit getrieben und zum mindesten leichter dis¬ 
kussionsfähig erscheinen noch gewiß andere Ableitungen aus der 
Aufbaubetrachtung. Sie lassen wenigstens einige pathogenetisch 
festgelegte einfache klinische Grundformen eines Typus gelten, 
fassen aber alle sonstigen und insbesondere die komplizierteren 
psychotischen Begleiterscheinungen als pathoplastische Äußerungs¬ 
formen dieser Grundform auf. Das heißt also, wie früher schon 
angedeutet, auf die Paralyse oder Schizophrenie angewandt: die 
„blande“ dementive Form stellt den eigentlichen spezifischen Krank¬ 
heitstyp dar, die verschiedenen psychotischen Spezialformen — 
manische, depressive bei der Paralyse, paranoide bei der Schizo- 

Briefliche Mitteilung. 


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■502 


Birnbaum, Der Aufbau der Psychose. 


phrenie usw. — dagegen lediglich pathoplastische Abwandlungen 
dieses pathogenetischen Typs. Die klinische Erfahrung, die den 
pathogenetischen Ursprung der verschiedensten, oft recht kom¬ 
plizierten, prozeßpsychotischen Gebilde nachweist, widerlegt die 
durchgängige Anwendbarkeit dieser Anschauung, die eine enorme 
"Vereinfachung der klinischen Systematik bedeuten würde. 

Übrigens drängt die bisher durchgeführte Vereinfachung der 
klinischen Gruppenbildung, wie sie in der Vereinigung der ver¬ 
schiedensten Bilder in den großen allgemeinen Krankheitsgruppen 
der schizophrenen, manisch-depressiven Psychosen usw. zum 
Ausdruck kommt, drängt, sage ich, von .sich aus auf 'die Not¬ 
wendigkeit hin, vermittelst der Aufbauanalyse ein Verständnis für 
die zahlreichen variierenden Gestaltungen im Rahmen dieser 
umfassenden Krankheitskreise zu gewinnen. Deswegen scheint 
mir auch die vielgeschmähte Tendenz der „großen Töpfe“ die 
klinische Psychiatrie durchaus noch nicht, wie es immer hin¬ 
gestellt wird, zu völliger wissenschaftlicher Unfruchtbarkeit zu 
verurteilen — eine Tendenz, die im übrigen über Lob und Tadel 
völlig erhaben ist, sofern sie nur wissenschaftlich genügend be¬ 
gründet ist. 

Die allgemeine Bedeutung des Aufbauprinzips im klinischen 
Bereich bleibt aber von allem Für und Wider unberührt bestehen. 
Es lenkt die klinische Betrachtung von den äußeren Er¬ 
scheinungen und Merkmalen weg auf die inneren Strukturver¬ 
hältnisse hin. Es differenziert die Krankheitsbestandteile nach 
ihrer klinischen Wertigkeit, bringt neben den grundlegenden 
spezifischen auch die sozusagen „außerwesentlichen“ gebührend 
zur Geltung und erleichtert damit die richtige klinische Zu- und 
Einordnung. Es läßt beim Individualfall alle ihm individuell 
zugehörigen Elemente in allen ihren inneren und äußeren Be¬ 
ziehungen erschöpfend erfassen, und es tritt hinsichtlich des 
Krankheitstypus vor allem jener zu schematischen Auffassung 
entgegen, die in den Krankheitsformen durchaus unverrückbare, 
unwandelbar feststehende pathologische Einheiten sehen will. 
Damit ergeben sich aber vom Aufbau aus vielfache Ausgangs¬ 
punkte für eine vertiefte Grundlegung und eine schärfere Aus¬ 
gestaltung des klinischen Systems. 


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Über einige neuere Ergebnisse von Spirochäten¬ 
untersuchungen bei der progressiven Paralyse \ 

Von 

F. Jahnel. 

Wenn auch die Erkenntnis eines Zusammenhanges der Para¬ 
lyse mit der Syphilis schon über 60 Jahre alt ist und durch neuere 
Erfahrungen im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts immer mehr 
an Wahrscheinlichkeit gewonnen hatte, so hat sie doch erst eine 
festere Gestaltung und Bedeutung erhalten durch die Entdeckung 
Noguchis. Noguchi konnte den Nachweis erbringen, daß die 
Paralytiker, wie man schon früher auf Grund des positiven Aus¬ 
falls der Wassermann-Reaktion und anderer Anzeichen vermutet 
hatte, noch,Träger von lebenden und virulenten Syphiliserregern 
sind, und daß die Spirochäten in dem erkrankten Zentralnerven¬ 
system selbst vorhanden sind. Die Angaben Noguchis haben im 
Verlauf der letzten Jahre mehrfache Bestätigungen erfahren. 
Immerhin ist es bis heute niemandem gelungen, den Spirochäten¬ 
nachweis in allen Paralysefällen zu erbringen. Ich habe bereits 
in einer früheren Arbeit die Gründe auseinandergesetzt, wieso ein 
regelmäßiger Spirochätennachweis bei der Paralyse nicht gelingt, 
und habe dabei auf die örtlichen Verschiedenheiten in der Aus¬ 
breitung der Krankheitserreger in den einzelnen Fällen, ihr Vor¬ 
kommen in bienenschwarmartigen, mehr oder weniger scharf 
umschriebenen Herden hingewiesen und habe auch eine in ge¬ 
wissen Zeiträümen periodisch erfolgende Zu- und spätere Abnahme 
der Parasitenzahl angenommen. Was diese letztere Annahme 
anbetrifft, so habe ich mich auf Beobachtungen bei paralytischen 

*) Aus der psychiatrischen Universitätsklinik zu Frankfurt a. M.; 
Direktor Geheimrat Professor Dr. Sioli. 


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504 


J ahnel. 


Anfällen, wo fast regelmäßig zahlreiche Parasiten nachweisbar 
sind, bezogen und habe vor allem dabei eine biologische Eigen¬ 
tümlichkeit, die sämtlichen pathogenen Spirochäten zukommt, 
auch für den speziellen Fall der paralytischen Erkrankung an¬ 
genommen. Es handelt sich um die Tatsache, daß bei allen als 
Krankheitserreger wirksamen Spirochäten die Vermehhing der 
Krankheitskeime periodenweise erfolgt, und daß die Perioden des 
plötzlichen enormen Anschwellens der Parasitenzahl getrennt sind 
durch parasitenfreie oder richtiger gesagt parasitenarme Intervalle, 
durch Zeiträume, in denen die Krankheitskeime in einer so ge¬ 
ringen Zahl vorhanden sind, daß man sie mit gebräuchlichen 
mikroskopischen Methoden nicht nachweisen kann. Daß sie aber 
auch in den Intervallen nicht völlig aus dem Organismus ver¬ 
schwunden sind, beweist das spätere Auftreten eines Rezidivs 
sowie einzelne experimentelle Beobachtungen, die in solchen Inter¬ 
vallen mit Überimpfung großer Blutmengen gemacht worden sind. So 
finden wir bei allen durch Spirochäten verursachten Krankheiten, bei 
dem Rückfallfieber, der Weilschen Krankheit und auch bei den Er¬ 
scheinungen der Syphilis in früheren Krankheitsperioden, die Eigen¬ 
tümlichkeit des schubweisen Auftretens der Krankheitserscheinungen 
und der Krankheitskeime im Organismus deutlich ausgeprägt. Von 
anderen Autoren haben namentlich Lcvaditi, A. Marie und Ban- 
Icowski die Annahme eines schubweisen Auftretens der Spirochäten 
in paralytischen Gehirnen auf Grund eigener umfassender Unter¬ 
suchungen schon vor mir gemacht und die Spirochätenschübe in 
paralytischen Gehirnen verglichen mit der schubweise auftretenden 
Haut- und Schleimhäute-Erkrankung in der Sekundärperiode der 
• Syphilis. Da nach meiner Ansicht die Unmöglichkeit des Spiro¬ 
chätennachweises in allen paralytischen Gehirnen vor allem be¬ 
gründet ist in der Begrenztheit der Arbeitskraft des Untersuchers, 
erscheint die Annahme durchaus berechtigt, daß die 
Spirochäten wohl in allen Fällen von Paralyse im Ge¬ 
hirn vorhanden sind, wenn wir sie auch nur in einem 
Teil der Fälle nachweisen können. 

So fand Noguchi Spirochäten in Schnittpräparaten in y 4 seiner Fälle, 
Förster und Tomasczewski bei Untersuchungen lebender Paralytiker durch 
die Hirnpunktion in 44% der Fälle, Levaditi, A. Marie und Bankowski 
bei in paralytischen Anfällen Verstorbenen in 90%, ich selbst bei Unter- 


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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersnchungen usw. 505 

suchung des frischen Paralytikerleichengehirns ohne Auswahl der Fälle 
im Dunkelfelde in 50%, in Schnittpräparaten in 25%, und kürzlich ist es 
F. Sioli gelungen, den Spirochätennachweis in Schnittpräparaten in 50% 
der Fälle zu erbringen. Wenn ich früher die ParalysefäHe eingeteilt habe 
in solche mit und ohne Spirochäten, so erscheint eine solche Scheidung 
durchaus willkürlich und nicht ganz den tatsächlichen Verhältnissen ent¬ 
sprechend. Es gibt nämlich eine nicht geringe Zahl von Paralysefällen, 
bei denen man erst nach längerem, oft stundenlangem Suchen sehr spär¬ 
liche Parasiten findet, bei denen man sich mitunter sogar mit einer einzigen, 
sicher nachgewiesenen Spirochäte begnügen muß. Es liegt auf der Hand, 
daß in derartigen Fällen der Spirochätennachweis ganz außerordentlich 
vom Zufall abhängig ist. Andrerseits ist die Möglichkeit nicht von der 
Hand zu weisen, daß man in Fällen von völlig negativem Spirochäten¬ 
befund doch einzelne Parasiten aufgefunden hätte, wenn man länger 
gesucht oder andere Hirnstellen zur Entnahme des Materials gewählt 
hätte. Demnach scheint es mir den tatsächlichen Verhältnissen viel besser 
zu entsprechen, wenn man die Fälle mit nur ganz vereinzelten Spirochäten 
und diejenigen, bei denen der Parasitennachweis nicht gelungen ist, in 
eine Gruppe zusammenfaßt und derselben die Fälle mit stärkeren und 
ausgebreiteteren Spirochätenansammlungen gegenüberstellt. Unter letzte¬ 
ren verstehe ich solche Fälle, bei denen die Dunkelfelduntersuchung an 
mehreren Stellen der Hirnoberfläche einen positiven Spirochätenbefund 
ergibt. In solchen Fällen ist der Spirochäteunachweis unabhängig von der 
Übung und Ausdauer des Untersuchers. Jeder, der die Technik der Spiro¬ 
chätenuntersuchung beherrscht, muß in solchen Fällen zu einem positiven 
Ergebnis gelangen. 

Unsere wichtigste Aufgabe besteht zunächst nicht darin, den 
Parasitennachweis in allen Fällen zu erstreben, sondern in der 
Ermittlung möglichst zahlreicher Einzeltatsachen über die Lokali¬ 
sation der Spirochäten in den erkrankten Gewebsteilen und etwaiger 
Beziehungen zu diesen und der Bedingungen, unter welchen die 
Krankheitskeime im Zentralnervensystem auftreten, bezw. sieb 
vefmehren. Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, daß 
das spirochätenhaltige Paralytikergehim eine wahre Fundgrube 
von neuen und interessanten Tatsachen ist, deren Deutung uns 
allerdings noch mancherlei Schwierigkeiten bereitet, und deren 
Bedeutung noch in vieler Hinsicht dunkel ist. 

Was die Verteilung der Spirochäten in den paralytischen 
Gehirnen anbelangt, so habe ich schon früher zwei Haupttypen 
unterschieden, nämlich das Vorkommen der Spirochäten in mehr 
oder weniger scharf umschriebenen Herden, aus einer Anzahl 


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506 


J a h n e 1, 


* 


dicht aneinandergedrängt liegender Einzelindividoen bestehend, 
und ferner den am häufigsten vorkommenden Typus der diffusen 
Verteilung der Parasiten, bei welchem die einzelnen Individuen 
in mehr oder weniger großen Abständen voneinander liegen. Der 
Ausdruck diffus ist insofern nicht ganz zutreffend, als auch bei 
diesem Typus die Verteilung der Parasiten keine regelmäßige ist, 
etwa derart, daß auf dem gleichen Rauminhalt immer die gleiche 
Spirochätenzahl käme, sondern es sind, abgesehen von den nicht 
seltenen Ubergangsbildern und Kombinationsformen mit dem Typus 
der herdförmigen Verteilung, die in Abständen liegenden Spiro¬ 
chäten meist so angeordnet, daß eine Stelle einer Windung be¬ 
sonders stark von ihnen befallen ist, während sie an der ent¬ 
gegengesetzten Partie des Schnittes nur in einzelnen Exemplaren 
Vorkommen oder ganz fehlen. Immerhin pflegt man in Fällen, 
welche den geschilderten Typus am reinsten zeigen, in allen oder 
fast allen Hirnwindungen, namentlich der vorderen Hirnpartien, 
Spirochäten anzutreffen. Es ist vielleicht zweckmäßig, das Beiwort 
„diffus“ 'durch die die Regellosigkeit der Verteilung besser zum 
Ausdruck bringende Bezeichnung „disseminiert“ zu ersetzen und 
von einem Typus der disseminierten Spirochätenverteilung 
zu sprechen. 

Heute bin ich in der Lage, den geschilderten zwei Typen einen 
weiteren Typus der Spirochäten Verteilung hinzuzufügen, den vasku¬ 
lären Typus, wie ich ihn vorläufig nennen möchte. Bei diesem 
sind vorzugweise die Gefäße der Hirnrinde von den Spirochäten 
befallen. 

* 

Nicht alle Gefäße weisen Spirochäten in der noch näher zu 
schildernden Anordnung auf, sondern es sind meistens die Gefäße 
in einem herdförmigen Bezirk von Spirochäten durchsetzt und zwar 
in der Weise, daß an einer solchen Stelle alle Gefäße außerordent¬ 
lich große Mengen von Spirochäten in ihren Wänden enthalten. 
Zumeist handelt es sich um Kapillaren, welche von der Parasiten¬ 
invasion heimgesucht sind. Aber auch größere Gefäße, Venen 
sowohl wie Arterien, zeigen zum Teil eigentümliche Parasitenmäntel, 
zum Teil sind sie auch in gleicher Weise in ihren Wänden von den 
Spirochäten durchsetzt. Die Spirochäten liegen in dichten Massen 
in den Gefäßwänden zum Teil in Längs-, zum Teil in querer Rieh- 


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über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 507 


tung angeordnet; anch perivaskulär liegen dichte Massen von 
Spirochäteif, die das Gefäß mantelartig umgeben. Schon bei 
schwächerer Vergrößerung heben sich diese Gefäße durch ihre 
schwarze Farbe von anderen, die nicht in solcher Weise von den 
Spirochäten befallen sind, deutlich ab. Bei Immersionsvergrößerung 
erscheinen die Gefäße ebenfalls tiefschwarz; sieht man genauer hin 
und läßt man die Mikrometerschraube spielen, dann erkennt man, 
daß die schwarzen Massen zusammengesetzt sind aus einer Unzahl 
von dicht aneinandergelagerten Spirochäten, und daß nicht etwa, 
wie es bei oberflächlicher Betrachtung scheinen könnte, Bestand¬ 
teile der Gefäßwände sich mit Silber schwarz gefärbt oder Silber¬ 
niederschläge sich an diesen Stellen gebildet haben. Das da¬ 
zwischen liegende Parenchym ist nicht ganz parasitenfrei, jedoch 
ist die Zahl der im nervösen Gewebe selbst liegenden Spirochäten 
geringer. Sie ist am größten in der Nachbarschaft der Gefäße 
und namentlich solcher, welche die geschilderten perivaskulären 
Parasitenmäntel aufweisen. Hingegen ist die Zahl der im Bereich 
des nervösen Parenchyms liegenden Parasiten an jenen Punkten 
am kleinstei#, welche von den Gefäßen am weitesten entfernt 
sind. An manchen Stellen zeigen fast ausschließlich die Gefäße 
die starke Parasiteninvasion, an anderen Orten wieder sind, von 
den perivaskulären Spirochätenanhäufungen ausgehend, die Para¬ 
siten im nervösep Gewebe in solcher Zahl vorhanden, daß das¬ 
selbe mehr oder weniger vollkommen von ihnen durchsetzt er¬ 
scheint. Auf diese Weise kann es durch das Zusammenfließen 
von ursprünglich auschließlich perivaskulären Spirochätenansamm¬ 
lungen zu einem großen Herd von bienenschwarmartigem Cha¬ 
rakter kommen. Diese Beobachtungen legen die Annahme nahe, 
daß vielleicht manche Parasitenherde auf diese Weise entstanden 
sind, und in diesem Sinne scheint mir vor allem die Beobachtung 
zu sprechen, daß man an der Peripherie der Riesenherde, dort ' 
wo die Infiltration des nervösen Gewebes mit Parasiten aufhört, 
den vaskulären Typus der Spirochätenverteilung in mehr oder 
weniger reiner Form antrifft. 

Bei Kapillaren sind alle Schichten der Gefäßwand in gleicher 

Weise von den Parasiten durchsetzt. Nähere Beziehungen der 

Spirochäten zu den einzelnen Gefäßwandelementen lassen sich 

U 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/6. 36 


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508 


Jahnel, 


f 


schwer feststellen, da zumeist die Parasitenzahl so groß ist, daß 
die einzelnen Gefäßwandelemente nicht deutlich zu erkennen sind, 
und daß man auch in dem dichten Parasitengewirr vielfach die 
Leiber der einzelnen Spirochätenindividuen nicht voneinander zn 
trennen vermag. Manchmal kann man die einzelnen Gefä߬ 
wandelemente überhaupt nicht erkennen, und die Gefäße erscheinen 
dann wie schwarze, aus lauter zusammengepreßten Spirochäten 
bestehende Röhren. 

Man sieht Bilder, bei denen Spirochäten mit einem Teil 
ihres Körpers in das Gefäßlumen hineinragen, nicht selten. 
Ebenso kann man sehr häufig beobachten, daß in den Gefä߬ 
wänden verankerte Spirochäten mit einem Teil ihres Körpers im 
nervösen Parenchym liegen. 

Auch in den Gefäßbrücken, die zwei Gefäße miteinander 
verbinden und die sich auch bei der Spirochätenfärbmethode 
durch ihre braune Farbe vom Untergründe deutlich abheben, 
findet) man Spirochäten, deren Längsrichtung mit der Richtung 
der Brücke .zusammenfällt. An der Ansatzstelle der Brücke füllen 
die Spirochäten den Ansatztrichter vollkommen aus und bilden 
einen mit den in den Gefäßwänden befindlichen Spirochätenmassen 
zusammenhängenden Parasitenkegel. 

Bei etwas größeren Venen, welche stärkere Infiltrate von 
Plasmazellen und Lymphozyten aufweisen, sieht man die Spiro¬ 
chäten häufig zwischen den Infiltratzellen liegen. Die Spirochäten 
durchsetzen sämtliche Schichten der Gefäßwand bis zur Intima. 
In seltsamer Weise kann es gerade in der Intima zu so starken 
Spirochätenansammlungen kommen, daß dieselbe sich tiefschwarz 
abhebt und gewissermaßen durch einen aus mehreren konzen¬ 
trischen Spirochätenlagen bestehenden Ring ersetzt zu sein scheint. 
Ich halte gerade diese Beobachtung für sehr wichtig, weil sie 
weit deutlicher und klarer, als man dies an den kleinen Gefäßen 
sehen kann, das Einwachsen und Einwandern der Spirochäten 
durch die Gefäßwand hindurch in die Blutbahn hinein zeigt. 

Wenn sich bei der Fixierung des Nervengewebes perivas¬ 
kuläre Räume bilden, So pflegt sich der perivaskuläre Spirochäten¬ 
reifen von dem betreffenden Gefäß loszulösen und den äußeren 
Rand des perivaskulären Raumes zu bilden. Zuweilen ziehen durch 


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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 509 

den freien perivaskulären Raum hindurch Spirochäten nach dem 
Gefäße zu. Diese Spirochäten weisen oft Zeichen von Verzerrung 
auf, indem ihre Windungen unregelmäßig oder zum Teil gestreckt 
sind. Die in den Gefäßwänden selbst verankerten Parasiten 
bleiben in der gleichen Lage, ganz unabhängig davon, ob sich um 
das betreffende Gefäß ein perivaskulärer Raum gebildet hat oder 
nicht. Die aus diehtgefügten Spirochätenleibern bestehenden 
Reifen — eigentlich müßte man sie als Röhren bezeichnen — 
können eine beträchtliche Dicke erreichen. In den inneren 
Schichten dieser Reifen erscheinen die Spirochäten so dicht in- 
einandergeflochten, daß man die einzelnen Individuen nicht von¬ 
einander trennen kann, ja sogar in diesen dichten Massen nicht 
einmal sehen kann, daß sie aus spiralig gewundenen Elementen 
bestehen. Deutlicher sieht man die einzelnen Elemente dieser 
Reifen in den peripheren Zonen, wo man die einzelnen Individuen 
bereits mehr oder weniger deutlich voneinander trennen kann. 
Wenn sich nicht um das ganze Gefäß, sondern nur um einen 
Teil desselben ein perivaskulärer Raum gebildet hat, so entspricht 
die Ablösung des Spirochätenreifens der Größe des gebildeten 
Sehrumpfraumes. Meist sind bei derartigen perivaskulären Para¬ 
sitenanhäufungen die Spirochäten in zirkulärer Richtung um das 
Gefäß angeordnet. An der Peripherie dieser Reifen nehmen aber 
auch einzelne Parasiten andere Richtungen ein, am häufigsten 
streben sie in radiärer Richtung vom Gefäße ab. Wenn zwei Ge¬ 
fäßquerschnitte nahebeieinander liegen, so ist der Zwischenraum 
zwischen diesen Gefäßen manchmal von parallel gelagerten Spi¬ 
rochäten erfüllt, und man gewinnt den Eindruck, als suchten die 
Spirochäten fischzugförmig durch die enge Stelle hindurchgu- 
schlüpfen. 

Der vaskuläre Typus zeigt eine Reihe von interessanten 
Eigentümlichkeiten. So sieht man manchmal im Verlauf eines 
Gefäßes die Spirochätenmäntel plötzlich oder allmählich aufhören. 
Im letzteren Falle in der Art, daß die sie zusammensetzenden 
Spirochäten immer mehr an Zahl abnehmen und lockerer gefügt 
sind, bis sie gänzlich verschwinden. Oder man findet sich ver¬ 
zweigende Gefäße, die nur an einzelnen Zweigen von Spirochäten 
besetzt sind. Diese Erscheinung tritt ganz regellos auf, ohne 

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510 


J^hnel, 


daß man eine Erklärung geben kann, weshalb die Spirochäten¬ 
infiltration sich nnr anf einzelne bestimmte Zweige eines Gefäßes 
beschränkt. Ja, man findet eine noch viel eigenartigere Erschei¬ 
nung: Es kommt nämlich vor, daß Venen, namentlich solche 
größeren Kalibers, nur zur Hälfte oder drei Vierteln ihres Um¬ 
fanges die perivaskulären Anhäufungen zeigen, während die 
andere Hälfte oder das andere Viertel des Gefäßumfangs keine 
oder nur sehr spärliche und locker gefftgte Parasiten auf weisen. 
Diese Erscheinung kann man außer an quergetroffenen auch an 
schräggetroffenen Venen vorfinden. Ein ähnliches Vorkommnis 
ist gelegentlich auch bei durch mehreren Schichten der Hirnrinde 
hindurchziehenden Venen gut zu sehen. Es sind dann nämlich 
solche Venen nur in bestimmten Schichten der Hirnrinde von 
Spirochätenmänteln umfaßt. 

Auffallenderweise ist, soweit meine bisherigen Beobachtungen 
ein Urteil gestatten, die vaskuläre Spirochätenanordnung niemals 
in den oberen Schichten der Hirnrinde anzutreffen, sondern meist 
in den mittleren Schichten der Hirnrinde. Auch in den tieferen 
Schichten findet man sie selten. Doch lassen sich bestimmte 
Regelmäßigkeiten der Ausbreitung der vaskulären Spirochäten¬ 
verteilung in der Tiefenrichtung der Hirnrinde nicht erkennen. 
Auch die Größe des Bezirkes, der dieses Phänomen aufweist, 
wechselt. Zuweilen ist nur ein kugelförmiger Bezirk betroffen, 
zuweilen sieht man an einer Windung an allen Gefäßen die ge¬ 
schilderten Erscheinungen. Es kommt auch vor, daß mehrere 
Herde von derartig befallenen Gefäßen regelmäßig abwechseln 
mit gleich großen Bezirken, in welchen die Gefäßwände und 
deren Umgebung vollständig parasitenfrei sind. 

Von Wichtigkeit erscheint mir folgende Beobachtung: Wo 
sich die vaskuläre Spirochätenanordnung in deutlicher 
Ausprägung vorfindet, ist ihr Vorkommen nicht auf 
einzelne Bezirke beschränkt, sondern der vaskuläre 
Verteilungstypus ‘findet sich in dem ganzen Gehirn 
festgehalten, wenn auch stellenweise ausschließlich oder da¬ 
neben die herdförmige oder disseminierte Verteilungsart vor¬ 
handen ist. Mit anderen Worten: Untersucht man von einem 
Gehirn, das den geschilderten Typus aufweist, mehrere Präparate 


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Über einige neuere Ergebnisse von Spirochätennntersnchnngen usw. 511, 

aus verschiedenen Hirnstellen, etwa aus verschiedenen Teilen der 
Stirn Windungen, der Zentralwindungen, der Schläfenlappen nsw., 
• so weist die Mehrzahl derselben in beiden Hemisphären den 
vaskulären Typus auf, gleichgültig aus welcher Hirnregion das 
Präparat entstammt. Freilich bestehen auch bei dem vaskulären 
Typus gewisse regionäre Unterschiede, was die Stärke der Para¬ 
siteninvasion in den einzelnen Hirnteilen anbelangt. Die Er¬ 
scheinung, daß die vorderen Himpartien von den Parasiten am 
stärksten heimgesucht werden, während die hinteren Himabschnitte, 
namentlich die Hinterhauptslappen, weit weniger von den Spiro¬ 
chäten ergriffen sind, trifft man atich beim vaskulären Typus an. 
Auch bei dem vaskulären Typus habe ich bisher keine Spiro¬ 
chäten in der weißen Substanz angetroffen. Die von mir unter¬ 
suchten Fälle enthielten, soweit meine Untersuchungen ein Urteil 
gestatten, auch keine Spirochäten in den perivaskulären Räumen 
der subkortikalen weißen Substanz. Ich erwähne dies- deshalb, 
weil es mir neuerdings gelungen ist, in einem Fall Spirochäten 
in den perivaskulären Räumen in der weißen Substanz nachzu¬ 
weisen, und weil mir das Vorkommen von Spirochäten in den 
perivaskulären Räumen der weißen Substanz eine interessante 
Tatsache zu sein scheint. 

Bei dem Typus der vaskulären Spirochätenverteilung, jedoch 
nicht [ausschließlich bei diesem, konnte ich ferner eine recht 
eigenartige Erscheinung beobachten. Es finden sich hier nämlich 
Spirochäten in der Zonalschicht der Hirnrinde, und zwar zum 
Teil unmittelbar unter der Pia, zum Teil in oder unter der gliösen 
Oberflächenschicht. Die Spirochäten sind hier nicht in großen 
Massen vorhanden, kommen aber doch an den verschiedensten 
Stellen ziemlich regelmäßig vor. so daß es sich hier nicht um 
eine Zufälligkeit, sondern nur um — wenigstens war dies bei 
den bisher von mir beobachteten Fällen der Fall — ein typisches 
Vorkommnis handeln kann. Bekanntlich ist in der Regel die 
oberste Rindenschicht bei der Paralyse spirochätenfrei. Die häu¬ 
figsten Ausnahmen von dieser Regel bestehen darin, daß an 
einzelnen Stellen einige Parasiten im Gegensatz zu ihrem ge¬ 
wöhnlichen Verhalten die Grenzlinie, welche an dem oberen 
Rande der zweiten Schicht verläuft, nicht einhalten, sondern auch 


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Tulm.'-lanjrc ! TO [»m, Balgauszug 40, Proj.-Ok. J. 
aßt?. Ausschnitt aus einer Zone des vaskulären 
Verteilungstyjms. 


Fig. S. Zeiss Aporhrom 2 mm. Ttlliijslünge 170 mm* Haigauszug 40. Proj.-Ok. 4 
Spirorhiut’ii in einer Y£tUttt*;&od, 


3 GO 


• Original frem'' 

UWIVE-RSiTY QFM(CHS6AN 





Fig. 3 Zaiss' Apochrom 2 mm. Tttfeuslängc 170 min, Balgaaszug Ott Proj.*Ok. 4. 
Perivaskulärer SinrochätenieilYn. der sich teilweise unter Bildung von 

Schrumpfräutnen abgelöst hat 


, 

' • § 

Fig. f. Zeiss- Apochrora 2 tnjri, Tiibtislartga 170 mm, B$lgao*ziig ßft Prbj.-Ok. 

-m SpiiochuteuabUaaseholleü. 

Digtet^CO öle QTigir.at'fron 

s ,VjU ö qNIVERSITY OF. MICHIGAN 



514 


Jahnel, 


in die erste Schicht der Hirnrinde einwandem. Wenn dies der 
Fall ist, so findet man zumeist Spirochäten in den tieferen 
Schichten der Hirnrinde in größerer Zahl, anch in der zweiten 
Schicht sind sie meist sehr reichlich anzutreffen; in der Neuro- 
gliaschicht sind sie selten und bevorzugen den unteren Teil der¬ 
selben, kommen jedoch anch in der obersten Zone, unter 
Umständen direkt nnter der Pia, zuweilen zur Beobachtung. Ge¬ 
wöhnlich ist, wie bereits erwähnt, das Vorkommen von Spiro¬ 
chäten in der obersten Rindenschicht an einzelne Stellen ge¬ 
bunden und kommt nicht wie beim vaskulären Verteilungstypus 
der Spirochäten in einem größeren Bezirk der Himoberfläche als 
eine regelmäßige Erscheinung vor. Wir haben es demnach mit 
einem durchaus typischen und merkwürdigen Phänomen zu tun, 
das mir mit der vaskulären Spirochätenausbreitung in Beziehung 
zu stehen scheint. Ich will später versuchen, im Zusammenhang 
mit den übrigen Befunden diese Beobachtungen einer Deutung 
zu unterziehen. An dieser Stelle möchte ich jedoch einen weiteren 
hierher gehörigen interessanten Befund einfügen. In einem Falle 
von Paralyse, der im übrigen in den Ganglienzellschichten den 
Typns der disseminierten Spirochätenverteilung und außerdem 
stellenweise kleine Herde von bienenschwarmartigem Charakter 
aufwies, fand ich solche Spirochätenherde auch unmittelbar unter 
der Pia, und zwar waren in einem Schnitte mehrere solcher 
Herde vorhanden. Zwischen diesen subpialen Parasitenherden 
waren auch Spirochäten anzutreffen, die einzeln lagen und deren 
Richtung mit der Hirnoberfläche parallel war. Auch die mul¬ 
tiplen subpialen Spirochätenherde sind sicher kein Produkt dies 
Zufalls, sondern als durch eine gesetzmäßige Ausbreitung der 
Spirochäten in der subpialen Zone der obersten Rindenschicht 
bedingt anzusehen. 

Einmal sah ich von einer solchen Stelle aus einzelne Spiro¬ 
chäten in die Pia eindringen. Dies scheint jedoch ein seltenes 
Vorkommnis zu sein. Im allgemeinen beschränken sich die Spiro¬ 
chäten streng auf die subpiale Zonalschicht, liegen also unter der 
Membrana limitans superficialis, welche sie meist nicht durch¬ 
brechen. 

Wie bereits erwähnt, kommt der vaskuläre Typus der Spiro- 


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Über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchnngen usw. 515 

chätenaussaat gar nicht so selten zur Beobachtung. Wenn auch 
reine Fälle dieser Art nicht allzu häufig sind, findet man doch 
Andeutung der vaskulären Ausbreitung in vielen Gehirnen. 

Wie verhält sich nun in solchen Fällen der klinische Befund, 
der Krankheitsverlauf und der anatomische Hirnbefund? Wir 
wollen hier zwei typische und in ihrem parasitologischen Bilde 
gleichartige Fälle von rein vaskulärem Ausbreitungstypus der 
Spirochäten der Besprechung dieser Fragen zugrunde legen. 

Der erste Fall betrifft ein 36jähriges Mädchen, das nach den An¬ 
gaben ihrer Schwester früher im allgemeinen gesund, nur etwas nervös, 
immer gleich aufgebracht und heftig war. Sie hatte bis kurz vor ihrer 
Aufnahme in die Anstalt das Bäckereigeschäft ihres im Felde stehenden 
Bruders geführt, war immer sehr fleißig und ordentlich und hatte in der 
letzten Zeit keinerlei Nachlässigkeiten sich zuschulden kommen lassen. 
Die Erkrankung hatte ganz akut mit einem depressiven Stadium begonnen. 
Sie glaubte, daß sie und die Kinder ihrer Schwester verhungern müßten, 
daß die Welt zugrunde gehe; schließlich.hörte sie plötzlich zu arbeiten auf 
und versuchte sich mit einem Rasiermesser den Hals zu durchschneiden. 
Si>* brachte sich auch tatsächlich einen kleinen Schnitt bei und wurde 
auf Grund dieses Vorkommnisses in die hiesige Klinik eingewiesen. 

ln der Klinik machte sie einen deprimierten ,und gehemmten 
Eindruck, machte über ihre Personalien zutreffende Angaben, erwies sich 
zeitlich und örtlich orientiert. Den Selbstmordversuch motivierte sie da¬ 
durch, daß sie nichts mehr habe und ihre Familie unglücklich gemacht 
habe. Sie äußerte die Befürchtung, daß sie eingesteckt werde, und daß 
ihre Schwester verhungern müßte. Auf weitere Fragen antwortete sie 
kaum, erklärte, sie könne nicht sprechen, fing zu weinen an und lehnte 
schließlich die Beantwortung weiterer Fragen ab, mit der Begründung, 
daß sie tot sei und nicht mehr sprechen könne. Die körperliche Unter¬ 
suchung ergab eine oberflächliche, ca. 5 cm. lange Schnittwunde an der 
Kehle. Über allen Herzklappen war ein deutliches systolisches Geräusch 
zu hören. Die Pupillen reagierten deutlich. Die Patellarreflexe waren von 
normaler Stärke, es ließen sich auch keine Sensibilitätsstörungen nach- 
tveisen. Im weiteren Verlaufe ihrer Erkrankung war sie meist ängstlich, 
äußerte öfter die Befürchtung, daß sie sterben müsse, war besonders nachts 
sehr unruhig, erklärte, daß sie nicht in der Anstalt bleiben könne, weil sie 
kein Geld habe, um die Kosten zu bezahlen. Im August 1916 beruhigte 
sie sich etwas, zeigte aber ein stumpfes Verhalten und verunreinigte öfters 
ihre Kleider und ihr Betl. Am 4. Oktober 1916 wurde sie von ihren Ange¬ 
hörigen abgeholt. 

Am 25. Juni 1917 wurde die Kranke von ihren Angehörigen wieder 
in die Anstalt gebracht, weil sich ihr Zustand verschlimmert hatte. Sie 
war wieder unruhig geworden, hatte versucht» fortzulauten, so daß man 


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516 


Jahnel, 


die Tür zuschließen mußte. Auch zerriß -sie öfters ihre Kleider, zeitweise 
äußerte sie Größenideen, behauptete, sie sei eine Königstochter, alles sei 
ihr, alles sei von Gold. In der Anstalt war sie stumpf und widerstrebend, 
klagte, daß man ihr die Kleider genommen habe. Auch habe man ihr Geld 
weggenommen. Sie habe vop der Sparkasse sehr viel Geld gehabt, eine 
Million. Die Sprache war verwaschen und häsitierend, die Pupillen waren 
beiderseits gleich weit und starr. Die Patellarreflexe waren von normaler 
Stärke, beiderseits gleich. Es bestand kein Fußklonus, kein Babinski. Sie 
war meistens sehr unruhig, nahm anderen Kranken das Essen weg, ließ 
unter sich. Manchmal äußerte sie die Idee, daß sie vergiftet würde. Sie 
wurde zusehends stumpfer und auch körperlich hinfälliger. Kurz vor dem 
Tode hatte sich bei ihr ein Dekubitus am Kreuzbein entwickelt. Die 
Wassermannsche Reaktion war im Blut und Liquor stark positiv ausge¬ 
fallen, auch war im letzteren eine Zell- und Eiweißvermehrung. Die Kranke 
starb am 30. August 1917. Die Sektion ergab eine geringe Trübung und 
Verdickung der weichen Hirnhäute. Keine makroskopisch erkennbare 
Atrophie der Rinde, feine Granulationen des vierten Ventrikels. An den 
inneren Organen deckte die Sektion außer einem auffallenden Blutreichtum 
der Leber keinerlei gröbere krankhafte Veränderungen auf. 

Die Dunkelfelduntersuchung ergab bei diesem Falle außerordentlich 
zahlreiche Spirochäten in der ganzen Hirnrinde, besonders in beiden Stirn- 
und Schläfenlappen. Die Spirochäten waren jn ihrer Form wohl erhalten 
und im Zeitpunkte der Sektion, die 7 Stunden nach dem Tode erfolgt war. 
noch recht gut beweglich. Auch die mikroskopische Untersuchung des 
Zentralnervensystems ergab das Vorliegen einer progressiven Paralyse. 
Auffallenderweise waren jedoch die pathologischen Veränderungen recht 
geringfügige, was in* auffallendem Gegensatz zu dem Befund von zahl¬ 
reichen Spirochäten steht. Es zeigte sich, daß die Pia nur wenig verdickt 
war, und daß in ihr nur geringe Plasmazellenansammlungen zu finden waren: 
auch in den Lymphscheiden der Hirngefäße fand man keine dichten, aus 
Plasmazellen und Lymphozyten bestehende Infiltrationsmäntel, sondern 
es fanden sich nur hie und da einzelne Plasmazellen an den kleineren 
Hirngefäßen. Die Ganglienzellen zeigten Veränderungen meist chronischen 
Charakters, indessen war ihre Form und Anordnung noch einigermaßen 
erhalten, und stärkere Ausfälle waren nirgends bemerkbar. Entsprechend 
der Geringfügigkeit der anatomisch nachweisbaren Rindenerkrankung 
erwies sich auch die Glia nur in geringem Maße gewuchert, stellenweise 
fanden sich einzelne Stäbchenzellen. Im Markscheidenbild zeigte sich eine 
diffuse Lichtung der Markfasern. Trotz der Geringfügigkeit der ana¬ 
tomischen Veränderungen kann an der Diagnose der progressiven Paralyse 
in diesem Falle kein Zweifel bestehen. Es fanden sich in Schnittpräparaten. 
die nach dem Pyridinuranvorfahren vorbehandelt waren, außerordentlich 
zahlreiche Spirochäten an den verschiedensten Hirnstellen in typisch 
vaskulärer Ausbreitung. Stellenweise fanden sich auch Kombinationen 


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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchnngen usw. 517 

mit dem herdförmigen Typus und dem der disseminierten Ausbreitung 
der Parasiten. Auf die Einzelheiten der Beschaffenheit der vaskulären 
Spirochäten Verteilung in diesem Falle brauche ich nicht einzugehen, da 
ich sie schon bei der Beschreibung des vaskulären,Typus vorweggenommen 
habe. 

Fall 2. — Es handelt sich hier um einen 36jährigen früheren 
Krankenwärter. Die Krankengeschichte dieses Falles ist in klinischer 
Hinsicht sehr interessant, indem derselbe in jungen Jahren wegen hysteri¬ 
scher Anfälle und einer Reihe anderer hysterischer Störungen in der hiesi¬ 
gen Anstalt behandelt worden war. Eine erbliche Belastung war nicht 
nachweisbar. Der Kranke war jedoch als Kind schwer erziehbar, lernte 
schlecht in der Schule, schwänzte, verkaufte die Schulbücher, war außer¬ 
ordentlich verlogen, beging zu Hause und in der Markthalle viele Dieb¬ 
stähle. Er kam deshalb im 10. Jahre in eine Zwangserziehungsanstalt. 
Später hielt er es in keiner Lehrstelle aus und führte ein Vagabundenleben. 

Er geriet sehr häufig, meist wegen Diebstahls und Unterschlagung, mit 
dem Strafgesetz in Konflikt, und er ist nicht weniger als 15mal bestraft. 

Es ist nicht uninteressant, daß der Kranke bei einer früheren Aufnahme 
im Jahre 1901 die Erscheinungen des Ganserschen Symptomenkomplexes 
dargeboten hat. So behauptete er, 6 x 8 sei 47, 7 X 9 sei 56, 9 x 7 sei 54. 

Die Länge eines Kilometers gab er richtig mit 1000 m an, behauptete ' 
jedoch, daß man 2 Stunden daran gehe. Auch meinte er, der Main ent¬ 
springe im Spessart. Diese falsche Antwort ist deshalb besonders auf¬ 
fallend, weil der Kranke in Frankfurt aufgewachsen und in die Schule 
gegangen war und seine übrigen geographischen Kenntnisse durchaus 
nicht schlecht waren. Auch wurden bei dem Kranken wiederholt hysteri¬ 
sche Verwirrtheitszustände beobachtet, in denen er ängstlich schrie und 
tobte, jammerte, daß man ihm den Hals abschneiden wolle, indem er rief: 
„Da kommt der mit dem langen Messer.“ Am nächsten Tage war er 
wieder ruhig und klar und hatte für das Vorgefallene keinerlei Erinnerung. 

15 Jahre später, nämlich im August 1916, kam der Kranke wieder in die 
Anstalt und bot diesmal das Bild der progressiven Paralyse. Leider 
konnten wir über den Beginn seiner Erkrankung und seiner Lebensschick¬ 
sale in den seit der letzten Aufnahme verflossenen 15 Jahren nicht das 
geringste erfahren, und auf diese Weise war es nicht möglich, den Beginn 
der paralytischen Erkrankung festzustellen. Der Vater des Kranken hatte 
sich von demselben losgesagt und ihn viele Jaly p nicht gesehen, Uber 
eine luische Infektion konnte der Vater ebenfalls keine Angaben machen, 
auch fanden sich in der früheren Krankengeschichte Angaben darüber 
oder sonstige Anhaltspunkte für eine solche nicht vor. Er gab an, daß er 
bei einer militärischen Übung eine Gehirn- und Rückenmarkerschütterung 
erlitten und seit dieser Zeit immer gezittert habe. Gegenwärtig leide 
er an hochgradiger Schlaflosigkeit und Uberempfindlichkeit gegen Ge¬ 
räusche. Er machte über seine Personalien im ganzen zutreffende Angaben. 


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Ö18 


Jahnel, 


Er berichtete, daß er vom Militär wegen eines Nervenleidens entlassen 
worden sei, an zwei Stöcken gegangen sei und gezittert habe (hysterische 
Erscheinungen?). Im Jahre 1904 habe er Tripper gehabt, von einer 
syphilitischen Infektion ^rill er nichts wissen Er klagte über starke Kopf¬ 
schmerzen, Nervosität, Abnahme des Gedächtnisses und eine[Erschwerung 
der Sprache. Die körperliche Untersuchung ergab lichtstarre und ent- 
rundete Pupillen sowie eine paralytische Sprachstörung. Die Sehnen¬ 
reflexe waren lebhaft. Im übrigen ergab die körperliche Untersuchung 
keine gröberen Abweichungen von der Norm. In der Anstalt zeigte er 
meist ein stumpf dementes Verhalten, war einsichtslos, unzufrieden, be 
klagte sich sehr über das schlechte Essen, über „die Hungerkur“, die er 
hier in der Anstalt durchmachen müsse, und verlangte schließlich sein* 
Entlassung, die ihm auch gewährt wurde. Ein Jahr später kam er wieder 
zur Aufnahme und zeigte das Bild einer vorgeschrittenen paralytischer 
Erkrankung. Das Gedächtnis hatte weiter abgenommen, die Sprach 
Störung hatte zugenommen. Der körperliche Befund wär sonst wie bei der 
ersten Aufnahme, jedoch wurde diesmal auch eine stärkere Dermographie 
festgestellt. Größenideen zeigte er nicht, jedoch wurde bei ihm einmal 
ein paralytischer Anfall apoplektiformen Charakters mit nachfolgender 
linkseitiger Parese beobachtet. Ferner traten bei ihm sehr häufig Er 
' regungszustände auf, in denen er gewalttätig wurde und fortdrängte. 
Wassermann im Blut positiv. Die Lumbalpunktion war wegen einer 
Anomalie der Lendenwirbelsäule nicht ausführbar gewesen. Kurz vor 
dem Tode wurde er stumpfer und hinfälliger. Sein Körpergewicht hatte 
sehr stark abgenommen. Am 15. November 1917 starb er plötzlich. In 
diesem Falle ergab die Sektion eine starke Hirnatrophie und chronische 
Leptomeningitis, ferner Granulationen im vierten Ventrikel. An den 
inneren Organen war außer einer Mesaortitis luica kein pathologischer 
Befund zu erheben. 

Die Dunkelfelduntersuchung ergab das Vorhandensein von zahl¬ 
reichen. lebhaft beweglichen Spirochäten, namentlich in den vorderen 
Hirnabschnitten. Die mikroskopische Untersuchung der Hirnrinde erg^b 
nun recht ausgebreitete und hochgradige paralytische Veränderungen. 
Es fand sich nämlich die Pia verdickt und mit massenhaften Plasmazellen 
und Lymphozyten durchsetzt. Es waren außerordentlich dichte, aus den 
genannten Zellarten bestehende Infiltrationsmäntel um die Gefäße der 
Hirnrinde vorhanden. Stellenweise waren in unmittelbarer Nachbar¬ 
schaft der Gefäße auch frei im nervösen Gewebe liegende Plasmazellen 
nachweisbar. Die Gefäße der Hirnrinde waren sehr stark vermehrt. Es 
fanden sich außerordentlich zahlreiche Stäbchenzellen der Hirnrinde, an 
manchen Stellen in besonders starker Anhäufung. Die Ganglienzellen 
waren stellenweise ausgefallen und wiesen zum Teil die chronische, zum 
Teil die schwere Zellveränderung auf. Es bestand eine starke Wucherung 
der faserigen und protoplasmatischen Glia. Ebenso bestanden Markfaser- 


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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätennntersuchungen usw. 51£ 

ausfälle in der Hirnrinde diffusen Charakters, die stellenweise bis zu einer 
völligen Entmarkung der Rinde geführt hatten. Gummen oder endarteriiti- 
sche Veränderungen waren ebensowenig wie im ersten Fall nachzuweisen. 

Leider hat uns in diesem Falle die Anamnese völlig im Stich gelassen, 
so daß wir den Beginn der paralytischen Erkrankung auch nicht einmal 
schätzungweise angeben können. Auf Grund des anatomischen Bildes 
gewinnt man den Eindruck, daß es sich hier um eine weit vorgeschrittene 
paralytische Rindenerkrankung handelt, und daß der Tod des Kranken 
außerdem in dem Zeitpunkt eines akuten Krankheitsschubes erfolgt ist. 

Auch in diesem Falle fand sich der vaskuläre Ausbreitungstypus 
der Spirochäten in typischer Form vor. Außerdem bestand in manchen 
Hirnregionen die disseminierte Verteilung, auch war es stellenweise zur 
Bildung kleiner Spirochätenherde gekommen. Bezüglich der Einzelheiten 
der vaskulären Spirochätenausbreitung in diesem Falle, die sich übrigens 
vollkommen mit denen im ersten Falle decken, sei auf die vorangehende 
allgemeine Schilderung des vaskulären Typus verwiesen. 

Es ergibt sich aus beiden Fällen, daß es sich um durchaus 
typische Paralysen handelt, und zwar von dementer Verlaufsform. 
Irgendwelche klinische Eigentümlichkeiten, die mit dem vasku¬ 
lären Ausbreitungstypus der Spirochäten in Zusammenhang zu 
bringen wären, ließen sich nicht nachweisen. Hingegen ist es 
außerordentlich auffallend, wie sehr trotz gleicher Spirochäten¬ 
bilder die anatomischen Bfefunde differieren, im ersten Falle in 
nur sehr geringfügigen Veränderungen bestehen, im letzteren 
solche im höchsten Grade aufweisen. 

Wie kommt nun der vaskuläre Ausbreitungstypus der Spiro¬ 
chäten zustande und welche Bedeutung kommt ihm zu? 

Die erste Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es ist recht 
eigenartig, daß in einem bestimmten Bezirk des Gehirns alle 
Gefäße so stark von den Spirochäten befallen werden, und daß 
diese Spirochäteninfiltration an den Gefäßen wieder plötzlich auf- 
hört. Es ist mir nämlich bisher nicht möglich gewesen, dieses 
eigenartige Verhalten auf irgendeine Weise, etwa durch ana¬ 
tomische Anordnungen zu erklären. Es würde natürlich dem 
Verständnis keine Schwierigkeiten bereiten, wenn sich die be¬ 
fallenen Gefäße als Verästelungen eines Hauptstammes erweisen 
ließen. Wir können annehmen, daß die Spirochäten in den Ge¬ 
fäßwänden oder an den Gefäßen weiterwachsen, indem sie diese 
als Stützpfeiler benützen, nach einem früher von mir gebrauchten 
Vergleiche wie Schlingpflanzen an einem Pfeiler emporwachsen. 


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520 


/ 


Jahnel, 


Wenn wir den Nachweis, erbringen könnten, daß alle von Para¬ 
siten befallenen Gefäße Verzweigungen eines Hauptstammes sind, 
wäre es einleuchtend, daß Spirochäten, die z. B. in die Wand 
eines Hauptstammes eingedrungen sind, bis in die feinsten Ver¬ 
zweigungen des Gefäßbaumes weiterwachsen könnten. Nun lassen 
sich aber die befallenen Gefäße nicht etwa als Verästelungen eines 
Hauptstammes erweisen. Dagegen spricht das Befallenwerden 
aller Gefäße einer umschriebenen Stelle, gleichgültig, ob es sieh 
dabei um Arterien, Venen oder Kapillaren handelt. Unter¬ 
suchungen auf Serienschnitte haben mich in der Deutung des 
vaskulären Typus nicht weiter gebracht, und so vermag ich eine 
befriedigende Erklärung der eigenartigen herdförmigen Anordnung 
des vaskulären Typus der Spirochätenverteilung einstweilen nicht 
zu geben. 

Wenn wir nun versuchen wollen, der Frage nach der Be¬ 
deutung des vaskulären Typus der Spirochätenausbreitung näher¬ 
zutreten, so müssen wir folgendes bedenken. Betrachten wir 
ein Präparat mit vaskulärem Verteilungstypus der Spirochäten, 
dann drängen sich jedermann sofort die Beziehungen der Spiro¬ 
chäten zur Lymphe auf. Die Spirochäten sind am zahlreichsten 
da, wo die Lymphmenge am größten ist, nämlich in den Gefä߬ 
wänden, den adventitiellen Lymphräumen und auch perivaskulär 
in unmittelbarer Nachbarschaft der Gefäße, wo ein Lymphraum 
zwar nicht in anatomischem Sinne, wohl aber ein Ort stärkerer 
Durchströmung mit Lymphe bezw. Ansammlung derselben, also 
ein Lymphraum in physiologischer Hinsicht anzunehmen ist. Die 
Spirochaeta pallida ist nun nach Ansicht der Spirochätenforscher 
und Syphilidologen ein ausgesprochener Lymphparasit. Die Aus¬ 
breitung der Krankheitserreger in früheren Stadien der Krankheit, 
im Zeitpunkte des Primäraffektes und in der sekundären Periode, 
folgt den Lymphwegen. In der Lymphe scheinen.die Ernährungs¬ 
und Wachstumsbedingungen ‘für die Spirochaeta pallida am 
günstigsten zu sein, während das Blut von ihr nicht in gleicher 
Weise bevorzugt wird. Die eigenartige Vorliebe der Syphilis¬ 
spirochäte für die Lymphe und ihre Ausbreitung auf dem Wege 
des Lymphgefäßsystems scheint mit einer biologischen Eigenschaft 
der Syphilisspirochäten in Zusammenhang zu stehen, nämlich 


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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 521 

mit der Eigenschaft des anaeroben Wachstums. Es ist nämlich 
nachgewiesen worden, daß die Syphilisspirochäte zu den so-. 
genannten anaeroben Krankheitserregern gehört, welche in Kul¬ 
turen nur unter vollständigem Abschluß von freiem Sauerstoff 
gedeihen können. Selbst geringe Spuren von Sauerstoff können 
das Wachstum der Keime hemmen, bezw. ganz unmöglich 
machen. So ist es leicht verständlich, daß im lebenden Körper 
das sauerstoffreiche Blut die den Syphilisspirochäten zusagenden 
Lebensbedingungen nicht bieten kann. Damit soll natürlich nicht 
gesagt sein, daß im strömenden Blut keine Spirochäten Vorkommen 
können, was mit der Erfahrung im Widerspruch stände, noch 
auch, daß sie hier schon nach kürzerer Zeit zugrunde gehen 
müssen. Wir können nur sagen, daß sich die Spirochäten im 
Blut sicherlich nicht so gut vermehren können, wie in den Lymph- 
räumen. Übrigens sind nicht alle Spirochäteparten derartige 
Lymphparasiten wie die Spirochaeta pallida, es gibt auch ausge¬ 
sprochene Blutspirochäten, wie die Spirochäten des Rückfallfiebers, 
die Hühnerspirochäten und'dergleichen. 

Leider sind vVir über die Ausbreitung der Lymphe im ner¬ 
vösen Parenchym, die Richtung ihrer Strömungen und viele 
andere damit in Zusammenhang stehende wichtige Fragen noch 
recht wenig unterrichtet, und es wäre sehr wünschenswert, auf 
diesem schon wiederholt bearbeiteten Gebiete neue Untersuchungen 
anzustellen. Es ist jedoch auch anzunehmen, daß außer den 
erwähnten Lymphräumen der Gefäße auch unter der Pia sich 
stärkere Lymphansammlungen und Strömungen vorfinden. Da¬ 
durch ließe sich auch die Ausbreitung der Spirochäten unter utH^ 
entlang der subpialen Grenzmembran erklären. Wahrscheinlich 
hat der vaskuläre Verteilungstypus der Spirochäten Beziehung zu 
den Lymphströmungen des Zentralnervensystems. 

Weiter wird die Frage zu beantworten sein, ob der vasku¬ 
läre Typus in bestimmten Paralysefällen während der ganzen 
Krankheitsdauer der ausschließliche oder vorherrschende Vertei¬ 
lungstypus ist, mit anderen Worten, ob bei den zahlreichen Para¬ 
sitenschüben, die während der ganzen Krankheitsdauer das Gehirn 
befallen, in bestimmten Gehirnen immer der vaskuläre Vertei¬ 
lungstypus wiederkehrt, während in anderen z. B. die Spirochäten 


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522 


Jahn el, 


sämtlich nach dem disseminierten Typus auftreten, oder aber, ob 
. der vaskuläre Typus nur kurze Zeit besteht und dann andere 
Formen, etwa den Typus der disseminierten oder herdförmigen 
Verteilung der Parasiten annimmt. Im letzteren Falle wäre die 
vaskuläre Anordnung der Parasiten nur eine Phase in der Aus¬ 
breitung der Krankheitskeime. 

Da wir bei Autopsien verschiedener Paralysefällen die ver¬ 
schiedenen Stufen der Spirochätenaussaat zu Gesicht bekommen, 
ist es denkbar, daß die vaskuläre Spirochätenverteilung im Ge¬ 
hirn lebender Paralytiker häufiger vorhanden ist, als wir sie nach 
dem Tode zu sehen bekommen, indem es vom Zufalle abhängen 
würde, ob der betreffende Kranke gerade in der Phase der vas- 
knlären Parasitenausbreitung der Krankheit erliegt. £s ist mög¬ 
lich, daß jede multiple Spirochätenaussaat die Phase des vasku¬ 
lären Typus durchläuft und dann z. B. in den Typus der disse¬ 
minierten Verteilung übergeht. Ich habe bereits erwähnt, daß 
auch Kombinationen des vaskulären Typus mit dem 
herdförmigen und disseminierten Typus Vorkommen, und 
zwar einerseits an denselben Stellen des Gehirns, andererseits 
aber auch in der Weise, daß eine Stelle den reinen vaskulären 
Typus aufweist, eine andere den rein disseminierten. Würde der 
vaskuläre Typus nur eine Phase der Spirochätenansbreitung im 
Zentralnervensystem darstellen, dann müßte es möglich sein, zu 
verfolgen, wie sich aus diesem allmählich der herdförmige und 
disseminierte Verteilungstypus entwickelt oder umgekehrt. In 
manchen Fällen bestehen ja deutliche Beziehungen des herd¬ 
förmigen Typus zu von Parasiten stark befallenen Gefäßen, und 
es bliebe eigentlich nur zu erklären, wieso die Zahl der Spiro¬ 
chätenherde meist eine sehr kleine ist, und wieso sich nur von 
einzelnen Stellen weniger Gefäße aus derartige Herde bilden. 
Doch erscheint mir diese Frage von untergeordneter Bedeutung, 
wichtiger wäre es, Übergänge (nicht Kombinationen) von vas¬ 
kulärem und disseminiertem Typus aufzufinden. Diese sind mir 
bisher nicht aufgestoßen, und ich weiß nicht, ob solche Über¬ 
gangsformen so gut charakterisiert wären, daß man sie auch als 
Übergangsformen erkennen könnte. Ich habe bereits erwähnt, 
daß auch bei der vaskulären Spirochätenverteilung Spirochäten 


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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersnchungen usw. 523 

im Bereich des nervösen Parenchyms Vorkommen. Aber die ge¬ 
schilderte Art ihrer Verteilung im Nervengewebe zeigt ihre Ab¬ 
hängigkeit von den befallenen Gefäßen. Bei den reinen Formen 
des disseminierten Typus hingegen lassen sich Beziehungen zu 
den Gefäßen nicht feststellen. Wenn wir also den Übergang des 
vaskulären in den disseminierten Typus noch nicht nachweisen 
konnten, so ist doch die Möglichkeit nicht zu leugnen, daß ein 
Übergang zwischen dem vaskulären und disseminierten Typus 
tatsächlich Vorkommen kann. 

Aus den mikroskopischen Präparaten des vaskulären Typus 
geht hervor, daß von stark mit Parasiten infizierten Gefäßen aus 
Spirochäten sowohl in das benachbarte nervöse Gewebe als auch 
in das Innere der Gefäße eindringen können. Die Tatsache, daß 
das Paralytikerblut gelegentlich Spirochäten beherbergt, was 
braves, ferner Levaditi durch Tierimpfungen bewiesen haben, 
habe ich so gedeutet, daß Spirochäten durch die Hirngefäße in 
die Blutbahn eingedrungen sind. 

Auf Grund verschiedener Beobachtungen habe ich ange¬ 
nommen, daß die Spirochäten durch die Blutbahn ins Gehirn 
verschleppt werden, daß später von einzelnen Stellen aus eine 
Rückwanderung der Spirochäten in die Blutbahn stattfindet und 
daß dieser „Kreislauf“ der Spirochäten sich immer wiederholt. 

Ich möchte jedoch hier hervorheben, daß noch eine andere 
Möglichkeit der Ausbreitung der Spirochäten im Gehirn besteht, 
näpilich auf dem Wege der Lymphbahnen. Es ließe sich auch 
denken, daß die Verbreitung der Spirochäten ausschließlich auf 
dem Wege der Lymphbahnen stattfindet, und daß diesem Aus¬ 
breitungsmodus gegenüber die metastatische Verschleppung der 
in das Blut eingedrungenen Krankheitskeime keine oder nur eine 
sehr*untergeordnete Rolle spielt; mit anderen Worten, ich halte 
es zwar nach wie vor für erwiesen, daß von bienenschwarmartigen 
Herden und namentlich von den vaskulären Spirochätenverbänden 
aus Spirochäten in die Blutbahn eindringen und im strömenden 
Blut kreisen. Ob jedoch die im Blut kreisenden Spirochäten 
später wieder in das Gehirn eindringen, kann nicht mit Sicher¬ 
heit behauptet werden. Es ist nicht unmöglich, daß Lymph- 
strömungen und Lymphwege den Spirochäten die Möglichkeit 

Z«ita«hrift Mr PsychUtrie. LXXV. 4/6. 36 


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Jahnel, 


bieten, von einer oder einzelnen Stellen aus das ganze Gehirn 
zu überschwemmen, sich hier auszubreiten und dann wieder bis 
auf einzelne Herde öder spärliche, im Nervengewebe verstreute 
Parasiten zu verschwinden, ohne daß dabei die Spirochäten den 
Weg durch den Körperkreislauf dabei zu Hilfe nehmen müssen. 
Es sind demnach zwei Ausbreitungswege der Spirochäten möglich: 

1. Der Blutweg, bei welchem die Verschleppung der Spiro¬ 
chäten von einem Orte des Gehirns nach anderen Stellen durch 
den Körperkreislauf erfolgt. 

2. Der Lyiüphweg, bei welchem die Lymphwege des Zen¬ 
tralnervensystems'die Ausbreitung der Parasiten vermitteln. 

Selbstverständlich kann es auch sein, daß auf beiden Wegen 
die Ausbreitung der Spirochäten erfolgt. Es lag mir nur daran, 
darauf hinzuweisen, daß man sich die Ausbreitung der Spiro- 
-chäten im Zentralnervensystem auch auf dem Lymphwege er¬ 
klären kann, ohne daß ich aber damit mit Bestimmtheit behaupten 
möchte, daß dieser der wirkliche und einzige Ausbreitungsweg 
sei. Ich bin mir jedoch wohl bewußt, daß die beiden, von mir 
aufgestellten Möglichkeiten von der lymphogenen und hämatogenen 
Ausbreitung der Spirochäten hypothetische Annahmen sind, welche 
sich auf post mortem erhobene Befunde stützen, und daß alle 
Reserve, die gegenüber der Deutung von Leichenbefunden am 
Platze ist, gerade hier besonders angebracht erscheint. Aber wir 
sind nun eben einmal darauf angewiesen, beim Studium dieser 
Fragen uns auf Sektionsbefunde zu beziehen, da keine andere 
Möglichkeit der Bearbeitung dieser Fragen besteht und wir die 
Parasitenausbreitung im lebenden Gehirn nicht verfolgen können. 

Meine Angaben über das Vorkommen von herdförmigen 
Spirochätenansammlungen in der paralytischen Großhirnrinde sind 
durch F. Sioli und Hauptmann bestätigt worden. 

Hauptmann hat Spirochätenherde beschrieben, in deren 
Zentrum die Spirochäten sich nur schwach bräunlich gefärbt 
hatten, während sie an der Peripherie dieser Herde deutlich ge¬ 
färbt hervortraten und mit diesen Spirochätenherden einen eigen¬ 
artigen Befund im MßZ-Bilde in Zusammenhang gebracht, der in 
einer homogenen herdförmigen Anfärbung >\'S Grundgewebes 
besteht. Auch ich habe die Erscheinung der zentralen Braun- 


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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätennntersnchungen usw. 525 

färbung in Spirochätenherden beobachtet, außerdem habe ich zu¬ 
weilen eine Brannfärbung von perivaskulären Spirochätenansamm¬ 
lungen beim vaskulären Typus der Spirochätenverteilung angetroffen. 

Ich habe die Annahme gemacht, daß die Lebensdauer der 
einzelnen Parasiten und Parasitengenerationen in der paralytischen 
Hirnrinde keine große ist, daß sie ebenso rasch verschwinden, 
wie sie gekommen sind. Ich habe nun neuerdings Beobachtungen 
gemacht, die ich als „Abbau“ der Spirochäten zu deuten geneigt 
bin. Man sieht nämlich zuweilen an Stellen stärkerer Parasiten¬ 
anhäufungen, und zwar ausschließlich an solchen, niemals in 
parasitenfreien Zonen, schwarz gefärbte Kugeln und Schollen, die 
größtenteils isoliert, liegen, zum Teil mit Spirochätenfäden in Zu¬ 
sammenhang stehen. Ein Teil der Spirochäten erscheint wie 
gequollen. Die Spirochäten erscheinen als unförmige Stäbe, und 
lediglich an der stellenweise an einzelnen Exemplaren erhalten 
gebliebenen Spiralform kann man ihre Spirochätennatur erkennen. 
Die geschilderten Kugeln und keulenförmigen Gebilde sind z. T. 
wohl auch durch Einrollung entstanden, und ich habe auch schon 
früher derartige Formen, die ich vereinzelt beobachtet hatte, be¬ 
schrieben. Man gewinnt den Eindruck, daß der Abbau der 
Spirochäten sich in der Weise vollzieht, daß die Spirochäten zu¬ 
erst aufquellen, dann die argentophile Leibessubstanz zerfließt 
und schließlich sich in Kugel- oder Keulenform znsammenballt. 
Diese Gebilde sind meistens in Gruppen oder Reihen angeordnet. 
Manchmal erscheinen mehrere derartige Elemente zu einem 
größeren grobhöckerigen Gebilde verschmolzen, z. T. sind kleinere 
und größere Schollen durch plumpe Stäbe verbunden. Auf diese 
Weise können ganz eigenartige Figuren entstehen. Die genannten 
Schollen sind oft dem Rande einer Ganglienzelle angelagert oder 
liegen deren Fortsätzen auf. Es ist durchaus möglich, daß diese 
Gebilde nicht als solche präformiert sind, daß sie vielmehr im 
Leben eine flüssige oder teigige Beschaffenheit besitzen und erst 
bei der Fixierung des Nervengewebes ihre endgültige Formung 
erfahren. Zuweilen habe ich diese vielgestaltigen Gebilde an der 
Peripherie von aus braun und rötlich gefärbten Spirochäten be¬ 
stehenden Herden angetroffen. 

Die einzelnen Klumpen werden offenbar wie Abbauprodukte 

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Jahnel, 


anderer Herkunft z. T. von den Gliazellen anfgenommen, z. T. 
durch Vermittlung der Lymphströme zu den Gefäßen transportiert, 
in deren vaskulären und adventitiellen Räumen man dieselben 
zuweilen in großen Mengen antreffen kann. Von anderen Abbau¬ 
produkten, die ähnliche Formen aufweisen können, unterscheiden 
sich diese Gebilde durch ihre tiefschwarze Färbung. Ich bin 
ihnen, wie bereits hervorgehoben, ausschließlich bei Fällen und 
an Stellen mit vielen Spirochäten begegnet. Freilich wäre es 
möglich, daß es sich um Abbauprodukte des Nervengewebes 
handeln könnte, die eine direkte Folge der Spirochätenansiedlung 
sind. Für die Spirochätennatur der fraglichen Gebilde scheint 
mir namentlich die Beobachtung zu sprechen* daß sich einzelne 
derselben aus Spirochäten ableiten lassen, und daß von solchen, 
welche die Form der Spirochäten noch einigermaßen erkennen 
lassen, eine kontinuierliche Reihe von Übergangsformen hinüber¬ 
führt zu den Schollen und Kugeln, die nicht die geringste Ähn¬ 
lichkeit mit Spirochäten besitzen. Ich verkenne nicht, daß die 
Natur dieser Gebilde noch weiterer Erforschung bedarf. Indes 
muß ich auch hervorheben, daß es mir bisher nicht gelungen ist, 
dieselben mit anderen Methoden, insbesondere denen zur Färbung 
der Abbauprodukte des Nervengewebes, zur Darstellung zu bringen. 

Ich habe bereits bei der Besprechung der vaskulären Spiro¬ 
chätenanordnung eines Entstehungsmodus von Spirochätenherden 
gedacht, nämlich des Zusammenfließens der perivaskulären Para¬ 
sitenhaufen zu einem einzigen großen Herde. Was die« Ent¬ 
stehungsweise der übrigen Herde anbetrifft, so ist für einen Teil 
derselben die Entstehung von einem Gefäß aus anzunehmen. 
Dies ist nicht aus der Beobachtung zu schließen, daß durch solche 
Herde Gefäße hindurchziehen, was bei dem Gefäßreichtum der 
paralytischen Rinde für jeden größeren Herd zutrifft und deshalb 
gar nichts besagt. In diesem Sinne ließe sich lediglich die Tat¬ 
sache des häufigen Vbrkommens der Herdbildung beim vasku¬ 
lären Typus der Spirochätenverbreitung verwerten. Schließlich 
ist auf die Beobachtung zu verweisen, daß auch Übergangsformen 
zwischen den röhrenförmigen perivaskulären Parasitenmänteln 
und den kugeligen, den Gefäßen aufsitzenden Herden Vorkommen. 

Es gibt jedoch ganz kleine Herde, winzige Spirochätenkolonien, 

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über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 527 

welche zu keinem Gefäß Beziehungen aufweisen. Solche kommen 
mit Vorliebe multipel vor. Mitunter erreicht die Zahl der die 
Ganglienzellen umgebenden Spirochäten eine solche Höhe, daß 
man auch hier von Herdbildung, in deren Zentrum die Ganglien¬ 
zelle liegt, sprechen kann. 

Auch mit freiem Auge als schwarze Flecke erkennbare Riesen- 
herde kommen vor ( Hauptmann ). Auch unter meinen Fällen be¬ 
endet sich ein solcher, der sich als dunkler Streifen in der tieferen 
Rinde präsentiert. 

Die einzelnen Spirochätenherde lassen sich noch nach einem 
anderen Gesichtspunkte einteilen, nämlich nach ihrer Dichte. 
Manche Herde, namentlich solche von Kugelform, sind außer¬ 
ordentlich dicht. Andere bilden mehr lockere Geflechte der 
zopfförmig verschlungenen Spirochäten. Es kommt auch vor, daß 
sich in einem größeren Herde Zentren besonders dichter Parasiten¬ 
ansammlungen vorfinden. 

Ich habe bereits bei zwei Fällen, welche ganz verschiedene, 
man könnte sagen, gegensätzliche anatomische Bilder darbieten, 
ganz identische Spirochätenbilder aufgezeigt. Hieraus ergibt sich, 
ebenso wie aus anderen Beobachtungen, daß wir zurzeit noch 
nicht in der Lage sind, auf Grund der gebräuchlichen Färbe¬ 
methoden des Nervengewebes sagen zu können, ob ein bestimmter 
Fall Spirochäten im Gehirn aufweist oder nicht. Hingegen dürfen 
wir hoffen, daß uns Fortschritte in der histologischen Färbe¬ 
technik des Nervensystems auch in der Frage.des Zusammen¬ 
hangs der Spirochäten mit den paralytischen Gewebsveränderungen 
noch manche wichtige Erkenntnisse vermitteln werden. 

Wenn wir auch heute von einer tieferen Erkenntnis des 
paralytischen Krankheitsvorganges und namentlich eines engeren 
Zusammenhanges mit dem Krankheitserreger der Paralyse noch 
weit entfernt sind, so glaube ich dargetan zu haben, daß die 
Untersuchung derParalytikergehime auf Spirochäten schon manchen 
interessanten und wichtigen Befund zutage, gefördert hat, und 
daß die planmäßige Durchführung derartiger Untersuchungen noch 
reiche Ausbeute verspricht, indem gerade auf diesem Gebiete der 
Forschung sicherlich noch manche wichtige Tatsachen, die uns in 
der Erkenntnis der Paralyse weiterzuführen geeignet sind, auf- 


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528 Jahnel, Ober einige neuere Ergebnisse von Spirochätennnters. usw. 

gefunden werden können. So dürfen wir hoffen, daß die Spiro¬ 
chätenuntersuchungen berufen sind, noch viele Lücken in unseren 
Kenntnissen vom paralytischen Krankheitsprozesse auszufüUen. 

In folgendem Literaturverzeichnisse sind nur die Ar¬ 
beiten angeführt, auf welche im Text Bezug genommen worden ist. 
Förster u. Tomaszewski, Untersuchungen über die Spirochäte des Para¬ 
lytikergehirns. D. med. Wschr. 1914, S. 694. 

Hauptmann, Über herdförmige Verbreitung der Spirochäten im Gehirn 
bei Paralyse. Vortrag auf der 43. Wanderversammlung südwestd 
Neurol. u. Psych. Baden-Baden, Mai 1918. 

Jahnel, Über einige Beziehungen der Spirochäten zu dem paralytischen 
Krankheitsvorgang. 

Levaditi, A. Marie u. Bankowski, Le tröponeme dans le cerveau des para- 
lytiques gönöraux. Ann. de l’Institut Pasteur Bd. XXVII. 
Noguchi and Moore, A demonstration of treponema pallidum in the brain 
in cases of general paralysis. Journ. of exp. med. Bd. 17. 
Noguchi, Studien über den Nachweis der Spirochaeta pallida im Zentral¬ 
nervensystem bei der progressiven Paralyse und bei Tabes dor- 
salis. Münch, med. Wschr. 1913, S. 737. 

F. i Sioli, Die pathologische Histologie der Paralyse und die Spirochäten¬ 
befunde. Niederrhein. Ges. f. Natur- u. Heilkd. Bonn, 12. 11.17. 
D. med. Wschr. 1918, Nr. 3. 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen 
Hygiene und allgemeinen Wohlfahrtspflege. 

Von 

Direktor Dr. Max Flscher-Wiesloch. 

Die Psychiatrie ist schon als Wissenschaft und Forschungs¬ 
gebiet sozial gerichtet. Überall stößt sie auf soziale Probleme, 
auf Beziehungen zur menschlichen Gesellschaft, sei es im engen 
Kreis der Familie (Erblichkeitsforschung), des Stammes, der Rasse, 
sei es der engeren oder weiteren Umgebung des Kranken, der 
Gemeinde, des Staates; überall ergeben sich ursächliche Zusammen¬ 
hänge mit den sozialen oder wirtschaftlichen Zuständen und Mi߬ 
ständen in der Allgemeinheit. Ohne Erforschung der sozialen 
Ursachen und ohne sozial-medizinisches Handeln, besonders auch 
in der Prophylaxe und Hygiene, also ohne soziale Psychiatrie 
keine Psychiatrie. 'Vollends die angewandte praktische Psychiatrie 
ist ohne stärksten sozialen Einschlag überhaupt nicht denkbar 
und ist von jeher eine soziale Disziplin gewesen. Sie steht darin 
allerdings nicht allein da, sie hat vielmehr die sozialen Be¬ 
ziehungen gemeinsam mit der allgemeinen Medizin, die auch ohne 
namentliche Betonung dieses Moments in erster Linie sozial ist 
und sein muß oder aber nicht ist. Wo immer im wahren Sinne 
Heilkunde wissenschaftlich und praktisch ausgeübt wird, da wird 
zugleich auch ganz von selbst die soziale Medizin in voller Wirk¬ 
samkeit bestehen und zu allen ihren Rechten kommen. Insofern 
wäre es eigentlich gar nicht nötig, eine soziale Medizin oder 
Psychiatrie als Spezialgebiete abzutrennen oder zu konstruieren; 
sie ist einfach universell da in ihren vielseitigen Zusammenhängen 
bei jedem einzelnen Krankheitsfall. Trotzdem hat es natürlich 
sein Gutes, und es ist sehr zu begrüßen, daß die sozialen Seiten 
unseres Faches mehr hervorgehoben, zusammengefaßt und auf 


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Fischer, 


Lehrstühlen besonders gepflegt werden, schon damit. gegenüber 
der überwiegenden Betonung der reinen Wissenschaftlichkeit und 
der reinen Forschung als selbständiger Aufgaben ein Gegengewicht 
in der Hervorhebung der ausübenden Praxis und in der Beachtung 
der so wichtigen allgemein menschlichen Zusammenhänge aus 
dem wirtschaftlichen und sozialen Leben in unserem ärztlichen 
Wirken geschaffen werde. In dieser Hinsicht muß die nächste 
Zukunft noch viel mehr positive Arbeit als seither zutage fördern. 
Sie wird geradezu unter dem Zeichen sozialärztlicher Gedanken 
stehen sollen. Die Volksgesundheit, die Erforschung der Ursachen 
ihrer Störungen aus den allgemeinen Wechselbeziehungen zwischen 
Mensch und Natur, Klima," Kleinlebewesen, ferner zur Arbeit, zur 
Gesellschaft und zum Staat, die Bewahrung der Volksgesundheit 
vor allgemeinen Schädlichkeiten, woher sie auch kommen mögen, 
also ganz besonders die Vorbeugung der Krankheiten, schlie߬ 
lich die positive Förderung der Völksgesundheit nach den Er¬ 
gebnissen der ärztlichen, hygienischen, sozialen und volkswirt¬ 
schaftlichen Forschung, das alles gehört in den Kreis der sozi¬ 
alen Wohlfahrtspflege, worunter wir die soziale Hygiene und 
Fürsorgearbeit in allen ihren Zweigen zusammenfassend begreifen. 

Noch weit mehr als die allgemeine Medizin ist aber nun der 
irrenärztliche Beruf von sozialem Geist und Handeln erfüllt. 
Es ist kein Fall von Geisteskrankheit denkbar, der nicht auch 
einfache oder komplizierte soziale Aufgaben, und zwar meist in 
der Mehrzahl, stellt. 

Wer immer in der Geschichte den ersten Geisteskranken behandelt 
und gepflegt hat, hat zugleich auch praktisch soziale Psychiatrie getrieben. 
Auch der einfachste Fall erforderte sorgfältige Beachtung des Verhaltens 
des Kranken zu seiner Umgebung wie nicht minder der Umgebung zu 
ihm, aber auch der allgemeinen Verhältnisse der Umgebung und ihrer 
Wirkung auf den Kranken. Die Fürsorge für den kranken Menschen in 
sozialem Sinne trat so ganz von selbst als Hauptforderung auf, Abhaltung 
von Reizen und ungeeigneten Einflüssen aus der lebenden engeren und 
weiteren Umgebung, aus der Familie, aus der Gesellschaft; gegenteils 
Rücksichtnahme der menschlichen Gesellschaft auf den Kranken, dann 
wieder Bewahrung der Allgemeinheit vor den Krankheitsäußerungen des 
Geisteskranken, vor seinen sinnlosen und gefährlichen Handlungen gegen 
sich selbst oder andere; kurz fürsorgliche Maßnahmen jeder Art, teils für 
den Kranken zum Schutz vor der Gesellschaft, teils für die Gesellschaft 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene osw. 531 

zum Schutz vor dem Kranken und seinen Verkehrtheiten. Im Beginn 
der Zeiten unter den damaligen einfachen Lebensverhältnissen mochte 
ein natürliches menschliches Mitfühlen und ausübende praktische Nächsten¬ 
liebe im Sinne des barmherzigen Samariters genügen, um ohne viel Nach¬ 
denken die zweckmäßigsten Fürsorgemaßnahmen zu finden. So z. B. 
sehen wir, wie im alten Griechenland die Geisteskranken aus der Familie 
unter die Obhut der Priester gebracht und im Frieden der an die Götter¬ 
tempel sich anschließenden heiligen Haine unter Anwendung von Bädern, 
reichlichem Aufenthalt im Freien und psychischer Einwirkung der Heilung 
* entgegengeführt wurden. 

Die Grundlagen unseres irrenärztlichen Handelns in und außerhalb 
der Irrenanstalten sind bis auf den heutigen Tag im ganzen dieselben 
geblieben. Die soziale Fürsorge für den Kränken steht auch jetzt noch 
im Vordergründe aller Maßnahmen am Kranken, insbesondere auch der 
eigentlich irrenärztlichen. Nur hat natürlich die Vervollkommnung der 
menschlichen Gesellschaftsordnung und der Gesetzgebung, außerdem die 
Veränderung und Komplizierung sämtlicher Lebensverhältnisse, insbe¬ 
sondere auch die Siedelung, die Anhäufung der Menschen in Städten und 
Großstädten auch die Form der Fürsorge bedeutend verändert, vervoll¬ 
ständigt und verfeinert. Anstelle der früheren Einfachheit und Natürlich¬ 
keit ist eine große Differenzierung der Fürsorgemaßregeln je nach Lage 
des einzelnen Falles, besonders stark unter städtischen Verhältnissen, 
nötig geworden: Zuerst Versuch der häuslichen Pflege und ärztlichen Be¬ 
handlung, dann vielfach Überführung und vorläufige Unterkunft im 
städtischen Krankenhause, damit einerseits der Kranke die Ruhe des 
Hauses und der eng gedrängten städtischen Bewohner nicht stört oder der 
Familie anderweitige Ungelegenheiten bereitet, andererseits nicht selbst 
durch den Lärm der Stadt beunruhigt werde, ebenso aber, um ihn und 
seine Umgebung vor Gefahren, die aus seinem Krankheitszustande er¬ 
wachsen, zu bewahren. Sodann unter Durchführung des Aufnahmever¬ 
fahrens die mit aller Vorsicht auszuführende Überführung in die zuständige 
Irrenheilanstalt zur sachgemäßen Behandlung. Später bei chronischem 
Verlaufe unter Umständen die Verbringung in die vorgesehene Übernahme- 
anstalt, dann vielleicht Anwendung der Familienpflege von der Anstalt 
aus und unter ihrer ärztlichen Kontrolle, schließlich bei eingetretener 
Heilung oder Besserung Zurückführung in die Familie. Während des An¬ 
staltsaufenthalts Abhaltung von Schädlichkeiten von außerhalb, auch 
seitens der Familie (unnütze Besuche, Korrespondenz), richtige Beein¬ 
flussung der Angehörigen; aber auch anderseits Fürsorge für die Familie 
des Erkrankten teils durch die geordnete Armenpflege, teils durch Be¬ 
ratung und Unterstützung seitens der Organe des Irrenhilfsvereins in den 
verschiedensten Beziehungen des bürgerlichen Lebens (Haushaltfürsorge, 
Kinder- und Erziehungsfürsorge, Fortführung des Geschäfts, Sicher¬ 
stellung aller materiellen und ideellen Interessen usw.). Nach oder schon 


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532 


Fisch er, 


besser vor der Entlassung des Kranken entweder Sorge für Beschaffung 
einer geeigneten Arbeitstelle oder eines weiteren Erholungsaufenthaltes, 
sodann regelmäßige Nachschau nach dem Ergehen des Kranken, Rat und 
Förderung in allen Lebenslagen, sowohl beim Kranken selbst als bei seiner 
Familie (Kinder). Bei Rückfällen rechtzeitiges Eingreifen, Verhüten der 
Verschlimmerung oder aber Rückverbringung in die Heilanstalt. Eine 
besondere Vorsicht ist geboten für die vielen selbstgefährlichen oder 
gemeingefährlichen Kranken (besonders auch die kriminellen), seien sie es 
gewesen oder seien sie es noch, um diese Kranken vor sich selbst oder die 
Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Darnach müssen sich die ärztlichen 
Fürsorgemaßnahmen sowohl innerhalb der Anstalt als später außerhalb 
richten. Die Frage der Entlassung wird bei ihnen besonders vorsichtig 
zu behandeln und nach derselben für gewissenhafte Überwachung, Schutz¬ 
aufsicht, gut gewählte Pflege und Arbeitstelle zu sorgen sein. 

Wie man sieht, eine Fülle von höchst nötigen, hier lange nicht voll¬ 
zählig aufgeführten Einzelaktionen, die bei jedem Kranken je nach seinem 
Krankheitszustande, seiner persönlichen Eigenart, aber auch nach den 
Besonderheiten seiner sozialen Lage variiert werden müssen. 

Man erkennt schon hieraus, wie in der Psychiatrie soziale Arbeit 
ganz unabtrennbar ist von der täglichen Berufsausübung. Dies liegt in 
der Natur der Sache selbst d. h. in der besonderen Art der Krankheits¬ 
zustände, mit denen wir es zu tun haben-, innerlich begründet. Der Geistes¬ 
kranke kann nicht, wie in der Regel der körperlich Kranke, auch der 
schwer Kranke, selbständig über sich, seine Familie, seine gesamten An¬ 
gelegenheiten bestimmen, sondern entweder müssen diese Dinge im Inter¬ 
esse seiner Behandlung und Heilung als schädliche Reize oder Quelle 
neuer krankhafter Vorstellungen peinlich von ihm abgehalten werden, 
oder aber sein geistiges Leiden hat seine Verstandeskräfte vorübergehend 
oder dauernd so geschwächt, daß er nicht mehr oder nicht mehr ganz 
als verfügungsfähig und geschäftsfähig betrachtet werden kann bzw. 
daß er, ließe man ihn frei gewähren, entweder die verkehrtesten und 
seinen eigensten Interessen abträglichsten Handlungen begehen oder 
aber durch krankhaftes Nichtstun und Unvermögen alles vernachlässigen 
und dadurch womöglich noch größeren Schaden für sich und die Seinen 
anstiften würde. Daher das notwendige Mehr an Fürsorge und an Ver¬ 
antwortung bei seiner Interessenwahrung gegenüber dem körperlich 
Kranken, der, wenn überhaupt, so nur vorübergehend in der Ausübung 
seines .Selbstbestimmungsrechtes verhindert ist. Beim Geisteskranken 
müssen alle diese vielen Entscheidungen des täglichen Lebens, das Neben¬ 
sächliche wie das Wichtige, von ihm abgenommen und für ihn besorgt 
werden, und zw r ar in dem Sinne, wie er es selbst tun würde, falls er ge¬ 
sund entscheiden könnte, damit er, so behütet, durch seine Krankheit 
nicht zu Schaden komme weder für seine Person noch für seine engere 
Gemeinschaft, die Familir. Es kann sich dabei um eine Fülle von sehr 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 533 

verantwortungsvollen Geschäften handeln, und wer damit betraut ist, der 
sieht sich unter Umständen vor eine umfangreiche und zwar in sich dank¬ 
bare, aber keineswegs immer des Dankes sichere Aufgabe gestellt, auch 
wenn er die besten Absichten hat. 

Die soziale Fürsorge an jedem Geisteskranken beginnt sonach zum 
mindesten mit dem ersten Tage seiner Erkrankung, bei vielen sogar schon 
lange vorher, wenn wir wirksam Prophylaxe, die vornehmste unserer 
ärztlichen Pflichten, betreiben wollen (Eheberatung, Gesundheitszeugnis 
vor der Ehe usw.), und sie erstreckt sich auf den ganzen Verlauf der Er¬ 
krankung bis zur Genesung und selbst darüber hinaus, weit in die gesunde 
Zeit hinein, also auch über den Anstaltsaufenthalt hinaus in das bürger¬ 
liche Leben des Entlassenen, wenn sie allen Anforderungen und Bedürf¬ 
nissen gerecht werden will. Die Fürsorge bleibt auch nicht beschränkt 
auf den einzelnen Kranken selbst, sondern sie muß seine nächste Um¬ 
gebung, vor allem seine Familie, Kinder usw. in Betracht ziehen, will sie 
in der Tat sich richtig sozial auswirken und prophylaktisch und hygienisch 
alle Möglichkeiten erschöpfen. Ja, sehr oft ist dieser Teil der Fürsorge, 
die Familienfürsorge im weitesten Umfange, der bei weitem wichtigere, 
besonders wenn und solange der Kranke selbst in Anstaltsversorgung sich 
befindet. In vielen solchen Fällen handelt es sich auch nicht nur um die 
Fürsorge für die Person des Kranken und die Personen der Familie, sondern 
auch um die Sicherstellung der ideellen und materiellen Güter des Kranken 
und seiner Familie, also seines Geschäfts, seiner Erwerbsquellen, seiner 
bürgerlichen und sozialen Rechte usw. Man sicht, wie ein Fürsorgefall 
für sich allein weite Kreise zieht und eine Vielheit von sozialen Maßnahmen 
ganz von selbst herbeiführt. Und ganz von selbst greift ein solcher Fall 
auch über auf einen kleinen oder größeren Teil der nächsten Umgebung, 
der Gemeinde usw., und ruft dort Wechselwirkungen hervor, die gleichfalls 
beachtet und in soziales Handeln umgesetzt werden müssen. 

Wie geistige Erkrankung in jedem Lebensalter, vom Kinde bis zum. 
Greise, einsetzen kann, so muß sich auch die Fürsorge dieser Tatsache 
anpassen und sich in ihren Einrichtungen den verschiedenen Lebensaltern 
entsprechend formen. Andere Bedingungen ergeben sich beim kleinen 
Kinde, andere bei der heranwachsenden Jugend, andere* bei Familien¬ 
vätern oder Müttern, andere im Greisenalter. Auch die verschiedenartigen 
Berufsarten erfordern vielfach Besonderheiten in der Fürsorgetätigkeit, 
wie hier wohl nicht näher erörtert zu werden braucht. 

Einen weiteren Unterschied bringt die Form der geistigen Erkrankung 
mit sich. Anders die Fürsorge bei der akuten heilbaren Psychose mit ihren 
vielgestaltigen, genau zu beachtenden Einzelzügen, wo oft von gering¬ 
fügigen, im gewöhnlichen Leben kaum beachteten Einzelhandlungen das 
Gelingen oder Mißlingen des Heilplans abhängt, wo alles auf peinliche 
Abhaltung von psychischen Schädlichkeiten allgemeiner oder besonderer 
Art ankommt, anders beim chronisch verlaufenden Fall, der für seine 


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Fischer, 


Person außer der Anstaltspflege selbst wenig Abwechslung in der eigentlich 
sozialen Fürsorgetätigkeit verlangt, dafür aber desto längere Zeit, viele 
Jahre, oft bis zum Lebensende dieses Maß der Fürsorge nicht entbehren 
kann. Bei ihm gerade tritt, besonders wenn er dauernd in Anstaltsver¬ 
sorgung lebt, die Fürsorge der Gesellschaft für die Person des Kranken 
ganz zurück gegenüber der sozialen Fürsorge für die einmal gesund ange¬ 
nommene Familie des Kranken (Kinderfürsorge, Kindererziehung, Auf¬ 
rechterhaltung des Haushalts und des Geschäfts). Außer diesem allge¬ 
meinen Unterschied zwischen akutem und chronischem Krankheitsverlauf 
fordert aber jede von den vielen psychischen Krankheitsformen auch ihre 
besondere Art der Fürsorgebetätigung. Der Manische, der Depressive, 
der Paranoische, der Halluzinant, der Haltlose, um nur wenige Typen zu 
nennen, ist ganz verschieden anzufassen, und jeder einzelne Mensch bringt 
durch die ihm eigene Charakterartung noch seine eigene Note ins Krank¬ 
heitsbild. Dazu kommen die Besonderheiten in der' Familie und näheren 
Umgebung. So gestaltet sich die Einzelfürsorge in der sozialen Psychiatrie 
außerordentlich verschiedenartig und stellt gerade deshalb eine abwechs¬ 
lungsreiche und reizvolle Tätigkeit dar für den, der sie individuell zu be¬ 
leben und gewissenhaft in humanem Geist wahrzunehmen versteht. 

Ein weiterer sehr wichtiger Umstand’, der gleichfalls bei vielen, nicht 
allen, körperlichen Krankheiten fehlt, tritt darin zutage, daß ein Fall von 
Geisteskrankheit sehr oft nicht allein für sich vorhanden ist, sondern daß 
in einer Familie gleichzeitig oder nacheinander mehrere Fürsorgefälle von 
ganz verschiedener Art bestehen können, mit anderen Worten: die Geistes¬ 
krankheit kann infolge der Wirkung der Erblichkeit als Familienkrankheit 
auftreten: Fälle von außerordentlicher Häufung sind leider nichts Seltenes. 
Statt vieler will ich hier nur zwei markante Beispiele anführen. Der Ehe¬ 
mann ist starker Trinker und moralisch verkommen (geschlechtlich aus¬ 
schweifend, geschlechtskrank, Sittlichkeitsvergehen an Kindern, zuletzt 
.am eigenen, Zuchthaus). Über all dem Unglück ist die Ehefrau im letzten 
Wochenbett geistig erkrankt. Von 6 Kindern sind die älteren gesund, die 
jüngeren schwächlich und kränklich, eins epileptisch. Von einer anderen 
Familie sind in unserer Anstalt der Ehemann seit langer Zeit an Dementia 
paranoides, die Ehefrau an zirkulärem Irresein, 2 erwachsene Söhne an 
Dementia praecox, 1 Tochter ist nervös leidend. Man kann sich leicht 
vorstellen, welche Fülle von Aufgaben in einer einzigen solchen Familie 
für die sozial-psychiatrische Fürsorge und für die individuelle Familien¬ 
fürsorge überhaupt erwachsen. Ungezählte weitere Beispiele, wenn auch 
nicht alle von so krasser Art, ließen sich aufstellen. Unserem Spezialfach 
der Psychiatrie gehören noch die weiten und überaus wichtigen Gebiete 
der Epilepsie, der Imbezillität, der Idiotie und des Kretinismus zu. Wie 
häufig haben Krankheitsfälle dieser Art ihren Sitz unter der Jugend 
gerade der erblich belasteten Familien, aber auch der Trinker, der Ge¬ 
schlechter mit Inzucht usw. Auf die Bedeutung der Bekämpfung dieser 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene nsw. 535 


Volkskrankheiten für Eugenik und Volksgesundheit überhaupt näher 
einzugehen, darf ich mir vor Fachgenossen versagen, wissen wir doch alle 
zur Genüge, wie störend jeder solche Fall ins Familienleben und Familien¬ 
glück einschneidet. 

Schon ans dem bisher Vorgetragenen ist ersichtlich, wie eng 
and wie häufig die Irrenfürsorge mit anderen, man kann ruhig 
sagen, mit allen Fürsorgegebieten verbunden ist. In prophylak¬ 
tischer und volkshygienischer Beziehung sei .hier an die Be¬ 
strebungen der Rassenhygiene und Rassenverbesserung, an den 
Kampf gegen die Keimvergiftung durch Alkohol und Geschlechts¬ 
krankheiten (nicht nur Lues, sondern auch Gonorrhoe, die bei 
den Männern die Zeugungskraft schwächen oder aufheben und 
vor allem auch bei Frauen schwere Schädigungen der inneren 
Geschlechtsorgane bis zur Vernichtung 'der Mutterschaft setzen, 
also durch hartnäckige -Leiden das Eheglück stören und selbst 
die psychische Gesundheit untergraben kann), an die Verhütung 
der Keimverschlechterung durch Eheerscbwerung und Eheverbot 
bei schwer degenerierten Geisteskranken, bei Idioten und 
schweren Epileptikern usw. erinnert. Gleich wichtige Bezie¬ 
hungen bestehen zwischen sozialer Psychiatrie und der Säug¬ 
lings-, Kinder- und Jugendfürsorge (Schulhygiene, Schwach¬ 
begabtenschule, Pflege der schwer Erziehbaren, Fürsorgeer¬ 
ziehung, Jugendgerichte, Blinden-, Taubstummen- und Krüppel¬ 
fürsorge usw.). Noch engere Zusammenhänge ergeben sich mit 
der Sorge für die Nervösen, der Nervenheilstättenfrage, der Unter¬ 
bringung der Grenzzustände, der Trinkerfürsorge usw. Aber auch 
mit allen anderen Wohlfahrtsbewegungen (Gefangenenfürsorge, 
Gewerbehygiene, Arbeiterschutz und -Versicherung, Wohnungs¬ 
hygiene und Wohnungsfürsorge, Wochenhilfe, Mutterschutz, Fa¬ 
milienversicherung, Kampf gegen die wichtigsten Volkskrankheiten, 
Infektionskrankheiten im allgemeinen und Tuberkulose im be¬ 
sonderen) lassen sich ungesucht überaus häufige Beziehungen zur 
sozialen Irrenfürsorge feststellen. Sie ergeben sich schon aus 
dem einfachen Grunde, weil einmal jeder Geisteskranke auch 
körperlich krank und noch in anderer Richtung fürsorgebedürftig 
werden kann und weil zweitens bei jedem sonstigen Leidenden 
oder unter irgendeiner Form der Fürsorge Stehenden wenigstens 
die Möglichkeit besteht, daß er in Geisteskrankheit gerät und 


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Fischer, 


damit der Irrenfürsorge anheimfällt. Und zwar sind die Be¬ 
rührungspunkte so zahlreich vorhanden, daß wohl kein einziger 
Fall von Geisteskrankheit zu nennen sein wird, wo nicht in der 
Tat ein oder meistens sogar mehrere dieser Zusammenhänge, sei 
es am Kranken selbst sei es in seiner Familie, nachzuweisen 
sind, wo also zu der psychiatrischen Fürsorge hinzu jene anderen 
Fürsorgegebiete durch ihre besonderen Fürsorgeorgane wahrzu¬ 
nehmen sind. So spielt die Psychiatrie überall hinein und zwar 
meist in einer wichtigen Rolle; oft ist sie der Ausgangspunkt, 
oft ein Verbindungsglied. 

Wie sie selbst aber mit den anderen Gebieten im Zusammen¬ 
hang steht, so zeigen auch jene Fürsorgezweige wieder unter 
sich ebenfalls zahlreiche Beziehungen und treffen nicht selten am 
selben Krankenbett oder wenigstens in derselben Familie zusammen. 

Angesichts dieser dichten Verknüpfung und Verstrickung 
aller sozialen Fürsorgezweige untereinander und mit der sozialen 
Psychiatrie im besonderen ist es nicht zu verwundern, daß schon 
seit einigen Jahren von verschiedenen Seiten Bestrebungen im 
Gange sind, sämtliche sozialen und hygienischen Fürsorgegebiete in 
einer einzigen Gesamtorganisation zu umfassen. Sowohl Ver¬ 
waltungsmänner und medizinische Sachverständige, Kreisärzte, 
soziale Hygieniker und Psychiater wie auch erfahrene Praktiker 
der Fürsorge haben sich im gleichen Sinne ausgesprochen und 
suchen alle nach einer solchen Vereinigung, einesteils zu dem 
Zwecke, ein gemeinsames und darum desto wirksameres System 
der Fürsorgemaßnahmen zu schaffen, und zweitens, um eine doppelte 
oder mehrfache und deshalb unnötige Detailarbeit am selben 
Objekt zu vermeiden. Es gehört also dazu einmal eine ver¬ 
nünftige Zentralisation zur möglichst vollkommenen Erfassung 
aller Fürsorgebedürftigen und zur Bearbeitung aller Fürsorgegebiete 
nach einheitlichen Grundsätzen, und es gehört zweitens dazu die 
ebenso nötige Dezentralisation zur Durchführung der besten In¬ 
dividualfürsorge am einzelnen Menschen oder, wie wir es auf¬ 
fassen müssen, an der einzelnen Familie, da sich, wie oben gezeigt 
wurde, aus dem Fürsorgefall des einzelnen immer Beziehungen 
zu anderen Gliedern derselben Familie ungezwungen ergeben. 
Die soziale Individualfürsorge ist also immer zum mindesten 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 537 

Familienfürsorge. Treiben wir gesunde Familienfürsorge, so 
ergeben sich ganz von selbst die weiteren Beziehungen zur mensch¬ 
lichen Gesellschaft, zur Gemeinde, zum Staat, und ebenso überträgt 
sich der Nutzen, der Erfolg dieser individuellen Familienfürsorge 
ganz von selbst auf die größere Gemeinschaft, auf das Volk. 
Der Zusammenhang aller Einzelglieder der Fürsorgetätigkeit zur 
großen Gesamtorganisation, die ihrerseits wieder von allgemeinen 
Gesichtspunkten aus befruchtend auf die Detailtätigkeit wirkt, ist 
so schon vom Ausgangspunkte, vom einzelnen und der Familie 
an ganz zwanglos gegeben. 

Für die Organisation der sozialen Irrenfürsorge habe ich 
schon in meinen früheren Schriften 4 ) Richtlinien gegeben und 
gezeigt, wie in Anlehnung an die staatlichen Verwaltungsbehörden 
eine generelle Hilfetätigkeit entwickelt werden kann. Dort ist 
auch angegeben, in welcher Weise die Irrenärzte und die Irren¬ 
anstalten sich bei diesen Aufgaben der Psychiatrie außerhalb der 
Anstalten zu betätigen hätten, wie insbesondere die Irrenanstalt 
als Zentrum und Zentralstelle für alle diese Bestrebungen, jede 
in ihrem Aufnahmebezirk, zu gelten habe, wobei die Anstaltsärzte 
in der Form von Besuchsreisen die Bezirke aufsuchen und die 
nötigen ärztlichen Unterweisungen im allgemeinen wie in der 
Individualfürsorge im besonderen geben können. Die besten 
deutschen Irrenhilfsvereine arbeiten auf ähnliche Weise; leider ist 
cs aber noch nirgends zur strikten Durchführung eines alle Fälle 
erfassenden Fürsorgesystems in unserem Sinne der praktischen 
Familienfürsorge gekommen. Und doch werden wir, das ist meine 
sichere Überzeugung, nur auf diesem Wege zu einem gesunden 
und wirklich allgemein durchgreifendem sozialen Arbeiten gelangen. 

Ähnlich wie die soziale Irrenfürsorge für sich gedacht ist, 
müßte auch die alle Fürsorgezweige umfassende Gesamtorganisa¬ 
tion ausgebildet werden. Auch hier ergibt sich als das Natürlichste 
die Anlehnung an die Einteilung der inneren Verwaltungsbehörden 

*) 1. „Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Gebiete der Irrenfür¬ 
sorge.“ 1901. 2. „Schutz der Geisteskranken in Person und Eigentum.“ 

1902. 3. „Laienwelt lind Geisteskranke“. 1903. 4. „Neue Aufgaben 

der Psychiatrie in Baden.“ Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 69, 1912, S. 
34 u. f. 


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Fischer, 


des Landes, an die Amtsbezirke, Ereisämter usw., d. h. an 
Verwaltungskörper von der Größe von etwa lOOOO oder 15000 
bis 30000 und 50000 Einwohnern, die also keinen allzu großen 
Umfang haben and noch einigermaßen übersehbar.sind. Solche 
Verwaltungsbezirke haben vor größeren den Vorteil, daß ein Be¬ 
amter, zumal wenn er längere Zeit im Bezirk seßhaft bleibt, die 
Interessen der Bevölkerung, die sozialhygienischen Bedürfnisse und 
Notwendigkeiten genau bis ins einzelne kennt und darnach auch 
die Organisation der Fürsorgetätigkeit in allen ihren Zweigen am 
zweckmäßigsten zu gestalten versteht. Größere Städte in solchen 
Amtsbezirken werden am besten als besondere Unterbezirke aus¬ 
geschaltet und für sich behandelt, -da sie ja auch eine gesonderte 
Gemeinde mit eigener Verwaltung darstellen und außerdem in 
der Fürsorge wegen der Häufung der Anforderungen unter den 
städtischen Verhältnissen eine eigene Regelung erheischen. Jede 
größere Stadt und noch mehr die Großstadt wäre dann für sich 
wieder in kleinere Pflegebezirke einzuteilen und für jeden eine 
Fürsorgestelle zu errichten. Sowohl im Stadt- wie im Landbezirk 
bekämen wir es so mit einem Netz von einander in die Hand 
arbeitenden Fürsorgestellen zu tun. Jede Fürsorgesteile besorgt 
alle Fürsorgezweige ohne Ausnahme und erhält dafür so viel 
Kräfte zugewiesen, als sie für ihren Bezirk bedarf. Jeder Leiter 
einer Fürsorgestelle teilt die Arbeit an die einzelnen Fürsorge¬ 
personen aus. Bei ihm werden alle Fälle von Hilfsbedürftigkeit 
angemeldet. Die ganze Fürsorge eines größeren einheitlichen 
Fürsorgebezirks, als welchen wir den Verwaltungsbereich eines 
Bezirksamts, Kreisamts mit inliegender größerer oder kleinerer 
Amtsstadt und einer Mehrzahl von Gemeinden angenommen haben, 
würde in einer eigenen Behörde mit teils amtlichem teils chari- 
tativem Charakter, einem Wohlfahrtsamte zusammengefaßt 
und von ihm nach einheitlichem Plan ausgeübt werden. An die 
Spitze eines solchen verantwortungsvollen und vielseitige'Aufgaben 
stellenden Postens denken wir uns überall den Vorstand des Be¬ 
zirksamts selbst oder seinen Stellvertreter, den zweiten Beamten, 
gestellt. Bei ihm laufen alle Fäden der Bezirksfürsorge zusammen. 
Er ist der Entscheidende über alle Fürsorgemaßqahmen, besonders 
auch über die Unterstützungen aus der Vereinskasse. Ihm bei- 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 539 


gegeben ist ein gewählter Ausschuß, der vor allem die Ärzte, 
insbesondere die Bezirks- oder Kreisärzte als die eigentlichen 
Gesundheitsbeamten und ärztlichen Sachverständigen, die Geist¬ 
lichen, ferner Vertreter der Gemeinde und der Krankenkassen, 
sodann die eigentlichen Fürsorgepersonen, männliche und weibliche, 
und schließlich noch einige Vertreter aus der Arbeiter- und Bürger¬ 
welt, Männer und Frauen, die sich in der Fürsorgetätigkeit be¬ 
sonders auszeichnen und darin die ‘größte praktische Erfahrung 
haben, in sich faßt. Dieser geschäftsführende Ausschuß wird 
ergänzt durch freiwillige Hilfspersonen, Helfer und Helferinnen, 
die unter Anleitung' und Aufsicht der eigentlichen Berufsfürsorger 
stehen und sie in der Arbeit unterstützen. Den Rückhalt und 
die Oberaufsicht durch staatliche Organe und zwar die Spitzen 
der inneren Verwaltung halten wir für ebenso nötig und unent¬ 
behrlich wie andererseits die praktische Hilfetätigkeit durch beruf¬ 
liche und freiwillige Mitarbeiter aus dem Volke oder besser aus 
allen Volkskreisen, die sich hier zu gemeinsamem Wohltätigkeits¬ 
werke am Volke zusammenfinden. Diese korporative Fürsorge¬ 
organisation soll nun alle aus irgendeinem Grunde Fürsorge- 
bedürftigen erfassen und in Pflege nehmen. Sie wendet sich also 
in erster Linie den Armen und Wenigbemittelten zu, nicht zum 
mindesten auch den verschämten Armen. Dabei wird sie sich 
jeweils aber auch mit den Verpflichtungen der Armenpflege und 
den staatlichen Versicherungseinrichtungen (Krankheits-, Unfall-, 
Alters- und Invaliditätsversicherung usw.) auseinanderzusetzen 
haben, damit deren Leistungen unter allen Umständen für ihre 
Klienten nutzbar gemacht, die Mittel der Fürsorge selbst aber 
nur in Anspruch genommen werden, wo jene Einrichtungen nicht 
einzuspringen haben oder aber nicht ausreichen. Die Fürsorge¬ 
organisation wird sich hier häufig auf guten Rat, auf Beihilfe und 
Vermittlung der fälligen Unterstützungen beschränken können und 
hauptsächlich für dererr zweckmäßigste Verwendung im Haushalt 
der betreffenden Familie zu sorgen haben. 

Auf dem Wege, da zu helfen, wo die Not am größten ist, 
wird die Fürsorge von selbst dazu kommen, außer den Ortsarmen 
vor allem auch die sogenannten kleinen gesicherten Existenzen 
des Mittelstands einzubeziehen, die häufig dieser Hilfe viel 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 37 


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Fischer, 


dringender bedürfen, als die Armen selbst, weil ihnen deren all¬ 
gemeine Hilfsmittel versagt sind, oder weil sie aus berechtigtem 
Eigengefühl öffentliche Mittel und Wege zu benützen sich scheuen. 
Diese kleinen Leute und ihre Familien in ihrer ideellen Selbständig¬ 
keit und materiellen Unabhängigkeit und damit vor dem Versinken 
in Armenpflege zu bewahren, scheint mir eine Hauptaufgabe, ja 
die bei weitem sozial und volkswirtschaftlich wichtigste Aufgabe 
unserer Fürsorgeorganisationen zu sein, insbesondere bis einmal 
die Familienversicherung auch für diese Kreise durchgeführt 
und bei Krankheit sie in ihrer Lebenshaltung zu erleichtern im¬ 
stande sein wird. Überall, wo die öffentliche-Fürsorge nicht hin¬ 
reicht, und überall, wo sie nicht ausreicht, da muß die Wohlfahrts¬ 
pflege ergänzend und rettend einsetzen. Das muß die Quintessenz 
ihres Handelns sein. / 

Von größter Wichtigkeit ist dabei, daß die Arbeit sich nicht 
etwa nur auf solche Fälle beschränkt, die, sei es aus eigenem 
Antrieb sei es durch Meldung von' außen, an die Fürsorgestellen 
gelangen, sondern daß die Organe der Hilfsvereinstätigkeit selbst 
in ihren Bezirken wachsame Umschau halten und ihnen auffallende 
Besonderheiten von überall her aufnehmen. Insbesondere bei 
Familien, in die sie aus irgendeinem Grunde gerufen worden 
sind, oder von deren Bedürftigkeit sie auf einem andern Wege 
Kenntnis erhalten haben, muß man die erweiterte Familiengemein¬ 
schaft, die Sippe in unauffälliger Weise durchforschen, um jedes 
einzelne Fürsorgebedürfnis zu erfassen und so nach und nach die 
ganze Familie, jede nach ihrer Besonderheit, unter die ihr nötige 
Gesamtfürsorge und damit wieder auf den Weg der Sanierung 
und des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs zu bringen. Man 
darf also nicht warten, bis man gerufen wird, sondern man soU, 
ungerufen, wenn auch unaufdringlich und mit dem hier besonders 
angebrachten Taktgefühl, von sich aus in die Quartiere und Häuser 
der Armen und Bedürftigen gehen und sehen, wo es fehlt und 
wie geholfen werden kann. Es gilt jede durch körperliche, nervöse 
oder geistige Erkrankung oder Krankheitsanlage irgendwelcher 
Art verursachte Hilfsbedürftigkeit in der betreffenden Familie 
nachzuweisen und für jeden Fall die zweckmäßigste Fürsorge¬ 
maßnahme vorzukehren. Wir wollen für jeden Volksgenossen 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 541 

von der Wiege bis zur Bahre den Gesundheitsschutz schaffen, 
dessen er bedarf, und worauf der Arme so gut wie der Begüterte 
ein inneres Anrecht hat. Mehr wie je gilt es in dieser Zeit des 
Zusammenbruchs unserer Nation, des fürchterlichsten aller Zeiten, 
das Einzelindividuum und die Familie, das wichtigste Volkskapital, 
das wir noch haben, gesund zu erhalten oder wieder gesund zu 
machen, von den allgemeinen Menschenrechten mit das wichtigste, 
das auf Wahrung seiner Gesundheit, auch dem letzten von uns 
zu sichern. Erst die Gesundheit verleiht ihm den vollen Genuß 
aller übrigen Rechte und Freiheiten. 

Bei der Detailfürsorge wird ferner darauf zu achten sein, daß 
in einer Familie nicht zu viele Fürsorgepersonen tätig sind, 
sondern wo immer möglich nur eine, die auf verschiedenen Für¬ 
sorgegebieten bewandert ist, wie das ja in der Regel zutreffen 
wird. Es soll damit eine unnötige Vielgeschäftigkeit und Doppel¬ 
betätigung, die gewöhnlich doch nur störend wirkt und Unfrieden 
schafft, vermieden werden. Ganz durchführen wird sich dieser 
Grundsatz allerdings nicht lassen; so z. B. kann es nicht angehen, 
daß die Fürsorgeperson, die sich mit Infektions- oder Geschlechts¬ 
krankheiten abgibt, auch die Wochenbett- oder die Säuglingspflege 
in einer Familie besorgt. Auch wird für die Pflege von Nerven¬ 
schwachen oder Gemütskranken, besonders auch von Jugendlichen 
dieser Art, nicht jede Pflegeperson taugen. Immerhin, soweit 
möglich, sollte man, um einfache Verhältnisse zu schaffen, an dem 
Grundsatz einer Fürsorgeperson für eine Familie festhalten. Im 
übrigen ist es Sache des Leiters der Fürsorgestclle, die richtigen 
Dispositionen zu treffen und die Vertreter der einzelnen Fürsorge¬ 
zweige zu gemeinsamer Beratung über die in einer Familie vor¬ 
kommenden verschiedenerlei Fürsorgebedürfnisse zusammenzu¬ 
rufen und darnach die Zusammenfassung oder Teilung der Ge¬ 
schäfte vorzusorgen. Bei dieser sozialen Arbeit wird sich sodann 
vielfach erweisen, daß die einzelnen Fürsorgefälle einer Gemeinde, 
besonders in der Form der Familienfürsorge erfaßt, wieder in ihrer 
Mannigfaltigkeit und Abwechslung unter sich mancherlei Bezie¬ 
hungen haben, woraus Fürsorger und Ärzte lernen und neue Gesichts¬ 
punkte für ihr Handeln gewinnen können, so z. B. über die Ver¬ 
breitung von Volkskrankheiten, über den Erblichkeitsfaktor, über 

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Fischer, 


das Wohnungswesen, über üble moralische Einwirkungen (psychi¬ 
sche Infektion) usw. Das wichtige Gebiet der Familienforschung, 
aber auch der Evidenthaltung der Krankheitsfälle, insbesondere 
der Geisteskranken, zieht daraus Gewinn und Förderung. 

Aus der geordneten Einzel- und Familienfürsorge ergibt sich 
ungezwungen die gemeinsame Bezirksfürsorge in ihren allgemeineren 
Aufgaben. Um diese in ein zuverlässig arbeitendes System zu 
bringen, ist es nötig, von Zeit zu Zeit (alle 2 oder 4 Wochen) 
sämtliche Fürsorgepersonen und die übrigen Fürsorgeorgane 
(Ärzte, Geistliche, Gemeindevertreter usw.) des Pflegebezirks zu¬ 
sammenzurufen und sowohl die Einzelfälle durchzusprechen als 
auch die allgemeinen Richtlinien des Handelns zu erörtern, über 
die getane Arbeit der letzten Wochen zu referieren und die für 
die nächsten Wochen nötige vorzubereiten. In diesen Versamm¬ 
lungen sind auch die nötigen Unterstützungen, sei es durch Geld¬ 
mittel sei es, wie meist vorzuziehen, in Form von Naturalien 
(Lebensmittel, Arzneien, Kleidung usw.) festzusetzen. 

Diese Versammlungen der einzelnen Pflegebezirke werden 
zweckmäßig ergänzt durch solche der größeren Verwaltungsver¬ 
bände, also eines ganzen Amtsbezirks, eines Kreises, einer Provinz, 
eines Landes und gekrönt durch eine Reichsversammlung aller 
Teilverbände, um gemeinsame Erfahrungen auszutauschen, sich 
weiterzubilden und Normen für ein fortschrittliches Arbeiten auf 
wissenschaftlicher Grundlage zu gewinnen. So soll das ganze 
Fürsorgewesen mit der Zeit vereinheitlicht und allgemein nach 
denselben Gesichtspunkten ausgebaut und wirksam gemacht werden. 
Eine solche, das ganze Land und das Reich umfassende Organi¬ 
sation muß das Ziel aller Einzelbestrebungen sein. 

Schon jetzt aber ist es als eine der zunächst zu erfüllenden 
Aufgaben zu betrachten, daß in jeder Landesregierung eine Zen¬ 
tralstelle für das ganze soziale und hygienische Fürsorgewesen 
errichtet wird, sei es in Form eines eigenen Gesundheits- oder 
Wohlfahrtsministeriums, sei es als besondere Ministerial- 
abteilung mit einem eigenen Direktor bei einem der bestehenden 
Ministerien. Eine nicht zu ferne Zukunft möge sodann den Plan 
verwirklichen, daß die gesamte Fürsorgeorganisation vom Staate 
selbst übernommen und getragen wird. Diese Aufgabe gehört 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 543 

ihm durchaus zu. Es ist einleuchtend, daß solche, das ganze 
Volk umfassende, große Aufgaben auch gewaltige Geldmittel 
erfordern, die aus den Vereinsbeiträgen, selbst wenn wir die 
aller Teilvereine zusammennehmen, bei weitem nicht beigebracht 
werden können. Auch ans Stiftungen und anderen mildtätigen 
Gaben und schließlich aus den Staatsbeiträgen nach ihrer bis¬ 
herigen Höhe ergeben "sich keine solchen Summen, daß man 
alle Bedfirfnisfälle damit befriedigen könnte. Die menschliche 
Gesellschaft und der Staat werden sich zu ganz andern 
Opfern aufraffen müssen, insbesondere der Staat; denn dessen 
Zwecke und Geschäfte eigentlich werden von unseren Organisa¬ 
tionen besorgt oder wenigstens bedeutsam unterstützt. Was von 
Staats wegen in der Gesundheitsfürsorge und in der sozialen Wohl¬ 
fahrt durch weitgehende allgemeine gesetzgeberische Maßnahmen 
vorgesorgt worden ist, das erhält in der stillen und unauffälligen 
Einzelarbeit unserer Fürsorgepersonen in den Familien unseres 
Volkes die praktische und zugleich verinnerlichte Durchführung 
im Detail, durch die Einwirkung von Mensch zu Mensch. Ohne 
diese Fürsorgetätigkeit ständen manche Gesetze und Verordnungen 
lediglich auf dem Papier. Unendlich viel wertvolles Menschenkapi¬ 
tal wird auf diesem Wege sozialer Arbeit, wirtschaftlicher Hilfe, ge¬ 
sundheitlicher Vorbeugung und Hygiene dem Volkskörper entweder 
gesund erhalten oder vor größeren Schädigungen bewahrt oder 
wieder für Gemeinde und Staat gesund und arbeitsfähig herge¬ 
stellt. Der Staat verfolgt somit nur sein ureigenstes Interesse, 
wenn er alle diese gemeinnützigen Fürsorgebestrebungen mit allen 
Mitteln kräftigt. Denn diese noch so hohen Beihilfen werden 
sich ihm mehrfach verzinsen in der Besserung der sozialen und 
gesundheitlichen Verhältnisse seiner Gesamtbürgerschaft, in ver¬ 
mehrter Arbeitskraft und Berufsfreudigkeit, im erhöhten Wohl¬ 
befinden aller; dadurch können bedeutende Summen an vielen 
anderen Stellen des Staatshaushalts gespart werden. Auch hier¬ 
bei ist der Hauptnachdruck auf die vorbeugend® Tätigkeit zu 
legen, weil sie Volksschäden in der Entstehung entgegentritt und 
darum von vornherein das rationellere, wirksamere und wert¬ 
vollere Verfahren darstellt gegenüber dem Kampf gegen eingerissene 
und vorhandene Schäden, der allerdings auch von uns mit den 


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Fisch e r, 


besten Waffen ansgekämpft werden muß. Anzuerkennen ist, daß 
die Regierung schon jetzt ihre Beamten für die eigentlich außer 
ihrer Diensttätigkeit liegende Fürsorgearbeit freigibt, noch mehr, 
daß die Beamten selbst sich jederzeit ohne Rücksicht auf ihre 
außerordentliche dienstliche Inanspruchnahme mit voller Selbst¬ 
aufopferung in den Dienst der sozialen Arbeit gestellt haben. 
Nun gilt es noch die Staatsbeiträge um ein Bedeutendes zu er¬ 
höhen, damit jeder Bedürftige die werktätige Hilfe, deren er benö¬ 
tigt, in Wirklichkeit auch zugemessen erhalten kann. Dann erst 
können wir mit unserem «Werke zufrieden sein. Die bisherigen 
freiwilligen Hilfskräfte und Beiträge sollen dabei natürlich keines¬ 
falls ausgeschaltet werden. Der einzelne hilfreiche Mensch mit 
hilfreichem Herzen und hilfreichem Worte ist in keiner Fürsorge¬ 
organisation zu entbehren; er ist gegenteils ihr Träger und ver¬ 
leiht ihr erst die Beseelung. 

Mit diesen unseren auf das Allgemeine gerichteten Forderungen 
verfolgen wir durchaus nichts Neues, sondern begegnen uns darin mit 
vielen anderen Gleichgesinnten, die ebenfalls eine Zusammenfassung aller 
Arten der sozialen Fürsorge und des Gesundheitsschutzes anstreben. 
Auch sollen die in gedeihlicher Wirksamkeit befindlichen Teilorganisationen 
(Säuglings-, Kinder-, Jugendpflege, Kampf gegen Trunksucht, Geschlechts¬ 
krankheiten, Tuberkulose und andere Volkskrankheiten usw.) in keiner 
Weise beeinträchtigt werden. Es gilt einzig und allein unter Verwendung 
des Bestehenden den Zusammenschluß ( aller und die gemeinsame über¬ 
geordnete Organisation zu finden. Dies Unternehmen kann weder als 
aussichtslos noch als besonders schwierig erscheinen, nachdem, wie wir 
gezeigt haben, soviel gemeinsame Beziehungen zwischen all den einzelnen 
Fürsorgegebieten bestehen. Gerade diese Tatsache drängt unwiderstehlich 
und naturgemäß zur Vereinigung. Mein Plan stellt aber auch durchaus 
keine Utopie mehr dar. In vielen Städten und Großstädten sind bereits, 
die Verbindungen zwischen den Teilorganisationen hergestellt worden, 
weil sie sich als durchaus nötig erwiesen haben; ebenso hat sich vielfach 
auch die Zusammenarbeit mit den Organen der Armenpflege und den » 
Fürsorgeämtern der Gemeinden ganz von selbst durchgesetzt. In Heidel¬ 
berg besteht für den Stadtbezirk, hervorgegangen aus dem Tdberkulose- 
ausschuß und de# Trinkerfürsorge, bereits seit mehreren Jahren eine In¬ 
stitution, wie sie hier erörtert worden ist, in der sich alle Fürsorgezweige 
vereinigen; sie hält regelmäßige gemeinsame Sitzungen ab, in der die 
Einzelfälle behandelt werden. Eine außerordentlich segensreiche Tätig¬ 
keit hat sie bereits hinter sich. Aber auch für den Landbezirk Heidel¬ 
berg ist die gleiche Einrichtung ins Leben gerufen worden, so daß nun 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 545 


der ganze Amtsbezirk Heidelberg einheitlich organisiert ist; ein Beispiel, 
das überall zur Nachahmung anspornen sollte. Dieser ,,Verein für 
Volkswohlfahrt Heidelberg Land“ ist mitten wahrend des Krieges, 
am 4. Juni 1916, gegründet worden. Er umfaßt die Säuglingsfürsorge, die 
Jugendfürsorge, die Tuberkulosenfürsorge, die' Bekämpfung des Alkohol¬ 
mißbrauchs, die Irrenfürsorge und sogar die Kriegsversehrten- und Kriegs¬ 
hinterbliebenenfürsorge. Aber auch alle anderen in der Satzung nicht 
ausdrücklich erwähnten Fürsorgezweige sollen vom Verein im Anschluß 
an die bestehenden Landesorganisationen behandelt werden. In jeder 
Gemeinde besteht zur Durchführung sämtlicher Vereinsaufgaben ein Orts¬ 
ausschuß, dem angehören sollen: 1. der Arzt, der in der Gemeinde wohnt 
oder die Praxis ausübt; 2. der Bürgermeister oder sein Stellvertreter: 
3. der im Orte wohnhafte Bezirksrat; 4. der Vorstand des Frauenvereins; 
5. die Ortsgeistlichen; 6. ein oder mehrere Gemeinderäte; 7. ein oder 
mehrere Lehrer; 8. mindestens zwei weitere männliche oder weibliche 
Ortseinwohner. Dazu kommen, je nach Bedarf, geschulte und bezahlte 
männliche und weibliche Berufskräfte der Fürsorgearbeit, insbesondere 
die ausgebildeten Fürsorgeschwestern und ihre freiwilligen Helfer und 
Helferinnen aus den Frauenvereinen und Vinzentiusvereinen. Diese Orts¬ 
ausschüsse besorgen die Fürsorgegeschäfte in ihren Gemeinden. Der 
Vorstand des Vereins für den ganzen Landbezirk ßetzt sich zusammen aus 
dem Amtsvorstand als Vorsitzendem, einem Mitgliede des Bezirksrats, 
dem Direktor der Kinderheilanstalt, dem Vormundschaftsrichter, dem 
Kreisschulrat, einem -Vertreter des Kreises und 12 von den Mitgliedern 
gewählten Beiräten, worunter 2 Ärzte, 2 Geistliche, 1 katholischer und 
t evangelischer, 2 Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer einer Kranken¬ 
kasse und 3 Mitglieder von Gemeinderäten sind. Der Beweis, daß ein 
solcher Verein auch für ländliche Bezirke mit einer Anzahl größerer und 
kleinerer Gemeinden durchführbar ist, ist also erbracht; das ist sehr wichtig. 

Ein solcher Verein, wie er hier für das Amt Heidelberg (Stadt und 
Land) in vorbildlicher Tätigkeit besteht, würde, wenn er auf alle Amts¬ 
bezirke des Landes sich ausdehnte und in einer Landesorganisation seine 
Krönung und einheitliche Leitung mit Unterstellung unter staatliche 
Oberaufsicht fände, ungefähr dem entsprechen, was wir anstreben. Es 
gehört nur noch dazu die Ausdehnung auf alle Bundesstaaten, so daß das 
ganze Deutsche Reich von derselben Fürsorgeorganisation eingenommen 
würde. Wir dürfen zuversichtlich hoffen, daß es so kommen wird, weil 
es kommen muß; alle Verhältnisse drängen darauf hin. 

Als Endglied unseres Fürsorgesystems und zu seiner Ver¬ 
vollkommnung gehören sodann noch Hochschulen für die Aus¬ 
bildung der Fürsorgepersonen auf sämtlichen Fürsorgegebieten 
eingerichtet, wie auch weiterhin von Zeit zu Zeit Fortbildungs¬ 
kurse für Geübtere, schon in der sozialen Arbeit Stehende aus 


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Fischer, 


allen Kreisen und Berufen (Beamte, Lehrer, Geistliche, Industrielle, 
soziale Berufskräfte usw.), ferner allgemein gehaltene Aufklärungs¬ 
vorträge in allen Landesteilen, um so das große Publikum über 
diese für sein eigenes Wohl so unendlich wichtigen Gebiete zu 
belehren und es zur Mitarbeit, sei es im engeren Kreise der 
eigenen Familie, sei es in der praktischen Fürsorgearbeit an 
andern zu gewinnen. Als diejenige Instanz, welche auf diese 
Weise der sozialen Fürsorge und ihrer Organisation immer wieder 
neue geistige Kräfte und Anregungen zur praktischen Arbeit ver¬ 
leihen könnte, möchten wir eine Institution ansehen, die wir hier 
in Baden gleichfalls schon besitzen. 

Es ist die „badische Gesellschaft für soziale Hygiene“, die 
auch während des Krieges, und zwar am 16. Januar 1916 in Karlsruhe, 
gegründet worden ist. „Ihre Aufgabe besteht“ nach den Satzungen 
„darin, die Beziehungen zwischen den sozialen und den gesundheitlichen 
Verhältnissen zu erforschen, die Untersuchungsergebnisse bekannt zu 
geben und dahin zu wirken, daß die Volkskraft gestärkt und sozialhygieni¬ 
sche Mißstände beseitigt oder gemildert werden. Die Gründung eines 
sozialhygienischen Instituts als Zentralstelle für die wissenschaftliche 
Arbeit und die praktische Betätigung der Gesellschaft wird angestrebt. 
Der Anschluß an eine gesamtdeutsche Gesellschaft mit gleichen Zielen 
bleibt Vorbehalten.“ Ärzte und Hygieniker, Geistliche und Lehrer, Staat* 
liehe, städtische und sonstige Verwaltungen, gemeinnützige Vereinigungen, 
Sozialreformer und Politiker treten hier zu gemeinsamer Arbeit am Volks¬ 
wohl zusammen. Aus Vertretern aller dieser Kategorien besteht der 
Arbeitsausschuß und der große Ausschuß; auch die soziale Psychiatrie 
ist darin vertreten. 

In dieser Vereinigung, die die wichtigsten Ziele der Volks¬ 
hygiene und der sozialen Fürsorge bearbeiten und in sich zu¬ 
sammenfassen will, erkennen wir die Stelle, die bei einer wohl¬ 
durchdachten gleichmäßigen Organisation durch Land und Reich 
hin dazu berufen wäre, einesteils die gesamte praktische Fürsorge¬ 
arbeit in allen ihren Einzelgebieten durch gesunde wissenschaftliche 
Beeinflussung immer wieder zu befruchten, aber auch andernteils 
das sämtliche Einzelörganisationen einigende Band zu bilden, so 
daß alles von einem Geiste geleitet erscheint. Wir denken uns 
die erweiterte Tätigkeit der sozialhygienischen Gesellschaft etwa 
so, daß zunächst an allen Universitäten und technischen Hoch¬ 
schulen sozialhygienische Lehrstätten errichtet werden, wo sämtliche 
akademischen und technischen Berufe in der sozialen Hygiene 


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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 547 

und Fürsorgearbeit unterrichtet werden. Von hier aus können 
sodann sozialhygienische Lehrkurse für Nichtakademiker in den 
Städten im Umkreis der Universität leicht eingeführt werden; sie 
werden sich nach obigem unterscheiden in Kurse für Anfänger 
und in Fortbildungskurse für Vorgerücktere. 

Dazu kämen von Zeit zu Zeit in geeignet gelegenen Zentral¬ 
punkten (Städten) des Landes, Versammlungen, wo für die All¬ 
gemeinheit, besonders aber für sämtliche Fürsorgeorganisationen 
wichtige und aktuelle Themata in Vorträgen mit Aussprache 
behandelt werden. Den Stoff für diese Bildungs- und Aufklänmgs- 
arbeit wird die Gesellschaft vorzugweise aus den Arbeiten ihres 
sozialhygienischen Instituts schöpfen, das wir für eine der 
Allgemeinheit und ihrer gesundheitlichen Förderung unentbehrliche 
Forschungsstätte halten. 

Ferner ist zu denken an die Gründung eines sozialhygie¬ 
nischen Museums alg Anschauungsstätte für Publikum und 
Fürsorgeorgane auf dem Gebiete der ganzen sozialen Hygiene 

und Volks Wohlfahrt. Viele bedeutsame Anfänge und schon Er- 

✓ 

füllungen solcher Sammlungen kennen wir von der Hygiene- 
Ausstellung: „der Mensch“ in Dresden her; sie brauchten nur in 
unserem Sinne ergänzt und neu aufgestellt zu werden; Reproduk¬ 
tionen müßten liberal zugestanden werden. Eine Fülle von 
unendlich wichtigem Anschauungsmaterial stände dadurch allein 
schon ohne allzu große Kosten für unsere Zwecke zur Verfügung. 
Bekanntlich geht keine Belehrung leichter und gründlicher ein 
als durch gut zusammengestelltes Bilder- und Zahlenmaterial in 
Verbyidung mit erklärenden Vorträgen. Auch die Veranstaltung 
von Wandermuseen und Wandervorträgen bald aus diesem, bald 
aus jenem Fürsorgegebiet oder aus mehreren zusammen könnte 
in Betracht gezogen werden. Die bisherigen guten Erfahrungen 
damit muntern entschieden zu weiteren Unternehmungen dieser 
Art auf. Auch aus der sozialen Irrenfürsorge läßt sich ftit 
Leichtigkeit eine solche Teilausstellung zusammenbringen. 

Als eine weitere sehr wertvolle Ergänzung in der Ausbildung 
für die soziale Fürsorgetätigkeit erkennen wir die Einrichtung von 
sozialhygienischen Führungen durch in dieser Hinsicht 
wichtige Betriebe und Einrichtungen sowohl für das große Publi- 


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548 Fischer, Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 

kum wie besonders für Fürsorgepersonen jeder Art. Beispiel¬ 
weise wäre dabei etwa zu denken an Besichtigung großer Fabriken 
und Wohlfahrtseinrichtungen, großer städtischer lind staatlicher 
neuzeitlicher Betriebe, Krankenhäuser, Irrenanstalten, Schulhäuser, 
Gefängnisse usw. 

Dujrch eine derartige Ausbildung und Verbreitung der sozial¬ 
hygienischen Gesellschaft über das ganze Reich bekämen wir eine 
außerordentlich segenvolle Einrichtung zur Unterstützung und 
Bereicherung unseres gesamten sozialen Fürsorgewesens, deren 
ganzer Wert sich jetzt noch gar nicht abschätzen läßt. Ein stetes 
und enges Zusammengehen zwischen wissenschaftlicher Forschung 
und praktischer Arbeit ist vielleicht auf keinem Gebiete so wichtig, 
so nötig, aber auch so unmittelbar erfolgreich, wie bei den von 
uns verfolgten Zielen der Wohlfahrtspflege am Volke, weil eben 
gerade auf Grund der Ausdehnung unserer Fürsorgeorganisationen 
auch eine sofortige Verwertung der Forschungsresultate auf 
das Volksganze möglich ist. Die soziale Psychiatrie verlangt 
daran aber, wie ich im ersten Teil glaube nachgewiesen zu haben, 
sowohl wegen ihrer eigenen Bedeutung als Einzelgebiet wie auch 
wegen ihrer engen Verwobenheit mit allen anderen Fürsorgearten 
mit gutem Recht ihren gewichtigen Anteil. 

Für unser gesamtes soziales und sozialhygienisches Wirken 
gilt in diesem Zusammenhänge das Wort OTcens : „Alle Fach¬ 
weisheit ist zuletzt doch nur Vorarbeit für die große Bildungs¬ 
arbeit am Volke“. 




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Uber unnötige Satzungen. 

Von 

Professor Rleger in Würzburg. 

Unser Jubilar hat viel Wichtiges gewirkt und geschaffen 
auf dem Gebiet der Beziehungen der Justiz und der Verwaltung 
zu der Psychiatrie. Als die Aufforderung an mich gelangte zu 
einem Beitrag für diese Festschrift, kamen mir deshalb bei dem 
Überblick über seine Schriften vor allem die Erinnerungen an 
Einschlägiges 'aus den Erfahrungen meiner eigenen Praxis von 
vier Jahrzehnten. Gerade in den Tagen, als ich darüber nach¬ 
dachte, las ich auch dieses in der psychiatrisch-neurologischen 
Wochenschrift vom 7. Dezember 1918: 

Zum Ersuchen des Reichskanzlers vom 4. Juni 1918 betreffs Auf¬ 
nahme usf. von Geisteskranken in Irrenanstalten. Vortrag von Watienberg- 
Lübeck auf der Jahresversammlung norddeutscher Psychiater und Neuro¬ 
logen in Rostock vom 27. Juli 1918. 

Direktor Wattenberg hat dort eindringlich gewarnt vor den 
Schädigungen der Psychiatrie durch unnötige Bureaukratisierung. 
Als ich seine Warnungen las, habe ich mir dieses besonders zum 
Bewußtsein gebracht: auch ich mußte immer auf der Wacht stehen 
gegen solche Gefahren. Wenn ich auch nur das Wichtigste da¬ 
von Erzählen wollte, brauchte ich viele Bogen,^ In der Papiernot 
stehen mir aber nur wenige Seiten zur Verfügung, und deshalb 
muß ich mich auf weniges Charakteristisches beschränken. 

In meinem Buch: „Die Julius-Universität und das Julius- 
Spital“ steht dieses auf der Seite 135: 

Für jede Gegend ist wichtig ein psychiatrisches Institut, das immer 
aufnahmefähig ist. Und das konstatiere ich hier mit einigem Stolz: Ich 
habe es fertiggebracht, daß ich immer so rechtzeitig evakuiert habe, daß 
ich auch immer wieder neu aufnehmen konnte. Eine Stauung in der Auf¬ 
nahme ist in meiner Klinik einfach niemals eingetreten. Ich habe ja, um 


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550 


Rieger, 


dies zu erreichen, oft viele persönliche Energie aufwenden müssen. Und 
besonders mußte ich möglichst wenig abwesend sein, damit ich das Ent¬ 
lassungsventil immer selbst in der Hand hatte. Ich muß aber in diesem 
Punkt auch die günstigen Verhältnisse hervorheben und anerkennen, 
deren ich mich in Würzburg deswegen zu erfreuen habe, weil ich ohne 
jede bureaukratische Bevormundung handeln kann, ohne Satzungen, ohne 
Statuten, nur unter den einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches. 
Unter einem „Irrengesetz“ wäre auch meine Klinik jedenfalls in die gleiche 
Stagnation geraten, wie sie überall unter solchen papiernen Mächten ein- 
treten muß. Und da hätte wohl auch alle meine Energie nichts mehr 
genützt. 

Dieses bedarf aber einer Ergänzung. Denn man könnte dar¬ 
nach glauben, meine Freiheit sei eine mühelose gewesen. Im 
ganzen ist es ja so: meine Klinik ist direkt herausgewachsen aus 
eiper Tradition des alten Spitals, die bis in das Jahr 1580 zu¬ 
rückreicht. In diesen langen Jahrhunderten waren die psychia¬ 
trischen Fälle ifnpier gleich behandelt worden wip alle anderen. 
Und so hatte es nur eine medizinische Tradition im allgemeinen 
gegeben und keine besonderen Satzungen für die psychiatrischen 
Fälle. Und auch als ich im Jahre 1888 mit den psychiatrischen 
Kranken aus dem räumlichen Zusammenhang mit den anderen 
Kranken auszog, hat man im Punkte von Satzungen u. dergl. 
nichts Besonderes stipuliert. Es ist mir gelungen, diesen guten 
Zustand in den einunddreißig Jahren seither zu erhalten. Aber 
so ganz mühelos ist es doch nicht gegangen. Es galt doch- auch 
einigermaßen „der Weisheit letzter Schluß“: 

Nur der verdient sich Freiheit und das Leben. 

Der täglich sie erobern muß. 

Und ich mußte manchmal auch „umrungen von Gefahr mein 
tüchtig Jahr verbringen“. 

Wenn ich mich dann frug: Woher kommt die größte Gefahr? 
kam ich auf die Antwort: Fast immer davon, daß die Psychiater 
selbst nicht vorsichtig genug sind in den zwei Punkten, die die 
gefährlichsten Klippen sind, nämlich in den antagonistischen Para¬ 
graphen des Strafgesetzbuches: einerseits 239, andererseits 121 
und 347: Skylla und Charybdis. Hier: Wer vorsätzlich und 
widerrechtlich einen Menschen einsperrt u. s. f. Dort: Wer einen 
Gefangenen entweichen läßt u. s. f.; und: Ein Beamter, welcher 
einen Gefangenen entweichen läßt u. s. f. 


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UNIVERSETY OF MICHEGAN 



551 


Über unnötige Satzungen. 

Die Klagen lauten dann das eine Mai: er hat zu viel ein¬ 
gesperrt; das andere Mal: er hat zu wenig eingesperrt. Und da 
habe ich nun häufig gefunden, daß Psychiater übereifrig sind. 
Z. B.: Ich hatte über einen achtunddreißigjährigen ledigen Mann 
dieses berichtet: 

Ich habe eine Entscheidung des Reichsgerichts gelesen, in welcher 
der Standpunkt vertreten ist: es solle kein zu großes Mißverhältnis be¬ 
stehen zwischen der Zeit einer Kriminalstrafe und der Zeit einer psychiatri¬ 
schen Internierung. Diese Auffassung habe ich immer vertreten. Nur 
dann, wenn die Gefahr neuer Vergehen ganz evident ist, wird man un¬ 
begrenzt lange Sicherheitsmaßregeln anwenden dürfen. Die trifft aber in 
vorliegendem Falle nicht zu. 

Der Mann hatte einige Male nicht besonders schwere Sitt¬ 
lichkeitsdelikte begangen und war jetzt schon so lange in psy¬ 
chiatrischen Instituten interniert, wie aus dem Nachstehenden 
ersichtlich ist. 

Es dürfte deshalb jetzt Pflicht sein, wieder einen Versuch in der 
Freiheit zu machen, wobei ja dann immerhin den Eltern Verpflichtungen 
zur Verhütung von neuem Unglück auferlegt werden können. Aber die 
betagten Eltern wünschen sehr, daß er jetzt wieder bei ihnen leben dürfe. 
Und man wird diesen Wunsch um so mehr beachten müssen, als er ihr 
einziges lebendes Kind ist. Sie haben mir gesagt, es sei ihnen sehr schmerz¬ 
lich, daß sie von ihrem einzigen Kinde getrennt leben müssen. Und dies 
trübe ihren Lebensabend sehr. Auf solche Gefühle muß man Rücksicht 
nehmen in einem Fall, in dem es sich nicht handelt um eine Strafe, deren 
Zeit durch ein Gesetz und durch ein gerichtliches Urteil bestimmt ist, und 
die deshalb verbüßt werden muß. Denn hier handelt es sich ja nur um 
ein willkürliches Ermessen. Und dieses muß allen Umständen Rechnung 
tragen. Auch würde längere Internierung die Eltern in einer Weise pekuniär 
belasten, die ohne zwingenden Grund auch nicht ins Ungemessene aus¬ 
gedehnt werden darf. Und dazu kommt, daß dem Sohne selbst, der jetzt 
schon 38 Jahre alt ist, wenn ihm noch länger die Freiheit entzogen würde, 
damit auf die Dauer jede Möglichkeit abgeschnitten würde eines selb¬ 
ständigen Erwerbs. Zu einem solchen ist er aber an und für sich ganz gut 
befähigt. In der Zeit meiner Beobachtung habe ich den Eindruck be¬ 
kommen, daß er auf bescheidener Stufe ganz Brauchbares als Chemiker 
leisten würde. Und die Eltern haben mir,auch ausdrücklich gesagt, es 
wäre ihnen ganz besonders peinlich, wenn jetzt noch weitere Zeit in dieser 
Richtung ungenutzt verginge und damit auch für später jede Hoffnung 
schwände. Zeugnisse von Chemikern, bei denen er früher gearbeitet hat, 
hat mir der Vater vorgelegt. 'Auch sie bestätigen, daß er für einfache 
Laboratoriumsarbeiten ganz brauchbar ist. Man wird also wohl annehmen 


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552 


Rieger, 


dürfen, daß der Gedanke der Eltern, er könne doch noch einmal in seinem 
Fach etwas verdienen, nicht ein ganz grundloser oder chimärischer ist. 
Für einfache Arbeiten in einem chemischen Laboratorium genügt seine 
Intelligenz. Und deshalb sollte man ihm diese Arbeitsmöglichkeit auch 
nicht auf die Dauer abschneiden. Für die Frage: Darf er mit Rücksicht 
auf sicherheitspolizeiliche Gründe jetzt in Freiheit entlassen werden? 
kommt eine mäßige geistige Schwäche überhaupt nicht in Betracht. 
Diese wäre nur wesentlich in bezug auf die Frage der Aufhebung der Ent¬ 
mündigung. Diese ist aber nicht gestellt und die Aufhebung nicht 
beantragt. JSs handelt sich jetzt bloß um das Leben außerhalb oder inner¬ 
halb einer Anstalt, und diese Frage hat mit dem entmündigten oder nicht 
entmündigten Zustande nichts zu tun. Er war im ganzen rund 8 Jahre 
in psychiatrischen Anstalten. Für seinen Beruf als Chemiker hatte er dort 
gar keine Anregung oder Förderung. Auch ich konnte ihn nur im Garten 
beschäftigen. Wenn man ihn also jetzt nicht wieder sich in seinem Beruf 
betätigen läßt, so ist er für den ganzen Rest seines Lebens verdammt zur 
Berufslosigkeit und Faulenzerei. Dies finde ich sehr unzweckmäßig. — 
Ich habe den Eindruck von ihm, daß er sich in bezug auf die Sexualdelikte 
in Zukunft in Acht nehmen wird. Er ist sich klar darüber, daß, wenn er 
nochmals ein solches Delikt beginge, er alsdann niemals mehr aus der 
psychiatrischen Internierung herauskäme. Und die Eltern werden auch 
alles aufbieten, um einem solchen Rückfall vorzubeugen. Somit ist die 
Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls gering für den Fall der Freiheit. Da¬ 
gegen ist sicher, daß sein Leben durch eine noch länger fortgesetzte Inter¬ 
nierung für die Dauer ruiniert und er zu völliger Unbrauchbarkeit ver¬ 
dammt wäre. Dies wäre aber nach Lage der Sache zu hart sowohl für ihn 
als für seine Eltern. Ich meine deshalb, die sicherheitspolizeilichen Gründe 
könnten jetzt nicht mehr so stark in die Wagschale fallenwie vor vier Jahren. 
Und es wäre Pflicht der Vormundschaft, daß sie dafür Sorge trüge, daß 
er noch einmal einen Versuch in der Freiheit machen könnte zur Wieder¬ 
aufnahme eines Berufs und einer geregelten Tätigkeit. Und gegenüber 
von dem zweifellosen Unrecht gegen die Eltern kann doch die bloß zweifel¬ 
hafte Möglichkeit eines Rückfalls des Sohnes nicht in die W'agschale fallen. 

Ein anderer Psychiater hat aber in diesem Fall nachher 
gemeint: Wenn es gesetzlich so etwas gäbe wie eine Haftpflicht 
des Psychiaters für schlimme Folgen seiner befürworteten Ent¬ 
lassungen, dann wäre mein Gutachten wohl anders ausgefallen. 
Es ist lange her, daß ich dieses mit Erstaunen gelesen habe, 
und ich habe in der langen Zeit immer gedacht, ob ich nicht 
eine Gelegenheit dazu fände, daß ich mich öffentlich äußern 
könnte über eine solche Haftpflicht.^ Hier habe ich nun diese 
Gelegenheit. Und die Geschichte ist mir deshalb jetzt eingefallen, 


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Über unnötige Satzungen. 


553 


weil ich mir auch dabei sage: mit solchen Haftpflicht-Gedanken 
bedroht die Psychiatrie nicht bloß die persönliche Freiheit ihrer 
Objekte, sondern auch die Subjekte der psychiatrischen Praxis 
kommen in fatale Lagen und Gefahren bei solchen Gedanken an 
exorbitante Paragraphen. Ich habe damals noch dieses geschrieben: 

Eine bestimmte, wissenschaftlich begründbare Prognose kann es in 
solchen Fallen niemals geben. Weder kann ich sagen/ er wird keine 
Sittlichkeitsdelikte mehr begehen, noch kann ein anderer Psychiater sagen: 
er wird sicher wieder solche begehen. Die Wahrscheinlichkeit für und 
wider kann etwa auf 50% geschützt werden. Ich habe nun in den langen 
Jahren, in welchen ich mich mit solchen zweifelhaften Fällen zu beschäfti¬ 
gen hatte, immer den Grundsatz empfohlen: In dubio mitius. Und dieses 
mitius habe ich besonders immer dann empfohlen, wenn die nächsten 
Angehörigen stark die Freiheit gewünscht haben; so, wie es hier die Eltern 
tun. f Solche Gefühlsmotive dürfen selbstverständlicherweise nicht in 
Betracht kommen in dem Fall eines Kriminalurteils, das einfach, ohne 
Ansehen der Person, die Strafe zumessen muß. — Die Polizei und der 
Vormund sind aber keine Kriminalrichter. Speziell der Vormund hat bloß 
für das Wohl des Entmündigten zu sorgen. Die polizeiliche Frage der 
Gemeingefährlichkeit geht ihn direkt gar nichts an. Dies wird auch von 
allen Gerichten immer anerkannt. Was die „Haftpflicht des Psychia¬ 
ters“ betrifft, so bin ich immer am besten gefahren bei diesem Grundsatz: 
der Psychiater soll auch das Wort nicht außer acht lassen: Beneflcia non 
obtruduntur. Wenn die Eltern und der Sohn selbst oder auch nur die 
Eltern sagten: Ach ja, es ist doch besser und sicherer, wenn er in einer 
Anstalt vor Rückfällen geschützt ist — so wäre alles ganz anders. Und 
wenn man ihm dann das beneficium non obtrusum sed petitum der Inter¬ 
nierung verweigerte, so wäre dies allerdings gegen, die ärztliche Pflicht. 
In dem vorliegenden Fall aber wäre es, meines Erachtens, das einzig Rich¬ 
tige, zu sagen: Kommt ein neues Delikt, so wird es kriminalistisch und 
nicht psychiatrisch behandelt. — Das war ja auch hier wie sonst so oft: 
damit sie um das Gefängnis herumkommen, hatten Eltern und Sohn 
seinerzeit die Anwendung des § 51 StGB, als Wohltat angesehen. Und 
davon haben sie natürlich auch die Folgen tragen müssen. Aber dies hat. 
auch seine zeitlichen Grenzen. Und diese zeitlichen Grenzen sind der Haupt¬ 
punkt gegenüber von dem Elend und der Hoffnungslosigkeit der lebens¬ 
länglichen Internierung. 

Wenn Gericht und Polizei einen Psychiater um Rat fragen, 
so gilt für diesen seinen Rat der alte Juristenspruch: ob consilium 
nemo tenetur. Das heißt: er muß zwar als Beeidigter und Ver¬ 
pflichteter unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen 
anssagen, aber mehr als dieses subjektive Moment kommt nicht 


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Rieger, 


in Betracht. Wenn der weitere Verlauf erweist, das Gutachten 
war objektiv falsch, kann er dafür nicht haftbar gemacht werden. 
Dies ist der große Unterschied zwischen einer objektiv irrigen, 
ärztlichen Aussage und einer ärztlichen Handlung oder Unter¬ 
lassung im Sinne der Paragraphen 222 und 230 des Strafgesetz¬ 
buchs. Eine solche Ausdehnung der psychiatrischen Haftpflicht 
ist unmöglich. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit ist immer da, 
es könnte etwas Schlimmes passieren. Und da könnte ja über¬ 
haupt kein Psychiater mehr riskieren, zur Freiheit zu raten. 
( Denn wenn etwas Schlimmes käme, wäre er ja haftpflichtig. 
Wenn es aber dann unter einem solchen Druck eine Zeitlang 
viel weniger Freiheit gäbe, dann käme nur wieder eine solche 
Reaktion, wie ich sie z. B. um das Jahr 1895 mitangesehen habe. 
Damals ging eine Sensationswelle durch Deutschland. In Württem¬ 
berg war es der Oberbürgermeister Hegelmaier in Heilbronn und 
mehrere andere; in Aachen waren es die Alexianer, die sensa¬ 
tionell wirkten. Und einige von diesen Wellen schlugen auch an 
meine ruhigen Würzburger Ufer. Ich habe es aber doch fertig 
gebracht, daß sie keinen bleibenden Schaden gestiftet haben. Be¬ 
sonders ein Erlebnis vom Jahr 1895 ist mir in dem neuen Jahr¬ 
hundert wieder lebhaft in Erinnerung gekommen, als ich die 
Phantasie von vorhin las über die Haftpflicht der Psychiater. 
Weil damals die Sensationen gerade eingestellt waren auf den 
Schutz der Freiheit, ging es einem Arzt schlecht, der einen be¬ 
sonderen Pflichteifer und ein lebhaftes Haftpflichtgefühl gezeigt 
hatte. Statt daß sie ihn dafür belobt hätten, haben hohe Juristen 
ihn schlimm gezaust mit Worten wie diese: „Es gilt Einspruch 
zu erheben und Front zu machen gegen solche allzu zärtlichen 
psychiatrischen Umarmungen. Die Freiheit ist im ganzen Land 
bedroht durch die Psychiatrie“ — und ähnliche Reden. Wenn 
um das Jahr 1895 die Sensationswellen nicht gerade in dieser 
Richtung gelaufen wären, sondern in der entgegengesetzten, dann 
wäre etwa statt der „allzu zärtlichen Umarmungen“ etwas ge¬ 
kommen von allzu gleichgültigem Verhalten gegen gefährliche 
Menschen u. dergl. Und so ist der Psychiater immer zwischen 
der Skylla und Charybdis der Paragraphen (oben Seite 679). 

Der Arzt vom Jahr 1895 hat ganz recht gehabt, und trotz- 


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Über unnötige Satzungen. 


555 


dem zausten ihn die Juristen schlimm. Er dachte sehr an seine 
Pflicht, Unheil zu verhüten, und er hatte „des Teufels Dank“ 
dafür. So wird es oft gehen, und deshalb soll man nicht noch 
weitere Haftpflichten phantasieren, als man so schon hat. Es 
ist mir damals gelungen zu verhüten, daß die allzu zärtliche 
Umarmung eine schädliche Gegenwirkung auch auf meine Klinik 
gehabt hätte, und daß alles in dieser Hinsicht ohne Schaden ab¬ 
lief. Aber ich bin doch von da ab auch immer mehr noch von 
diesem Gedanken beherrscht gewesen: der Schutz der persönlichen 
Freiheit ist besonders den hervorragenden, dominierenden, ma߬ 
gebenden Juristen die Hauptsache. Und wenn ein Psychiater 
gerade unter sensationellen Konstellationen, die immer ganz vom 
Zufall abhängen, die persönliche Freiheit zu bedrohen scheint, 
dann kann er auf lange hinaus Schaden stiften und den sach¬ 
gemäßen Betrieb der Psychiatrie stören. Die Wirkungen der da¬ 
maligen Sensationen in verschiedenen deutschen Ländern habe 
ich geschildert in meinem ersten Bericht, den ich um das Jahr 
1895 herum und unter dessen Sensationen allmählich zusammen¬ 
geschrieben habe. Und wer sich dafür interessiert, der kann 
dort vieles Einschlägige aus jenen Jahren lesen. Wer ihn nicht 
besitzt und ihn zu lesen wünscht, der braucht mir nur zu schreiben. 
Jch kann sofort ein Exemplar schicken, solange ich noch Vorrat 
habe. 

Ich selbst hatte also, weil ich nicht in die „allzu zärtlichen 
Umarmungen“ verfallen war, nach dem Jahre 1895 doch im 
wesentlichen Ruhe im Punkt der Gefahren, welche drohen von 
dem § 239 Str.-G.-B. Und dabei kann ich andererseits doch auch 
mit gutem Gewissen behaupten: Ich habe auch kein Unglück 
angerichtet. Ich habe mich immer ernstlich geprüft: habe ich 
nicht doch durch zu viele Freiheit gefehlt in der Richtung des 
Stiftens von Schaden? Aber ich darf sagen, ich hatte die zweifel¬ 
haften Fälle doch immer richtig taxiert, und es ist mir nichts 
passiert. Wenn einmal was passiert wäre, so wäre die Sensation 
natürlich sofort umgeschlagen in die Charybdis des Gegenteils, 
und man hätte schärfer betont die Paragraphen 121 und 347 
und was mit ihnen zusammenhängt. Und von dieser Seite aus 
habe nun auch ich noch am ehesten Anfechtungen zu erdulden 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/6. 38 


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Ri e g e r, 


gehabt, aber nicht etwa, weil ich Unglück gestiftet hätte; denn 
wie ich soeben konstatiert habe, ist mir ja gerade darin nichts 
passiert. Sondern es war mbhr bureaukratischer Formalismus, 
und insofern auch speziell juristischer, weil man da immer vor 
allem darauf bestand: auch die psychiatrischen Fälle, welche die 
Polizei eingewiesen hat, sind „Gefangene“ im Sinne der Para¬ 
graphen 121 und 347. Und mit Hilfe dieser Auslegung hat 
man mich allerdings manchmal bedroht. Und ich habe diese 
Drohung auch nicht gering geachtet. Denn es fiel mir dabei 
immer der wichtige Spruch ein: 

Faust t. 3361: 

Ich weiß mich trefflich mit der Polizei, 

Doch mit dem Blutbann schlecht mich abzuflnden. 

Ein Paragraph des Strafgesetzbuchs ist eben ernsthafter als 
etwas bloß Polizeiliches. Nun habe ich allerdings manchmal 
dagegen geschrieben: meine psychiatrischen Kranken sind keine 
Gefangenen. Ein Gefangener ist, wer eine zeitlich festhestimmte 
Strafzeit zu verbüßen hat. Und nur derjenige fällt unter die 
Paragraphen, welcher einen solchen wirklichen Gefangenen früher 
in Freiheit läßt, als es geschrieben steht; wie es mir demgemäß 
auch niemals eingefallen ist, jemanden in Freiheit zu lassen, von 
dem mir ausdrücklich geschrieben worden war: seine Strafzeit 
läuft ab am so und so vielten. Diese wirklichen Gefangenen 
habe ich natürlich immer zum mindesten genau bis zu ihren 
Terminen behalten. Und wenn ich auch diese vorher in Freiheit 
entlassen hätte, so hätte ich den Paragraphen 347 zweifellos 
verletzt. — Ich habe also manchmal zu behaupten versucht: 
die bloß wegen Gefährlichkeit von der Polizei in'die Klinik Ge¬ 
schafften, ohne jeden Termin und nur abhängig von ihren je¬ 
weiligen Zuständen, diese sind keine Gefangenen. Bei ihnen 
hängt ja eben alles bloß davon ab, wie sich nach der Einschaffung 
der Zustand weiter entwickelt hat. Und dies zu beurteilen und 
in seinen Folgen abzuwägen, dazu bin doch offenbar bloß ich in 
der Lage. — Aber auf meine Darlegungen in diesem Sinne hin 
haben die Juristen in der Regel auf Kommentare zum Straf¬ 
gesetzbuch verwiesen, in welchen stand: auch die durch die Polizei 
in psychiatrischen Instituten Internierten fallen nnter die Para- 


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Über unnötige Satzungen. 


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graphen der Gefangenenbefreitmg. Und so hätte ich also doch 
auch manchmal mich kriminalistisch verfehlt insofern, als dann 
eben doch vorher hätte ein ausdrücklicher schriftlicher Beschluß 
mir vorliegen müssen, daß das Frühere aufgehoben sei, auch 
wenn es bloß rein Polizeiliches war. Und so ist es von Zeit zu 
Zeit immer wieder vorgekommen, daß man mir die Paragraphen 
des Strafgesetzbuchs von der Gefangenenbefreiung vorgehalten 
hat. Dagegen habe ich im allgemeinen in der Regel auch nichts 
weiter eingewendet. Denn ein solcher Streit um das Wort: Ge¬ 
fangener geht den Mediziner schließlich doch nicht wesentlich an. 
Ich habe aber in jedem einzelnen Fall immer auch deutlich darauf 
hingewiesen: Wenn man nicht dulden will, daß ich diese „Ge¬ 
fangenen“ von mir aus deshalb entlasse, weil sie eben jetzt nicht 
mehr gefährlich sind, dann muß man auch dafür sorgen, daß die 
„Gefangenschaft“ nicht so unerträglich langsam aufgehoben wird, 
wie es in der Regel der Fall ist. Und mit diesem Hinweis auf 
die unendlichen Verschleppungen in den Büreaus habe ich dann 
doch immer gesiegt. So war es z. B. bei einem Epileptischen. 
Der Polizeiarzt hatte ganz mit Recht geschrieben, als er ihn 
untersuchte: „Der Mann ist in hohem Grade gemeingefährlich, 
er kann seine Frau totschlagen.“ Aber kaum hatte er es 
geschrieben, war der Mann auch nicht mehr gemeingefährlich, 
und die Frau wünschte aus pekuniären Gründen selbst am meisten 
die Entlassung. Das Ehepaar wohnte in nächster Nähe der 
Klinik. Ich kannte seit langen Jahren nicht bloß ihn selbst, 
sondern auch seine ganze Familie, als Nachbarsleute. Und da 
habe ich denn auch nicht lange gewartet, bis man mir schrieb, 
der Beschluß wegen Gemeingefährlichkeit sei aufgehoben, sondern 
ich habe die dringende Bitte der Ehefrau erfüllt und ihr gesagt, 
sobald er wieder unruhig werde, könne sie ihn sofort wieder ohne 
alles Weitere in die Klinik bringen. So hat sie ihn denn im 
Laufe der Zeit auch noch fünfmal gebracht. Und es ist in der 
realen Wirklichkeit gar nichts Übles passiert, und nur in der 
papierenen Welt hat man mir mein Verfahren übelgenommen. 
Und man wollte gerade aus diesem Fall des so sehr gefährlichen 
Gefangenen mir das machen, was man heißt: „einen Strick 
drehen“. Ich habe mich aber kräftig zur Wehr gesetzt und der 

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Ri eger, 


papierenen Welt besonders auch ihre schreckliche Langsamkeit 
vorgerückt und hingerieben. Ich schrieb damals: 

Alle psychiatrischen Anstalten, nicht bloß in Bayern, sondern auch 
in den benachbarten Ländern, besonders in Württemberg und Baden, 
sind immer überfüllt. Und es findet deshalb immer ein gewaltiger Andrang 
von Kranken zu der psychiatrischen Klinik in Würzburg statt. Auch die 
Einwohnerzahl der Stadt Würzburg wächst immer mehr. Und, selbstver¬ 
ständlicherweise. kommen deshalb auch aus der Stadt Würzburg immer 
mehr Kranke in die Klinik. Trotzdem habe ich es bisher immer fertig¬ 
gebracht, daß frische Fälle stets aufgenommen werden konnten. Dieses 
konnte ich aber nur deshalb, weil ich immer rechtzeitig, bildlich gesprochen, 
das Entlassungsventil habe ziehen können. Sonst wäre es ganz unmöglich 
gewesen. Wenn ich nun an Stelle meiner bisherigen Freiheit jedesmal zu 
langen Verhandlungen gezwungen wäre, dann müßte sofort die schlimmste 
Stauung in der Krankenbewegung eintreten, und den Polizeibeamten 
müßte ein solcher Zustand unerträglich werden. Denn auch für sie ist 
die Hauptsache: Erhaltung der Möglichkeit, daß alle frischen Fälle immer 
sofort in die Klinik gebracht werden können. Dies ist aber unmöglich, 
wenn bei den Entlassungen eine Zeit verloren geht, die bloß durch 
Formalitäten bedingt ist und nicht durch wirkliche Ursachen. 

Wenn ich bei dem epileptischen „Gefangenen“ mich an das papierne 
Tempo gehalten hätte, so wäre er jedesmal dann in Freiheit gewesen, 
wenn er gefährlich war, und in der Klinik, wenn er keine gefährlichen 
epileptischen Zustände hatte. 

Dies war denn auch einleuchtend und durchschlagend, und 
demgegenüber verblaßten auch diese Deklamationen, die ja ganz 
plausibel zu sein schienen, die aber doch im wesentlichen bloß 
papieren waren. Ein Jurist hatte nämlich dieses geschrieben: 

Solchen Klagen kann einzig durch die Erlassung von Satzungen, 
welche die Aufnahme- und Entlassungsbefugnis der Direktion genau 
regeln, wirksam vorgebeugt werden. Nur der Besitz von Satzungen 
gewährt den Irrenanstalten ausreichenden Schutz gegen Anschuldigungen 
einerseits wegen widerrechtlicher Freiheitsentziehung, andrerseits wegen 
Vernachlässigung der schuldigen Pflege anvertrauter Kranker. Indem 
sich ferner die Satzungen vor allem die Forderungen der Psychiatrie zur 
Richtschnur nehmen, ermöglichen sie es dem Irrenarzte, den Kranken in 
allen Fällen Arzt zu sein und die Geltendmachung des Rechtsstandpunktes 
den hierfür zuständigen Organen, den Vormündern usw., zu überlassen. 

Dies ist ja alles recht schön gesagt und nimmt sich auf dem 
Papier auch recht schön aus. In Wirklichkeit ist es aber nicht 
schön, sondern so, daß die größten Mißstände durch Überfüllung 
deshalb entstehen, weil die Papiere, von denen dann alles ab- 


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Über unnötige Satzungen. 559 

bängt, nicht kommen. Dies war immer mein wirksamstes Argu¬ 
ment, z. B. so: 

Die Frau soll in ihre Heimat gebracht werden und könnte ganz gut 
reisen. Aber das Schreiben, das ich schon seit 3 Wochen erwarte, ist immer 
noch nicht gekommen. Es ist eine reine Formalität. Wenn ich auf diese 
nicht Rücksicht nehmen müßte, wäre sie schon längst in ihrer Heimat. Ein 
Grund für die Verzögerung ist bei dem ganz einfachen Falle gar nicht 
ersichtlich. Wenn es mit den Entlassungen so langsam geht, so sind Neu¬ 
aufnahmen ja unmöglich, und das ist das Schlimmste. 

Immer wenn man mir nnnfitze Satzungen aufdrängen wollte, 
habe ich remonstriert mit meinen Klagen über die Verschleppungen. 
Und dies war immer so wirksam, daß ich dies Verfahren nur 
auf das wärmste auch anderen Kollegen empfehlen kann. Ich 
hatte mir ein unmittelbar übersichtliches und evidentes Ver¬ 
schleppungs-Verzeichnis angelegt, aus dem ich dann immer, wenn 
es not tat, aus dem Vollen schöpfen konnte. Und das war meine 
wirksamste Waffe gegen die unnötigen Satzungen. Auch in anderer 
Weise habe ich jedesmal, wenn wieder Satzungen kommen sollten, 
den Spieß umgedreht, z. B. so: 

Ich benutze auch diese Gelegenheit zu der Bitte, es möchten doch 
überhaupt die Personalien der Kranken genau angegeben werden. Es ist 
wirklich tief beklagenswert, wie viele Zeit ich immer deshalb verliere, 
weil ich immer wieder auf Ergänzung der Akten dringen muß. Ich meine, 
dies müßte doch endlich einnfal anders werden. Eine einzige kurze, prä¬ 
zise und erschöpfende Angabe erspart eine Menge von Zeit, Papier und 
Tinte. 

Im gleichen Sinne habe ich auch in meinem Buch: „Die 
Julius-Universität und das Julius-Spital“ viele Beispiele gegeben 
davon, daß gerade di^Büreaukraten, welche mich am meisten mit 
unnötigen Schreibereien gequält haben, in ihren papierenen Ex- 
uberanzen immer doch recht mangelhaft sind und bei aller Viel¬ 
schreiberei gerade immer das Wichtigste vergessen. Wer Beispiele 
davon lesen will, den verweise ich deshalb auf dieses Buch. 

In bezug auf die Langsamkeit habe ich seinerzeit noch dieses 
geschrieben: 

Der langsame Geschäftsgang ist völlig unvereinbar mit den Be¬ 
dürfnissen der Psvchiatrie. Denn hier muß immer alles, was die Aufnahmen 
und Entlassungen betrifft, umgehend erledigt werden. Das einzige Mittel, 
welches die Krankenbewegung in erträglichem Gange erhalten kann, ist 


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R i e g.e r, 


Freiheit in den Entlassungen. Andernfalls kämen unerträgliche Zustände. 
Denn es ist unmöglich, daß auf dem papierenen Wege alles so rasch erledigt 
werde, wie ich es ohne Papier erledigen kann. Man kann die Fälle eben 
nur dann rasch erledigen, wenn man sie immer direkt und persönlich vor 
Augen hat. Wenn man sich immer erst lange in Papiere hineinstudieren 
muß, dann dauert alles viel zu lange. Und alsdann ist auch eine unerträg¬ 
liche Uberfüllung unvermeidlich. 

Vor hundert Jahren hat der damalige Würzburger Psychiater Dr- 
Anton Müller folgende vortreffliche Sätze geschrieben in seinem Buche: 
Die Irrenanstalt des Julius-Spitals (Würzburg 1824) S. 29: 

„So ein mit Formen begleiteter langwieriger Geschäftsgang kann 
wohl bei der Rechtspflege innegehalten werden, für das Ärztliche paßt er 
aber gar nicht. Der bei einer Gerichtsstelle eines erlittenen Schaden¬ 
ersatzes wegen nachsuchende Untertan hat immer Ursache, zufrieden zu 
sein, wenn das für ihn günstige Urteil auch 3—4 Wochen oder Monate 
später erfolgt, als es hätte erfolgen können, und dem Verbrecher kommt 
das Strafurteil immer zu früh. Ganz anders verhält es sich mit dem Prozeß, 
den der Arzt mit der Krankheit zu führen bekommt. Hier läßt sich kein 
zerstörlicher Termin auf Tage und Wochen anberaumen, die Krankheit 
zerstört selbst, und der^Tod gewinnt den Prozeß.“ 

Und gerade in den Tagen, da ich diese Stelle ans dem alten 
Buch herausgeschrieben habe, ist mir die nachstehende Zeitungs¬ 
notiz in die Hände gekommen: 

Beim Bahnhof wurde die Leiche einer Frau aufgefunden. Sie war 
leidend und hat schon öfters Selbstmordgedanken geäußert. Sie hat sich 
von einem Bahnzug überfahren lassen. 

Und dann kam ^ auch der Ehemann und der Sohn und be¬ 
lichteten, sie hätten sie vorher in die Klinik gebracht, wenn es 
nicht so viele Schwierigkeiten und Verzögerungen bei dem Magi¬ 
strat gegeben hätte. — 

Daß es bei dem Magistrat nicht so schnell gehen kann wie in der 
Klinik; dies ist ja unmittelbar einleuchtend. Denn schon die mechanische 
Tätigkeit des Schreibens muß ja immer sehr viele Zeit in Anspruch nehmen. 
Dies ist einfach unvermeidlich. Deshalb meine ich aber auch, man sollte 
die Anlässe zu Unglücksfällen nicht noch weiter vermehren. Und wenn 
die Entlassungen erschwert würden, dann müßte die unfehlbare Folge 
diese sein, daß mehr Selbstmorde vorkämen. Denn dann wäre die Klinik 
in Bälde unerträglich überfüllt, und die Aufnahmen wären gesperrt. So, 
wie es jetzt ist, kann ich wenigstens die Klinik selbst offen halten. Und 
die Verzögerungen finden nur statt außerhalb der Klinik. Wenn es aber 
anders gemacht würde, dann wäre die Klinik selbst gleichfalls bald gesperrt. 


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Ober unnötige Satzungen. 


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Durch solche Gegenangriffe habe ich bis jetzt noch immer 
alle Versuche abschlagen können, die auf unnötige Satzungen 
gerichtet waren. Ich druckte gerne hier noch einiges Weiteres 
ab. Ich habe aber versprochen, ich nehme nur ungefähr 12 Druck¬ 
seiten in Anspruch. Und nach meiner Schätzung habe ich diese 
v schon hier überschritten. Ich muß deshalb zum Schluß eilen. 
Ich denke, daß ich schon in dem Vorstehenden, auch für andere 
in ähnlichen L^gen, Lehrreiches, berichtet habe. Was ich aber 
noch weiter mitteilen möchte, das muß ich verschieben auf meinen 
nächsten Bericht aus der psychiatrischen Klinik. Und in bezug 
auf das, was. ich schon früher habe drucken lassen, verweise ich 
nochmals auf meinen ersten Bericht. Dort habe ich auf Grund 
einer, damals zwanzigjährigen, Praxis vor allem dieses entwickelt: 
der Paragraph 239 des Strafgesetzbuchs schützt die Freiheit viel 
wirksamer als alle Polizeiverordnüngen. Jetzt, nach einer Er¬ 
fahrung von weiteren zwanzig, im ganzen also von vierzig Jahren, 
kann ich sagen: ich bin davon nur noch fester überzeugt. Und 
gerade jetzt, anläßlich dieses meines Aufsatzes, habe ich eine 
Menge von Zeitungsausschnitten nochmals durchgelesen, die ich 
mir im Laufe vieler Jahre gesammelt habe über einschlägige 
Geschichten aus allen deutschen Ländern. Und als ich diese 
aufmerksam las, mußte ich mir immer wieder sagen: die Haupt¬ 
ursache alles unnötigen Spektakels, Rumors, Skandals war diese: 
durch Satzungen und Polizeiverordnungen schien alles auf dem 
Papier in Ordnung zu sein. Aber auch die schwierigen Fälle 
waren nach den gleichen Papieren behandelt worden wie die 
allereinfachsten, die überhaupt keines Satzungspapiers bedurft 
hätten. Dadurch wurde aber das Bewußtsein und die Unter¬ 
scheidung für die schwierigen Fälle völlig abgestumpft. Wenn 
man dagegen immer die volle Verantwortlichkeit hat in bezug auf 
das Strafgesetzbuch, dann macht man den nötigen scharfen Unter¬ 
schied zwischen den Leuten, die nachdrücklich protestieren gegen 
die Internierung, und den anderen, bei denen dies gar nicht in 
Betracht kommt. 

Auf die Individualisierung und Differenzierung kommt alles 
an. Wenn er es zu tun hat mit nachdrücklich Protestierenden, 
dann muß der Psychiater anch seinerseits - nachdrücklich eine 


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562 Ri eg er, Uber unnötige Satzungen. 

Entscheidung von der Polizeibehörde verlangen. Wenn er dies 
tut, und wenn dann, wie es ja gewöhnlich ist, die Behörden die 
Entscheidung lange verschleppen, dann kann er jede neue Be¬ 
schwerde des Protestierenden mit eigenen drängenden Monitorien 
weitergeben in dem Sinne, daß im Hinblick auf das Strafgesetz¬ 
buch der Psychiater den Fall nicht auf eigene Verantwortung 
übernehmen kann, und daß deshalb hier die Behörden in ihren 
geregelten Instanzen entscheiden müssen. Wenn fliese dann ver¬ 
schleppen, ist der Psychiater außer aller Verantwortung. — 

Ich bedaure jetzt besonders, daß hier der Platz fehlt für den 
Abdruck der Zuschriften hervorragender Juristen, die ich auf 
meine früheren Darlegungen erhalten habe. Auch deren Sinn 
und Inhalt war: viele Verordnungen im einzelnen machen gerade 
eine richtige Wirksamkeit der wesentlichen und fundamentalen 
Gesetzesbestimmungen unmöglich. In meinem nächsten Bericht 
werde ich das Wichtigste von diesen Zuschriften abdrucken. 
Für dieses Mal spreche ich nur noch meine Hoffnung aus, es 
möge diese Auffassung auch den Beifall unseres Jubilars finden, 
der ja auch vielfach sich darum bemüht hat, däß der Psychiater 
mehr aus eigener Initiative handle und nicht bloß als ein Rad 
in der büreaukratischen Maschine. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust and Unlust. 

Von 

Dr. Hans Laehr. 

Gegenüber früheren Anschauungen über die physiologischen 
Korrelate von Lust und Unlust, die von den Ausdruckbewegungen 
ausgingen oder sich auf den Stoffwechsel in der Hirnrinde gründeten, 
hat Ziehen eine Auffassung vertreten 1 ), die er in den folgenden Sätzen 
zusanunenfaßt *): „Die Gefühlskomponente des psychophysiologischen 
Prozesses ist mit der Entladungsbereitschaft der kortikalen Zellen 
identisch. Einem bestimmten Empfindungs- und Vorstellungsinhalt 
entspricht ein bestimmter Veränderungsprozeß (z. B. eine chemische 
Umsetzung) in den Bindenzellen. Bei einem bestimmten derartigen 
Veränderungsprozeß kann die Entladungsbereitschaft noch sehr ver¬ 
schieden sein, d. h. die Tendenz und Fähigkeit zur Fortpflanzung 
der Erregung (z. B. der chemischen Umsetzung) in die aus der Zelle 
entspringenden Assoziations- bzw. Projektionsfasern kann größer oder 
kleiner sein. Einer großen Entladungsbereitschaft entsprechen die 
positiven, einer geringen die'negativen Gefühlsprozesse.“ 

Diese Theorie fußt auf der Ansicht, daß Lust den Vorstellungsablauf 
beschleunigt, Unlust ihn verlangsamt, und Ziehen glaubt den Nachweis 
geliefert zu haben, „daß in der Tat bei Vorherrschen lustbetonter Vor¬ 
stellungen die Reaktionszeit etwas verkürzt, bei Vorherrschen unlust- 
betonter Vorstellungen etwas verlängert ist“. Der Beweis ist aber nur 
für den geliefert, der die Gefühle der Erregung und Ruhe oder Depression 
(Wundi) nicht anerkennt und deshalb außer acht läßt. Ziehen berück¬ 
sichtigt zwar die Ablenkung der Aufmerksamkeit, aber nicht Erregung 
und Depression, die in.den beiden von ihm angeführten Beispielen doch 

1 ) Ziehen , Eine Hypothese über den sogenannten „gefühlserzeugen¬ 
den Prozeß“, Ztschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane Bd. 31, S. 21f>. 
und ausführlicher: Physiologische Psychologie der Gefühle und Affekte. 
Verhdl. d. Ges. deutscher Naturforscher u. Ärzte, Kassel 1903, S. 4L 

*) Im zweitgenannten Aufsatz S. 56. 


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564 


Laehr, 


wohl vorhanden sein konnten. Er versetzt einen Paralytiker, bei dem 
eines Morgens die akustische Reaktionszeit im Mittel zu 362 Tausendstel¬ 
sekunden bestimmt war, „durch einige suggestive Äußerungen über seinen 
Krankheitszustand in traurige Stimmung. Die Respiration wird etwas 
rascher, auf der Stirn zeigen sich einzelne Runzeln, der ganze Gesichts¬ 
ausdruck entspricht einer lebhaften Depression. Nunmehr ergibt sich 
eine mittlere Reaktionszeit von 448 Tausendstelsekunden. Unmittelbar 
darauf wird der Pat. in analoger Weise in heitere Stimmung versetzt. 
Die mittlere Reaktionszeit fällt alsbald auf 308 Tausendstelsekunden. 
Für. die kritische Beurteilung des Versuches ist besonders bemerkenswert, 
daß die sogenannte mittlere Variation vor den Affektreizen und während 
der heiteren Phase fast doppelt so groß war wie während der depressiven 
Phase. Ein ganz analoger Versuch bei einem angeborenen Debilen ergab 
beispielweise vor der Affektreizung 178 Tausendstelsekunden, nach de¬ 
primierenden Suggestionen 218, nach exaltierenden 165 Tausendstelse¬ 
kunden. Im Hinblick auf gewisse Einwände sei noch bemerkt, daß die Dif¬ 
ferenzen sich sowohl bei muskulärer wie bei sensorieller Reaktionsweise er¬ 
geben“ (S. 53). Wurde bei den Kranken durch die Suggestion neben lust¬ 
voller Stimmung auch Erregung hervorgebracht, so konnte diese — und 
mußte nicht, wie Ziehen meint, die lustvolle Stimmung — an der Verkür¬ 
zung der Reaktionszeit schuld sein. Nach dem Genuß von Kaffee, als dessen 
Wirkung Kraepelin eine Verkürzung der Reaktionszeit nachgewiesen hat, 
zeigt sich ja auch ein deutliches Erregungsgefühl, ohne daß hier Lust¬ 
gefühl wie nach Tee damit verbunden zu sein braucht. Freilich tritt 
in diesem Falle infolge des Bewußtseins rascherer Geistestätigkeit und 
erleichterter Aufmerksamkeit leicht auch Lust auf, nur darf man sie 
dann nicht als Ursache der Vorstellungsbeschleunigung betrachten, da 
sie vielmehr deren Wirkung darstellt. Die Veränderung, die die Reak¬ 
tionszeit und mittelbar das Gefühl betrifft, und die hier durch ein 
physisches Mittel bewirkt ist, würde in Ziehens Beispielen durch einen 
psychischen Reiz erzeugt sein. Und ebenso könnte die „Depression“ 
hier nicht nur das Gefühl der Unlust, sondern auch das der Depression 
umfaßt haben und letzterem die Verlangsamung der Reaktionszeit ent¬ 
sprechen. Nehmen wir das an, so wäre gerade bei einem Paralytiker und 
einem Debilen die Verkürzung der Reaktionszeit bei Erregung ohne Ver¬ 
mehrung der mittleren Variation verständlich. Zwischen starker Erregung 
und starker Ruhe liegt eine mittlere, für die Aufmerksamkeit günstige 
Erregungsstärke, bei der sowohl leichte Erregungs- wie Ruhegefühle wahr¬ 
genommen werden. Wir bezeichnen diesen Zustand meist als Ruhe, weil 
wir ihn im allgemeinen mit größerer Erregung zu vergleichen pflegen und 
daher die Ruhe betonen. Wenn wir aber z. B. in Erwartung eines Signals 
unser Gefühl mit dem der vorhergehenden Ruhe vergleichen, so werden 
wir von leichter Erregung sprechen, die nicht nur während der Erwartung 
an- und abschwellen, sondern auch an sich geringer oder größer sein kann. 


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Dio iihydudogischen Korrelate-'der Last und (Tolltet. rSö 

|s f t Aifc‘ an sich gering, jSo'‘y^jr.Ä'Mp A‘A?UiVf^ili* 1 ö: ^b 

HierksamkaU .Rostige Maß h*>nn».sg<*}tt*« r /e« wird al««.»; auch dTe»diiUib > ? 
VPt'hölt niPWaOlg grnli, 

i£h?M leide« und dadjit dih m&Ucrk’ Yaoattdß Älcfo. . vNaiig 

nun j'.anrdunn. iUvß nicht, JLukt »md Uuliist.'-.vfhdnrti «’hes ■ ?:’r ■■.-■■ .• 
und das ihm vnSpreche mir in»hegt 1 fohl mit der Verkürzung uad v < 
Mogerung »Joe ist, 3<* wtttd* .»’ü»^- 

Ivtikor »lirt dem BebjietKb>ei tf#Oi» vViridüeu.Mangid^ ^ri ''Ä'n^fiiciLip'ir»\- 
•vorahs'PPti^n^urid d&diölb «h,ff dinen mb|»r nach • fVtj&S h]:;i 

:' iw?cboh‘?i\<sa ÄnfangBrntand aiittplrtueiv ■dhliÄwlv dgre 

V-rregiijig r<hnk Voi'Küi^ut.g d»*r H«*akt»*>.»^2h*t <>ft «v Yvrgroik'f';.-!• : 

rriittlarßö y^TjtjiJjy pi «rvröeteii sei«. vvihrcnd- da; *Vß’..die FhregfVhg -\»>n 

ßfrftda Vörböindtot ist’, die flTH ttth v‘(£rt»üwi^'(' -V >■> 
bdri.yo*- der aujSi'fi! /.w«r »in »ich gidß»T. ah ec in» Uum'Y •■■' ■ 

-•it dl«.JW tt^^^r ; icsi^Kni;ii^t t -idt«* pip'iC» w ** i * V : >« 

flfilv i|SriS!g\ing\geiittei(? h$fHh*i.odt; hdtTh“»»;^ 

Variation erkauft Hör«, Dia» würde namrniUehbei 
u» ^rv;:ir*eTi und in der Tut lassen .dic.’Böftmdt-. /.*»>/«>*•., >-. ; ■- ■■■■• : - 

aöderar Maihod»’ gisWbtüfdu, «»lohe Deutung xu^h ' '' 

"uu-h Ziehen hat dieseMeUHub t« einer zweite« VcrunTi-■' ■ • 

ge wä n<B, »bei Yvideher nie h t d ie ei ofö eh ii R«ukt»oiUN*etA»icd' - 
wundern dl * %«iriai(i|i^ersoH' auf. «bn iMtiffc- waches ■ 

>.nögl ich st rasch die erste. durcb'TflaM Wort gf‘\veeki*r Viirsteliimg 'spH-o-.hlirh 
ifUsdrie keii «mfite. . . Das Gesamtepgehrth, svdehes aiidi »loreh »u-ii! 

dipwimöntallfy,;i^iif<idii l klinische Beobachtungen bestätigt wird, I^f Süd* 
kurz etwa So fornnilim ir; Bei Vonviegen von t. T »itii5lwJTekt.cn vi 
ddreh ftaiawofte nicht nur TöJ-^itigwe|sC üttiiiidhidbiito 'yorah'Ttuhi?- " 
gaweekt, sw oder»» di «sc Weckung volliHH sich aucti relativ ra' ; ., 
Vergleich zu der n;hr erhobh< höh Ve«Tn «i*r-\ t w»« ng der AK.^oy.uatf.*• 
»thtuslbelo^^ unigckehrt Yverdon hrd Vx*rw»egi>« vvh fefd 

öftektidi huch Vans'iogeiid Idäwßtljjltv VörstoUnngen geW»V.kt. >j nd ^CTdiv 
Wecku ttg Vtdl5sJt>hi Mich' besonders rnsch. ynser Ctefühlatahev» w^riv > 
also gerfiksciawaßen ajfs f-in SoIhstiiiultTtiUk^tor: durch W^.-koug ’fvy ,?- '>»■' 
Hli^hifhgbU ictfilagc»' j^efhblshiMniiung vörsfhi'kt ek ilfc citunaT vufi.la*»t4vn« ; . •.; 

»vnrdt wi'lffU* Htcroiil gtiaimoh ttuvii dir ' 

töglitihfeti tiwhf?Bö ni«tre|d. I« »Wr.‘ho;preRsh>Tj suchen Wir gin'öth'äiii ; 

dld jSchsttoftkaiidn- hcryiis^ ff»r ’wrifcbie’, ö®* 1 ’ -Höifewo oH gei'ädozii. : ;Mi‘T»itvt^/\ 
htnui iRf.” (8. T;—:<:-). Das Ergebnis dn^er A'ernisohsroitm w-h».ii 

üiötniär oben dhrgeiögle« Auffassung IcbihT (dMügedf • #.v'.***b»; )iIVfift .' 

Zfchtn apm'bnie* *.4«ö 4^;göfjiK|ädf.w-ugondo ’Pr«>ÄöJß; ■?&•■ ß^p-- ■. { ; 

3 i Vgt. fotvrltti. .V^yt-hdl.' Versuche ji«. Ma.nisch-.{>v(«n-'f.aver» • i f.th 
f. I' .V'li'il I\. Veurot Ud ’> -2;. 

C° glc 




566 


La eh r. 


eine Komponente desjenigen Erregungsprozesses ist, welcher den Emp¬ 
findungen und Vorstellungen entspricht“ (S. 50), sondern Lust und Unlust 
als selbständige Bewußtseinserscheinungen betrachte, die sich nach Art 
der Ideenassoziation mit Empfindungen und Vorstellungen verbinden. 
Ziehen lehnt diese Auffassung ab — ich komme darauf zurück und sucht 
die Ergebnisse beider Versuchsreihen dadurch miteinander zu vereinigen, 
daß er Erregbarkeit, Erregung und Entladbarkeit der Zellen, in welchen 
die Empfindlings- und Vorstellungserregungen verlaufen, unterscheidet. 
Da ,,unlustbetonte Vorstellungen bei UnlustatTekten sogar besonders 
leicht ansprechen und umgekehrt“, kann ,,die Unlustbetonung die An¬ 
spruchfähigkeit oder Erregbarkeit als solche nicht herabsetzen. Di«* 
Gefühlsbctonung hat mit der Erregbarkeit nichts zu tun. Um dies 
noch spezieller zu erhärten, haben wir zahlreiche Versuche angeslellt. 
um bei depressiven Zuständen die Reizschwelle und die Unterschieds¬ 
empfindlichkeit zu bestimmen. Bis jetzt beschränken sich diese Versuch«* 
auf Berührungs- und Schallreize. Das Ergebnis ist ganz unzweideutig: 
Depressionszustände als solche, namentlich Traurigkeit und Angst, 
erhöhen die Reizschwelle nicht. Die kortikale Erregbarkeit ist also keines¬ 
falls allgemein herabgesetzt. Ein noch feineres Reagens auf die kortikale 
^Erregbarkeit bietet die Prüfung der Unterschiedsempfindlichkeit. Aus 
vielen Tausenden solcher Einzelversuche hat sich bestimmt ergeben, daß 
auch diese durch Depressionszustände nicht herabgesetzt wird, wofern es 
nur gelingt, Aufmerksamkeitstörungen zu vermeiden. Wenn nun also 
die Assoziationszeit doch jene charakieristischenVeränderungen zeigt, 
wie sie sich bei den Reaktionsversuchen ergaben, so wird uns nahegelegt, 
da die Anspruchfähigkeit oder Erregbarkeit nicht in Frage kommt, an 
die Entladungsfähigkeit oderEntladungsbereitschaft zu denken. 
Alle von uns ermittelten Tatsachen lassen sich in dem Satz ausdrücken. 
daß positive Affekte diese Entladungsbereitschaft steigern, negative diese 
Entladungsbereitschaft herabsetzen. Erregbarkeit, Erregung und 
Entladbarkeit sind, was bisher selten geschehen ist, scharf zu trennen. 
Die Affekte haben es nicht mit der Erregbarkeit, sondern nur mit der 
Erregung selbst oder ihrer Entladbarkeit zu tun. — Und auch diese letzte 
Alternative: Erregung oder Entladbarkeit, ist schon auf Grund alltäglicher 
Beobachtung zu entscheiden. Negative Affekte sind nicht durch Herab¬ 
setzung der Erregung charakterisiert. Die Angst, der negative Affekt 
katexochen, zeigt uns im Gegenteil oft Vorstellungen von einer ungewöhn¬ 
lich starken Intensität. Die Trauer um den Tod eines Angehörigen zeigt 
uns gleichfalls negatjve Gefühlstöne an äußerst intensive Vorstellungen 
oder Erinnerungen gebunden. Der Schrecken bei einem plötzlichen Unfall, 
der Schmerz bei einem Stich, bei einem Verbregnen und viele ähnliche 
Beobachtungen lehren uns, daß hohe Intensität der Empfindungs- und 
Yorstellungserregungen sich mit negativen Affekten nicht nur verträgt, 
sondern geradezu oft negative Affekte begünstigt. Die experimentelle 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


»67 


Prüfung gestaltet sich etwas schwieriger, führt aber bei exakter Ausführung 
zu demselben Ergebnis. Wir können nämlich die Intensität der Rinden¬ 
erregungen durch die motorische Leistung an einem Kraftmesser messen, 
also mit Hilfe des Dynamometers oder besser des Ergographen. . .. Aus 
unseren zahlreichen Versuchen ergibt sich zweifellos, daß selbst bei der 
stärksten Depression und Angst die dynamometrischen und ergographi- 
schen Leistungen, ausgedrückt durch Hubhöhe, Zahl der Hebungen und 
Gewicht und auf gleiche Zeiten reduziert, durchaus nicht herabgesetzt 
sind. ... Angesichts aller dieser Tatsachen wird man auch die Erregung 
selbst ebensowenig wie die Erregbarkeit als den Träger des gefühls¬ 
erzeugenden Prozesses betrachten können“ (S. 5'»—55). Die hier gemeinte 
Erregung der Zellen, der psychologisch die Intensität oder Energif der 
Vorstellungen entspricht, hat nichts mit dem Gefühl der Erregung zu tun, 
dessen physiologischen Grundvorgang ich als Ursache der Beschleunigung 
des Vorstellungsablaufs ansprach. Wohl aber könnte der Nachweis, daß 
Depressionszustände als solche, namentlich Traurigkeit und Angst, die 
Reizschwelle für Empfindungen nicht erhöhen, und daß sie weder die 
Unterschiedsempfindlichkeit noch die dynamometrischen und ergographi- 
schen Leistungen herabsetzen, gegen die Ansicht verwertet werden, daß 
die Verlangsamung der Assoziationszeit bei Depressionszuständen mit dem 
Gefühl der Ruhe oder Depression und nicht mit dem Gefühl der Unlust 
Zusammenhänge. Nun ist aber bei starkem Ruhegefühl die Weckung der 
Aufmerksamkeit zwar erschwert, gelingt es jedoch, sie auf eine Vorstellung 
zu richten, sei es auf die bestimmter Empfindungen oder ihrer Unterschiede 
oder auf die gewisser motorischer Leistungen, so wird diese Einstellung 
zwar im allgemeinen längere Zeit in Anspruch nehmen, aber, solange sie 
besteht, die Reaktionszeit in der durch sie gegebenen Richtung verkürzen, 
zugleich allerdings auch das Ruhegefühl für die Zeit ihres Bestehens auf- 
heben oder vermindern und hierdurch einen Bestandteil der Traurigkeit 
oder Angst verändern. 

Weiterhin berücksichtigt Ziehen die Irradiation und Reflexion der 
Gefühle. ..Wir sind gezwungen, der affektiven Komponente der Emp- 
lindungs- und Vorstellungserregungen eine Übertragbarkeit zuzuschreiben, 
wie sie der inhaltlichen Komponente nicht zukommt. Die Entladbarkeit 
oder Entladungsbereitschaft, deren Veränderung sich für die Gefühle als 
so wesentlich erwiesen hat, müssen wir uns als eine übertragbare Eigen¬ 
schaft vorstellen“ (S. 66). Wir müssen das freilich nur, wenn wir die 
Irradiation und Reflexion der Gefühle nicht auf Vorgänge nach Art der 
Ideenassoziation zurückführen. Fassen wir dagegen Lust und Unlust nicht 
als Gefühlstöne im Sinne Ziehens, sondern als selbständige Gebilde auf, 
die sich mit Empfindungen und Vorstellungen verbinden, wie Vorstellungen 
dies untereinander tun, so erklären sich die Erscheinungen der Irradiation 
und Reflexion ohne weiteres. 


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568 


Laehr, 


Diese Ausführungen scheinen mir Ziehens Theorie einigermaßen 
zu erschüttern. Zudem erklärt die Ansicht, daß Lust und Unlust 
ursprünglich unabhängig von Empfindungen und Vorstellungen und 
mit ihnen in einer der Ideenassoziation ähnlichen Art verbunden sind, 
die Erscheinungen ebensogut und führt sie zugleich auf einen allgemein 
anerkannten psychologischen Zusammenhang zurück, der auch gehirn- 
physiologisch mir weniger Schwierigkeiten zu machen scheint als die 
„ Entladungsbereitschaft“ der Hirnelemente. Allerdings wendet sich 
Ziehen hiergegen mit der Feststellung der Tatsachen, „daß weder die 
sogenannten Gefühlstöne noch die sogenannten Affekte jemals selb¬ 
ständig auftreten, sondern stets an Empfindungen oder Vorstellungen 
gebunden sind“ (S. 49), und „daß für eine spezielle Lokalisation der 
Gefühlsprozesse in einem bestimmten Gebiete der Hirnrinde keine 
einzige Beobachtung spricht“ (S. 50). Letzteres ist gewiß richtig, 
ersteres wohl nur mit Einschränkung. Eine unlustige Stimmung kann 
die Vorstellung überdauern, mit der verbunden sie auftrat, dann also 
selbständig beharren, und nicht immer kann dies durch Irradiation 
erklärt werden. Wenn z. B. eine unlustige Vorstellung durch eine 
sonst lustvolle Vorstellung abgelöst wird, etwa ein ärgerliches Er¬ 
lebnis durch die Vorstellung einer bevorstehenden Reise, so braucht 
weder diese unlustig zu werden, noch die trübe Stimmung zu ver¬ 
schwinden. Die Reise erscheint mir nicht unangenehm, nur erregt 
sie jetzt nicht die Freude wie sonst; ich weiß, daß sie das sonst tat, 
jetzt aber setzt sich die Lusterinnerung nicht in lebendige Lust um, 
die Stimmung bleibt trübe trotz der an sich lustvollen, jetzt aber nach 
dieser Richtung unwirksamen Vorstellung. Die Unlust ist also in 
diesem Falle nicht auf die Vorstellung der Reise irradiiert, nicht zu 
deren Gefühlston geworden, sondern behauptet sich ihr gegenüber 
selbständig. Die Unselbständigkeit des Gefühls bezieht sich somit 
nur auf dessen Auftreten. Immerhin wird jede Theorie damit rechnen 
müssen, daß Lust und .Unlust nur mit Empfindungen und Vorstellungen 
auftreten — ohne bei ihrer Fortdauer an. diesS oder andere Empfindun¬ 
gen oder Vorstellungen gebunden zu sein —, und daß der physio¬ 
logische Parallelvorgang der Lust und Unlust in gleicher Weise über 
die Hirnrinde verstreut zu denken ist wie der Parallelvorgang der Vor¬ 
stellungen. Wohl aber ist eine Theorie zulässig, die Lust und Unlust 
nicht im Sinne Ziehens als unselbständig, als bloße „affektive Kom- 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


569 


ponente der Empfindlings- und Vorstellungserregungen“ betrachtet, 
wenn sie nur verständlich macht, daß *Lust und Unlust stets in Ver¬ 
bindung mit Empfindlingen oder Vorstellungen auftreten, und daß 
der Nachweis ihrer Lokalisation in einem besonderen Teil der Hirn¬ 
rinde nicht gelingt. 

Vor allem jedoch muß sie dreierlei verständlich machen, 1. daß 
der „Gefühlston“ der Empfindung von der Intensität des Reizes (oder 
der Empfindung) abhängt, 2. daß die Triebrichtung von Unlust zu 
Lust geht, und 3. daß im allgemeinen Lust mit Vorgängen verbunden 
ist, die das Dasein des einzelnen und der Gattung zu fördern, Unlust 
mit solchen, die das Dasein des einzelnen und der Gattung zu benach¬ 
teiligen geeignet sind. Ziehens Theorie ist mit alledem vereinbar,'aber 
sie erklärt weder das. Verhältnis von Lust und Unlust zur Intensität 
der Empfindung, noch das zum Triebe, noch das zur Erhaltung des 
Individuums und der Art, weil sie nicht von diesen Haupttatsachen 
ausgeht, sondern von dem für die Bedeutung der Lust und Unlust 
nebensächlichen und meiner Ansicht nach nicht ausreichend bewiesenen 
Verhältnis des Gefühlstons zur Schnelligkeit der Ideenassoziation. 
Da der aufgestellten Forderung auch die von Ziehen mit Recht abge¬ 
wiesenen Theorien nicht genügen, die sich auf die Ausdruckbewegungen 
oder auf den Stoffwechsel in der Hirnrinde gründen, scheint mir der 
Versuch berechtigt, auf Grund jener drei Verhältnisse eine andere 
Theorie aufzustellen. Ich will ihn zunächst durchführen, unbekümmert 
um neuere Theorien, und dann erst auf diese eingehen, soweit sie sich 
mit der meinigen berühren und zu ihrer Klarstellung dienen können. 

Wir wissen zunächst ganz allgemein, daß der „Getühlston“ der Emp¬ 
findung von der Intensität des Reizes oder der Empfindung abhängl: 
mittlere Grade der Intensität sind mit Lust, hohe mit Unlust verbunden, 
wenn auch auf den einzelnen Sinnesgebieten und in bezug auf die einzelnen 
Qualitäten die Lust- und Unlustschwellen sehr verschieden hoch liegen. 
Die Zweckmäßigkeit dieser Zuordnung, die sich aus dem Verhältnis der 
Lust und Unlust zum Handeln ergibt, ist oft hervorgehoben worden, und so 
betontauch Ziehen namentlich, daß,,intensive mechanische und kalorische 
Reize in der Entwicklung der Tierreihe die früheste, häufigste, direkteste 
und größte Gefahr für den Tierkörper bilden. Dein mußte sich der Tier¬ 
körper anpassen: er mußte auf diese Reize besonders rasch mit Abwehr¬ 
oder Fluchtbewegungen antworten. Dies ist nun tatsächlich in zweck¬ 
mäßigster Weise dadurch erreicht, daß mit intensiveren mechanischen und 
kalorischen Empfindungen ein so durchaus dominierendes Unlustgefühl 


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570 


L a e h r, 


wie das des Schmerzes sich verbindet“ (Phys. Psych.. 7. Aufl. S. 122). 
Und er erklärt es mit Recht als nur psychogenetisch verständlich. ,.daß 
Bitter schon bei viel geringeren Intensitätsgraden Unlust erregt. Süß 
dagegen bei viel höheren“ (ebenda S. 123). Phylogenetisch verständlich 
ist natürlich nicht das Gefühl von Lust und Unlust selbst, sondern das 
Handeln in Abhängigkeit von der je nach der Qualität verschieden abge¬ 
stuften Intensität des Reizes, aber zwischen Reiz undHandeln sind Nerve n- 
vorgänge eingeschoben, die der Lust und Unlust entsprechen. Jedoch 
erst, wenn wir weitergehen und nicht nur das Handeln, sondern alle auf 
Nervenreiz erfolgenden Bewegungen und Abänderungen der Organtätig¬ 
keit als abhängig von der Intensität der Reize betrachten, erhalten wir 
eine genügend breite Grundlage der Lust und Unlust. Wir erinnern uns, 
daß Arndt in Verallgemeinerung des Pflüge rucken Zuckunggesetzes für 
normale Verhältnisse das „biologische Grundgesetz“ aufgestellt hat: 
„Kleine Reize fachen die Lebenstätigkeit an, mittelstarke fördern, starke 
hemmen sie, stärkste heben sie auf“, ein Gesetz, das Schulz auch auf 
pathologische Verhältnisse übertragen und weiter ausgebaut hat. Von 
diesen die Lebenstätigkeit fördernden und hemmenden Reizen hängt offen¬ 
bar nicht nur die Richtung des Handelns und der Beeinflussung der Lebens¬ 
tätigkeit. sondern auch das mit dieser Richtung verbundene Lust- und 
Unlustgefühl ursprünglich ab, und zwar muß die Richtung des Handelns 
und der Beeinflussung der Lebenstätigkeit dahin gehen, daß Störungen 
vermieden oder beseitigt werden, entsprechend dem Satze Pflügers: Die 
Schädigung ist gleichzeitig die Ursache der Entfernung der Schädigung. 

Hieraus ergibt sich folgende Auffassung: Die der Unlust ent¬ 
sprechenden Nervenvorgänge müssen zunächst durch Störungen der 
Lebenstätigkeit hervorgerufen werden, aber sie müssen Veränderungen, 
darunter auch Bewegungen, anregen, die im allgemeinen geeignet sind, 
diese Störungen zu beseitigen. Dagegen müssen die der Lust ent¬ 
sprechenden Nervenvorgänge zunächst hervorgerufen werden durch 
zweckmäßige Regelung der Lebenstätigkeit, und sie müssen das Be¬ 
harren in der gleichen Tätigkeit begünstigen oder doch nicht stören. 

Aber noch eine zweite Folgerung scheint zunächst unumgänglich: 
Die der Lust entsprechenden und das Beharren in zweckmäßiger 
Lebenstätigkeit begünstigenden Nervenvorgänge und die der Unlust 
entsprechenden und die Störung der Lebenstätigkeit beseitigenden 
Nervenvorgänge müssen durch Erregungen derselben Nervenbahnen 
hervorgerufen werden, die nur in ihrer Intensität verschieden sind: 
es müßte also derselbe Empfindungsnerv bei schwacher Reizung die 
entgegengesetzte Wirkung entfalten als bei starker, und das i$t schwer 
vorstellbar. Denn wenn auch die starke Nervenerregung sich auf 


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f% elegische» Korrelate der J.iifei und ' t-nJust, 

rdiw ^öÖpj^ ^ ausbmt et and' dadurch fäfrife 

Wirkungen sie doch 

. .ßtTegimg ••süehi ltiHrt$emn JSiement.e ftürker mzm und. somit. 

• ; Wirkung .».J**f Ist^gtui.'j vergi'sa^,. §jg£ iStojgmii)., 

vtmi dalmt dh? AAlrfotng »hftn'dfern.j ■ »Her-'wie soll «h». 
y\-M t.h-e .'»tfül v>:rkehren? Di*, liegt dev r?.'<!e,nkt* n,alie c däß der r- 

Binj?Wlui^8iiefvt!ii ji- dach der 

Mirk? ü*>: : Riw verschicvlemv Ahirglviige veranlaßt v »iie 
ob liföt' rnit der ihr «r#it®jsrecI*^w4ön h4«r 

Wirkung omtilte, Hnd da nahh dem 
xehwathmre l<t4s&p die Lebftjisr&tigkpit aufMbcft <n|?r 
Ojrc^fh, >?tl^kere sie hehim^h^i^aU^dberif .w^d^a'^ir die Möglich kwt 
ins mpllji daß jene F»h$ö|», die die Richtung der ‘Wirkung '>■■■■ 
.vummm-, ive-av in der Förderung «der Hemmung der :Lehen>inf!"*?»» 
gt^idum. sind, «laß aber U&jji Wirfernig auf dass 2eßirahiaH^u»v>.ten* 
und damit auch auf Lh&t «der Unluiit muht: ddirßb^dtg : :)äm.nßhdtd^- _ 

nerven vermittelt wird, 

mm *■'•>,hn\ uci ’•). daß JUist. Uini Unlust- ujü iokvrrO>t< 

und Sterling •der f..ebenst yligk «nt *:t übergeh«, io*lcm <«• <lb-. :.••■: ,; .■ 
iler Mythe von bfatp- fuiiktiba^a.itriiErrjoijl&a• öe^dß^nv^erwn^ 
di»* li^ : : : $igji&; ni'.hoi jtvyutrt Mangel »d/ier .4»>lchoii. ^biciirhh 'IISia'i^ji.kibraiwF' 
llVt.«‘i«miii> habe. »im* i her.v.hvreinc««»»:* mit J5-'ww4"lt. «■., r. 

AlbtrtugSptiasSV der iitndeaxetl^fl uiid damit 
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Laehr, 


Verhältnissen, etwa beim Kinde, wo noch keine Hemmungen eingreifen 
und keine Erinnerungen mitspielen, gerade die Unlust mit Körperbewegun¬ 
gen, die Lust ohne solche einhergehen, und dies entspricht völlig der oben 
dargelegten Auffassung, der eine Theorie der Lust und Unlust meiner 
Meinung nach genügen muß. Zugleich werden offenbar jene Körper¬ 
bewegungen durch die Vorgänge im Gehirn nur vermittelt, gehen aber von 
Vorgängen im übrigen Körper aus, uiui das Gehirn ist nur Durchgangs- und 
Umsehaltstätte der Erregungen, die über die zentripetalen zu den zentri 
fugalen Nerven verlaufen 1 ). Meynerts sehr ansprechender Gedanke, Lust 
und Unlust von der Lebenstätigkeit abzuleiten, kann somit nur weiter¬ 
führen, wenn wir ihn nich^ auf das Gehirn beschränken, sondern auf den 
Gesamtkörper anwenden, und damit bringen wir ihn dann auch in Überein¬ 
stimmung mit Arndts biologischem Grundgesetz, denn nun müssen wir, 
um im Einklang mit der Erfahrung zu bleiben, die Störungen der Lebens¬ 
tätigkeit, die zur Unlust führen, als Wirkung starker, die zweckmäßig 
geregelte Lebenstätigkeit, die zur Lust führt, als Wirkung schwacher 
Reize auffassen. 

Aber der Met/ne rischen Theorie können wir noch eine andere Vor 
Stellung entnehmen, die mit der oben gewonnenenVoraussetzung aufs beste 
zusammenstimmt, nämlich die Vorstellung, daß die Veränderungen der 
Lebenstätigkeit, die der Lust und Unlust zugrunde liegen, Gefäßverände¬ 
rungen bewirken, die der jeweiligen Lebenstätigkeit angepaßt sind. Auch 
hier verbietet sich jedoch eine einfache Übertragung, denn unsere Voraus¬ 
setzung verlangt, daß die Gefäßveränderung — gleich den Körperbe¬ 
wegungen, die von der jeweiligen Lebenstätigkeit etwa angeregt werden 
— nicht für das Fortbestehen von Lust oder Unlust, sondern für die 
Erhaltung des Organismus im allgemeinen zweckmäßig ausfällt. 

Nervenvorgänge, die durch Störungen oder zweckmäßige Rege¬ 
lung der Lebenstätigkeit hervorgerufen werden — das sind so allgemeine 
und deshalb fast nichtssagende Ausdrücke, daß sie auf eine eindeutige 
physiologische Anschauung zurückgeführt werden müssen, um eine 
brauchbare Unterlage für eine Theorie der Lust oder Unlust abzugeben. 
Aber es hegt in der Natur der Sache, daß solche bestimmte physio- 

l ) P. Kronthal: „Die Konstruktion des Nervensystems als Reiz¬ 
leitung zwischen den das vielzellige Individuum zusammensetzendeu 
Zellen, die Leistung der Nervenzelle als übertragungsmittel eines Reizes 
auf viele Nervenfibrillen, erklärt zwanglos und ohne Mystik, weshalb ei n 
Reiz zahlreiche Reflexe verursachen kann.“ (über den Seelensitz, Arch. I. 
Psych. Bd. 56, S. 226). Kronthals Folgerung, daß die Seele die Summe 
der Reflexe ist, und daß die alte Erfahrung, nach der die Nervenzelle 
kausal mit der Seele verbunden ist, der Wirklichkeit entspricht, bedarf 
freilich einer Änderung im Sinne des psychophysischen Parallelismus. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust and Unlust. 


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logische Anschauung nur mit Hilfe von zunächst willkürliclrerscheineii- 
den Annahmen gegeben werden kann. Knüpfen die Annahmen jedoch 
an gesicherte Lehren der Physiologie und Psychologie an, und stehen 
sie nicht im Widerspruch mit andern Ergebnissen, so scheint mir 
nichts dagegen einzuwenden. Meine Theorie ist also nicht besser be¬ 
gründet als die Ziehen s, und ihren Vorzug sehe ich nur darin, daß sie 
den von mir als gegebenen Ausgangpunkt betrachteten Zusammen¬ 
hang von Lust und Unlust mit zweckmäßiger, d. h. der Erhaltung des 
Individuums und der Art förderlicher Lebenstätigkeit in einer möglichst 
bestimmten Prägung als mit unsern jetzigen Kenntnissen Vereinbar 
aufzeigt. Nur der grundlegende Zusammenhang, nicht seine Aus¬ 
gestaltung im einzelnen ist mir wichtig. Meine Ausführungen sollen 
auch bei weitem nicht alle, sondern nur einige besonders bezeichnende 
Züge jenes Zusammenhangs beleuchten und an ihnen zeigen, daß 
seine Entstehung im Laufe der Entwicklung des einzelnen und der Art 
denkbar ist. Nichts hindert, diese Aufstellungen, soweit sie sich als 
falsch oder unzulänglich erweisen, durch andere zu ersetzen. Und da 
dies um so eher möglich ist, je bestimmter sie gefaßt sind, werde ich 
im folgenden darauf bedacht sein, sie auch im einzelnen möglichst 
greifbar — und deshalb um so leichter angreifbar — auszuarbeiten. 

Fragen wir uns zunächst: Wie werden zwei Körperteile a und b, 
jeder mit besonderer Gefäß Versorgung versehen, sich gegenseitig nervös 
zu beeinflussen haben, um die für beide günstigsten Lebensbedingungen 
herzustellen und zu große Schwankungen zu vermeiden? Solange wir 
von der besonderen Funktion beider Teile und vom Wachstum absehen. 
handelt es sich nur um den Stoffwechsel. Geht dieser in a rascher als in b 
vor sich, so wird er unter sonst gleichen Verhältnissen sich selbsttätig in a 
zu mäßigen und in b zu beschleunigen haben. Als Nervenreize kommen 
in Betracht einerseits die aus dem Plasma in die Zellen aufgenommenen 
organfremden Blutstoffe und die aus ihnen entstehenden chemischen 
Zwischenprodukte des aufbauenden Organstoffwechsels, während die 
fertigen Organbestandteile nicht als Reize gelten können — und andrerseits 
■die hierbei ausscheidenden und in die umgebende Gewebeflüssigkeit aus¬ 
geschwemmten Abfallstoffe sowie die für gewöhnlich fehlenden oder 
geringen, aber bei starkem Abbau des Organs vermehrten und ebenfalls 
aus dem Zellverbande in die Gewebeflüssigkeit übertretenden Zersetzungs- 
stoffe des Zellinhalts. Ich will im folgenden, wo es mir nur auf die Stärke 
des Reizes ankommt, den diese Stoffe auf die Nerven ausüben, die iin 
gewöhnlichen Stoffwechsel entstehenden Abbaustoffe, die gründlicher zer¬ 
setzt werden und weniger reizen, mit unter die Abfallstoffe rechnen und 

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Laehr, 


unter Abbaustoffen nur die bei stärkerem Abbau austretenden, weniger 
tief zersetzten und daher stärker reizenden Abbaustoffe verstehen. 

Ich nehme nun an — weshalb, ergibt sich später von selbst —, der 
Reiz der AufbaustofTe, d. h. der organfremden, in die a-Zellen eintretenden 
Bestandteile, vor allem aber der aus ihnen gebildeten Zwischenprodukte, 
wirke durch Nervenvermittlung als Reiz auf die b-Zellen, so daß diese zur 
Tätigkeit und damit zur Aufnahme und Verarbeitung von Plasmabestand¬ 
teilen angeregt werden, und zugleich verengernd auf die zu a führende 
Arterie, so daß die Ernährung von b auf Kosten der von a gefördert wird. 
Das gleiche findet nun auch in b statt, d. h. die in die b-Zellen eintretenden 
b-fremden Blutstoffe und die aus ihnen sich bildenden Zwischenprodukte 
iiben den entsprechenden trophischen Reiz auf a und den entsprechenden 
vasomotorischen Reiz auf die b versorgende Arterie aus. Dagegen wirken 
die durch den Stoffwechsel in a entstandenen Abfall-, vor allem aber die 
etwaigen Abbaustoffe, die sich in der Umgebung der a-Zellen anhäufen, 
durch Nervenvermittlung 1. als trophischer Reiz auf die a-Zellen, die hier¬ 
durch entsprechend ihrem Verbrauch zur Aufnahme und Verarbeitung 
neuen Stoffs veranlaßt werden, und 2. als vasomotorischer Reiz auf die 
zu b führende Arterie, verengern diese also und bewirken dadurch einen 
vermehrten Blutzufluß nach a, der die Abfall- und Abbaustoffe rascher 
wegschwemmt und so den Reiz beseitigt. Das gleiche gilt in entsprechender 
Weise für b. 

In jedem derartigen Körperteil entspringen also zwei Nervenfasern, 
deren eine von der aufbauenden, deren andere von der abbauenden Zellen 
tätigkeit gereizt wird. Beide teilen sich in einen trophischen und einen 
vasomotorischen Ast. Vor dieser Teilung treffen sie aber zusammen, 
wohl meist durch Vermittlung von Nervenzellen, und hemmen einander: 
sind sie gleich stark, so heben sie sich auf, sonst büßt die stärkere so viel 
an Wirkung ein, als die schwächere beträgt. Überwiegt die Aufbautätigkeit 
in a die Abbautätigkeit, so wird nur jene, im entgegengesetzten Falle nui 
diese die Vorgänge in a und b beeinflussen. Sehen wir von b ab, so wird 
vermehrter Aufbau in a die Blutzufuhr dahin verringern, sich also mäßigen, 
vermehrter Abbau den Aufbau anregen und zugleich durch Hemmung der 
durch den aufbauenden Stoffwechsel unterhaltenen Gefäßverengerung die 
dem Aufbau förderliche Blut Versorgung begünstigen. Die gegenseitige 
Beeinflussung von a und b aber gleicht Schwankungen im Verhältnis der 
Stoffwechsel Vorgänge zwischen a und b aus und paßt die Blut Versorgung 
der Blutbedürftigkeit beider Teile um so sicherer an. 

Notwendig wird jedoch jene doppelte Beeinflussung durch die Aufbau- 
und durch die Abbaustoffe, wenn wir neben dem nutritiven auch den funk¬ 
tionellen Stoffwechsel, also den, der mit der besonderen Organleistung^ 
verbunden ist, oder wenn wir den nutritiven Stoffwechsel unter besonderen 
Bedingungen ins Auge fassen. Solange nur die Ernährung, und zwar unter 
gewöhnlichen Bedingungen, in Frage kam, konnte das Verhältnis der in 


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Die physiologischen Korrelate der Last und Unlust. 


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der Zeiteinheit aufgenommenen zu den verbrauchten und ausscheidenden 
Stoffen als ziemlich gleichbleibend in Rechnung gestellt werden, da die 
Verarbeitung der neu aufgenommenen Plasmabestandteile zu organeigenen 
Stoffen im allgemeinen eine ihrer Menge entsprechende Menge von Abfall- 
stofTen ergeben mußte. Dies ändert sich aber, wenn die besondere Organ¬ 
leistung einsetzt. In dieser werden meist zunächst aufgespeicherte organ¬ 
eigene Stoffe zersetzt oder ausgeschieden, soweit sie eben der Organ¬ 
leistung dienen, und nur daneben und erst allmählich auf den von den 
Abbaustoffen ausgehenden Reiz hin wachsend findet zum Ersatz dieser 
verbrauchten Stolle eine stärkere Verarbeitung neu eingeführter organ¬ 
fremder Stoffe statt. Hier verschiebt sich also das Verhältnis der neu auf¬ 
genommenen zu den verbrauchten Stoffen, falls, wie beim Muskel, eine 
Zersetzung aufgespeicherter Stoffe, also eine Abbautätigkeit, die besondere 
Leistung bedingt. Dann fällt der Reiz der Abbaustoffe, der sowohl direkt 
durch Hemmung wie durch Verengerung anderer Arterien die eigene zu¬ 
führende Arterie erweitert, zunächst viel stärker ins Gewicht als der Reiz 
des aufbauenden StolTwechsels, der die zuführende Arterie verengert. Diese 
Verengerung oder besser diese Verringerung der Gefäßerweiterung könnte 
aber bei längerer Andauer der Funktion die dann zum Ersatz der ver¬ 
brauchten Stoffe erforderliche und durch deren trophischenReiz vermittelte 
starke Zelltätigkeit schließlich doch beeinträchtigen, und ihre Ausschaltung 
ist deshalb unter diesen Umständen zweckmäßig. Dies gilt erst recht da, 
wo aufgespeicherte Stoffe, wie bei manchen Drüseo, nicht zersetzt, sondern 
ausgeschieden werden und also nicht auf den Organstollwechsel wirken 
können. Ich nehme daher an, daß in gleicher Weise wie die beiden Nerven¬ 
fasern, die in demselben Körperteil entspringen — und deren eine ihren 
Reiz von den Aufbaustoffen im Zellinnern empfängt, während die andere 
von den Abfall- und Abbaustoffen außerhalb der Zellen erregt wird —sich 
mit hemmender Wirkung treffen, auch die von a zu der a versorgenden 
Arterie laufenden Nervenfasern den Nervenfasern begegnen, die die Funk¬ 
tion von a anregen, und daß die Erregu ngen beider sich gegenseitig hemmen. 
Alsdann bewirkt die anderwärts angeregte funktionelle Tätigkeit eines 
Körperteils ohne weiteres eine besonders reichliche Blutversorgung des¬ 
selben, die auf zweifache oder gar dreifache Weise zustande kommt, nämlich 
mittelbar, indem andere Arterien durch den Reiz der in größerer Menge 
entstehenden Abfall- und AbbaustofTe verengert werden, und unmittelbar, 
indem die Verengerung der zuführenden Arterie, die durch den Reiz der 
reichlicher in die Zellen eintretenden und dort verarbeiteten PlasmastofTe 
erhöht würde, stets durch Hemmung infolge der Funktion, vielfach aber 
daneben auch durch Hemmung infolge des abbauenden Stoffwechsels 
vermindert wird. 

Außerdem macht der Stoffwechsel unter besonderen Bedingungen 
die doppelte Art der Anpassung der Blut Versorgung an die Blutbedürftig¬ 
keit der beiden Körperteile notwendig. Es kommen hauptsächlich zwei 


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Fälle in Betracht: Gewalteinwirkung und Unterernährung. Wird ein Teil 
des Zellinhalts von a durch Druck oder Verletzung aus seiner Verbindung 
gelöst, so verbleibt er entweder im Bereich der Zelle, es setzt der Abbau 
ein, und es entstehen organfremde, reizende Stoffe, die, falls sie in der 
Zelle bleiben, die zuführende Arterie verengern, oder aber die aus der Ver¬ 
bindung gelösten Stoffe werden aus der Zelle ausgestoßen, belasten die 
Gewebeflüssigkeit in a, üben hier als ungewohnter starker Reiz nach Art 
der abgebauten Stoffe einen trophischen Reiz auf a aus und steigern zugleich 
sowohl unmittelbar- wie durch Verengerung der b versorgenden Arterie 
den Blutzufluß nach a. Beides ist zweckmäßig. War die Gewalteinwirkung 
gering, so daß nur wenig Zellinhalt aus der Verbindung gelöst wurde und 
im Innern der nur wenig Versehrten Zelle verblieb, so konnte die Ver¬ 
minderung des Blutzuflusses den Druck auf die Zelle mäßigen, die Aus¬ 
schwemmung der losgelösten Stoffe verzögern und Gelegenheit geben, den 
dazu noch fähigen Teil derselben wieder in die vorherige Verbindung 
zurückzunehmen. War der Druck oder die Verletzung aber stärker, so 
daß die abgesprengten Teile aus dem Innern der Zelle herausgedrückt oder 
bei Verletzung abgetrennt waren, so fiel die Verminderung des Blutzuflusses 
fort, und es trat statt ihrer eine Vermehrung desselben ein, die die reizenden 
Trümmer rascher beseitigt. Ähnlich wirkt die Unterernährung, mag sie 
durch Mangel an geeigneten Baustoffen im Blutplasma oder durch un¬ 
genügende Fähigkeit der Organzellen, die Baustoffe sich einzufügen, 
bedingt sein. Man sagt, bei Unterernährung werden Organbestandteile 
abgeschmolzen und zersetzt. Ich fasse das so auf, daß der Zelle die ge¬ 
eigneten Aufbaustoffe fehlen, das Zellgefüge sich daher lockert, einzelne 
Baustoffe ausgeschwemmt, zum Teil auch im Sinne des Abbaus chemisch, 
verändert und zersetzt werden, jedenfalls aber als Nervenreiz außerhalb 
der Zellen deren Aufbautätigkeit verstärken und vermittelst der Wirkung 
auf die Gefäße die Plasmadurchströmung des leidenden Teils vermehren. 
Dann kann dieser sich unter günstigen Verhältnissen erholen, wenn nämlich 
durch den vermehrten Zustrom der Mangel an Baustoffen behoben oder 
durch den trophischen Einfluß eine auf vorübergehenden Ursachen be¬ 
ruhende Verminderung der Zelleistung ausgeglichen wird. Kann die Zelle 
sich aber nicht erholen und stirbt trotz trophischem Ansporn und ver¬ 
mehrtem Zustrom von Nährstoffen ab, so ist wenigstens für verhältnis¬ 
mäßig rasche Abfuhr der Abbaustoffe und zugleich für reichliche Ernährung 
der Nachbarzellen gesorgt, so daß deren vermehrte Tätigkeit den Ausfall 
ersetzen und zugleich unter besonderen Umständen vielleicht eine Neu¬ 
bildung von Zellen erfolgen kann. Diese besonderen UmstAde würden 
besonders bei den jüngsten Zellen und dann gegeben sein, wenn die Abfuhr 
der Abbaustoffe längere Zeit in Anspruch nimmt und der von ihnen aus¬ 
gehende Reiz somit länger anhält. 

Vom Organwachstum werden wir im übrigen hier absehen können, 
da der Nerveneinfluß hierauf, soweit er überhaupt vorhanden ist, mit dem 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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Einfluß auf die Ernährung zusammenfallen dürfte. In dieser kann man ja 
zwei Richtungen unterscheiden, die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe 
in solche, die der Erhaltung des Bestandes und der Lebensfähigkeit der 
Zelle dienen, und die Aufspeicherung derjenigen entweder unverändert 
von der Zeile festgehaltenen oder in ihr chemisch umgewandelten Stolle, 
die die funktionelle Leistung ermöglichen. Werden nun während der 
Funktion nur die für sie aufgespeicherten Stoffe verbraucht, so wird hier¬ 
durch für die folgende Ruhezeit ihr Ersatz, und zwar möglicherweise in 
vermehrter Menge angeregt, aber nicht die Bildung neuer Organzcllen. 
also nicht ein eigentliches Wachstum veranlaßt. Dies ist in diesem Falle 
nur dann zu erwarten, wenn die Stoffo angegriffen worden sind, die der 
Erhaltung der Zelle selbst dienen. Dann werden nach Aufhören der Funk¬ 
tion diese Stoffe sich besonders vermehren und, wo dies überreichlich 
geschieht, zur Neubildung von Zellen den Anstoß geben können. Man 
kann sich den Vorgang vielleicht am einfachsten so denken, daß die zur 
Erhaltung dei^Zelle nötigen Teile einer gewissen Zeit bedürfen, um diejenige 
chemische Struktur zu erlangen, die sie befähigt, die zur besonderen Organ¬ 
leistung erforderlichen Stoffe zu bMden oder festzuhalten, daß sie in statu 
nascendi aber dazu neigen, den ihnen zuströmenden Stoff in ihresgleichen 
umzuwandeln. Wo also wenig ältere Erhaltungsstoffe vorhanden sind, 
werden diese rasch mit Funktionsstoffen gesättigt sein und weitere Bau¬ 
stoffe sich nur in Form von Erhaltungsstoffen angliedern können, so daß 
diese zunehmen, ohne sich zunächst mit Funktionsstoffen beladen zu 
können. Geschieht jene Anghederung überreichlich, so würde dies bei 
den dazu fähigen Zellen zur Teilung führen. Der formative Reiz, um mit 
Virchow zu reden, würde somit nicht unmittelbar auf Nerveneinfluß be¬ 
ruhen, und wir hätten es hier nur mit nutritiven, vasomotorischen und 
funktionellen Reizen zu tun. Alle diese Reize würden aber zunächst von 
Stoffwechselvorgängen ausgelöst, wie ja auch ihre Wirkungen dazu dienen, 
den Stoffwechsel zu erhalten. Man könnte von einer „Selbststeuerung 41 
des Stoffwechsels reden. 

• Was von der Nerveneinwirkung zweier Körperteile aufeinander gesagt 
ist, läßt sich auf die Einwirkung einer größeren Anzahl von Körperteilen 
aufeinander übertragen, auch ohne daß der einzelne Körperteil notwen¬ 
digerweise mehr als eine durch den aufbauenden und eine durch den 
abbauenden Stoffwechsel erregbare Nervenfaser entsendet (Abzweigung 
von Nervenfasern) und eine auf den aufbauenden Stoffwechsel, eine auf 
die Blutversorgung und eine auf die Funktion wirkende Nervenfaser emp¬ 
fängt (Reduktion von Nervenfasern). 

Ich habe mit Absicht bisher nicht von Nerveneinwirkung zweier 
Organe, sondern zweier Körperteile aufeinander gesprochen, da es sich 
auf der untersten Stufe um Organteile handelt, die der gleichen Funktion 
dienen, und erst auf einer höheren Stufe um Organe im ganzen oder um 
Verbindungen verschiedenartiger Teile wie solcher der Haut mit Teilen 


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Laeh r, 


der Muskulatur und dergleichen. Es fragt sieh nun, wie die Beschreibung 
der Nervenleitung, die zunächst nur eine Stufe berücksichtigt, zu ergänzen 
ist, um beide zu umfassen. Besagt das Schema, auf Teile eines einzelnen 
Organs angewandt, daß sich diese auf die angegebene Weise günstige 
Lebensbedingungen wahren, so wird folgende Ergänzung nötig, sobald 
wir die Einwirkung auf die das ganze Organ versorgende Arterie (ich 
nehme der Einfachheit halber nur eine solche an) in Betracht ziehen: 
die vasomotorischen Nervenfasern, die durch den Reiz der Aufbaustoffe 
erregt werden, teilen sich nach ihrer Kreuzung mit den funktionellen 
Nervenfasern, und während der eine Zweig zur Arterie desselben Organteils 
zieht, innerviert der andere, mit den gleichartigen Nervenzweigen der 
übrigen Organteile vereinigt, die Arterie des ganzen Organs. Hierdurch 
wird erreicht, daß Reizschwankungen im ZellinneTn eines Organteils nur 
die Blutversorgung dieses Organteils, nicht aber die des ganzen Organs 
beeinflussen. 

Um diese Verhältnisse innerhalb eines Organs auf die Verhältnisse 
zwischen mehreren Organen zu übertragen, nehme ich weiter an, daß sowohl 
die Nervenfasern, die vom aufbauenden, wie die, die vom abbauenden 
Stoffwechsel je eines Organteils gereizt werden, noch vorher, ehe ihre Er¬ 
regungen eine gegenseitige Hemmung erfahren, je einen Nervenzweig 
entsenden, und daß diese Zweige sich zu zwei Nervenleitungen vereinigen, 
deren eine die Erregungen des aufbauenden, deren andere die Erregungen 
deä abbauenden Stoffwechsels im Gesamtorgan in sich zusammenfaßt und 
den sympathischen Ganglien zuführt. Jede teilt sich wiederum in zwei 
Zweige, der eine zieht, ohne Verbindungen einzugehen, weiter durch die 
Rami communicantes in das Zentralnervensystem, der andere geht mit 
dem entsprechenden Zweige der andern Nervenleitung eine hemmende 
Verbindung ein. Im übrigen wiederholen sich hier die für die Beeinflussung 
der Stoffwechselvorgänge und der Blutversorgung innerhalb eines Organs 
als maßgebend beschriebenen Verhältnisse, nur insofern in größerem Ma߬ 
stabe, als sie nicht Teile desselben Organs, sondern mehrere Organe in Ab¬ 
hängigkeit voneinander setzen. Der Zweig, der seine Erregung dem tiber¬ 
wiegen des aufbauenden Stoffwechsels des Organs a verdankt, wirkt auf 
den aufbauenden Stoffwechsel in andern Organen fördernd ein; der Zweig, 
der durch das Uberwiegen des abbauenden Stoffwechsels im Organ a in 
Erregung gerät, wirkt auf den aufbauenden Stoffwechsel im Organ a 
fördernd ein. Jener, durch den aufbauenden Stoffwechsel von a erregte 
Zweig trifft in den Ganglien des Sympathikus mit den gleichen aus b, c usw. 
kommenden und zum Organ a ziehenden Zweigen zusammen, und es 
kommt hier die gegenseitige Hemmung der vom Organ kommenden und 
der zum Organ führenden Erregungen zustande. Mit den zum Organ a 
führenden Nervenfasern dieser Art vereint sich dann noch der durch den 
abbauenden Stoffwechsel in a erregbare trophische Zweig. 

Etwas anders verhalten sich die Zweige der von den Aufbaustoffen 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 579 

gereizten Nervenfasern, die die Arterie ihres Organteils und weiterhin die 
zum ganzen Organ a führende Arterie verengern. Sie verbinden sich in 
den Sympathikusganglien mit den gleichen Nervenfasern derjenigen andern 
Organe, die zusammen mit a von einer größeren, dem Herzen näheren 
Arterie versorgt werden, und gelangen dann in die Wandung dieser größeren 
Arterie. Diese wird somit durch den Reiz aller Teile der von ihren Zweigen 
versorgten Organe gerade so weit verengert, daß sie den Gesamtblutbedarf 
dieser Teile deckt, und es wird verhindert, daß die durch ein einzelnes 
Organ oder durch einen einzelnen Organteil veranlaßte Verengerung der 
zu ihm führenden Arterie die Blut Versorgung der übrigen Organe ver¬ 
ändert. Auf gleiche Weise wird der nächst größere Arterienstamm dem 
jeweiligen Blutbedürfnis der von ihm versorgten Teile angepaßt und so 
fort bis zum Aortenanfang. 

Diejenigen vasomotorischen Nervenfasern, die durch Reize aus den» 
Innern der Organzellen und demnach durch deren Aufbautätigkeit erregt 
werden, sorgen also für die zweckmäßige Verteilung des Blutes und die 
gleichmäßige Durchströmung der Organe, ohne daß eine Änderung der 
Herztätigkeit hierfür erforderlich wird. Anders steht es mit den vaso¬ 
motorischen Nervenfasern,-die durch den Reiz der AbbaustofTe außerhalb 
der Organzellen erregt werden und durch Verengerung anderer Arterien 
(und Hemmung der Verengerung der eigenen Arterie) den Blutstrom zu 
dem Körperteil vermehren, von dem sie ausgehen. Damit hierbei die 
Ernährung der andern Organe nicht leidet, muß das Herz mehr leisten, 
es muß schneller und kräftiger schlagen, um den Widerstand der ver¬ 
engerten Arterien zu überwinden, und bewirkt dann zugleich, daß das 
.Organ, das des vermehrten Blutzuflusses bedarf, nicht nur durch die Ver-, 
engerung anderer Arterien und die Erweiterung der eigenen, sondern auch 
durch die vergrößerte Herzleistung besser mit Blut gespeist wird. Ich 
nehme also an, daß diese vasomotorischen Fasern nach ihrer Vereinigung 
im Sympathikus zum Herzen ziehen und dessen Tätigkeit beschleunigen 
und verstärken, daß sie also den N. accelerans cordis des Sympathikus 
bilden. 

Nach dieser Aufstellung treten in jeden Körperteil mit selbständiger 
Blut Versorgung, sei es Organ oder Organteil, drei zuführende Nervenleitun¬ 
gen oder -fasern: die eine vermag die Aufnahme und Verarbeitung von Nähr¬ 
stoffen zu fördern, die zweite das zuführende Gefäß zu verengern, die dritte 
die Organfunktion anzuregen. Die erste übermittelt die Erregungen, die 
von den AbbaustofTen desselben Körperteils ausgelöst werden, und zugleich 
gelegentlich solche, die den AufbaustotTen im Zellinnern anderer Körper¬ 
teile entstammen. Der vasomotorische Nerv übermittelt die Reize, die 
von den Aufbaustoffen im Zellinnern des Körperteils selbst, und zugleich 
die, die von den AbbaustofTen in der Organflüssigkeit anderer Körperteile 
herstammen. Für die funktionellen Nerven endlich sind solche allgemeinen 
Herleitungen nicht möglich, weil es sich hier um besondere Leistungen 


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handelt, deren Art und deren Abhängigkeit von Vorgängen im übrigen 
Körper sich sehr verschieden gestaltet. Nur das wird man sagen können, 
daß die Abzweigungen der durch die AbbaustolTe angeregten trophischen 
Nervenfasern einen der Ursprünge der funktionellen Nervenfasern bilden, 
und zwar einmal des funktionellen Nerven desselben Organs, aus dem sie 
selbst stammen — da in diesem Falle, sobald das Organ mit Funktions- 
stolTen gesättigt ist und daher der weitere aufbauende Stoffwechsel mit 
einer Vermehrung des Abbaus einhergeht, auch die Organleistung leichter 
zustande kommt, also eine Anregung stattfindet, die freilich, weil es sich 
nur um chemisch gesättigte AbfallstofTe handelt, unter der Schwelle der 
die Organleistung bewirkenden Innervation verbleibt —, sodann aber der 
funktionellen Nerven anderer Organe, indem etwa der Reiz der in die 
Lymphspalten des Darmepithels eintretenden Nährstoffe die funktionelle 
Tätigkeit der Darmdrüsen, der Leber und des Pankreas hervorruft. Letzte¬ 
res führt aber schon zu einer weiteren Betrachtung. 

Die besprochenen nervösen Einrichtungen können nämlich den Stoff¬ 
wechsel in den für die Erhaltung des Organismus förderlichen Grenzen nur 
so lange aufrechterhalten, als genügender Nährstoff im Blute herbei¬ 
strömt, aber sie vermögen weder Ersatz für verbrauchte Blutbestandteile 
zu schaffen noch vor äußeren Gefahren zu schützen. Die hierzu nötigen 
Bewegungen dienen auch der Erhaltung des Stoffwechselsund mögen daher 
durch Reize, die dem Stoffwechsel entstammen, angeregt, aber sie müssen 
zugleich durch Reize, die von außen kommen, geregelt werden, um ihren 
Zweck zu erfüllen. Alle diese Reize sollen nun zu Bewegungen führen, 
die der Erhaltung des Organismus und damit der Erhaltung des Organ¬ 
stoffwechsels in den hierfür günstigen Grenzen dienen. Seitens der Haut* 
ist dies dadurch erreicht, daß starke Reize Bewegungen auslösen, die den 
betroffenen Körperteil von der Reizquelle entfernen. Auch bei Be¬ 
rührung der Darmschleimhaut mit einem spitzen Gegenstände (Knochen¬ 
splitter, Nadel) weicht die berührte Stelle zurück, die benachbarten 
kontrahieren sich, so daß der Gegenstand an seinem spitzen Ende fest¬ 
gehalten und durch die Peristaltik weiterhin mit dem andern, stumpfen 
Ende nach vorn fortbewegt wird (Einer nach Landois, Lehrbuch der 
Physiologie, 12. Aufl., S. 251). Hier vermittelt der Plexus submucosus im 
Verein mit dem Plexus myentericus die Beseitigung des Reizes, während 
Reize auf die äußere Haut, deren Beseitigung nur durch Beteiligung der 
willkürlichen Muskeln gelingen kann, hierzu der Leitung durch das Zentral¬ 
nervensystem bedürfen, weil eine viel verwickeltere Abstufung und Ver¬ 
teilung des Reizes auf die einzelnen ^Muskeln erforderlich ist und dieser 
Leistung nur ein viel verwickelterer Nervenaufbau zu genügen vermag. 

Aber die äußeren Reize könnten doch vielleicht ohne den Reiz des 
Stoffwechsels zur Erklärung der mannigfaltigen Bewegungen ausreichen, 
soweit diese nur dem Ziele der Entfernung des reizenden Gegenstandes oder 
der Entfernung von ihm dienen, sie genügen jedoch nicht, sobald wir 


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Diö physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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zugleich die entgegengesetzte Bewegungsart, die der Annäherung, ins Auge 
fassen. 

Das zeigt sich schon bei den Reizen vom Darmkanal aus. Der Plexus 
myentericus vermittelt sowohl die Pendelbewegung, die den Inhalt einer 
Darmschlinge hin und her bewegt, ohne ihn weiterzubefördern, und ihn 
so immer aufs neue mit denselben Stellen der Darmschleimhaut in Be¬ 
rührung bringt, wie die peristaltische Bewegung, die ihn weiter abwärts 
treibt. Wären hierbei nur die mechanischen Reize wirksam, so könnten 
sie wühl je nach ihrer Stärke die eine oder die andere Bewegungsart rascher 
oder langsamer, stärker oder schwächer machen, aber nicht die eine in 
die andere Umschlägen lassen. Wohl aber wird dieser Umschlag ver¬ 
ständlich, wenn wir zugleich auf die chemischen Reize des Stoffwechsels 
zurückgreifen. Dann scheint mir folgende Erklärung möglich. Die Pendel- 
bewegungen dienen der Aufnahme der Nährstoffe. Solange diese in einem 
dem Darmabschnitt angepaßten chemischen Zustande von den Epithel¬ 
zellen aufgenommen werden und somit von ihnen in der gewöhnlichen 
Weise abgebaut werden können, erfolgen die Pendelbewegungen mit dem 
Ziele der Annäherung des Darminhalts und des Darmepithels; geht die 
Zersetzung im Darm aber weiter, so daß Stoffe in das Epithel eintreton, 
die in ihm nicht in der Weise verarbeitet werden können, daß sie für den 
Organismus verwendbar werden, so setzt die peristaltische Bewegung ein. 
Maßgebend für den Umschlag der Pendelbewegung in die peristaltische Be¬ 
wegung ist also dann der Reiz, den die aus dem Innern der Epithelzellen in 
dieLymphspaltenaustretendenungewohnten Stoffe ausüben, unddieser Reiz 
entspricht dem, der nach meiner Annahme vom abbauenden Stoffwechsel 
ausgeht 1 ). Ein Reiz von gleicher Wirkung kann aber auch zustande 
kommen, bevor die Zersetzung des Darminhalts soweit vorgeschritten ist, 
nämhh dann, wenn so viel Nährstoffe sich im Epithel angesammelt haben, 
daß die Zellen nicht imstande sind, sie zu bewältigen, d. h. soweit abzu¬ 
bauen, daß sie nicht als FremdstofTe wirken. Hat also nach wiederholten 
Pendelbewegungen das Epithel si:h über ein gewisses Maß hinaus mit Nähr¬ 
stoffen beladen, so wird auch hierdurch die peristaltische Bewegung ein¬ 
geleitet werden. 

1 ) Damit stimmt überein, daß nach Pawlow und Cannon ,,die Ver¬ 
dauungsorgane, wenn sie leer sind und nicht sezernieren, in eine periodische 
Leertätigkeit geraten— das Antrum pylori bewegt sich, Pankreas-, Darm- 
saft und Galle werden abgesondert —, und daß das Hungergefühl mit, 
dieser Leertätigkeit verknüpft ist. Entscheidend für das Auftreten der 
periodischen Leertätigkeit ist nach Pawlow das Fehlen saurer Reaktion im 
Magen“ (Kestner, Der Sättigungswert der Nahrung. D. med. Wschr. 191h. 
S. 285). Diese Leertätigkeit läßt sich davon ableiten, daß aus den nicht 
sezernierenden tZellen der Magendrüsen vorbereitete Stoffe, die nicht zur 
Erzeugung von Magensaft verwandt werden, in die Lymphspalten aus- 
treten, wo sie den Nervenreiz für die Peristaltik abgeben. 


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Laehr. 


Verwickelter gestalten sich die Verhältnisse bei Reizungen der 
äußeren Haut. Es kommen hier für die Annäherung an den reizenden 
Gegenstand zunächst vor allem die Vorgänge bei der Nahrungsaufnahme 
und beim Geschlechtsakt in Frage. Die stärkere Durchströmung mit Blut, 
also die vermehrte Zuführung von Nährstoffen, führte ich auf den Reiz 
der Abbau- und Abfallstoffe zurück; dem entspräche es, wenn auch die 
Anregung zu Bewegungen, die die Annäherung zum Zwecke der Nahrungs¬ 
aufnahme oder des Geschlechtsaktes bewirken, von Reizstoffen ausginge, 
die aus den Organzellen in die Gewebelücken austreten, während der Reiz, 
der aus dem Innern der Organzellen stammt, jene Bewegungen hemmen 
würde, ln der Tat wird der Trieb zur Nahrungsaufnahme wohl allgemein 
darauf zurückgeführt, daß bei Unterernährung und im Hungerzustande 
Bestandteile des Körpers abgeschmolzen und zersetzt werden, also aus den 
Organzellen austreten. Wir werden dabei für die Anregung des Nahrungs¬ 
triebes — im Einklang mit dem Sitz der Hungerempfindungen — neben der 
Reizung, die zweifellos von der Magenschleimhaut ausgeht 1 ), besonders 
an die Leber denken, deren Zellen je nach den wechselnden Ernährungs¬ 
verhältnissen die größten Unterschiede in ihren chemischen Bestandteilen 
darbieten. Und daß hierbei nicht nur Glykogen und Fett, sondern auch 
wesentliche Zellbestandteile, wenngleich diese der Menge nach in weit 
geringerem Maße, beteiligt sind, darauf weist der Umstand hin, daß im 
Hungerzustand die Leberzellen fein granuliert und stark getrübt gefunden 
werden. Dem gegenüber würde die Hemmung des Triebes zur Nahrungs- 

l ) „Füllung des Magens allein gibt kein Sättigungsgefühl, wie das 
Gefühl des Magendrückens lehrt und die Abwesenheit des Sättigungsgefühls 
bei Aufblähung des Magens. . . .»In welcher Weise die Magensaftsekretion 
und die Füllung des Magens mit den „Allgemeingefühlen“ Hunger und 
Sättigung Zusammenhängen, ist eine noch ungelöste Frage. Vielleicht 
spielt die Verschiebung der Blutreaktion eine Rolle, die bei der Salzsäure¬ 
sekretion zu beobachten ist“ ( Kestner , 1. c.). Hiernach würde der Hunger 
von der Verschiebung der Blutreaktion nach der Säureseite abhängen. Nun 
schwankt die Titrationsalkaleszenz des Blutes zwar unter physiologischen 
Verhältnissen, sie wird durch starke Muskeltätigkeit infolge der Säure¬ 
bildung im Muskel verringert, Kinder und Frauen haben eine geringer? 
Alkaleszenz als Männer, Wöchnerinnen eine geringere als Schwangere 
( Landois , 1. c. S. 30), und es könnte daher wohl die Verschiebung nach der 
Säureseite hin infolge von Muskeltätigkeit oder bei Frauen, Kindern, 
Wöchnerinnen das Auftreten von Hunger begünstigen, aber das Ausbleiben 
der Säuresekretion des Magens, das die mit Hungergefühl verknüpfte Leer¬ 
tätigkeit veranlaßt, bedingt keine weitere Verringerung der Blutalkaleszenz, 
da dann auch keine Bildung von Säure erfolgt. Und ebensowenig macht 
der Genuß von säuresteigernden Nahrungsmitteln, wie Fleisch, Brot. 
Erbsen, hungrig. 


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Di* phydohiglseiien Kiwv.late der Lust und Unlust. 5HB 

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gefüllt sind itnd alxii der Druck ihres Inhalts hu" Al-*; > ■ >>‘st>/ : U 

Aosdebnunc .«oA damit ihre Reifung »pd Ttelong ■<*wbvffin " T.% 
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Tür huLtere- rmd innere Rete* ytatvytem fcösmsm, •••' deren,.‘vAkhw^r 
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AiiAhiret und innerer ■R.ctee wr ddu rch da * ÄentrAluoryeBsystejw 
in'Aeih die Ci^hirn- und Röckeujnaffestftei'ven.ttnd die’Eoi-teätxy AjiH ; ^T-n;v- 
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nehmen, A h. das, $iBi der wahrenA A' v j'.eUvr 

der «ensihlen öehirü- und ßücfeonmerlCyHerveö diesem Xialc- dit’ li,' f*L' dry, 
besonderen L'uistamle be«|'ng»e • Gestalt:geben; und' beide zos, -f . 

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sehen Nerven oinieilen. . ‘ V ••.;•' 

Fier iliiegorrrU Le*y»rfci, Imfti j^geLoVenen Kinde zm; ■• tii.-■ ■■' 

et£t' ihA.ih® durch .Ak&'Axttegeh^hhAir.. $w-f kr]^6(yfe 
••.,!<: j j! iten xahlluser«.huöe.rrn sensrWen Erregvmgen, di>: d“>,; , . ..: 

Zeatfeinervensystem besiandig msi romeu, b«5s't in» n» le- - Erreg. < *<..■•. • ( 
ijn^pttdern und mit den äiditiguhgü- e;nd':KuÄ|rer«Ar'^hhg^ii jiiOliy -ouc 
sosAerai auch mit den rrihtorisuhen Errtjgui^en, A»^; zur ^nit\gti;»i4U yr^ 
htdfeh'. VeT'biudnnge'n si ngehen, bpäet «ich ein ztrecÄtaäUhg'^ ÄipyhVtrK n - * 
.■rh*‘it t'.n au.K. Aus duh utigrordr*el o‘/i BmVegnnkeii, die 
rultv. lyerdeu aÖJ|ö0h^ fH.^cojri^Lifel^Ä*** und authi^f .«hetsh^tir»*. IR- 
v /ivdgwngen, je hi'ehr VnfVdge'''i^jiw?6r' 'Aurrh'. 


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Laehr. 


Verbindungen mit dem durch den Sympathikus vermittelten Stoffwechsel¬ 
reiz sich bestimmte äußere Reize zur gemeinsamen motorischen Innerva¬ 
tion vereinigen, während die übrigen sensiblen Reize wirlcunglos bleiben, 
d. h. jene Bewegungen nicht beeinflussen. Die sensiblen Reize, die durch 
die Rückenmarks- und Gehirnnerven herbeiströmen, gestalten somit auf 
Grund der durch frühere Vorgänge geschaffenen Disposition die Bewegun¬ 
gen im einzelnen, während der Stoffwechselreiz die Ursache der Be¬ 
wegungen ist, die aufhören, sobald der gegenteilige Stoff wechselreiz, der 
durch die in die Organzellen eintretenden Nährstoffe erzeugt wird, den 
Hungerreiz tiberwiegt. Im Zentralnervensystem müssen also zwischen den 
Bahnen der beiden entgegengesetzten StofTwechselreize und den Bahnen, 
die aus den äußeren sensiblen zu den motorischen Nerven führen, Ver¬ 
bindungen teils anregender, teils hemmender Art bestehen, und zwar sind 
sie sowohl im Rückenmark wie im Gehirn anzunehmen, da von beiden aus 
nicht nur funktionelle, sondern auch vasomotorische und trophische 
Wirkungen ausgehen, was voraussetzen läßt, daß dorthin Reize der Aufbau- 
und Abbaustoffe aus den gleichen Organen gelangen, die auch ihrerseits 
in dieser Weise von dort her beeinflußt werden können. 

Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Geschlechtsakt. Der Reiz, 
den die unter dem Druckjder gefüllten Samenkanälchen in die Gewebe¬ 
spalten des Hodens austretenden Stoffe ausüben, bewirkt im Verein mit 
Berührungsreizen, die von der Schleimhaut des Penis ausgehen, die Erek¬ 
tion und weiterhin die Ejakulation, wobei allerlei weitere äußere Reize, 
die vom weiblichen Partner ausgehen, unterstützend hinzutreten. Daß. 
wenigstens ursprünglich, die äußeren Reize allein nicht genügen, vielmehr 
die Vorgänge in den Geschlechtsdrüsen die Grundlage dafür abgeben, 
darauf weist der Umstand hin, daß bei Tieren die Wirkung der äußeren 
Reize allein auf die Brunstzeit beschränkt ist. 

Soweit also die Stoffwechselvorgänge in den inneren Organen im Ver¬ 
ein mit äußeren Eindrücken zu Körperbewegungen Anlaß geben, bewirkt 
Überwiegen des Abbaus Annäherung an den reizenden Gegenstand, ÜbeU 
wiegen des Aufbaus das Aufhören derselben. Anders verhält es sich mit 
den Stoffwechselvorgängen der Haut. Auch hier werden nur Abbauvor¬ 
gänge zu Bewegungen führen, da die Haut aber dem Schutze des Körpers 
dient, müssen hier die Abbauvorgänge zur Entfernung des Gegenstandes 
oder voix dem Gegenstände führen, der sie hervorgerufen hat, und zwar 
wird es sich stets nur um stärkere Einwirkungen desselben handeln, da 
nur diese zu Abbauvorgängen führen. Starker Druck schädigt die Zellen 
und preßt StofTe aus ihnen heraus, die in der Gewebeflüssigkeit als Reiz 
wirken, große Wärme oder Kälte verändert den Stoffwechsel und läßt 
ungewöhnliche und stärker reizende chemische Verbindungen auf- 
treten, Verletzungen überladen die Gewebeflüssigkeit mit reizenden Zell¬ 
trümmern. Auch hier bestimmt der Stoffwechsel nur das Ziel der Be¬ 
wegung; ihre Ausgestaltung im einzelnen erfolgt je nach den Reizen, die 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 585 

die Gehirn- und Rückenmarksnerven trelTen: zunächst auch hier vielfach 
ungeordnete Bewegungen, die erst allmählich dem Ziele immer genauer 
sich anpassen, je öfter dieses erreicht wurde. 

Daß das Überwiegen des Abbaus Bewegungen und das Überwiegen 
des Aufbaus deren Aufhören herbeiführt, gilt aber nicht für die Organe 
der Bewegung selbst, für die Muskeln; sonst würden einmal eingeleitete 
starke Bewegungen, da sie mit lebhaftem Abbau einhergehen, immer neue 
Bewegungen hervorrufen. Von dem abbauenden MuskelstofTwechsel geht 
im Gegenteil eine Hemmung der Bewegungen aus, die, je mehr sie mit der 
Dauer und Stärke der Muskelarbeit zunimmt, desto stärkere Reize zu ihrer 
Überwindung erfordert. Diese Hemmung betrifft zunächst die unter so 
ungünstiger Bedingung arbeitenden Muskeln selber, deren Leistungs¬ 
fähigkeit sich allmählich erschöpft, erstreckt sich aber in geringem Maße 
auch auf die übrigen Muskeln. Auch führt der Muskelabbau zu dieser 
Hemmung nicht nur bei starker Muskeltätigkeit, sondern auch im ruhigen 
Zustande beim Abschmelzen der Muskelstoffe infolge von Hunger oder 
Unterernährung: auch hier werden die Bewegungen unwillkürlich seltener, 
langsamer und schwächer, und dies weit mehr, als der allmählichen Ab¬ 
nahme der Leistungsfähigkeit entspricht. 

Dem Hautorgan haben sich später im Kopfe weitere Sinnesorgane 
7.ugesellt, die Eindrücke anderer Art übermitteln, und diese mit den Haut¬ 
eindrücken und den Stoffwechselreizen zu vereinigen, dient das Gehirn, 
und zwar zunächst der Gehirnstamm, in dessen vorderem Ende, der Seh- 
hügelgegend, die afferenten Nervenfasern nicht nur der eigentlichen Gehirn- 
und Rückenmark^nerven, sondern auch die des Sympathikus Zusammen¬ 
kommen. Vom Sehhügel aus lassen sich Kreislauf, Atmung und Darm¬ 
peristaltik, Stoffwechsel und Körpertemperatur beeinflussen und Aus 
druckbewegungen hervorrufen; hier findet auch, wie man sagt, eine ,,Um¬ 
schaltung“ der sensiblen Bahnen auf ihrem Wege zum letzten großen Ver¬ 
einigungsort des Nervensystems, der Großhirnrinde, statt. Eine Um¬ 
schaltung in dem Sinne anzunehmen, als würden hier die Sinneserregungen 
in anderer, für die Verarbeitung im Großhirn geeigneterer Weise zu¬ 
sammengefaßt, ist wohl nicht unbedingt nötig, da diese Zusammenfassung 
auch im Großhirn allein stattfinden könnte. Jedenfalls handelt es sich 
aber, wie in den sympathischen Ganglien und im Rückenmark, auch 
im Sehhügel um Teilung von Nervenleitungen; * ein Leitungsweg geht 
zum Großhirn weiter, andere gehen Verbindungen im Sehhügel ein, es 
finden überall Verstärkungen und Hemmungen statt, und so kommen 
besondere motorische und andere Wirkungen zustande. 

Wir kommen zum letzten großen Vereinigungsort der Nervenreize, 
der Großhirnrinde. Auch hier münden mit den Fortsetzungen der sensiblen 
Gehirn- und Rückenmarksnerven Fortsetzungen der Sympathikusfasern 
ein, und es führen die vom abbauenden Stoffwechsel herstammenden 
Nervenerregungen zunächst zu allgemeinen und deshalb ziellosen Be- 


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wegungen. Aber indem neben der kürzeren Leitung vom sensiblen zum 
motorischen Einzelrindenteil, schon allein infolge seiner Verbindungen 
mit andern derartigen Leitungen — z. B. der Leitung der sensiblen Körper¬ 
reize zur motorischen Zone mit der Leitung der optischen Reize zu den 
Augenmuskelzentren — sich immer mehr Seiten- und LImwege bilden, 
wird es möglich, daß Residuen früherer Eindrücke, die zugleich mit zweck¬ 
mäßigen Bewegungen aufgetreten waren, die späteren Bewegungen beein¬ 
flussen. Denn jetzt können gleichzeitige Erregungen auf den neuen 
Bahnen, die durch jene Umstände eingeschaltet werden, sich vereinigen und 
als Ganzes gewissermaßen festsetzen, d. h. durch Hemmung und Bahnung 
von den übrigen Wegen abgrenzen und später in gleicher Verbindung 
wieder angeregt werden, wenn auch nur ein Teil der ursprünglichen Ein¬ 
drücke wiederkehrt. Die durch gleichzeitige Erregung miteinander ver¬ 
bundenen Bahnen können weiter auch untereinander in Verbindung treten 
und ermöglichen so eine viel mannigfaltigere Verarbeitung der Eindrücke, 
als jene kürzeren Bahnen zwischen sensiblem und motorischem Einzelteil 
der Hirnrinde. Nun ziehen von allen Teilen der Großhirnrinde kortiko- 
fugale und kortikopetale Fasern nach dem Sehhügel; die Leistungen des 
Sehhügels, sein Einfluß auf den Kreislauf, auf die Atmung, auf die Peri¬ 
staltik, auf den Stoffwechsel und auf die Ausdruckbewegungen können 
also auch von jenen ,.Umwegen“ in der Großhirnrinde aus angeregt werden 
und umgekehrt Erregungen des Sehhügels den „Umwegen“ der Großhirn¬ 
rinde, in diesen also den abgegrenzten Residuen früherer gleichzeitiger * 
Eindrücke, zufließen. Die Örtlichkeit, in der diese „Umwege“ verlaufen 
und die'Fasern vom Sehhügel enden, ist die „stumme“, d. h. weder sen¬ 
sible noch motorische Hirnrinde. Sie bezieht ihre Erregungen also sowohl 
von der sensiblen Hirnrinde wie vom Sehhügel und schickt ihre Erregungen 
sowohl nach der motorischen Hirnrinde wie nach dem Sehhügel. 

Wie die Ganglien des Sympathikus dazu dienen, vermittelst der vom 
Stoffwechsel in den einzelnen Organen ausgehenden Reize den Stoffwechsel 
und die Blut Versorgung in größeren Körperabschnitten gleichmäßig zu 
erhalten, während die Nervenzellen in den einzelnen Organen das gleiche 
für diese leisten, so dient däs Gehirn dazu, die übrigen sensiblen Erregungen, 
die in den einzelnen Rückenmarksabschnitten mit- den Sympathikus¬ 
erregungen zusammentreten und hier sowohl äußere Bewegungen wie 
Blutlauf- und Stoffwechselwirkungen in den entsprechenden Körperteilen 
auslösen konnten, nun zu gemeinsamen Wirkungen auf den Gesamtkörper 
zusammenfassen. So wird die Gestaltung der äußeren Bewegungen in 
immer zweckmäßigerer Weise in der Großhirnrinde ausgearbeitet und 
vom Kleinhirn aus durch Zusammenordnung der Eindrücke der Tiefen- 
sonsibilität und des Gleichgewichtsorgans unterstützt, und so werden auch 
die Eigenleistungen des Sympathikus vom Hirnstamm aus beeinflußt, 
dem die Anregung dazu teils direkt von den sensiblen Bahnen, teils von 
der Großhirnrinde aus zugeht. Während aber die Mannigfaltigkeit der 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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äußeren Bewegungen vielfachen Wechsel der beteiligten Körperteile und 
Muskeln erfordert, ist es für den Einfluß des Gehirns auf Stoffwechsel und 
Blutversorgung.wichtig, daß sich die Wirkung auf den Gesamtkörper 
erstrecken kann, da die Wirkung einzelner Körperteile aufeinander in 
dieser Hinsicht schon durch die Einrichtungen des Sympathikus und der 
einzelnen Rückenmarksabschnitte geregelt ist. So finden wir im ver¬ 
längerten Mark ein Zentrum, von dem aus die Stärke und die Zahl der 
Herzkontraktionen herabgesetzt wird, und ein anderes, das durch Er¬ 
regung des N. accelerans die gegenteilige Wirkung ausübt, ferner das 
Zentrum der Vasokonstriktoren und der Vasodilatatoren. Dement¬ 
sprechend dürfen wir auch ein Zentrum für die Anregung und eines für die 
Verlangsamung des (aufbauenden) Stoffwechsels erwarten. Da nun Zu¬ 
nahme des Stoffwechsels zur Wärmevermehrung führt, ist das die Ver¬ 
brennungsprozesse im Körper anregende Wärmezentrum, das im Corpus 
striatum und im Sehhügel angenommen wird, als Zentrum des aufbauenden 
Stoffwechsels, der ja auch zu vermehrtem Abbau führt, aufzufassen und 
dürfte zugleich eine hemmende Wirkung auf die Gefäßmuskeln, vielleicht 
durch Einfluß auf das Dilatatorenzentrum im verlängerten Marke, aus¬ 
üben, da hierdurch der Stoffwechsel unterstützt und die gefäßverengernde 
Wirkung des aufbauenden Stoffwechsels gehemmt wird, die sonst die 
Wirkung des Zentrums beeinträchtigen würde. Von der Haut aus wird 
es hauptsächlich durch die Abkühlung der Umgebung erregt, während deren 
Erwärmung ein anderes Zentrum im Gehirn reizt, welches auf den Ver¬ 
brennungsprozeß im Körper hemmend wirkt. Da dessen Fasern durch 
Pons, Med. oblong, und Med. spin. niedersteigen, müssen sie die Hemmung 
des aufbauenden Stoffwechsels im Rückenmark oder im Sympathikus 
besorgen, und die Frage, was sie, abgesehen von dieser Hemmung, leisten, 
dürfte wohl mit Rücksicht darauf, daß sie bei Erwärmung der Haut in 
Tätigkeit treten, dahin zu beantworten sein, daß sie die Arterien, und zwar 
• in diesem Falle, da die Erwärmung der Haut die Hautgefäße erschlafft, 
nur die Arterien der inneren Organe, namentlich der Drüsen und Muskeln, 
verengern, was nicht nur die hemmende Wirkung auf den Stoffwechsel 
unterstützen, sondern auch das Blut nach der Haut ablenken und deren 
schon örtlich bedingte reichlichere Durchströmung steigern würde. Da 
nun der Sehhügel wahrscheinlich einen Apparat für die Vasomotoren ent¬ 
hält, liegt die Annahme nahe, daß di^er mit dem im Gehirn noch nicht 
näher lokalisierten Hemmungszentrum des Stoffwechsels identisch ist, 
so daß das Zentrum für die Förderung und das für die Verlangsamung des 
Stoffwechsels einander ebenso benachbart wären wie das Zentrum der Be¬ 
schleunigung und das der Verlangsamung der Herztätigkeit oder die Zentren 
der Vasokonstriktoren und der Vasodilatatoren. Wenn Reichardt l ) es 

' 1 ) Reichardt , Arbeiten aus der Psychiatrischen Klinik zu Würzburg. 
7. Heft, S. 398. 

Zeitschrift fOr P s LXXV. 4/6. 40 


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Lachr, 


als „überwiegend wahrscheinlich“ bezeichnet, daß eine schwere Erkrankung 
der Hirngegenden in der Nachbarschaft des 3. Ventrikels und der Hypo¬ 
physe zu einer krankhaften Mästung und konsekutiven Abmagerung und 
zu einer Art Marasmus führen kann, so paßt dies zur Annahme von Zentren 
für den aufbauenden und abbauenden Stoffwechsel in der Sehhügelgegend. 

Die Hemmung des Stoffwechsels ist aber nicht nur bei Erwärmung 
der Haut durch die Umgebung geboten, sondern "auch im Hungerzustand, 
da es dann gilt, mit den Nährstoffen zu sparen und den Stoffwechsel auf 
das zur Erhaltung des Körpers eben erforderliche Maß zu beschränken. 
Während also die Einschmelzung in einem einzelnen Körperteil den auf¬ 
bauenden Stoffwechsel in ihm anregt, für den in diesem Falle ja genügend 
Stoff vorhanden ist, bewirkt die im Hungerzustande den Gesamtkörper 
umfassende Einschmelzung das Gegenteil, indem voiü Gehirn aus un¬ 
mittelbar eine Verengerung der Arterien und durch Hemmung eine Ver¬ 
ringerung des aufbauenden Stoffwechsels erfolgt. Daß hierbei die lebens¬ 
wichtigsten Organe am wenigsten leiden, sich also von den Stoffen er¬ 
nähren, die in den andern Organen abschmelzen, ist offenbar darin be¬ 
gründet, daß jene, vor allem das Zentralnervensystem, dem beständig 
Reize Zuströmen, und das Herz, andauernd tätig sind, so daß hier der ab¬ 
bauende funktionelle Stoffwechsel auch den aufbauenden steigert und so 
dessen Einschränkung entgegenarbeitet, während in den Teilen, die nicht 
oder wenig funktionieren, vor allem also im Fettgewebe, Ersatzstoffe nicht 
aufgenommen werden und die vorhandenen Stoffe zwar langsam, aber 
infolge ihrer Labilität dauernd einschmelzen. Das gleiche, nur in ver¬ 
ringertem Maße, gilt für die Unterernährung. 

Umgekehrt liegen die Verhältnisse nach der Nahrungsaufnahme. 
Hier unterstützt die Erregung des Zentrums für den aufbauenden Stoff¬ 
wechsel die Ersatztätigkeit der einzelnen Organe. Und da diese Ersatz¬ 
tätigkeit durch die Funktion gesteigert wird, werden zunächst die Ver¬ 
dauungsorgane ihren Verlust am vollständigsten ersetzt erhalten und rasch 
funktionstüchtig werden. 

Der Reiz des aufbauenden Stoffwechsels im Einzelorgan oder in 
dessen Teilen regt also die Zusammenziehung der zuführenden Arterien 
an und belebt den Stoffwechsel in andern Körper- oder Organteilen. 
Von Darm und Leber aus besonders kräftig eingreifend bewirkt er 
durch Vermittlung des Gehirns eine Steigerung des Stoffwechsels im 
Gesamtkörper und hemmt den Trieb zu Bewegungen. Das Gehim- 
zentrum für die Steigerung des Stoffwechsels, das in der Sehhügel¬ 
gegend anzunehmen ist, beantwortet zugleich die Wirkung der Kälte 
durch Steigerung der Wärmeerzeugung im Körper. Dieser mittelbare 
Einfluß der Kälte auf den Stoffwechsel macht sich, wie der entgegen¬ 
gesetzte der äußeren Wärme, nur in den inneren Organen bemerkbar. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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Weil in der Haut der Stoffwechsel durch die Kälte unmittelbar ver¬ 
langsamt und gleichzeitig die Arterien Verengert werden. 

Der Reiz des abbauenden Stoffwechsels im Einzelorgan oder in 
dessen Teilen bewirkt teils unmittelbar durch Hemmung der Zusammen¬ 
ziehung der zuführenden Arterie, teils durch Zusammenziehung anderer 
Arterien eine stärkere Blutversorgung und belebt zugleich den auf¬ 
bauenden Stoffwechsel im gleichen Körperteil Vom Gesamtkörper 
her bewirkt er durch Vermittlung des Gehirns direkt eine Zusammen¬ 
ziehung der Arterien und durch Hemmung ein Nachlassen des auf¬ 
bauenden Stoffwechsels und regt zugleich die zur Nahrungsaufnahme 
nötigen Körperbewegungen an. Das den Stoffwechsel hemmende 
Zentrum, das gleichfalls in der Sehhügelgegend anzunehmen ist, ver¬ 
mittelt daneben auch die 'Wirkung äußerer Wärme auf den Stoff¬ 
wechsel. 

Die beiden Stoffwechselzentren, die in der Sehhügelgegend anzu¬ 
nehmen sind, können aber voraussichtlich nicht nur vom Sympathikus 
und von den sensiblen Gehirn- und Rückenmarksnerven aus erregt 
werden, sondern vermittelst der Tractus corticothalamici auch von 
der Großhirnrinde aus. Dafür spricht nicht nur, daß seelische Ver¬ 
stimmungen, als deren physiologisches Korrelat wir Vorgänge in der 
Großhirnrinde annehraen, bei längerer Dauer den Stoffwechsel merklich 
beeinflussen, sondern auch die Tatsache, daß andere gegensätzliche 
Zentrenpaare im Himstamm und in tieferen Nervenabschnitten, wie 
die, welehe die Herztätigkeit, die Arterienzusammenziehung, die 
Schweißsekretion 1 ), die Darmbewegung, die Urinentleerung, die Pupillen¬ 
weite usw. fördern oder hemmen und für gewöhnlich „automatisch 1 ’, 
ohne Beteiligung der Hirnrinde, wirken, auch durch Bewußtseinsvor¬ 
gänge, also von der Hirnrinde aus, beeinflußt werden können. Dafür 
spricht ferner eine Betrachtung darüber, wie eingeübte Bewegungen 
zustande kommen können, auch ohne daß die Reize, die zu ihrer Ein¬ 
übung geführt haben, in gleicher Weise von neuem auftreten. 

Wenn ich davon sprach, daß in der Großhirnrinde die sensiblen Er¬ 
regungen des Gesamtkörpers zu gemeinsamen Wirkungen zusammengefaßt 
und die aus ihnen entspringenden Bewegungen ausgearbeitet und zweck¬ 
mäßiger gestaltet werden, so sind diese Ausdrücke für das Folgende zu 


*) Dieden, Die Innervation der Schweißdrüsen. 
1918, S. 1048. 


D. med. Wschr. 


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Laehr, 


allgemein und müssen auf physiologisch faßlichere Anschauung zurück¬ 
geführt werden. Da ich für jene Funktion der Großhirnrinde die Ver¬ 
bindung ihrer ,»stummen“ Teile mit dem Sehhügel und im besonderen 
mit dessen StolTwechselzentren als wichtig ansehe, koiümt es mir darauf 
an, die Beteiligung beider Hirnteile möglichst auseinanderzuhalten. Das 
geht besser beim Frosch als beim Menschen. Beim Menschen hat die Hirn¬ 
rinde einen Teil der lebenswichtigen Funktionen,^die einst die Sehhügel¬ 
gegend leistete, so vollständig übernommen, daß diese allein sie auch "nicht 
einmal unvollkommen mehr leisten kann. Dagegen ist der Frosch noch 
fähig, wenn er so lange durch Fütterung am Leben erhalten wird, den durch 
Abtragung des Großhirns entstandenen Ausfall allmählich einigermaßen 
zu ersetzen, also durch neue Ausarbeitung früher angelegter Bahnen, die 
zugunsten der mehr leistenden Großhirnbahnen verlassen waren, die zu¬ 
nächst verlorene Leistungsfähigkeit zum großen Teile wiederzuerlangen. 
Ein Frosch, dem kürzlich das Großhirn entfernt ist, macht ohne äußere 
Reizung keine Bewegung, er nimmt keine Nahrung, zeigt keine Furcht und 
vertrocknet schließlich an derselben Stelle zur Mumie. Dagegen behält er 
das harmonische' Gleichgewicht des Körpers, drejit sich, auf den Rücken 
gelegt, sofort wieder um; gereizt, macht er einen oder zwei Sprünge, wobei 
er in den Weg gestellten Hindernissen geschickt ausweicht; ins Wasser 
geworfen, schwimmt er bis zum Rande des Behälters, steigt auf diesen 
hinauf und bleibt ruhig sitzen. Unter den verwickeltsten Verhältnissen 
zeigt er auf äußere Reize volle Beherrschung, Harmonie und Einheitlich¬ 
keit der Bewegungen 1 ). Erhalten ist also die Anpassung der Bewegungen 
an gegenwärtige äußere Reize, während die Verwertung vergangener Ein¬ 
drücke verloren gegangen ist. Der Gesichtseindruck genügt, den Sprung 
der Umgebung anzupassen; Gefahren und Beute regen keine Bewegung an. 
Ihre Eindrücke gelangen natürlich ebenso zur Sehhügelgegend wie die 
der Bewegungshindernisse, aber sie führen nicht zur Bewegung, weil hierzu 
die Vereinigung jetziger mit den Residuen früherer Eindrücke notwendig 
wäre und letztere fehlen. Beim unversehrten Frosche sind demnach in der 
Hirnrinde Residuen früherer Eindrücke vorhanden, die die jeweilig ein¬ 
laufenden Eindrücke bereichern und ergänzen: die Wahrnehmung der 
Gefahr oder der Beute regt Bewegungen an, und diese haben ein Ziel, 
sind einem Zwecke angepaßt und schon deshalb genauer ausgearbeitet 
als die zwecklosen, nur durch die Hautreize, gewissermaßen nur von hinten 
angeregten Bewegungen des kürzlich cntgroßhirnten Frosches. Damit die 
Ausarbeitung jener Zielbewegungen erfolgen konnte, mußten die ent¬ 
sprechenden Rindenbahnen also außer der Anregung von hinten auch 
eine Anregung von vorn, vom Bewegungssziel aus, erfahren können. 

Nun sind ja zweifellos in der Hirnrinde des jungen Frosches die 
meisten Leitungsbahnen schon in seiner Kaulquappenzeit gebildet, so daß 
er Bewegungen nach einem Ziele hin ausführen kann, und sich für sein 

*) Nach Landois a. a. O. S. 708. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust 591 

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Froschdasein zweckmäßige Ziele zu setzen lernt er im allgemeinen durch 
Nachahmung, ich will aber, um die Entstehung solcher zweckmäßigen 
Ziele zu verfolgen, annehmen, daß sie ohne Nachahmung gebildet werden. 
Wie kommt es, daß die Nervenbahnen in der Großhirnrinde, welche im 
Hungerzustand zur Sättigung führen oder den Frosch schädlichen Ein¬ 
wirkungen entziehen, nach ihrer Ausarbeitung auf die besonderen Reize 
sofort ansprechen, d. h. die inneren Erregungen, die dem abbauenden 
Stoffwechsel entspringen, und die äußeren Erregungen, die von der 
Nahrungs- oder Schädigungsquelle ausgehen, gewissermaßen an»sich ziehen, 
in sich aufnehmen und so die Bewegung nach dem zweckmäßigen Ziel hin 
veranlassen? Es sind ja unter diesen Umständen gewiß auch Sprünge 
nach unzweckmäßigen Zielen vorangegangen, und sie könnten sich ebenso 
wiederholen. Die Bewegungen auf ein zweckmäßiges und ein unzweck¬ 
mäßiges Ziel unterscheiden sich dadurch, daß die einen zur Sättigung 
oder, zum Aufhören der Schädigung, also zur Entstehung des aufbauenden 
Stoffwechsels führen, die andern nicht. Die Entstehung des aufbauenden 
Stoffwechsels, der den abbauenden ablöst und die durch ihn hervorgerufenen 
Bewegungen hemmt, muß also die Ursache jener ,,Heranziehung“ sein. 

Als Beispiel diene der durch starke Sonnenwärme angeregte Sprung 
des Frosches. Führt er in den kühlen Teich, so ist dadurch von den beiden 
Stellen der stummen Hirnrinde, deren Erregung die Einleitung des Sprunges 
begleitete, nämlich der, die den Eindruck der äußeren Wärme und damit 
zugleich Erregungen des abbauenden Hautstoffwechsels aufnahm, und der, 
die dem Gesichtseindruck des Teiches entspricht, eine gemeinsame Bahn 
angelegt zu der andern Stelle, die die sensiblen Eindrücke beim Verweilen 
im Teiche festhält. Diese gemeinsame Bahn wird gebildet durch die 
Residuen der sensiblen Eindrücke, die die Einstellung auf den Sprung 
und den Sprung selbst begleiteten und durch die hierzu nötigen Bewegun¬ 
gen vermittelt wurden. Gelangt der Frosch m das kühle Wasser, so geht 
der abbauende Stoffwechsel an der Körperoberfläche in den aufbauenden 
über, und der aufbauende Stoffwechsel im Körperinnern nimmt zu. Die 
von ihm ausgehenden Rindenerregungen verbinden sich mit der Erregung, 
die dem Eindruck beim Verweilen im Teiche entspricht. Da die Ab¬ 
kühlung der Oberfläche, wenn auch rasch, doch nicht sofort beendet ist 
und demgemäß der Umschlag des ab- in den aufbauenden Stoffwechsel 
nicht überall gleichzeitig erfolgt, so wird eine Zeitlang ein Erregungs¬ 
kreislauf in der stummen Hirnrinde vor sich gehen, der von der Stelle, 
die dem Eindruck der äußeren Wärme entspricht, über die Residuen der 
sensiblen Eindrücke bei der Einstellung zum Sprung und beim Sprung 
selbst zur Stelle führt, die den Eindrücken beim Verweilen im Teiche 
entspricht, und von da zurück zu den Stellen, die den Gesichtseindruck 
des Teiches und den Eindruck der äußeren Wärme festhält. Dieser Kreis¬ 
lauf wird zunächst gespeist von den mit dem Wärmeeindruck verbundenen 
Erregungen, die vom abbauenden Stoffwechsel ausgehen, bald aber in 


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zunehmendem Maße von den mit dem Eindruck der Kühle des Teichs 
verbundenen Erregungen des aufbauenden Stoffwechsels. Zur Sprung¬ 
bewegung kommt es dabei nicht, weil der abbauende Stoffwechsel im Ab¬ 
nehmen ist und der aufbauende sehr rasch überwiegt, so daß die von jenem 
angeregte Bewegung zur Ruhe kommt. Wohl aber bildet sich eine Ver¬ 
tiefung der so angelegten Kreislaufbahn aus, die spätere Erregungen der 
Stellen, die den Eindruck der Wärme und den Gesichtseindruck des Teiches 
festhalten, in diese Bahn, und zwar in der früheren Richtung, hineinziehen 
und somit dieselbe Sprungbewegung veranlassen kann. Gelangt der Frosch 
dagegen nicht in größere Kühle, dauert also der abbauende Hautstoff¬ 
wechsel fort, so wird vielleicht gleichfalls ein entsprechender Erregungs¬ 
kreislauf entstehen, der von der Stelle des Wärmeeindrucks und des 
Sprungzieleindrucks über die Residuen der Eindrücke der Sprungein¬ 
stellung und des Sprunges zu den Stellen des Wärmeeindrucks und des 
Sprungzieleindrucks zurückführt, aber der abbauende Stoffwechsel, der 
nun fortbesteht, wird weitere Sprünge nach andern Zielen veranlassen, 
so daß die Vertiefung der Kreisbahn nicht zugunsten eines bestimmten 
Zieles stattfindet. Wird also ein Frosch, der sich durch den Sprung in den 
Teich der Hitze entzogen hat, später wieder von der Hitze bedroht, so 
wird, wenn mehrere Gesichtsbilder, darunter auch das des Teiches, sich 
ihm darbieten, die Erregung durch den Anblick des Teiches in der stummen 
Hirnrinde die Kreisbahn einschlagen, die sich durch den Sprung in den 
Teich gebildet und durch seine Folgen vertieft hat. Die übrigen Kreis¬ 
bahnen, die von den Gesichtseindrücken früherer Sprungziele angeregt 
werden, haben hiergegen zu geringe Vertiefung erfahren und sind daher 
gegen die vom Gesichtsbild des Teiches angeregte benachteiligt. Die Er¬ 
regung durch die äußere Wärme, die zum Sprunge führt, wird deshalb auf 
die Bahn in der stummen Hirnrinde, die zur Stelle des Gesichtsbildes des 
Teiches zurückführt, geleitet, und die einzelnen Abschnitte dieser Bahn 
sind mit den motorischen Abschnitten leitend verbunden, mit denen sie 
damals in zeitlicher Parallele erregt wurden. So werden diese motorischen 
Abschnitte nicht nur, wie die übrigen, von den unmittelbaren Erregungen 
des abbauenden Stoffwechsels, sondern auch stärker als die andern von 
jener Bahn der stummen Hirnrinde aus in Erregung versetzt, sie sind also 
vor den andern bevorzugt und bewirken, daß ‘der Sprung in den Teich 
erfolgt. 

Es erhalten somit die ziellosen Sprünge, die, vom abbauenden Stotl- 
wechsel angeregt, auch beim entgroßhirnten Frosch erfolgen, ein Ziel 
dadurch, daß manche zu Verhältnissen führen, in denen der abbauende 
Stoffwechsel in den aufbauenden übergeht , daß sie also für den Organismus 
des Frosches zweckmäßig sind. Zugleich wird aber durch die Sprünge* 
auf ein zweckmäßiges Ziel auch die Sicherheit und genaue Abmessung 
der Sprünge erhöht, weil bei falscher Einstellung der aufbauende Stoff¬ 
wechsel ausbleibt. Die falsche Einstellung beruht auf ungenauer Ab* 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 593 

Stimmung der motorischen Rindenbahn auf diejenige Bahn der stummen 
Hirnrinde, die durch die Sprungeinstellung entstanden ist. Dadurch, daß 
die Erregungswellen in der motorischen und in der stummen Hirnrinde 
in zeitlicher Parallele verlaufen, erfolgt die Abstimmung, und diese wird 
um so genauer sein, auf je kleinere Abschnitte der Bahnen sie sich erstreckt. 
Auf den gelungenen Sprung erfolgt kein neuer, weil die Erregung durch 
den abbauenden Stoffwechsel nachläßt; bevor sie aufhört, wird aber die 
Erregung weiter auch in die eben durchlaufene Bahn der motorischen 
Rinde sich ergießen, nur mit geringerer Stärke, so daß es zwar zu keinem 
neuen Sprunge kommt, aber die Abstimmung der motorischen auf die 
stumme Rindenbahn durch die, wenn auch schwächere, Nachdauer der 
beiderseitigen Erregung gefördert wird. Zugleich wird auch die Abstim¬ 
mung Zeit haben, sich zu befestigen, da der aufbauende Stoffwechsel neue 
Erregung in diesen Teilen nicht aufkommen läßt, während nach Fehl¬ 
sprüngen infolge der fortdauernden Reizwirkung des abbauenden Stoff¬ 
wechsels neue Sprünge erfolgen, die nicht nur die für die Abstimmung 
bleibende Zeit verkürzen, sondern auch durch die starke Erregung neuer 
Bahnen, die über Teilstrecken der alten, eben angelegten, führen, deren 
nachträgliche Festigung stören. 

Nun springt der Frosch aber auch häufig, ohne durch den abbauenden 
Stoffwechsel dazu veranlaßt zu sein, er hüpft in den Teich, auch ohne daß 
Wärme ihn' treibt, er springt wohl auch nach einem lockenden Insekt, 
ohne daß Hunger im Spiel ist. Es muß also neben der treibenden Kraft 
des Hungers oder zu großer Wärme auch die anziehende Kraft der Beute 
oder des erfrischenden Teiches, neben der Anregung von hinten auch eine 
Anregung von vorn wirksam sein können. Wie läßt sich das erklären? 

Wir wissen zwar, daß Erregungen der Großhirnrinde nicht nur äußere 
Bewegungen bewirken, sondern auch durch die Verbindung der Rinde 
mit tiefer gelegenen Zentren die vegetativen Funktionen des Körpers ver¬ 
ändern können, und daß infolge dieser Veränderungen ebenso wie infolge 
der äußeren Bewegungen neue Erregungen der Rinde Zuströmen. Diese 
neuen Erregungen strömen in die sensible Hirnrinde ein. Von dorther 
führen aber nur die Erregungen des abbauenden Stoffwechsels zu Be¬ 
wegungen; sollen auch die des aufbauenden äußere Bewegungen ver¬ 
anlassen — und sie müßten doch die anziehende Kraft darstellen, die 
Kraft, durch welche der Eindruck der Beute oder des erfrischenden Teiches 
Bewegungen hervorruft —, so müssen Stoffwechselerregungen auch an 
anderer Stelle in die Hirnrinde einströmen können. Wer, wie ich, die 
ursprüngliche Abhängigkeit der Bewegungen vom Stoffwechsel annimmt, 
wird hier sofort an die Stoffwechselzentren in der Sehhügelgegend denken. 
Sie werden von den Stoffwechselvorgängen ebenso erregt wie die sensible 
Großhirnrinde, aber sie unterscheiden sich von der sensiblen Hirnrinde 
dadurch, daß in sie nur Stoffwechselerregungen, in die sensible Hirnrinde 
daneben und stets gleichzeitig mit ihnen auch sensible Erregungen anderer 


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Art eintreten. Diese sensiblen Erregungen werden sich in der sensiblen 
Hirnrinde mit den StolTwechselerregungen vereinigen, mit denen sie gleich¬ 
zeitig auftreten, d. h. sie werden mit ihnen nach ihrer gemeinsamen Ent¬ 
stehungsquelle — dem gleichen Organ, dem . gleichen Organteil — zu ge¬ 
meinsamer Wirkung zusammenfließen, so daß die Erregung derselben sen¬ 
siblen Faser, mit überwiegender Erregung des abbauenden Stoffwechsels 
verbunden, andere Bahnen in der Großhirnrinde einschlägt, als wenn sie mit 
überwiegender Erregung des aufbauenden Stoffwechsels vereint ist. Anders 
in den Zentren der Sehhügelgegend. In ihnen laufen nur Stoffwechsel¬ 
erregungen zusammen, im einen Zentrum nur die des abbauenden, iro 
andern nur die des aufbauenden Stoffwechsels. Es können sich also hier 
nur die Erregungen des aufbauenden Stoffwechsels miteinander und die 
Erregungen des abbauenden Stoffwechsels miteinander zu gemeinsamer 
Wirkung vereinigen. Beide Zentren sind stets mit Erregung geladen, da 
überall im Körper Aufbau und Abbau, wenn auch in sehr verschiedenem 
Stärkeverhältnis, vor sich geht. Nimmt man also an, daß sie mit der 
stummen Hirnrinde leitend verbunden sind, so können ihre Erregungen 
für die Stoffwechselerregungen eintreten, die durch die sensible Hirnrinde 
in die stumme Hirnrinde gelangen. Es liegt somit nahe, daß die Wirkung 
des Stoffwechsels auf die Hirnrinde, die im nicht hungrigen Frosch beim 
Sprung auf die lockende Beute zutage tritt und die nicht über die sensible 
Hirnrinde kommen kann, von den Stoffwechselzentren des Sehhügels 
stammt. Und das erweist sich in der Tat als möglich, weil stumme Hirn¬ 
rinde und Sehhügel durch Fasern verbunden sind, die' nach beiden Richtun¬ 
gen gehen und*daher einen Kreislauf der Erregung von der stummen 
Hirnrinde zum Sehhügel und von diesem zu ihr zurück gestatten, die 
Stoffwechselzentren des Sehhügels also in dieser Beziehung sich wie Teile 
der stummen Hirnrinde verhalten, nur mit dem Unterschiede, daß sie 
durch diese hindurch Bewegungen bewirken können, während andere 
Erregungen der stummen Hirnrinde dies nicht vermögen, falls ihnen 
nicht Erregungen des abbauenden Stoffwechsels durch die sensible hin¬ 
durch Zuströmen. 

Wende q wir diese Überlegung auf den Fall an, daß der Frosch, 
ohne durch Hunger getrieben zu sein, den Sprung auf die Beute vollführl. 
so ergibt sich folgender Zusammenhang. Die Vorgeschichte ist dieselbe 
wie beim Sprung ins Wasser bei Sonnenwärme. Gelang der Beutesprung, 
so ist dadurch von den beiden Stellen der stummen Hirnrinde, die dem 
Eindruck des Hungers und dem Gesichtseindruck der Beute entsprechen, 
über die Sammelstelle der sensiblen Eindrücke, die durch die Einstellung 
auf den Sprung und den Sprung selbst entstanden, eine gemeinsame Bahn 
eröffnet zu den Stellen der stummen Hirnrinde, die die Eindrücke beim 
Verzehren'der Beute und die der Sättigung festhält. Die Stelle, welche 
den Eindruck der Sättigung festhält, wiederum ist leitend verbunden mit 
der Stelle, die den .Eindruck des Hungers festhält, da dieser erst allmählich 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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mit der Zunahme der Sättigung abnimmt und verschwindet. Es ist also 
eine Kreisbahn geschaffen, vermöge deren später das Zusammentreffen 
von Hunger und Anblick der Beute einen neuen Sprung auf diese ver¬ 
anlassen kann in gleicher Weise, wie das Zusammentreffen von Wärme 
mit dem Anblick des kühlen Teiches den Sprung in diesen anregen konnte. 
Die zum Sprunge treibende Kraft stellte der abbauende Stoffwechsel, dessen 
Wirkung der Eindruck des Hungers oder der Wärme enthielt. Diese treibende 
Kraft fällt beim Sprunge des nicht hungrigen oder nicht übermäßig er¬ 
wärmten Frosches fort und muß durch die Kraft des aufbauenden Stoff¬ 
wechsels ersetzt werden. Verhalten sich nun die Sehhügelzentren des 
Stoffwechsels darin wie Teile der stummen Hirnrinde, daß zwischen einem 
von ihnen und bestimmten Abschnitten der stummen Hirnrinde eine 
gegenseitige Abstimmung eintreten kann, so wird eine solche während 
des Hungers zwischen dem Zentrum des abbauenden Stoffwechsels und 
der Rindenstelle, die den Eindruck des Hungers festhält, und während der 
Sättigung zwischen dem Zentrum des aufbauenden Stoffwechsels und der 
Stelle, die den Eindruck der Sättigung festhält, geschaffen sein. Beide 
Zentren sind aber, auch wenn die Unterleibsorgane, deren Stoffwechsel 
dem Hunger und der Sättigung das besondere Gepräge gibt, sich im Stoff¬ 
wechselgleichgewicht befinden, sowohl von diesen wie von andern Organen 
her in Erregung, und ihre gleichzeitige Erregung hebt sich nicht auf, soweit 
die Wirkung auf äußere Bewegung in Betracht kommt, wie dies die gleich¬ 
zeitige Erregung der sensiblen Hirnrinde durch Hunger nud Sättigung 
tun müßte, weil die Erregung durch den aufbauenden Stoffwechsel, die 
der sensiblen Hirnrinde zuströmt, die Bewegungen hemmt, zu denen die 
Erregung durch den abbauenden Stoffwechsel sonst führen würde. Daß 
sich jene gleichzeitige Erregung der stummen Hirnrinde von beiden 
Stoffwechselzentren her aufhebt, ist ja deshalb nicht nötig, weil nicht 
dieselbe Stelle mit beiden in Verbindung tritt, sondern die Erregung des 
aufbauenden Stoffwechsels sich auf die Stelle, die den Eindruck der Sätti¬ 
gung festhält, die Erregung des abbauenden Stoffwechsels dagegen auf 
die Stelle, die den Eindruck des Hungers festhält, fortpflanzt, sobald infolge 
früherer Abstimmung ein Erregungskreislauf von je einer dieser beiden 
Stellen der stummen Hirnrinde über je ein Stoffwechselze-ntrum des 
Sehhügels stattfindet. Solcher Kreislauf wird nun leicht sowohl von der 
Stelle der stummen Hirnrinde, die dem Eindruck der Sättigung entspricht, 
wie von der andern, die dem Eindruck des Hungers entspricht, oder 
von beiden aus eingeleitet werden, sobald diese Stellen der stummen 
^irnrinde in Erregung versetzt werden, und wird ihnen dann einen erheb¬ 
lichen Zuwachs an Erregung bringen. Ist also durch den Anblick neuer 
Beute jener andere, vorher geschilderte Erregungskreislauf in Gang ge¬ 
kommen, der beim nicht hungrigen Frosch allein den Sprung auf die 
Beute nicht veranlassen kaün, so kann seine Erregung, wenn auf die eben 
beschriebene Art zu ihr die in den Stoffwechselzentren des Sehhügels stets 


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vorhandene Erregungsstärke hinzutritt, soweit anwachsen, daß der Sprung 
erfolgt, auch ohne daß Erregungen der sensiblen Hirnrinde durch den 
Stoffwechsel daran beteiligt sind. 

Der Erregungskreislauf, der durch den Anblick neuer Beute in d?r 
stummen Hirnrinde entsteht, und seine Abzweigungen nach den Stof! 
Wechselzentren des Sehhügels werden besonders dann länger andauer 3 
und dadurch die Abstimmung der dabei durchlaufenen Bahnstrecke# 
verstärken, wenn die Wirkung des Beuteanblicks auf die motorisch-- 
Rindengegend gehemmt ist. Eine solche Hemmung tritt z. B. ein, wenn 
die Beute zu entfernt ist, als daß der Sprung gelingen könnte. Wie kommt 
diese Hemmung zustande? 

Nehmen wir an, ein noch hungriger Frosch, dem bisher das Erhaschen 
der Beute gelungen ist, verfehle bei einem weiteren Sprunge, der durch 
den Anblick neuer Beute auf die oben dargelegte Art veranlaßt wird. da> 
Insekt, weil dieses etwa zu hoch schwebt. Dann werden, so lange das Insekt 
sichtbar ist, immer neue Sprünge auf gleiche Art wie der erste angeregt 
werden, und zwar, da das Insekt sich in größerer Entfernung halten wird 
und die Sprünge daher ergebnislos ausfallen, so lange, bis der abbauend^- 
Muskelstoffwechsel die Bewegungen hemmt (S. 614). Die Stelle der 
stummen Hirnrinde, die den sensiblen Eindruck der Muskelermüdung 
festhält, wird nun bei genügender Erregung ebenfalls die Bewegungen 
hemmen, weil sie als Nebenleitung, als Umweg, in die direkte Bahn zur 
motorischen Rindengegend angeschlossen ist und die Erregungen, die vop 
ihr zur motorischen Rindengegend verlaufen, also dieselbe Wirkung auf 
diese ausüben wie die Erregungen des Muskelstoffwechsels selbst. Während 
der vergeblichen Sprünge nach dem fernen Insekt wird aber die Stelle 
der stummen Hirnrinde, die den Eindruck der Muskelermüdung festhält 
und dieser in der Wirkung entspricht, mit dem Sehhügelzentrum des ab¬ 
bauenden Stoffwechsels in gegenseitige Abstimmung geraten sein, weil 
beide, jene durch Hunger, diese durch den Muskelabbau zusammen erregt 
waren, ebenso aber auch beide mit den einzelnen Abschnitten der Bahn 
in der stummen Hirnrinde, die durch die sensiblen Eindrücke vor und 
während der letzten Sprünge erregt wurden. Diese Eindrücke und die 
ihnen entsprechenden Abschnitte der Bahn in der stummen Hirnrinde 
sind nun die gleichen wie die, die auch bei erfolgreichen Sprüngen erregt 
wurden mit Ausnahme des Abschnitts, welcher den Gesichtseindruck der 
geringeren oder größeren Entfernung der Beute festhält. Hier hat die 
Rindenbahn gewissermaßen zwei Geleise erhalten, deren eines, der größeren 
Nähe der Beute entsprechend, mit dem Sehhügelzentrum des aufbauenden 
Stoffwechsels, deren anderes, der größeren Entfernung der Beute ent¬ 
sprechend, mit dem Sehhügelzentrum des abbauenden Stoffwechsels und 
der Stelle der stummen Hirnrinde leitend verbunden ist, die der Muskel- 
ermüdung entspricht. Nach einiger Zeit, wenn die frische Nachwirkung 
der Ermüdung vorüber ist, wird der Anblick neuer Beute die Rindenbahn 


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Die physiologischen Korrelate der Last und Unlust. 597 

wieder anregen können, weil die Mehrzahl der durch ihre Erregung einge¬ 
leiteten Sprünge Erfolg gehabt hat, aber die zweigeleisige Strecke wird 
eine Hemmung bewirken und daher kein Sprung zustande kommen, wenn 
das Insekt sich in größerer Entfernung befindet, weil die Erregung dahn 
von dieser Strecke aus einen Nebenkreislauf über das Sehhügelzentrum 
des abbauenden Stoffwechsels und die den Eindruck der Muskel er müdung 
festhaltende Stelle der stummen Hirnrinde einschlägt, so daß die durch 
das Sehhügelzentrum des abbauenden Stoffwechsels verstärkte Erregung 
sich auf die der Musk&ermüdung entsprechende Stelle der stummen Hirn¬ 
rinde überträgt und die Bewegung hemmt. Dagegen wird der Sprung er¬ 
folgen, wenn das Insekt dem Frosche näher kommt und damit nicht nur 
der hemmende Eindruck der größeren Entfernung wegfällt, sondern die 
Erregung des Sehhügelzentrums des aufbauenden Stoffwechsels auch dem 
Abschnitt der zweigeleisigen Strecke zugute kommt, der dem Anblick der 
geringeren Entfernung entspricht. — Was ich für die Wirkung größerer 
Nähe oder Entfernung der Beute ausgeführt habe, gilt natürlich auch 
für andere Begleitumstände, welche auf das Gelingen oder Mißlingen 
der Bewegung von Einfluß sind. 

Hiernach erfolgt die Ausarbeitung zweckmäßiger Leitungsbahnen 
in der stummen Hirnrinde vor allem durch ihre Verbindung mit den 
Stoffwechselzentren der Sehhügelgegend, von der sie die zur Bewegung 
oder deren Hemmung nötige Erregungsenergie auch ohne Beteiligung 
de& sensiblen Hirnrinde beziehen können. Wenn wir aber davon aus¬ 
gehen, daß das Gehirn dazu dient, sämtliche sensible Erregungen, 
sowohl die inneren wie die äußeren, zusammenzufassen, und durch 
diese Zusammenfassung sowohl die äußeren Bewegungen wie die Vor¬ 
gänge im Innern des Körpers in zweckmäßiger Weise zu regeln, so 
müssen wir erwarten, daß, wie die Stoffwechselvorgänge die Körper¬ 
bewegungen anregen und hemmen, so auch die Sinneserregungen den 
Stoffwechsel beschleunigen und hemmen können. Dies ergibt sich in 
der Tat schon aus den bisherigen Ausführungen, da z. B. die dem 
Gesichtseindruck der Beute oder die dem Eindruck des Hungers ent¬ 
sprechenden Erregungen der stummen Hirnrinde infolge ihrer Ver¬ 
bindung mit den Stoffwechselzentren der Sehhügelgegend nicht .nur 
von dort aus verstärkt werden, sondern auch die Erregungen der 
Stoffwechselzentren verstärken können, wenn auch letzteres nur in 
geringem Maße. Dauert aber der Einfluß einer oder mehrerer Stellen 
der stummen Hirnrinde auf ein Stoffwechselzentrum der Sehhügel¬ 
gegend länger an, ohne daß gleichzeitig das gegenteilige Stoffwechsel¬ 
zentrum von andern Stellen der stummen Hirnrinde Enregungen 


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erhält, so kann allmählich <ler Energiezuwachs doch auch eine leichte 
Steigerung oder Hemmung des Körperstoffwechsels bewirken. 

Außer den Stoffwechselzentren der Sehhügelgegend, die den Körper - 
Stoffwechsel im ganzen beeinflussen, sind besondere Stoffwechselzentren 
wenigstens für die willkürliche Muskulatur auch in der Großhirnrinde vor¬ 
handen. Während aber die Stoffwechselzentren des Sehhügels den auf¬ 
bauenden und erst in Abhängigkeit hiervon den abbauenden Stoffwechsel 
anregen oder hemmen, wirken die besonderen Zentren für den Muskel¬ 
stoffwechsel steigernd oder hemmend auf den abbauenden und erst mittel¬ 
bar auf den aufbauenden Stoffwechsel. Die Muskeln bedürfen dieser be¬ 
sonderen Zentren, weil ihr abbauender Stoffwechsel mit ihrer Leistung so 
innig verbunden ist, daß diese von jenem nicht getrennt werden kann, 
und weil die Muskeln einzeln oder gruppenweise, aber nicht alle zusammen, 
zur Leistung angeregt werden müssen, wenn diese dem Organismus förder¬ 
lich ausfallen soll. Ein einzelnes Zentrum, das starken abbauenden Stoff¬ 
wechsel der Muskeln und damit deren Zusammenziehung veranlaßte, wäre 
daher unzweckmäßig, und so treten dafür nicht nur die vielen Bewegungs¬ 
zentren der motorischen Rindenregion, sondern auch die Zentren des Hirn¬ 
stammes ein. welche Zusammenziehung der glatten Muskulatur veran¬ 
lassen können, wie die für das Herz, die Gefäße, die Darmbewegung, die 
Entleerung des Rektums und der Blase. Sehen wir aber in der motorischen 
Rindenregion einen Sammelort der Einzelzentren des abbauenden Muskel¬ 
stoffwechsels, so werden wir auch ein entsprechendes Hemmungszentrum 
in derselben Gegend erwarten dürfen, und die Erregungen der absteigenden 
Bahnen dieses Zentrums werden die Erregungen der Bewegungsnerven 
ebenso hemmen und von ihnen gehemmt werden, wie die absteigenden 
Erregungen der Stoffwechselzentren für den Gesamtkörper sich gegen¬ 
seitig hemmen. In der Tat haben Eulenburg und Landois neben den motori¬ 
schen Zentren für die Extremitäten beim Hunde eine Stelle gefunden, 
von der aus die Temperatur und Gefäßweite derselben beeinflußt wird- 
Reizung dieser Gegend ruft Abkühlung, Zerstörung eine Erwärmung der 
kontralateralen Extremitäten hervor, und zwar ist dabei nach Wood die 
Wärmeproduktion im ersten Falle vermindert, im zweiten vermehrt. 
Da die Muskeln in den Extremitäten die hauptsächliche Wärmequelle 
bilden, heißt das also, daß jene Rindenstelle ein Hemmungszentrum für 
den Muskelstoffwechsel und damit auch für die Muskelleistung darstellt. 
Ich nehme an, daß diese Stelle vom abbauenden Muskelstoffwechsel erregt 
wird und ihn wiederum hemmt (vgl. S. 614). Daß die hemmende Ver¬ 
bindung der absteigenden Fasern der Muskelzentren in den einzelnen Ab¬ 
schnitten des Rückenmarks liegt, kann aus der Steigerung der Reflexe nach 
Durchschneidung des Rückenmarks gefolgert werden. 

Beim Frosch ist die Hirnbahn, die zum Sprunge führt, doppelt vor¬ 
handen: der des Großhirns beraubte Frosch vollführt ziellose Sprünge; 
zielvolle, also von zwei Seiten her angeregte Sprünge bedürfen der 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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Hirnrinde. Aber auch Tiere, die keine Hirnrinde besitzen, bewegen sich 
einem Ziele zu; die Hirnvorrichtungen, die hierzu dienen, waren ursprüng¬ 
lich also auch im Hirnstamm vorhanden und wanderten erst allmählich 
von da zur Hirnrinde hinauf. Suchen wir uns die Leitungen zu vergegen¬ 
wärtigen, die vor dieser Wanderung die Nahrungsuche ermöglichten, so 
ergibt sich folgendes Bild. In der Sehhügelgegend liegt ein sensibler und 
ein motorischer Abschnitt; beide sind sowohl direkt wie durch Seitenbahnfen 
verbunden. Von den einzelnen Teilen der Seitenbahnen her werden die 
Einzelbewegungen angeregt, und da diese einzelnen Teile mit den Seh* 
hügelzentren des auf- und abbauenden Stoffwechsels in gegenseitiger Ab¬ 
stimmung stehen, können auch die Residuen früherer Eindrücke, die die 
Nahrungsuche und Aufnahme begleiteten, den Ablauf der Bewegungen 
beeinflussen. Wird nun das Großhirn angelegt, in dem jene Seitenbahnen 
zwischen der sensiblen und motorischen Gegend mehr Raum zur Ent¬ 
faltung und die Möglichkeit weitergehender Ausarbeitung finden, so wird 
die Verbindung dieser Seitenbahnen mit den Stoffwechselzentren des Seh- 
hügels die Form der Tractus corticothalamici (und thalamocorticales) 
annehmen. Die sich immer weiter ausdehnenden und entwickelnden 
Seitenbahnen ziehen aber auch die sensiblen und motorischen Züge all¬ 
mählich mit sich empor. Eine Abzweigung der sensiblen Leitung zur Hirn¬ 
rinde führt dieser die inneren und äußeren Erregungen zu. Dagegen gehen 
nun die motorischen Fasern, die von der Rinde zum Rückenmark herab¬ 
steigen, am Sehhügel vorbei, ohne ihn zu durchziehen, da die einem Ziel 
angepaßten Körperbewegungen bereits in der Hirnrinde im einzelnen 
A ausgearbeitet sind, und zwar gerade durch Vermittlung der Sehhügel¬ 
gegend, so daß deren nachträglicher Einfluß überflüssig und unzweckmäßig 
wäre. 

Daß die Entwicklung der Hirnrinde zunächst der feineren Aus¬ 
arbeitung der Bewegungen und ihrer Anpassung an bestimmte, durch 
äußere Eindrücke gegebener Ziele dient, wird dadurch bestätigt, daß 
die Einleitung mimischer, also jetzt zielloser Bewegungen auch weiter¬ 
hin der Sehhügelgegend verblieben ist. Sie waren ursprünglich Begleit¬ 
bewegungen zielvoller Bewegungen, die deren Erfolg unterstützten, 
und erlangten erst mit der Ausbildung der Hirnrinde eine gewisse 
Unabhängigkeit von den zielvollen Bewegungen. Zurückgeblieben 
sind weiter in der Sehhügelgegend die Vorrichtungen, die innere Vor¬ 
gänge regeln, vor allem die Zentren des auf- und abbauenden Stoff¬ 
wechsels. Sie dienen einmal dem Ausgleich von Verschiedenheiten 
des Stoffwechsels im Gesamtkörper, indem die Nervenerregungen, die, 
vom Stoffwechsel der Einzelorgane angeregt, durch sie hindurch in 
den Körper zurückkehren, in den Ganglienzellen ihres Sehhügel- 


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L a eTi r. 


Zentrums sich zwar gegenseitig verstärken, aber die stärkeren durtk 
die schwächeren weniger Zuwachs erfahren als umgekehrt. Insofm 
wirken diese Zentren in gleicher Weise wie die Sympathikusgangliec, 
nur umfassender, weil sie den auf- oder den abbauenden Stoffwechsel 
des Gesamtkörpers in einer einzigen Ganglienzellengruppe vertreten. 
Dann aber helfen beide Stoßwechselzentren durch ihre Verbin dun» 
mit der stummen Hirnrinde dazu, die vom abbauenden Stoßwechsel 
angeregten ziellosen Bewegungen zu zielvollen zu gestalten und von 
abbauenden Stofiwechsel unabhängiger zu machen. Sie können dies, 
weil ihre Erregungen nur, soweit sie zu den Körperorganen, nicht aber, 
soweit sie zur stummen Hirnrinde und weiter zur motorischen Gegend 
strömen, sich gegenseitig hemmen, während die Erregungen des auf- 
und abbauenden Stoßwechsels, die der sensiblen Hirnrinde zugehen, 
bei ihrem Übertritt in das motorische Gebiet eine gegenseitige Hem¬ 
mung erfahren, so daß sie nur bei Überwiegen des abbauenden Stoff¬ 
wechsels bis in die motorische Hirnrinde gelangen. — 

.Die bisherigen Ausführungen zeigen, welche körperlichen 
Grundlagen ich für Lust und Unlust annehme. Die Erregungen 
des aufbauenden Stoßwechsels, die aus allen Körperteilen der Gehirn¬ 
rinde Zuströmen, entsprechen der Lust, die des abbauenden Stoff¬ 
wechsels der Unlust. Überwiegt in einem Organ der Reiz des auf¬ 
bauenden Stoßwechsels, so entsteht Lust; überwiegt der Reiz des 
abbauenden Stoffwechsels, treten besondere Umstände ein, die ein 
Abschmelzen verursachen oder durch Verletzungen, durch stärkeren 
Druck, Wärme oder Kälte den Zellstoßwechsel schädigen und stärker 
reizende Abbaustofie der Gewebeflüssigkeit zuführen, so entsteht Unlust. 

Der Gefühlston der Empfindung kommt hiernach dadurch zu¬ 
stande, daß trotz der Verschiedenheit der Nervenleitung die Empfin¬ 
dung und ihr Begleitgefühl von demselben Körperteil ausgehen, und daß 
die ihnen entsprechenden Erregungen zwar durch verschiedene Nerven, 
aber gleichzeitig oder doch fast gleichzeitig dem Zentralnervensystem 
zufließen, daher hier miteinander eine besonders innige Verbindung 
eingehen. Bei den „Organempfindungen“ überwiegt der Gefühlston, 
da die Empfindungen, die durch besondere sensible Nervenleitung 
übermittelt werden, hier für gewöhnlich wenig lokalisiert und schwach 
sind, und man spricht daher von „Gemeingefühlen“. Daß Wohlbehagen 


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UNIVERSLT 



Oie physiologischen Korrelate der Lust and Unlust. 


601 


bei gesundem Körper die Regel ist, hängt damit zusammen, daß bei 
Stoffwechselgleichgewicht stärker reizende Abbaustoffe fehlen und die 
gewöhnlichen Abfallstoffe, Kohlensäure und Wasser, viel stabiler sind 
und daher einen viel geringeren Reiz abgeben als die weit weniger 
beständigen ungesättigten organischen Verbindungen, die wir als 
Zwischenerzeugnisse des aufbauenden Stoffwechsels anzunehmen 
haben. Die Reize, die nicht vom Stoffwechsel ausgehen, werden im 
allgemeinen, da sie für gewöhnlich denselben nur bei größerer Stärke 
und dann im Sinne des Abbaus beeinflussen, kein Lustgefühl, wohl 
aber dann Unlustgefühl hervorrufen, wenn sie die zur Beeinträchtigung 
des Stoffwechsels nötige Stärke erreichen. Nur unter besonderen Um¬ 
ständen wird der aufbauende Stoffwechsel durch sie gesteigert werden 
und dann Lustgefühl auftreten. Das behagliche Wärmegefühl ent¬ 
spricht dem lebhafteren Stoffwechsel der Haut, der nach vorangehen¬ 
dem, die Blutdurchströmung und den Stoffwechsel beschränkendem 
kälteren Zustande mit der besseren Blutversorgung beginnt, wie um¬ 
gekehrt die erfrischende Kältewirkung bei großer Wärme die Gefä߬ 
erschlaffung bis zu günstigerer Durchströmung des Gewebes mäßigt. 
Leichte Berührung und geringer Druck erzeugen weder Lust noch 
Unlust, wie sie keine Änderungen des Stoffwechsels hervorbringen. 
Dagegen sind stärkerer Druck und Aufhebung desselben, Spannung 
und Entspannung der Haut, wie von Änderungen der Blutdurch¬ 
strömung und des Stoffwechsels, so von Unbehagen und Behagen 
begleitet. Ähnliches finden wir auch beim Muskel und bei den Sinnes¬ 
organen. Dort das behagliche Recken des ausgeruhten Körpers, 
angeregt vom Reiz, den die während längerer Ruhe gedrückten Haut¬ 
stellen oder Gelenkflächen ausüben, hier das rein sinnliche Behagen 
an frischen Eindrücken entspricht einer vermehrten Lebenstätigkeit 
' dieser Gewebe, bei der der aufbauende Stoffwechsel gesteigert ist, um 
den Abbauverlust zu ersetzen, aber mit diesem gleichen Schritt halten 
kann, so daß sein Reiz überwiegt, während längere und stärkere An-» 
strengung hier wie dort das Unbehagen der Ermüdung hervorruft. 
Daß sich auch phlust und Lust des Hungers und der Sättigung dieser 
Anschauung einfügen, ergeben meine früheren Ausführungen ohne 
weiteres. 

Daß bei einer gewissen Dauer der Empfindung der Gefühlston ab¬ 
nimmt, kann damit Zusammenhängen, daß der aufbauende Stoffwechsel 


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Laehr, 


die zuführende Arterie verengert, also die Stoffzufuhr verringert und sich 
dadurch von selbst mäßigt, während der abbauende Stoffwechsel'den auf¬ 
bauenden anregt und sich damit ein Gegengewicht schafft. Bei geringer 
oder mittlerer Reizstärke aber, wie sie der Lust entspricht, kann der 
Vorgang auch anders verlaufen: die Stoffzufuhr wird zwar verringert, 
aber nicht sogleich derart, daß der aufbauende Stoffwechsel sich so rasch 
mäßigen muß; er erhält sich mühsam, indem er auch weniger geeignete 
Baustoffe verwendet, die bei ihrer chemischen Umsetzung stärker reizende 
Abfallstoffe ergeben, und zwar in um so größerer Menge, je langsamer und 
andauernder sich die Arterie zusammenzieht. Die Verwendung unge¬ 
eigneter Baustoffe wird auch nicht dadurch abgestellt, daß die Abfallstolle 
den Blutzufluß wieder vermehren, weil sie zugleich auch den aufbauenden 
Stoffwechsel steigern und s odas Mißverhältnis bestehen lassen. Dann 
kann der anfänglich lusterregende Eindruck erst gleichgültig, dann 
unangenehm werden. — Daß jede Empfindung, wenn sie ein Gefühl 
von merklicher Größe hervorrufen soll, eine gewisse, je nach der Qualität 
der Empfindung verschiedene Zeit dauern muß, und daß diese Zeit bei 
starken Empfindungen kürzer ist als bei schwachen, erklärt sich leicht 
daraus, daß ^die Einleitung von Änderungen des Stoffwechsels eine ge¬ 
ringe, unter verschiedenen Umständen verschiedene, aber bei starken 
Reizen stets geringere Zeit beansprucht. 

Vor allem aber läßt sich die Abhängigkeit des Gefühlstons von 
der Stärke der Empfindung durch die hier daigelegte Anschauung 
erklären. Das allmähliche Anschwellen der Lust mit dem Stärker¬ 
werden der Empfindung entspricht der Zunahme des aufbauenden 
Stoffwechsels mit zunehmendem Reize, die rasche Abnahme der Lust 
und ihr Übergang in Unlust bei weiterer Zunahme der Empfindlings - 
stärke dem Auftreten stark reizender Abbaustoffe, die bald den Reiz 
des aufbauenden Stoffwechsels überwiegen. 

Auch das Lustgefühl beim Kitzeln fügt sich dieser Erklärung ein. 
Während eng umgrenzte leichte Druckempfindungen kaum Lust hervor¬ 
rufen, wie auch bei ihnen der Stoffwechsel kaum verändert wird, ist mit 
leiser Kitzelempfindung Lust verbunden, wie ja auch das sie auslösende 
leise Streichen einer größeren Fläche oder der Druckwechsel in einem 
größeren Gebiete dem Stoffwechsel eine gewisse Anregung geben kann, 
die durch die von der betroffenen Stelle ausgehenden Nervenfasern sich 
weiter ausbreitet. Am Penis wird durch die Eirektion, die die Haut dem 
Druck entgegenspannt, die Einwirkung auf den Stoffwechsel und die 
trophischen Nerven erleichtert, zugleich wird aber von hier aus der Stoff¬ 
wechsel in den Geschlechtsdrüsen wahrscheinlich direkt angeregt und in 
den Hoden noch dadurch gefördert, daß der Druck in den Samenkanälchen 
durch Abschiebung des Inhalts nach den Samenbläschen zu vermindert 
wird. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


603 


Die Abhängigkeit des Gefühlstons von der Art der Empfindung 
läßt sich nur zum kleineren Teil auf die Verschiedenheit des Einflusses 
zurückführen, den der auslösende Reiz auf den Stoffwechsel des Sinnes¬ 
organs ausübt. Hauptsächlich wird hier die Einwirkung der Stoff¬ 
wechselzentren der Sehhügelgegend von Bedeutung sein. Am klarsten 
ist dieser Zusammenhang für die Geschmacks reize, die ja gerade 
während des Verzehrens der Nahrung eingreifen, also mit den stärksten 
Erregungen des aufbauenden Stoffwechsels zeitlich Zusammentreffen. 
Ihre Residuen in der stummen Hirnrinde werden daher auch mit dem 
Sehhügelzentrum des aufbauenden Stoffwechsels eine sehr enge leitende 
Verbindung eingehen, und es wird daher später den ihnen entsprechenden 
Empfindlingen von beiden Seiten her (d. h. nicht nur vom Geschmacks- 
organ, sondern auch gleich anfangs vom Zentrum der Sehh Ligclgegend 
her, das direkt von der stummen Hirnrinde her beteiligt wird) der 
Gefühlston der Lust zufließen. So ist eine Gewöhnung, eine Anpassung 
des Geschmacks an den Nährgehalt der Nahrung (namentlich soweit 
dieser in flüssiger, rasch auf nehmbarer Form vorliegt) in dem Sinne 
möglich, daß der Geschmack nährender, zumal rasch resorbierbarer 
Speisen Lust erregt. Gewiß hängt es auch mit der Gewöhnung zusammen, 
daß für die Geschmacksarten des .Bitteren, Sauren und Salzigen die 
Unlustschwelle viel niedriger liegt als für die des Süßen. Der Säugling 
liebt den Geschmack der zuckerhaltigen Milch, weil nach deren wieder¬ 
holtem Genuß der der Geschmacksvorstellung der Milch entsprechende 
Abschnitt der stummen Hirnrinde (gleichwie mit dem Abschnitt, der 
die Erregungen der Unterleibsorgane während der Verdauung in sich 
vereinigt, ebenso) mit dem Sehhügelzentrum des aufbauenden Stoff¬ 
wechsels in leitende Verbindung geraten ist, so daß die Wahrnehmung 
des Milchgeschmacks nun Lust hervorruft. Ein Ersatzgemisch muß 
erst auf die gleiche Weise schmackhaft werden, und wir sehen ja 
gerade bei Säuglingen, bei denen die Verhältnisse noch am einfachsten 
liegen, wie schwer der Wechsel der Nährmittel oft wird, wie dann aber 
mit der Gewöhnung an ein neues der diesem eigene Geschmack Lust- 
betonung erhält. Auch später können wir durch allmähliches Steigern 
des Gehalts der Speisen an salzigen, bitteren und sauren Bestand¬ 
teilen unseren Geschmack in weitgehender Weise verändern, doch 
spielen dann höhere, umfangreichere Vorstellungen und gefühlsbetonte 
• Erinnerungen hinein und verwickeln den Zusammenhang. Daneben 

Zeitschrift fttr Psychiatrie. LXXV. 4/5. 41 


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I 


604 Laehr, 

ist es aber sehr wahrscheinlich, daß die natürlichen Zuckerarten, weil 
zur Verarbeitung im aufbauenden Stoffwechsel sehr geeignet, diesen 
auch in den Geschmacksorganen erleichtern und erst, wenn in starker 
Lösung geboten, unverarbeitet oder unvollkommen verarbeitet, an 
die Gewebeflüssigkeit abgegeben werden und nun die Nerven des ab¬ 
bauenden Stoffwechsels reizen, während andere, bittere und dergleichen 
Stoffe nur in kleinen Mengen sich dem aufbauenden Stoffwechsel ein¬ 
füg en und schon in etwas stärkerer Lösung die Gewebeflüssigkeit 
belasten. Doch ist eine Gewöhnung vielleicht auch auf folgende 
Art möglich: “Wenn die Unterleibsverdauung in Gang kommt, setzt 

sie das Zentrum des auf bauenden Stoffwechsels, damit aber auch 

* 

die zum Geschmacksorgan ziehenden Fasern desselben in stärkere 
Erregung; infolgedessen wird das Geschmacksorgan auch mehr 
Blutstoffe in seinen Stoffwechsel aufnehmen, die die Verarbeitung 
der Nährlösung erleichtern, so daß die Nährlösung nicht nur durch 
ihre eigene Verwendbarkeit, sondern durch Vermittlung des Seh¬ 
hügelzentrums auch indirekt den aufbauenden Stoffwechsel im Ge¬ 
schmacksorgan erhöht und ihn so allmählich befähigt, auch stärkere 
Lösungen des Nährmittels zu bewältigen, ohne reizende Stoffe zu 
erzeugen; die Folge ist dann, daß die Unlustschwelle für diese 
Lösungen steigt. Auf solche Art könnte auch stammesgeschicht¬ 
lich die größere Höhe der Unlustschwelle für Süß entstanden sein. 
Für die Gerüche, die von der Nahrung und der Nahrungsquelle 
ausgehen, läßt sich die damit verbundene Lust auf die gleiche Weise 
herleiten. Für die Höhe der Lust- und Unlustschwelle der meisten 
Gerüche ist aber der Zusammenhang wahrscheinlich viel verwickelter 
und ein ähnlicher wie der bei den Gehörs- und Gesichtsempfindungen. 
Bevor ich jedoch diesen anzudeuten versuche, ist eine allgemeine Vor¬ 
bemerkung nötig. 

Lust und Unlust entsprechen nach der hier dargelegten An¬ 
schauung erstens den Erregungen, die als unmittelbare Folge des auf- 
und abbauenden Stoffwechsels in die sensible Hirnrinde gelangen, und 
zweitens den Erregungen, die der stummen Hirnrinde, von ihr selbst 
aus veranlaßt, aus den Sehhügelzentren des n auf- und abbauenden 
Stoffwechsels Zuströmen. Die auf die erste Art entstehende Lust und 
Unlust ist der Gefühlston der reinen Empfindung, die der zweiten Art 
ist der Gefühlston der Erinnerungsvorstellung, während die Emp- * 


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Die physiologischen Korrelate der Lust urd Unlust. 605 

findungsvorstellung ihren Gefühlston aus beiden Quellen beziehen kann. 
Heine, d. h. vorstellungfreie Empfindungen nenne ich die Einzel¬ 
empfindungen, entsprechend den Erregungen einzelner sensibler Nerven¬ 
fasern Lei ihrem Eintritt in die sensible Hirnrinde; indem diese Er¬ 
regungen durch ihre Vereinigung in den Residuen früherer Empfindun¬ 
gen aus ihrer Isolierung heraustreten, entsteht die Empfindungsvor¬ 
stellung (im Gegensatz zur Erinnerungsvorstellung, die entstehen 
würde, wenn die Residuen früherer Empfindungen von andern Stellen 
der stummen Hirnrinde aus erregt würden). Nur als Empfindungs¬ 
vorstellung werden uns Empfindungen klar bewußt,' da' sie erst hier¬ 
durch aus ihrer Vereinzelung in den Zusammenhang des Bewußtseins 
aufgenommen werden. Die Empfindung einer Linie, einer Fläche, 
eines Klanges ist bereits Empfindungsvorstellung, ebenso aber, auch 
ein einzelner Ton, falls er wahrgenommen wird, d. h. Vorstellungen, 
in diesem Falle Gehörsvorstellungen oder auch nur die Vorstellung 
des Hörens hervorruft; diese Vorstellungen mögen undeutlich sein 
oder nur im Bewußtsein raitschwingen, aber sie sind notwendig, damit 
der Ton nach Höhe und Intensität oder wenigstens als Gehörsemp¬ 
findung aufgefaßt wird. Was wir gewöhnlich Empfindung nennen, 
ist daher meist bereits Empfindungsvorstellung; ihr physiologisches 
Korrelat setzt sich zusammen aus den Erregungen der sensiblen Fasern 
bei ihrem Eintritt in die Hirnrinde und den Erregungen, die sie in 
dem sie auf nehmenden Abschnitt der stummen Hirnrinde veranlassen, 
oder die sich in diesem mit ihnen verbinden. Jene Erregungen ent¬ 
sprechen dem Empfindungsbestandteil der Empfindungsvorstellung, 
diese ihrem Vorstellungsbestandteil. Nur der Gefühlston des Emp¬ 
findungsbestandteils stammt unmittelbar vom Körperstoffwechsel, der 
des Vorstellungsbestandteils dagegen wird durch Vermittlung der 
stummen Hirnrinde aus den Stoffwechselzentren des Sehhügels bezogen. 

Hieraus erhellt, daß die Gehörs- und Gesichtsempfindungen 
ihren Gefühlston, soweit er von der Art der Empfindung abhängt, den 
Stoffwechselzentien des Sehliügels verdanken. Das gilt namentlich 
für die Lust und Unlust, die aus der räumlichen oder zeitlichen Ordnung 
der Empfindungen entspringt, da deren räumliche und zeitliche Eigen¬ 
schaften erst durch Vereinigung mehrerer Empfindungen in einer Vor¬ 
stellung oder durch das Verhältnis einer zu andern Empfindungen zu¬ 
stande kommen und erst auf dieser Grundlage, also auf der Grundlage 

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Laeh r, 


einer Vorstellung, als Zubehör, als Eigenschaft der Empfindung gelten 
können. Damit stimmt überein, daß diese Gefühlstöne bei verschiede¬ 
nen Menschen verschieden und auch bei demselben Menschen nicht 
jederzeit gleich sind. Klangverbindungen und Tonfolgen, Farben¬ 
zusammenstellungen und Zeichnungen, die dem Mongolen oder Neger 
wohlgefällig sind, wecken unser Mißfalle^ oder lassen uns gleichgültig, 
und man kann sich an Zusammenstellungen, die anfangs unangenehm 
sind, gewöhnen nicht nur' in dem Sinne, daß sie die Unlustbetonung 
verlieren, sondern soweit, daß sie Lustbetonung annehmen. Von der 
Erregung in den Nervenfasern, die durch die Stoffwechselvorgänge 
im Ohr und Auge veranlaßt wird — beispielweise im M. cüiaris und 
M. tensor tympani, vielleicht auch in Teilen des Corti sehen Organs, 
besonders der Membrana basilaris —, kann deshalb der Gefühlston 
hier nur insoweit abgeleitet werden, als mit sehr starken Empfindungen 
und mit sehr hohen und tiefen Tönen Unlust verbunden ist; die übrigen 
Gefühlstöne gehören dem Vorstellungsbestandteil an. Sie können 
auch nicht, wie die der Geschmacks- und mancher Geruchsqualitäten, 
von dem gleichzeitigen Auftreten ihrer Grundempfindungen mit einem 
Anwachsen des aufbauenden Stoffwechsels, etwa im Zusammenhang 
mit der Nahrungsaufnahme, hergeleitet werden, wohl aber können sie 
durch den Gefühlston vermittelt werden, den andere Vorstellungen 
auf jene Art im Verlauf des Lebens erwerben. Das Wohlgefühl, das dem 
Überwiegen des aufbauenden Stoffwechsels im gesunden Leben ent- 
' spricht, führt zur Lustbetonung der Vorstellung unseres leiblichen Ichs, 
das Gelingen der Nahrungsuche, die Errettung aus Gefahr zur Bil¬ 
dung gefühlsbetonter Vorstellungen nicht nur der Nahrungsquelle, des 
•Feindes oder der Anzeichen von Gefahr, der Umstände, die die Rettung 
ermöglichen, sondern auch weiterhin des Gelingens und des Mißlingens, 
der eigenen Kraft oder* Schwäche, der eigenen Fähigkeiten. Dieser . 
Gefühlston überträgt sich dann weiter vom eigenen Ich auf andere, 
so daß die Wahrnehmung oder Vorstellung des Gelingens und Mi߬ 
lingens, der Kraft und Schwäche, der Fähigkeit und Unfähigkeit auch 
in bezug auf Andere die entsprechende Gefühlsbetonung erlangt, dann 
aber auch all die Bewegungen und Körperformen, die uns jene Vor¬ 
stellungen wachrufen. Nahrung zu finden, Gefahr zu vermeiden er¬ 
fordert oft’ deutliche Sinneswahmehmungen und wird erleichtert durch 
alles, was uns ein rasches Erinnern und Wiedererkennen ermöglicht. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


607 


Auch diese Fähigkeiten und die Umstande, (he ihre Ausübung be¬ 
günstigen, erregen daher Lust. 

Auf Grund dieser Überlegungen lassen sich, wie ich glaube, Lust- 
und Unlustbetonung der Gesichts- und Gehörsempfindungen ohne 
Zwang aus Vorstellungen ableiten. Daß die gesättigteren Farben im 
allgemeinen lustvoller sind als die weißlicheren und diese wieder als 
die dunklen und Schwarz, dürfte daraus entstanden sein, daß die 
Gegenstände in klarer Luft mit gesättigten Farben deutlicher hervor¬ 
treten als in leichtem Nebel oder in hellem Sonnenlicht mit weißlicherer 
Tönung und hier wiederum deutlicher als im Dunkel, so daß Beute und 
Gefahr unter den Umständen, die gesättigte Farben ergeben, besser 
erkannt werden und die eigene Leistungsfähigkeit größer erscheint. 
Dem entspricht, daß das Nebeneinander gleicher Farben um so mehr 
Lust erregt, je größer der Helligkeitsunterschied ist, und daß die Zu¬ 
sammenstellung von Farben, die im Spektrum voneinander entfernt 
stehen, wohlgefälliger wirkt als die von solchen, die sich im Spektrum 
nahe stehen. Daß die Lust mit der Leichtigkeit der Auffassung wächst, 
ist auch bei den räumlichen Formen sehr ausgeprägt. Dies zeigen die 
Beispiele, die Ziehen (Phys. Psych. S. 129) dafür anführt, daß für das 
Auftreten von Lustgefühlen die Stetigkeit der Empfindung wesent¬ 
lich ist. 

„Eine gerade Linie macht im allgemeinen einen angenehmeren Ein¬ 
druck als eine Punktreihe. Gerade die Kleinheit der Unterbrechungen 
der Empfindung stört den Eindruck. Eine krumme Linie löst fortwährend 
assoziierte Bewegungsempfindungen aus: wir gleiten gewissermaßen mit 
unserem Auge über die Linie in ihrem ganzen Verlaufe hin. Für das 
Auftreten positiver Gefühlstöne ist hier die Stetigkeit der assoziierten Be- 
wegungsempfindungen von größter Bedeutung. Das Krümrnungsmaß darf 
sich nicht plötzlich ändern: namentlich wirken auch fortgesetzte kleine 
sprungweise Änderungen störend. Die Empfindung muß sich entweder 
stetig oder plötzlich sehr erheblich ändern. Daher spielen sanfte Bogen 
in der Ornamentik eine solche Rolle, daher die Seltenheit sehr flacher 
Vinkel. Auch ist allenthalben die Linie, welche während ihres ganzen 
Verlaufs von einem einfachen mathematischen Gesetz beherrscht wird, wie 
der Kreis oder die Zykloide usf., besonders wohlgefällig.“ Eine Gerade, 
■eine krumme Linie, deren Richtung sich entweder gleichmäßig oder plötzlich 
sehr erheblich ändert, eine Linie, die sich einem einfachen mathematischen 
Gesetz fügt, lassen eben die Auffassung ihrer besonderen Form leichter 
als andere zu. Dahin gehört auch, daß „ein Rechteck mißfällt, welches 
von der Quadratform nur unbedeutend abweicht, während ein stärker 


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oblonges Rechteck meistens sogar besser gefällt als ein Quadrat“, und daß 
„die periodische Wiederholung einer bestimmten räumlichen Anordnung 
in der Regel positive Gefühlstöne auszulösen pflegt“. Das Wohlgefallen 
an der Regelmäßigkeit, zumal der Symmetrie der Formen, stimmt eben¬ 
falls damit überein, da hierdurch die Auffassung des Ganzen wesentlich 
erleichtert wird. 

Wenn ferner in Kunstschriften die Einheit in der Mannigfaltigkeit, 
die Unterordnung aller Einzelheiten unter einen Gesichtspunkt, die 
Ähnlichkeit des Kunstwerks mit einem Organismus, in dem alle Teile 
dem Ganzen dienen und von ihm her Bedeutung erlangen, die Fülle 
der Einzelzüge bei leichter Übersehbarkeit des Aufbaus, die reiche 
Gliederung bei Klarheit der Gesamtanlage und dergleichen als Maßstab 
der Schönheit angegeben wird, so ist dadurch als Grund der Freude 
am Schönen die Leichtigkeit der Auffassung verwickelter Verhältnisse 
hervorgehoben. Daß uns diese Leichtigkeit nicht zum Bewußtsein zu 
kommen braucht, daß wir uns unserer gesteigerten Leistungsfähigkeit 
erfreuen können, ohne die Hilfe klar zu erkennen, die uns das Kunstwerk 
bietet, steigert den Genuß und fügt sich der hier dargelegten An¬ 
schauung ein. Auch im Vergleich des Kunstwerks mit einem Organis¬ 
mus ist vielleicht mehr alfc ein bloßer Vergleich zu sehen: die Freude 
an der Leistungsfähigkeit eines Organismus überträgt sich auf die 
Form, die sie äußerlich anzeigt oder anzuzeigen scheint, und weiter 
auf alles, was, wenn auch noch so dunkel oder gerade deshalb, eine 
Ähnlichkeit mit einem Organismus, also letzthin mit uns selbst, an¬ 
deutet, so daß die Freude am Kunstwerk schließlich auch auf die Lust 
an uns selbst zurückführen würde. 

Ähnlich wie mit den Gesichtsempfindungen verhält es sich nüt. 
denen des Gehörs. 

„Konsonante Akkorde klingen weniger zusammengesetzt als dis¬ 
sonante: die Verschmelzung der TeUtöne ist in ersteren viel vollständiger“ 
(Ziehen S. 124), sie sind leichter zusammenzufassen, in einer Vorstellung 
zu vereinigen und dadurch von andern abzusondern. Das gilt noch mehr 
von den Tönen im Gegensatz zu den Geräuschen. Deutlichkeit und leichte 
Auffaßbarkeit stimmen auch hier mit dem Lustgehalt überein. Stärker 
noch tritt dies bei der Tonfolge hervor. „Um das Lustgefühl der soge¬ 
nannten rhythmischen Gliederung zu erzielen, muß die Intensität der 
einzelnen Töne oder ihre Dauer oder ihr Intervall einem mehr oder weniger 
periodischen Wechsel unterworfen sein“ (S. 130). Dadurch wird die Auf¬ 
fassung des Ganzen wesentlich erleichtert. 


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Dio physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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Diese Herleitung der Lust wird auch durch eine Betrachtung der 
Anfänge der Kunstübung nahegelegt. 

„Der Primitive besitzt in der Augen des Kulturmenschen eigentlich 
nur eine Kunst, in der er es zu hoher Vollkommenheit gebracht hat: die 
Tanzkunst. Zu keiner Kunstleistung ist er besser veranlagt. Sein Körper 
ist ungleich gewandter als der des Kulturmenschen. . . . Alle, die solche 
Thnze von Naturmenschen gesehen haben, erstaunten über die große 
Geschicklichkeit, Gewandtheit und vor allem auch über die wunderbare 
Fähigkeit in Stellungen, Bewegungen und mimischem Ausdruck. Ist auch 
der Tanz, wie seine schon der frühesten Stufe ungehörige Entwicklung 
zum Kulttanz vermuten läßt, ursprünglich ein Hilfsmittel zur Erzeugung 
zauberhafter Wirkungen, so ist er doch sichtlich von Anfang an zugleich 
zu einem Genuß geworden, der zu seiner spielenden Wiederholung heraus¬ 
fordert. So birgt schon diese früheste Kunst das Doppelmotiv der Wirkung 
nach außen und des subjektiven Genusses in sich. Dieser wird unmittelbar 
aus den eigenen Bewegungen geschöpft und den Empfindungen, die sie 
begleiten 1 ).“ Nun sind die Bewegungen und ihre Begleitempfindungen 
bei einem Tanz, der außerordentliche Gewandtheit und Kraftleistung er¬ 
fordert, an und für sich gewiß nicht lustvoll, sondern ihr Lustgehalt stammt 
aus der Vorstellung der eigenen Leistungsfähigkeit. Die Freude an jenen 
Tänzen ist also die Freude an der eigenen Leistungsfähigkeit, diese aber 
geht auf die Überwindung von Gefahren und auf die Gewinnung von Beute. 
„Was diese Bewegungen ordnet, ist noch ein anderes Motiv: die Tier¬ 
nachahmung. Zwar spielt das Tier auf der eigentlich primitiven Stufe 
noch keine so hervorragende Rolle als später: dennoch kündigt sich die 
totemistische Periode bereits in der Nachahmung der Tiere in» Tanze an. Es 
gilt als die höchste Kunst des einzelnen, wenn er an ein und demselben 
Ort die Bewegungen selbst kleiner Tiere in sprechender Lebendigkeit nach¬ 
zuahmen versteht. Dagegen fehlt hier noch ganz die Tiermaske, die uns 
weiterhin als verbreitetes Kult- und Zauberobjekt begegnet. Schon jene 
mimische und pantomimische Nachahmung der Tiere trägt aber wohl die 
Spuren des Zaubers an sich. Wenn der Wedda Jagdtiere nachahmt, 
während er seinen Tanz um den Pfeil ausführt, so wird wohl der Pfeil als 
Zaubermittel gedac ht, und man darf vermuten, daß die Jagdtiere, die vom 
Pfeil getrofTen werden, durch diese Nachahmung ihm untertan werden 
sollen“ (S. 95). Erweist sich hier die Freude an der eigenen Gelenkigkeit 
und Gewandtheit, immer aber zunächst im Hinblick auf ihrenNutzen für die 
Erhaltung des Lebens, als eine Quelle der Tanzfreude, so zeigt sich ebenso, 
daß deren andere Quelle, die Zaubergewalt, die das Wild in den sicheren Be¬ 
sitz des Tanzenden bringen soll, auf der Nachahmung der Stellungen und Be¬ 
wegungen der Tiere beruht, daß also eine klare Vorstellung von deren Eigen¬ 
tümlichkeiten, die ja in der Tat für das Gelingen der Jagd von größter Be. 

M \V. Wundt, Elemente der Völkerpsychologie, ?. Aufi., 1915, S. 54. 


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Laehr, 


deutung ist, im Tanz nicht nur offenbart, sondern auch noch lebendiger 
eingeprägt wird. Dazu stimmt völlig, was Wundt weiter von den zum Tarn 
gesungenen Liedern berichtet: „Als eigentliche musikalische Begleitung 
des Tanzes dient die eigene Stimme, das Tanzlied. Wir würden uns 
nun freilich einem Irrtum hingeben, wollten wir erwarten, das Tanzlied 
sei, weil der Tanz ursprünglich Zauberzwecken gedient hat, eine Art von 
primitivem Kultlied. Noch ist von einem solchen nichts zu finden, sondern 
die Lieder sind ihrem Inhalte nach dem alltäglichsten Leben entnommen, 
sie sind eigentlich rein beschreibende oder erzählende Prosa in abge¬ 
rissenen Stücken, ohne inneren Zusammenhang mit den Motiven des 
Tanzes. Was sie zum Liede stempelt, ist der Refrain. Man könnte geradezu 
von dieser dichterischen Form der Sprache sagen, sie beginne mit dem 
Refrain. Das Lied ist aus beliebigen Naturlauten hervorgewachsen. 
Als Liedinhalt kann irgend etwas dienen, was man getan oder beobachtet 
hat; und wenn ein solcher StofT einmal aufgenommen ist, so wird er fort¬ 
während wiederholt, er wird zum „Volkslied“, das besonders zum Tanze 
gesungen wird. ... Von ihrem Inhalt können uns die folgenden Beispiele 
ein Bild geben. Ein Gesang der Wedda lautet: 

Die Tauben von Taravelzita sagen kuturung. 

Wo der Talagoya gebraten und gegessen wurde, blies ein Wind, 

Wo die Meminna gebraten und gegessen wurde, blies ein Wind. 

Wo der Hirsch gebraten und gegesserrwurde, blies ein Wind. 

F.twas höher steht schon der folgende Gesang der Semang. Er 
bezieht sich auf die Meerkatze (Macacus), eine in den Wäldern Malakkas 
viel vorkommende AITcnart: sie heißt bei den Semang Kra: 

Er läuft entlang den Ästen, der Kra, — Er trägt mit sich die 
Frucht, der Kra. — Er läuft hin und her, der Kra; — Über den 
lebenden Bambus, der Kra, — über den toten Bambus, der Kra; — 
Er läuft entlang den Ästen, der Kra. — Er springt umher und schreit, 
der Kra. — Er läßt sich ein wenig blicken, der Kra, — Er zeigt 
seine fleischenden Zähne, der Kra. 

Man sieht, es sind einfache Wahrnehmungen, Beschreibungen dessen, 
was der Semang gesehen hat. als er im Walde die Meerkatze beobachtete. 
Diese Beschreibung dient eben nur als Material für die Musik der Sprache, 
und das eigentlich Musikalische ist der Refrain, der einfach genug in diesem 
Falle nur aus dem Worte Kra besteht. Diese Musik der Sprache hebt und 
ergänzt den Tanz; wo alle Glieder sich bewegen, da wo'len auch die Ar¬ 
tikulationsorgane mitwirken“ (S. 95—96). Das ist alles richtig, aber die 
mitgeteilten Beispiele, die doch als besonders kennzeichnend ausgewählt 
sind, zeigen deutlich, daß der Inhalt der Lieder durchaus nicht „ohne 
inneren Zusammenhang mit den Motiven des Tanzes“, wenigstens mit dem 
von mir hervorgehobenen, der Beziehung auf die Beute, steht, daß die 
Wahrnehmungen, die als „Material für die Musik der Sprache“ dienen, 
nicht beliebige sind, sondern Wahrnehmungen, die die Tiere betreffen. 


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Die physiologischen Korrelate der Last und Unlust. 611 

die ,»gebraten und gegessen wurden“, und deren Eigenart nachgeahmt 
'wird. Wenn spater Musikinstrumente entstehen, so lehnen sie sich an die 
Form des Bogens an, und das Schwirrholz, das auch in diese Anfänge der 
Musik reicht, hat gleichfalls unverkennbare Beziehung zum Erlegen der 
Beute: „Wie den Primitiven der Ton, den er beim gewöhnlichen Anlegen 
des Bogens im Kampfe oder auf der Jagd hörte, unverkennbar zur Er¬ 
findung der Zither geführt hat, so war es wohl das schwirrende Geräusch 
des Pfeiles oder auch des fliegenden Vogels selbst, den der Pfeil nachahmte, 
das ihn ein solches Geräusch durch ähnliche Mittel hervorbringen ließ. 
In der Tat wurde im Süden Afrikas, wo es freilich nur als Spielzeug Ver¬ 
wendung findet, das Schwirrholz in einer Form beobachtet, die direkt an 
den fliegenden Vogel oder Pfeil erinnert: an einen Stab ist senkrecht zu 
ihm eine Vogelfeder gebunden. Wird der Stab stark im Kreise herum¬ 
geschwungen, so wird ein sausendes Geräusch erzeugt, das besonders bei 
großer Geschwindigkeit von einem hohen Ton begleitet ist. Dieser Ton 
ist aber nicht entwicklungsfähig, und so ist denn auch kein weiteres musi¬ 
kalisches Instrument aus dem Schwirrholz entstanden. Vielmehr ist im 
Gegenteil bei den sonstigen Schwirrhölzern, wo der Flügel durch ein 
flaches Holzbrett ersetzt ist, das nur in seiner Form noch einigermaßen 
den Vogel nachahmt, das Geräusch stärker, der Ton aber undeutlicher 
■geworden“ (S. 99). Wir haben hier also ein Geräusch mit hohem Ton, 
das Lust erzeugt, weil es als Nachahmung die Fähigkeit des Menschen 
und durch seine Beziehung auf Waffen und Beute dessen Macht veranschau¬ 
licht, das aber als Geräusch nicht entwicklungsfähig ist, und wir haben 
dort bei der Zither und bei dem ihr vorangehenden Gesänge Töne, die 
sich weiter entwickeln lassen, weil sie sich deutlich voneinander unter¬ 
scheiden und nach zeitlichem Verhältnis und Tonhöhe sehr verschiedene 
Aufeinanderfolgen zulassen, deren jede eine besondere, leicht faßliche 
Eigentümlichkeit aufweist. Diese Verschiedenheiten stehen in ihrer ur¬ 
sprünglichen Verwendung beim Gesang in Beziehung zu Worten, die die 
Beute und die Macht des Menschen betreffen, dadurch Lustgehalt erlangen 
und diesen auf ihre Melodie abgeben. Die Frage liegt nahe, ob nicht auch 
hier eine Nachahmung mitwirkt, die die Melodie erzeugt und zu deren 
Lustgehalt beiträgt. Das ist in der Tat der Fall: es liegt ofTenbar zunächst 
eine Nachahmung des Tonfalls der Sprache vor. Wenn viele Menschen 
dasselbe zugleich sprechen, müssen sie, um deutlich zu bleiben, dasselbe 
zeitliche und Tonhöheverhältnis einhalten; das ist besonders dann not¬ 
wendig, wenn mit den Worten zusammenstimmend ejne Handlung, wie 
hier der Tanz, einhergeht, oder wenn die gemeinsamen Worte sich dem 
Handeln anpassen sollen. Dann wird, namentlich im zweiten Falle, 
ein Sprecher die Führung übernehmen und die andern unwillkürlich ihre 
Stimme der seinen möglichst anpassen. Auch die Wiederholung einzelner 
Worte, der Refrain, ist sehr geeignet, diese Anpassung zu begünstigen 
und etwaige Unstimmigkeiten auszugleichen. Je mehr aber der Gleich- 


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Laehr, 


klang der Massenrede erzielt wird, der den Inhalt deutlicher herausbringt, 
um so größer die Lust, weil so das gemeinsame Können stärker erscheint 
und die Zauberwirkung größer, wenn deren Träger, etwa der als lebend 
vorgestellte Pfeil, um den die Wedda herumtanzen, nicht nur den Sinn 
der Tanzdarstellung, sondern auch den der begleitenden Worte auf 
fassen kann. 

Beruht die Freude an der Nachahmung bei diesen Tänzen und Liedern 
sowohl auf der Lust am eigenen Können, das sich in ihnen hervortut, wie 
auf der Lust an dem in ihnen mächtigen Zauber, der reiche Jagdbeute 
erhoffen läßt, so lassen auch die Anfänge der bildenden Kunst diese Lust¬ 
quellen deutlich hervortreten. Bei den Höhlenzeichnungen aus den mittel¬ 
europäischen Zwischeneiszeiten, in denen Hirsche, Mammuts, Wildpferde 
und andere Jagdtiere zum Teil in außerordentlicher Deutlichkeit wieder¬ 
gegeben sind, tritt das klar zutage. Aber auch bei den Linienornamentea 
verbindet sich mit der Lust an der eigenen Geschicklichkeit und der Lust, 
die Erzeugnisse derselben als etwas Besonderes auffassen zu können, sehr 
bald das Bestreben, in die geometrischen Figuren etwas hineinzudeuten 
,,So enstehen Ähnlichkeiten mit Tieren, Pflanzen, Blumen, wobei besoc 
ders die letzteren durch die Symmetrie ihrer Gestalten zur Assoziation 
mit geometrischen Ornamenten herausfordern. Dennoch übt das Tier im 
ganzen eine größere Attraktion aus. Das Tier, das erlegt werden soll, 
wird auf dem Bogen oder Blasrohr cingeritzt: es ist ein Zaubermittel, das 
die Tiere vor die Waffe führt. Dadurch wird auch jene Äußerung der 
Senoi und Semang verständlich, die Zeichnungen auf den Kämmen ihrei 
Frauen seien Schutzmittel gegen Krankheiten. Beide Fälle repräsentieren 
die zwei Formen des Zaubers, die noch auf höheren Kulturstufen im 
Amulett auf der einen und im Talisman auf der andern Seite sich ver¬ 
körpern: den Schutz vor Gefahr und die Hilfe bei eigenen Unternehmungen 4 
( Wundt , ibid. S. 103—104). Also auch hier wieder die Beziehung auf 
Jagdbeute und Gefahr und auf das eigene Können, das für die Erhaltung 
des Lebens so wichtig ist und die Lust am Leben auf alles überträgt, was 
jenes Können veranschaulicht und zugleich geheimnisvoll zu steigern 
scheint. 

Ich halte diese Übereinstimmung nicht für zufällig, sondern sehe 
darin, daß der Ursprung der Kunstfreude auf die gleichen leben¬ 
erhaltenden Urtriebe führt, auf die ich die Gefühlstönc der Gesichts¬ 
und Gehörsempfindungen begründet habe, eine Bestätigung meiner 
Ansicht. Die Klarheit und Deutlichkeit der Empfindungen, die Be¬ 
stimmtheit der in ihnen enthaltenen Vorstellungen erleichtert die 
Nahrungsuche und die Rettung aus Gefahren, vermehrt das Vertrauen 
auf die eigene Leistungfähigkeit und erlangt dadurch auch an und 
für sich Lustbetonung. Dadurch erklärt sich auch die sonst befremd¬ 
liche Tatsache, daß gerade sehr schwache Empfindungen nicht selten 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlast 613 

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mit Unlustgefühlen verknüpft sind. Sie sind unklar und unbestimmt 
und lassen daher die Art und Richtung dunkel, in der der Vorstellungs¬ 
ablauf zweckmäßig anknüpfen könnte. 

Daß endlich Lust und Unlust auch vieler Gerüche ursprünglich 
auf ähnlicher Grundlage entstanden sind, ist deshalb wahrscheinlich, weil 
sich dieser Erklärung wenigstens ein großer Teil der hierher gehörigen Er¬ 
scheinungen ohne weiteres fügt. Suum cuique stercus bene ölet ist eine 
alte Erfahrung, und der „scharfe“ Gerurh der Raubtiere ist unangenehm, 
während der Nutzen der Milch, des Fleisches und des Düngers den Geruch 
eines Kuhstalles sogar wohlgefällig machen kann. Vor allem stehen aber 
auf vormenschlicher Stufe, soweit wir nach dem Verhalten der Tiere 
urteilen können, die Gefühlstöne des Geruchs im Zusammenhang mit dem 
Nahrungstrieb, Schutztrieb und Geschlechtstrieb. Daß den Menschen 
Veilchen- und Rosenduft erfreut, ohne daß ihn, wie den Schmetterling, 
ein Urtrieb zur Blume zieht, spricht nicht gegen eine ursprüngliche Ab¬ 
hängigkeit von solchem, noch weniger die Tatsache, daß viele nützliche 
und schädliche Stoffe sich uns durch keinen Geruch verraten oder gerade 
durch das Angenehme oder Unangenehme desselben täuschen. Ist doch 
die Flüchtigkeit der Riechstoffe und ihr Einfluß auf den Stoffwechsel des 
Geruchsorgans Bedingung ihrer Wirkung, so daß sich Lust und Unlust 
an Riechstoffen nur auf gegebener chemischer Grundlage nach ihrer 
Wichtigkeit für die Erhaltung des Individuums oder der Art ausbilden 
kann. 

Endlich ist hier der Schmerzempfindung zu gedenken, die ja 
jetzt vielfach den Sinnesempfindungen zur Seite gestellt wird. Ich 
habe sie bisher unter Unlust mitverstanden, da sie sich stets als Unlust 
kennzeichnet und als besondere Art derselben aufgefaßt werden kann. 

Sie wird von der äußeren Haut und den tiefer gelegenen Teilen, so 
von der Muskulatur, den Sehnen, den Gelenken, dem Periost, dem Peri¬ 
toneum parietale, der Pleura parietalis, den Hirnhäuten her ausgelöst, 
während andere Teile, wie das Peritoneum viscerale, die Pleura visceralis, 
das Gehirn im allgemeinen als nicht schmerzempfindlich gelten und von 
den inneren Eingeweiden der Brust- und Bauchhöhle nur unter patho¬ 
logischen Bedingungen, dann aber sehr lebhafte Schmerzen ausgehen 
können. Als besondere Art der Unlust kann der Schmerz gelten, weil er 
im Gegensatz zu den andern Empfindungen stets mit Unlust einhergeht, 
während Unlust vielfach ohne Schmerz auftritt. Den Empfindungen kann 
er als besondere Art eingereiht werden, weil die Schmerzempfindungen 
wie andere Sinnesempfindungen auf periphere äußere oder innere Reize 
hin eintreten und mannigfaltig sind, „bald stechend, bald dumpf, bald 
brennend, bald pressend, bald bohrend. Aus der Art der Beschreibung 
geht eine Beziehung zu Druckempfindungen oft unmittelbar hervor. Sehr 


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Laehr, 


überzeugend sind auch die Selbstbeobachtungen nach Kokain- oder Mor¬ 
phiuminjektionen. Die Versuchspersonen beschreiben nach solchen nicht 
selten einen Zustand, in dem die Schmerzgefühle, die vor der Injektion 
bestanden, verschwunden sind, aber jene stechenden, dumpfen, brennenden 
usw. Sensationen noch deutlich zu erkennen sind“ *). Da scheint es in 
der Tat nahezuliegen, zwar nicht, wie Ziehen meint, „eine Kombination 
von Druck- und Schmerzempfindungen anzunehmen“, womit ,,zur Not 
die oben aufgezählten Variationen der Schmerzen erklärt werden können“, 
wohl aber den Schmerz aus einer Verbindung von Erregungen der auf 
Druck und der auf den abbauenden Stoffwechsel ansprechenden Nerven¬ 
fasern abzuleiten, die in der grauen Substanz des Rückenmarks stattfindet, 
so daß beide Erregungen bereits vereinigt in besonderer Leitung der 
sensiblen Großhirnrinde übermittelt werden und hierdurch die Eigenart 
des Schmerzes annehmen. Dann bewirken die von den Abzweigungen 
der Drucknervenfasern angeregten Vorgänge in der grauen Substanz des 
Rückenmarks die verschiedenen Arten der Schmerzempfindungen, das 
Stechende, Schneidende, Bohrende derselben, und die Nervenfasern des 
abbauenden Stoffes fügen dazu die Unlust, die durch die Vereinigung der 
Erregungen beider Nervenfasern die besondere Form des Schmerzes an¬ 
nimmt, so daß dieser hiernach sowohl als besondere Art der Unlust wie als 
besondere Erapfindungsart aufgefaßt werden kann. Unlust und Schmerz 
fallen weg, wenn nur die Stoffwechselnerven, z. B. durch'Kokain, gelähmt 
werden, so daß in der grauen Substanz des Rückenmarks nur die Erregun¬ 
gen und Hemmungen stattfinden, die von den Drucknervenfasern ausgehen 
und jene stechenden usw. Empfindungen ohne Schmerz zur Folge haben. 
Daß „die Andauer einer Empfindung oft allein schon genügt, um sie un¬ 
angenehm, ja schmerzhaft fühlen zu lassen“, und daß Schmerz „auch 
durch schwächere gehäufte Reize (mittels Summation) angeregt werden 
kann“ 2 ), würde sich dann daraus erklären, daß der die Empfindung be¬ 
wirkende Reiz erst nach kürzerer oder längerer Dauer oder bei rascher 
Wiederholung den Stoffwechsel stört und damit, je nach Stärke des Reizes. 
Unlust oder Schmerz hervorbringt. Die verhältnismäßig gute Lokalisation 
des Schmerzes an der äußeren Haut aber würde sich daraus ergeben, 
daß durch starke Reize für gewöhnlich die in den Hintersträngen auf¬ 
steigenden sensiblen Nervenfasern gleichzeitig oder fast gleichzeitig mit 
den in den kontralateralen Seitensträngen verlaufenden „Schmerzfasern“ 
erregt werden, so daß die Schmerzempfindungen von den Druckempfindun¬ 
gen her ihre Lokalisation erhalten. Daß die Lokalisation bei Reizung der 
Schmerzpunkte der Haut gering ist, spricht dafür, daß hier, wie Gold¬ 
scheider (S. 11) annimmt, „Vorrichtungen (besonders exponierte Endi- 


l ) Ziehen, Die Grundlagen der Psychologie. Teubner, 1915. Buch II, 
S. 211—212. 

a ) Goldscheider, über den Schmerz. Hirschwald, 189*. S. 5 u. 7. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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gungen, gespanntes Gewebe usw.)“ bestehen, „infolge deren schon geringe 
Reizungen einen die Schmerzgrenze erreichenden Erregungszustand pro¬ 
duzieren“; gespanntes Gewebe würde die Änderung des Stoffwechsels er¬ 
leichtern, und größere Nähe der Nervenfasern, die den Reiz des abbauen¬ 
den Stoffwechsels übermitteln, würde die Wirkung erhöhen, während die 
Druckempfindung infolge der größeren Entfernung der die Druckemp¬ 
findung übermittelnden Nervenfaser vom Orte des Reizes geringer und 
unbestimmter ausfiele. Daß die zahlreichen zwischen den Epithelzellen 
endenden Nervenfibrillen der Haut die Endapparate der Schmerzemp¬ 
findung, darstellen, wird vielfach angenommen. Sie würden in diesem 
Falle nach meiner Auffassung durch den abbauenden Stoffwechsel erregt 
und Schmerz dann bewirken, wenn der Reiz zugleich hinreichend stark 
auf die Enden der Drucknerven wirkt. Werden daher die Produkte des 
abbauenden Stoffwechsels durch Einspritzung physiologischer Kochsalz¬ 
lösung verdünnt und weggeschwemmt, so* wird die Stelle — wenn auch 
weniger sicher als bei Hinzufügung von Kokain — schmerzlos. Daß gerade 
in der Haut diese Fasern so zahlreich sind, würde sich aus der lebenswichti¬ 
gen Bedeutung des Schmerzreizes erklären. Gerade an der Haut ist die 
den Stoffwechselnerven sonst eigene Wirkung auf die Gefäße großenteils 
auf die Temperaturnerven übergegangen, dafür aber muß die Haut Vor¬ 
richtungen besitzen, die es dem Körper ermöglichen* auf starke Reize, 
zumal auf Verletzungen, sofort mit Bewegungen zu antworten, die dem 
Reiz und namentlich dem Ort desselben angepaßt sind. Die Nerven des 
abbauenden Stoffwechsels würden die Bewegungen hervorrufen, die Druck¬ 
nerven ihr Ziel näher bestimmen und aus beiden zugleich die Schmerz¬ 
empfindung entspringen. 

Goldscheider begründet seine Ablehnung besonderer „Schmerz¬ 
nerven“ damit, daß nach seinen Versuchen im Gegensatz zu den Befunden 
v. Freys „Einstich auf die Druckpunkte ein intensiv schmerzhaftes Druck¬ 
gefühl, ähnlich dem neuralgischen Schmerz, erzeugt“, während Einstich 
auf die Temperaturpunkte keinen Schmerz hervorbringt und die Tempera¬ 
turpunkte sogar unempfindlich gegen den sogenannten Temperaturschmerz 
sind, und daß bei Exstirpation von Temperatur- und Druckpunkten 
„durch den Schnitt bei Temperaturpunkten ein minimaler, bei den Druck¬ 
punkten ein erheblicherer, oft recht intensiver Schmerz hervorgerufen“ *) 
wurde. Dieser Einwand fällt weg, wenn der Schmerz nicht auf periphere 
„Schmerznerven“ — ich könnte nur die Bezeichnung periphere „Unlust¬ 
nerven“ dafür gelten lassen und nur eine zentrale „Schmerzleitung“ vom 
Rückenmark zur sensiblen Hirnrinde anerkennen —, sondern auf die Ver¬ 
bindung von Erreg^ungen der „Unlustnerven“ mit Erregungen der Druck¬ 
nerven zurückgeführt wird. Denn da von den Temperaturpunkten keine 
Druckempfindung ausgelöst wird, werden von ihnen aus offenbar die 


1 ) Goldscheider S. 8 u. 9. 


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Enden der Drucknerven gar nicht oder kaum gereizt, und so kann, selbst 
wenn der Stoffwechsel beeinträchtigt wird, trotzdem kein Schmerz, sondern 
höchstens Unlust zustande kommen, während stärkere Reizung der 
Druckpunkte, die mit Änderung des Stoffwechsels einhergeht, Schmeri 
erzeugt. Dementsprechend muß auch ein Schnitt um die Druckpunkte 
stärker schmerzen als ein Schnitt um die Temperaturpunkte. 

Mit der hier vertretenen Annahme stimmt auch die Schmerzemp- 
findlichkeit in den verschiedenen Körperteilen insofern gut überein, als 
man voraussetzen darf,' daß die tiefer gelegenen und äußeren Reizen 
weniger ausgesetzten Teile: Periton. visc., Pleura visc., Gehirn, der Tast¬ 
nerven ganz entbehren oder deren sehr viel weniger enthalten als das 
Peritoneum par., die Pleura par. und die Gehirnhäute, und daß die 
Nerven der inneren Eingeweide bei der Atmung, Verdauung und 
den Volumschwankungen des Gehirns auch Druckreize aufnehmen, die 
für gewöhnlich nur zur automatischen Regulation der Bewegungen dienen, 
unter pathologischen Bedingungen aber auch, in Verbindung"'mit den 
Reizen des abbauenden Stoffwechsels, als Schmerzen bewußtYwerden 
können. Im entzündeten Gewebe z. B. würden Druck und abbauender 
Stoffwechsel in starkem Maße vorhanden sein und somit die sonst ver¬ 
schiedenen Zwecken dienenden Nerven zur gemeinsamen Schmerzwirkung 
sich vereinigen können. Auf diese Fassung träfe daher Goldscheider s Einwurf 
gegen die Annahme von Schmerznerven (S. 13)‘nicht zu, „daß es dann ner- 
vöse Apparate gebe, deren Funktion lediglich für krankhafte Zustände ange¬ 
paßt sei“ (S. 13).—Daß für die Druckreize bei der Entstehung des Schmerzes 
auch Temperaturreize eintreten können, wäre man versucht, daraus zu 
folgern, daß Wärme- und Kältereize bei genügender'Stärke auch Schmerz 
hervorrufen, also dann, wenn sie den Stoffwechsel der nächsten Umgebung 
in erheblichem Maße verändern. Da aber die Wärme- und Kältepunkte 
selber nach Goldscheider und v. Frey nicht schmerzempfindlich sind, scheinen 
die bei schmerzhaften Temperaturreizen an andern Stellen zugleich aus¬ 
gelösten Erregungen der Drucknerven auch hierbei neben den Stoff¬ 
wechseländerungen allein beteiligt zu sein. Dagegen rufen Reize der übrigen 
Sinnesnerven unmittelbar keinen Schmerz hervor, da der Blendungs¬ 
schmerz und der Schmerz bei sehr starken Gehöreindrücken wahrscheinlich 
nur von sensiblen Nerven der Irismuskulatur und des M. tensor tympani 
ausgehen. 

Darin, „daß die Schmerzempfindung den Drucksinn- und Gemein¬ 
gefühlsnerven eigen ist, allen übrigen Nerven aber fehlt“, stimme ich also 
mit Goldscheider überein, nur daß ich den Hinzutritt von Reizen des ab 
bauenden Stoffwechsels für erforderlich zum Auftreten des Schmerzes 
ansehe. Daß hierdurch die Qualitäts- oder Modalitätsänderung von 
Druckempfindung in Schmerzempfindung viel einleuchtender wird, als 
wenn man sie als Steigerung auffaßt, ist kaum zu bestreiten. Goldscheider 
erklärt sie für die meisten Fälle als Summationserscheinung. Er geht 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 617 

dabei von dem „Phänomen der sekundären Empfindung“ aus: „Übt man 
mit einer Nadelspitze einen leichten Eindruck auf die Haut aus, so hat 
man außer der ersten sofort eintretenden stechiJnden Empfindung nach 
einem empfindungslosen Intervall eine zweite, gleichfalls stechende Emp¬ 
findung, welche sich in ihrem Charakter dadurch von der ersten unter¬ 
scheidet, daß ihr nichts von Tastempfindung beigemischt ist, sie vielmehr 
gleichsam wie von innen zu kommen scheint. Bei mäßiger, noch nicht 
schmerzhafter Intensität der primären Empfindung kann die sekundäre 
schmerzhaft sein“ (S. 17). Er faßt nun diese sekundäre Empfindung des¬ 
halb als Summationserscheinung, und zwar in den Zellen der grauen 
Substanz des Rückenmarks, auf, weil sie fehlt, „wenn ein einzelner Öff¬ 
nungsschlag auf die Haut appliziert wird, dagegen leicht dadurch hervor¬ 
gebracht wird, daß man eine ganze Reihe solcher elektrischen Reize an¬ 
wendet“. „Diese sekundäre Empfindung kann nur durch Summation 
bedingt sein, und es zeigt sich somit, daß schon ein einfacher taktiler 
Eindruck für sich zu Summationserscheinungen 'Anlaß gibt und einer 
elektrischen Reizreihe physiologisch entspricht.“ Er erklärt dies so: 
„Die langen Bahnen (des Rückenmarks) sind nur einer gewissen Stärke 
der Erregung fähig, über welche hinaus dieselbe auch trotz Steigerung 
des Reizes nicht getrieben werden kann. ... In der Summationsbahn 
dagegen ist Gelegenheit gegeben, einen viel höheren Erregungszustand 
durch Aufspeicherung zu erzeugen und die Stärke der Empfindung gleich - 
zeitig durch Mit-Erregung einer Menge von empfindenden Elementen und 
von Leitungswegen zu vervielfältigen.“ „Aber keineswegs muß jede 
von dieser Bahn hergeleitete Empfindung schmerzhaft sein, denn tat¬ 
sächlich ist die „sekundäre Empfindung“ häufig nicht schmerzhaft. Nur 
eine besondere Klausel ist uns hierbei durch die Beobachtungen, auf¬ 
genötigt: man kann nämlich auch mit einfachen ÖfTnungsschlägen bei 
genügender Stromstärke Schmerz erzeugen. Wir werden diese Erscheinung 
so aufzufassen haben, daß einfache Reize bei genügender Intensität die 
Summationsbahn zu durchbrechen vermögen. ... Da auch schmerzhafte 
Öffnungsschläge eine freilich undeutliche sekundäre Empfindung pro¬ 
duzieren, so hinterlassen dieselben wahrscheinlich gleichfalls einen Er¬ 
regungsrückstand in den eingestreuten Zellen; jedenfalls deutet dieser 
Umstand daraufhin, daß auch der Schmerz der einfachen Öffnungsschläge 
von der Summationsbahn her erzeugt wird. — Nach dieser Erörterung 
stellt also die Applikation rhythmischer unterschmerzlicher Reize etwas 
mehr dar als eine der Bedingungen, durch welche Schmerz entsteht, 
nämlich sie eröffnet einen Ausblick auf den wesentlichen inneren Vorgang, 
welcher der Schmerzempfindung zugrunde liegt“ (S. 20). 

Alle diese Überlegungen führen aber nicht darüber hinweg, daß 
nach dieser Summationslehre die Umwandlung von Druck- in Schmerz¬ 
empfindung allein durch die Verstärkung der Erregung bewirkt wird. Das 
wird dadurch besonders klar, daß nicht jede von der Summationsbahn 


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der Erregung hergeleitete Empfindung schmerzhaft sein muß, daß also 
eine Summation, welche der Erregung die nötige Stärke verliehen hat, 
sich die Bahn zur sensiblen Hirnrinde frei zu machen, nur dann Schmerz 
hervorruft, wenn die Erregung in ihrem weiteren Verlauf die hierzu er¬ 
forderliche Stärke besitzt. Nicht der Schmerz wird also durch das Hin¬ 
durchgehen der,Erregung durch die Summationsbahn erzeugt, sondern 
die sekundäre, die verspätete Empfindung, die nur deshalb gewöhnlich 
als Schmerz auftritt, weil in der Summationsbahn Gelegenheit zur Ver¬ 
stärkung der Erregung gegeben ist. Vermögen aber anderseits „einfache 
Reize (einfache ölTnungsschläge) bei genügender Intensität die Summa¬ 
tionsbahn zu durchbrechen“, d. h. ohne Summation Schmerz hervorzu¬ 
rufen, so ist die Summation keinesfalls „der wesentliche innere Vorgang, 
welcher der Schmerzempfindung zugrunde liegt“, sondern gibt nur da, 
wo dieser Vorgang, d. h. eine starke Nervenerregung, nicht schon weiter 
peripher stattgefunden hat, die Möglichkeit, daß er nachträglich im 
Rückenmark stattfindet. Ferner scheint mir die Beobachtung (s. S. 643), 
daß nach peripherer Kokainanwendung Schmerzen verschwinden können, 
obwohl die mjt ihnen verbundenen stechenden, brennenden, dumpfen 
Empfindungen fortbestehen, gegen die Summationstheorie und für das 
Bestehen einer zweiten peripheren Nervenleitung zu sprechen, die 
zum Sdimerz beiträgt und kokainempfindlicher ist. Zudem lassen 
nach einer Unterbrechung der durch die graue Rückenmarksubstanz 
führenden Hautsinnesleitung die Hinterstränge noch starke Erregungen 
durch, da auch unter diesen Umständen die stärksten Druckreize als 
solche empfunden werden und die Unterscheidung ihrer verschiedenen 
Intensität erhalten ist. Aber auch diese starken Erregungen sind schmerzlos, 
während bei unverletztem Rückenmark einfache ÖlTnungsschläge bei ge¬ 
nügender Stromstärke Schmerz erzeugen, also „einfache Reize bei ge¬ 
nügender Intensität die Summationsbahn zu durchbrechen vermögen“. 
Da also bei starken Reizen die Hinterstränge die Erregung ihrer Stärke 
entsprechend weiterleiten, ohne daß sie als Schmerz empfunden wird, 
aber unter Umständen auch die sensible Nebenleitung* durch die graue 
Rückenmarksubstanz Erregungen, die als Schmerz empfunden werden, 
ohne Steigerung durch Summation hindurchläßt, kann weder die Summa¬ 
tion noch die Stärke der Erregung an sich zum Schmerze führen. Dies 
gilt auch, wenn wir annehmen, daß „die langen Bahnen nur einer gewissen 
Stärke der Erregung fähig sind, über welche hinaus dieselbe auch trotz 
Steigerung des Reizes nicht getrieben werden kann“, denn Erregungen 
der langen Bahn, die noch lange nicht ihre größtmögliche Stärke erreichen, 
werden bei unverletztem Rückenmark schon als schmerzhaft empfunden, 
ihre Steigerung ist also auch in der langen Bahn noch möglich, und zwar 
in erheblichem Maße, und müßte, wenn es nur auf die Stärke der Er¬ 
regung ankäme, auch bei Fortfall der Leitung durch die graue Rücken¬ 
marksubstanz zum Schmerze führen. Die Schmerzempfindung hängt also 
auch davon ab, daß die Druckerregung die graue Rückenmarksubstanz 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 


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durchläuft, und nicht nur davon, daß sie in einer gewissen Stärke zur sen¬ 
siblen Hirnrinde gelangt. Schwache derartige Erregungen der grauen 
Rückenmarksubstanz würde die Hirnrinde ja mit bloßen stechenden, aber 
nicht schmerzhaften Empfindungen beantworten (schmerzlose sekundäre 
Empfindung), die sich also zu ihnen in bezug auf den Schmerz verhalten, als 
ob es sich um Erregungen handelte, die ihr durch die laqge Bahn Zuströmen. 
Was der bloße Durchgang durch die graue Rückenmarksubstanz aus dem 
Druckreiz macht, ist also nicht der Schmerz, sondern die Stichempfindung, 
die auch durch bloße Summation sich nicht in Schmerz umwandeln, 
sondern nur an Stärke zunehmen könnte. Auch dies spricht dafür, daß 
in der grauen Rückenmarksubstanz zu den Druckerregungen unter Um¬ 
ständen etwas hinzutritt, was ihrer Empfindung die Eigenart des Schmerzes 
verleiht, und als dies Etwas betrachte ich eben die durch den abbauenden 
Stoffwechsel ausgelösten Nervenerregungen. 

Man könnte dem entgegenhalten, daß bei mäßiger, noch nicht 
schmerzhafter Intensität der primären Stichempfindung die sekundäre 
schmerzhaft sein kann. Aber ein mäßiger Nadelreiz wird auch den ab¬ 
bauenden Stoffwechsel nur mäßig anregen, so daß die Abbaustoffe nicht 
sofort als Nervenreiz wirken. Trifft dann der Zeitpunkt ihrer stärksten 
Wirkung auf den Nerven mit dem Zeitpunkt der sekundären Empfindung 
zusammen, so würde diese schmerzhaft ausfallen. Sie kann hiernach 
schmerzhaft sein, und so ist es wirklich; ich sehe daher in dem scheinbaren 
Einwand eher eine Bestätigung meiner Annahme. 

Hiernach würde also diö Schmerzemplindung aus der in der 
grauen Rückenmarksubstanz stattfindenden Vereinigung stärkerer 
Erregungen der Drucknerven mit den Erregungen des durch denselben 
Reiz im gleichen Körperteil eingeleiteten abbauenden Stoffwechsels 
hervorgehen und seine Lokalisation durch das gleichzeitige Auftreten 
der durch den Hinterstrang der sensiblen Hirnrinde übermittelten 
Empfindung erhalten. Immer aber würde der Parallelvorgang des 
Schmerzes ebenso wie der der einfach unlustbetonten Empfindungen 
in der sensiblen Hirnrinde stattfinden, während die von dem Sehhügel¬ 
zentrum des abbauenden Stoffwechsels in die stumme Hirnrinde aus- 
strahlenden Erregungen stets nur von einfacher Unlust begleitet wären. 

Die hier entwickelte Auffassung der Entstehung von Lust und 
Unlust stimmt am meisten mit der Gefühlstheorie von Stumpf überein. 
Wenn Ziehen (Gr. d. Ps. II, S. 200—201) diese dahin zusammenfaßt, - 
„daß die primären sensoriellen Gefühle eine besondere Modalität (Quali¬ 
tätengruppe) der Empfindungen bilden, die beispielweise der Modali¬ 
tät der Gehörempfindungen, Gesichtsempfindungen usf. koordiniert 

Zeitschrift für Psyohatrie. LXXV. 4/5. 42 


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kt, und der in der Regel auch spezifische periphere Endorgane und 
besondere Bahnen zukommen“, so brauche ich nur die Worte ,,in der 
Regel“ zu streichen, um damit in gewissem Sinne einverstanden zu sein. 

Allerdings umfassen die sinnlichen Gefühle, von denen Stumpf 1 ) 
spricht, und die Ziehen unter primären sensoriellen Gefühlen versteht, 
nicht nur „die reih körperlichen Schmerzen (d, h. die ohne integrierende 
Beteiligung intellektueller Funktionen auftretenden), ob sie nun von außen 
oder vom Innern de» Organismus stammen“, sowie „das körperliche 
Wohlgefühl in seinen allgemeineren und spezielleren Formen, unter den 
letzteren die Lustkomponente des Kitzels', das durdh Jucken entstehende 
Gefühl und die Sexualgefühle“, sondern auch „die Annehmlichkeit und 
Unannehmlichkeit, die sich mit Empfindungen aller oder der meisten 
„spezifischen“ Sinne, mit Temperaturen, Gerüchen, Geschmäcken, Tönen, 
Farben in den verschiedensten graduellen Abstufungen verknüpft finden “ l ), 
während ich einen Teil der letzteren, nämlich die Annehmlichkeit und Un¬ 
annehmlichkeit dq£ Töne und Farben sowie der meisten Gerüche, soweit 
sie von der Art der Empfindung abhängen, aus ihrer Verbindung mit 
Vorstellungen ableite. Das betrifft aber nur den Umfang der sinnlichen 
Gefühle und kann zunächst vernachlässigt werden. Weniger der Ausdruck 
„Gefühlsempfindungen“, d. h. „Empfindungen, die Gefühlen (Neigung und 
Abneigung, Gemütsbewegungen aller Art, Begehrungen und Verabscheuun¬ 
gen) zugrunde liegen und in sonstigen nahen Beziehungen zu Gefühlen 
stehen“ (S. 15). Wer mit mir die sinnlichen Gefühle vom Stoffwechsel, 
also von körperlichen Vorgängen ableitet, die durch besondere Nerven¬ 
leitung die sensorielle Hirnrinde erregen, wird auf sie allenfalls die Be¬ 
zeichnung Empfindungen anwenden können, aber nur mit Rücksicht auf 
den physiologischen Zusammenhang. Eine psychologische Gleichstellung 
der sinnlichen Gefühle mit den eigentlichen Empfindungen scheint mir 
trotz Stumpfs Ausführungen nicht gerechtfertigt. Gewiß kann auch ich 
es „nicht zwingend finden, wenn man aus der Verwandtschaft der Sinnes¬ 
gefühle und der Gemütsbewegungen und aus dem gleichen Ausdruck 
Gefühle den Schluß zieht, daß die sinnlichen Gefühle nicht Sinnesemp¬ 
findungen seien“ (S. 8), aber unter Gefühlen versteht ja die heutige Psycho¬ 
logie im allgemeinen auch nicht Gemütsbewegungen, sondern — wenn wir 
mit Stumpf von der Wundtschen Aufstellung von Gefühlen der Erregung 
und Ruhe, Spannung und Lösung absehen — nur Lust und Unlust, die 
aber nicht nur mit Empfindungen, sondern auch mit Vorstellungen ver¬ 
bunden auftreten. Bei dem Zusammenhang der „intellektuellen“ 
Gefühle ( Ziehen) mit den sinnlichen Gefühlen scheint es mir mißlich, 
beijie Arten von Lust und Unlust durch jene Bezeichnung vonein¬ 
ander zu trennen. Die intellektuellen Gefühle gehen ja ebenso wie die 

*) Stumpf, Über Gefühlsempfindungen. Ztschr. f. Psych. Bd. 44, 
S. 1—2. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 621 

sinnlichen Gefühle in die Gemütsbewegungen ein, und es gilt von ihnen 
■dasselbe, was Stumpf von den sinnlichen Gefühlen sagt, daß sie ,,eine 
Komponente des im populären Sprachgebrauch als Gemütsbewegung, 
Furcht usw. bezeichneten Gesamtzustandes“ darstellen, während die 
andere Komponente, „die wir als den Kern betrachten, die Gemütsbewe¬ 
gung im engeren Sinne“, nicht nur von den sinnlichen, sondern auch von 
den intellektuellen Gefühlen gänzlich verschieden ist. Ebensowenig kann 
ich die Subjektivität der Gefühle gegenüber den Empfindungen als be¬ 
deutunglos für die Frage der Trennung von Gefühlen und Empfindungen 
anerkennen und den Satz unterschreiben: „Der heiße Ofen ist unangenehm, 
der kühle Wein angenehm in demselben Sinne, in welchem jener heiß ist und 
dieser kühl oder prickelnd ist.“ Das ist zunächst nur richtig, solange wir 
allein auf unsere Erkenntnis, auf die Bildung unserer Vorstellungen sehen, 
in welche Empfindungen wie Gefühle eingehen. Der Mensch ist aber nicht 
nur- ein erkennendes, sondern auch ein handelndes Wesen, und sobald wir 
dies ins Auge fassen, erhält jene Subjektivität der Gefühle einen andern, 
und zwar den richtigen Sinn. Nicht die Hitze des Ofens, sondern das Un¬ 
angenehme der Hitze bewirkt, daß ich vom Ofen abrücke; nicht die Kühle 
oder das Prickelnde des Weines an sich zieht mich an, sondern die Lust, 
die zur Kühle oder zum Prickeln des Weines hinzutritt. Ferner kann die¬ 
selbe Hitze des Ofens, die mir jetzt unangenehm ist, vor kurzem, als ich 
aus der Winterkälte in das erwärmte Zimmer trat, mir angenehm gewesen 
sein und mich angelockt haben, und derselbe kühle und prickelnde Wein, 
der mir angenehm ist, kann aus dem gleichen Grunde einem andern mi߬ 
fallen. Gewiß übersieht auch Stumpf dieses Verhältnis nicht, aber er 
leitet es aus der Unterscheidung zwischen Ich und Außenwelt ab: „wenn 
df^Gefühlsempfindungen auch nicht den Unterschied zwischen Ich und 
Außenwelt konstituieren, so spielen sie doch, nachdem er konstituiert ist, 
eine andere Rolle fürjjnser Erkennen und Handeln gegenüber der äußeren 
Körperwelt als die übrigen Empfindungen“ (S. 12). Jedoch auch bevor 
der Unterschied zwischen Ich und Außenwelt konstituiert ist, löst Unlust 
und Schmerz Bewegungen aus, nur daß diese ziellos und ungeregelt sind; 
die größere Subjektivität der Gefühle entsteht also nicht erst mit der Kon¬ 
stituierung jenes Unterschiedes. Und wenn Stumpf zwar „einen höchst 
.bemerkenswerten Unterschied in der teleologischen oder biologischen 
Funktion“ zwischen Gefühlsempfindungen und andern Empfindungen 
nicht leugnen will, ihn aber nur als „Unterschied in der Funktion und in 
der Bedeutung, nicht in der Sache selbst“ ansieht, so fragt es sich, worin 
hier „die Sache“ besteht. Wollen wir die Funktion und die Bedeutung, 
also den Zusammenhang der Bewußtseinserscheinungen aus der Betrach¬ 
tung ausscheiden, so bleibt als sachlicher Unterschied die bloße Beschaffen¬ 
heit übrig; dann aber fallen überhaupt die Gründe für eine Sonderung von 
Empfindungen und Gefühlen (im gewöhnlichen Sinne) fort, und ebenso 
wie die sinnlichen könnte ich die intellektuellen Gefühle mit den Emp¬ 
findungen zusammenfassen. 

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Laehr, 


Meine Bedenken gegen die Bezeichnung der sinnlichen Gefühle als 
Gefühlsempfindungen könnten bedeutunglos erscheinen, aber sie beruhen 
doch auf sachlichen Erwägungen. Ich kann daher Stumpf nur mit Ein¬ 
schränkung zustimmen, wenn er seine Ansicht (S. 4) dahin zusammenfaßt, 
„daß die sinnlichen Gefühle tatsächlich Empfindungen sind, nichts weiter, 
eine Klasse von Empfindungen, die vielleicht ihre Besonderheiten haben, 
wie jede Klasse solche besitzt, die aber in allen wesentlichen Eigenschaften 
und Gesetzlichkeiten sich wie die übrigen Klassen verhält“, und daß es 
sich bei der Verknüpfung der sinnlichen Gefühle mit den Sinnesempfindun- 
gen „um■'ein vielfältiges, durch die Einrichtungen und Bedürfnisse des 
Organismus bedingtes Zusammenauftreten handelt, nicht um einen eigen¬ 
tümlichen psychischen Strükturzusammenhang“. Den zweiten Teil des 
Satzes unterschreibe ich, den ersten nur mit der Einschränkung, daß ich 
die sinnlichen Gefühle nicht im psychologischen, sondern nur im physio¬ 
logischen Zusammenhang als Empfindungen gelten lassen kann, d. h. ich 
stelle sie nur darin den Empfindungen gleich, daß ihre Gehirnkorrelate 
in derselben Weise wie die der Empfindungen von Vorgängen in andern 
Körperteilen durch Nervenleitung ausgelöst werden, und kann im übrigen 
nur zugeben, daß sie in vielen wesentlichen Eigenschaf tenund Gesetzlich¬ 
keiten sich wie Empfindungen verhalten. 

Vielleicht ist aber die Übereinstimmung zwischen Stumpf und mir 
doch größer, als es den Worten nach erscheint. Kann man „statt Gefühls¬ 
empfindung gelegentlich auch Gefühlston sagen“ (S. 18), so können sich 
Gefühlsempflndungen, d. h. sinnliche Gefühle auch an Verstellungen 
knüpfen, die „intellektuellen Gefühle“ Ziehens stehen also nicht im Gegen¬ 
satz zu den sinnlichen Gefühlen, sondern gehören zu ihnen. Damit stimmt 
überein, „daß es Gefühlsempflndungen gibt, die durch besondere peri¬ 
pherische Reizwirkungen hervorgebracht oder modifiziert werden können, 
und andere, bei'denen eine solche gesonderte Hervorbringung oder Ver¬ 
änderung von der Peripherie aus (eventuell von den im Innern des Leibes 
liegenden Nervenendigungen aus) nicht möglich ist“ (S. 22). Und daß 
wenigstens ein Teil der intellektuellen Gefühle Ziehens' in der Tat von 
. Stumpf unter den sinnlichen Gefühlen mitbefaßt wird, geht aus seinem 
Einwand gegen den Satz hervor, daß „an bloß vorgestellte Gerüche, Töne, 
Farben nicht Gefühlsvorstellungen, sondern eben wirkliche Gefühle 
geknüpft sind, die in keiner Weise sich von den Gefühlen bei wirklich emp¬ 
fundenen Gerüchen, Tönen, Farben unterscheiden (S. 26). Das sind doch 
Ziehens intellektuelle Gefühlstöne. Stumpf fährt nun fort: „Die Verhält¬ 
nisse scheinen mir aber vielmehr so zu liegen: diese Gefühlssinnesvor¬ 
stellungen, die an vorgestellte Gerüche, Farben usw. geknüpft sind, gehen 
sehr leicht in Gefühlsempfindungen über, sie werden, anders 
ausgedrückt, schon in ganz gewöhnlichen Fällen zu Halluzinationen, was 
bei den Vorstellungen der peripher erregten Gefühle (Hautschmerzen usw.) 
nur unter besonderen Umständen der Fall ist. Beispielwei6e, wenn man 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 623 

sich den Klang einer Stimme, eines Akkords vergegenwärtigt, so kann die 
Gefühlssinnesqualität ebenso lebhaft sein wie beim wirklichen Hören, 
während die Tonqualität selbst nur den Charakter der Vorstellung hat. 
Dieser Unterschied hängt damit zusammen, daß, wie wir weiterhin noch 
wahrscheinlich finden werden, schon die Gefühlsempfindungen bei 
Gerüchen, Geschmäcken, Farben, Tönen von vornherein ausschließlich 
zentral und nicht peripherisch bedingt sind“. Das heißt doch: auch die 
intellektuellen (an Vorstellungen, nicht an Empfindungen geknüpften) 
Gefühle sind sinnliche Gefühle (= Gefühlsempfindungen). Daß zur Ent¬ 
stehung der intellektuellen Gefühle die „Gefühlssinnesvorstellungen“ den 
Anlaß geben, indem sie „sehr leicht in Gefühlsempfindungen übergehen“, 
entspricht auch meiner Anschauung x ), und ebenso sehe ich die Gefühls¬ 
betonung wenigstens der optischen, akustischen und der meisten Geruchs¬ 
empfindungen als zentral bedingt an, indem ich sie von Vorstellungen ab¬ 
leite. Dagegen würde ich die intellektuellen Gefühle nicht als Halluzina¬ 
tionen bezeichnen, da nach meiner Anschauung die ihnen entsprechenden 
Nervenerregungen zwar auf Anlaß von Hirnrindenerregungen, aber nicht 
in der Hirnrinde entstehen, sondern dieser von den Stoffwechselzentren 
des Sehhügels, also von außen, zufließen. 

Bedenklich macht mich aber, daß Stumpf den leichten Übergang der 
Gefühlssinnesvorstellungen in Gefühlsempfindungen auf „Gerüche, Ge- 
schmäcke, Farben, Töne“ einschränkt, da auch die Erinnerung an Schmer¬ 
zen sich leicht mit starker Unlust verknüpft. Da diese Unlust auch in 
keiner der drei Formen enthalten ist, in die Stumpf (S. 1—2) die sinnlichen 
Gefühle gliedert, scheint er sie nicht als „Gefühlsempfindung“, sondern als 
„Gefühl“, d. h. als Gemütsbewegung aufzufassen und als die Gefühls¬ 
empfindung, die sich, allerdings „nur unter besonderen Umständen“, der 
Erinnerung des Schmerzes gesellt, die Schmerzempfindung zu betrachten, 
die in diesem Falle auch für mich eine Halluzination darstellen würde. 
Man vergleiche S. 23: „Es können auch durch Steigerung der Lebhaftigkeit 
des Vorstellens oder durch rein physiologische Vorgänge (ohne psychische 
Antezedentien) Schmerzhalluzinationen eintreten. Ähnliches auch bei 
Vorstellungen der Wollüstigen.“ Von Schmerzempfindungen beim Auf¬ 
tauchen von Vorstellungen sehe ich hier ab und fasse nur die Unlust ins 
Auge, die sich ohne Schmerzempfindung der Schmerzerinnerung gar nicht 
selten beimischt. Gewiß kann die Vorstellung von Schmerzen auch eine 
Gemütsbewegung veranlassen, aber in diese Gemütsbewegung, wenn wir 


*) Hans Laehr, Trieb und Gefühl. Diese Ztschr. Bd. 74, S. 201: „Die 
Unlust als Vorstellungsinhalt kann beim Auftauchen der Vorstellung die 
Unlust als Gefühlsbetonung wecken ... sie muß es aber nicht.“ Vgl. . 
S. 248: „Nur darf der Lustinhalt (der Ziel Vorstellung) nicht oder doch 
nicht in erheblichem Maße in Lustbet.onung übergehen, wenn der Trieb 
zur Handlung führen soll.“ 


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La ehr, 


sie „im engeren Sinne“ nehmen, geht jene Unlust nur als Bestandteil ein, 
verhält sieh zu ihr wie der Stoff zur Form und bedeutet deshalb nicht das¬ 
selbe wie sie. Ist aber die Unlust, die zur Schmerzvorstellung hinzutritt, 
eine Gefühlsempfindung, und folgt sie, was mir unbestreitbar scheint, 
ebenso leicht der Schmerzvorstellung wie die entsprechenden Gefühls¬ 
empfindungen den Vorstellungen von Ton- oder Farbengefühlen, so kann 
die Leichtigkeit des Übergangs bestimmter „Gefühlssinnesvorstellungen“ 
in Gefühlsempfindungen nicht davon abhängen, daß die ihnen zugrunde 
liegenden Gefühlsempfindungen „von vornherein ausschließlich zentral und 
nicht peripherisch bedingt“ sind, denn die Unlust oder das Unbehagen, 
das zur Schmerzvorstellung hinzutritt, steckt ja auch in der Schmerz¬ 
empfindung un4 ist ebenso „körperlich“ wie diese oder wie das körperliche 
Wohlgefühl, die Lustkomponente des Kitzels und die Sexualgefühle (S. 2). 
Am richtigsten wird das Verhältnis wohl so gefaßt, daß jenes Unbehagen 
eine Vorstufe des Schmerzes darstellt, daß Reize, die noch nicht Schmerz 
erzeugen,doch schon Unbehagen hervorrufen, und daß dann bei Verstärkung 
des Reizes oder bei längerer Dauer desselben das Unbehagen in Schmerz 
übergeht. Dann ist es aber auf Grund der Stumpfschen Anschauung un¬ 
verständlich, daß beim Übergang der Schmerzvorstellung in Gefühls- 
empfiftdung diese nicht etwa als Schmerz, sondern als Unlust, als Un¬ 
behagen auftritt und zwar auch dann, wenn sie eine Stärke annimmt, die 
der des früher empfundenen Schmerzes entspricht. Für mich liegt hierin 
keine Schwierigkeit, weil ich den Schmerz, der auf peripherischen Reiz 
entsteht, vom Eintritt der Nervenerregung in die sensible Hirnrinde, 
dagegen die Unlust, die von der Vorstellung des Schmerzes hervorgerufen 
wird, die also zentral bedingt ist, vom Übergang der Erregung aus dem 
Sehhügelzentrum des abbauenden Stoffwechsels in die stumme Hirnrinde 
ableite’ so daß hier der Verschiedenheit von Schmerz und Unlust die örtliche 
Verschiedenheit des Erregungsausgangs und des Erreguhgseintritts in die 
Hirnrinde entspricht. Ebenso erklärt meine Aufstellung ohne weiteres den 
Übergang des Unbehagens in Schmerz bei Zunahme des peripherischen 
Reizes, da nach ihr ein mäßiger Reiz neben der Empfindung durch Ein¬ 
leitung des abbauenden Stoffwechsels Unlust hervorrufen kann, ein stärkerer 
Reiz aber eine Abzweigung der Unlusterregung in die graye Rückenmark¬ 
substanz eintreten und sich hier einer Abzweigung der Empfindungs¬ 
erregung gesellen läßt, so daß als Ergebnis der Vereinigung beider der 
Schmerz entsteht. 

Die Unlust, die zur Schmerzvorstellung hinzu tritt, kann nicht als 
Halluzination aufgefaßt werden, weil hier nicht der Inhalt der Vorstellung, 
also Schmerz, sondern etwas anderes, nämlich einfache Unlust, sinnliche 
Lebhaftigkeit erlangt. Dann liegt es aber nahe, auch den Übergang 
anderer „Gefühlssinnesvorstellungen“ in „Gefühlsempfindungen“ nicht als 
Halluzination aufzufassen, wenigstens nicht als Halluzination in gewöhn¬ 
lichem Sinne, die ja fast allgemein auf Erregungen ausschließlich innerhalb 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und UnTust. 625 

der Hirnrinde zurückgeführt wird, wie verschieden man sich auch den 
Vorgang im einzelnen denkt. Vielmehr müssen den von Vorstellungen aus¬ 
gelösten ,,Gefühlsempfindungen“, also Ziehens intellektuellen Gefühlstönen, 
da sie zwar von Vorstellungen ausgelöst werden, aber sinnliche Lebhaftig¬ 
keit haben, Gehirnvorgänge entsprechen, die, von der Hirnrinde angeregt, 
dieser trotzdem von außen zufiießen. Gerade dieser Forderung genügt 
aber meine Anschauung, nach der die den Vorstellungen entsprechenden 
Erregungen der stummen Hirnrinde durch die kortikothalamische und 
weiter durch die thalamokortikale Bahn einen Kreislauf über die Stoff- 
wechselzentren der Sehhügelgegend vollführen und durch deren Erregungen 
verstärkt zu ihrem Ausgangpunkt in der stummen Hirnrinde zurückkehren. 

Ich habe den Ausdruck Gefühlsempfindungen für Lust und Unlust 
zurückgewiesen, während ich die Bezeichnung Empfindung in einem weiteren 
Sinne dafür wohl gelten lassen kann. Wenn man nämlich allein den Gegen¬ 
satz zwischen Empfindung und Erinnerung und als Kennzeichen der 
Empfindung die sinnliche Lebhaftigkeit im Auge hat, der physiologisch die 
Zuleitung von Nervenerregungen in die Hirnrinde von einem außerhalb 
dieser gelegenen Ausgangpunkt entspricht, dann würden auch für mich 
Lust und Unlust unter diesen erweiterten Begriff der Empfindung fallen. 
Zweckmäßiger aber erscheint es mir, den sonst allgemein anerkannten 
Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl beizubehalten und beide 
der Erinnerung entgegenzustellen. Neben den früher angeführten Gründen 
spricht hierfür gerade auch die eben erörterte Tatsache, daß zu Gefühls¬ 
erinnerungen lebendige Gefühle hinzutreten, die wir nicht immer als 
Halluzinationen im gewöhnlichen Sinne auf fassen können. Wollen wir 
den Ausdruck Gefühlsempfindung beibehalten, so paßt er allein auf den 
Schmerz, freilich nicht, weil er im Sinne von Stumpf als Empfindung in 
Gefühle, d. h. in Gemütsbewegungen eingeht, sondern weil er allein sowohl 
die Eigenart der Empfindung wie die des Gefühls untrennbar in sich ver¬ 
einigt, d. h. sowohl Kenntnis von Vorgängen im Organismus gibt 
wie auch die Reaktion des Organismus gegen diese Vorgänge einleitet. 

Wenn ich Stumpf somit auch in manchen Punkten nicht bei¬ 
pflichten kann, so stimme ich doch in der Hauptsache mit ihm überein, 
und diese Übereinstimmung erscheint mir um so wertvoller, als seine 
Anschauung auf psychologischem Boden erwachsen ist, während ich 
Votf physiologischen Erwägungen ausging. Weniger nahe trotz mancher 
Berührungspunkte steht meiner Anschauung die E. Försters 1 ), der sich, 
wie ich glaube, die Möglichkeit richtiger Auffassung dadurch versperrt, 
daß er Lust und in den meisten Fällen auch Unlust als Vorstellung 
ansieht, die Unlust als Erinnerungsbild des Schmerzes, die Lust als 
Vorstellung des Schwindens von Schmerz. 

*) Förster, Über die Affekte. Monatschr. f. Ps. u. N., Bd. 19 ,S. 305 u. 385 . 


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»I 


626 % Laehr, 1 

Förster sagt: „Sieht das Kind die Rute, mit der es schon gezüchtigt I 
worden ist, so werden verschiedene Erinnerungsbilder an die Gesicht? j 
empfindung assoziiert werden, unter anderen auch das Erinnerungsbild d* \ 
Schmerzes, den es bei der Züchtigung empfunden hat. So kommt da* I 
Unlustgefühl beim Sehen der Rute zustande. Wir sehen, daß wir dazu 
einen neuen Faktor, einen neben den Empfindungen und deren Erinm? 
rungsbildern hergehenden Gefühlston nicht einzuführen brauchen. Da¬ 
einfachste Unlustgefühl ist der Schmerz oder das Erinnerungsbild d* 
Schmerzes“ (S. 315). Gewiß kann die Erinnerung an den Schmerz b*i 
solcher Gelegenheit auftauchen, aber neben oder zu dieserlErinnerung tritt 
die Unlust, durch die Schmerzerinnerung vermittelt, aber als ein lebendig?? > 
Gefühl, das weder Schmerz noch Erinnerung ist. Und ähnlich steht ■ 
mit Försters Herleitung der Lust: „Wenn wir einen heftigen Schmer: 
empfinden und dieser schwindet plötzlich, so wird uns dieses Schwänden 
des Schmerzes als etwas Positives, als eine neue Empfindung erscheinen, 
für die wir dann den Ausdruck Erleichterung, Lustgefühl anwenden 
Etwas Ähnliches geht vor sich, wenn etwa alle Töne um uns plötzlich 
verstummen, wir meinen dann auch eine neue, positive Empfindung zu 
haben, die wir Stille nennen; ebenso meinen wir, eine neue, positive Emp¬ 
findung Dunkelheit zu haben, wenn plötzlich alles Licht verlöscht“ (S. 316). 
Zunächst ist der letzte Vergleich von Förster nicht richtig gewählt, da 
„Dunkel“ oder „Schwarz“ eine wirkliche, wenn auch durch den Mangel 
an Lichtreiz ausgelöste Empfindung darstellt, deren Entstehung Herint 
damit erklärt, daß der Empfindung des Weißen die Dissimilierung, der 
des Schwarzen die Assimilierung der Sehsubstanz entspricht. Da ich mir 
die Entstehung von Lust und Unlust durch gleiche Vorgänge in andern 
Geweben veranlaßt denke wie Hering die der Licht- und Dunkelemp 
findung in der Sehsubstanz, so kann ich mir diesen Vergleich wohl an¬ 
eignen, ja in gewissem Sinne sogar den vorhergehenden Vergleich mit der 
Stille, denn daß wir da statt der Vorstellung die Empfindung der Stille 
zu haben vermeinen, und zwar um so lebhafter, je länger die Töne an¬ 
dauerten, und je lauter und schriller sie waren, können wir uns dadurch 
bedingt vorstellen, daß während des lauten Tönens nicht nur der sich 
stark zusammenziehende M. tensor tympani, sondern auch die kräftigen 
Schwingungen und periodischem Druck ausgesetzten Teile des Corfischen 
Organs in abbauenden Stoffwechsel geraten, der die unangenehme Bei¬ 
mischung gibt und dem Aufbau PJatz macht, wenn Stille eintritt. Dann 
würde mit der Vorstellung der Stille sich ein Lustgefühl vereinen, das, 
aus dem Ohre stammend, der Vorstellung die Eigenart der Empfindung 
leiht und die Kontrastwirkung nicht allein und nicht immer auf assoziativer 
Leistung, sondern zunächst auf dem Umschlag des Stoffwechsels im Gehör¬ 
organ beruhen. Aber auch abgesehen von diesen Vergleichen wird man 
Förster darin nicht beipflichten können, daß uns das Schwinden des 
Schmerzes als etwas Positives, als eine neue Empfindung erscheint, für 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 027 

die wir dann den Ausdruck Erleichterung, Lust anwenden. Wie die Lust 
nach dem Aulhören unangenehm starker Töne ist auch das bisweilen deut¬ 
liche Behagen nach dem Aufhören starker Schmerzen etwas Positives und 
erscheint nicht nur als solches; es ist ebenso positiv wie die bläuliche Farbe 
eines sonst weißen Papiers nach längerem Anstarren eines gelben Papiers, 
die wir nur deshalb als scheinbar auffassen, weil wir wissen, daß unter 
gewöhnlichen Umständen das Papier weiß aussieht. Hier beruht nicht 
die Kontrastempfindung selbst, sondern daß wir sie als scheinbar auffassen, 
auf einem Vergleich, also auf assoziativer Leistung, und ebenso verhält es 
sich mit jener nach starkem Schmerz unmittelbar empfundenen Lust, 
wenn wir sie uns mit Förster als scheinbar vorstellen, weil wir uns über¬ 
legen, eine Ursache zur Lust sei doch eigentlich nur darin gegeben, daß der 
Schmerz geschwunden ist, und eine Lust ohne körperliche Ursache könne 
mft* durch Assoziation entstehen. 

übrigens sagt Förster (S. 320) selbst, daß das Lustgefühl sich ein¬ 
facher erklären ließe, ,,wenn man ebenso wie einen Schmerzsinn einen 
Lustsinn annehmen würde. Dagegen spricht aber die klinische Erfahrung, 
die weder eine besondere ,,Lustleitung“ noch ein Schwinden des Lust¬ 
gefühls bei erhaltenem Schmerz kennt, dagegen spricht, daß — abgesehen 
vielleicht von den schon erwähnten Sexual-Lustempfindungen ... das 
Lustgefühl bei uns niemals in solch elementarer präziser Weise aufhört, 
wie etwa ein plötzlicher Schmerz, ein plötzliches Licht usw., niemals als 
dann, wenn ein Schmerz plötzlich auftritt; dagegen spricht, daß es — 
außer diesem letzten, dem Aufhören von Schmerz — keinen Reiz gibt, 
der unter allen Umständen bei allen gesunden Menschen aller Rassen 
Lust erzeugen würde, wie etwa bei allen Menschen ein Stich in die Lippe 
Schmerzempfindung, die Annäherung eines glühenden Stabes Wärme¬ 
empfindung erzeugt“. Daß wir keine besondere Lustleitung kennen, ist 
richtig, erklärt sich aber daraus, daß wir nirgends erwarten können, Nerven 
des aufbauenden Stoffwechsels allein für sich anzutrefTen, da mindestens 
solche des abbauenden Stoffwechsels sich überall ihnen gesellen dürften, 
und daß die letzteren in den gemeinsamen Leitungswegen die Mehrzahl 
bilden werden, weil nicht nur Schmerz und Unlust lebenswichtiger ist als 
Lust, sondern auch die vegetativen Nebenwirkungen des abbauenden 
Stoffwechsels, die ich in seiner Verminderung und in der Wegschwemmung 
seiner Produkte sehe, für die Erhaltung des Stoffwechsels größere Be¬ 
deutung haben als die Nebenwirkung des aufbauenden Stoffwechsels, 
drh. seine Herabsetzung im gleichen und seine Förderung in andern 
Körperteilen. Goldscheider bemerkt (1. c. S. 23): „Wenn man erwägt, 
daß ein schmerzhafter Nadelstich in die Haut nur einem unendlich kleinen 
Teile 'des Querschnittes des innervierenden Nervenstammes entspricht, 
so müßte man bei gleicher Empfindlichkeit von der mechanischen Läsion 
des letzteren einen viel erheblicheren Schmerz erwarten, als er in der 
Tat eintritt“. Diese Abschwächung der Schmerzempfindlichkeit im gemein. 




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Laebr, 


sannen Nervenstamm könnte wohl auch von der Reizung der in ihm ent¬ 
haltenen Nervenfasern des aufbauenden Stoffwechsels herrühren. Daß 
aber in der Haut bisher keine „Lustpunkte“ — gleich den Schmerz 
punkten — gefunden sind, läßt sich auf Grund meiner Anschauung mit 
der Annahme erklären, daß eine in der Haut besonders geringe Anzahl 
der Nervenfasern des aufbauenden Stoffwechsels und deren damit zu¬ 
sammenhängende tiefere Lage, die ohne stärkeren Druck oberflächlicherer 
Epidermiszellen den Reiz nicht an sie gelangen läßt, ihre Auffindung 
erschwert. Der zugleich eingeleitete abbauende Stoffwechsel im gleiches 
Bezirk würde die Lustwirkung abschwächen. In der Tat beschränkt sich 
der aufbauende Stoffwechsel in der Epidermis, dessen in die Augen fallen¬ 
des Ergebnis ja die Zellvermehrung ist, im wesentlichen auf die tief gelege¬ 
nen Zellen der Malpighischen Schleimschicht, während der abbauende 
Stoffwechsel, der zur Verhornung führt, hauptsächlich oberflächliehete 
Lagen betrifft, so daß auch auf Grund dieser Überlegung der Ursprung 
der „Schmerznerven“ der Oberfläche näher erwartet werden muß, als der 
Ursprung der „Lustnerven“. Der gemeinsame Ursprungsbezirk und die 
gleichen Leitungswege würden ferner begreiflich machen, daß die klinische 
Erfahrung kein Schwinden des Lustgefühls bei Erhaltung des Schmerzes 
kennt. Der zweite Einwand, daß das Lustgefühl bei uns niemals in solch 
elementarer, präziser Weise auftritt wie etwa ein plötzlicher Schmerz, 
außer wenn ein heftiger Schmerz plötzlich aufhört (so muß es offenbar 
heißen, während in dem Forsterschen Satz, den ich oben wörtlich anführte, 
„auftritt* und „aufhört“ wohl beim Abdruck vertauscht sind; vgl. auch 
S. 316), verliert auf dem Boden meiner Anschauung^sein Gewicht durch 
die Erwägung, daß ein plötzliches Einsetzen starken aufbauenden Stoff¬ 
wechsels, das in Wirklichkeit nirgends erfolgt, in dem angeführten Falle 
dadurch vorgetäuscht Vfrird, daß das allmähliche Anschwellen des auf¬ 
bauenden Stoffwechsels, das gerade durch den vorhergehenden starken 
abbauenden Stoffwechsel zum Ersatz der Schädigung bewirkt wurde, von 
diesem bis zu dessen Aufhören verdeckt ward und nun plötzlich in voller 
Stärke hervortritt. Und wenn Förster drittens anführt, daß es außer dem 
Aufhören von Schmerz keinen Reiz gibt, der unter allen Umständen bei 
allen gesunden Menschen aller Rassen Lust erzeugen würde, so will ich 
dem nicht entgegenhalten, daß die Sättigung oder die freie Atmung nach 
Beeinträchtigung derselben wohl allgemein als lustvoll empfunden wird, 
auch wenn kein Schmerz vorangegangen ist, da Förster hier (wie S. 317 
unten) offenbar auch bloße Unlust unter Schmerz mitversteht, wohl aber, 

‘ daß z. B. Süß ganz allgemein als angenehm gilt, wenn auch beim einzelnen 
die Lust- und Unlustschwelle für diese Empfindung sehr verschieden hoch 
sein und durch Gewöhnung sich weiter verändern kann. Im übrigen be¬ 
trachte ich die Lust mit Förster in den meisten Fällen als durch Vorstel¬ 
lungen vermittelt, so daß auch sein dritter Einwand gegen besondere 
„Lustl^itung“ auf meine Anschauung nicht zutrifft. 


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Die physiologischen Korrelate der Lust and Unlust. 


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Dagegen kann ich, wenn ich statt Schmerz Gefühl (Lust und Unlust) 
einsetze, der Ausführung Försters in bezug auf Wernickes Organgefühle 
der Hauptsache nach zustimmen: „In sämtlichen Organen des Körpers 
beßnden sich Endapparate der Schmerznerven. Diesen fließen sowohl in 
den Eingeweiden — durch die Verdauung usw. — als auch an der Körper¬ 
oberfläche — durch äußere Einwirkungen — geringe Erregungen zu, die 
nicht in unser Bewußtsein gelangen, aber doch ihre (reflektorischen) 
Wirkungen ausüben. Das sind die Organgefühle Wernickes. Werden diese 
Erregungen stärker, so werden sie bewußt, und wir nennen diese Emp¬ 
findungen, die heftigen Organgefühle, Schmerz“ (S. 317). Besonders aber 
halte ich die Erörterungen über Gefühlston und Aufmerksamkeit (S. 385 
bis 388) für einleuchtend, die zum Ergebnis führen, daß der Gefühlston 
nicht von vornherein mit der Sinnesempfindung verknüpft ist. Nur be¬ 
weisen sie nicht, daß die ZieÄensche Anschauung falsch ist, da diese nur 
aussagt, daß der Gefühlston an dieselben Gehirnelemente geknüpft ist 
wie die Empfindung, nicht aber, daß er an denselben Vorgang in diesen 
Gehirnelementen geknüpft ist. 

Über das Verhältnis des Gefühls zum Handeln schreibt Förster im 
Gegensatz zu einer Ausführung Storchs: „Ich wollte einen Kreis zeichnen — 
es gelingt nicht; ich habe so lange Unlustgefühle, bis es gelingt“, bedeutet: 
ich verfolgte mit dem Zeichnenwollen des Kreises irgendein Ziel — dadurch, 
daß ich den Kreis nicht richtig zeichnete, kam ich dem Ziele nicht näher, 
ich dachte an die verlorene Zeit, an die Folgen, die. daraus entstehen 
könnten, wie ich es machen müsse, um dem Ziele näher zu kommen, usw. 
Alle diese Vorstellungen fasse ich zusammen unter dem Namen Unlust¬ 
gefühl. Ein Teil dieser Vorstellungen aber veranlaßt mich, weiter zu 
zeichnen. Wenn wir also sagen, daß das Unlustgefühl Bewegungen auslöse, 
so ist dies nur dann richtig, wenn wir uns davon bewußt bleiben, daß das 
Unlustgefühl nichts anderes ist als eine Reihe von Vorstellungen, von 
denen ein Teil die gewollten Bewegungen veranlaßt. Ist der Kreis ge¬ 
glückt, so habe ich die Vorstellungen, daß das Ziel erreicht ist, daß ich 
jetzt faulenzen kann, daß eine Zigarette jetzt gut schmecken würde usw., 
diese Vorstellungen bedingen ein Lustgefühl, an eine Gruppe davon 
werden durch irgendwelche Ursachen neue Vorstellungen in ihrem Sinne 
angeknüpft werden, es entsteht eine neue (Initiativ-) Bewegung, etwa 
das Anzünden der Zigarette. — Es hätte nun aber auch sein können, daß 
das Zeichnenwollen des Kreises nur eine flüchtige Idee bei-mir war, daß 
ich einen bestimmten Zweck nicht damit verfolgte, dann wird der mi߬ 
glückte Kreis kein ,,Unlustgefühl v , sondern andere Vorstellungen in mir 
wachrufen, er wird mich etwa an das Gesicht eines Freundes erinnern, 
ich werde ein Lustgefühl haben, und andere hinzukommende Vorstellungen 
werden irgendwelche andere Initiativbewegung verursachen. — Wir sehen, 
alles kommt auf die Empfindungen, ihre Erinnerungsbilder, ihre assoziative 
Verknüpfung an, andere „Spannungs- oder Elastizitätsverhältnisse“ in 


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•630 


L aehr 


irgendeiner „Psyche“ brauchen wir zur Erklärung nicht heranzuziehen“ 
(395—396). Daß Unlustgefühl nicht dasselbe ist wie eine Zusammen¬ 
fassung oder eine Reihe von Vorstellungen, führte ich schon aus, aber 
ebenso mißlich ist die Behauptung, daß ein Teil der Vorstellungen, die die 
Unlust zwar nicht darstellen, aber hervorrufen können, die gewollten Be¬ 
wegungen veranlaßt. Mit Recht beginnt Förster seine Umschreibung mit 
•dem Satze: „Ich verfolgte mit dem Zeichnenwollen des Kreises irgendein 
Ziel“; erst dadurch, daß eine Vorstellung das Ziel des Wollens bildet, 
mithin nicht als bloße Vorstellung, sondern als Zielvorstellung, veranlaßt 
sie Bewegungen. Wir kommen hier mit Empfindung und Vorstellung 
auch unter Hinzunahme des Gefühls nicht aus, sondern müssen auf den 
jetzt meist als überwunden und veraltet angesehenen Trieb zurückgreifen, 
der die Vorstellung erst zdf Zielvorstellung macht. Es ist nur bedingung¬ 
weise richtig, daß ein Teil der Vorstellungen: „dadurch, daß ich den Kreis 
nicht richtig zeichnete, kam ich dem Ziele nicht näher, ich dachte an die 
verlorene Zeit, an die Folgen, die daraus entstehen könnten, wie ich es 
machen müsse, um dem Ziele näher zu kömmen, usw.“, das Weiterzeichnen 
verursacht. Denn alle diese Vorstellungen führen zum Weiterzeichnen 
nur dann, wenn eben ein Ziel vorhanden ist, dieses aber setzt den Trieb 
dazu voraus, und daß hier der Begriff der Assoziation den des Triebes nicht 
ersetzen kann, glaube ich andernorts (1. c. S. 222) gezeigt und dort (Seite 
246 ff.) auch die Beziehung des Triebes zu Lust und Unlust soweit be¬ 
leuchtet zu haben, daß ich hier darauf nicht zurückzukommen brauche. 
Förster hat sich diese Verhältnisse durch den doppelsinnigen Ausdruck 
verdunkelt: „ein Teil dieser Vorstellungen veranlaßt mich, weiter zu 
zeichnen“. Das soll, wie sich aus dem Folgenden ergibt, heißen: „ein Teil 
dieser Vorstellungen ist die Ursache des Weiterzeichnens“, bringt aber 
etwas Weiteres, das Ich oder den Willen oder den Trieb, hinein, von dem 
die Bewegung ausgeht, und dem die Vorstellung nur die Richtung weist. 
„Alles kommt auf die Empfindungen, ihre Erinnerungsbilder, ihre assozia¬ 
tive Verknüpfung an“ ist nur richtig, wenn ich ergänze: „zur Bestimmung 
der Triebrichtung durch ein Ziel“, nicht aber, wenn ich mit Förster darin 
allein die Ursache des Handelns finde. 

Zum Schluß fasse ich kurz die wichtigsten Züge der hier darge¬ 
legten Theorie zusammen. 

Es erscheint mir als Vorzug meiner Anschauung, daß sie die Kor¬ 
relate der Lust und Unlust auf Stoffwechselvorgänge zurückführt, die 
im Sinne von Verworn s Biogenhypothese die wesentlichen Lebens- 
erscheinungen darstellen. Eine Auffassung, nach der das Verhältnis, 
das in der Zelle oder im Leibe zwischen Aufbau und Abbau besteht, 
auf seelischem Gebiete ursprünglich durch Lust und Unlust angezeigt 
wird, setzt die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust in so 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlast. 632 

innige Beziehung zur Erhaltung des Lebens, wie keine andere, und 
übertrifft hierin auch die Försters, die sich mit ihr berührt, aber einseitig 
nur den Schmerz ins Auge faßt und die Lust nicht als selbständigen 
Ausdruck des Ziels gelten läßt. Entspricht die sinnliche Lust, dem 
*Überwiegen des aufbauenden, die sinnliche Unlust dem Überwiegen 
des abbauenden Stoffwechsels, so ist darin das Verhältnis begründet, 
in dem Unlust — als etwas zu Fliehendes — und Lust — als etwas zu 
Erstrebendes — stehen müssen, wenn Schädigungen vermieden werden 
sollen. Denn überwiegt der abbauende Stoffwechsel, so muß der 
Verlust, den der Organismus an dieser Stelle erleidet, zum Ersatz durch 
den aufbauenden Stoffwechsel führen, wenn der Bestand erhalten 
werden soll. Zeigt also Unlust das Überwiegen des abbauenden, Lust 
das Überwiegen des aufbauenden Stoffwechsels an, so ist darin be¬ 
gründet, daß die Triebrichtung von Unlust zu Lust geht (S. 598), zumal 
ich gezeigt zu haben glaube, wie auch die Schädigungen, die dem 
Körper von außen zustoßen, mit einem Überwiegen des abbauenden 
Stoffwechsels einhergehen. 

Das Verhältnis von Lust und Unlust zur Stärke des Reizes ent¬ 
spricht einem bestimmten Verhalten der durch den Stoffwechsel sich 
bildenden chemischen Verbindungen. Die Zwischenerzeugnisse des 
aufbauenden Stoffwechsels, die ich als Reizquelle der „Lustnerven“ — 
wenn mir dieser abkürzende Ausdruck gestattet ist — ansehe, geben, 
weil sie ungesättigte und deshalb stärker auf ihre Umgebung ein¬ 
wirkende Verbindungen darstellen, einen kräftigeren Nervenreiz ab 
als die Abfallstoffe des gewöhnlichen Stoffwechsels. So lange daher der 
Aufbau mit defrri Abbau gleichen Schritt hält, d. h. also nicht bloß im 
gewöhnlichen Gleichgewichtszustände, sondern auch bei der Vergröße¬ 
rung seines Umfangs durch schwache oder mittelstarke Reize, über¬ 
wiegt der Reiz des aufbauenden Stoffwechsels. Überschreitet der 
. Stoffwechsel eine gewisse niedere Grenze, so tritt daher Lust auf* und 
wächst mit der Zunahme des Stoffwechsels so lange, als das Gleich¬ 
gewicht zwischen Abbau und Aufbau erhalten wird. Überwiegt der 
Abbau, so kann er nicht sofort his zu den chemischen Enderzeugnissen 
durchgeführt werden, es bleiben stärker reizende Verbindungen übrig, 
die erst allmählich in andern Teilen völlig abgebaut werden, und diese 
Zwischenprodukte, die Abbaustoffe im engeren Sinne (d. h. die beim 
Überwiegen des Abbaus auftreten), wirken als starker Reiz auf die 


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632 


Laehr, 


„Unlustnerven“. Dem Überhandnehmen des abbauenden Stoff¬ 
wechsels und dem Auftreten solcher stark reizenden Zwischenprodukte 
entspricht also der Umschlag von Lust in Unlust bei Zunahme des 
Reizes und ihrer Vermehrung das Anwachsen der Unlust bei fort¬ 
gesetzter Reizerhöhung. 

Lust und Unlust und das Streben, aus unlustbetonten Empfindun- 
gen heraus und zu lustbetonten Empfindungen zu gelangen, sind aber 
nicht'die einzige Wirkung des abbauenden Stoffwechsels, sondern nur 
diejenige, die ins Bewußtsein fällt. Die andere, für die Erhaltung des 
Lebens ebenso wichtige Wirkung vollzieht sich unbewußt und besteht 
in Veränderungen der Blutversorgung und des Stoffwechsels selbst, 
aber sie führt ebenso wie die erstgenannte, nur ohne Beteiligung des 
Bewußtseins und der willkürlichen Muskulatur, zur Ausgleichung von 
Schwankungen des Stoffwechsels. Sie genügt für gewöhnlich, und nur 
unter besonderen Umständen, zur Ergänzung verbrauchter Stoffe oder 
zur Abwehr äußerer Schädigungen kommt die Wirkung des Stoff¬ 
wechsels auf die Korrelate des Gefühls und des Triebes zur Geltung. 

Daß die sinnliche Lust und Unlust als bloßer Gefühlston der Emp¬ 
findung erscheint, ergibt sich daraus, daß die Erregung, die zur Emp¬ 
findung, und die Erregungen, die zu Lust und Unlust führen, zwar 
durch verschiedene Nervenleitungen zur Großhirnrinde gelangen, aber 
durch denselben Reiz erzeugt werden und daher nahezu gleichzeitig 
der Hirnrinde Zuströmen, so daß das Gefühl sich mit der Empfindung 
• regelmäßig nach Art der Ideenassoziation verbindet und nicht ohne 
sie auftritt. 

Die Gefühlstöne der Vorstellungen fordern jedoch eine andere 
Erklärung. Ihre physiologischen Parallelvorgänge müssen ebenso wie 
die der Vorstellungen selbst von andern Teilen der Hirnrinde aus erregt 
werden. Da sie aber nicht Vorstellungen von Gefühlen, sondern 
lebendigen Gefühlen entsprechen, so müssen sie andrerseits vom Körper¬ 
stoffwechsel veranlaßt werden, und dieser muß demnach stets die 
Möglichkeit gewähren, auf Anregung von der Hirnrinde aus die Parallel¬ 
vorgänge der Lust sowohl wie der Unlust hervorzurufen. Daher meine 
Annahme, daß ein Zentrum des auf bauenden Stoffwechsels, d. h. ein 
solches, das die Reize des aufbauenden Stoffwechsels aus dem Gesamt¬ 
körper in sich vereinigt und den aufbauenden Stoffwechsel im ganzen 
Körper fördert, und ein Zentrum des abbauenden Stoffwechsels, das 


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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 633 

die Reize des abbauenden Stoffwechsels aus dem Gesamtkörper in sich 
vereinigt und den aufbauenden Stoffwechsel hemmt, die Sammel¬ 
becken sind, aus denen jederzeit, sobald sie in den Erregungsablauf 
der Hirnrinde eingeschaltet werden, dieser die der Lust oder Unlust 
entsprechenden Erregungen Zuströmen. 

Auch hier steht also neben der Wirkung auf die Hirnrinde, d. h. der 
Hervorrufung von Rindenerregungen, die den Gefühlstönen der Vor¬ 
stellungen entsprechen, eine Wirkung auf den Körpcrstoffwechsel, und 
ich nehme an, daß auch hier diese Wirkung durch Beeinflussung der 
Gefäße von den gleichen Zentren aus unterstützt wird. 

Da alles dafür spricht, daß die von mir angenommenen Stoff¬ 
wechselzentren in der Sehhügelgegend vorhanden sind, stimmt diese 
Theorie der Lust und Unlust gut zu den neueren Anschauungen, nach 
denen die Tätigkeit der Hirnrinde vom Hirnstamm aus gelenkt wird 
( Reichardt , Berze). 


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Kleinere Mitteilungen 


Deutscher Verein für Psychiatrie, E. V. — Kassenabschlnß 
. für das Jahr 1918 (abgeschl. am 30. 4. 19). 

A. Eassenbestand aus dem Jahre 1917 (vgl. Allg. Zeitschr. 

Bd. 74, S. 631) ... M. 19511,46 

B. Einnahmen: 

a) Mitgliederbeiträge zu 5 M. ' 

3 nachträglich aus 1915. M. 15,— 

4 * „ 1916. 20,- 

107 „ ‘ „ 1917 . 535,15 

672 für 1918... 2861,23 

6 schon für 1919. 25,05 

1 „ „ 1920 . 5,— =3461,43 

b) Zinsen 1. von Wertpapieren 

Von 2600 M. 3°/ 0 Pfandbriefen. M. 76,— 

„ 3000 „ 37,°/o * . 105- 

„ 6600 „ 4% Reichsanleihe. 220,— 

Dazu Aprilzins 1919 v. 500. 10,— 

„ 10000 M. 6°/o Kriegsanleihen. 600,— 

Dazu Aprilzins 1919 v. 1500 . 37,50 

(Von 2000 M. sind die Zinsen erst später 
fällig) 

2. Von Depositen und Spargeldern. 26,05 ■= 973,55 

Gesamtsumme der Einnahmen 23946.44 

1918 sind an Kriegsanleihe gezeichnet 
3500 M., gezahlt. M. 3374,40 

C. Ausgaben. Für Geschäfte des Vorstandes: 

Unkosten bei der Kriegstagung Würzburg. 41,— 

Auslagen des Schriftführers .. 126,25 

Kosten der Kassenführung, Drucksachen, Porti... 163,74 

Für einen Kranz auf Kreusers Sarg. ' 26.— = 346,99 

bleibt Bestand 23600,45 

Der Bestand ist vorhanden in Wertpapieren, Ankaufswert 22297,20 

(Die Wertpapiere befinden sich im Depot der Landschaf t!. 

Bank für die Provinz Pommern in Stettin) in bar 1303,25 

und zwar Guthaben bei der Bank 1229,— 


bar in der Kassette 74,26 

Stettin, den 30. April 1919. 

Der Schatzmeister: 

Geh. Med.-Rat Dr. Siemens. 


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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 


FÜR 1 

PSYCHIATRIE 

UND 

PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN 

HERAUSGEGEBEN VON 

DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 

UNTER DER MITREDAKTION VON 

BLEULER BONHOEFFER FISCHER KLEIST MERCKLIN PERETTI 8TRANSKY 

ZÜRICH BERLIN WIESLOCH ROSTOCK TREPTOWA.R.GRAFENBERG WIBN 

DURCH 

HANS LAEHR 

ZEHLENDORF WANNSEEBAHN, TELTOWER STR. 19 


FÜNFUNDSIEBZIGSTER BAND 
SECHSTES HEFT 

AUSGEGEBEN AM 14. ACGT'ST 


fV] 

w 

IvJ 


BERLIN UND LEIPZIG 

VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER 

WÄRTER DE GRUYTER & Co. 

VORMALS G.J.GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG : J. GUTTENTAG,VERLAGS¬ 
BUCHHANDLUNG : GEORG REIMER : KARL J. TRÜBNER : VEIT & COMP. 

1919 


Preis des Bandes von 8 Heften (6 Hefte Originalien und 2 Hefte LiteratarbericLt) 40 Mark. 

Hierzu eine Beilage der Firma C. F. Boehringer & Söhne in Mannheim. 


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Original;frprra 


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F MFC HI GAN 


































Über die Form der Psychosen bei der Land¬ 
bevölkerung in Livland, während der Jahre 

1903-1917. 

Von 

Dr. Albert Behr-Stackeln. 

Die Geisteskrankheiten, welche in einer Landesirrenanstalt 
mit vorwiegend bäuerlicher Irrenbevölkerung beobachtet werden, 
gestatten keinerlei Schlüsse über die tatsächliche Verbreitung und 
Verteilung der einzelnen Krankheitsformen im Lande. Bei der 
Einlieferung eines Geisteskranken in die Anstalt spielen medizinisch- 
psychiatrische Erwägungen die allergeringste Rolle. So lange ein 
Geisteskranker nicht schreit oder Feuer anlegt oder die Nahrung 
verweigert, nicht gar zu unsauber ist, so wird derselbe von seinen 
Angehörigen in den breiteren ländlichen Verhältnissen nicht als 
so störend und lästig empfunden, wie in einer städtischen Miet¬ 
wohnung, in welcher zahlreiche Nachbaren und und die Enge 
der Räume den Aufenthalt eines Geisteskranken zu Hause un¬ 
möglich machen. Dazu kommt, daß die Verköstigung eines 
Geisteskranken in einer bäuerlichen Wirtschaft nicht so schwierig 
ist wie in der Stadt. Die notwendigen Lebensmittel sind immer 
vorhanden und beanspruchen keine Barmittel. So lange ein 
Geisteskranker noch zu irgendeiner Handleistung fähig ist, wird 
derselbe zu Hause gehalten und beschäftigt, oder aber, wenn er 
keine Angehörigen hat und allein dasteht, an den „Mindestbieten¬ 
den“ versteigert. Alljährlich um die Jahreswende findet die Ver¬ 
steigerung der Gemeindekranken statt, und zum Georgitermin 
(24. IV.) verbleibt der Kranke bei seinem bisherigen Brotherrn 
oder er wechselt den Platz. Für den Fall, daß niemand gewillt 
ist, einen Kranken für das Mindesbot zu erwerben, und daß 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. ‘ 43 


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636 


B e h r, 


gegen die Überführung des Betreffenden in das Gemeindearmen- 
häus zwingende Gründe vorliegen, Fesseln und Stricke versagen, 
wird der Kranke vorübergebend einer Anstaltbehandlung über¬ 
wiesen und bei der geringsten Besserung unbedingt in die alten 
Verhältnisse zurückversetzt. Ohne zu übertreiben, darf man be¬ 
haupten, daß die Glieder der Landgemeinden nur im äußersten 
Notfälle, in vielen Fällen nur auf Veranlassung der Polizei- oder 
der Versicherungsbehörden, welche Brandschaden fürchten, ihre 
Kranken in der Anstalt unterbringen, um dieselben, sobald es 
nur irgend angeht, wieder der Behandlung zu entziehen. Die 
Landgemeinden sind von der Notwendigkeit einer Heil- und Pflege¬ 
anstalt für Geisteskranke bisher in keiner Weise überzeugt. Die 
Irrenanstalt ist ein Übel und zwar ein teures. Jede Ausgabe für 
unsoziale und unproduktive Kranke wird nach Möglichkeit ver¬ 
mieden. Alle humanen charitativen Bestrebungen, die Fürsorge 
für Schwache und Kranke gelten wenig und finden keine Resonanz. 
Das Bildungsideal und die Hoffnung, vermittelst der Bildung eine 
höhere soziale Stufe zu erreichen, überwuchern. Das Bestreben, 
sein „Menschenrecht“ auf Bildung 1 ) zu erwerben, beherrscht das 
bäuerliche Denken und Trachten. Derselbe Mann, welcher ängst¬ 
lich jeden Groschen für die Behandlung eines Geisteskranken 
wägt, opfert ohne Bedenken unverhältnismäßige Summen für 
Bildungszwecke, um seinen Kindern das Aufsteigen in eine höhere 
soziale Stufe zu ermöglichen und den Bauernstand anfzuheben. 
Die Pflege der Geisteskranken beansprucht Mittel, welche nach 
der allgemeinen Meinung eigentlich bessere Verwendung finden 
könnten, ah Krüppel und Schwache zu erhalten. Die Arbeit an 
den Geisteskranken ist daher unpopulär und wenig geschätzt. 
Die Fürsorge für Geisteskranke will im Grunde genommen niemand 
tragen. Die Familie beansprucht die Hilfe der Gemeinde, die 
Gemeinde wälzt nach Möglichkeit die Kosten auf die Familie, 
und in diesem Kampf der Interessen verblödet der Kranke, sinkt 
von Stufe zu Stufe und verliert im Laufe der Jahre jede Aus¬ 
sicht auf eine soziale Wiederherstellung. Die Landgemeinden 
stehen auf dem Standpunkt, sie wären nur moralisch verpflichtet. 

x ) Jakob Bunkhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 68. 


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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 637 

für heilbare oder gemeingefährliche Kranke zu sorgen, sie seien 
berechtigt, die Fürsorge für chronische Geisteskranke nach Mög¬ 
lichkeit von sich fernzuhalten. Daher gestatten die Geistes¬ 
kranken, welche in der Landesirrenanstalt Aufnahme finden, nur 
.den Schluß, daß unabhängig von der Form der geistigen Er¬ 
krankung in einem gegebenen bestimmten Zeitabschnitte gewisse 
Gruppen von Geisteskranken aus äußeren Gründen den Land¬ 
gemeinden aufnahme- und pflegebedürftig erscheinen. Welche 
Formen der Geisteskrankheiten tatsächlich im Lande vorherrschen, 
ist nur annähernd zu erschließen. 

In der Literatur begegnet man der Auffassung ( Gaupp ), als ob die 
Hauptbevölkerung der Anstalten, welche vorwiegend Geisteskranke der 
ländlichen Bevölkerung aufnehmen,, sich aus endogen bedingten Geistes¬ 
krankheiten zusammensetze. Das manisch-depressive Irresein, zumal 
beim männlichen Geschlechte, sei in den städtischen Anstalten überaus 
selten und nur gelegentlich anzutrefTen. In den städtischen Aufnahme¬ 
bezirken beobachte man in erster Reihe exogen bedingte Geistesstörungen, 
organische Gehirnkrankheiten, alsdann die Epilepsie und endlich die 
übrigen Formen des Irreseins. Die Häufigkeitsquote der Frühdemenz 
sei in den städtischen und in den ländlichen Aufnahmebezirken annähernd 
die gleiche. In der psychiatrischen Klinik zu Freiburg beobachtete Stern 1 ), 
daß die mittleren und höheren Kulturkreise, die Lehrer, Beamten und ' 
Kaufleute am manisch-depressiven Irresein häufiger erkrankten als die 
niederen Kulturkreise, Arbeiter, Landwirte und Tagelöhner. Die Epilepsie 
überwog bei den Tagelöhnern und Handarbeitern. Die Melancholie trat 
häufiger bei den Landleuten, die Manie häufiger bei den Städtern auf. 
Die exogen bedingten organischen Geisteskrankheiten nahmen mit dem 
Ansteigen der Kulturkreise zu und befielen vorherrschend - Kaufleute 
und freie Berufe, dagegen sank die Häufigkeit der Frül^demenz mit der 
Höhe des Kulturkreises. „Die Dementia praecox nimmt fast stufen¬ 
förmig mit dem Steigen des Kulturkreises ab.“ 

Obwohl Stern und Gaupp nicht in allen Einzelheiten über¬ 
einstimmen, so erscheint doch in bezug auf die Form der Geistes¬ 
krankheit unter allen Umständen der Gegensatz von Stadt und 
Land unverkennbar. Bevor wir diesen Gegensatz weiter verfolgen, 
dürfte es notwendig sein, festzustellen, was man unter einer länd¬ 
lichen bäuerlichen Bevölkerung zu verstehen habe, und welche 

*) Stern, Kulturkreis und Form der geistigen Erkrankung (da¬ 
selbst die gesamte einschlägige Literatur), 191H. 

4 : 1 * 


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638 


Hehr, 


Eigenschaften die charakteristischen des bäuerlichen Kulturkreises 
darstellen. 

Unter einem Bauern verstehen wir denjenigen, welcher mit seiner 
Hände Arbeit den Boden bestellt und die Früchte seiner Arbeit als Ernte 
erwartet. Der Bauer ist bodenständig und kann den Boden, die Scholle 
nicht verlassen, weil die Art seiner Arbeit, sei er Besitzer oder Knecht, 
mit dem Ertrage des Bodens innig zusammenhängt. Der Handwerker, 
auch’ wenn er auf dem Lande lebt und bäuerlicher Herkunft ist, bildet 
doch ein wesentlich anderes Element als der Ackerbauer. Der Hand¬ 
werksberuf ist nicht an die Scholle gebunden, die Art der Arbeit wird 
nicht durch den Boden, sondern durch die Kundschaft bestimmt. Jede 
Arbeit, jeder Beruf entwickeln eine Summe von Anschauungen und Er¬ 
fahrungen, erzeugen einen ,,Kollektivgeist“, ein „Kollektivbewußtsein'*, 
welches die Eigenart dieses Berufes ausmacht und die Glieder des gleichen 
Berufes auch unter sonst ungleichartigen Bedingungen vereinigt. Man 
denke beispielweise an das Gemeinschaftsbewußtsein der Seeleute bei 
den verschiedenen Nationen oder an die Gemeinsamkeit der militärischen 
Anschauungen bei den verschiedenen Völkern. Die Anschauungen und 
Sitten der bäuerlichen Bevölkerung gleichen einander unter den ver¬ 
schiedenen Himmelsstrichen in einem höheren Maße als die verschiedenen 
Berufs- und Kulturkreise innerhalb des eigenen Volkes. Die immer¬ 
währende Notwendigkeit, seinen Boden zu beaufsichtigen, der stete Kampf 
mit der Natur halten die Aufmerksamkeit nach einer bestimmten Richtung 
gefangen und erzeugen eine Einseitigkeit des Denkens und des Empfindens. 
Dagegen erzeugt die Arbeit in der Stadt in geschlossenen Räumen und 
in der Stube den lebhaften Wunsch, die Enge zu übeminden, das Be¬ 
dürfnis nach Abwechselung und den Drang ins Freie. Aus diesem Grunde 
finden in den Städten Darbietungen und Vergnügungen aller Art soviel 
Beifall und Zuspruch, während der Bauer auf dem Lande nach der schweren 
Arbeit unbedingt der körperlichen Ruhe und Erholung bedarf und nur 
ausnahimveise und mehr gelegentlich exzediert und umherschweift. Im 
Gegensatz zu der einförmigen Gleichmäßigkeit des Landlebens trägt das 
Leben in der Stadt eine gewisse Unruhe. Der berechtigte Drang nach 
Abwechselung beansprucht Barmittel, verstärkt die Hast des Erwerbes, 
die Jagd nach dem Gelde und bereitet den Boden für unbefriedigte Wünsche 
und Hoffnungen. Dazu kommen das erleichterte Genußleben, die Ver¬ 
zögerung der Eheschließung und die selbstverständliche Gelegenheit zu 
zahlreichen Vergiftungen (Alkohol, Morphium, Lues \isw.). Innerhalb 
der städtischen Bevölkerung nimmt der Kleinstädter noch eine gewisse 
Sonderstellung ein. Der Kleinstädter steht geistig und kulturell der bäuer¬ 
lichen Bevölkerung nahe. Die Kleinstadt mit ihren Gärten und Höfen 
erzeugt noch eine gewisse Bodenständigkeit, während die Großstadt und 
die Industrie den Menschen vom Boden entfernen und durch die Art der 
Arbeit dem Boden völlig entfremden. 


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Ober die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 639 

Die Verschiedenheit der Lebensweise in der Stadt und auf 
,dein Lande spiegelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach' in der 
Form der Geisteskrankheiten wieder. Es ist daher kein Zufall, 
daß in den Anstalten, welche großstädtische Aufnahmebezirke 
versorgen, die Geisteskranken durch äußere Schädlichkeiten vor¬ 
wiegen, während in den Landesanstalten die endogenen Seelen- 
Störungen vorherrschen. 

In der Livländischen Landesirrenanstalt wurden Geisteskranke, 
welche an der progressiven Paralyse litten, bei den Gliedern 
der ackerbautreibenden Bevölkerung nur in verschwindender An¬ 
zahl beobachtet. Die paralytischen Kranken entstammten mit 
wenigen Ausnahmen der großstädtischen Bevölkerung (Riga) und 
bildeten etwa 5—7 °/ 0 der Aufnahmen. Diese Kranken gehörten 
nur politisch zu den Landgemeinden, in Wirklichkeit waren die¬ 
selben dem flachen Lande längst entfremdet und ganz in der 
Stadtbevölkerung aufgegangeij. Der städtische Umschmelzungs¬ 
prozeß war bei diesen Kranken vielfach schon so weit vor sich 
gegangen, daß dieselben nicht mehr die lettische oder estnische 
Volkssprache benutzten, sondern sich der städtischen Idiome des 
Deutschen resp. der Staatssprache, des Russischen, ^ls Umgangs¬ 
sprache bedienten. 

Im Jahre 1908 wurden 6 Paralytische (5 M. 1 Fr.) behandelt, welche 
den städtischen Berufskreisen angehörten. 1909 wurden 15 Paralytische 
(13 M. 2 Fr.) aufgenommen. Es handelte sich mit Ausnahme eines be¬ 
rüchtigten Diebes und Raufboldes ausschließlich um Glieder der städtischen 
Bevölkerung (Arbeiter, Handwerker). 1910 wurden 14 Paralytische auf¬ 
genommen, darunter ein Landmann, welcher aber „aus der Stadt“ geheiratet 
hatte und von seiner Frau infiziert worden war. 1911 wurden 5 Paralytische 
der höheren Kulturkreise, 1912 15 Paralytische (12 M. 3 Fr.) aufgenommen. 
Die männlichen Kranken gehörten den freien Berufskreisen an und hatten 
ausschließlich in den Städten gelebt. Von den weiblichen Kranken hatte 
die eine von Jugend auf eine vagierende Lebensweise geführt, die zweite 
war mit einem „berühmten Diebe“, der alle „schlechten Krankheiten“ 
an sich hatte, verheiratet und kam aus der Stadt, die dritte, welche bäuer¬ 
lichen Verhältnissen entstammte, war von ihrem Ehegatten nachweislich 
infiziert. 1913 wurden 12 Paralytische ausschließlich aus städtischen 
Aufnahmebezirken aufgenommen, 1914 9 Paralytische (8 M. 1 Fr.); von 
diesen gehörten 7 m. Kr. zu den freien Berufskreisen und hatten ein be¬ 
wegtes Leben hinter sich, 1 entstammte dem ländlichen Berufskreise und 


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640 


Be hr, 


war während seiner Dienstzeit infiziert worden. 'Die w. Paralytische war 
eine Städterin. 1915 wurden 7 Paralytische der städtischen Berufskreise- 
aufgenomnien, 1916 2 und 1917 3. Die Zahl der Paralytischen verringerte 
sich nach dem Falle Rigas und nach dem Abzug eines Teils der städtischen 
lettischen Bevölkerung ins Innere Rußlands. Es handelte sich bei diesen 
Beobachtungen um kein zufälliges Zusammentreffen, sondern die hier 
mitgeteilten Ergebnisse entsprachen durchaus den Erfahrungen, die auch 
aus anderen Landen vorliegen. Um nur ein Beispiel aus neuerer Zeit 
anzuführen, sei auf die Mitteilungen Joachims aus Lothringen l ) ver¬ 
wiesen. In den rein agrarischen Gegenden Lothringens bildete die pr. P. 
eine seltene Erkrankung, dagegen begegnete man zahlreichen Fällen in 
den Industriegebieten und in den Weinberggegenden. Nach der z. Z. 
herrschenden Lehre ist die Ursache der pr. P. eine vorausgegangene Sy¬ 
philis, und die syphilitische Ansteckung bildet eine unerläßliche Vor¬ 
bedingung für das Auftreten dieser Erkrankung. Darf man null aus dem 
Fehlen der pr. P. bei den bäuerlichen Geisteskranken in Livland den 
Schluß ableiten, daß die Syphilis im Lande nicht vorhanden sei, oder aber 
waren irgendwelche unbekannte Umstände wirksam, welche die Para¬ 
lytischen nicht in die Anstaltbetfandlung führten, oder endlich hängt 
nicht das Ausbleiben der pr. P. doch mit irgendwelchen Faktoren zu¬ 
sammen, welche die Lebensweise auf dem Lande mit sich bringt und die 
Landbevölkerung vor dieser Geißel bewahrt? Bei den nichtparalytischen 
Geisteskranken waren Anzeichen der Lues höchst selten, und man mußte 
unbedingt den Eindruck gewinnen, daß die luischen Erkrankungen Aus¬ 
nahmen bilden. Nach den Ermittelungen von Truhard *) über die Ver¬ 
breitung der Lues in Livland betrug die Zahl der gezählten Syphilisfälle 
1892 in Dorpat 8,45 :1000, in Riga 6,05 :1000 Einwohnern und auf dem 
Lande 1,53 : 1000 und 1893 1,46. Soweit zuverlässige Ziffern öiTentlich 
vorliegen, muß inan in Livland eine steigende Tendenz der Verbreitung 
der Lues annehmen. Die Zunahme der Lues ist unbedingt eine Begleit¬ 
erscheinung des Anwachsens der Städte, der Industrialisierung des Landes, 
der Erleichterung des Verkehrs und der allgemeinen Wehrpflicht dureh 
die aus dem Militärdienst heimkehrenden Soldaten. Bekennt man die 
Anschauung, daß die Syphilis die Paralyse bedingt, so befremdet die Tat¬ 
sache, daß zahlreiche Völker, die noch in primitiven Verhältnissen leben, 
trotz endemischer Lues von der Paralyse befreit sind. Kraepelin vertritt 
die Auffassung, daß die Kulturvölker Schutzeinrichtungen verloren 
hätten, die diejenigen Völker, welche noch unter einfacheren Verhältnissen 
leben, vor der pr. P. bis zu einem gewissen Grade bewahren. Sichel geht 
noch weiter und vermutet, daß derartige Schutzeinrichtungen auch noch, 
bei den Landleuten vorhanden seien und dieselben vor der Paralyse 


*) Joachim , Allg. Zeitschr. Bd. 69. 

2 ) Truhard, St. Petersburger Med. Wochenschr. 1895, Nr. 11. 


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Cber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 641 

schützen. Zur Zeit, als die syphilitische Ätiologie in bezug auf die Ent¬ 
stehung der Paralyse noch unbekannt war, beschuldigte man als auslösende 
yrsache den Exzeß. Man verwies auf die bequeme Gelegenheit zum 
Exzedieren bei den höheren Gesellschaftsschichten und erklärte aus diesem 
Gesichtspunkte heraus das Freibleiben der ackerbauenden Bevölkerung 
und der Handwerker. So schreibt Neumann (Psychiatrie 18811): ,,Wenn 
der Handwerker, der Bauer seltener an der Paralyse erkranken, so bedenke 
man, daß diese Art von Individuen am Tage arbeiten muß und abends 
noch lieber die Schenke aufsucht und, da auch der Beischlaf meistens 
Geld kostet, sich gar nicht in der Lage befindet, dauernd zu exzedieren.“ 
Auf welche Weise man sich die Immunität gegenüber der progressiven 
Paralyse erklären möge, so viel steht fest, daß diese Erkrankung bei der 
bäuerlichen Bevölkerung in der Landesirrenanstalt nur ausnahmweise 
beobachtet wurde. Wie es sich mit der Tabes verhält, ist zurzeit unbekannt. 
Die organischen Nervenkrankheiten, welche in der Landesanstalt in immer 
steigendem Maße behandelt wurden, gehörten zu dem Kreise der endogenen 
Nervenkrankheiten (multiple Sklerosen, Bulbärparalyse usw\). Für 
die innere Wahrscheinlichkeit der Tatsache, daß die progressive Paralyse 
bei der Landbevölkerung in Livland fehlt, spricht folgendes: Im Jahre 
1902 untersuchte Luiga 1 ) 761 bäuerliche Geisteskranke des Dorpater 
Kreises an ihren Wohnorten, in den Gemeinden und Armenhäusern und 
zählte unter diesen drei Paralytische, eine ehemalige Prostituierte, einen 
Schneider und einen Mann, der aus einer Gegend stammte, in welcher 
die Lues endemisch war. — Die paralytischen Kranken zeigten bei ihrer 
Einlieferung in die Anstalt in den meisten Fällen expansive Zustände. 
Die rein dementen Formen waren nur ausnahmweise zu beobachten. 
Mendel hatte seinerzeit die Vermutung ausgesprochen (1898), das Bild 
der pr. P. hätte sich im Laufe der letzten 30—40 Jahren vollständig ver¬ 
ändert *). Die dementen Zustandsbilder seien vorherrschend, während 
die expansiven und agitierten Formen nicht mehr so häufig zu beobachten 
wären. Es ist eine schwere Zumutung für. das ärztliche Denken, sich 
vorzustellen, daß eine derart auffallende und ausgeprägte Krankheit 
wie die pr. P. in einer verhältnismäßig so kurzen Zeitspanne, 40—50 Jahren, 
sich in ihrer Verlaufsform in diesem Maße von Grund aus hätte ändern 
können. Die Hinweise auf analoge Beobachtungen bei gewissen Infektions¬ 
krankheiten, bei der Pest, derCholera, der Diphtherie, sind Analogieschlüsse 
und können kaum als endgültige Beweise voll gelten. Sollte das syphi¬ 
litische Virus sich tatsächlich transformieren, oder aber gestatten die an¬ 
geführten Beobachtungen eine andere Deutung? ln erster Reihe ist der 
Umstand zu berücksichtigen, daß infolge des Anwachsens der Städte 

*) Luiga, Dissertation: Jurjew' 1904, Russisch. 

*) Vgl. auch Fels, Monatsschr. f. Psych. Bd. 28; ferner Greidenhef-g, 
Neurol. Zentralbl. 1898. 


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B e h r. 


aus den schon mehrfach erwähnten Gründen mehr Menschen von der 
pr. P. befallen werden als in früheren Jahren. Das Beobachtungsmaterial 
wächst, und es erkranken in den Städten Konstitutionen, welche noch 
vor Dezennien in kleineren Verhältnissen oder auf dem Lande unter 
günstigeren Lebensbedingungen von dieser Seuche verschont blieben. 
Alsdann ist zu erwägen, daß die Verpflegung Geisteskranker in den Gro߬ 
städten in der Familie von Tag zu Tag teuerer wird, und daß ökonomische 
Gründe die Überführung des Geisteskranken in die Anstalt diktieren. 
Es unterliegt daher gar keinem Zweifel, daß in den städtischen Aufnahme¬ 
bezirken das Bild der dementen Form der Paralyse überwiegt und die 
Anschauung Platz greift, das Bild der Paralyse hätte sich geändert. Die 
These, die Paralyse wäre eine ausschließliche Erkrankung des männlichen 
Geschlechtes, und die Diagnose sei nur in solchen Fällen gestattet, welche 
„klassisch“ verliefen, d. h. unter dem Anfangsbilde des Größenwahns, 
läßt sich nicht mehr aufrechterhalten, da eben heutzutage durchaus 
andersartige Elemente den Anstalten Zuwachsen als vordem und mehr 
Grenzfälle und die verschiedenartigsten Varietäten Berücksichtigung 
finden. Die Syphilis ist dieselbe wie vordem, aber die sozialen Verhältnisse 
der europäischen Kulturvölker haben sich in den letzten Dezennien von 
Grund aus geändert, die Schnelligkeit, mit der die Städte anwachsen, 
die unheimliche Verödung des flachen Landes in vielen Gegenden erzeugen 
neue Bedingungen, welche sich in der Form der Psychosen als Zustands¬ 
änderungen widerspiegeln, und die pr. P. aus einer „aristokratischen“ 
Krankheit, die bisher nur in bestimmten Gesellschaftsschichten mit 
klassischen Symptomen zu Hause war, in eine „demokratische“ Krankheit 
verwandeln, welche weitere Volkskreise ergreift. Da es sich bei den Para¬ 
lytischen in der Landesanstalt fast ausschließlich um Stadtbewohner 
handelte, so war es eigentlich selbstverständlich, daß eine luische Infektion 
bei der größten Mehrzahl der Kranken nachzuweisen war. Ein Paralytiker 
mit allen „klassischen“ Symptomen dieser Krankheit trat mit einem 
frischen UlcüS durum in die Behandlung. Die erste Infektion lag etwa 
22 Jahre zurück und es bestand somit keine Immunität gegen die Lues. 
Das Ulcus wich einer spezifischen Behandlung, jedoch die Paralyse pro- 
gredierte. Reinfektionen bilden äußerst seltene Vorkommnisse, ja gelten 
sogar als unbekannt. So schreibt beispielweise Steiner 1 ): „Wir kennen 
bis jetzt noch keine Beobachtung, wonach ein Tabiker oder Paralytiker 
mit frischer Syphilis sich infiziert hätte, während doch gerade bei dein 
durch die Psychose bedingten, häufig sehr ungehemmten Lebenswandel 
der Paralytiker die Bedingungen der Übertragung des syphilitischen Virus 
durchaus vorliegen.“ Krafft-Ebing behauptete die Immunität der Para¬ 
lytiker gegen das frische luische Virus und erklärte die Paralyse als eine 
latente syphilitische Erkrankung. Krafft-Ebing stützte sich auf die Impf- 

*) Steiner, Arch. f. Psychiatrie Bd. 52. 


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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 643 

versuche eines Anonymus, weicherb Paralytiker mit Syphilisvirus geimpft 
hatte und in keinem einzigen Falle eine spezifische Reaktion beobachtete. • 

Kiernnn berichtet über 10 Fälle 1 ) von frischer Syphilisinfektion bei be¬ 
stehender Paralyse. Bei den meisten dieser Infizierten war eine frühere 
Lues auszuschließen. Kiernan zog aus seinen Beobachtungen keinerlei 
Schlüsse weder für noch gegen die Syphilistheorie. Auf alle Fälle lehren 
die vereinzelten Reininfektionen, daß es nicht angeht, die pr. P. als latente 
Form der Syphilis aufzufassen und die Resultate der Impfungen zu ver¬ 
allgemeinern. Die Lues als solche erzeugt keine Paralyse. Es müssen 
noch andere Faktoren vorhanden sein, welche dem luischen Gifte die 
Erzeugung einer paralytischen Geistesstörung ermöglichen. Die äußeren 
Umstände, welche das Auftreten der Paralyse begünstigen, die Lebens¬ 
bedingungen, der Gegensatz von Stadt und Land mit all seinen Begleit¬ 
erscheinungen sind zu evident, um nicht aufzufallen, während die indi¬ 
viduellen Faktoren, welche der Paralyse den Boden bereiten, noch dunkel 
bleiben. Warum erkranken beispielweise die Periodiker nicht an der 
Paralyse, obwohl dieselben während ihres Exaltationsstadiums so häufig 
Gelegenheit zur Ansteckung haben. Mit Recht schreibt Reichardt *): „Auch 
•die Wassermannsclie Reaktion und der Nachweis von Spirochäten im 
Gehirn der Paralytischen bringen für das eigentliche Wesen der Hirn¬ 
krankheit keine Aufklärung. Weshalb die Paralyse tödlich ist, weshalb 
so außerordentlich verschiedene körperliche und psychische Symptome 
auftreten, bleibt dunkel trotz Wassermann und Spirochäten.“ Einen 
wichtigen Schritt zur Erforschung der endogenen Faktoren, welche die 
Paralyse befördern, bilden die Feststellungen Rieger-Reichardts über die 
Häufigkeit der frontalen relativen Mikrozephalie bei den Paralytischen. 

Die Tatsache, daß die paralytischen Schädeldächer einen höheren Prozent¬ 
satz relativer Mikrozephalie aufweisen als die übrige Bevölkerung, ist eine 
beachtenswerte. In gleicherweise dürften auch die Forschungen Xäckes *) 
bedeutungvoll werden, welcher an der Hirnoberfläche der Paralytischen 
Abweichungen der Furchen und Wendungen nachwies. Die frontale 
Mikrozephalie und die Windungsanomalien der paralytischen Gehirne 
bilden greifbare Substrate und liefern Fingerzeige für die Richtung des 
zukünftigen Studiums der endogenen Faktoren und der Ätiologie der 
pr. P. Mit gewissen Einschränkungen hat der Satz von Benedikt noch 
immer seine Gültigkeit: Paralyticus nascitur, sed non fit. Die Forschungen 
über die Rolle der erblichen Belastung als ätiologischen Faktors der pr. P. 
sind bisher resultatlos geblieben. Die Zahlenangaben der Autoren in betreff 
der Belastung schwanken zwischen 5—75 % und können daher in keiner 

*) Kiernan, Refer. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1907, S. 152; ferner 
Kraepelin, Psychiatrie II 1, S. 493. 

2 ) Reichardt, Arbeiten aus der Würzburger Klinik Bd. 8, ferner Ar¬ 
beiten Bd. 4. 

3 ) Näcke, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 65. 


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Weise zur Entscheidung einer derart wichtigenFrageherangezogenwerden 1 ). 
Die Auffassung, daß die Lues an sich keine Paralyse erzeuge, lehren ferner 
die Erfahrungen in denjenigen Ländern, in welchen trotz endemischer 
Lues die Paralyse unbekannt bleibt. Rüdin *) fand in Algier nach vielen 
Nachforschungen nur zwei Paralytische, einen Fremdenführer lind eine 
ehemalige Prostituierte, obwohl an manchen Orten 60 von 100 Personen 
luisch befallen waren. Rüdin leitete der gleiche Gedanke, welchen Kraep^lin 
seinerzeit aussprach, daß diejenigen Völker, welche noch auf einer niedrigen 
Kulturstufe verharren, von der Paralyse verschont bleiben. Die Ansicht 
Kraepelins in betreff des völligen Fehlens der Paralyse bei der eingeborenen 
Bevölkerung der Insel Java scheint sich nicht zu bestätigen, denn in der 
neuerbauten javanischen Landesirrenanstalt zu Lavany wurden während 
der Jahre 1902—1905 5—3 % Paralytische beobachtet, und zwar ge¬ 
hörten die paralytischen Javaher nach dem Beruf mit Ausnahme von 
drei Landwirten zu den kommerziellen und industriellen Berufskreisen. 
Allem Anschein nach waren es mehr-zufällige Momente, welche zur Zeit 
der Anwesenheit von Kraepelin die Paralyse in Java vermissen ließen *). 
Ähnlich dürften auch die Angaben von Rüdin nicht absolut zu werten sein, 
denn Meilhon 4 ) zählte unter 253 Araberaufnahmen in den Jahren 1877 
bis 1890 — 13 Paralysefälle (5,13 % der Aufnahmen). Trotz dieser Korrek¬ 
turen muß man aber als feststehend annehmeh, daß alle diejenigen Völker 
und Nationen, welche noch nach alter Väterart ein primitiveres, natür¬ 
licheres Leben unter ländlichen Lebensbedingungen führen, von der 
Paralyse verschont beiben. Sobald Einzelpersonen oder ganze Völker 
ihren Beruf aufgeben und die natürliche Lebensweise mit einer zivilisierten 
vertauschen, beobachtet man als Reaktion die pr. P. Die Araber, von 
denen Meilhon berichtete, hatten alle mit ihrer früheren Lebensweise 
gebrochen, waren Stadtbewohner und hatten europäische Berufe an¬ 
genommen. Unter den javanischen Paralytikern finden wir •Händler, 
Soldaten, Marinematrosen usw. Sobald man die soziologischen Faktoren 
als maßgebend für die Entstehung der pr. P. betrachtet, so erklärt sich 
auch, daß noch vor 50—60 Jahren die pr. P. bei den älteren Ärzten als 
Seltenheit galt, denn die soziale Umwälzung beginnt erst in den letzten 
Jahrzehnten und vollzieht sich mit Riesenschritten. In Deutschland 
lebt bereits die Hälfte der Einwohner in den Städten und hat das Land 
verlassen. Es ist daher auch kein Zufall, daß die Lehrbücher der inneren 
Medizin der Gegenwart die pr. P. mitberücksichtigen, während die be¬ 
liebten alten Handbücher die Schilderung dieser Krankheit den SpeziaL 

») Vgl. Schröder, Neurol. Zentralbl. 1910, S. 565; ferner Arch. L 
Psych. Bd. 44, Arndt u. Junius, S. 508 f. 

2 ) Rüdin, Allg. Zeitschr. 1910. 

8 ) van Brero, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 69. 

4 ) Krafft-Ebing, Jahrb. f. Psych. Bd. 13, S. 137. 


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L'ber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 645 

werken überließen. Die Anschauung Westhoffs, die Paralyse sei eine 
Rassenkrankheit, ist derart phantastisch, daß es schwer hält, dieselbe zu 
diskutieren. Ein klassisches Beispiel für den Umstand, daß die veränderte 
Lebensweise den Boden für das Auftreten der pr. P. vorbereitet, bilden 
die Westjuden. Der Zug der Westjuden in die Stadt, speziell in die Gro߬ 
städte, wächst von Jahr zu Jahr, und Hand in Hand mit der Abwanderung 
aus den kleinen natürlichen Verhältnissen verändert der Jude Sitten und 
Anschauungen. Er lebt freier, er beobachtet nicht mehr die peinlichen 
Riten, er genießt Alkohol und verfällt der Lues. Die Zeiten, da die Juden 
alkohol- und luesfrei waren, gehören in Westeuropa der Geschichte. Nach 
den Arbeiten von Sichel 1 ) scheint die Zunahme der pr. P. bei den Juden 
unbestreitbar und der soziale Faktor als vorbereitendes Moment für die 
Auslösung der pr. P. erwiesen. 

Außer der Lues erzeugt die Lepra ein schweres Nervengift, 
und bei der weiten Verbreitung. dieser Endemie in Livland lag 
die Frage nahe, ob nicht das Lepragift analog der Lues spezif. 
Psychosen hervorrufe. Allem Anscheine nach scheint aber das 
Lepragift das Gehirn wesentlich anders zu beeinflussen, als die 
Lues. Trotzdem die Lepra schwere degenerative Veränderungen 
an den Nervenzellen und an den Nervenfasern erzeugt, sind 
spezifische Lepra-Psychosen unbekannt. Ein Lepröser, welcher 
Aufnahme fand, litt an der Nervenlepra und zugleich an einer 
manischen Seelenstörung, welche in kurzer Zeit einem geordneten 
Verhalten Platz machte. 

Die chronische Alkoholentartung und die alkoho- 
logenen Erkrankungen wurden in geringer Anzahl beobachtet. 
Delirante Alkoholiker wurden nicht eingeliefert. Gewöhnlich 
hatten sich die Kranken auf den weiten Wegen zur Anstalt be¬ 
reits beruhigt. Die Fälle alkohologener Entartung betrafen in 
der Mehrzahl Kranke, welche viel in den Städten gelebt hatten 
oder den freien Berufen auf dem Lande angehörten. Es wäre 
nun durchaus verfehlt, aus der Seltenheit der Alkoholpsychosen 
(3% der Aufnahmen) irgendwelche Schlüsse in bezug auf die 
Verbreitung des Alkoholismus in Livland zu ziehen. Aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach hält man es in bäuerlichen Kreisen nicht der 
Mühe wert, Trunksüchtige zu behandeln und für dieselben Geld 
auszngeben, man versucht eben so lange als möglich eine morali- 


*) Sichel, Arch. f. Psych. Bd. 52. 


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sierende Behandlung und verwendet ihre Arbeitskraft bis zum 
Äußersten. Die Seltenheit alkohologener Psychosen bei der Land¬ 
bevölkerung Livlands hatten bereits Michelson und Tschesch 1 ) 
hervorgehoben. Trunkexzesse und Rauschzustände sind bei der 
bäuerlichen Bevölkerung gewöhnliche 'Vorkommnisse, dieselben 
dürfen aber in keiner Weise als Index für die Häufigkeit alke- 
hologener Psychosen herangezogen werden und erlauben gleich¬ 
falls keinerlei Schlüsse über die Verbreitung des Alkoholismns. 
Der Landmann sucht den Exzeß und den Rausch. Der Alkohol 
dient weniger geselligen Zwecken, als Rauschzwecken. 

Der Alkohol wird mit vollem Bewußtsein seiner Wirkung als Rausch - 
mittel, nicht als Medium der Geselligkeit genossen. Es besteht geradezu 
das Bedürfnis nach schnell rauschenden Getränken und der Wunsch, 
für wenig Geld möglichst schnell sich zu berauschen. Im gewissen Sinne 
liegt in dem Exzeß, wenn er sich nicht täglich häuft, ein gewisser Schutz 
gegen die chronische Alkoholentartung. Ist der Rausch vorüber, so geht 
der Landmann an die Arbeit, während in den Städten der beständige 
Alkoholgenuß und das Sitzen in den Wirtshäusern unaufhaltsam die 
Entartung befördert. Trotzdem in den letzten Jahren von allen Seiten 
der Kampf gegen den Alkoholismus geführt wird und eine große Propa¬ 
ganda gegen den Alkohol im Gange ist, so beobachten wir nun zu unserem 
größten Erstaunen die Ausbreitung eines neuen bisher unbekannten 
Rauschmittels, welches den Alkohol ersetzt. Es handelt sich um den 
Mißbrauch von Äther oder „liquor, liqua“, wie derselbe hierzulande genannt 
wird. Die Propaganda gegen die berauschenden Getränke darf nicht bei 
dem Alkohol haltmachen, sondern mit allem Nachdruck müssen die 
weitesten Kreise vor den billigen Ersatzmitteln des Alkohols, dem Äther 
resp. dem Methylalkohol, gewarnt werden. Im Baltikum wurde der Äther¬ 
mißbrauch zuerst bei der litauischen Bevölkerung in Ostpreußen in den 
durchaus ländlichen Kreisen Memel und Heydekrug beobachtet a ). Im 
estnischen Sprachgebiet Livlands ist der Äthermißbraüch besonders 
heimisch, und es läßt sich feststellen, daß in Gegenden, in welchen der 
Alkoholgenuß anscheinend beschränkt ist, der Verbrauch an ,,liquor“ 
zunimmt. Von der Stadt Werro aus verbreitete sich der Ätherhandel über 
ganz Livland, und bei dem Einholen von Anamnesen stößt man immer 
mehr und mehr auf die Angaben über den Gebrauch oder den Mißbrauch 
dieses Mittels sowohl bei Alkoholischen als auch bei den anderen Geistes¬ 
kranken. Ein jugendlicher Kranker, welcher anscheinend an einem ein- 


x ) Michelson u. Tschesch, Die Dorpater Psychiatrische Klinik 18X1 
bis 1891 (russisch). Westnik Psvch. Bd. 9, S. 280. 

2 ) Sommer, Neurol. Zentralbl. 1899. 


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Über die Form der Psychosen* bei der Landbevölkerung in Livland usw. 647 

fachen Verblödungszustände litt, hatte bereits seit seinem 10. Lebens¬ 
jahre täglich Äthertropfen getrunken. Die Alkoholiker, welche in den 
letzten Jahren aufgenommen wurden, waren fast alle kombinierte Alkohql- 
und Äthertrinker. Ein lettischer Äthertrinker verstarb unter dem Bilde 
der progressiven Paralyse. Die Autopsie ergab eine fettige Entartung 
aller inneren Organe, eine Atrophie der Magenschleimhaut, Leptomenin- 
gitis ehr., Hydrocephalus intern., Pachymeningitis ehr. externa. Eine 
Esthin, welche jahrelang Äther mißbraucht hatte, wurde in einem schweren 
Erregungszustände eingeliefert und verstarb schnell. Bei der Autopsie 
fand man eine sklerotische Entartung sämtlicher Hirngefäße, eine Er¬ 
weichung im Parietallappen und eine kleine Narbe in der rechten Capsula 
'tnterna. Obwohl ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Äthermi߬ 
brauch und diesen Befunden nicht absolut nachweislich ist, so besteht 
doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, diese Befunde auf den Äthermi߬ 
brauch zu beziehen. Die Folgen des Äthermißbrauchs unterscheiden 
sich nicht wesentlich von den Folgen der alkoholischen Entartung und 
bieten nichts Spezifisches. H. Sieben J ) berichtete neuerdings über litauische 
Äthertrinkerinnen in Libau und betonte gleichfalls die schweren seelischen 
und körperlichen Veränderungen infolge dieses Rauschmittels. Um sich 
eine Vorstellung von dem Äther verbrauch in Livland zu verschaffen, 
seien folgende Angaben des Dr. Luhs erwähnt: Auf der Eisenbahnstation 
Werro wurden im Jahre 1908 1202 Pud, in der ersten Hälfte des Jahres 
1909 1231 Pud = 20 164 kg Äther unter der Marke Kollodium eingeführt. 
In Geldwert berechnet, betrug die Ausgabe für Äther 100 000 Mark. 

Es ergibt sieb aus diesen Darlegungen, daß die exogenen 
Geisteskrankheiten eine geringe Aufnahmequote bilden, und daß 
die Landleute noch immer vor gewissen Kulturschäden bewahrt 
sind. Dagegen überwiegen endogene Geisteskrankheiten. Das 
Landleben als solches und die Arbeit auf dem Lande an sich 
bieten keinerlei Schutz vor Geisteskrankheiten. 

Geisteskrankheiten sind in Stadt und Land weit verbreitet. In 
Bayern hatte Mayer 2 ) im Jahre 1877 festgestellt, daß auf 10 000 in den 
Geburtsbezirken Geborenen sich in den unmittelbaren Städten 13,65 
Blödsinnige und 18,54 Irrsinnige fanden. In den Bezirksämtern wurden 
15,53 Blödsinnige und 8,81 Irrsinnige gezählt. Aus diesen Zahlen folgt 
einmal ein Gegensatz von Stadt und Land in bezug auf „Irrsinnige und 
Blöde“. In den Städten gab es mehr Irrsinnige, auf dem Lande mehr 
Blöde. Zweitens schien die Häufigkeit für den „Irrsinn“ in den Städten 

*) H. Sieben , Zeitschr. f. Psych. Bd. 73. 

2 ) Realenzyklopädie Bd. 7, S. 288; ferner Moll , Der Einfluß des 
großstädtischen Lebens auf* das Nervensystem, 1902. 


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zu überwiegen. Ob diese Zahlen den. tatsächlichen Verhältnissen ent¬ 
sprechen, läßt sich schwer entscheiden. Aus allgemeinen Gründen muß 
man jedoch an der absoluten Gültigkeit dieser Statistik zweifeln, denu 
zur Entscheidung dieser Frage, ob Irrsinnige und Blödsinnige in Stadt 
und Land quantitativ differieren, wäre unbedingt eine genaue Kenntnis 
aller im Lande freilebender Geisteskranken notwendig. Eine derart genaue 
Statistik ist in Mitteleuropa erst im Werden und daher die Entscheidung 
dieser Frage zurzeit unmöglich. In Livland verdanken wir Luiga Angaben 
über die Verbreitung von Geisteskranken auf dem Lande. Luiga (a. a. O.) 
zählte persönlich im Kreise Dorpat in 11 Kirchspielen 761 Geisteskranke 
bei einer Gesamtbevölkerung von 98 083, d. h. einen Geisteskranken auf 
128 Einwohner resp. 7,9 : 1000. Obwohl diese Zahlen nur im Kreise Dorpat 
gewonnen wurden, so ist doch .kaum anzunehmen, daß der Dorpater Kreis 
andersartige Bedingungen darböte, und man darf die Zählungen von Luiga 
ceteris paribus für ganz Livland als maßgebend ansehen. Ob sich in der 
Häufigkeitsquote der Geisteskrankheiten ein Gegensatz von Stadt und 
Land beobachten läßt, ist aus dem Luigaschen Material nicht ersichtlich. 
Die angegebenen Zahlen stimmen jedoch durchaus überein mit den 
Zählungen, welche aus anderen Ländern vorliegen, und lassen nur den 
Schluß zu, daß, obwohhdie Form der Psychosen in der Stadt und auf dem 
Lande eine verschiedene ist, die Gesamtquote der Geisteskranken im großen 
und ganzen dieselbe bleibt. Unabhängig von dem Gegensatz Stadt und 
Land in bezug auf die Häufigkeitsquote der Geisteskrankheiten, beobachtet 
man in der ganzen europäischen Kulturwelt ein starkes Anschwellen der 
verpflegungsbedürftigen Geisteskranken. Alle Irrenanstalten sind an¬ 
dauernd überfüllt. Nach den sorgfältigen Untersuchungen von Wilmanns x ) 
im Großherzogtum Baden muß man schließen, daß die Zahl der Geistes¬ 
kranken nicht nur relativ, sondern auch absolut wächst. Die Annahme, 
als ob die Zahl der Geisteskranken in England im Abnehmen begriffen sei. 
war irrtümlich und beruhte nur auf Schwankungen in der Häufigkeits¬ 
quote der Jahre 1904—1906. In den folgenden Jahren machte sich erneut 
ein Anwachsen von Geisteskrankheiten in England bemerkbar. Aller 
Wahrscheinlichkeit nach dürfte auch in unseren Landen die Zahl der 
verpflegungsbedürftigen Geisteskranken anwachsen, da wir unter ähn¬ 
lichen Bedingungen leben wie die übrigen Kulturvölker des Westens. 
Wir sind Zeugen eines geschichtlichen Umwälzungsprozesses,, Wir sehen 
vor allem in Südlivland im lettischen Sprachgebiet den Übergang und 
die Umwandlung des lettischen Landvolkes in eine städtische Bevölkerung. 
Das lettische Landvolk drängt zur Stadt und trägt nicht nur zur Bildung 
eines Mittelstandes, sondern vor allem zur Verstärkung der Arbeiter¬ 
bevölkerung bei. Ohne Übertreibung darf man behaupten, daß bei dem 
Andauern dieser Bewegung das lettische Landvolk einem unaufhaltsamen 


1 ) Wilmanns, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Bd. 4; ferner Kraepclin I, S. 162. 


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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 649 

Untergang entgegentreibt. Auf dem Lande dürfte nur eine dünne lettische 
Oberschicht verbleiben, während die Masse der landarbeitenden Bevölkerung 
durch Einwanderung fremder Völkerschaften ersetzt werden müßte. In 
Mittellivland verbreitet sich das estnische Volkselement, und die estnische 
Sprachgrenze schiebt sich alljährlich weiter nach Süden. Die Bewegung 
zur Stadt wuchs nach der Revolution des Jahres 1905 zusehends und ist 
, nur durch den Krieg zu einem vorläufigen Stillstand gelangt. Niemand 
will recht auf dem Lande leben, a% erwarten in der Stadt das soziale 
Paradies und die Befreiung vom grundbesitzenden Herrn, sei er Bauer 
oder Edelmann. Auffallend häufig begegnet man bei den bäuerlichen 
Geisteskrankeri den Spuren einer abgelaufenen Rachitis. Es handelte 
sich vorwiegend um die Veränderungen des Kopf Skelettes, des Gesichts¬ 
schädels und des Brustkorbes. Rachitische Stigmata der Extremitäten 
(X-Beine usw.) waren nur vereinzelt zu verzeichnen. Da die Vergleichs¬ 
zahlen über die Verbreitung der Rachitis bei der gesunden bäuerlichen 
Bevölkerung in Livland fehlen, so ist es nicht zu entscheiden, ob die 
Rachitis der Irrenbevölkerung als Teilerscheinung einer allgemein ver¬ 
breiteten Erkrankung aufzufassen oder aber ob die rachitischen Stigmata 
als singuläre Erscheinungen zu bewerten sind. Die Tatsachen der ver¬ 
gleichenden Pathologie 1 ) lehren, daß Tiere, z. B. Affen, welche im Natur¬ 
zustände niemals an rachitischen Knochenveränderungen leiden, in der 
Gefangenschaft, in den Zoologischen Gärten unter dem Einfluß gänzlich 
veränderter Nahrung und Lebensbedingungen rachitisch werden. Nach 
Analogie der tierischen Pathologie dürfte man in diesem gehäuften Auf¬ 
treten der rachitischen Knochenveränderungen bei der Irrenbevölkerung 
Livlands einen Fingerzeig dafür vermuten, daß der livländische Bauern¬ 
stand nicht mehr unter natürlichen Lebensbedingungen dahinlebt, sondern 
sich in einem sozialen Übergangstadium befindet und alle Lebensverhäli- 
nisse sich von Grund aus verändern. Obwohl es zweifellos feststand, daß 
die größte Anzahl dieser rachitisch Befallenen Muttermilch erhalten hatte, 
so fehlte doch der Schutz gegen die Störungen des Wachstums im osteo¬ 
genen Gewebe. Ob die Ansicht von Moll (a. a. O. S. 21) zutrilTt, daß in 
Deutschland auf dem Lande die Rachitis deshalb so häufig angetroffen 
werde, weil die Landleute ihre Wohnungen nicht genügend lüfteten, und 
die respiratorische Theorie der Rachitis ( Kassowilsch) recht hat, soll 
hier nicht weiter untersucht werden. 

Wie bereits hervorgehoben, bildeten die einfachen chroni¬ 
schen Geisteskrankheiten den Hauptbestandteil der Irren- 
bevölkerung der livl. Landesirrenanstalt. Scharf umrissene Krank¬ 
heitsbilder waren nur ausnahmweise zu beobachten. Die Mehrzahl 
der Fälle zeigte ein buntes Gemisch der verschiedenartigsten 

1 ) Hansemann, Rachitis des Schädels, 1901. 


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Beh r, 


Symptome, katatone Erscheinungen, hebephrene Züge, halluzina¬ 
torische und paranoische Zustände. Depressive Zustande, Me¬ 
lancholie, das manisch-depressive Irreseim in all seinen Varianten 
waren Seltenheiten. In den meisten Kranken, welche bei ihrem 
Eintritt in die Anstalt das Bild einer heiteren oder der traurigen 
Erregung darboten, ergab doch über kurz oder lang die Beob¬ 
achtung die Spaltung des psychischen Zusammenhanges, die 
schizophrene Erkrankung, die vorzeitige Demenz der Autoren. 
Ich bin daher geneigt, an der Hand der bisherigen Erfahrungen 
in betreff der Häufigkeitsquote des manisch-depressiven Irreseins 
den Angaben fstems (1. c.) beizupflichten und Qaupp zu wider¬ 
sprechen. Hebephreniem nach dem Typus Kahlbaum-Hecher 
waren selten, Katatonien mit charakteristischem Verlauf wurden 
bei der bäuerlichen Bevölkerung nicht beobachtet. Die wenigen 
typischen Katatonien betrafen Städter. Diese Erfahrung entspricht 
durchaus den Anschauungen eines der ersten Schilderer der 
Katatonie, Jemen, welcher ausdrücklich hervorhob, die Katatonie 
sei bei jungen Leuten vom Lande, „die offen und ehrlich sündigen", 
selten, dagegen häufiger in den Städten 2 ). Krampfkranke 
wurden nur in den Fällen der Anstalt überwiesen, in welchen es 
sich um schwere gemeingefährliche Individuen handelte, oder 
sobald die Krampfanfälle sich häuften (3%). Diese Tatsache ist 
durchaus begreiflich, da der Landmann den Krampfkranken in 
der anfallfreien Zeit nicht missen möchte und seine Arbeitskraft 
ausnutzt. Anders in den Städten, in welchen die Krampfkranken 
so leichte Gelegenheit zum Alkoholgenuß haben und das Bild 
der gewöhnlichen Krampfkrankheit sich mit den Alkoholfolgen 
mischt und die Komplikation dazu zwingt, die Kranken so schnell 
als möglich in den Anstalten unterzubringen. In betreff der 
Klassifikation galt der Gesichtspunkt, nicht das unendlich mannig¬ 
faltige Detail der Krankheitsbilder zu sichten, sondern nach 
Möglichkeit die Wege der Entstehung dieser Zustände klarzulegen 
und zu erfassen. 

Da es sich uni bäuerliche Geisteskranke handelte, so darf es nicht 
weiter wundernehmen, daß der Inhalt der Psychose ein dürftiger war. 

2 ) A. Enzyld. d. W. u . K., Bd. XXXIV (1881). 


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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 651 

..Der philosophische Aufputz“ fehlte, und die Einförmigkeit der bäuer¬ 
lichen Umwelt spiegelte sich in der Wiedergabe ihrer Erfahrung. Selbst¬ 
vorwürfe, Selbstanklagen hörte man selten, komplizierte religiöse Skrupel 
waren unbekannt. Trotzdem die Kirche scharf bekämpft und als „Herren¬ 
kirche“ gescholten wird, besteht doch in den weiten Kreisen der bäuer¬ 
lichen Bevölkerung eine tiefe unmittelbare Religiosität und die Furcht 
vor dem Unglauben. Die Höllenvorstellungen, das Braten in der Hölle, 
die Schlange als Symbol des Bösen spielen eine große Rolle. Mit der Erotik 
haben „die Schlangen“, welche die Menschen peinigen und verfolgen, 
bei der bäuerlichen Bevölkerung nichts zu tun. Das Denken des Land¬ 
mannes ist zu primitiv, um derart verfeinerte Gedankengänge zu bilden. 
Ein Kranker ruhte nicht eher, als bis er 12 giftigen Schlangen, welche 
er in den Anstaltsmooren eingefangen hatte, die Köpfe abbiß. Er war 
sichtlich stolz, „das Böse“ zu bekämpfen. Erotische Wendungen und 
Bilder, Anspielungen aus dem Brunstleben der Tiere sind bei den erregten 
Frauen gewöhnlich, bei den Männern selten. Die anstößigen Reden und 
Gebärden entspringen zum großen Teil der Abwehr. Die geisteskranke 
erregte Frau lebt in beständiger Sorge um ihre geschlechtliche Ehre, und 
das Denken und Reden ist nur darauf bedacht, abzuwehren und die lüsternen 
Männer durch Worte zu bannen. Immer wieder überrascht hinter der 
Flut der Unflätigkeiten der sittliche Kern der Persönlichkeit, die Sehn¬ 
sucht nach der Keuschheit des Lebens im Gegensatz zu den sittenlos 
dahinlebenden Geschlechtsgenossen, deren Unzucht und Liederlichkeit 
ein Greuel ! Sexuelle Perversitäten sind in der bäuerlichen Welt völlig 
unbekannt. Eine gewisse Rolle spielt die Angst vor der sodomitischen 
Unzucht, welche durch biblische Vorstellungen genährt wird. Okkultische 
Vorstellungen, telepathische Einflüsse, Spiritismus und Hypnotismus 
sind dem arbeitenden Landvolke fremd, dagegen lebt der Teufel und der 
Glaube an die Besessenheit *). 

Alljährlich werden der Anstalt Kranke zugeführt, welche jahrelang 
in den Armenhäusern oder in den Zellen der Gemeindehäuser unter den 
allerungünstigsten Verhältnissen gelebt hatten. Man begegnete unter 
denselben wahren Caspar-Hauser-Figuren, und es kostete die größte An¬ 
strengung, diese Vertierten von neuem an Menschen zu gewöhnen. Sie 
reagierten auf jeden Hinzu tretenden mit angstvollem Heulen und Schreien. 
In einem Falle gelang es, den Unglücklichen verhältnismäßig schnell in 
einigen Tagen zu beruhigen, indem man denselben überrumpelte und ihm 
Speisen in der Nase verrieb und seine Geschmacksorgane reizte. Häufig 
litten die Kranken an Kontrakturen der Kniegelenke. In einigen Fällen 
handelte es sich um periartikuläre Veränderungen geringeren Grades, 
und die Kontrakturen waren einer gewissen Therapie zugänglich, in anderen 
Fällen erwiesen sich die Kontrakturen als unheilbar, ln zwei Fällen waren 

*) A. Behr, AUg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 63. 

Zeitschrift für Psychiatrie, LXXV. 6. 44 


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Bein . 


die Sehnenschrumpfungen und die Muskelatrophien beider Kniegelenke 
derart entwickelt, daß die Kranken nur in sitzender Stellung durch Dreh¬ 
bewegungen des Rückens und mit den Händen sich fortbewegen konnten. 
Die Kontrakturen verliefen völlig schmerzlos und prozedierten in keiner 
Weise. Bei der Autopsie des einen Falles fand man die Gelenkknorpel 
und die Knochen völlig gesund, dagegen waren die Flexorensehnen ver¬ 
dickt, geschrumpft und die Muskeln des Gelenkes atrophisch. Cullerre *), 
der ähnliche Fälle beschrieb, deutete diese Kontrakturen nach Analogie 
der Dupuytrenschen und glaubte, sie kämen durch einen dauernden 
inneren Reiz zustande. Die Kontrakturen sind unbedingt auf die un¬ 
günstigen Lebensbedingungen zurückzuführen und wahrscheinlich die 
Folge des beständigen Kauerns auf der Diele und der ungenügenden 
Bewegungsfreiheit. Es sei ausdrücklich bemerkt, daß diesen Kranken 
katatone Symptome fehlten. Die Kontrakturen in dauernd gekrümmten 
Gelenken, welche sich bei den Katatonischen entwickeln, z. B. in den 
Fingergelenken, sind in bezug auf ihre Entstehung aus anderen Ursachen 
herzuleiten. Auffallend häufig dominierten bei den Kranken Kleinhirn- 
symplome, Taumeln, zerebellarer Gang, Ataxie, Adiadochokinese, Hypo¬ 
tonie, nystaktische Erscheinungen usw. Die Kleinhirnsymptome waren 
so hervorstechend, daß man durchaus an die zerebellöse Form der Dementia 
praecox von Dufour u. a. erinnert wurde. Geschwisterpsychosen bildeten 
etwa 11 % der Aufnahmen und zeigten in der Krankheitsform eine weit¬ 
gehende gleichartige Vererbung. Puerperalpsychosen wurden nicht be¬ 
obachtet, Laktationspsychosen waren Ausnahmen. Abgesehen von einigen 
Fällen, welche während der Beobachtung schnell und dauernd verblödeten, 
zeigte die größte Mehrzahl der Kranken nur ein Befallensein gewisser 
Teilgebiete des Seelenlebens, so daß es immer noch möglich war, 50—60 % 
zur Arbeit heranzuziehen und ersprießlich zu beschäftigen. Bei der Unter¬ 
suchung dieser Gruppe bildete das wesentliche in die Augen springende 
Symptom die kindliche Geistesstufe, auf welcher diese Personen ver¬ 
harrten. Die einen erschienen launisch, eigensinnig, läppisch, wider¬ 
strebten bei dem geringsten Widerspruch, waren reizbar und heftig, wenn 
man ihrem Eigenwillen begegnete. Die anderen waren gleichgültig, willen¬ 
los, gutmütig, hilflos und schwach usw. Die Nachforschungen ergaben, 
daß während der Jugend und noch in der Schule niemand bei diesen 
Personen an die Möglichkeit eines Versagens dachte, jedoch bei zunehmen¬ 
den Jahren und wachsenden Ansprüchen fehlte die Fähigkeit, sich in 
andere Verhältnisse zu schicken, und es erfolgte ein Zusammenbruch der 
Persönlichkeit in Form einer psychischen Erkrankung. Nach der seelischen 
Katastrophe verblülTte die Geringfügigkeit der Dauersymptome, die Ein¬ 
förmigkeit der Krankheitsbilder und vor allem das kindische Gebaren. 
Einzelne Schriftsteller deuten dieses jugendliche Wesen der Kranken 

*) Cullerre, Neuro!. Zentralbl. 100i, S. 1116. 


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Uber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 653 

<lahin, daß der Beginn der Psychose in das Jugendalter falle und die 
jugendlichen Züge als Residuen des Lebensalters der Erkrankung aufzu- 
fassen wären ( Tschisch, Krainski 1 )). Diese Auffassung dürfte kaum zu 
Recht bestehen, denn es ist nicht angängig, einen Zeitfaktor für die Form 
der Psychosen als maßgebend hervorzuheben. Die Zeit spielt im Leben 
dieser Menschen die geringste Rolle, wohl aber liegt es in ihrer Anlage 
fest begründet, als „ewige Kinder“ ihre Tage zu beschließen und in ihrer 
seelischen Entwicklung auf einer Jugendstufe zurückzubleiben. Während 
ihrer Jugendjahre sind diese psychisch infantilen Konstitutionen schwer 
gefährdet und beanspruchen in der Erziehung eine große Sorgsamkeit. 
Der unbedeutendste Vorfall, irgendein unerwartetes Ereignis wirft sie 
aus dem Geleis und erzeugt pathologische Reaktionen. Ist man auch 
geneigt, die Angaben der Angehörigen in betreff der Ursachen der psy¬ 
chischen Erkrankung noch so gering zu werten, so läßt es sich andererseits 
nicht in Abrede stellen, daß im Leben vieler Geisteskranken von einem 
bestimmten Zeitpunkt an eine Art Riß eintritt, welcher die Persönlichkeit 
in der Zeit gleichsam teilt und einen kranken Zeitabschnitt von eJnem 
relativ gesunden scheidet. Immer wieder erstaunt man über die Gering¬ 
fügigkeit der Anlässe, welche nach der Meinung der Angehörigen derart 
schwere Defektzustände hervorrnfen. Ein junges Mädchen geht in die 
Stadt, um einen Dienst anzutreten, und wird beim Antritt ihrer Stelle 
geisteskrank. Eine Herdenhüterin begegnet im langvertrauten Revier 
einemOrtsfremden und kommt geisteskrank nach Hause usw. Soll man 
diese Angaben in Bausch und Bogen verwerfen, oder aber liegt, diesen 
Erzählungen ein wahrer Kern zugrunde ? Prüft man alsdann die angeblich 
plötzlich Erschütterten, so findet man seelisch-infantile Individuen von 
kindlicher Art und kindlichem Gebaren. Aus einer Affektschwankung 
entwickelt sich ein Dauerzustand. Sie waren nicht imstande, ihre Erleb¬ 
nisse rücksichtlich der Folgen einzuschätzen, und erlagen äußeren Ein¬ 
wirkungen. Die Gemütsbewegung, der Affekt wirkt auf diese wahrhaft 
Armen im Geist vernichtend, denn ihre kindliche Artung verträgt keinerlei 
unvorhergesehene Ereignisse. Für diese Konstitutionen besteht die Auf¬ 
fassung von der Bedingtheit der Psychose durch seelische Einwirkung 
zu Recht und entspricht der Erfahrung. Die psychogene Entstehung 
der Geisteskrankheiten ist ein Stigma des seelischen Infantilismus und 
für denselben charakteristisch. Offenbar hatte Legrand du Saulle in seinem 
bekannten Werk über die erbliche Geistesstörung seelisch-infantile K 011 - 
situtionen vor Augen, wenn er Persönlichkeiten schildert, welche auf 
unbedeutende Ursachen ungewöhnlich reagieren, und bei denen in betreff 
der Auslösung der Psychose ein Mißverhältnis bestand zwischen Ursache 
und Wirkung. Welche Bedeutung die Gemütsbewegungen im Leben der 

l ) Tschisch, Krainski, Psychiatr. Zeitschr. (russisch) Nr. 7, S. 164, 
1917; vgl. ferner Rizor, Arch. f. Psych. Bd. 4:1, S. 766. 

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ßehr, 


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chronischen Geisteskranken von seelisch-infantiler Artung besitzen, lä:; 
sich während ihres Anstaltaufenthaltes handgreiflich beobachten. In 
pathologischen Reaktionen, welche sich vor unseren Augen abspielen, e 
statten durchaus einen Rückschluß auf die Möglichkeit der Entstehungv- 
Geisteskrankheiten im Anschuß an seelische Erlebnisse. Ein typis: 
seelisch-infantiles Mädchen, welches mehrere Jahre ruhig und gleichmaLc. 
in der Anstalt dahinlebte, traf unerwartet auf dem Anstaltshofe ihr-: 
gestrengen Vater. Sie reagierte augenblicklich mit einem schweren A».* 
tationszustande. Derartige Zustände, welche bisher nicht beobacht¬ 
waren, traten von nun ab in gewissen Zeiträumen immer wieder her 
und komplizierten das Krankheitsbild. Ein seelisch-infantiler Mar 
begegnete seiner Mutter, nach der er sich innig sehnte und von der er ü 
E rfüllung seines Wunsches, die Anstalt zu verlassen, erhoffte. Als a 
Mutter seinem Wunsche nicht nachgab, veränderte er sich in wenig: 
Stunden. Er stürzte sich aus dem Fenster und verfiel in einen vorüb: 
gehenden Traumzustand., Bis zu diesem Vorfall hatte der Kranke p 
arbeitet, nach diesem Vorfall war für mehrere Jahre die Arbeitslust ue 
das Können erloschen. Ein freundliches, schweigsames, kindliches Inrf 
viduum geriet beim Wiedersehen seines herrischen Vormundes undOnk-: 
in einen schweren Zornzustand, aus dem sie sich nur langsam erhol: 
Wiederholt konnte man es erleben, daß emsige, fleißige Kranke nach d-, 
Wiedersehen der Ihrigen die Beschäftigung aufgaben und es nicht mögt': 
war, dieselben von neuem an eine geordnete Arbeit zu gewöhnen. Ander¬ 
seits ließ sich beobachten, daß tiefe Stuporzustande nach dem Wiedersehn 
lieber Angehöriger schwanden und die Kranken sich arbeitfähig erwieset 
Aus diesen Beispielen, welche sich ja noch unendlich vermehren ließ- 
ersieht man die Rolle, -welche Gemütsbewegungen spielen. Teilwe;- 
verschlimmern die Affekte vorhandene Zustände, andererseits lösen > 
Hemmungen und erleichtern gewissen Individuen das Verhalten zu- 
Außenwelt. Die Bedeutung der Gemütsbewegungen im Leben der mar 
sehen Konstitutionen ist ja so sinnfällig wie nur möglich und seit jeh 
bekannt. Bei einem zirkulär veranlagten Manne wich die depressive Ph.v 
plötzlich in wenigen Stunden bei der Nachricht, ihm sei die Ehrenmitglh ’ 
schalt eines Sängerbundes zuteil geworden. Der psychische Infae 
tilismus ist im Gegensatz zu dem körperlichen Infantilismus nicht - 
genau bekannt, wie er es seiner Bedeutung nach verdiente. In d<- 
Tat, es ist schwierig, die Kennzeichen des psychischen Infantilismi 
objektiv und einwandfrei darzustellen und den psychischen Infantilismi 
gegenüber der Norm abzugrenzen. Die Schilderungen der Autoren üb- 
diese „lebenslänglichen Kinder“ mit ihrer „artfremden JugendbestAndii 
keit“ und ihrer eigenartigen Reaktion auf das „äußere Lebensprobien 
gelten immer nur für sehr prägnante charakteristische Fälle. In pra\ 
ist man jedoch gezwungen, die Grenzen dieser Gruppe weiter zu steck- ■ 
und vor allem diejenigen psychisch Infantilen festzustellen, bei denen 


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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 655 

kein Parallelismus zwischen somatischen und psychischen Kennzeichen 
äußerlich festzustellen ist 1 ). Das Stehenbleiben auf einer kindlichen Geistes¬ 
stufe, der Stillstand der geistigen Entwickung, die mangelhafte Aus¬ 
bildung derjenigen geistigen Funktionen, welche zum Lebenskämpfe 
befähigen, charakterisieren den seelischen Infantilismus. Um diesen Kern 
gruppieren sich die verschiedenartigen klinischen Bilder, welche zum Teil 
durch die Umwelt, zum Teil durch die individuelle Anlage bestimmt 
"werden. Der Infantilismus ist der Gattungsbegriff, zu dem sich die ein¬ 
zelnen klinischen Formen verhalten wie Arten. Vor allem scheint das 
Gefühlsleben der Infantilen der Regsamkeit zu entbehren und zeigt einen 
geringen Umfang, eine gewisse Enge, wie man nach Analogie der Bewußt¬ 
seinsenge sagen dürfte. In einigen Fällen gewinnt ein Unlust- oder Lust.- 
komplex schnell die Oberhand und verharrt, ohne daß eine Lösung ein- 
tritt, in anderen Fällen erschöpft sich das Gefühlsleben in kurzer Lebens¬ 
frist und ist nicht imstande sich zu regenerieren. Der Gemütszustand der 
Stimmungskranken und der Psychisch-Infantilen ist nahe verwandt, 
bei den Stimmungskranken fehlt das innere Gleichgewicht, bei den In¬ 
fantilen die Möglichkeit einer Umstimmung. Unbedingt muß diesen 
schweren Störungen des Gefühlslebens ein anatomisches Substrat ent¬ 
sprechen, sei es im Zentralapparat, sei es in den Bahnen. Es hat manches 
für sich, für einzelne Fälle eine Verkümmerung der HeÜweg&cYien Bahnen 
.anzunehmen und die Gedankengänge von Thalbitzer*) weiter zu ver¬ 
folgen. In anderen Fällen weisen die funktionellen Infantilismen auf die 
Schwäche des zentralen, spinalen Systems, wie z. B. das häufige Auftreten 
-des Babinski -Reflexes als Schutzreflex, bei völlig intakter motorischer 
Bahn, oder die „rhythmische Betonung“ gewisser Bewegungen, auf welche 
Fauser 8 ) verwiesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehören auch die 
Fälle der Dementia praecox, w r elche nach Jung A ) auf psychogenem Wege 
zustande kommen, zu der Gruppe der Psychisch-Infantilen und sind von 
dieser Voraussetzung aus zu bewerten. Dieses Stehenbleiben auf einer 
kindlichen Stufe'hatte schon Hecker für die Hebephrenen gefolgert, und in 
neuerer Zeit wurde dieser Gesichtspunkt für die Darstellung des Jugend¬ 
irreseins von Cramer und seiner Schule eingehend erörtert 6 ). Der Index 
der Persönlichkeit, das Maß der seelischen Konstitution bildet die Reaktion 
auf äußere Erschütterungen und die Fähigkeit der Anpassung an das 
Leben mit seinen Nöten und Qualen. 

*) Mathes, Der Infantilismus (daselbst die ganze Literatur), Berlin 
1912; ferner wichtig Anton, Entwicklungsstörungen beim Kinde, 1908, 
und Digaspero, Arch. f. Psych. Bd. 43. 

*) Thalbitzer , Arch. f. Psych. Bd. 47. 

3 ) Fauser, Allg. Zeitschr. Bd. 64. 

4 ) Jung, Psychologie der Dementia praecox, 1907. 

3 ) Jtizor, a. a. O., und Pförringer, M. f. Psych. u. Neurol. Bd. 29. 


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Behr, 


6:j() 

Abgesehen von der individuellen pathologischen Reaktion auf 
Gemütsbewegungen, beobachtet man in den verschiedenen Kulturkreisen 
einen deutlichen Unterschied in bezug auf das Verhalten gegenüber den 
AITekten. Die Psyche der Landleute, die Psyche aller derjenigen Menschen, 
welche noch auf einer einfachen Lebensstufe stehen und eine monotone 
Lebensarbeit verrichten, unterliegt an sich leichter einer AfTektwirkung 
als die Psyche der Menschen der höheren Kulturkreise. Die Persönlich¬ 
keiten der niederen Kulturkreise sind nicht imstande, ihre Erlebnisse und 
Eindrücke schnell und sicher zu verarbeiten und rücksichtlich des Kommen¬ 
den richtig einzuschützen, und es währt stets längere Zeit, bis dieselben 
die Dignität zweier aufeinander folgender Ereignisse beurteilen und aus¬ 
einanderhalten. Dagegen spielen in dem Seelenleben derjenigen Personen, 
welche durch Erziehung, Disziplin oder durch den gesellschaftlichen 
Zwang, mit einem Wort durch Bildung erlernt haben, ihre Gemütsbe¬ 
wegungen zu beherrschen, die Affekte eine geringere Rolle als bei den¬ 
jenigen, welche nicht von Jugend auf dazu angehalten wurden, die Lebens¬ 
ereignisse zu sichten und hinsichtlich ihres Wertes zu scheiden. Die Bil¬ 
dung 1 ) eines Menschen besteht nicht in dem reicheren oder größeren 
Vorstellungsmaterial, über welches der einzelne verfügt, sondern wesent¬ 
lich in der Eigenschaft, schnell von verschiedenen Gesichtspunkten aus 
die äußeren Ereignisse zu betrachten, das Wichtige von dem Unwichtigen 
zu trennen und die Beziehungen zwischen Innenwelt und Umwelt im 
Gleichgewicht zu erhalten. Die Erziehung lehrt den einzelnen reflektieren 
und erw’eckt die Befähigung, die unmittelbaren Zustände auseinander¬ 
zuhalten und dieselben mehr oder weniger nach der Dignität zu beurteilen. 
Aus diesem Grunde erliegen so leicht Ungebildete AfTektwirkungen und 
ähneln in der Reaktion Jugendlichen oder Kindern. Der Mangel an Re¬ 
flexion spannt die Erwartung; gläubig und hoffnungvoll erwarten die 
Massen der niederen Kulturkreise immer etwas Außerordentliches und 
horchen auf die innere Stimme ihrer unmittelbaren Zustände. Es ist daher 
nur zu begreiflich, daß es unter Umständen leicht und schnell gelingt, 
die Massen zu bewegen, wenn man es versteht, die unmittelbare Erwartung 
zu erregen und die Gefühlsverkettung durch Illusionen undj.Worte zu 
Taten zu leiten. Im Gegensatz zu diesen Affektreaktionen auf individuelle 
persönliche Erlebnisse überrascht die völlige Gleichgültigkeit und Immuni¬ 
tät gegenüber allen äußeren Gewalten, sei es Krieg oder Revolution. 
Obwohl in der Nähe der Front und mitten in der Revolution lebend, wurde 
auch nicht ein einziger Geisteskranker beobachtet, welcher infolge dieser 
schwerwiegenden Ereignisse innerlich berührt oder hierdurch geisteskrank 
geworden wäre. Die Psychisch-Kranken, welche während der Kriegsereig¬ 
nisse an der Kriegszone eingeliefert wurden, machten auch nicht den leisesten 
Versuch, Luftbomben oder Kanonaden als Ursache der Erkrankung anzu- 

Vgl. J. E. Erdmann, Glauben und Wissen, 1837, S. 33. 


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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 657 

geben, sondern nach wie vor waren es persönliche individuelle Ursachen, 
welche Affekte erzeugt hatten und die Psychose auslösten (Arger usw.). 
Täglich rollten ganze Wagenburgen von Flüchtlingen auf den Land¬ 
straßen, welche Haus und Hof aufgeben mußten, welche alles verloren 
hatten, aber daß im Zusammenhänge mit der Flucht irgendeiner geistes¬ 
krank geworden wäre, wurde hier nicht beobachtet, i Dagegen waren nach 
dem Vormarsch der Deutschen an die Düna die Landstraßen angefüllt 
mit Idioten, Imbezillen, schwachsinnigen Epileptikern und Debilen aller 
Art, welche Aufnahme fanden. Derselbe Mann, welcher voller Ärger über 
den verlorenen Groschen raste und seinen Affekten freies Spiel ließ, fügte 
sich ruhig und gleichmütig höheren Gewalten, und die Gemütserschütie- 
rungen unterblieben. 

Die Leichtigkeit der pathologischen Reaktion auf individuelle Er¬ 
lebnisse wird häufig geradezu als Rasseneigenschaft angesprochen. Um 
nur ein derartiges Beispiel anzuführen, schreibt Riebel x ) in einer Ab¬ 
handlung über nervöse Nachkrankheiten infolge eines Eisenbahnunglücks 
bei Mühlheim: ,,Die ganze slawische Rasse neigt leicht zu psychischen 
Zuständen.“ Dieses Urteil fußte auf der Tatsache, daß von den Ver¬ 
unglückten an nervösen Folgeerkrankungen eine unverhältnismäßig 
größere Anzahl von polnischen Soldaten befallen waren als die deutschen • 
Kameraden. Ohne auf die allgemeine Seite dieser Frage einzugehen, 
sei im speziellen Falle kurz darauf verwiesen, daß bei der Gegenüber¬ 
stellung von Polen und Deutschen die Verunglückten nach der Rasse, 
nicht aber nach ihrer sozialen Gliederung geschieden waren. Der Bildungs¬ 
unterschied zwischen Polen und Deutschen ist noch immer ein großer, 
und cum grano salis gilt noch heute der Begriff der „polnischen Wirt¬ 
schaft“. Unzweifelhaft lebt die große Masse der Polen in primitiveren 
Verhältnissen als die umwohnenden Deutschen, und die Assimilation 
in bezug auf Sitten und Anschauungen ist nur eine äußere. In dem er¬ 
wähnten Beispiele wäre die stärkere Beteiligung der polnischen Soldaten 
an Nervenkrankheiten weniger ein Rassenstigma als ein Kennzeichen 
des geringeren allgemeinen Bildungsniveaus und der fehlenden Erziehung 
in bezug auf die Reaktion bei unerwarteten Erlebnissen. Was von den 
Polen gilt, gilt überhaupt von allon Völkern und Menschen, welche in 
einem gewissen Sinne noch primitiv leben oder aber durch ihren Beruf 
einförmige Anschauungen bew'ahren. Das gleiche Verhalten beobachten 
wir auch bei den Ostjuden, deren Affektreaktionen geradezu sprichwörtlich 
sind, und deren geringere Bildungstufe in dem vorhin durchgeführten 
Sinn ihren Umwohnern gegenüber evident hervortritt. Die Jahrhunderte 
lange Enge des Ghetto, die Abgeschlossenheit des Familienlebens erzeugte 
trotz reichhaltiger intellektueller Ausbildung eine Vernachlässigung der¬ 
jenigen Seiten der Charakterbildung, welche vornehmlich den Bildungs- 

1 ) Riebel, Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 31, Erg.-Heft. 


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Hehr. 


begrill charakterisieren. Bei den slawischen Völkern fehlte bis in die 
Gegenwart hinein eine ständische Gliederung in der Form, wie sich dieselbe 
in Westeuropa geschichtlich entwickelt hatte. Der Abstand zwischen 
den niederen Volksschichten und den höheren Kreisen ist ein bedeutender, 
und es mangelt die verbindende Mittelschicht. Die intellektuelle Aus¬ 
bildung gestattet jedem einzelnen einen direkten Aufstieg in die höheren 
Kulturkreise, welche in bezug auf Anschauungen und Sitten den Volks¬ 
kreisen denkbar entgegengesetzt sind. Daher begegnet man in den so¬ 
genannten höheren Kreisen der slawischen Gesellschaft so überaus hoch¬ 
stehenden' Intellektuellen, deren übrige Bildung in keiner Weise ihrem 
Vorstellungsreichtum entspricht. Aus diesen gesellschaftlichen Wider¬ 
sprüchen entspringen AfTektreaktionen, Lebensauffassungen und eine 
Zerrissenheit des inneren Menschen, welche der westeuropäischen Gesell¬ 
schaft fremd sind. Die einzelnen Volkskreise in Westeuropa sind in sich 
einheitlicher und geschlossener und fußen auf der Tradition, einem BegrifT, 
welcher sich in seiner historischen Bedeutung bei den osteuropäischen 
Kulturkreisen in dem westeuropäischen Sinne nicht vorfindet. Aus diesem 
* Grunde bestehen in der osteuropäischen Gesellschaft die großen Gegen¬ 
sätze und das fast feindliche Gegenübertreten zweier £ Kulturkreise, der 
intellektuellen Oberschicht und des Bauernstandes, welche jeder Ver¬ 
mittelung entbehren. Bei der Beurteilung von Rasseneigenschaften als 
ätiologischen Krankheitsfaktoren wird leider oft gefehlt. Das historisch 
Gewordene, das anthropogene Moment wird als endogenes Stammeserbe 
bewertet und beurteilt. — Um die Frage der Affektreaktionen bei den 
Gebildeten und Ungebildeten zu entscheiden, wäre es überaus wichtig zu 
erfahren, wie die Naturvölker auf unerwartete Erlebnisse individuell 
reagieren. Die Literatur bietet nach diesfer Richtung nicht die gewünschte 
Ausbeute, und in einzelnen Fällen kann man geradezu nachweisen, daß 
die aufeinanderfolgenden Autoren entweder alle aus derselben Quelle 
schöpfen oder die diesbezüglichen Angaben einer von dem andern über¬ 
nehmen. Im Jahre 1832 schrieb Friedreich in seiner Diagnostik der psychi¬ 
schen Krankheiten (S. 101) im Anschluß an eine geographische Nosologie 
von Schurrer über die Samojeden und Lappen: ,,Es leiden diese Völker 
überhaupt an einer auffallenden Reizbarkeit des Nervensystems. Der 
unbedeutende Schall, den sie nicht erwarten, das Pfeifen des Windes usw., 
kann sie in Ohnmächten und Zuckungen versetzen. Wenn man ihnen 
unerwartet und plötzlich zuruft, bekommen sie Krämpfe usw.“ Emming- 
haus berichtet in seiner allgemeinen Psychopathologie 1878 wörtlich 
dasselbe und Byhan in seiner Monographie der Polarvölker 1909 S. 33 
wiederholt wortgetreu dieselben Sätze ohne Angaben und Quellen. An 
sich hat es viel Wahrscheinlichkeit, daß die Naturvölker auf unerwartete 
Ereignisse ähnlich reagieren wie jugendliche Personen oder die Angehörigen 
der niederen Kulturkreise, denn das Denken der Primitiven ist im Ver¬ 
hältnis zur Phantasie nur schwach entwickelt und träge. Der primitive 


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Über die Form der Psychose» bei der Landbevölkerung in Livland usw. 659 

Mensch sieht unter „der Herrschaft des Unglaubwürdigen“, und jedes 
Ereignis, welches vom Gewöhnlichen abweicht, erregt seine Einbildungs¬ 
kraft und schafTt innere Bedrängnisse. Einerseits j^t der primitive Mensch 
frei von allen geselligen Fesseln und „durchstreift als Freiherr seine Jagd¬ 
reviere“, andererseits aber ist er eingeschüchtert durch eine „kindische 
Gespensterfurcht“ und durch „jeden tratzenhaften Traum“ (Peschei). 
Dieser Mangel an Selbstvertrauen, die Unfähigkeit, die Ereignisse in ihrer 
Dignität zu übersehen, erzeugt den lebhaften Wunsch nach Schutz gegen 
unerwartete, unvorhergesehene Vorkommnisse und führt zur Sicherung 
der Person durch magische Handlungen, Amulette usw. In gleicher Weise 
ist der bäuerliche Mensch, soweit er noch tatsächlich diesen Namen ver¬ 
dient, beseelt von dem Wunsche, sich gegen Unvorhergesehenes zu sichern 
und durch Zaubermittel zu schützen. Da es sich in praxi jedoch als un¬ 
möglich erweist, sich gegen alles Unerwartete zu versichern, so erzeugt 
diese innere Knechtschaft zumal bei minderwertig Veranlagten nur gar zu 
leicht krankhafte Reaktionen And affektive Zustände. In allen Kultur¬ 
kreisen stößt man auf Familien, in welchen Affektreaktionen geradezu 
gezüchtet und in den folgenden Generationen nachgeahmt werden. Der¬ 
artige Affektreaktionen gelten hernach als Konstitutionsanomalien, ob¬ 
wohl es sich in Wirklichkeit durchaus um erwbrbene, nicht notwendig zur 
Persönlichkeit gehörige, erstarrte Reaktionsformen handelt. Manche 
Fälle von familiärem Selbstmord sind von diesem Gesichtspunkte aus zu 
deuten. In zwei Arbeiterfamilien meiner Praxis wurden die Stricke, mit 
welchen sich die Vorfahren erhängt hatten, in den nächsten Generationen 
in der Familientruhe aufbewahrt. Die Enkel hüteten diesen Schatz und 
versicherten, sie würden genau so handeln, wie Vater und Großvater resp. 
Großmutter und Vater und sich unter Umständen mit denselben Stricken 
erhängen wie jene ! Besteht die Auffassung zu Recht, daß die psychisch 
Infantilen leichter als andere Konstitutionen auf unerwartete Ereignisse 
mit Affekten reagieren, so wäre die Wirkung des Schreckes auf viele 
Menschen verständlich und die Entstehung der Schreckpsychosen durch¬ 
aus begreiflich 1 ). Unbegreiflich und geradezu naiv berühren dagegen Er¬ 
zählungen wie die von Hak-Tuke in seinem bekannten Werke „Geist und 
Körper“ S. 106 von einem in der Wiege liegenden Kinde, welches durch 
den Flügelschlag eines Hahnes derart heftig erschrak, daß es als Idiot (!) 
aufwuchs. Die Auffassung, daß psychische Ursachen Geisteskrankheiten 
auslösen, ist in den bäuerlichen Kreisen festgewurzelt. Jeder einzelne 
dieses Kulturkreises erwächst in diesem Glauben und erwartet unbedingt 
bei unvorhergesehenen Erlebnissen die Schreckwirkung. Es ist daher 
selbstredend, daß die Psychisch-Infantilen, welche diesen Kulturkreisen 

*) Vgl. über die psychischen Ursachen der Psychosen die sehr 
lesenswerte kritische Zusammenstellung bei Reichardt, Würzb. Abh. VIII, 
S. 12:5. 


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entstammen und in einer auf den Schreck eingestellten Umwelt leben, 
unter Umständen schnell reagieren und der AfTektwirkung unterliegen. 
In den städtischen KuUurkreisen ist der einzelne dem Unerwarteten gegen¬ 
über bedeutend abgestumpfter als in den ländlichen Verhältnissen. Dem 
Städter fehlt das Ahnungvolle, der Glaube an das Übersinnliche, und das 
Unerwartete imponiert nicht mehr in dem Grade wie in primitiven Ver¬ 
hältnissen. Da die AfTektreaktionen von Kultureinflüssen und Umwelt 
abhängen, so ist es nicht ausgeschlossen, durch Bildung und Erziehung 
„suggestiv“ zu wirken und zahlreiche schwache Konstitutionen so weit zu 
festigen, daß dieselben nicht notwendig dem Unerwarteten zum Opfer 
fallen, sondern wiederstandfähiger dem Leben begegnen. Die Prophylaxe 
gegen die AfTektschäden ist möglich, denn es können „selbst Personen 
mit den schwächsten Seelen eine unbedingte Herrschaft über ihre Leiden¬ 
schaften gewinnen, wenn auf deren Erziehung und Leitung die notwendige 
Sorgfalt verwendet wird“ ( Cartesius). 

Die einfachen endogenen Defektpsychosen bilden gewisser¬ 
maßen die Urformen der Psychosen und begleiteten den Menschen 
seit undenklichen Zeiten. Es ist wahrscheinlich, daß diese Ur- 
Psychosen sich in gewissen Grenzen hielten, so lange die Mehrzahl 
der Menschen auf dem Lande lebte und die Kulturschäden der 
Städte sich nicht in dem Maße bemerkbar machten, wie in der 
Gegenwart, in welcher der lebhafte Verkehr die Grenzen von 
Stadt und Land aufhebt, der Gedankenaustausch durch die Presse 
die Eigenart des Landes verwischt, der städtische Einfluß sich in 
allen Beziehungen bemerkbar macht und die Unterschiede von 
Stadt und Land mehr und mehr verschwinden. Wenn die 
Missionare und Reisenden aus Ländern mit einer primitiven 
Kulturstufe so wenig von Geisteskranken berichten, so ist sicherlich 
nicht der Zufall allein im "Spiel, sondern die Zahl der verpflegung¬ 
bedürftigen Geisteskranken ist direkt abhängig von den sozialen 
Faktoren des Landes. Im Jahre 1846 schrieb der Gouverneur 
von Estland, daß die Zahl d$r Wahnsinnigen, welche ihrem 
Zustande nach eine besondere Verpflegung bedürfen, äußerst 
gering sei, und daß im Laufe mehrerer Jahre nicht ein Wahn¬ 
sinniger vorgekommen sei, der für Rechnung des Kollegiums der 
allgemeinen Fürsorge zu unterhalten gewesen wäre. Wenn auch 
ein derartiges Schreiben heute anachronistisch anmutet, es ist 
trotzdem als sicher anzusehen, daß vor 60 und mehr Jahren die 
Zahl der Geisteskranken in den Ostseeprovinzen weniger hervor- 


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Uber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 6(31 

trat als in des Gegenwart, da das Land seinen Charakter ver¬ 
ändert und die primitiven Zustände verschwinden. Die stets 
wachsende Zahl der verpflegungbedürftigen Geisteskranken ist 
der Reflex der sozialen Umbildung und der Auflösung der histori¬ 
schen Struktur des Landes. Der^ neuerdings wieder hörbare Ruf: 
Zurück aufs Land, kommt zu spät. Das alte Wort von Guislain 
läßt sich auch auf Livland anwenden: „ln der gegenwärtigen 
sozialen Erziehung liegen große Gefahren für das Gemüt, in ihr 
liegen viele Leiden, solche jener Menschenklassen, welche die 
Verhältnisse verlassen, auf die sie die Natur angewiesen.“ Vor¬ 
wiegend ist das lettische Landvolk an dieser sozialen Umwandlung 
beteiligt, und in diesem Umstand liegt der Schlüssel zur Psycho¬ 
logie so vieler auffallender Eigenschaften dieses Volkes, vor 
allem der Neigung zu extremen sozialen Strömungen und phan¬ 
tastischen sozialen Experimenten. Die in Westeuropa heimischen 
sozialen Ideen gelangen zu einem Volke, welches sich von der 
Scholle und den althergebrachten Anschauungen löste, und welches 
in einer Umwälzung begriffen ist. Begierig werden mit dem 
neuen Wohnsitz die neuen Ideen eingesogen und der bäuerliche 
Volkscharakter verändert. Auf die noch zu Hause verbleibenden 
Volksgenossen wirken die neuen Ideen magnetisch, und der 
soziale Auflösungsprozeß schreitet unaufhaltsam fort. Anders die 
Esten! Noch haftet der estnische Landmann in seiner Mehrzahl 
am Boden, er breitet sich aus, ist fruchtbar und erobert alljährlich 
neue Landstrecken. Der Este ist nicht in dem Maße der sozialen 
Umschmelzung unterworfen wie der Lette. — In Livland lebten 
im Jahre 1893 auf dem Lande und in den Städten 563 829 Letten 
und 518 594 Esten. Die Letten gehören in bezug auf ihre 
Sprache zum indogermanischen Sprachstamm, die Esten zu dem 
finnisch-ugrischen Sprachstamm. Ob zwischen diesen beiden 
Volksgruppen auffällige Rassenunterschiede bestehen, erscheint 
fraglich, zumal wenn man erwägt, daß beide Völker seit Jahr¬ 
hunderten dasselbe Land bewohnen, die gleichen Schicksale teilen 
und derselben Konfession angehören. Die ursprünglichen Rassen- 


*) Jaspers, Psychopathologie; Kap. VII; Die soziologischen Be¬ 
ziehungen des abnormen Seelenlebens. 


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unterschiede sind im Laufe der Zeiten durch zahlreiche Kreuzungen 
mit den Umwohnern und Zuwanderern längst verwischt, und in 
der Gegenwart bildet die Verschiedenheit der Sprache den wesent¬ 
lichen Unterschied der Völker. Die Letten und Esten waren 
bis vor einigen Dezennien ausschließlich. Landbewohner und 
unterschieden sich als Bauernvölker von der städtischen Bevölke¬ 
rung, welche vorwiegend sich aus- Deutschen zusammensetzte. 
Der Gegensatz von Stadt und Land wurde durch die Verschieden¬ 
heit der Sprache, dort deutsch, hier lettisch resp. estnisch, und 
die verschiedene soziale Stellung wesentlich verschärft und die 
Kluft zwischen Deutschen und Undeutschen tiefer als in Ländern 
mit einer einheitlichen Bevölkerungsgruppe. Die Form der 
Psychosen zeigt daher bei Letten und Esten keinerlei prinzipielle 
Unterschiede, es sei denn in neuerer Zeit den Gegensatz Stadt 
und Land. In den städtischen Kulturkreisen öberwiegen die 
äußeren Schäden, auf dem Lande besteht eine größere Abhängig¬ 
keit von inneren Faktoren. Dort sind es mehr Kulturschäden, 
hier Affektschäden, welche die Psychosen bedingen und charak¬ 
terisieren. H. Sichert (1. c.) beobachtete bei der lettischen Irren¬ 
bevölkerung des kurländischen Industriebezirkes Libau anscheinend 
ein stärkeres Hervortreten katatoner Züge und ungewöhnlich 
häufig das Auftreten melancholischer Störungen im Vergleiche 
mit den übrigen Bevölkerungsgruppen, den Deutschen, Russen 
und Juden. Ob diese Verschiedenheit auf die veränderten Lebens¬ 
bedingungen in der städtischen Umwelt zurückzuführen ist, oder 
ob andere Faktoren diese völkischen Differenzen in der Form 
der Psychosen bestimmen, ist schwer zu entscheiden. Die Meinung 
russischer Irrenärzte (Mamonow, Herzenstein), welche auf Grund 
der Rekrutenaushebung der Jahre 1876—1882 gewonnen war, 
daß die Letten und Esten häufiger an den Formen des degene- 
rativen Irreseins litten, als die übrigen Völkerschaften des Russi¬ 
schen Reiches, soll nur nebenher erwähnt werden. Die Resultate 
der Rekrutenaushebung sind in keiner Weise ausreichend und zu 
einseitig, um derart schwerwiegende völkerpsychiatrische Fragen 
zu entscheiden. Die annähernd gleiche Zahl der Geisteskranken 
bei den Letten und Esten (1:128. cf. Luiga 1 . c.) wie auch in 
den übrigen Kulturländern Europas, beweist, daß trotz gewisser 


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über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 663 


kultureller Verschiedenheiten in der gesamten europäischen Kultur¬ 
welt doch gleiche Lebensbedingungen vorhanden und die gleichen 
Schädlichkeiten wirksam sind. Die soziologischen Faktoren 
bestimmen sowohl die Form der Psychosen als auch die Art 
ihrer Verbreitung, „und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle 
Gestalten mächtig zurück“ (Goethe). 


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Die Vorgeschichte hei Neurosen und ihre Be¬ 
deutung für die Dienstbeschädigungsfrage. 

Ein Hinweis. 

Von 

Stabsarzt Dr. Max Rohde in Erfurt. 

Die alten Streitfragen, die sich schon seit langen Jahren an 
den Begriff der traumatischen Neurose knüpften, haben durch 
ddn Krieg für den Militärarzt eine besondere praktische Bedeutung 
gewonnen und zwar mit Rücksicht auf die Notwendigkeit, zu 
entscheiden, ob für die im Kriege hervorgetretenen Zustände dieser 
Art eine Dienstbeschädigung bezw. Kriegsdienstbeschädigung an¬ 
zunehmen ist oder nicht. 

Die sich hieraus ergebenden Fragen sind denn auch noch nicht 
wieder zur Ruhe gekommen, seit sie im Kriege zuerst auf der Kriegstagung 
der Gesellschaft deutscher Nervenärzte zu München am 22. und 23. 9. 16 
zurjDiskussion standen, und noch immer stehen sich ziemlich unvermittelt 
zwei Ansichten dabei gegenüber. Auf der einen Seite stellt Oppenheim — 
freilich ohne die thymogene Ätiologie und die ideogene Entstehung von 
Symptomen dabei zu leugnen — die Wirksamkeit des mechanischen 
Insults in den Vordergrund und hebt aufs entschiedenste die traumatische 
Neurose als eigene Krankheit immer wieder hervor, während auf der andern 
Seite besonders Caupp und Bonhöffer das Hauptgewicht auf den endogenen 
Faktor legen und die Folgeerscheinungen eines Traumas nur als eine in 
der krankhaften Anlage, der prämorbiden Persönlichkeit begründete Re¬ 
aktion auffassen, die sich in kurzer Zeit wieder ausgleichen würde, wenn 
nicht sekundäre, vorn Trauma unabhängige seelische Vorgänge (Wünsche. 
Begehrungen) den Ausgleich hintanhielten. Demgemäß hat schon Caupp 
in der Sitzung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte vom 22. und 23. 9. 16 
betont, daß die Prognose der kriegsneurotischen Zustände hauptsächlich 
von der prämorbiden Persönlichkeit, ihrem Charakter und ihrer seelischen 
Stellungnahme zum Kriege, vom Ort und von der Behandlung, von der 
Dauer des Krieges, der Gestaltung des Arbeitsmarktes und der Lösung der 
Renten- und Abfindungsfragen abhänge, und er hat im Schlußwort vor- 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 665 

Jangl, daß zu den neurologischen Detailuntersuchungen der Krankheits¬ 
bilder die psychiatrisch-psychologische Gesamtanalyse der Persönlichkeit 
und nachdrückliche Bewertung der allgemeinen Erfahrungen soziologischer 
und statistischer Art hinzutreten müssen. Ich will hier nicht auf die 
ganze seither entstandene Literatur zu diesen Fragen eingehen; die kürzlich 
erschienenen „Anhaltspunkte für die militärärztliche Beurteilung der 
Frage der Dienstbeschädigung oder Kriegsdienstbeschädigung bei den 
häufigsten psychischen und nervösen Erkrankungen der Heeresa(igehörigon 
(auf Grund von Beratungen des Wissenschaftlichen Senats bei der Kaiser 
Wilhelm-Akademie)“ kommen auf Grund aller Erfahrungen zu folgenden 
hauptsächlichsten Feststellungen: 

„Bei. der psychopathischen Konstitution und den angebornen 
Schwachsinnsformen liegt es im Begriff, daß der krankhafte Äustand bei 
der Einstellung bestanden hat. Eine genauere Untersuchung der früheren 
Persönlichkeit ergibt aber, daß auch die anscheinend durch den Krieg 
verursachten neurotischen und psychopathischen Störungen nach überein¬ 
stimmenden Erfahrungen in der großen Mehrzahl der Fälle auf dem Boden 
einer vorher bestehenden psychopathischen Konstitution erwachsen. Die 
Tatsache der starken Beeinflußbarkeit der psychopathischen Konstitution 
durch äußere Verhältnisse bringt hier in besonderer Häufigkeit die Frage 
der Verschlimmerung eines bestehenden Zustandes zur Erwägung. Wie 
man sich wissenschaftlich zur Frage der Entstehung der bei Heeresange¬ 
hörigen in diesem Kriege beobachteten Neurosen (sogenannte Kriegs¬ 
neurosen ) auch stellen mag — ob man ihre körperliche oder seelische Her¬ 
kunft vertritt, ob man sie als individuelle Reaktionen ansieht oder als 
krankhafte Reaktionen von Psychopathen, ob man sie als thymogene oder 
ideogene Krankheitserscheinungen wertet, ob man ihre episodische Natur 
betont —, für die Annahme von D.B. oder Kriegs-D.B. kommt es lediglich 
auf die Feststellung an, daß für die neurotischen Krankheitserscheinungeji, 
die zur Zeit der gesetzlich vorgesehenen Erhebung von Versorgungenn- 
sprüchen vorliegen, Einwirkungen, die mit dem Militärdienst oder mit den 
besonderen Verhältnissen des Krieges Zusammenhängen, also exogene 
Einflüsse als wesentlich mitwirkende l'rsache anzusehen sind. Dabei ist 
es gleichgültig, ob die ursächliche Einwirkung in einer Erzeugung, Aus¬ 
lösung, Verschlimmerung oder Fixierung der vorliegenden Krankheits¬ 
erscheinungen besteht.“ 

Die Anweisung weist auch auf die u. l\ ausschlaggebende ursächliche 
Bedeutung einer krankhaften Anlage für das Auftreten und Fortbestehen 
neurotischer Störungen hin und legt dem Militärarzt die Pflicht auf, in 
jedem Einzelfalle festzustellen, ob schon vor dem Einsetzen der ange¬ 
schuldigten exogenen Schädigungen ein endogener krankhafter Zustand 
Vorgelegen und wie und unter welchen Bedingungen er sich geäußert hat. 

Es wird damit die enorme Bedeutung der Vorgeschichte in 
den Vordergrund gerückt, die nach meiner Ansicht gerade zur 


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666 


R o h d e, 


Abwägung, ob man von einer wesentlichen Verschlimmerung 
wird reden können, nicht ausführlich genug sein kann. Leider 
aber wird hiergegen im allgemeinen noch viel zu sehr gesündigt, 
und jgerade aus Rentenakten, die mir aus Anlaß von Nach- 
Prüfungen und Nachuntersuchimgen zu Gesicht gekommen sind, 
habe ich den Eindruck gewonnen, daß sehr oft nur deshalb 
Leute eine Rente erhalten hahen, weil die Vorgeschichten bezüg¬ 
lich der ganzen Artung und der Lebensführung vor dem Kriege 
gar zu dürftig sind. Und nicht viel anders ist es mit Kranken¬ 
geschichten zahlreicher Kranker, die oft schon wochen- und 
monatelang in Lazaretten waren, und in denen kaum oder über¬ 
haupt nicht diese Punkte gestreift waren. Und dabei möchte ich 
darauf hinweisen, daß das nicht nur für Nervöse gilt, sondern 
auch für sehr viele, die als innerlich Kranke galten und im 
Grunde doch nur dem Heere der sogenannten Nervösen zuzurechnen 
sind. Ich möchte hier vor allem jener Kranken gedenken, die 
unter der Krankheitsbezeichnung des Rheumatismus laufen, die 
aber im Grunde gar nicht Rheumatiker sind, und bei denen sich 
hinter den rheumatischen Beschwerden, die geklagt werden, nur 
eine psychopathische Minderwertigkeit und Wehleidigkeit verbirgt. 
Mir sind im Laufe meiner Tätigkeit im' Felde zahllose Kranken¬ 
geschichten zu Gesicht gekopimen, in denen — ich kann nicht 
anders sagen — in etwas leichtfertiger Weise die Diagnose 
„Gelenkrheumatismus“ oder „Muskelrheumatismus“ gestellt ist, 
und bei denen es sich um Leute handelte, die nie das mindeste 
Fieber gehabt hatten, bei denen nach den Krankenblättern nie 
irgendein objektiver Befund festgestellt wurde, und bei denen 
doch, wie es scheint, nur auf ihre Klagen hin diese Krankheits¬ 
bezeichnungen gewählt sind. Ich habe eine ganze Zahl solcher 
Leute später nervenärztlicli untersuchen können und kann nur 
sagen, daß diese Fälle fast durchgängig schwere Neuropathen. 
Astheniker, Alkoholiker wäre#, bei denen sicher der Krieg nicht 
im entferntesten ein rheumatisches Leiden gesetzt hat, sondern 
bei denen wir es entweder mit leichten Ermüdungserscheinungen, 
psychopathischer Wehleidigkeit oder einer alkoholischen, wie sich 
feststellen ließ, seit langen Jahren bestehenden Neuromyositis zu 
tun hatten. Woran es lag, daß diese Grundlagen übersehen wurden. 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 


t>67 


ist meines Erachtens und nach meinen Erfahrungen immer nur 
die Aufnahme einer absolut unzureichenden Vorgeschichte ge¬ 
wesen. Die meisten derartigen Krankengeschichten enthielten 
nur die gegenwärtigen Klagen des Kranken und vielleicht An¬ 
gaben über ihre Laufbahn im Kriege, allenfalls noch die Angabe 
über einige schwere Krankheiten des früheren Lebens, aber nie 
irgend etwas, was im Sinn ihrer Konstitution zu verwenden wäre. 

In außerordentlich verdienstvoller Weise hat Stier in jüngster 
Zeit in zwei Arbeiten „Dienstbeschädigung und Rentenversorgung 
bei Psychopathen“ und jener zweiten „Wie kann der Entstehung 
von Kriegsneurosen bei der Feldarmee vorgebeugt werden?“ ge¬ 
rade auch auf die Bedeutung der Vorgeschichte und der kon¬ 
stitutionellen Momente sowohl für die Behandlung als auch für 
die späteren Konsequenzen bei etwaiger Rentenversorgung hin¬ 
gewiesen. Er hat speziell auch auf die unter Umständen höchst 
verderblichen Folgen von Krankheitsbezeichnungen wie Nerven- 
chok, Nervenkrankheit oder gar Verschüttung hingewiesen und 
auch bereits einen Teil jener Punkte hervorgehoben, die zur Fest¬ 
stellung einer endogenen, pathologischen Grundlage dienen können, 
deren wesentlichstes Merkmal in der abnormen Art, auf die Lebens¬ 
reize zu reagieren, gelegen ist, und er hat unter anderem aus¬ 
geführt, wie wir oft schon aus dem, was der Betreffende im 
Leben tatsächlich erreicht hat oder z. B. trotz guter Intelligenz 
nicht erreicht hat, besser aber natürlich noch durch die Einsicht 
in die Einzelheiten und Feinheiten der Regelung seiner Beziehungen 
zur Umwelt ein Urteil über die spezielle Form seiner abnormen 
Persönlichkeit gewinnen. 

Wenn ich hier aufjias von Stier Gesagte hinweise, so möchte ich zu¬ 
gleich betonen, daß ich nach meinen Erfahrungen auch seinen sonstigen 
Ausführungen dazu nur völlig beipflichten kann. Dabei möchte ich auf 
jene Krankheitsgruppe hier noch kurz hinweisen, von der er auch ein¬ 
gehend spricht, und für die nach Ansicht Vieler gerade eine wesentliche 
Verschlimmerung der konstitutionellen Minderwei tigkeit, wenn sie diese 
überhaupt annehmen, vorliegen soll, die Schreckneurotiker, Zitterer, 
Schülteler und Taubstummen. Ich möchte vorweg betonen, daß man 
nach meinen Erfahrungen auch hier durchaus nicht immer eine so wesent¬ 
liche Verschlimmerung annehmen kann, daß eine Kriegsdienstbeschädigung 
vorläge. Und darüber möchte ich hier einiges sagen. Ich halte es für ver¬ 
fehlt, wenn z. B. von Cutzeit vorgeschlagen wurde, die Zustände als akute 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. ^ 45 


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668 


Rohde. 


/ 


Hysterie zu bezeichnen, denn einmal sind es in. E. weniger Hysterien als 
Psychogenien, und endlich känn man nach den recht zahlreichen Fällen, 
die ich gesehen und untersucht habe, nur in einer verschwindend geringen 
Zahl von einer akuten Erkrankung auch im weitesten Sinne reden. Es 
sei zugegeben, daß in diesem oder jenem, aber wie ich betonen möchte, 
immer nur ganz vereinzelten Falle bei bis dahin anscheinend nerven- 
tüchtigen Individuen als Schreckreaktion derart schwere Zustände sich 
einstellen, die eigentlich zum ersten Male in Erscheinung treten, im allge¬ 
meinen ist es mir bei meinem derartigen Material ohne besondere Mühe 
geglückt, in fast jedem Falle bereits für das frühere Leben schwerere 
psychopathische Eigenheiten und Reaktionen festzustellen und zwai 
sehr oft auch schon Reaktionen ganz ähnlicher Art. Ich möchte aber 
betonen, daß auch bei Fällen, die oft schon lange Wochen in andern Laza¬ 
retten behandelt und beobachtet waren, in den Krankenblättern darüber 
nichts enthalten war, so daß es mir verständlich ist, wenn es im allgemeinen 
in der Literatur nfcht hervortritt. Durch diese Feststellung von bereits 
früherem Auftreten schwerer Erscheinungen irgendwelcher und besonders 
der gleichen Art aber fällt meines Erachtens auch der Begriff der wesent¬ 
lichen Verschlimmerung, und wir finden eigentlich nur die in der ganzen 
Artung bedingte abnorme Reaktion auf äußere Lebensreize wieder. Ich 
könnte dafür zahlreiche Krankengeschichten anführen, wenn sie nicht bei 
der Überführung in andere Lazarette oder Genesungsheime den Kranken 
mitgegeben wären. Es ist gewiß nicht ganz leicht, die schon vor dem 
Kriege nicht vollwertige Anlage in vielen Fällen so klar darzulegen und den 
Kranken zur Hergabe aller Einzelheiten zu bewegen. Wenn man aber 
nach einem ganz bestimmten eingehenden Schema vorgeht und vor allem 
auch auf die charakterologischen Eigenheiten eingeht, bin ich wenigstens 
eigentlich stets zum Ziel gekommen. Über seine Charakteranlagen gibt 
der Neurotiker m. E. am ehesten Auskunft, während er, besonders wenn 
er schon durch Ratschläge erfahrener Kameraden gewitzigt ist, mit den 
nervösen Antezedentien oft zurückhaltender ist. Und es ist m. E. ein sehr 
treffender Vergleich, den Stekcl in seinen Betrachtungen über unser 
Seelenleben im Kriege geprägt hat, wenn er sagt, daß es mit den Neurosen 
wie mit den Preisen der Kaufleute gehe. Er führt das dahin aus: „Für 
alle Steigerungen wird der Krieg als willkommener Vorwand genommen, 
wundert man sich über die Höhe des Preises, so zuckt der Verkäufer mit 
der Achsel und verweist auf die Schwierigkeit der Beschaffung der Waren 
im Kriege. Wir sind dann wehrlos, denn es ist uns nicht möglich, den Nach¬ 
weis zu liefern, und es gilt auch nicht der Einwand, daß der Vorrat schon 
vor dem Kriege zum alten Preis eingekauft wurde. Der Neurotiker unter¬ 
schlägt die Tatsache, daß er schon vor Ausbruch des Krieges an allerlei 
nervösen Beschwerden gelitten hat, und betrachtet sich immer nur als 
ein Opfer des Krieges.“ 

Wohl sicher spielen in den meisten Fällen über kurz oder lang gewisse 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 669 

kaufmännische Erwägungen hinein, die aus dem Gedankengange, vielleicht 
unbewußt, hervorgehen, durch eine Rente in die Lage versetzt zu werden, 
noch mehr ihrer Gesundheit leben zu können, als sie es vielleicht vor dem 
Kriege schon getan haben. Hierbei kollidiert nun zweifellos ihr Interesse 
mit dem der Heeresverwaltung, und wenn einmal Jahre nach dem Kriege 
ins Land gegangen sein werden, wird mehr weniger Jeder gerade irgend¬ 
welche nervöse Störungen auf den Kriegsdienst zurückzuführen versuchen. 

Es wird daher der Heeresverwaltung in erster Linie darauf 
ankommen, zwischen den wirklich begründeten Ansprüchen und 
den unbegründeten unterscheiden zu müssen, welche letztere durch¬ 
aus nicht nur der Sucht nach Rente, sondern auch sehr wohl 
dem Gefühl verminderten Selbstvertrauens in die allgemeine 
Leistungsfähigkeit entspringen können. Die einzige Möglichkeit, 
diesen Ansprüchen für später zu begegnen, bieten aber nur aus¬ 
führlich geführte Krankengeschichten, die im speziellen aufs ein¬ 
gehendste die ganze Artung des Individuums bereits vor dem 
•Kriege und vor allen Dingen Ereignisse zu umfassen haben, die 
etwa als Schädigungen des Krieges für' die Auslösung wesent¬ 
licher Verschlimmerungen in Frage kommen können. Ich habe 
dabei die Erfahrung gemacht, daß die betreffenden' sehr oft auch 
äußerlich ganz ähnliche Zustände schon in der Zeit vor dem 
Kriege geboten haben, und zwar gilt das m. E. ganz besonders 
für die hyperkinetischen Neurosen, die Zitterer, die Fälle von 
Tic, von hysterischen und andersartigen Anfällen und dergl. Ich 
möchte das durch einige Beispiele belegen, vorher aber bemerken, 
daß ich psychopathische Eigenheiten erheblicher Art (Bettnässen 
bis in die Pubertät. Nachtwandeln, Hypersensibilität z. B. für den 
Anblick von Blut, leichte Debilität. Stimmungslabilität u. dergl.) 
in mindestens 90°,o aller Fälle feststellen und in so manchen 
der übrigen Fälle auch vermuten, wenn auch nicht immer be¬ 
weisen konnte. Nur in einer ganz verschwindenden Zahl sah 
ich bei offenbar bis dahin Vollgesunden eine derartige Schreck¬ 
reaktion. In diesen recht spärlichen Fällen trat schon die Voll¬ 
wertigkeit der Konstitution in dem überraschend schnellen Heil¬ 
verlauf, ohne daß nachher irgendwelche psychopathischen Eigen¬ 
heiten sich geltend machten, hervor, sodaß hier irgendwelche 
Folgen nie sich geltend machten. Im übrigen ist es mir auf¬ 
gefallen. wie wir schon die Art der jeweiligen Schreckreaktion 

45 * 


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Kohde, 


nach der Anamnese in dem betreffenden Individuum gleichsam 
angedeptet oft im früheren Leben finden. So fand ich in nicht 
so seltenen Fällen von Zitterern die. Angabe, daß sie schon 
immer bei jedem Schreck am ganzen Körper gezittert hätten, fand 
auch gerade bei solchen Individuen, wo sich Sprachstörungen als 
-Schreckreaktion einstellten, schon Angaben, wonach sie das eine 
oder andere Mal schon früher im Zivilleben nach Schreck gestot- 
teut oder stundenlang kein Wort herausgebracht hätten. Und endlich 
verdient es m. E. besondere Beachtung, daß sehr oft gerade hier 
die Angabe über Stottern in der Jugend sich fand, wenn sie z. B. 
vom Lehrer getadelt wurden, so daß den Betreffenden gleichsam 
die jetzigen neurotischen Erscheinungen in ähnlicher Form schon 
geläufig waren, nur jetzt in größerer Intensität bei einem inten¬ 
siveren Reiz sich geltend machten. Selbst da aber, wo dieselben 
mit solcher Intensität sich zeigten, daß man allenfalls eine 
wesentliche Verschlimmerung annehmen konnte, ließen sich die 
jeweiligen heftigeren Erscheinungen sofort beseitigen, so daß nur 
die stets vorhandene Psychopathie und abnorme seelische Artung 
blieb, die immer schon dagewesen war, so daß von einer ab¬ 
schätzbaren Einschränkung der Erwerbsfähigkeit für die Folge, 
selbst wenn man DB. durch Verschlimmerung annahm, nicht die 
Rede sein konnte. Und man kann m. E. auch nicht das Schwer¬ 
gewicht auf die Erschütterung der seelischen Gesamtpersönlich¬ 
keit legen und sagen, daß diese immerhin bleibe, wenn auch die 
Äußerungen motorischer Art der Willenssperrung beseitigt seien, 
wenn man nachweisen kann, daß diese seelische Gesamtpersön¬ 
lichkeit schon immer in der ganzen Anlage erschüttert find nicht 
vollwertig war. 

Ich möchte hier zunächst — nur kurz — einen Fall anführen, den 
ich zurzeit auf der Abteilung habe, der bereits 1 y 2 Monate in mehreren 
andern Lazaretten behandelt worden ist. Das Krankenblatt enthielt bisher 
mir folgende Angaben: Leichter Streifschuß am Kopfe. Hört seitdem auf 
dem rechten Ohr überhaupt nichts und auf dem linken Ohr sehr wenig, 
gab auf alle an ihn gerichteten Fragen meist keine Antwort, antwortete 
gelegentlich mit tonloser Stimme mit ja oder nein. In dem Krankenblatt 
fanden sich weiter keine Angaben, es wurde nervöse Stummheit infolge des 
Schrecks angenommen und K.D.B. angenommen. 

Ich konnte seine Sprachstörung ‘durch Suggestivfaradisation sofort 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 671 

beseitigen, und nur wefin man sich längere Zeit mit ihm unterhielt, trat 
eine Neigung zum Ringen mit dem Worte und leichtes Stottern immer 
wieder hervor. Die von mir erhobene eingehende Vorgeschichte ergab 
aber noch folgendes: 20 Jahre alt. Bereits mit 11 Jahren 7 m tief herab¬ 
gestürzt, war damals ,‘t—4- Stunden bewußtlos, lag etwa 4 Wochen krank 
und litt lange Zeit hinterher ständig an Kopfschmerzen. Von Hause debil, 
verlängertes Bettnässen, auch sonst psychopathische Eigenheiten. Stets 
leicht erregbar. Als Kind Skrophulose, von Kindheit an bestehende 
Schwerhörigkeit infolge beiderseitigen Mittelohrkatarrhs. Er gab an, er 
habe von Jugend an mit der Sprache angestoßen. Bei Aufregungen, 
wenn er getadelt wurde, habe er am ganzen Körper gezittert und manchmal 
sich so darüber aufgeregt, wenn ihn der Lehrer oder sein Meister tadelte, 
daß er stundenlang kein Wort hervorbringen konnte. 

Ich finde in diesem Fall eine schon vor dem Schreck bestehende 
Schwerhörigkeit und schon vorher bestehende Sprachstörungen mit 
olTenbar psychisch bedingten Steigerungen von jeher, außerdem eine 
zweifellos abnorme seelische Artung, und es ist mir demnach zumindest 
zweifelhaft, ob man überhaupt berechtigt ist, hier von einer wesentlichen 
Verschlimmerung zu reden, da er im Grunde nach dem geringfügigen 
Streifschuß nichts weiter geboten hat als vorübergehend nach einer Auf¬ 
regung etwas stärkere Krankheitserscheinungen, die aber im Grunde 
nicht viel anderer Art sind, als wie er sie immer geboten hat, und man 
wird das um so eher annehmen können, als irgendwelche stärkere Reiz¬ 
erscheinungen nicht bestanden. Das, was nach der Beseitigung der 
stärkeren Erscheinungen blieb, muß, aber nur weil die Vorgeschichte 
bekannt wurde, als Zustand aufgefaßt werden, wie er ihn schon vor der 
Dienstzeit bot, und damit kommt — m. E. allein auf Grund der Vor¬ 
geschichte — die Anerkennung von DB. oder KDB. beim Ausscheiden 
aus dem Heeresdienst nicht in Betracht. 

Nicht viel anders ist es im folgenden Falle damit. Der 24jährige 
Mann war bereits seit Monaten in Lazarettbehandlung, als ich ihn unter¬ 
suchte. Das Krankenblatt enthielt folgende Angaben: „Am 17. 4. 18 
durch Luftdruck einer Granate umgeworfen, will besinnungslos gewesen 
sein. Nachher aufgestanden und zum Verbandplatz gegangen. Vom 
Moment {les Aufstehens ab Zittern am Oberkörper. Schon vor dem Kriege 
nervös, hatte häufig Kopfschmerzen.“ Er hat dann in der ersten Zeit 
seines Lazarettaufenthalts ein theatralisches Zucken in beiden Schultern 
geboten, das unter bloßer Ruhe nach einigen Tagen fort war, und es 
blieben nur einige hysterische Züge; einmal trat ein hysterischer Anfall 
auf. Nach dem bisherigen Inhalt des Krankenblatts würde man nicht 
umhin gekonnt haben, auch für diesen KDB. als Folge des Schrecks vom 
17. 4. 18 anzunehmen, da von irgendwelchen schwereren Erscheinungen 
vor dem Kriege in monatelanger Lazarettbehandlung nichts bekannt ge- 
•worden war. Ich konnte aber folgende Angaben noch von ihm erlangen: 


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R&hde, 


Mutter „immer krank“. Er selbst als Kind einmal schwer krank ge wese n- 
Schwer gelernt, nur 6 Klassen einer /Massigen Schule durchgemacht. 
Von jeher leicht aufgeregt, händelsüchtig. Noch während der Schulzeit 
Bettnässen. In der Schulzeit und in den Lehrjahren fast alle 2 Tage 
Schwindel und Ohnmächten, wurde oft deshalb aus der Schule zurück- 
geschickt, auch in der Fabrik nie frei von Ohnmächten, zeitweise jeden 
Tag völlig bewußtlos, stets bei Hitze oder Aufregungen. Überhaupt 
leicht erregbar, cli'arakterologisch ängstlich; zitterte, wenn man ihn ärgerte, 
schon immer am ganzen Körper. ’’ 

Durch diese Angaben ist m. E. erwiesen, daß er schon immer schwerere 
Erscheinungen nicht wesentlich anderer Art wie jetzt geboten hat, und es 
kann — zumal nach Behebung der nur einige Tage anhaltenden Zuckungen 
der Schultern, die von selbst schwanden — von einer wesentlichen Ver¬ 
schlimmerung, gar keine Rede sein. 

Gerade frühere Anfälle werden nach meinen Erfahrungen 
zunächst mit Vorliebe verheimlicht, und es liegt das m. E.'z. T. 
auch daran, daß immer nur nach Krämpfen gefragt wird, da¬ 
gegen fast nie nach Ohnmächten oder SehWindelanfällen, die m. E.. 
gerade bei Hysterikern als eine schwerere Erscheinung zu gelten 
haben und völlig gleichwertig sind den hysterischen Anfällen 
anderer Art. Ich will hier nicht auf alle jene Zeichen degene- 
rativer und psychopathischer Artung hinweisen, die mir in fast 
allen meinen Krankengeschichten solcher Individuen, speziell bei 
den hyperkinetischen Neurosen, den Unfallhysterien und Schreck¬ 
neurosen, entgegentraten und sich bei Aufnahme einer bis dahin 
freilich sehr oft versäumten genauen Vorgeschichte fanden, derart, 
daß die innere Anlage bei ihnen eigentlich alles ausmacht. Auf 
welche Momente ich dabei besonders geachtet habe, soll die aus¬ 
führliche Krankengeschichte eines Falles hysterischer Gehstörung, 
die ich einfügen werde, zeigen. Ich möchte nur kurz darauf 
hinweisen, daß wir m. E. nicht berechtigt sind, dann eine 
wesentliche Verschlimmerung anzunehmen, wenn nachgewiesen 
ist, daß der Betreffende schon immer schwere Affektreaktionen 
geboten hat und Zeichen einer Hypersensibilität, derart, daß* 
schon der bloße Anblick von Blut bei ihm früher Ohnmächten 
oder Weinkrämpfe ausgelöst hat und jetzt bei Schreck ein Anfall 
hervorgetreten ist. Es ist m. E. ziemlich belanglos, ob in dem. 
wechselnden Bild hysterischer Affektreaktionen, die der Kranke schon 
immer geboten hat, und die die hysteropathische Artung dokumen- 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen uml ihre Bedeutung usw. 673 

tieren, jetzt — selbst zum ersten Mal statt einer Ohnmacht, eines 
Weinkrampfes u. dergl. — auf einmal,ein hysterischer Krampf¬ 
anfall vorkommt. Man wird eben die ganzen Begleitumstände 
heranziehen müssen, auch die sozialen, wie seine Leistungsfähig¬ 
keit im Leben und im Beruf vorher gewesen ist, was leider viel 
zu wenig bisher geschieht. Wenn man solche Menschen befragt, 
so bekommt man zuerst eigentlich stets die Antwort, sie seien 
immer völlig nervengesnnd gewesen, während dann eingehendere 
Fragen sofort allerhand Zeichen geistiger Minderwertigkeit, stark 
herabgesetzte Fähigkeit, im bürgerlichen Leben zu bestehen, 
affektive Ubere^regbarkeit u. dergl., eigeben. So wichtig das alles 
für die Erörterung der DB.-Frage ist, so selten findet sich etwas 
darüber in den mir überwiesenen Krankenpapieren, so daß ich 
sehr oft bezüglich der DB.-Frage zu anderen Ergebnissen kommen 
mußte wie die Voruntersuchungen anderer Lazarette, die auf die 
bloßen Angaben hin, daß der ^lann verschüttet sei und darauf 
Krämpfe bekommen habe, ohne weiteres eine KDB.. als vorliegend 
annahmen. Der Nachweis der prämorbiden Persönlichkeit ist 
aber dann besonders schwierig, wenn schon der Betreffende, durch 
längere Lazarettaufenthalte und vielleicht durch die Ratschläge 
klügerer Kameraden gewitzigt, erst einmal zu der Überzeugung 
gekommen ist, daß es zweckmäßig sei, von allen diesen früher 
hervorgetretenen Erscheinungen nichts zu sagen. Dann freilich 
wird man oft seine Schwierigkeiten haben, wirklich die ganze 
Lebensführung klar zu übersehen. Eine wesentliche Erleichterung 
ist m. E. auch die Art der Reaktion. 

Ich denke hierbei z. B. an einen, soweit ich mich erinnere, 
25jährigen Menschen, der auf meine Abteilung kam mit einem 
ausgesprochenen Tic in der einen Gesichtshälfte, der, wie er 
angab, nach einem Schreck zum ersten Male dieses ticartige 
Zucken bekommen hatte, und der zunächst alle psychopathischen 
Eigenheiten in Abrede stellte. Von der Annahme ausgehend, 
daß der Tic jm großen und ganzen auf eine degenerative Grund¬ 
lage hinweise, habe ich mich damit nicht ohne weiteres zufrieden 
gegeben, und allmählich gab er dann auch an, daß er bereits als 
8 jähriges Kind für längere Zeit und dann noch einmal mit 15 Jahren 
nach einem starken Schreck gleichfalls etwa y 2 Jahr lang einen 


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Rohde. 


ganz ähnlichen Tic gehabt hatte, sodaß er mir direkt zum Schluß 
sagte, damals habe das ganz genau so ausgesehen wie jetzt, und 
es kam weiter heraus; daß er von jeher alle Zeichen einer 
schweren Psychopathie geboten hatte, daß er hypersensibel, beim 
Anblick von Blut ohnmächtig geworden sei, daß er Linkshänder 
war, daß er etwa bis zum 15. Jahre an Bettnässen gelitten hatte, 
daß er von jeher vasomotorische Störungen geboten hatte und 
ähnliches mehr. Daß hier keine KDB. jn Frage kommt, liegt 
auf der Hand. 

Es stellt eben hier die ganze abnorme seelische Artung, wie 
Stiei • es nennt, das Ausschlaggebende vor, und es wurden, wenn 
ich mich an den Wortlaut der amtlichen „Anhaltspunkte“ halte, 
„die nach dem für die Entstehung des jetzigen Zustandsbildes 
aufgetretenen neurotischen Erscheinungen in gleicher oder gleich¬ 
wertiger Form schon vor dem Diensteintritt bei dem betreffenden 
Neurotiker beobachtet, sind ihm gleichsam geläufig“. 

Ebehso ist es bei einem andern Fall, einem Manne meiner eigenen 
damaligen Formation, der mir als gv. mit einer hysterischen Gehstörung 
ausgesprochener Art überwiesen war, der im Anschluß an eine Zellgewebs¬ 
entzündung an der linken Hacke, die er beim Militär im Felde bekommen 
hatte* mit diesem Bein einen hüpfenden Tritt vollführte, und der mir 
ohne weiteres erklärte, das habe er nur durch diese Verletzung, die er sich 
im Kriege zugezogen habe. In Wirklichkeit konnte ich nachher feststellen, 
daß er erblich belastet war, bis fast zum 20. Jahr an Bettnässen litt, regel¬ 
mäßig Kopfschmerzen gehabt hatte, daß er einem Outsidertum von jeher 
gehuldigt hatte und in keinem Bsruf lange ausgehalten hatte, und vor 
allen Dingen, daß er bereits im Jahre 1906, im Anschluß an eine Periode 
geschäftlicher Anstrengungen, wegen einer nahezu gleichartigen Geh¬ 
störung bereits monatelang in einer Nervenabteilung im Zivilleben gelegen 
•hatte, nur daß damals im Anfang ein Zittern in allen Gliedern bestand 
und nachdem Schwäche, daß er stets zusammenknickte, zunächst in 
Krücken ging, woran sich dann die Gehstörung in dem einen Bein an¬ 
schloß, die erst nach einem Berufswechsel etwa nach einem Jahre sich verlor. 

Außerordentlich charakteristisch ist) nach meiner Ansicht folgender 
Fall, den ich hier ausführlich anführe, weil er zugleich den Gang der auf 
meiner Abteilung vorgenommenen Erhebung der Vorgeschichte zeigt. Es 
handelt sich hier um einen 28jährigen Sanitätssoldaten, der im August 
1917 wegen akuten Trippers in einem Kriegslazarett aufgenommen wurde. 
Das dort geführte Krankenblatt enthielt außer den ajif den Tripper bezüg¬ 
lichen Eintragungen folgende Angaben: 

8. 9. Klagt über Kopfschmerzen und Nackenschmerzen. Reflexe 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 675 

gesteigert. Kein Babinski Kein Fieber. Puls 80. Keine Bewußtseins¬ 
störungen. Kein Erbrechen. Der Kopf kann nur mit Mühe gedreht werden. 
Isolierung. 

Lumbalpunktion: keine Drucksteigerung. Keine Zellenvermehrung. 

9. 9. Nackengegend druckempfindlich. Aspirin 8,0. Warme Um¬ 
schläge. 

10. 9 . Beweglichkeit des Kopfes wieder freier. Behandlung wie 
vordem. 

22. 9. Klagt noch über Schmerzen in der Gegend des Kreuzbeins 
und des Nackens. Druck auf die Halswirbelsäule sehr schmerzhaft. Be¬ 
weglichkeit des Kopfes ohne Befund. Wirbelsystem ohne Befund. 

2. 10. Heftige Schmerzen im Rücken, geht gebückt und bewegt 
dabei die Wirbelsäule kaum. Druck auf die Hals- und Lendenwirbelsäule 
sehr schmerzhaft. Fieber besteht nicht. Auf Salizyl und Aspirin kleine 
Besserung. Objektiv kein krankhafter Befund. Es liegt wohl sicher eine 
starke Cbertreibung der Schmerzen vor. Hysterie? 

Nachdem dann der Tripper abgeheilt war, wurde er am 22. 10. 17 
meiner Nervenabteilung überwiesen. 

Bei der Aufnahme kommt er, schwrer auf einen Stock gestützt, den 
Rücken rechtwinklig nach hinten vorgewölbt, gebückt. Als ich ihm als 
erstes den Stock fortnahm und ihn aufforderte, gerade zu gehen, 
sank er noch mehr in sich zusammen, legte die linke Hand auf den Rücken, 
ging nun tappend, dabei aber ganz sicher, wie ein völlig verwachsener 
Mensch, nach vorn gebeugt, ließ sich dann schwer in einen Stuhl fallen. 
Sprach dann derartig leise, daß kaum etwas zu verstehen war; auf energische 
Aufforderung meinerseits, laut zu sprechen, fängt er an, laut tönend zu 
schnaufen, sagt dann in erregtem, anmaßendem Ton: „Ich Jpitte darauf 
Rücksicht zu nehmen, das habe ich nicht verdient, der ich so lange im 
Felde stehe“, fängt dann, indem die Atmung immer lauter und keuchender 
wird, mit der rechten, auf das Knie schwer gestützten Hand an, grob zu 
schütteln, während in theatralischer Weise weinkrampfähnliches Schluch¬ 
zen einsetzt. Erklärt, ihm sei alles egal, rutscht mit dem Kopf immer 
weiter nach vorn. Ausgesprochen hysterischer Erregungszustand, von 
dem keine Notiz genommen wird, vielmehr erhebe ich Vorgeschichte. 

Vater aufgeregt, jetzt tot. Von 13 Geschwistern 6 früh gestorben, 
die älteste Schwester nervös, eine andere Schwester angeblich Basedow. 
In der Schule sehr schwer gelernt, nur 4 Klassen einer 7klassigen Schule 
erreicht. Als Kind kaum schreiben können, habe sich erst im späteren 
Leben eigentlich das Schreiben angeeignet. Konnte nichts behalten, alles 
strengte an. Bei Tadel aufgeregt: „Konnte mich mit der Zunge nicht be¬ 
herrschen. schlagen ließ ich mich vom Lehrer nicht, habe mich dann ge¬ 
wehrt“. dabei sei ihm ohne seine Absicht immer der Schaum vor den Mund 
getreten. Als Kind stets, sobald er sich aufregte oder länger stehen mußte, 
Ohnmächten. ,,Es war so üblich bei mir.“ Mehrmals in jeder Woche 


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Rohde, 


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Ohnmächten. Nach dem 16. Jahre etwas ruhiger geworden, nie frei von 
Ohnmächten, später etwa alle 8 Tage bis 4 Wochen. In den Ohnmächten, 
in deren Beginn ihm das Wasser im Munde zusammenlief, solle er für 
Momente bewußtlos und immer „sehr lebhaft“ sein, um sich schlagen und 
dergleichen. Während des ganzen Lebens gelegentlich Bettnässen. Viel 
Schlafsprechen als Kind, viel Nachtwandeln, habe im Schlaf allerlei 
gesucht, ohne davon etwas zu wissen, auch noch im späteren Leben habe 
ihn das nie ganz verlassen. Als Kind sehr schreckhaft. Furchtim Dunkeln. 
Von jeher Kopfschmerzen. 

Schon als Kind und während des ganzen Lebens „Hexenschuß“, 
sobald er etwas Schweres habe heben sollen. Als Kind habe er sich dann 
meist ca. 3 Tage überhaupt nicht bewegen können, im späteren Leben 
habe das immer 8 Tage gedauert, sei oft schon alle 4 Wochen wieder¬ 
gekehrt. Von Kindheit an während des ganzen Lebens Weinkrämpfe für 
Stunde, wo der ganze Körper vor Weinen geschüttelt habe, so daß **r 
förmlich weggewesen sei. — „Es hängt mit meiner Weichmütigkeit zu¬ 
sammen.“ Sei immer wegen seiner Plattfüße schlecht zu Fuß gewesen, 
habe einmal 1911 beim Angeln ganz plötzlich Ischias im linken Bein be¬ 
kommen. Über ein Jahr lang habe er hinken müssen und vor starken 
Schmerzen kaum gehen können. Dann sei es von selbst gut geworden. 
Auch im linken Arm habe er vor dem Kriege, etwa 1912, solche Schmerzen 
und Schwäche oft gehabt, daß er ihn kaum bewegen konnte. 

Nach der Schulzeit habe er 2 Jahre Schlosser gelernt. Da sei beson¬ 
ders oft der „Hexenschuß“ gekommen. Dann konnte er es nicht mehr 
aushalten, weil ihn der Lärm zu sehr aufregte. Er konnte im Anschluß 
daran überhaupt nichts hören, ein Jahr lang, wo er zu Hause nichts tat. 
Nur dann habe er für y 2 bis 1 Stunde etwas gehört, wenn ihm der Arzt 
mit dem Ballon die Ohren ausblies. Hat dann bei Geschwistern in Ge¬ 
schäften ihr Gewerbe erlernt und ist bei den Geschwistern tätig gewesen. 
Vor dem Kriege ist er auch einmal y 2 Jahr in Amerika gewesen, um sich 
dort weiter auszubilden. Zur Ausbildung sei es dort aber nicht gekom¬ 
men — einen rechten Grund kann er dafür nicht angeben. 

Mit 13 Jahren sei ihm eine Holzstange, in der ein Nagel steckte, 
auf den Hinterkopf gefallen; angeblich y 2 Stunde bewußtlos. Auf die 
Frage nach Erbrechen erklärt er, er habe ca. y 2 Jahr lang wegen Er¬ 
brechens in Behandlung gestanden! 

Völlig alkoholintolerant, sofort erregt. Starker Nikotinmißbrauch 
1910—12 (täglich 25 Zigaretten und ca. 5 Zigarren). Dann wegen heftig¬ 
ster Kopfschmerzen aufgegeben. Nicht aktiv gedient. 

August 1914 eingezogen, 18. 10. 14. ins Feld, bereits am 23 10. 14 
infolge eines Falles im Graben für 1 Monat im Lazarett und zum Ersatz¬ 
truppenteil. Angeblich einige Monate wieder im Feld, im Mai 1915 wegen 
Piattfußbeschwerden nach Deutschland, blieb dort unter Verwendung in 
einem Reservelazarett bis März 1917. Juni 1917 zuerst wieder in Stellung 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 677 

als Sanitätssoldat. August 1917 dann wegen Tripper ins Lazarett. Im 
Laufe dieser Exploration hat er sein theatralisch-hysterisches Gebaren 
etwas eingeschränkt. Die Körperhaltung im Sitzen ist zusehends gerader 
geworden, nur der Kopf wird nach wie vor nach vorn gebeugt gehalten. 
Die Tränen sind allmählich versiegt, und wann auch immer wieder das 
tiefe Mitgefühl, das er für sich selbst und seinen schweren Zustand hegt„ 
hervortritt, so ist sein Verhalten doch allmählich ein leidlich vernünftiges 
geworden. Als er sich jetzt zur Untersuchung ausziehen soll, steht er 
sofort wieder mit rechtwinklig nach hinten vorgebeugtem Rücken, geht — 
nachdem er seinen Stock patzig verlangt hat, der ihm nicht gegeben wird — 
schleichend, breitbeinig, jeden Halt, der sich bietet, benutzend, unter 
lautem Stöhnen. Die rechte Hand schüttelt, die linke stützt die linke 
Hüfte. Auf die Frage, warum er so gebückt gehe, erklärt er: ,,Ich kann 
nicht anders, denn dann kriege ich Kopfschmerzen, ich hab’s schon so 
oft versucht und bekomme den Rücken wohl gerade, aber-ich halte es 
nicht aus, ich bekomme dann doch so wahnsinnige Kopfschmerzen.'* 
Auf dem Bett liegt er völlig gerade. 

Körperlich: kräftig, untersetzt. Leicht beeinflußbare Herztätigkeit. 
Immer wieder laut schnaubende Atmung mit Wackelbewegungen des 
Kopfes. Plattfußanlage beiderseits. Mittleres Hautnachröten. Geringe 
Muskelerregbarkeit. Lebhafte Reflexe, durch willkürliche Verstärkungen 
noch vermehrt. Bei leichten Berührungen Stöhnen, Zusammenfahren des 
ganzen Körpers mit lebhaften Abwehrbewegungen. Kühle Hände und 
Füße. Wirbelsäule o. B. Bezeichnet sämtliche Wirbeldornen vom 8. Brust-. 
wirbeldorn abwärts als schmerzhaft, bei Nachuntersuchungen liegt die 
Grenze jedesmal an anderer Stelle, am 4. Lendenwirbeldorn, dann 12. 
Brustwirbeldorn, schließlich 6. Brustwirbeldorn. Sämtliche Druckpunkte 
sehr stark +, rechts > links. Am rechten Supraorbitalpunkt abortiver, 
psychogener Anfall: ihm wird, da er bei Bewußtsein bleibt, an seinem Are 
de cercle demonstriert, daß die Wirbelsäule nicht nur gerade, sondern nach 
vorn sogar gebeugt werden kann. Bei Prüfung der Algesie sofort wieder 
gröbstes Stöhnen usw. 

Beim Versuch der Elektrisation mit starken Strömen schlägt er 
um sich, schreit in förmlichem, freilich arg theatralischem Tobsuchts¬ 
anfall: „Lassen Sie mich; daß keiner Mitleid mit mir hat.“ Schlägt mit 
der Faust auf den Tisch usw. Benehmen photographisch das eines ge¬ 
reizten, sehr ungezogenen Kindes. Strenge Bettruhe. 

29. 10. Nach fester Bettruhe seit gestern außer Bett, wird be¬ 
schäftigt. Hält Kopf und Oberkörper nur noch leicht nach vorn gebeugt, 
geht ganz ordentlich. Kam dann in ein Genesungsheim. Während sonst 
ohne diese Vorgeschichte meines Erachtens es später unmöglich gewesen 
wäre, die Lumbalpunktion als Ursache eines schweren Zustandes hysteri¬ 
scher Art nicht anzusehen, konnte ich jetzt im Krankenblatt beimAbschluß 
die DB.-Frage in folgender Weise erörtern: 


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Ro hde, 


Das Leiden ist zurückzuführen auf die schwere, degenerative Artung; 
wenngleich die an ihm vorgenommene Lumbalpunktion die jetzt im Ab¬ 
klingen begriffene Gehstörung wohl mit ausgelöst haben mag, so handelt 
es sich doch immerhin nur um schon früher und anscheinend in gleicher 
Stärke, zum Teil auch gleicher Art, vorhandene psychopathische Reaktion 
(s. seine Angaben über Hexenschuß, bei dem er sich während seines ganzen 
Lebens tagelang überhaupt nicht habe bewegen können, Ohnmächten, 
Weinkrämpfe, Wutanfälle, einmal Ertaubung und dergleichen). Es liegt 
daher keine weslentftche Verschlimmerung dieser abnorm seelischen Artung 
vor. Infolgedessen kommt DB. nicht in Frage. 

Ich möchte diesen Fall für außerordentlich lehrreich halten, 
möchte aber ausdrücklich hervorheben, daß er nicht vereinzelt 
dasteht, und daß ich zahllose ganz ähnliche psychopathische 
‘Reaktionen in der Vorgeschichte der Meisten mit schweren hyste¬ 
rischen Zuständen irgendwelcher Art feststellen konnte, die durch 
Schreck oder- sonst irgendein den Anstoß gebendes Moment 
ausgelöst waren. Ich möchte in keiner Weise die Bedeutung der 
Schwere des einwirkenden, änßeren Momentes dabei unterschätzen 
und'bin der Letzte, der nicht da eine wesentliche Verschlimme¬ 
rung einer bestehenden abnorm seelischen Artimg, welche Be¬ 
zeichnung von Stier vorgeschlagen ist, annehme, wo diese ab¬ 
norm seelische Artung bis dahin keine irgendwelche erhebliche 
derartige Reaktionen ausgelöst hat. Ich meine aber, daß es nur 
sinngemäß und notwendig ist, auch in jedem Falle und speziell 
da, wo man eine solche abnorme seelische Artung irgendwie 
feststellen ’kann, wobei ich besonders auch auf die Asthenie, die 
vasomotorische Ubererregbarkeit noch hinweisen möchte, ihr in 
' der Vorgeschichte genau nachzugehen, und weiter, daß man ver¬ 
pflichtet ist. auch bei der Abwägung des Grades der Erwerbs¬ 
beschränkung, falls eine Rentenfestsetzung in Frage kommt, der 
ganzen Konstitution Rechnung zu tragen. Und das gilt besonders 
für jene Fälle, wo kein eigentliches einschneidendes Erlebnis 
vorangegangen ist und die stärkeren Erscheinungen sich gleich¬ 
sam ohne rechten Anlaß schleichend entwickelt haben und eine 
Erkältung im Dienst oder die Aufregungen allgemein als Ursache 
verantwortlich gemacht werden. Ich stehe nicht an zu erklären, 
daß nach meinen Erfahrungen gerade in diesen Fällen eben meist 
eine so schwere degenerative Grundlage nachweisbar war, daß 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 


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init dem Nachweis derselben auch die DB.-Frage ihre Erledigung 
findet. Außer der hysterischen find psychogenen Artung verdient 
aber m. E. auch die Debilität mit einer gewissen abnormen 
Reaktionsneigung »und die moralische Minderwertigkeit Beachtung. 
Im übrigen ist der Standpunkt, wie ihn auch Stier und Nägeli 
haben, daß selbst da, wo man eine DB. annimmt und abschätz¬ 
bare Folgen der wesentlichen Verschlimmerung einer abwegigen 
Konstitution durch ein Ereignis des Heeresdienstes bleiben, doch 
immer ein gewisser Prozentsatz der Erwerbsbeschränkung der 
Konstitution zugerechnet werden muß, im Vergleich mit dem der 
Franzosen noch sehr entgegenkommend. Hat doch die Pariser 
neurologische Gesellschaft (La reforme, les. incapacites et les 
gratifications dans les nfcvroses et psychoses de guerre. Rev. 
neur. 23. 1916) nach dem Vorschläge Babinskis sich dahin aus¬ 
gesprochen, daß die eigentlich hysterischen (von Babinski als 
pithiatische bezeichneten) Störungen des Krieges weder ent- 
&hädigungspflichtig sind, noch zu entlassen sind, und auch sonst 
bezüglich einer Rentengewährung für Neurosen, wie allgemein 
kurz gesagt sei, sich auf einen recht ablehnenden Standpunkt 
gestellt. 

Ich möchte, wenn ich im vorstehenden von der Bedeutung 
der Konstitution auch für die praktische Seite der Rentenzumessung 
und Dienstbeachädigungsfrage gesprochen habe, aber ganz be¬ 
sonders auf ein ätiologisches Moment hinweisen, das meines Er¬ 
achtens und, soweit ich die bisherigen Publikationen übersehe, 
bisher fast völlig vernachlässigt ist. Auch in Stiers Arbeiten zu 
diesen Fragen findet sich über dieses ätiologische Moment nichts, 
dem ich meinerseits gerade glaube eine sehr erhebliche Rolle 
zuweisen zu sollen; den chronischen Alkoholismus. Wenn 
ich die Krankengeschichten aller jener überblicke, die im Laufe 
meiner nervenärztlichen Tätigkeit im Kriege von mir dntersucht 
sind, und die gerade mit schwereren Erscheinungen auch der ge¬ 
schilderten Arten zur Behandlung kamen, so finde ich zwar nicht 
immer eine von Hause bestehende Konstitutionsschwäche, aber 
auffallend oft, teils mit angeborener Minderwertigkeit sich ver¬ 
gesellschaftend, teils auch ohne diese, speziell bei älteren Leuten 
die körperlichen Erscheinungen des chronischen Alkoholismus und 


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Roh de, 


damit zusammenhängend anf psychischem Gebiet die alkoholische 
Charakterverändernng. Und darauf möchte ich besonders hin- 
' weisen. Denn noch weniger wie der angebornen psychopathischen 
Konstitution und der ganzen sonstigen Lebensführung dieser In¬ 
dividuen wurde im großen und ganzen in den Krankengeschichten 
dieser ätiologischen Schädlichkeit Rechnung getragen, so daß sich 
daraus weitere Mängel ergaben, die gerade auch bei der Beur¬ 
teilung der DB.-Frage eine erhebliche Bedeutung haben. 

So halte ich es nicht für belanglos,, wenn ich z. B. feststellen konnte, 
daß ein Fall von Alkoholepilepsie mit Rente entlassen war, wo in den ganzen 
Rentenakten die Frage einer Alkoholgenese überhaupt nicht gestreift war, 
obwohl das Auftreten eines ersten Anfalls im höheren Alter schon allein 
eine genuine Epilepsie unwahrscheinlich hätte machen müssen. Tatsächlich 
ergab sich denn auch, daß — nach anfänglichem Leugnen —der Betreffende 
mir einen täglichen Genuß von ca. y 2 1 Schnaps zugab — „aber jetzt nicht 
inehr“, und gerade dieses „aber jetzt nicht mehr“ erklärt es wohl auch, 
weshalb dieses ursächliche Moment so besonders leicht verborgen bleiben 
kann. Ich konnte eine ganze Anzahl ähnlicher Erfahrungen anführen, 
die mich veranlaßt haben, beim Erheben der Vorgeschichte dem Alkohol 
eine besondere Beachtung zu schenken. Und ich habe immer wieder den 
Eindruck gehabt, daß leider die Symptome des chronischen Alkoholismus 
iin großen und ganzen völlig außer acht gelassen werden, teils wohl auch 
zu wenig bekannt sind, vor allen Dingen aber viel zu wenig je daran gedacht 
wird; und darum werden sie auch so oft übersehen, daß ich kaum in irgend¬ 
einer Krankengeschichte auch nur die Möglichkeit des Vorliegens eines 
chronischen Alkoholismus erwogen fand, wo eigentlich diese Annahme sich 
bei einer Durchsicht der Lebensführung und bei Vergleich mit dem Körper¬ 
befunde ganz von selbst ergeben mußte. Wenn beim Fehlen eigentlicher 
psychopathischer Eigenheiten in der Jugendgeschichte im Korperbefund 
eine dick belegte Zunge, lebhafter statischer Tremor, starke Druck- 
einpfindlichkeit der großen Nervenstämme, vielleicht manchmal auch 
schwache Reflexe, vor allem aber leichte Pupillenstörungen sich fanden, 
wozu eventuell noch eine Lebervergrößerung kam und die Leute angaben. 
daß sie seit einigen Jahren ohne Grund leichter gereizt seien, so erfolgte 
in der Regel, wenn man weiter fragte, auch sehr bald eine Angabe über sehr 
starken morgendlichen Hustenreiz oder gar Erbrechen, das immer nur 
morgens auftrete. Und wenn man dann in der Vorgeschichte den Lebens¬ 
gang durchsiehl, so wird man eigentlich immer derartige Quantitäten von 
früher genossenem Alkohol feststellen können, daß an der Grundlage des 
chronischen Alkoholismus für die erst im späteren Leben entstandenen 
nervösen Beschwerden kaum ein Zweifel sein kann. Man wird unschwer 
auch im Laufe der Beobachtung morgendliche Gereiztheitszustände und 


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»lue 'Su&£t:d mu <>iij:j> tt.-t hiutHiwö toll, hiirnnrhii» ,i<it e 4 * 'vjw*diK^ hi*rl»d. 

’lüfeiiiiifut-u l/.’.v,-i(ig! >d»«V Vvte iJ(-siu-l, mi! r(t;> (.»••v rimiUi-if! Vbi' r.n! iti 

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Cotigle 



nie versäume, nämlich die nach dem Grad der Toleranz für Alkohol und 
Nikotin. Hier bleibt noch etwas zu bedenken: sehr oft habe ich feststellen 
können, daß diese Leute einem, wenn man nach den Quantitäten des 
genossenen Alkohols fragt, zunächst ein ganz geringes Quantum angeben, 
daß dann aber, wenn man fragt, ob sie in jungen Jahren auch nicht mehr 
getrunken haben, welche Frage man nie unterlassen sollte, schließlich doch 
erhebliche Quantitäten hervorkommen, so daß sich das Bild völlig ver¬ 
schiebt, und es treten dann auch sehr häufig charakteristischeAngaben in 
der Art hervor, daß vor etwa 6—7 Jahren ihnen der Arzt den Alkohol 
verboten habe und sie deshalb nur wenig getrunken hätten, weil sie ihn 
nicht mehr so wie früher hätten vertragen können. Es ergibt sich dann, 
daß unter Umständen, wie ich es in nicht seltenen Fällen habe feststellen 
können, Krankenhausaufenlhaltc wegen starker Magenbeschwerden oder 
rheumatischer Beschwerden vorangegangen sind, die eben bei dem Über¬ 
blick über die ganze Lebensführung ganz offenbar Zeichen einer schwereren 
chronischen Alkoholintoxikation schon damals gewesen sind, die die Grund¬ 
lage abgibt für die seither nie völlig behobenen nervösen Störungen und 
Zeichen allgemeiner Verbrauchtheit, wie sie derartige Individuen besonders 
leicht bieten. Daß im übrigen die Angaben jüngerer Menschen, daß sie 
von jeher nach Alkohol Kopfschmerzen bekamen und nie das Rauchen 
hätten vertragen können, eigentlich immer ein wesentliches Zeichen einer 
verminderten Widerstandsfähigkeit des Nervensystems, auch für kon¬ 
stitutionelle Psychopathen sind, braucht wohl kaum hervorgehoben zu 
werden. Man wird aber bei bestehender Intoleranz auch mit einer ganz 
andern Einwirkungsmöglichkeit rechnen können und daher dann die 
Wirkung des Alkohols auf den Betreffenden ganz anders bewerten müssen, 

Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, daß gerade von dieser Angabe 
ausgehend es oft möglich ist, dem Betreffenden eine ganze Anzahl anderer 
psychopathischer Eigenschaften zu entlocken, die wiederum das Bild des 
gesamten Lebens sehr wesentlich zu ergänzen vermögen und auch für die 
DB.-Frage bezüglich ihrer jetzigen Klagen nicht ohne Belang sind. Ich habe¬ 
schon soeben kurz auf die Bedeutung des chronischen Alkoholismus gerade 
für das Zitlern hingewiesen. Außerdem habe ich auffallend oft gerade bei 
solchen Individuen aphonische Störungen festgestellt, die in der Regel 
oder doch sehr oft mit einem organisch bedingten Rachenkatarrh sich ver¬ 
binden, der gerade bei schwerem Alkohol- und Nikotinmißbrauch ja 
gewissermaßen zum Krankheitsbilde gehört. 

Endlich wird es mit Rücksicht auf das Gesagte ohne weiteres ver¬ 
ständlich, wenn die Angaben über rheumatische Beschwerden und Magen- 
beschwerden zu einer Beobachtung auch dieses ätiologischen Momentes 
ganz besonders herausfordern. Ich möchte das Gesagte kurz mit 2 Bei¬ 
spielen belegen, könnte Dutzende ähnlicher aber nennen. 

In dem ersten dieser Fälle handelt es sich um einen 43jährigen Mann, 
der schon in mehreren Lazaretten behandelt, schließlich bei meiner Ab- 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 683 

teilung endete, und dessen Krankheitsbezeichnung „Rheumatismus und 
hysterische Stummheit“ lautete. In den früheren Krankenblättern war 
. von chronischem Alkoholismus oder sonstigen wesentlichen Momenten 
der Vorgeschichte nichts enthalten. Es stand darin nur, daß er früher 
angeblich stets gesund und 1916 als Soldat bereits wegen Rheumatismus 
und hysterischer Stummheit behandelt sei, sowie ferner die Angabe, daß 
er seine Krankheit auf Erkältung im Dienst zurückführe. 

Das Bild, das er mir bot, war folgendes: 

Vater aufgeregter Säufer. Ein Bruder mit 20 Jahren an Epilepsie 
gestorben. Ein Bruder klein gestorben. Ein anderer Bruder mit 47 Jahren 
an Krebs gestorben. 5 gesunde Geschwister. Er selbst litt von Kindheit an 
viel an Kopfschmerzen, in der Jugend viel Schlafsprechen. War von 
jeher leicht aufgeregt, schon als Kind streitsüchtig. Er hat in einer 7Massi¬ 
gen Schule alle Klassen durchgemacht, aber schwer gelernt. Er hat nicht 
aktiv gedient, Ursache ist ihm nicht bekannt. Er hat von jeher zu Magen¬ 
beschwerden geneigt. Hatte in den Jahren 1903—04 stets am Morgen Er¬ 
brechen. Litt in den späteren Jahren auch stets morgens viel an Übel¬ 
keit, obwohl sein Zustand im ganzen besser war. Auch hatte er seitdem viel 
rheumatische Beschwerden und ist viel erkältet gewesen. 

Im Juni 1916 eingezogen, kam er sehr bald wegen Rheumatismus 
und hysterischer Stummheit, die efilige Tage andauerte und ohne rechten 
Anlaß kam und ging, in Lazarettbehandlung. Wurde im Herbst 1916 als 
Arbeiter für den Heeresbedarf entlassen, lag dann von Mitte Juli 1917 
bis November 1917 in einem Zivilkrankenhaus wegen rheumatischer Be¬ 
schwerden und schlechten Sprechens. Kam am 5. 1. 18 wieder ins Feld 
als Armierungssoldat und am 26. 1. 18 bereits wieder wegen der genannten 
-Beschwerden ins Lazarett. Er gab hier zu, von jeher den ganzen Tag zu 
rauchen. Er habe regelmäßig jeden Tag etwa 3—4 1 Bier und „etwas“ 
Schnaps getrunken, Sonntags erheblich mehr, etwa 5—10 1 Bier. Er sprach 
bei der Aufnahme mit tonloser Stimme. 

Ist klein, nicht sehr kräftig. Er bot weiter dumpfe Herztöne, im 
Liegen betonte II. Herztöne, ferner starkes Plätschern und Gurren in der 
Magengegend, eine ziemlich kleine Leberdämpfung. Enorme Druck¬ 
empfindlichkeit aller großen Nervenstämme. Stark gesteigerte Muskel¬ 
erregbarkeit mit Querwulstbildung. Lebhafter statischer Tremor. Nicht 
ganz runde Sehlöcher. Beim Beginn der Augen Untersuchung starkes 
Zwünkern. Grau belegte Zunge. Starke Schmerzfurcht. Allgemeine 
Uberempfindlichkeit. Er neigte dazu, mit dem betreffenden Körperteil 
stets vor Berührungen auszuweichen. Grimassierte stark, angeblich vor 
Schmerzen, und ähnliches mehr. 

Ich glaube, daß man berechtigt ist, in diesem Falle allein einen chroni¬ 
schen Alkoholismus anzunehmen und irgendwelchen Einfluß des Heeres¬ 
dienstes auf die Gestaltung seines Krankheitsbildes abzulehnen, zumal die 
wirksam gewesenen Schädigungen die des täglichen Lebens eigentlich nicht 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6 . 4(5 


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R o h d e. 


übertrafen und speziell ein bedeutsames akutes schädigendes Erlebnis nicht 
nachzuweisen war. Ich meine, daß gerade das Fehlen eines schweren 
akuten Erlebnisses in besonderem Maße zur Prüfung der Ätiologie und 
Konstitution zwingt, weil sonst ohne dieses die Entstehung schwererer 
Störungen, wie Stummheit usw r ., kaum denkbar wäre. Ich könnte eine 
ganze Anzahl ähnlicher Fälle anführen, bei denen wie in diesem aber die 
Möglichkeit einer Grundlage der AJkoholintoxikation nicht gestreift war. 

Auch im folgenden Falle selbst war das nicht der Fall, der vielmehr 
als Rheumatiker galt, der es im Kriege geworden sei, bei dem aber wohl 
auch noch das Nikotin eine besondere Rolle spielt — ohne auf dessen Rolle 
hier besonders eingehen zu wollen. 

40jähriger Mann. Klagt über starke rheumatische Beschwerden 
sowie in letzter Zeit Flimmern vor den Augen, mit allgemeiner Ermüdbar¬ 
keit, die er auf Erkältung in vorderster Linie im Graben zurückführte. 
Ich konnte folgendes feststellen: 

2 Schwestern angeblich schwer rheumatisch, nach der Schilderung 
vielleicht hysterische Symptome. Er selbst hat schon vor dem Kriege 
rheumatische Beschwerden, besonders in der rechten Gesäßfalte und der 
rechten Schulter, seit langen Jahren gehabt. Im Oktober 1914 schlug eine 
Granate nicht weit von ihm ein. Er erschrak stark, hat angeblich stark 
geschwitzt und verspürte am nächsten Tage stärkere rheumatische Be¬ 
schwerden, so daß er in Lazarettbehandlung kam, im Anschluß eine Badekur 
durchmachte. Seitdem im Etappengebiet beschäftigt. 

Körperlich bot er eine ganze Reihe hysterischer Symptome; sehr 
lebhaften statischen Tremor. Gesteigerte Muskelerregbarkeit. Starke 
Druckempfindlichkeit aller großen Nervenstämme. Etwas dumpfe Herz¬ 
töne. Rachenkatarrh. Nur angedeutete Hautreflexe. Aufgehobene Fersen-, 
reflexe. Kniereflexe nur mit Jendrassik ganz schwach auszulösen. Ferner 
eine leichte Kropfanlage. Ich möchte erwähnen, daß die Pupillen reagierten, 
das Lagegefühl absolut ungestört war, er auch sonst nichts bot, >.vas im 
Sinne einer Tabes zu deuten wäre, daß er nie Lues gehabt hat, auch die 
W’assermn/msehe Reaktion sowohl im Blut wie in der Spinalflüssigkeit 
negativ war. Dagegen bot er, wie auf meine Veranlassung dann auch 
augenärztlich festgestellt w r urde, eine starke Rötung beider Papillen und 
eine kleine Blutung im linken Augenhintergrund, was augenärztlich auf 
Nikotin bezogen wurde. Er gab mir auf Befragen täglichen Genuß von 
20 schweren Zigarren zu und gab schließlich zu, was mir aus seiner nächsten 
Umgebung bestätigt wurde, daß er allabendlich seit langen Jahren große 
Mengen ,,Grog“, Schnaps, Wein trank und ohne diese Gifte eigentlich 
nicht leben könne. Ich bemerke aber ausdrücklich, daß er das erst zugab. 
als ich ihn darauf aufmerksam machte. Ich glaube, daß in diesem Falle 
die Annahme einer Pseudotabes alcoholica in jeder Weise gerechtfertigt 
war und eine DB. nicht angenommen w'erden konnte, zumal er in ruhigen, 
friedensmäßigon Verhältnissen in der Etappe lebte. 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 685 


Ich meine, daß ebenso wichtig wie die ganze psychopathische 
angeborene Artung für die Entstehung und für die Beurteilung 
der Neurosen des Krieges in allen ihren Formen und speziell 
auch für die Beurteilung der Dienstbeschädigungsfrage der chro¬ 
nische Alkoholismus und die .alkoholische Charakteränderung 
ist, die aber nach meinen Erfahrungen im allgemeinen bisher 
fast gänzlich außerhalb der* Betrachtungen und Erörterungen 
geblieben ist. Zur Nachprüfung und eventuellen Berücksichtigung 
schon jetzt bei der ersten für später so besonders wichtigen Fest¬ 
legung des Befundes anzuregpn, ist Zweck dieser kurzen Hinweise. 

Und dabei möchte ich noch auf etwas hinweisen, bezüglich 
dessen | aber, wie ich meine, möglicherweise die Verhältnisse 
anders liegen. In auffallender Häufung sind mir, vorwiegend bei 
asthenischen Menschen, aber daneben auch bei durchaus kräftigen 
Individuen eben abgreifbare leicht vergrößerte Schilddrüsen 
aufgefallen, die, ohne daß ausgesprochene Basedowerscheinungen 
! Vorlagen, mit gelegentlicher leichter Tachykardie, vereinzelt auch 

i mit nervösen Durchfällen und diesen oder jenen im allgemeinen 

j geringfügigen nervösen Erscheinungen vergesellschaftet waren. 

Sicher werden in sehr vielen Fällen auch diese Symptome schon 
vor dem Kriege bestanden haben, — Angaben z. B. über Durch¬ 
fälle bei Aufregungen im früheren Leben halte ich in dieser 
i Hinsicht für nicht unwesentlich —, es wird aber gerade m. E. 

j| bei derartigen, wie ich glaube, durchaus nicht seltenen Fällen 

oft schwer sein, den Nachweis zu führen und abzuwägen, ob bezw. 
in welchem Maße der Krieg für die Entstehung solcher der Forme 
fruste des Basedow nicht fernstehender Zustände heranzuziehen 
ist. Sicher hat die Ansicht von Langelaan (Neurol. Zentralbl. 
1912) sehr vieles für sich, der die asthenische Konstitution als 
Äußerung einer Dysthyreosis congenita auffaßt und sich dahin 
ausspricht, daß die Asthenia universalis die Vorbedingung für die 
Entstehung der Formes frustes ist, die nie aus voller Gesundheit 
sich entwickele, und deren Abklingen ebenso langsam und unbe¬ 
merkt vor sich gehe und einen Astheniker hinterlasse, der eben 
durch diese konstitutionelle Anlage immer wieder zur Neu- 
erkrankung prädisponiert ist, so daß die Vorbedingung zum Ent¬ 
stehen der Formes frustes stets die die Asthenie steigernden Ein- 
♦ 46* 


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Roh de, 


flüsse sind. Und es mag hier daran besonders erinnert werden, daß 
er schon vor dem Kriege darauf hinwies, daß das, was diese 
unvollkommenen Fälle von den chronisch verlaufenden Fällen des 
typischen Krankheitsbildes unterscheide, das Beeinflußbare aller 
Symptome sei: bei völliger Ruhe gingen) die meisten Symptome 
ziemlich schnell zurück, um sofort wieder zum Vorschein zu 
kommen bei körperlicher oder geistiger Anstrengung. Auch 
träten die Hauptsymptome nicht alle zu gleicher Zeit und in 
voller Entwicklung auf. Das Hervorragendste im Krankeitsbild 
bildeten die. kardiovaskulären Symptome. Ich meine, das legt 
uns die Pflicht auf, gerade bei derartigen Erscheinungen der 
ganzen Konstitution besondere Aufmerksamkeit zu schenken, auch 
im Interesse der Dienstbeschädigungsfrage. Immerhin verdient 
gerade bei derartigen von mir sehr oft gesehenen Erscheinungen 
auf die eigentlich nie in früheren Lazaretten geachtet war, 
Beachtung, daß es sich stets um erschöpfte Leute handelte, bei 
denen oft eigentlich schwerere Erscheinungen nervöser Art, speziell 
psychopathischer Artiing, in der Vorgeschichte fehlten, so daß 
mir in jedem Falle die Erschöpfung für das Auftreten solcher 
Erscheinungen eine Rolle zu spielen nnd damit für die Annahme 
einer wesentlichen Verschlimmerung oft die Vorbedingung ge¬ 
geben zu sein schien. Ich möchte darauf hinweisen, daß ich in 
durchaus nicht seltenen Fällen nach Schreck, bei schwerer Er¬ 
schöpfung, auch nach Gasvergiftungen in besonderem Maße der¬ 
artige Symptome gesehen habe, ja, daß in so manchen derartigen. 
Fällen Schilddrüsenschwelllungen, ein eigenartiger Glanz der Augen, 
Tachykardie und dergl. in wechselnder Kombination gleichsam 
unter meinen Augen in der Lazarettbeobachtung kamen und 
gingen. Ich bemerke, daß ich der ganzen Konstitution auch hier¬ 
bei stets die Hauptrolle zügewiesen habe, daß es sich aber 
andererseits um erschöpfte Menschen handelte und nicht in jedem 
Falle, wenn es auch für die meisten wohl zutreffend war, die 
Asthenia universalis vorlag. Hinweisen möchte ich auch darauf, 
daß mir als Mitglied einer Fliegeruntersuchungskommission auf¬ 
gefallen ist, wie gerade bei Fliegern, die schon oft und in größeren 
Höhen geflogen waren, derartige Befunde sich häuften, so- 
daß ich. den Eindruck habe, als ob der Wechsel plötzlicher 


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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. ©87 


Art, Luftdruckschwankungen, verschiedene sich rasch ablösende 
Luftströmungen u. dergl., wozu noch die ganze erhöhte Energie 
und Anspannung solcher Menschen kommt, für die Auslösung, 
■vielleicht auch in gewissen Grenzen Entstehung solcher Symptome 
nicht belanglos'wäre. Ich meine, daß gerade hieraus sich für 
später manche Fragen — und speziell mit Rücksicht auf die 
Dienstbeschädigungsfrage — ergeben können und müssen, auf die 
jetzt schon zu achten angezeigt ist. Und ich halte es für 
wünschenswert, wenn . schon jetzt in den Krankenblättem mehr 
als es geschieht auch darauf geachtet wird und speziell in jedem 
Nervenstatus auch ein Wort über die Schilddrüse sich finden 
würde und in den Vorgeschichten mehr den damit zusammen¬ 
hängenden Konstitutionsfragen Rechnung getragen würde. 

Das Hauptgewicht bei allen nervenärztlichen Feststellungen 
gerade mit Bezug auf alle im Vorstehenden hervorgehobenen 
Punkte wird m. E. stets in der Erhebung einer möglichst ein¬ 
gehenden Vorgeschichte beruhen. Es setzt das naturgemäß ein 
hohes Maß von Schreibarbeit voraus. Ich glaube aber, daß die¬ 
selbe nicht nutzlos ist, denn gerade durch sie wird und muß es 
gelingen, besser den Kranken zu beurteilen und weiterhin — 
wobei in frühzeitiger Festlegung aller dieser Punkte der Schwer¬ 
punkt liegen muß — die Heeresverwaltung vor unberechtigten 
Rentenansprüchen zahlloser von Hause aus psychopathischer oder, 
wie bei chronischen Alkoholisten. durch eigene Schuld psychopathisch 
gewordener Individuen zu bewahren. Es setzt das voraus, daß den 
mit dieser Aufgabe betrauten Dienststellen, wozu ja in erster 
Linie die Nervenabteilungen in Frage kommen, ausreichendes 
Hilfspersonal, speziell Schreibkräfte, zur Verfügung steht, das 
unschwer so weit gebracht werden kann, daß es in nicht allzu 
langer Zeit in der Lage ist, nach einem vom Arzt aufgestellten 
Schema derartige Vorgeschichten unter Berücksichtigung auch 
charakterologischer Einzelheiten durchzuführen. Wenn dann der 
Arzt selbst noch auf Einzelheiten, die vielleicht nicht so klar 
hervortreten, eingeht und die zum Teil bereits erhobene Kranken¬ 
geschichte mit dem Kranken durchgeht, läßt sich unschwer in 
jedem Falle, selbst bei großer Belastung der Station, die Auf¬ 
nahme eingehender Vorgeschichten durchführen. Es wird damit 


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638 Rohde, Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 

nicht nur das Interesse der Heeresverwaltung gewahrt, sondern 
auch die Möglichkeit gegeben, den Kranken besser psychothera¬ 
peutisch zur Seite zu stehen, als wenn man sich nur an die 
gegenwärtigen Symptome klammert und dieselben zu behandeln 
versucht, ohne die zahlreichen ätiologischen Zusammenhänge und 
psychologisch wirksamen Momente, sowie auch die cbaraktero- 
logisohen Eigenheiten zu entwirren. 

Aus diesem Grunde halte ich es für außerordentlich wichtig, 
so wie es in meinem Bezirk durch den Herrn Armeearzt an¬ 
geordnet war, daß bei der Einweisung jedes Nervenkranken und 
Geisteskranken in jedem Falle ein Bericht des Truppenteils her¬ 
gereicht wird, der sich nicht nur über die zu seiner Einweisung 
führenden Vorgänge, sondern auch über den Eindruck ausspricht, 
den Kameraden und Vorgesetzte seit längerer Zeit von dem be¬ 
treffenden Mann haben. Letzteres wird natürlich nur in ruhigeren 
Zeiten und ruhigerem Verhältnis möglich sein. Wenn es dann 
aber wirklich durcbgeführt wird, stellt es, meines Erachtens, nicht 
nur eine wesentliche Erleichterung für den Nervenarzt und ein 
sehr nutzbringendes Moment auch für den Kranken dar, sondern 
es kann uns auch dazu helfen, gerade bei Abwägung der für die 
DB.-Frage wichtigen Momente manche Unterlagen und Erleichte¬ 
rungen zu geben, die für später von größerer Bedeutung sind, 
als man es schlechthin zu glauben geneigt ist*). 

*) Vorstehende Ausführungen sind schon vor Jahresfrist entstanden. 
Wenn ich sie entgegen meiner ursprünglichen Absicht jetzt noch veröffentliche, 
so ist der Grund der, daß ich gerade jetzt bei der Nachprüfung von Versorgungs- , 
angprüchen das, was ich damals niederschrieb, voll bestätigt finde. Zugleich 
scheint mir die Veröffentlichung mit Rücksicht auf die nach Beendigung des 
Krieges vor uns liegende Arbeit gerechtfertigt, die Rentenansprüche der Ner¬ 
vösen mit dem notwendigen Maß von Kritik zu prüfen und etwa Versäumtes 
noch möglichst nachzuholen. 


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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwach¬ 
sinnigen and Normalen. 

Von 

San.-Rat Dr. Rudolf Ganter, Worraditt (Ostpr.). 

Es sind verschiedene Kunstgriffe angegeben worden zur Fest¬ 
stellung der Linkshändigkeit. Das erübrigt sich aber, die einfache 
Beobachtung genügt vollständig. Allerdings mit der linken Hand 
essen und schreiben nur wenige Linkshändige: man hat ihnen 
das, als zu auffallend, von frühester Jugend an abzugewöhnen 
gesucht. Doch: Naturam expellas furca, tarnen usque recurret. 
Bei längerer Beobachtung der Leute, wozu ja in der Anstalt reich¬ 
lich Gelegenheit ist,\ entdeckt man oft ganz unerwartet, daß ein 
Kranker, hinter dem man nie die Linkshändigkeit vermutet hätte, 
eines schönen Tages den Hammer mit der linken Hand führt, 
mit der linken Hand die Peitsche schwingt oder Brot schneidet, 
Staub wischt, Teller abtrocknet. Bei andern überrascht es, daß 
sie beim Kartenspiel mit der linken Hand mischen und ausgeben. 
Wieder andere schälen Kartoffeln links, stricken links, fädeln 
links ein, werfen den Ball links. Der linkshändige Landarbeiter 
führt den Spaten, den Rechen, die Forke links. Da machen 
sich aber oft Zweifel geltend: Wie muß der Arbeiter den Stiel 
fassen, um als rechts- oder linkshändig angesehen zu werden? 
Hier entscheidet, welche Hand die Führung hat. Hält jemand 
mit dejr linken Hand den Stiel in der Mitte, während die rechte 
Hand das Ende des Stieles faßt, so ist er rechtshändig, im um¬ 
gekehrten Falle linkshändig. Die vordere Hand ist eben nur die 
‘ Stützhand, die hintere, wichtigere, ausschlaggebende die Leitungs¬ 
hand. Man darf sich nur zur Verdeutlichung die Lage der Hände 
des das Gewehr in Anschlag bringenden Soldaten vor. Augen 
halten. 


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Ganter. 


Stier gibt in seinem Buche 1 ) noch eine ganze Reihe anderer 
Hantierungen an, an denen man in' einfacher Weise den Links¬ 
händer erkennen kann. Mag einer noch so viele Verrichtungen 
mit der rechten Hand ausführen: wo es sich um die Entfaltung 
einer besonderen Geschicklichkeit handelt, wird der Linkshänder 
immer die linke Hand gebrauchen. Selbstverständlich zählen alle 
die nicht zu den eigentlichen Linkshändern, die aus organischen 
Gründen in der Verwendung der rechten Hand behindert sind, 
wie die Verletzten, Gelähmten, Spastischen. Der echte Links¬ 
händer wird geboren. 

Zu den in der Anstalt gemachten Beobachtungen kommt 
weiterhin das Ausfragen der Angehörigen, um das Vorkommen 
der Linkshändigkeit in den Familien der Kranken festzustellen. 
Wir haben den Eindruck gewonnen, daß hierbei brauchbare An¬ 
gaben zu erhalten sind, wenigstens hinsichtlich der Eltern und 
Geschwister. Zum Vergleich haben wir eine Umfrage über das 
Auftreten der Linkshändigkeit in normalen Familien veranlaßt. 

Sektionen bei unsereq Kranken verschafften uns auch einen 
kleinen Einblick in die Gehirnverhältnisse. 

Wir wenden uns zunächst zu dem Vorkommen der Links¬ 
händigkeit : 

Von 73 männlichen Epileptischen sind 21 = 28,7 % linkshändig 

„ 73 weiblichen ,, „ 11 = 15,0% ,, 

Von 146 Epileptischen sind 32 = 21,9% linkshändig 

Von 88 männlichen Schwachsinnigen sind 16 = 18,2% linkshändig. 

,, 67 weiblichen „ ,, 13‘ = 19,4% „ 

Von 155 Schwachsinnigen sind 29 = 18,7% linkshändig. 

Rechnen wir zu den linkshändigen Kranken noch diejenigen hinzu, 
die selbst nicht linkshändig sind, aber linkshändige Verwandte haben, 
so ergeben sich folgende zwei Tabellen: 

Von den 73 männlichen Epileptischen: 21 + 21 = 42 = 57,5 %. 

,, „ 73 weiblichen ,, 11 + 14 = 25 = 34%2 %. 

Von den 146 Epileptischen s 32 + 35 = 67 = 45,9%. 

Von den 88 männlichen Schwachsinnigen: 16 + 25 = 41 = 46,6%. 

,. ,, 67 weiblichen ,, 13 + 17 = 30 = 44,8%. 

Von den 155 Schwachsinnigen 29 -t- 42 = 71 = 45,8%. 

M Stier, rntcrsucliungcn über Linkshändigkeit. Jena 1911.' 


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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 691 

Den beiden Krankheitsgruppen, den Epileptischen und Schwach¬ 
sinnigen, gegenüber stellen wir eine Gruppe von Gesunden. Hier haben 
wir allerdings die L'ntersuchungen und das Ausfragen nicht selbst besorgt, 
sondern durch zwei Mittelspersonen ausführen lassen: Bei 93 anscheinend 
normalen Familien kam in 26 Familien Linkshändigkeit vor = 27,9%. 

Aus diesen Tabellen ergibt sich zunächst die Tatsache, daß die männ¬ 
lichen Epileptischen den größten Prozentsatz an Linkshändigen aufweisen, 
nämlich 28,7% gegenüber 18,7% bei den Schwachsinnigen. Dieser Befund 
stimmt mit den Angaben anderer überein, wonach unter den Epileptischen 
überhaupt sich sehr viele Linkshändige befinden. So kommt bei ihnen 
nach Lombroso und Tonnini 1 ) Linkshändigkeit in 23—30% vor. Stier 
fand sie bei 119 epileptischen Kindern der Nervenpoliklinik der Charitö in 
Berlin 17mal = 14,3% (13,2% Knaben, 15,7% Mädchen). Redlich 1 ) 
wies unter 125 Epileptikern in 17,5% Linkshändigkeit nach, dagegen bei 
Nerven- und Geisteskranken in nur 8%. Ähnlich lautet das Ergebnis 
von Stier bei den nicht epileptischen Kindern der Nervenpoliklinik: Unter 
1770 Kindern 162 = 9,1 % Linkshändige. Unsere Zahl von 28,7 % stimmt 
am besten zu der von Lombroso und Tonnini gefundenen, während unsere 
weiblichen Epileptischen in einem geringeren Prozentsatz Linkshändige 
zeigen, in 15,0 %. Diese Zahl kommt dann wieder der von Redlich und 
Stier angegebenen nahe. Ob die geringere Beteiligung der epileptischen 
Frauen auf einem Zufallsergebnis beruht, oder ob der Umstand auch hier 
hineinspielt, wonach, wie Stier angibt, bei normalen Männern die Links¬ 
händigkeit doppelt so häufig ist als bei den Frauen, ist nicht leicht zu 
sagen. Vielleicht ist es Zufall, denn bei den Schwachsinnigen mit ihren 
18—19 % Linkshändigkeit überwiegen sogar etwas die weiblichen Schwach¬ 
sinnigen. Die Zahl der Linkshändigen bei den Schwachsinnigen über 
.haupt (18,7 %) bleibt hinter der bei den Epileptischen überhaupt (21,9%) 
nicht erheblich zurück. Von den 18,7% Linkshändigen bei den 
Schwachsinnigen bis zu den von Redlich angegebenen 8% bei Nerven 
und Geisteskranken ist wiederum ein großer Schritt. Der geringste 
Prozentsatz wurde bei Normalen gefunden: Nach Stier waren unter 4787 
Soldaten 220 Linkshändige — 4,6%, nach o. Bardeleben 2 ) unter 266000 
Rekruten bis zu 6,8 %. Wenn das Vorkommen der Linkshändigkeit von 
einigen, wie von Pelman, Liersch, Weber, Hyrtl 3 ), auf nur 2—4 % geschätzt 
wird, so ist diese Zahl sicher viel zu niedrig. Schätzungen besagen übrigens 
in diesen Fällen nicht viel, wo selbst eingehende statistische Erhebungen 
noch mit Fehlerquellen behaftet sein können. 

Kehren(Pir zu unserer Statistik zurück. Wir haben zu den epilepti¬ 
schen und schwachsinnigen Linkshändern nun auch diejenigen Kranken 

1) Bei Binstvanger, Epilepsie, 2. Auf!., S. 315. 1913 u. Archiv f. 
Psych., 1908, Bd. 44. 

2 ) Ref. in der Münch, med. Wschr. 1913, Bd. 2, S. 2701. 

3 ) Bei Stier S. 69. 


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692 


Ganter, 


hinzugezählt, die linkshändige Verwandte haben, und einen Prozent¬ 
satz erhalten, der bei den männlichen Epileptischen am höchsten ist: 
57,5 %, während er bei Gegenüberstellung aller Epileptischen und Schwach¬ 
sinnigen soviel wie gleich ist: 45,9 und 45,8%. Unser Vergleich mit dem 
Vorkommen von Linkshändigkeit in den gesunden Familien ergibt 27,9 %. 
Der Prozentsatz hinsichtlich des Vorkommens der Linkshändigkeit in 
Familien von Epileptischen und Schwachsinnigen ist auch hier beträchtlich 
hoch, wenn auch nicht so hoch, wie ihn Steiner 1 ) angibt, der in 89,5 % 
Linkshändigkeit in den Familien der rechtshändigen Epileptiker und 
Linkshändigkeit bei den Kranken selbst fand. Stier erfragte von 304 Sol¬ 
daten 154 linkshändige Verwandte = 50,6 %. Unsere Zahl von 27,9 % 
bleibt hinter diesen Zahlen mehr oder weniger weit zurück. Aber gerade 
diese Statistiken, die die Verwandten einbeziehen, schließen reichlich 
Fehlerquellen in sich. So weiß man nicht, wie weit das Erinnerungsver¬ 
mögen der Befragten geht, was alles in die Verwandtschaft einbezogen 
wird und dergleichen mehr. Immerhin kann man eher mit einem Zuwenig 
als mit einem Zuviel der Zahl rechnen. Auch der Zufall mag eine nicht 
zu unterschätzende Rolle spielen. Wie oben schon gesagt, ließ ich in 
gesunden Familien durch zwei Mittelspersonen Umfrage halten: von der 
einen erhielt ich 16,6%, von der andern 30,8% Linkshändige. 

Suchen wir nach einer Erklärung für das häufige Auftreten der 
Linkshändigkeit bei den Epileptischen, so spielen in manchen Fällen 
sicher halbseitige Gehirnprozesse, wie Redlich behauptet, eine Rolle. 
Eine im frühesten Kindesalter auftretende Enzephalitis kann die eine 
Hirnhälfte, also z. B. die linke, in der Weise schädigen, daß die andere 
Hälfte einen Teil ihrer Funktionen übernehmen muß. Dabei kann die 
Störung so gering sein, daß bei der Untersuchung des Kranken keine 
auffallenden Erscheinungen zutage treten. Manchmal gewinnen wir einen 
gewissen Anhaltspunkt für den Sitz der AfTektion im Verhalten der Knie¬ 
sehnenreflexe. So fand Stier bei einem Linkshänder eine Steigerung des 
rechtsseitigen Kniesehnenreflexes. Desgleichen wies Stier bei seinen 17 
linkshändigen epileptischen Kindern in zwei Fällen ein Geburtstrauma 
und in einem Falle Enzephalitis nach, deren dadurch bewirkte Hirn¬ 
schädigung sich in Spasmen, Paresen und Reflexunterschieden kundgab. 

Die Untersuchungen, die wir bei einigen linkshändigen Epileptischen 
und Schwachsinnigen anstellen konnten, hatten folgendes Ergebnis: 

Zahl der Fälle Rnierefl. rechts stärker Knierefl. links stärker 
Epil. 12 4 (1 mal sehr ausgeprägt, 7 (4 mal sehr ausgeprägt, 

3 mal lebhaft). 3 mal lebhaft) 

Schwachs. 15 4 (sehr ausgeprägt) 1 (sehr ausgeprägt). 

Bei den Epileptischen war also 11 mal ein Unterschied in der Stärke 
der Kniereflexe vorhanden, aber 7 mal waren sie links stärker und nur 

J ) Bei Binswanger S. 316. 


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Uber Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 693 

4 mal rechts, während man rechtseitige Steigerung erwartet hätte. Bei 
den Schwachsinnigen zeigte sich nur 5mal ein Unterschied in der Stärke. 
Diesmal allerdings waren sie 4mal rechts stärker und nur lmal links. 
Wie man sieht, ist keine bestimmte Beziehung zwischen der Steigerung des 
Kniereflexes und der Linkshändigkeit festzustellen. ln einem Falle von 
Epilepsie wiesen die öfters auftretenden Zuckungen im rechten Arm auf 
ein ErgrilTensein der linken Hemisphäre hin, aber da war merkwürdiger¬ 
weise der Kniereflex links gesteigert. In einem zweiten Falle von Epilepsie 
konnte die Kranke wegen des beim Schreiben sofort auftretenden Zitterns 
nur mit der linken Hand schreiben — der einzige unter unsern Fällen mit 
linker Handschrift —, auch konnte die Kranke Tassen und dergleichen 
in der rechten Hand nicht ohne zu zittern halten. Und auch in diesem 
Falle war merkwürdigerweise der Kniereflex links gesteigert. In einem 
dritten Falle, der früher von uns beschriebenen linkshändigen Rechen¬ 
künstlern! 1 ), machte die Kranke beim Kopfrechnen unwillkürlich mit 
der linken Hand eine ausfahrende Bewegung, als ziehe sie einen Strich 
unter die Zahlen: eine Mitbewegung, die nach Stier zur Lokalisation einer 
AfTektion verwertet werden kann. Und auch da wiederum war der Knie¬ 
reflex links gesteigert. Vielleicht liegt bei diesen Fällen die Ursache in 
einer eigenartigen Lokalisation der Hirnprozesse. Jedenfalls kann nach 
unsern Befunden der Unterschied im Verhalten der Kniereflexe nicht in 
eine geregelte Beziehung zur Linkshändigkeit und ihrer Lokalisation im 
Gehirn gebracht "werden. 

Was von der Epilepsie gilt, .gilt in gewissem Grade auch vom Schwach¬ 
sinn. Auch hier mögen in manchen Fällen von Linkshändigkeit frühzeitig 
aufgetretene, wenig auffallende Erscheinungen bewirkende Krankheits¬ 
prozesse im Gehirn, vielleicht auch Entwicklungshemmungen für das 
Entstehen der Linkshändigkeit verantwortlich gemacht werden. 

Wird man bei einem Teil der Fälle mit einem derartigen Erklärungs¬ 
versuch nicht fehlgehen, so bleibt doch noch eine große Anzahl Fälle 
außerhalb des Rahmens dieser Erklärung. So fordern eine andere Deutung 
alle diejenigen Fälle, bei denen Erblichkeit nachgewiesen werden kann. 
Wir haben unter 120 Familien unserer Kranken 33 Familien gefunden, 
in denen die Linkshändigkeit bei mehr als einem der Mitglieder vorkommt, 
d. h. 27,5 %. Von den Seitenverwandten haben wir nur die Onkel und 
Tanttm berücksichtigt. Sehen wir des näheren zu, wie sich die Übertragung 
oder das Vorkommen in der Familie gestaltet: 

Vererbung: Vom Vater auf den .Sohn 6mal; von der Mutter auf den 
Sohn 1 mal; Mutter links, 3 Söhne und eine Tochter: 2 Söhne links; Mutter 
und Tochter links: 2mal; 2 Brüder links: 3mal; 2 Schwestern: lmal: 
Bruder und Schwester: 3mal. Was das Vorkommen bei Großeltern» 
Onkeln und Tanten betrifft, haben wir etwa noch 6 Fälle zu verzeichnen. 


*) Diese Zeitschrift B. 73. 


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694 


Ganter, 


aber keineswegs irgendwelche Regelmäßigkeit gefunden. Auf welche Weise 
die Linkshändigkeit in eine Familie eingeführt werden kann, zeigt am 
besten die mehrmalige Verheiratung: 1. Aus der ersten Ehe der Mutter 
stammen 4 Söhne, darunter der Pat. und 3 Töchter: aus der zweiten Ehe 
eine Tochter und ein Sohn: der Vater und der Sohn sind links. 2. Aus der 
ersten Ehe der Mutter 3 Töchter, aus der zweiten Ehe 3 Söhne und 3 
Töchter, darunter die Pat. Diese letztere ist links, die Großmutter 
mütterlicherseits war links. Hier ist wohl in der zweiten Ehe ein patho¬ 
logischer Faktor hinzugetreten, der auch die Linkshändigkeit, die in der 
ersten Ehe nicht zur Geltung kam, in der zweiten zum Ausbruch brachte. 
3. In dieser Familie liegen die Verhältnisse ähnlich, hur scheint die De¬ 
generation in der zweiten Ehe noch stärker zum Ausdruck zu kommen: 
Aus der ersten Ehe der Mutter 2 Söhne und 1 Tochter; aus der zweiten 
Ehe 2 Söhne und 4 Töchter, darunter die idiotische Kranke und eine links¬ 
händige Schwester. Alle Geschwister lernten schwer. 

Im Gegensatz zu diesen Fällen stehen andere, bei denen man sich 
wundern muß, daß die Linkshändigkeit sich nicht vererbte: 1. Vater 
links, hat 3 Söhne und 5 Töchter, nicht links. 2. Vater links, hat einen 
Sohn und 3 Töchter, nicht links. 3. Vater und Mutter links, haben 3 Söhne 
und 1 Tochter, nicht links. 4. Vater des Pat. und Großvater mütterlicher¬ 
seits links, der Vater hat 5 Söhne und 5 Töchter, nicht links. 5. Die Mutter 
des Pat. links, Großmutter mütterlicherseits links, von den 5 Söhnen und 
4 Töchtern keine links. 6. Die Mutter des Pat. und deren Schwester links, 
die Muttter hat 1 Sohn und 4 Töchter, nicht links. 

Man könnte ja bei diesen Fällen annehmen, daß eine Generation 
übersprungen wird und die Linkshändigkeit vielleicht ln der nachfolgenden 
wieder zum Vorschein kommt. Jedenfalls ist es eine auffallende und für 
uns bis jetzt trotz Afendefscher Regeln nicht weiter erklärbare Tatsache, 
daß das eine Mal die Linkshändigkeit von den Eltern. Großeltern oder aus 
einem Seitenzweig sich vererbt und manchmal bei mehreren Nachkommen 
auftritt, das andere Mal wieder trotz Linkshändigkeit, auch mehrfacher, 
bei den Vorfahren, auf keines der Kinder eine Übertragung stattfindet. 

Um hier die schon einmal gestreifte Frage nach dem Vorkommen der 
Linkshändigkeit beim männlichen und weiblichen Geschlechte wiederum 
anzuschneiden, haben wir bei 88 Familien unserer epileptischen und 
schwachsinnigen Kranken die Söhne und Töchter mit Linkshändigkeit 
zusammengezählt und gefunden, daß unter 264 Söhnen 58 = 21,9% und 
unter 246 -Töchtern 37 = 15,0% Linkshändige sich finden. Es über¬ 
wiegt also, wie wir schon oben einmal berechnet haben, das männliche 
Geschlecht in ziemlichem Maße, wenn auch nicht doppelt so stark, wie 
Stier gefunden hat. 

Die Vererbbarkeit der Linkshändigkeit ist schon von verschiedenen 
Autoren betont worden, so von Stier . dessen Zahlen wir aber, weil auf ande¬ 
rer Rechnung beruhend, nicht zum Vergleich heranziehen können. Redlich 


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Uber Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 695- 

sieht in dem familiären Auftreten der Linkshändigkeit ein Degenerations¬ 
zeichen. Dies familiäre Auftreten konnte er aber nur in 3% seiner Epi¬ 
leptiker naehweisen, wir hingegen in den Familien unserer Kranken 
in 45,9%. 

In der Tat bietet sich hier eine zweite Möglichkeit für die Erklärung 
des Auftretens der Linkshändigkeit: Sie ist als ein Degenerations- * 
Zeichen anzusehen. Dafür spricht das gehäufte Auftreten bei Epilepti¬ 
schen und Schwachsinnigen, ferner das gleichzeitige Vorkommen anderer 
degenerativer Erscheinungen. So ist die Linkshändigkeit oft vergesell¬ 
schaftet mit Sprachfehlern, Bettnässen, Fazialisparese, Debilität. Stier 
fand sie bei minderwertigen Soldaten (Festungsgefangenen) häufiger als 
bei den übrigen Soldaten. Lombroso, Marro, Baer wiesen sie auch bei 
Verbrechern in vermehrter Weise nach. 

Eine dritte Möglichkeit, sich das Erscheinen der Linkshändigkeit 
verständlich zu machen, wäre die, in ihr eine Anomalie, eine Abweichung 
vom Typus zu erblicken, wie es Stier tut, der in dem heutigen Links¬ 
händer den Rest einer im Aussterben begriffenen Varietät der Gattung 
Homo sapiens zu erkennen glaubt. Doch betreten wir hier schon das 
anthropologische Gebiet % Für unsere Fälle kommen wir mit den zwei 
ersten Erklärungsversuchen aus, wonach die Linkshändigkeit einerseits 
bedingt sein kann durch Krankheitsprozesse im Gehirn, andrerseits als 
Degenerationszeichen anzusehen ist. 

Haben uns bisher die Fragen über Vorkommen, Vererbbarkeit und 
Wertung der Linkshändigkeit beschäftigt, so wollen wir nunmehr einen 
andern wichtigen Punkt erörtern, nämlich die Frage, ob die Linkshändig¬ 
keit auch morphologisch nachweisbar ist. 

Im allgemeinen entwickeln die Rechtshänder in ihrem rechten Arm, 
die Linkshänder in ihrem linken eine größere Kraft, die sich auch in einem 
größeren Umfang des betreffenden Gliedes kundgibt. Doch gibt es nicht 
wenige Fälle, in denen beim Rechtshänder die größere Kraft im linken, 
beim Linkshänder im rechten Arm sitzt. Dem entsprechend verhält sich 
auch der Umfang. Geschicklichkeit für feinere Arbeiten und grobe Kraft 
brauchen also nicht notwendig im gleichen Arm oder der gleichen Hand 
vergesellschaftet zu sein. Diese Angaben beruhen auf den Messungen 
verschiedener Autoren mit Dynamometer und Bandmaß. Bei 27 unserer 
linkshändigen Kranken hatte 4 mal der linke Oberarm einen 0,5 cm, 1 mal 

*) Auffällig ist die Tatsache, daß Stier bei den elsaß-lothringischen 
Soldaten viel Linkshändigkeit antraf. Das stimmt aber damit gut zu¬ 
sammen, daß ich bei den Untersuchungen auf Degenerationszeichen in 
Hördt im Elsaß unter dem Pflegepersonal einen ebenso hohen Prozentsatz 
von Irisfleckung fand wie sonst bei den Geisteskranken (diese Zeitschrift 
Bd. 70). Es scheint demnach, daß die Mischung verschiedener Volks¬ 
stämme, wozu bei einer Grenzbevölkerung ja reichlich Gelegenheit ist, auch 
bei Gesunden das vermehrte Auftreten von allerlei Anomalien begünstigt. 


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696 


Ganter. 


einen t cm, 3mal einen 1,5 cm größeren Umfang als der rechte; 3mal war 
der rechte Oberarm um 1 cm stärker. Andere Autoren haben auch die 
Länge der Knochen gemessen und nach dem Tode das Gewicht bestimmt, 
ohne, ebenso wie wir, eine geregelte Beziehung zwischen diesen Befunden 
und der Linkshändigkeit feststellen zu können. 

Wichtiger als diese Untersuchungen scheinen uns die über das Ver¬ 
halten der Gehirnhälften zu sein. Es liegt nahe, anzunehmen, daß der 
mehr gebrauchten und geübten Hand eine bessere Entwicklung der ent¬ 
sprechenden Hirnhälfte zugrunde läge, was sich möglicherweise durch 
Wägungen nachweisen ließe. 

Zur Erörterung dieser Frage, stehen uns 168 Sektionen von Epi¬ 
leptischen und Schwachsinnigen zu Gebote, die ich in unserer Anstalt 
zu machen Gelegenheit hatte. Darunter waren 151 rechtshändige und 
17 linkshändige Kranke. Das Verhältnis der Hemisphärengewichte geht 
aus folgender Tabelle hervor: 

Bei den rechtshändigen Kranken: 

Zahl der 

männl. Epil. männl. Schwach«, weibi. Epil. weibl. Schwach«. 

Rechte Hemi¬ 
sphäreschwerer: 37 21 29 15 = 102=67.1% 

Linke Hemi¬ 
sphäre schwerer: 10 11 10 0 *= 37=24,5% 

Beide Hemi¬ 
sphären gleich: 4 4 3 1 = 12= 7.9% 

151 

Bei den linkshändigen Kranken: 

Hier haben wir der Kleinheit der Zahl wegen und weil eine nach Ge¬ 
schlechtern getrennte Aufstellung,wie schon aus der obigen Tabelle hervor - 
geht, ohne Bedeutung ist, jeweils Männer und Frauen zusammengenommen. 

Zahl der Epil. der Schwachs. 

Rechte Hemisphäre 

schwerer: 7 5 = 12 = 70,6 % 

Linke Hemisphäre 

schwerer: 3 1 = 4 = 23.5 % 

Beide Hemisphären 

gleich: — 1 = 1 

17 

Nach dieser Statistik ist also die rechte Hemisphäre in einem hohen 
Prozentsatz der Fälle überhaupt schwerer als die linke, während man 
eigentlich das Umgekehrte erwartet hätte. Der Unterschied bei Reehts- 
und Linkshändigen ist dabei verschwindend klein. Am seltensten ver¬ 
halten sich beide Hemisphären gleich. 

Von andern Autoren fand Klippel die linke Hemisphäre bei 200 
Gehirnen schwerer als die rechte, Luys fand bei 26 Gehirnen 12 mal die 


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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 697 

linke, 8mal die rechte Hemisphäre schwerer, 7 mal gleich schwer; Braune 
unter 92 Gehirnen 52 mal die rechte Hemisphäre, 34 mal die linke schwerer. 
Zu ähnlichen Ergebnissen wie Braune kamen Wagner und Ecker , während 
Rubel das Vorliegen eines Gewichtsunterschiedes bestreitet 1 ). Es scheinen 
diese Untersuchungen an Gehirnen früher geistesgesunder Menschen vor¬ 
genommen worden zu sein. Nur Klippel berichtet über Untersuchungen 
von 28 Gehirnen Geisteskranker, bei denen 15mal die linke, 11 mal die 
rechte Hemisphäre schwerer war, und 2 mal ein gleiches Gewicht sich fand. 
Reichardt fand beide gleich schwer 2 ). In dem sonst so zahlenreichen 
Werke von Vierordts Daten und Tabellen steht in dieser Hinsicht so gut 
wie gar nichts. 

Wir sind also zu ähnlichen Resultaten gekommen wie Braune . 
Wagner und Ecker. 

Stier legt wenig Wert auf die Wägung der Hemisphären, weil zu viel 
Fehlerquellen damit verbunden seien, als da sind ungleiche Blutverteilung, 
ungleicher Wassergehalt, Ungenauigkeit der Schnittführung. Was diesen 
letzteren Punkt betrifft, so läßt sich ja gewiß nicht das Gehirn mathe- 
matisen genau in der Mitte trennen, nicht mathemasisch genau die Brücke 
am Eintritt der Hirnschenkel abschneiden. Auch mit dem Blut- und 
Wassergehalt hat es seine Bedenken. Wenn der Unterschied der beiden 
Hemisphärengewichte nur einige Gramm beträgt, mag er bedeutungslos 
sein, der Wert des Befundes steigt aber mit Zunahme der Gewichtsunter¬ 
schiede. Mehr als Worte besagen Zahlen, weshalb wir in der folgenden 
Statistik die Unterschiede in Zahlen anführen wollen: 



Bei den Rechtshändigen 

Bei den Linkshändigen 

Das Gewicht der 

und zwar der 

und zwar der 

einen Hemisphäre 

rechten Hemi-j 

linken Hemi- 

rechten Hemi-! 

linken Hemi* 

ist größer um 

Sphäre 

Sphäre 

Sphäre 

Sphäre 


Zahl d. Fälle 

Zahl d. Fälle 

Zahl d. Fälle 

Zahl d. Fälle 

1-10 g 

68 

26 

3 

3 

11-20 g 

18 

12 

2 

1 

21-30 g 

4 

2 

— 

1 

31—40 g 

1 

4 

i 

— 

41—60 g 

3 

_ 

i 

— 

51—60 g 

2 ! 

3 

3 

— 

61—70 g 

1 

1 

— 

— 

91—100 g 

1 

— 

— 

— 

über 100 g 

1 1 

1 

1 

— 


1 ) Bei Stier S. 1 *26. 

2 ) Arb. aus d. psych. Kl. Würzburg. H. 1 . R. hatte die weichen Häute 
entfernt, wir nicht. Doch verfügen auch wir über weitere 25 Fälle, bei denen 


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698 


Ganter, 


Wir glauben, daß Unterschiede von 10—20 g kaum mehr mit dem 
verschiedenen Wasser- und 'Blutgehalt der Hemisphären zu erklären sind, 
aber auch was die kleineren Gewichtsunterschiede anbelangt, wäre es 
merkwürdig, wenn dieser in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle immer 
zugunsten der rechten Hemisphäre ausfiele 1 ). Das Gleiche läßt sich auch in 
Beziehung auf die Zerteilung des Gehirns sagen. 

Am ehesten dürfte der Unterschied im Blut- und Wassergehalt der 
Hemisphären bei der chronischen Leptomeningitis zur Geltung kommen, 
besonders da wir die Pia nicht entfernt haben. Unter unseren Sektionen 
zählten wir 22 derartige Fälle. In 18 weiteren Fällen handelte es sich um 
lokale Mikrogyrie, die aber unterschiedlos bald rechts, bald links saß und 
von keinem Einfluß auf die Linkshändigkeit war. Gröbere Hirnstörungen, 
wie Porenzephalie, die zu einer Unbrauchbarkeit einer Extremität geführt 
hatten, haben wir hier natürlich nicht milgezählt. 

Alles in allem genommen läßt sich sagen, daß die Gewichtsunter¬ 
schiede der Hemisphären ohne Einfluß auf die Linkshändigkeit sind. Nun 
wäre es ja möglich, daß sich die größere Leistungsfähigkeit einer Hemi¬ 
sphäre nicht in der groben Weise zeigt, daß diese an Gewichtsunterschieden 
erkennbar wäre. Es könnten Unterschiede im Bau und Verlauf der Windun¬ 
gen, in dem histologischen Verhalten der Zellelemente vorhanden sein. 
Oder es könnte die eine Hirnhälfte sich einer besseren Blutversorgung 
erfreuen, sei es, daß der Blutdruck auf der einen Seite höher ist, oder daß 
die Gefäße eine größere Weite besäßen: all das ist schon untersucht, be¬ 
hauptet und widerlegt worden. Es bleibt demnach für die Erklärung 
der Linkshändigkeit, wie überhaupt für das Oberwiegen einer Hemisphäre, 
nichts anderes übrig als die Annahme, daß dieses Oberwiegen rein funktio¬ 
neller Natur ist, wie es Stier behauptet. In der Tat, wenn ein so feiner und 
verwickelter Mechanismus, wie es die Sprache ist, im Gehirn, trotzdem 
s<e genau lokalisiert ist, keinerlei histologische Besonderheiten erkennen 
läßt, ist es auch schließlich begreiflich, wenn auch der Links- und Rechts¬ 
händigkeit' keine morphologischen Veränderungen im Gehirn zugrunde 
liegen. 

Zuletzt noch die Frage: Wie ist das funktionelle Oberwiegen der 
einen Hirnhälfte zu erklärend Nach Stier gebrauchen die dem Menschen 
am nächsten stehenden Tiere, die Menschenaffen, beim Greifen in gleicher¬ 
weise beide vordere Extremitäten. Der aufrechte Gang des Menschen 
aber brachte es mit sich, daß er die eine Hand, und zwar die rechte, bevor- 


wir die Pia vor der Wägung abgezogen hatten. Davon war 16 mal die rechte. 
7 mal die linke Hemisphäre schwerer, 2 mal waren sie gleich. Die Gewichts¬ 
unterschiede waren auch hier teilweis erheblich, 20 — 40 — 60 g. 

') Beichardt glanbt, daß die Reihenfolge der Wägnngen eine Rolle spiele, 
die znlet2t gewogene Hemisphäre sei wegen des mittlerweile erfolgten größeren. 
Flüssigkeitverlustes leichter geworden. 


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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen n. Normalen. 699 

zugte. Im Kampf ums ^Dasein nämlich führte er mit dieser die WafTen, 
den Speer, die Keule, das Schwert, mit dem Speer zielte er nach der ver¬ 
wundbarsten Stelle des Gegners, nach dem Herzen, der wiederum das 
Bestreben hatte, die gefährdete Stelle durch den in der linken Hand ge¬ 
haltenen Schild» zu schützen. Auf diese Weise wurde die rechte Hand 
immer geschickter. Derjenige, der sie gebrauchte, wird also den Kampf 
ums Dasein besser bestanden haben, während der Linkshändige immer 
mehr in Nachteil geriet und schließlich auf den Aussterbeetat kam. Jetzt 
sind nur noch Überbleibsel von ihm vorhanden. 

Kurzum, mag man die Theorie von Stier annehmen oder nicht, soviel 
ist sicher, daß die Rechts- und Linkshändigkeit nur auf einem funktio¬ 
neilen Überwiegen der einen oder andern Himhälfte beruht. In dieser 
Hinsicht bestätigen unsere Untersuchungen die Ansicht Stiers. 

Zusammenfassung. — Prozentsatz des Vorkommens der 
Linkshändigkeit der 7 Kranken: t 

a) Geordnet nach der Häufigkeit bei den beiden Geschlechtern: 

Bei den männlichen Epileptischen in 28,7 %, bei den weib¬ 
lichen Schwachsinnigen in 19,4 %, bei den männlichen Schwach¬ 
sinnigen in 18,2 %, bei den weiblichen Epileptischen in 15,0 %. 
b) Geordnet nach den beiden Krankheitsgruppen: 

Bei den Epileptischen in 21,9 %, bei den Schwachsinnigen 
in 18,7 %. 

Unter Zurechnung der linkshändigen Verwandten unserer Kranken: 

Bei den männlichen Epileptischen in 57,5 %, bei den männ¬ 
lichen Schwachsinnigen in 46,6 %, bei den weiblichen Schwach¬ 
sinnigen in 44,8 %, bei den weiblichen Epileptischen in 34,2 %. 

Geordnet nach beiden Krankheitsgruppen: 

Bei den Epileptischen in 45,9 %, bei den Schwachsinnigen 
in 45,8 %. Vorkommen der Linkshändigkeit in normalen Familien 
in 27,9 %. Es ist also der Prozentsatz von Linkshändigkeit bei 
unsem Kranken ein ziemlich hoher, rund 45 %, gegenüber den 
27,9 % bei den Normalen. 

Bei Berechnung des Prozentsatzes der linkshändigen Ge¬ 
schwister unserer Kranken kommen auf die Brüder 21,9 %, auf 
die Schwestern 15,0 % Linkshändige. Es ist also ein Überwiegen 
des männlichen Geschlechtes festzustellen, wie es auch in den 
vorhergehenden Tabellen stellenweise zum Ausdruck kommt. 

Was die Erklärung für das Auftreten der Linkshändigkeit 
betrifft, so spielen in manchen Fällen Gehirnprozesse eine Rolle. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. 47 


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700 Ganter, Über Linkshändigkeit bei Epileptischen usw. 

In der Mehrzahl ist die Linkshändigkeit als ein Degenerations¬ 
zeichen 'anzusehen. Dafür spricht u. a. das gehäufte Auftreten 
in der Familie und die Vererbbarkeit. Die Vererbung scheint 
vielfach vom Vater auszugehen, doch ist das lange nicht die Regel. 
Außerdem gibt es merkwürdige Fälle ohne Vererbbarkeit trotz 
mehrfachen Vorkommens der Linkshändigkeit in der Aszendenz. 

Eine geregelte Beziehung zwischen der einseitigen Steigerung 
des Kniereflexes und der Linkshändigkeit besteht nicht. Dasselbe 
gilt auch von dem größeren Umfang eines Armes. 

Ebensowenig besteht eine Beziehung zwischen Linkshändigkeit 
und Hemisphärengewicht. In der überwiegenden Mehrzahl der 
Fälle ist die rechte Hemisphäre schwerer und zwar ohne einen 
großen Unterschied bei Rechtshändern (67,1 %) und Linkshändern 
(70,6%). 

Bestätigung der Ansicht von Stier: Rechts- und Linkshändig¬ 
keit beruhen rein auf einem funktionellen Überwiegen der einen 
oder andern Hirnhälfte. 


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Über psychische Störungen bei Tabes 1 ). 

Von 

Kasimir Brodniewicz. 

Bei der häufigen Verbindung von Tabes und Paralyse und 
bei den zahlreichen Übergängen zwischen den beiden Krankheiten 
ist es klar, daß wir da, wo wir psychische Störungen bei Tabes 
finden, zunächst an Symptome einer paralytischen Erkrankung 
denken werden, ln vielen Fällen von Tabes mit psychischen 
Störungen ist aber eine Paralyse wegen des Fehlens jeglicher 
paralytischer Verblödung und wegen jahre- oder jahrzehntelangen 
Stillstandes oder Besserung der psychischen Erkrankung unwahr¬ 
scheinlich. ' 

In dem Bestreben, eine Klassifizierung der äußerst mannigfaltigen 
psychischen Störungen bei Tabes zu schaffen, haben wir nach Cassirer 
mit 2 Reihen von Symptomen zu tun: Symptomen, die vermöge ihrer 
Einfachheit oder wenig intensiven Ausbildung nicht zur Annahme einer 
eigentlichen Psychose berechtigen, und andrerseits mit Symptomen einer 
voll ausgebildeten Psychose irgendwelcher Art. 

Ältere Autoren haben vielfach bei Tabikern auffällige Stimmungs¬ 
anomalien festgestellt; meist Euphorie und Selbsttäuschung über den 
Emst der Krankheit. Nach Möebius ist es wiederholt bemerkt worden, 
daß die Tabeskranken ihr schweres Leiden mit auffallender Heiterkeit und 
HofTnungsfreudigkeit ertragen. Auch Nageotte spricht von den ,,Tabetiques 
gais“ und erwähnt Kranke, die an einem Tage von einer furchtbaren 
Schmerzenskrise gequält werden und am nächsten Tage vergnügt und 
holfnungsfreudig er scheinen. 

Nach Leyden-Goldscheider unterscheiden sich die Stimmungsano¬ 
malien bei Tabes nicht von denen, die man überhaupt bei chronisch Kranken 
findet. Leyden beobachtete neben Tabikern mit gutem Humor auch solche, 
die melancholisch, trübselig, untröstlich waren. Wieder andere bieten 


*) Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Rostock 
(Direktor: Prof. Dr. Kleist). 


47* 


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702 


Brodniewicz, 


eine krankhafte, nervöse Reizbarkeit mit leicht wechselnder Gemüts¬ 
stimmung. 

Oft findet man bei Tabes eine Neurasthenie oder Depression mit 
Denkhemmung, Unfähigkeit zu geistiger Arbeit, Unruhe, Angstemp¬ 
findungen, Suizidideen. Diese Tabesneurasthenie bzw. -depression ist 
weit verbreitet. Ihr Entstehen wird begünstigt durch den langen, oft recht 
schmerzensreichen Verlauf der Krankheit, den Ausfall zahlreicher wichtiger 
Körperfunktionen und die Angst vor dem drohenden Siechtum und der 
Gehirnerweichung. 

Nach Kraepelin wurden bei vorgeschrittener Tabes oft leichtere 
psychische Störungen wie'Labilität der Stimmung und Gedächtnisschwäche 
beobachtet. Die eigentlichen Tabespsychosen sind dagegen nach Kraepelin 
teils akute, krisenartig auftretende halluzinatorisch-deliriöse Zustände» 
teils länger dauernde halluzinatorisch-paranoische Formen, die bald aus¬ 
gesprochen chronisch verlaufen, bald nur wochen- oder monatelang an- 
halten, aber zu Rückfällen neigen. 

Auch Spielmeyer erkennt Tabespsychosen an, die durch halluzina¬ 
torische Erregungszustände mit Wahnvorstellungen und Angst gekenn¬ 
zeichnet sind, Zustände, die häufig schnell wieder abklingen, sich später 
aber oft wiederholen, v 

Von Rad hatte von 250 zur Aufnahme gekommenen Tabikern 25 


mit ausgesprochenen Veränderungen auf psychischem Gebiete beob¬ 
achtet; von diesen waren: 

Kombination mit chronischem Alkoholismus . 5 

Depressionszustände.. 1 

Auffallend euphorische Stimmungslage. 3 

Starke Defekte auf ethischem Gebiete mit besonders gesteiger¬ 
ter Reizbarkeit (oft auch querulatorischer Veranlagung).. 5 
Zustände starker Erregung von delirantem (nicht alkoholi¬ 
schem) Charakter. 3 

Delirante Zustände infolge hochgradigen Marasmus.4 

Halluzinatorisch-paranoische Zustände. 4 

Derselbe Autor fand leichte Veränderungen der Gemütslage mehr¬ 


fach bei Tabikern: schwere Verstimmung bei meist seit kurzer Zeit be¬ 
stehender Krankheit, in andern Fällen durch nichts zu störende dauernde 
Euphorie. Bei der Bewertung von Affektanomalien bei Tabes muß die 
Frage, ob es sich nicht um paralytische Erscheinungen handelt, vorerst 
entschieden sein. Besondere Schwierigkeiten in der Abgrenzung gegen 
Paralyse bieten die Tabesfälle mit erheblichen ethischen Defekten. 

Von Rad beobachtete 10 einwandfreie Fälle dieser Art, die früher 
zum Teil sittlich sehr hoch standen, und bei denen die ethischen Defekte 
erst im Verlauf der Tabes ohne Beeinträchtigung der Intelligenz zur Ent¬ 
wicklung kamen. 

Brutalität gegen Angehörige, völlige Vernachlässigung der Pflichten 


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Ober psychische Störungen bei Tabes. 


703 


3ds Familienvater und Gatte, in manchen Fallen widerlichste, perverse 
Betätigung des bei herabgesetzter Potenz krankhaft gesteigerten Sexual¬ 
triebes wurden bei einer Anzahl von Tabikern beobachtet, die vor der 
Rückenmarkserkrankung in sittlicher Beziehung nichts Abnormes zeigten. 

Von akuten Geistesstörungen im Verlauf der Tabes hat von Rad 
in 3 Fällen bei Tabikern ganz kurz dauernde, halluzinatorisch-deliriöse 
Zustände gesehen. 

Die Pat. zeigten ohne besondere Vorboten ganz plötzlich ängstliche 
Unruhe, liefen erregt im Saal umher, waren dabei völlig verworren und 
machten den ausgesprochenen Eindruck von Halluzinanten. Nach 1—2 
Tagen war in 2 Fällen der Zustand völlig behoben. 

Bei den meisten Fällen von Tabespsychosen handelt es sich jedoch 
um akute und rezidivierende oder um chronische Halluzinosen bei de¬ 
pressiv-ängstlichem Affekt und Beziehungswahn. Meyer gibt zwar an, 
-daß bei Tabes fast alle Arten von Geistesstörung zur Beobachtung kommen, 
-doch konnte er unter 56 Fähen nicht weniger als 21 mal „Paranoia chronica 
hallucinatoria“ nachweisen, 14 mal depressive Psychosen. Die Halluzina 
tionen bei Tabes betreffen die verschiedensten Sinnesgebiete. Meist handelt 
es sich um optische und taktile Halluzinationen, begünstigt durch die 
Sehnervenatrophie und die Schmerzen und Sensibilitätsstörungen der 
Tabiker. 

Uber die Entstehung und das Wesen der Tabespsychose sind folgende 
Meinungen vertreten worden: Nach Bomstein kann die Tabes durch Rück¬ 
wirkung verschiedener Symptome wie Schmerzen, Blindheit, Ataxie auf 
-die Hirnzentren eine Psychose hervorrufen, dazu kommen psychische 
Momente, Kummer, Sorge, Selbstvorwürfe, und vasomotorische Einflüsse. 
Nach Neebe kann die Tabes die unmittelbare Ursache einer Psychose 
dadurch werden, daß sie allgemeine Ernährungsstörungen oder lang¬ 
dauernde Aufregungen durch Schmerzen und Schlaflosigkeit ver¬ 
ursacht. 

Andere Autoren, die sich mit der Frage der Tabespsychose beschäf¬ 
tigt haben, sind der Meinung, daß die Tabes nur ein prädisponierendes 
Moment für das Entstehen der psychischen Elementarsymptome und für 
das Entstehen einer Psychose bilden kann. Bornstein weist darauf hin, 
•daß gewisse, von Tabikern wahrgenommene Sensationen, Schmerzen, 
Parästhesien, Halluzinationen für die Bildung von Wahnideen verwertet 
werden und der Psychose eine spezifische Färbung verleihen. Nach 
Cassirer und Bornstein liegt kein Grund vor für die Annahme einer eigent¬ 
lichen Tabespsychose, doch weist Bornstein darauf hin, daß psychische 
Störungen bei Tabes nicht als zufällige Komplikationen, welche mit der 
Krankheit nichts zu tun haben, aufgefaßt werden dürfen. 

Anatomische Befunde von Alzheimer, Sioli, Schröder zeigen dagegen, 
daß viele Tabespsychosen als luische bzw. metaluische Erkrankungen zu 

betrachten sind. Alzheimer fand bei manchen Verwirrtheitszuständen 

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I 

704 Brodniewicz, 

bei alter Tabes, welche klinisch keine Anhaltspunkte für Paralyse boten, 
doch den typisch paralytischen Rindenbefund. 

Sioli berichtet von einem 45 Jahre alten Pat., bei dem die Tabes 
sich in rapider Weise entwickelte und zugleich mit der tabischen Er¬ 
krankung eine Psychose paranoiden Charakters mit Verfolgungs- und 
Größenideen zum Ausbruch kam. Die ungestörte Merkfähigkeit, Intelli¬ 
genz und Sprache machten bei dem Pat. eine Paralyse durchaus unwahr¬ 
scheinlich. 

Die mikroskopische Untersuchung ergab im Rückenmark eine weit 
vorgeschrittene Tabes, im Gehirn eine infiltrative Erkrankung der Pia, 
die gering über dem Großhirn, stärker über dem Kleinhirn, am stärksten 
über Brücke und Hirnschenkeln ausgebreitet war. Am stärksten waren 
die Gefäße, speziell 'die Venen, von der Erkrankung befallen. In der 
Gehirnsubstanz fanden sich Anzeichen einer Gefäßerkrankung, bestehend 
in Veränderungen der Gefäßwandkerne und in spärlicher Infiltration mit 
Plasma- und Mastzellen. Ferner als Zeichen einer Degeneration des 
Nervengewebes Ganglienzellenveränderungen mit Ausfall und Schief¬ 
stellung einzelner Zellen, aber ohne Störung der Zellarchitektonik. Diese 
Befunde-.' die starke Meningitis, die Gefäßveränderungen und die De¬ 
generation des Nervengewebes gehören nach Sioli , Nonne, Philippe , 
Decroly und Schmauß nicht zum Bilde der unkomplizierten Tabes. Mit 
einer tpischen Paralyse, bei der sich ganz anders starke und ausgebreitete 
Infiltrationen und viel erheblichere Degeneration des Nervengewebes in. 
der Gehirnsubstanz finden, hat der Fall von Sioli nichts zu tun. Auch 
von den histologischen Befunden, die Alzheimer bei stationären, in ihrer 
Qualität atypischen Paralysen fand, unterscheidet sich der Fall von Sioli 
darin, daß hier eine frische und ausgebreitete meningitische Infiltration 
vorhanden war, während die Alzheimerschen Fälle wenigstens stellenweise 
frische Infiltrationen oder Wucherungsformen von Gliazellen im Hirn¬ 
gewebe zeigten, die bpi dem Fall von Sioli ganz fehlen. 

Die Veränderungen an der Pia des Siolischen Falles waren verdächtig 
auf eine luische Meningitis, wenn auch ein sicherer Beweis für eine luische 
Meningitis angesichts des Fehlens von Gummen und Spirochäten nicht zu 
erbringen war. Sioli macht für die Psychose die im Gefolge der Gefä߬ 
erkrankung (mit Plasmazelleninfiltraten!) entstandene Rindenveränderung 
verantwortlich. Er sieht in der Gesamtheit des histologischen Befundes 
eine eigenartige Erkrankung, die Beziehungen zur stationären Paralyse 
und zur Lues cerebri habe. 

Schröder kommt auf Grund der klinischen Beobachtung eines von 
Rydlewski veröffentlichten Falles von halluzinatorisch-paranoider Tabes¬ 
psychose zum Schluß, daß in diesem Falle berechtigte Zweifel an der 
Diagnose Tabes bestehen, und daß mit größerer Wahrscheinlichkeit eine 
zum Stillstand gekommene alte Lues spinalis angenommen werden kann. 
Bedenken ähnlicher Art lassen sich nach Schröder auch bei dem von Sioli 


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Über psychische Störungen bei Tabes. 


705 


mitgeteilten Falle geltend machen. - Die rapide Entwicklung zu einem 
schweren Krankheitsbilde mit hochgradiger Ataxie, Fehlen der Sehnen- 
reflexe, Blasenlähmung und reflektorischer Pupillenstarre und vor allem 
die anatomischen Befunde: vollständige Degeneration der Hinterstränge 
im Halsmark, ungeheure Mengen von gliogenen Körnchenzellen in den 
Hintersträngen, Ausbleiben der Schrumpfung der Hinterstränge trotz 
jahrelangem Bestehen des Leidens geben Anlaß zum berechtigten Zweifel 
an der Diagnose Tabes. 

• Bei der Sektion und mikroskopischen Untersuchung, eines zweiten, 
klinisch als Tabes diagnostizierten Falles mit halluzinatorisch-paranoidei; 
Psychose und Beziehungswahn fand Schröder viel übereinstimmendes mit 
dem Falle von Sioli, ferner in den Vorderseitensträngen des Rückenmarks 
die für die alte abgelaufene Lues spinalis charakteristischen, der Pia breit 
aufsitzenden Herde und an den großen Arterien der Pia des Rückenmarks 
ausgesprochene Heubneräche Endarteriitis. Im Gehirn fand sich die für 
Lues charakteristische Endothelwucherung der größeren und feineren 
Gefäße. In der Pia leichte Infiltration mit Lymphozyten und Plasma- 
zellen, erhebliche Vermehrung der Glia — ein Befund, der eine progressive 
Paralyse ausschließen mußte. Auf Grund.dieser Untersuchungen muß 
nach Schröder damit gerechnet werden, daß ein Teil der sogenannten 
Tabespsychosen mit der Tabes nichts zu tun hat, sondern Psychosen bei 
Kranken mit Lues spinalis sind. Doch weist derselbe-Autor darauf hin, 
daß es zweifellos bei Tabikern Psychosen gibt, die mit der Tabes in engen 
ursächlichen Zusammenhang gebracht werden können. 

Die Arbeit von Plaut über Halluzinosen bei Syphilitikern zeigt, daß 
es im Sekundär- und Tertiärstadium der Lues zu psychischen Störungen 
kommen kann, die viel Ähnlichkeit mit den häufigeren Formen der Tabes¬ 
psychose haben. Plaut scheidet die Halluzinosen bei Syphilis in akute 
und chronische Formen; sie haben das Gemeinsame, daß sich meist unter 
sehr lebhaften Sinnestäuschungen eine leichte, oft nur vorübergehende 
ängstliche Erregung mit Verfolgungsideen entwickelt. Auch Plaut kommt 
wie Schröder zu der Auffassung, daß paranoide Formen der Hirnlues 
mehrfach als Tabespsychosen angesehen wurden.' 

Wir haben gesehen, daß bei der Entstehung der psychischen 
Störungen bei Tabes eine ganze Reihe von Faktoren beteiligt sein 
können. Man könnte sie vielleicht in zwei große Gruppen teilen, 
diejenigen, die unmittelbar mit der syphilitischen Infektion Zu¬ 
sammenhängen und primär wirken, wie Blut- und Liquorverän- 
derungen, Einwirkung der Spirochäten und Toxine auf das Gehirn 
und schließlich anatomische Veränderungen im Gehirn, — und 
die sekundären, psychischen, die durch die lange Dauer der 
schmerzhaften Krankheit, durch den Ausfall lebenswichtiger Funk- 


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706 


• Brodniewicz, 


tionen, die Befürchtungen und Sorgen um die Aufrechterhaltung 
der sozialen Stellung, die Angst vor dem Fortschritt der Krank¬ 
heit hervorgerufen werden. Bei der großen Verbreitung der Tabes 
einerseits wie auch der einfachen gutartigen Psychosen anderer¬ 
seits muß man auch an das gelegentliche Vorkommen einer rein 
zufälligen Kombination beider Krankheiten denken; endlich kann 
man auch dem organischen luischen und metaluischen Prozesse 
eine auslösende Rolle für das Auftreten von in der Anlage wur¬ 
zelnden Psychosen beimessen. 

Im Anschluß an diese Ausführungen lasse ich drei Kranken¬ 
geschichten folgen, die innerhalb von 3 Monaten in der psychia¬ 
trischen Universitätsklinik zu Rostock-Gehlsheim zur Beobachtung 
kamen. 

I. Fall. — R. W., Kaufmann, 46 Jahre alt, aufgenommen 25.10. 17 

Die von der Mutter erhobene Vorgeschichte ergab folgendes: Der 
Sohn sei eine herrische und sehr empfindliche Natur, leicht aufbrausend, 
wie auch sein Vater gewesen sei. Er war „feinfühlend“ und ging deshalb 
oft traurig umher.Im allgemeinen war er fröhlicher und lustiger Stim'mmung 
gewesen, ein jeder wollte ihn gern um sich haben. Er war „übelnehmisch“, 
nahm gleich an, die Leute würden über ihn sprechen. Sie, die Mutter, sei 
gerade so. In Streit sei er nur mit seiner Frau und seinem Vater gekommen, 
sonst nicht. Starrköpfig, wollte er mitunter seinen Willen durchsetzen, 
sein Recht ver|echten. Wenn ihm etwas nicht gewährt wurde, war er 
gleich „kraudig“ und beleidigt. 

Pat. selbst gibt an: Der Vater sei Trinker gewesen, Mutter streit¬ 
süchtig. Er habe eine strenge, lieblose Erziehung erhalten, dadurch früh¬ 
zeitig etwas verbittert. In der Schule gut gelernt. Bis zum 21. Lebens¬ 
jahre habe er leichtsinnig gelebt. 1888 oder 90 Schanker. Keine Schmier¬ 
kur, nur Injektionen im Lübecker Krankenhaus. Mit 23 Jahren habe er 
sich verheiratet. Seit etwa 1900 rückenmarksleidend, wegen seines Leidens 
sei er oft in Krankenhausbehandlung in Rostock, Wittenberge, Lübeck, 
zuletzt im März 1915 in Lübeck gewesen, sei nach dieser Zeit angeblich 
in keinem weiteren Krankenhause gewesen. Gibt aber schließlich zu, 
vom 11. 3. 16 bis 29. 6. 16 im Katharinenstift in Rostock gewesen zu sein. 
Durch seine Frau habe er „furchtbar viel bitteres Leid“ erduldet. Pat- 
wurde im Juli 1916 wegen Geistesschwäche auf Grund eines Gutachtens 
von Professor B .-Rostock entmündigt. Aus den Akten des Armenkol¬ 
legiums zu Rostock, dessen Unterstützung W. jahrelang genossen hat, 
gehen folgende Tatsachen hervor: Am 8. 4. 04 bittet Frau W. für sich und 
ihre Kinder um Unterstützung, weil ihr Mann nicht für sie sorge und sein 
Geld für Dirnen ausgebe. W. selbst behauptet am 25. 5. 04, durch Schuld 


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Uber psychische Störungen bei Tabes. 


707 


seiner Frau einen Monat Gefängnis erhalten zu haben. Die Frau mache 
ihn bei seinen Arbeitgebern schlecht, dadurch verliere er seine Stellen. 
Am 1. 6. 04 hat W. den Armenpfleger P. eines ungewöhnlichen Interesses 
für die Notlage seiner Frau beschuldigt. Am 8.12.11 wirft er dem Lübecker 
Gericht vor, ihn zu Unrecht bestraft und dadurch krank gemacht zu haben. 
Sein Chef habe einen Meineid geschworen. Am 16. 4. 14 bittet W. das 
Armenkollegium um Unterstützung, weil er durch die furchtbar anstrengen¬ 
den Bäder und das schlechte Eissen in Oeynhausen geschwächt worden 
sei. Er hatte jum Teil auf Kosten des Armenkollegiums eine Kur in Oeyn¬ 
hausen durchgemacht. Am 7. 10. 14 beschwert er sich bei E. E.-Rat 
über den Beschluß des Armenkollegiums, ihn ins Armenhaus zu bringen, 
und erklärt dabei die Armenpfleger für befangen und gegen ihn einge¬ 
nommen. An seinen Beschwerden fallen die vielen Unterstreichungen auf. 
Am 17. 3. 15 verlangt W. vom Katharinenstift aufs neue orthopädische 
Stiefel und wünscht dabei, daß seine Frau zu den Kosten mit heran gezogen 
werde. Nur aus Rücksicht auf seine Kinder habe er früher keine Ehe¬ 
scheidungsklage eingereicht. 

Unter dem 17. 4. 15 reicht W. aus dem Katharinenstift eine Be¬ 
schwerdeschrift an das Großherzogliche Ministerium ein, in der es heißt: 
,,Ich weiß nicht, ob ich einem Verbrechen von irgendeiner Seite zum Opfer 
fallen soll, ohne mich dessen erwehren zu können, zumal mich meine Frau 
schon auf verschiedene Art hat zugrunde richten wollen und mich teilweise 
auch schon sogar schwer geschädigt hat, sogar Verbrechen gegen mich 
beging. Ichlleide hier seelisch entsetzlich, aber auch körperlich, zumal 
gegen die Insassen teils schwere Verhrechen begangen werden. Ich werde 
hier ja direkt körperlich und seelisch von dem Arzt gemißhandelt und 
meiner Freiheit beraubt.“ 

In ähnlicher Weise spricht sich W. in einem Briefe vom 30. 4. 15 
über ,,die furchtbaren Zustände“ im Katharinenstift aus. Bei den Akten 
des Armenkollegiums befindet sich sodann ein Strafregister, aus dem 
hervorgeht, daß W. vom 14. 6. 1892 bis 3. 3. 1913 in den Jahren 1892, 93, 
94, 99, 1902, im ganzen 24 mal, wegen Beleidigung, Hausfriedensbruchs, 
Bedrohung, Betrugs, Diebstahls, Untreue bestraft worden ist. Unter dem 
6. 6. 14 hat Professor M. die Aufnahme des der Paralyse verdächtigen W. 
in Gehlsheim empfohlen. Auch die Akten des Vormundschaftsgerichtes 
über die elterliche Gewalt des W. enthalten zahlreiche Eingaben und Be¬ 
schwerdeschriften. Unter dem 12. 9. 14 beschuldigt W. seine Frau der 
gewerbsmäßigen Unzucht. Frau W. behauptet unter dem 25. 2. 15, sie 
und ihre Kinder seien von ihrem Manne mißhandelt worden, jetzt verfolge 
er sie, belästige Gerichte, Ärzte, Pastoren usw. mit Zuschriften. Die Akten 
der Staatsanwaltschaft zu Lübeck enthalten auf Seite 11 eine Angabe 
der Schwester des W., daß ihr Bruder ihrer Meinung nach nicht zurech¬ 
nungsfähig sei. Prof. D. in Lübeck diagnostizierte am 21. 12. 14. das 
Bestehen einer progressiven Paralyse. Derselbe bezeichnet unterm 8. 1. 15 


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Brodniewicz, 


die Entmündigung des W. als wünschenswert. Die Entmündigungsakten 
des Großherzoglichen Amtsgerichts enthalten besonders zahlreiche und 
maßlose Beschwerden des W. Unter dem 26. 7. 15 schreibt er: „Ich habe 
gegen furchtbare Machinationen gewisser Personen hier zu kämpfen, die 
mich vernichten wollen, weil ich in Prozessen, die ich führe, und in welchen 
mir schweres Unrecht geschah durch die Verfügungen, daher mein Recht 
durch Beschwerden pp. zu erreichen suchte und hierbei rücksichtslos ver¬ 
schiedene Vorkommnisse erklären mußte, diesen Personen wohl unbequem 
nun bin.“ Man hätte sich einfach über Gesetz und Recht hinweggesetzt 

Auslassungen sowie Veränderungen der Schrift enthielten die Ein¬ 
gaben des W. nicht. Am 6. 4. 16 lehnt W. die Gutachten von Prof. D. 
und Dr. S. als ihm feindlich gesinnter Ärzte ab. Er lehnt auch den Landes¬ 
gerichtsarzt Dr. J. wegen Befangenheit ab. In den Entmündigungsakten 
befinden sich zahlreiche Beschwerden des W. gegen die Armenbehörden» 
gegen die Direktoren des Katharinenstiftes gemeinste Beschuldigungen. 
Die Aufnahme in der Klinik Gehlsheim erfolgte auf Veranlassung der* 
Armenbehörde in Rostock. 

Der körperliche Befund bei der Aufnahme am 25-. 10. 17 ergab 
folgendes: Pupillen stecknadelkopfgroß,-antworten nicht auf Lichteinfall. 
Mun<jfazialis r. etwas schwächer, Zunge leicht nach r. abweichend. Keine 
artikulatorische Sprachstörung. Radiusperiostreflex r. wie 1. lebhaft. 
Kältehyperästhesie an der Brust und am Bauch. Sehnenreflexe an den 
Beinen aufgehoben, starke Hypotonie und Ataxie der Beine, starker 
Romberg. Unterschied von spitz und stumpf kann im unteren Peroneus- 
Gebiet nur fehlerhaft angegeben wessen. Blut-Wassermann bei 0,1 und 
0,4 positiv. Lumbalpunktion verweigert. Muß beim Wasserlassen sich 
setzen und die Bauchpresse gebrauchen. Klagt über Schmerzen in den 
Füßen. Beklagt sich über die „Intrigen und die Schlechtigkeit“ seiner 
Frau: „Meine Frau beschuldigt mich immer mit Unrecht. Wenn ich 
abends um 9 oder 9 y 2 Uhr nach Hause kam, beschimpfte sie mich, dabei 
habe ich in der Zeit für meine Versicherung gearbeitet. Ich bin zu den 
Reflektanten in die Wirtshäuser und Kaffees gegangen, und meine Frau 
beschimpfte mich nachher.“ Stimmung etwas gereizt, gut orientiert. 
Gedächtnisbesitz intakt, weiß bei allen seinen'Angaben genaue Einzel¬ 
heiten und Daten. Merkfähigkeit gut. 

Abstrakta: Raubmord — richtig. Meuchelmord — richtig. Heuche¬ 
lei — „H. ist Falschheit. **■ 

Unterschiedsfragen: borgen — schenken, Lüge — Irrtum, richtig. 

Satzbildung: Himmel — rot, richtig. Mörder — Spiegel — Umkehr: 
„Der Mörder spiegelt sich in dem fehlerfreien Leben der andern und 
kommt dadurch zur Umkehr.“ 

Verstandesfragen werden richtig beantwortet. 

28. 10. 17. Will an den Großherzog schreiben, um seine ganze Lage 
klarzumachen. „Keine Behörde hat ein Verfügungsrecht über mich- 


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Über psychische Störungen bei Tabes. 


70£ 

Ich habe mich gut in Rechtssachen orientiert Ich habe damals einen 
Brief an den Eitel Friedrich geschrieben, dies Gesuch wurde aber von dem 
Sanitätsrat S. damals unterschlagen. Da habe ich mich an das Mini¬ 
sterium gewandt. Ich bin immer benachteiligt werden.“ Hält sich in 
keiner Weise für geisteskrank. Er sei psychisch überhaupt nicht geschädigt. 
Das Gedächtnis habe vielleicht etwas nachgelassen. Bei der ^Erzählung 
gerät er in Rededrang, ist sehr umständlich, weitschweifig, querulierend. 
In das Katharinenstift zu Rostock sei er 1916 gegen seinen Willen ge¬ 
bracht worden. Er habe vergeblich versucht, in Berlin unterzukommen'., 
habe dann eine Eingabe an das Ministerium in Schwerin gemacht, um 
aus dem Stift entlassen zu werden. 

5. 11. Klagt darüber, daß er noch in der Anstalt gehalten wird. 
Bei der Zusicherung, daß er bald entlassen werde, treten ihm die Tränen 
in die Augen. „Vielleicht habe ich durch schroffe Briefe an die Behörde 
veranlaßt, daß die Leute gegen mich gehässig wurden. 1915 hat Prof. I). 
bei mir Tabo-Paralyse festgestellt — das ist die Wut gewesen, weil ich 
klagen wollte, daß er mich mit Quecksilber behandelt hatte. Nachdem 
ihm meine Absicht hinterbracht wurde, sab er mich nicht mehr au.“ 

Während seines 14tägigen Aufenthaltes in der Anstalt schreibt er 
einen langen (12 volle Aktenseiten), weitschweifigen Lebenslauf, 6 Briefe, 
meist querulierenden Inhalts, 3 an seine Angehörigen, je einen an seinen 
Vormund und die Armenbehürde, an den Großherzog und eine Eingabe 
an die Direktion der Anstalt; betont in jedem Briefe das große Unrecht, 
das ihm, dem tiefunglücklichen Manne, geschehen sei In seinem 8 Seiten 
umfassenden Gesuch an den Großherzog, den er um Verfügung seiner 
Entlassung aus der Anstalt bittet, ist er weitschweifig und querulierend, 
schreibt, ausführlich ins einzelne gehend, von seiner Krankheit, seinem Ehe¬ 
leben, seinen Schwierigkeiten mit den Behörden usw. In dem umfang¬ 
reichen, selbstgeschriebenen Lebenslauf nimmt er wieder die Gelegenheit 
wahr, sich in Anklagen gegen Behörden, Firmen, Ärzte usw., mit denen 
er zu tun hatte, zu ergehen. In seinem Brief an die psychiatrische Klinik 
(12 Seiten) bringt er wiederum zahlreiche Klagen vor gegen die Armen- 
behörde, seine Frau und den Richter Dr. A, den er als befangen gegen 
sich erklärt. 

9. 11. 17. Es wird der Armenbehörde mitgeteilt, daß W. wohl 
geisteskrank, aber nicht anstaltsbedürftig ist. Er wird entlassen. 

Zweite Aufnahme 3. 5. 18. 

Vorgeschichte: Er sei als Reisender tätig gewesen, da er von 6 M. 
Unterstützung nicht habe leben können. Vor 4 Tagen sei er nach Rostock 
gekommen einer privaten Angelegenheit halber und auch wegen Ge¬ 
schäfte; hatte die Absicht, nach deren Erledigung wieder abzureisen. 
Sei zur Behörde gegangen, um einen Anzug zu erhalten; er habe von 
Stralsund und Demmin Karten an die Behörden geschrieben. Aus einem 
Schreiben geht hervor, daß er seine Verwandten mit Karten unflätigen 
Inhalts belästigt hat. 


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710 


Bro dniewicz, 


Aus den Akten geht neuerdings hervor, daß er die Behörden nach 
wie vor mit seiner Angelegenheit belästigt hat. Kaum hatte man ihm 
einen Schienenapparat geschenkt, als plötzlich früher erhaltene Stiefel in 
ihrer Größe nicht zum Apparat paßten. Er drängte auf neue Stiefel, die 
Lübecker Behörde verwies ihn an die Rostocker. 

4. 5? 18. Gibt als Erklärung für die unflätigen Karten, die er ge¬ 
schrieben hat, an, daß er auf der Reise bei den hohen Ausgaben sich nicht 
ausreichend habe ernähren können und daher auf den Gedanken gekommen 
sei, an seine Angehörigen zu schreiben. 

Körperlicher Befund wie bei der ersten Aufnahme. 

10. 5. 18. Drängt heftig fort, schimpft über seine widerrechtliche 
Zurückhaltung. Uneinsichtig, unbelehrbar, bringt er in einförmiger Weise 
sehr wortreich die gleichen Verteidigungs- und Rechtfertigungsreden vor, 
schimpft über seine Frau und ihre Helfershelfer, die sicher in einem ehe¬ 
brecherischen Verhältnis mit seiner Frau gelebt hätten. Das Weitschweifige 
und Umständliche tritt jetzt beinahe noch stärker in seinen langatmigen 
Ausführungen hervor als früher. Intelligenzprüfung deckt sich mit der 
Prüfung der vorigen Aufnahme. Sprichworte, die anfangs nicht erklärt 
werden können, werden nach längerem Überlegen schriftlich erklärt und 
bei der nächsten Visite übergeben. Meint, seine Frau müsse gegen ihn was 
gehabt haben, daß sie aus dem Sinn der Karten solche Schlußfolgerung 
ziehen konnte. Der Sinn der Karten war angeblich in keiner Weise schlimm, 
er habe vorgehabt, ein Inserat in die Presse zu setzen, worin alle Angaben 
seiner Frau für unwahr erklärt wurden. Er hatte ihr geschrieben, daß er 
etwas Schreckliches vorhabe, und damit das Inserat gemeint und auch, daß 
er öffentlich dem Publikum die Wahrheit sagen wollte. Hält Herrn Prof. K. 
nicht für sich gewogen; bis in die Wohriung der Ärzte kommt er mit 
Drängen nach Entlassung, sucht in spitzfindiger Weise alles zu widerlegen. 
Setzt über alles sein „Rechtsempfinden“. 

20. 5.18. Teilt brieflich seinem Bruder mit, daß seine Frau wissentlich 
den Inhalt einiger Karten falsch ausgelegt habe, um ihm zu schaden. 
Verfaßt täglich schriftliche Erklärungen von 4—8 Aktenseiten Umfang 
über seine Sache. Er schildert darin wieder umständlich und weitschweifig 
seine Handlungsweise gegen seine Frau und folgert daraus die Unmöglich¬ 
keit eines Mordes an ihr, erneuert die alten Beschuldigungen gegen seine 
Frau, beteuert, er habe keine verbrecherischen Absichten gegen seine 
Familie. In einem seiner Schriftstücke bereut er, die Karten geschrieben 
zu haben, bittet um „Mitleid und Erbarmen“, verspricht Besserung, er 
werde sich „niemals einer solchen Tat wieder schuldig machen“. 

17. 6. 18 entlassen. 

II. Fall. — A. Str., 52 Jahre alt, Töpfermeister, aufgeuommen 
15. 12. 17. 

Vorgeschichte: Pat. gibt an: In der Familie keine Nerven- und 
Geisteskrankheiten. In seiner Jugend sei er immer gesund gewesen. 


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Über psychische Störungen bei Tabes. 


711 


zufriedener, fröhlicher Stimmung, keine Stimmungsschwankungen. Seit 
1890 verheiratet Erkrankte 4 Wochen nach der Heirat an Tripper. Bekam 
etwas später ein hartes Geschwür an der Eichel, im nächsten Jahre einen 
Ausschlag am Körper, Seit 1907 leide er an gastrischen Krisen, die früher 
sehr häufig, jetzt aber nur ab und zu einmal und dicht mehr so stark wie 
früher auftreten. Mit Unterbrechungen sei er von 1907 bis 1914 in der 
medizinischen Klinik in Rostock in Behandlung gewesen. Der gastrischen 
Krisen wegen habe er lange Zeit Morphium bekommen, der Arzt habe 
ihm unbegrenzte Mengen zur Verfügung gestellt Im September 1913 
habe er sich einmal mit seiner Frau eine Pistole besehen, und seine Frau 
habe dabei zwei Pistolenschüsse auf ihn abgefeuert, die ihm durch den Kopf 
gingen. 8 Tage vorher wurde ihm Morphium entzogen, was ihm nach¬ 
träglich gesagt wurde. Angaben der Frau: Hiernach stellt sich die Schu߬ 
verletzung als Selbstmordversuch heraus, Str. hat sich auch nach Angabe 
der Frau schon dreimal erhängen wollen. Dies geschah in der Zeit, als die 
Frau ihm das Morphium abgewöhnen wollte und ihm heimlich destilliertes 
Wasser statt Morphium gab. 1914 schrieb Str. auf kleine Papierreste, 
der größte Wunsch seiner Frau sei sein Tod, seine Frau ließe ihn verhungern. 
Schüttete oft das Essen fort, anscheinend in der Befürchtung, vergiftet 
zu werden. Schon seit 4 Jahren sei Str. erheblich schwachsinnig geworden. 
Seit 12 Jahren arbeitet er nicht mehr regelmäßig, lag oft stundenlang auf 
dem Sofa, starrte in eine Ecke, auf Fragen sagte er nur: „So lang ist die 
Reihe schon, du mußt ins Zuchthaus.“ Einmal war er auch nachts un¬ 
ruhig, sagte zu seiner Frau: „Eigentlich müßte ich dir den Schädel ein- 
schlagen.“ In der letzten Zeit beschäftigte er sich viel mit der Lektüre 
von Schundliteratur. Gleichgültig gegenüber der Erziehung und dem 
Gedeihen der Kinder. Kümmerte sich um gar nichts. Größenideen traten 
auf in bezug auf seine Abstammung, hielt sich nahe verwandt mit dem 
Musiker Strauß. In der letzten Zeit traten auch besondere Eifersuchtsideen 
auf, beschimpfte den Arzt in Warnemünde in gemeinster Weise. Moralische 
Defekte machten sich bemerkbar, stellte Frauen in unanständiger Weise 
nach. Sobald seine Frau Einkäufe machte, ging er zur Vogtei und zeigte 
es an, oder sobald die Frau mittags den Kindern reichlicheres Essen vor¬ 
setzte, schimpfte er darüber mit den Worten: „So etwas kann der Staat 
doch nicht dulden.“ Machte viele Anzeigen auf der Vogtei, demzufolge 
fanden viele Haussuchungen statt, schließlich wurde auf die Anzeigen 
von Str. nicht mehr reagiert. 

Körperlicher Befund: Pupillen lichtstarr, Hirnnerven intakt. 
Patellarreflex L stärker als r. Achillessehnenreflexe r. wie 1. lebhaft, L Ba- 
binski. Keine Störung der Gelenksensibilität. Bei Romberg ganz geringes 
Schwanken, steht auf dem r. Bein etwas unsicher. Geringe Schmerzüber- 
empfindlichkeit in der Leistengegend beiderseits etwa in D. 12. — L. 1. 
und an den Fußsohlen. Keine artikulatorische Sprachstörung. 

Wassermann im Blut und Liquor negativ; Nonne negativ, 13 Zellen 
im Kubikzentimeter Liquor, Druck des Liquors leicht erhöht. 


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712 


Brodniewicz, 


Zeitlich und örtlich gut orientiert. Kein Merkfähigkeitsdefekt. 
Urteilsfähigkeit beim Bilderbeschreiben und Sprichwörtererklären leicht 
herabgesetzt. ' 

(Viele Hunde sind des Hasen Tod?) „Das trifft auch bei mir zu, 
ich habe nichts zu sagen, und meiner Feinde sind viele, meine Frau hat 
schon dafür gesorgt.“ 

(Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht?) „Alles hat 
schließlich mal ein Ende.“ 

(Steter Tropfen höhlt den Stein?) „Erst werden es Kleinigkeiten, 
dann wird es immer größer, viele Bäche füllen ein Meer, ist ja ähn¬ 
lich so.“ 

(12 x 12?) Erst nach vielem Danebenraten richtig. 

Bild Fensterpromenade: „Für Fixierbilder habe ich mich nie inter¬ 
essiert, ob es eine Eifersuchtsszene sein soll? oder eine Anrempelung? 
2 Damen und 2 Herren sind darauf, der eine liegt auf dem Pflaster.“ 

Bild zerbrochene Fensterscheibe: Verkennt, daß es sich um eine 
Fensterscheibe handelt, hält sie für einen Spiegel. Beschreibt sonst richtig, 
aber wortreich und langatmig. 

15. 12. 18. Gibt als Grund seiner Überführung an, er sei seiner 
Frau im Wege, die den Kettenhandel in Warnemünde betreibe und den 
er nicht mitmachen wollte. Jetzt hat man ihn mit List ins Kino gelockt 
nach Rostock und von dort hierher unter Mitwirkung eines Kriminal¬ 
beamten. Abschweifend, ideenflüchtig. 

17. 12. 18. Seine Frau habe ihn beiseite schaffen wollen, Dr. Sch. 
habe ihr dabei gern geholfen, weil seine Frau für diesen dänische Butter 
und 26 Stück Sunlightseife besorgt habe. Dr. Sch. habe ihn auch durch 
das Morphium krank gemacht. Prof. M. habe damals auch fürchterlich 
geschimpft, habe gesagt, „dieser Esel von Sch“. Die Frau lief natürlich 
sofort zu Dr. Sch. und erzählte ihm dies. Frage, ob seine Frau ein Ver¬ 
hältnis zu, Dr. Sch. hatte: „Genau weiß ich das nicht, verdächtig ist das.“ 
Die Frau habe auch jederzeit Zutritt zu Dr. Sch. gehabt, andere Leute 
mußten erst im Wartezimmer warten, sie konnte gleich zu ihm hinein¬ 
gehen. Ihn habe der Arzt bei Krankenbesuchen gar nicht beachtet, nur 
mit der Frau getuschelt, die Frau habe ihn auch stets hinausbegleitet. 
Frage nach weiteren Feinden. „Ja, das sind die Freunde von meiner 
Frau.“ 

19. 12. 18. Spricht viel und abschweifend, behauptet, die'Frau 
habe ihn im September 1913 erschießen wollen. Er war damals bett¬ 
lägerig, kurz vorher wurde ihm Morphium entzogen. Die Frau ließ sich 
von ihm zeigen, wie man die Pistolen hantiere, führte ihm dann die Hand 
an die Schläfe, wer abgedrückt habe, könne er nicht bestimmt sagen, 
fand sich später in seinem Blute liegend vor, die Frau war fort. Er kam 
nach 8 Tagen in die chirurgische Klinik, wo er angab, sich die Verletzung 
selbst beigebracht zu haben. Bestreitet Suizidversuch, habe nur seine Frau 
schonen wollen, als er angab, er habe sich selbst geschossen. 


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Über psychische Störungen bei Tabes. 


713 


Gleichmäßig freundlich in der Stimmung. Keine Schwankungen. 
Widerruft seine Größenideen. Bei nochmaliger Erzählung des Vorganges 
■der Verletzung mit den Pistolen behauptet er, die Frau habe abgeschossen, 
erzählt weinend mit ängstlichem Gesichtsausdruck: „Als die Frau mir 
die Pistolen zeigte, machte sie Augen wie eine Katze; den Blick werde ich 
niemals vergessen. 10 Meilen will ich der Frau aus dem Wege gehen.“ 
Die Frau sei immer katzenfreundlich zu ihm, sage immer „Liebling“, 
dabei hätte sie ihn mit List nach dem Katharinenstift locken wollen. 

4. 2.18. Keine Gereiztheit und Mißtrauen gegenüber der Umgebung. 
Beeinträchtigungsideen richten sich ausschließlich gegen die Frau und 
ihre Helfershelfer. 

10. 4. 18. Beschäftigt sich nicht, unterhält sich viel mit Mitpatienten, 
steht diesen hilfreich zur Seite, liest ihnen vor. Die Ehefrau äußert gelegent¬ 
lich eines Besuches, daß sie ihn nicht zu Hause haben möchte, weil, wenn 
die Streitigkeiten auch unterblieben, er seinem Beruf doch nicht nachgehen 
würde, sondern wie früher tagelang auf dem Sofa liegen und nichts tun 
würde. 

14. 10. 18 entlassen. 

III. Fall. H. D., 52 Jahre alt, Milchfahrer, aufgenommen 19. 9.17. 

Wird aus der chirurgischen Klinik eingeliefert, wo er wegen eines 
Bruches operiert werden sollte. (Den Bruch habe er sich operieren lassen 
wollen, weil derselbe mehrfach ausgetreten sei.) Bekam am selben Tage 
einen Erregungszustand und wurde hierher überführt. 

Macht über sein Vorleben folgende Angaben: Als Kind stets gesund. 
In der Schule gut gelernt. War stets lustig. Wurde Musiker. Lehnt jede 
geschlechtliche Infektion ab, das einzige, was ihm gefehlt habe, sei, daß er 
manchmal plötzlich von Heißhunger überfallen werde, wenn er unregel¬ 
mäßig zu essen bekäme. Dann bräche ihm der Schweiß aus. Sonst sei er 
immer gesund gewesen. Ist verheiratet, hat 3 gesunde Kinder. Keim- 
Kinder gestorben. Keine Fehlgeburten der Frau. Nervös sei er auch nie 
gewesen. Vor etwa 4—5 Jahren habe er schon einmal zu Hause einen Er¬ 
regungszustand gehabt. Er sei dann gewesen, als wenn er „betrunken“ 
gewesen sei. Diesen Erregungszustand habe er auch bekommen, weil er 
plötzlich solchen Heißhunger bekommen habe. Uber das, was er in den 
Erregungszuständen gemacht habe, will er nichts wissen. Er habe dann 
von seiner Frau etwas zu trinken bekommen, dann sei er wieder besser 
geworden. Er war dann gesund bis heute morgen. Bekam seit Montag 
nur flüssige Nahrung und mußte heute vor der Operation hungern, 
da habe er einen Erregungszustand bekommen. Was er in diesem gemacht, 
hat, weiß er nicht. 

Befund: In der Unterhaltung geordnet, örtlich und zeitlich ist er 
orientiert, spricht ziemlich lebhaft, aber keinerlei Bewegungsunruhe. Die 
Stimmung ist heiter, es besteht ganz leichte Andeutung von Rededrang. 
Die Aufmerksamkeit ist im ganzen gut, ganz geringe Ablenkbarkeit. 


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714 


Brodniewicz, 


Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht? „So lange 
habe ich den Bruch gehabt, bis ich mich jetzt operieren lassen will.“ — 
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? Witzelt: „Ich hab* Kinder, ich, 
bin bösartig, dann sind meine Kinder auch bösartig. Da heißt es ebenr 
der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ — Über die letzten Kriegsnach¬ 
richten ist er nicht orientiert, meint, er habe keine Zeit gehabt, um zu 
lesen. Während der Intelligenzprüfung ist seine Stimmung dauernd 
heiter, lacht öfters und schweift auch zuweilen etwas vom Thema ab. 
Merkfähigkeit gut. 

Körperlicher Befund: Großer, kräftiger Mann in sehr gutem Er¬ 
nährungszustand. Herz o. B. Lunge o. B. Gesichtszüge etwas schlaff. 
Pupillen sehr eng, reagieren aber noch etwas auf Lichteinfall. Konvergenz¬ 
reaktion ist gut. Keine Sprachstörung. Leichte Abduzensschwäche r., 
kein Nystagmus. Patellarreflexe etwas abgeschwächt. Achillessehnen - 
reflexe nicht auslösbar. Bauchdecken sehr schlaff. Die unteren und 
mittleren Bauchdeckenreflexe fehlen, die oberen sind angedeutet. Trizeps¬ 
reflexe ziemlich lebhaft. Radius-Periostreflex normal Keine Sensibilitäts¬ 
störung nachweisbar. Keine Ataxie. Kein Romberg. Konjunktivalreflex 
erhalten. Rachenreflex fehlt. Leichter Intentionstremor. Wassermann in 
Blut und im Liquor bei 0,1 und 0,2 negativ. Keine Zellvermehrung im 
Liquor, Nonne fraglich. 

22. 9. auf Wunsch entlassen. 

Die Diagnose Tabes dorsalis, und zwar im vorgeschrittenen 
Stadium, ist in dem 1. Falle aus dem klinischen Befund mit voller 
Sicherheit zu stellen. Neurologisch war folgendes vorhanden: 
Pupillen lichtstarr, miotisch, leichte' Fazialisschwache r. Zunge 
wich andeutungsweise nach r. ab; Patellar- und Achillessehnen- 
reflexe fehlten. Positiver Romberg, erhebliche Hypotonie, Blasen¬ 
schwäche, Sensibilitätsstörungen an den Beinen. Ataxie. Wasser¬ 
mann war im Blute positiv; Lumbalpunktion verweigert. 

Die luische Infektion war 1890. Wann die Tabes begonnen 
hat, ist nicht sicher zu sagen, dem Kranken bewußt ist die Tabes 
seit 1900, auch war sie damals schon seiner Frau bekannt. Die 
psychotischen Erscheinungen haben wohl schon sehr früh (1892) 
eingesetzt; seit 1892 zahlreiche Konflikte und Verurteilungen. 
Steigerung der psychischen Veränderung 1904: falsche Beschul¬ 
digungen seiner Frau. Die umfangreichen, über 200 Schriftstücke 
— wovon etwa die Hälfte Briefe des Patienten sind — um¬ 
fassenden Akten der Armenbehörde und die noch umfangreicheren 
Akten der Staatsanwaltschaft über den W. geben ein Bild über 
den Verlauf der geistigen Störung in den Jahren 1904—18. 


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Ober psychische Störungen bei Tabes. 


715 


Aus seinen Schriftstücken geht eine unbegrenzte Überschätzung 
und maßlos einseitige Betonung seiner Interessen hervor. Er 
glaubt sich durch Intrigen seiner Frau und durch die Behörden 
benachteiligt, geschädigt und ins Unglück gestürzt. Allen Ein¬ 
wendungen setzt er vollkommene Unbelehrbarkeit entgegen. Seine 
wahnhafte Auffassung führt zu einer falschen Beurteilung aller 
Personen, die mit seiner vermeintlichen Benachteiligung irgendwie 
in Berührung gekommen sind. In stereotyper Weise reproduziert 
er immer dieselben Geschichten. 

Die Weitschweifigkeit in seinen Schriftstücken, die zahlreichen 
Interpunktionen und Unterstreichungen verraten die krankhafte Ent¬ 
stehung. Die gehässigen Schmähungen, Verdächtigungen, Beleidi¬ 
gungen gegen die Armenpfleger, Beamte, Ärzte, mit denen er zu tun 
hatte, das Abweisen der Richter und der begutachtenden Ärzte wegen 
Befangenheit lassen keinen Zweifel, daß es sich bei dem Patien¬ 
ten um einen querulatorisch gefärbten Verfolgungswahn handelt. 

Für die Entstehung' des paranoischen Bildes dieser Tabes- 
psycbose maßgebend ist wohl die Tatsache, daß W. von Hause 
aus ein herrischer, streitbarer, empfindlicher, übelnehmerischer 
Mensch gewesen ist, eine hypoparanoische Konstitution im Sinne 
von Kleist aufwies. 

Von der progressiven Paralyse unterscheidet sich die Er¬ 
krankung dadurch, daß in dem 13jährigen Verlauf der Krankheit 
kein wesentlicher Fortschritt und keine Einbuße der Intelligenz 
eingetreten ist, der Kranke vielmehr über ein ausgezeichnetes 
Gedächtnis und gute Merkfähigkeit verfügt, was sich auch in der 
genauen Kenntnis der Daten seiner Krankenhaus-Aufenthalte, Pro¬ 
zesse usw., in der Schriftgewandtheit, Belesenheit und in seinen 
Rechtskenntnissen zeigt. Die Urteilsfähigkeit ist nur durch die 
große Weitschweifigkeit etwas beeinträchtigt. 

Die ethischen Defekte, die in den Karten unflätigen Inhaltes, 
den Drohungen, den schamlos aufdringlichen impertinenten For¬ 
derungen an die Behörden etc. in dem Verlauf der Krankheit 
zum Vorschein kommen, erinnern an die von von Rad erwähnten 
Fälle von Tabespsychosen mit ethischen Defekten, starker Reiz¬ 
barkeit und querulatorischer Veranlagung. 

Auch im II. Falle ist die Diagnose einer — milde verlau- 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 48 

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716 


Brodniewicz, 


fenden — Tabes dorsalis durch die reflektorische Pupillenstarre, 
die sensiblen Störungen und die jahrelang bestehenden gastrischen 
Krisen sichergestellt: Babinski 1. positiv, der 1. Patellarreflex war 
lebhafter als der r. Es bestanden keine Hirnnervensymptome. 
Wasserinannsche Reaktion im Blut und Liquor war negativ, leichte 
Pleozytose, Nonne. Doch sind wahrscheinlich spinale luische Ver¬ 
änderungen beigesellt. Die durchgemachte Geschlechtskrankheit 
wird so geschildert, daß "eine luische Infektion mit Sicherheit anzu¬ 
nehmen ist. Gegen Paralyse spricht der negative Ausfall der Wasser- 
mannschen und Nonneschen Reaktion im Liquor, das Fehlen jeglicher 
Sprachstörung und die lange Dauer dör psychischen Störungen ohne 
wesentlichen Fortschritt und ohne gröbere Defekte. Die Angaben der 
Frau, wonach S. schon seit 1905 nicht mehr regelmäßig arbeitet, 
stundenlang auf dem Sofa lag und vor sich hinstarrte, lassen 
darauf schließen, daß dies die Anfänge der psychischen Erkrankung 
waren. 1913 ’ist es zu einem Suizidversuoh gekommen, wahr¬ 
scheinlich ähnlich wie bei einem von' Otto Meyer mitgeteilten 
Falle, in einem Erregungszustände im Anschluß an eine gastrische 
Krise, woran Patient damals sehr oft zu leiden hatte. Aller¬ 
dings fiel der Suizidversuch in die Zeit der Morphiumentziehung, 
was ätiologisch für die psychische Störung mit zu verwerten 
wäre. Im nächsten Jahre, ohne daß Morphiumentziehung diesmal 
vorlag, kam es zu ausgesprochenen Vergiftungsideen, im weiteren 
Verlauf zu einem Erregungszustände, zum Eifersuchtswahn und 
zur Andeutung von Größenideen, die später widerrufen wurden. 
Der überaus gesteigerte Affekt beim Erzählen des Vorganges mit 
den Pistolen, der Ausbruch in Tränen bei Erinnerung an den 
„Katzenblick“ seiner Frau läßt vermuten, daß sich dieses Erlebnis 
wahnhaft gedeutet im Kranken fixiert hat. Die gemütliche Ab¬ 
stumpfung, der Verlust der Initiative, die Gleichgültigkeit gegen¬ 
über Familienangelegenheiten, die grobe Vernachlässigung der 
Pflichten als Ernährer der Familie und die ethischen Defekte auf 
sexuellem Gebiet erinnern an die von v. Rad erwähnten Fälle 
ähnlicher Art. Eine gewisse Ähnlichkeit zeigt die psychische 
Störung bei S. auch mit einem von Otto Meyer beschriebenen 
Fall mit Erregungszustand mit Selbstmordversuch, vereinzelten, 
später widerrufenen Größenideen und moralischen Defekten. 


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Uber psychische Störungen bei Tabes. 


717 


An einer Tabes ist auch im III. Falle im Hinblick auf den 
neurologischen Befund nicht ?u zweifeln. Die Pupillen waren sehr 
«ng, die Reaktion auf Lichteinfall träge und unausgiebig. Die 
Konvergenzreaktion war erhalten. Leichte Abduzensschwäche r. 
Patellareflexe etwas abgeschwächt, Achillessehnenreflex nicht aus¬ 
lösbar. Die unteren und mittleren Bauchdeckenreflexe waren nicht 
auslösbar, Wassermann im »Blut und im Liquor waren negativ, 
keine Zellvermehrung. Es handelt sich also um eine in der Ent¬ 
wicklung begriffene oder stationär gebliebene milde Form von 
Tabes. Der anfallweise auftretende Heißhunger ist ähnlich den 
bei Tabes vorkommenden Magen- und Herzkrisen als tabisches 
Symptom anzusehen. Was die psychischen Symptome anbelangt, 
so ist es zweimal zu einem Erregungszustand mit Umdämmerung 
und nachfolgender Amnesie gekommen. Die Auslösung der Er¬ 
regungszustände durch den krisenartig auftretenden Heißhunger 
ist bemerkenswert und erinnert an die von 0. Meyer mehrfach 
beobachtete Auslösung von Erregungszuständen durch gastrische 
Krisen. Die psychische Störung« bei dem Fall Hl ist als akuter 
dämmeriger Erregungszustand aufzufassen; sie hat Ähnlichkeit 
mit einem pathologischem Rauschzustand, — Pat. fühlte sich 
„wie betrunken“. Die Erkrankung entspricht wohl den akuten 
delirjösen Zuständen, die Plaut, v. Rad tmd andere erwähnen. 
Formen dieser Art kommen, wie schon v. Rad erwähnte, wegen 
des kurzen Verlaufs selten zu psychiatrischer Beobachtung und 
sind wohl aus diesem Grunde wenig gewürdigt. 

Unsere Fälle zeigen wieder, daß die Tabespsychosen vorzug¬ 
weise in 2 Formen auftreten: als akute, rasch vorübergehende, 
krisenartige Störungen, und als länger dauernde, paranoische Er¬ 
krankungen. Die krisenartige Psychose unseres Falles HI ist 
darin bemerkenswert, daß sie nicht unter dem Bilde einer hallu- 
zinatori8ch-deliriösen Störung verlief, wie es nach den Schilderungen 
von Plaut, v. Rad u. a. zumeist der Fall ist, sondern eine ein¬ 
fache dämmerige Erregung nach Art eines pathologischen Rausch¬ 
zustandes darbot. Die beiden chronischen Erkrankungen ent¬ 
sprechen ebenfalls nicht den gewöhnlich geschilderten halluzina¬ 
torisch-paranoischen Formen, sondern zeigen eine bisher nicht 
beschriebene rein kombinatorische Wahnbildung mit 

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718 


Brodniewicz, 


Beziehungswahn, Erinnerungstäuschungen und einheitlicher, gleich¬ 
bleibender Wahnrichtung, sodaß die Fälle sehr an Wahnpsychosen 
mit überwertiger Idee ( Wemicke) erinnern. In beiden Fällen ist 
es die Vorstellung der Untreue und der Feindschaft der Frau, 
die den Psychosen das Gepräge gibt, wozu im I. Fall noch zahl¬ 
reiche Verfolgungsvorstellungen rechtlicher Benachteiligung hinzu- 
treten, sodaß dieser Kranke eine querulatorische Färbung gewinnt. 

Es liegt nahe, das heteronome Bild der dämmerigen Erregung 
im Fall UI auf eine plötzliche, intensive Gehimschädigung durch 
Toxine bzw. Spirochäten zu beziehen, das homonome Zustands¬ 
bild der paranoischen Erkrankung (Fall I und U) dagegen durch 
schleichende schwächere Gehimschädigung zu erklären, ent¬ 
sprechend der von Specht und Kleist vertretenen Auffassung über 
die Beziehungen zwischen Znstandsbild und Gehimschädigung. 
Daß im Fall I von den homonomen Symptomenkomplexen gerade 
der paranoische zur Entwicklung kam, ist offenbar durch die 
hypoparanoische Wesensart, die dem Kranken schon vor seiner 
Geistesstörung eignete, begünstigt worden. 

Eine unerläßliche Voraussetzung für das Auftreten einer para¬ 
noischen Psychose ist diese Veranlagung aber ‘nicht, wie der 
Fall II beweist, dem eine solche Veranlagung abging. 


Literatur. 

1Sonne, Syphilis und Nervensystem. 1917. 

Alzheimer, Histologische Studien zur DifTerentialdiagnose der progressiven 
Paralyse. 

Bom8tein, Tabes dorsalis und Psychose. Mtschr. f. Psych. u. NeuroL 
XVII., Erg.-Heft. 

('assirer, Tabes und Psychose. Berlin, S. Karger, 1903. 

(ioos , Uber die nicht-paralytischen Geistesstörungen bei Tabes dors. 
Inaug.-Diss. Kiel 1908. 

Kleist, Postoperative Psychosen. Berlin 1916. 

Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl. 

Meyer, Otto, Beitrag zur Kenntnis der nicht paralytischen Psychosen bei 
Tabes. Mtschr. f. Psych. u. NeuroL 1903, Bd. 13. 

Plaut, Über Halluzinationen der Syphilitiker. Berlin, Springer, 1913. 
Bydlewski, Über Psychosen bei Tabes dorsalis. Inaug.-Diss. Greifswald 
1909. 


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über psychische Störungen bei Tabes. 


719 


zhröder, Lues cerebrospin, sowie ihre Beziehungen zur progressiven Para¬ 
lyse und Tabes. D. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 54. 
chulze , Emst, Über Psychosen bei Tabes. MQnch. med. Wschr. 1903, 
Nr. 49. 

voli. Histologische Befunde bei Tabespsychosen. Ztschr. für die gesamte 
Neurol. u. Psych. Bd. 3, 1910. 

pecht. Zur Frage der exogenen Schädigungstypen. Ztschr. f. d. ges. 
Neurol. u. Psych. Bd. 19, H. 1. 

uetxer, Psychosen bei Tabes dorsaüs. Inaug.-Diss. Freiburg 1904. 

Rad , Uber psychische Störungen bei Tabes. Arch. f. Psych. u. Nerven- 
krankh. Bd. 58, H. 1—3, 1917. 

'inswanger und Siemeriing, Lehrbuch der Psychiatrie, 4. Aufl. 



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1 


Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie» 

Von 

Dr. £• Rittershans, Hamburg-Friedrichsberg. 

Eines der interessantesten Gebiete der Kriminalpsychologie 
ist zweifellos der Zusammenhang zwischen Verbrechen *und 
Hysterie. Von den hysterischen Ladendiebinnen über die hyste¬ 
rischen männlichen und weiblichen Affektverbrecher bis zu den 
» psychopathischen Lügnern, Schwindlern und Hochstaplern ist es 
eine schier endlose Fülle von Bildern, die uns hier entgegentritt. 

Ein besonderes Kapitel in diesem Gebiete bieten die Ver¬ 
brechen im hysterischen Dämmerzustand, bei denen die Differential¬ 
diagnose gegenüber der Epilepsie keineswegs immer so leicht zu 
stellen ist, und die durch nianche Erzeugnisse. der dramatischen 
und kineraatographischen Literatur das Interesse weiter Kreise 
hervorgerufen haben. 

Ein sehr interessanter Fall dieser Art, bei dem die ganzen 
Umstände scheinbar mit zwingender Notwendigkeit auf eine 
Epilepsie hinwiesen, und der auch früher bereits einmal als 
Epilepsie diagnostiziert worden war, bei dem man aber unter 
Berücksichtigung der ganzen Vorgeschichte unbedingt zur Diagnose 
einer Hysterie kommen mußte, sei als kasuistischer Beitrag zu 
dieser Frage hier kurz mitgeteilt. 

Es handelt sich um einen ungarischen Zivilisten, der, in 
Belgien wohnhaft, seinerzeit, gewissermaßen aus Mitleid, von 
der deutschen Eisenbahnbehörde als Schreiber angestellt wurde, 
und der dann eines Tages plötzlich unter Hinterlassung seiner 
ganzen Stellung und Häuslichkeit mit Unterschlagung einer größeren 
Summe Geldes, die er an andere Beamte auszahlen sollte, flüchtig 
geworden war. Er hat dann in den nächsten Wochen eine Reihe 
ganz raffinierter Betrügereien begangen, hat unter anderm einen 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 721 

Erpressungsversuch an einem belgischen Bürgermeister unter¬ 
nommen, indem er sich als Angestellter der deutschen Polizei 
ausgab, der ihn verhaften sollte, wobei er sich aber bereit er¬ 
klärte, ihn gegen eine Kaution von mehreren tausend Franken 
einstweilen auf freiem Fuße zu belassen. Als der betreffende 
Bürgermeister sich aber nur mit Hilfe der belgischen Polizei ver¬ 
haften lassen wollte, verschwand der angebliche deutsche Polizei¬ 
beamte und ward nicht mehr gesehen. Er fertigte sich dann 
einen gefälschten Ausweis mit gefälschter Unterschrift und Stempel, 
indem er einen auf seinem Waffenschein befindlichen Stempel 
sorgfältig herausschnitt und auf diesen neuen Ausweis aufklebte, 
und sammelte nun bei Belgiern, angeblich im Aufträge der 
deutschen Behörde, milde Gaben für belgische Kriegsgefangene. 
Bei seiner Verhaftung widersetzte er sich mit seinem Revolver, 
der allerdings nicht geladen war. Im Gefängnis gab er dann 
an, er wisse nicht, wie er zu seinen Taten gekommen sei. Es 
komme plötzlich ein [unwiderstehlicher Drang über ihn, und er 
habe schon öfters in seinem Leben in dieser ganz unsinnigen 
Weise seine Frau und seine Stellung verlassen und sei ziellos in 
der Welt umhergeirrt. Nach den glaubwürdigen Aussagen seiner 
Frau hat er diese im ganzen sechsmal in dieser Weise verlassen. 
Nach alledem mußte man, wie gesagt, zunächst unbedingt an 
eine Epilepsie mit Dämmerzuständen und Wandertrieb denken. 

Nun schrieb er aber in der Untersuchungshaft einen Lebens¬ 
lauf, der so charakteristisch ist, daß man daraus wohl mit Sicher¬ 
heit die Diagnose einer Hysterie stellen kann, und der eine der¬ 
artige Fülle von psychopathischem Material bietet, wie man es 
wohl sonst selten vereinigt findet. Dieser Lebenslauf ist in seiner 
Gesamtheit so interessant, daß er hier unverkürzt mitgeteilt sei. 

Es bleibe dahingestellt, ob alles das, was er in diesem Lebens¬ 
laufe geschildert hat, wirklich so ganz der Wahrheit entspricht, 
und ob dieses fast kinomatographen-ähnliche Schauerdrama nicht 
zum Teil das Resultat einer Pseudologia phantastica ist, die sich 
mit großem Geschick interessant zu machen versucht, was wohl das 
Wahrscheinlichste sein dürfte. Aber ganz abgesehen davon, ob die 
wesentlichsten Grundzüge richtig sind, jedenfalls hat er mit außeror¬ 
dentlicher Geschicklichkeit verstanden, ein Lebensbild zu entrollen, 


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722 


Rittershaus. 


das auf empfängliche und naive Gemfiter geradezu erschütternd 
wirken muß. 

Gegen die Diagnose einer Epilepsie spricht hier vor allem 
die Tatsache, daß er im allgemeinen über seine sämtlichen Taten 
bis ins einzelne Bescheid weiß, ja direkt mit einer gewissen 
theatralischen Pose, damit renommiert. 

Aus seinen mündlichen Mitteilungen seien hier noch kurz 
seine Angaben-über erbliche Belastung erwähnt. Sein Vater war 
äußerst jähzornig und hat stark getrunken. Einmal hat er z. B. 
beim Essen, weil Patient eine Frage überhörte, voller Wut das 
Messer auf ihn geworfen mit dem Kufe: „Verfluchter Bube!“ und 
ihn an der Stirn getroffen. Dann sprang er auf und weinte, als 
er sah, -daß Blut floß. Er hat überhaupt oft nach seinen Zorn- 
ausbrüchen geweint. Ein Bruder des Vaters war oft schwer¬ 
mütig und endete durch Selbstmord. Ein Bruder oder Neffe der 
Mutter hat sich erschossen. Die Mutter selbst ist kurz nach 
seiner Geburt mit einem Offizier durchgegangen; sie ist nach den 
eigenen Worten des Angeklagten „schwer hysterisch“, weint bei 
jeder Gelegenheit oder fällt in Krämpfe. „Was mir meine Mutter 
getan hat, hat noch nie eine Mutter getan!“ — Sie trinkt Absinth, 
namentlich nach ihren Krämpfen, und hat auch ihren Sohn ver¬ 
führt, Absinth zu trinken. 

Weiterhin kommt hier noch, wie oft bei solch degenerierten 
Menschen, ein Mißbrauch aller möglichen Gifte hinzu. Er lebt 
nach seinen Angaben, die von seiner Frau bestätigt wurden, oft 
monatelang äußerst mäßig, dann aber trinkt er 1 Liter Kognak 
in einer Stünde; zuweilen hat er sehr viel Absinth getrunken, 
zeitweise auch Äther; dann hat er, während er in Algier war. 
Opium geraucht, als Soldat hat er Morphium genommen. Die 
Ärzte waren damals angeblich sehr leichtsinnig; er hatte sich 
immer einen kleinen Vorrat von ca. 16 Pulvern zusammengespart 
und -gebettelt, hatte aber nie den Mut, sie alle auf einmal zu 
nehmen; er kam höchstens auf 4—6 Pulver. 

ln den letzten Jahren hat er sich nicht auf ein einziges Gift 
spezialisiert, und wenn seine Zeit kommt, trinkt er alles durch¬ 
einander, was er gerade bekommen kann, namentlich Wein, 
Champagner, Kognak und Absinth. Trotzdem dieser dipsomanische 


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Beitrag zur Frage Verbrechen and Hysterie. 


723 


Zug gleichfalls als epileptisch aufgefaßt werden könnte, dürfte 
doch wohl an der Diagnose einer Hysterie aus den oben dar¬ 
gelegten Gründen festzuhalten sein. 

Im übrigen möge zunächst 'sein eigenhändig geschriebener 
Lebenslauf für sich selbst sprechen. , 

Lebenslaufes Kunstmalers Hermann B. 

I. Meine Kindheit. — Im Jahre 1872, den 19. November, kam 
ich zu S. in Ungarn als zweiter Sohn des damaligen K. K. Oberleutnants 
Georg B. zur Welt. Es muß ein von Gott verdammter Tag gewesen sein; 
wehe allen jenen unglücklichen Würmern, die an diesem Tag in dies jämmer¬ 
liche Dasein einrückten. Ich trage an diesem Fluche noch heute. 

Noch in der Wiege liegend, einige Wochen nach meiner Geburt, 
erfuhr mein Vater schon, welche Last ich ihm werde. Meine Mutter ging 
mit einem Offizier einfach durch und ließ meinem Vater die Bürde zweier 
unflüggen Rangen, die ihm späterhin seine Mühe uhd aufopfernde Liebe 
mit zahlloser Schande lohnten. 

Ich erinnere mich ganz dunkel, als ganz kleiner Range irgendwo in 
Dalmatien, einmal etwas gestohlen zu haben, und sehe heute noch meinen 
Vater in seinem furchtbaren Jähzorn, den Revolver in der Hand, vor mir 
stehen, wie er damals stand. 

In der Schule war ich immer einer der Ersten im Lernen, aber auch • 
bei den bösen Streichen. Ich kam 1882 oder 1883 in die Militär-Unterreal¬ 
schule nach K., von welcher ich aber wegen schlechter Aufführung verjagt 
wurde. (Ich hatte dort am Schluß meines ersten Lehrjahres einige Gold¬ 
quarze aus dem Mineralienkabinett gestohlen, wofür meine Entlassung!) 

Mein Vater war damals Hauptmann im ...ten Infanterieregiment 
in G., Ungarn. Er bestrafte mich, und ich lief in der Nacht fort. Man 
brachte mich zurück ins Vaterhaus, wo ich nun den Diener meines Vaters, 
einen jungen, ungebildeten und rohen Rumänen, als Aufseher erhielt, 
der jede Gelegenheit benutzte, um mich tätlich zu mißhandeln. Als er 
eines Tages mich zu sehr würgte und bis aufs Blut schlug, da gab mich 
mein Vater in die Familie des pensionierten Hauptmanns B. zur Pflege. 
Dieser Herr, ein 80 jähriger Greis, versuchte nun im Verein mit seiner 
70jähiigen Gattin und über 30 jährigen Tochter Maria, mich zu erziehen. — 
Es gelang ihnen, aus mir einen vollendeten Heuchler zu machen. — Etwa 
16—18 Monate blieb ich dort, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ein Drang, 
dem ich nicht zu widerstehen vermochte, stieß mich fort, hinaus, weg von 
der Stadt, in die Fremde — bis der Abend kam und mit ihm die erste 
Furcht. Was tun ? — Wohin ? — Müde, erschöpft, hungrig und durstig, 
saß ich da auf dem Böschungsrand der nach H. führenden Eisenbahn, 
etwa 10 Kilometer von K. und weinte. — 

In später Nachtstunde kam ich wieder in K. an. Bei der meinem 
Vater befreundeten Familie L. fand ich Aufnahme und blieb zwei Tage 


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724 


Rittershaus, 


mit steifen Füßen im Bett liegen. Dies mein erster Wanderversuch; er 
mißlang kläglich. Ich beklagte nur das Mißlingen. 

Nach einiger Zeit brachte man mich nach K. zu einem Kunst¬ 
schreiner als Lehrjunge. Drei Wochen später passierte einem , Ka¬ 
meraden eiri Unglück, wobei ich Augenzeuge war. Seine Schürze ver¬ 
wickelte sich um den Achsenbaum, riß den Knaben mit sich, und ehe ich 
noch um Hilfe schreien konnte, war der Arme um den in rasender Eile 
sich drehenden Achsenbaum, der alle in der Fabrik befindlichen Maschinen 
durch Übertragungsriemen in Gang setzte, — wie ein loser Fetzen ge¬ 
wickelt. Dies Bild blieb jahrelang in meinem Gehirn haften und hat mir 
manchen Schlaf geiaubt. Ich ging sofort nach dem Unglück zum Fabrik¬ 
herrn und forderte meine Heimbeförderung, was auch geschah. 

Mittlerweile wurde mein Vater .zum Major befördert und zum ...ten 
Infanterieregiment versetzt. Er übernahm das Kommando des nach P. 
in Slavonien detachierten I. Bataillons. Und ich ? — Ich wurde Lehrjunge 
bei einem jüdischen Händler und aß zwei volle Wochen seine Zwiebelbrole, 
bis mich der Ekel forttrieb. 

Ein Hauptmann L. des ...ten Regiments in K. ließ mich — auf 
Befehl meines Vaters, hieß es — als Militär-Eleve im selben Regiment 
einkleiden und steckte mich in seine Kompagnie, wo er mich kleinen Buben 
zwang, alle Übungen der Mannschaften mitzumachen. Da das Werndl- 
lnfanterie-Gewehr viel zu groß für mich war, so erhielt ich einfach das 
sogenannte Extra-Korpsgewehr, welches bedeutend kürzer war, mich 
aber dennoch stark überragte, wenn ich daneben stand. — 

Weil ich eines Tages den Mut fand, an den Regimentskomraandanten 
zu schreiben, daß der Hauptmann L. vor der ganzen Front mich wegen 
Fehlens eines Knopfes am Waffenrock mit dem Säbel blutig schlug, mir 
ins Gesicht spuckte, mich eine Mißgeburt nannte und nach rumänischer 
Art fluchte, strafte mich der über dies große Verbrechen empörte Kom¬ 
pagniegott mit zehn Tagen Dunkelarrest, die er mich in einem Minengang 
der Bastion absjtzen ließ, wobei, nebenbeigesagt, vergessen wurde, mir in 
sechs von den zehn Tagen Nahrung zu geben. Nun, all dies ist ja vorbei: 
nichtsdestoweniger brausen mir heute noch so eigentümlich die Ohren, 
wenn ich an diese Periode meiner ,,goldenen“ Jugendzeit zurückdenke. 

Und so manche andere schöne Szene könnte ich da erzählen, w-ie 
z. B. ich, kaum 13jähriger Knabe, eine Nacht und einen halben Tag in 
kniehohem Schnee, bei echtem Karpathenfrost, am Plateau der unseren 
Kasematten gegenüberliegenden Bastion stehen mußte, und zwar, weil 
der Hauptmann die den herabführenden Weg versperrende eiserne 
Gittertür hinter mir schließen ließ, nachdem ich auf seinen Befehl hinauf 
mußte. Als ich am Rande der hohen Mauer stand und Miene machte, 
hinabzuspringen, da lachte der untenstehende liebenswürdige Herr in 
solch einer Weise, daß mir die Lust zum Sprunge verging und ich mich 
heulend und zähneklappernd in eine Ecke duckte, um wenige Minuten 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 


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nachher wieder wie ein Wiesel auf der Plattform herumzulaufen. Oder 
jener Vorfall, da ich, Herz und Seele zum Überlaufen voll, weglief, bis 
nach B. wanderte, dort, halbverhungert, durch einen barmherzigen Sama¬ 
riter aufgelesen, getränkt, gefüttert und — zurück nach K. verbracht 
wurde, wofür mein hoch- und wohlgeborener Herr Hauptmann in edel¬ 
mütiger Weise mich an drei hintereinanderfolgenden Tagen je zwei Stunden 
an die Wand hängen ließ, wobei es wahrscheinlich nur Zufall war, daß dies 
jeweils zur Zeit des Mittagessens geschah. Um mir dann nach zweistündi¬ 
gem Angebundensein die üblichen Eindrücke verschwinden zu machen, 
iibergoß mich ein „treuer Kamerad“ mit einem Eimer kalten Wasser auf 
„Befehl des Dumnje capetani“ und lächelte dabei zartfühlend. Nur war 
ich damals noch sehr dumm, denn ich bildete mir ein, der Bursche hätte 
so etwas Höhnisches im Lächeln und Schadenfreude im Blick. Ich hatte 
mich wahrscheinlich getäuscht, denn diese Soldaten von „dorther“ sind 
ja harmlos wie Lämmei. 

Endlich aber hielt ich es nicht mehr aus. Ich suchte und fand ein 
Mittel, um endgültig fortzukommen. Bei einem Besuch, den ich an einem 
Sonntagnachmittag meinem ehemaligen Kostherrn Hauptmann a. D. B. 
machte, stahl ich eine Taschenuhr, die etwa zwei Gulden wert war, und 
kehrte ruhigen Gesichtes, aber klopfenden Herzens in unsere Kasematte 
zurück. 

Den zweitfolgenden Tag wurde ich plötzlich in die Kompagnie- 
Kanzlei gerufen, wo ich bald meinem Tyrannen gegenüberstand. Was dabei 
gesprochen w r urde, kann ich heute nicht mehr angeben, es ist zu viel Wasser 
darüber geflossen seit der Zeit, aber gewiß nicht soviel, wieviel ich damals 
Ttänen vtrgoß. Aber keine geheuchelten, nein, — echte, wahre Schmerzens- 
tränen, denn was mir der Hauptmann damals tat, hatte noch kein Hund 
erdulden müssen. 

Als ich dann endlich am Boden lag und kaum mein zuckte, da warf 
mein gütiger Kompagniegott die Reitpeitsche in einen Winkel, — die 
arme Peitsche mußte sich irgendwie weh getan haben, denn sie blutete ja 
förmlich, oder, hm, war's etwa mein Blut? — bah, vorbei, vorbei ebenso 
wie die Wut des Hauptmanns, der plötzlich von seinem Sessel aufsprang, 
die Peitsche ergi iff (ich zuckte wieder etwas mehr) und sie in den glühenden 
Ofen warf. Ein Riß an der Glocke. Der hereintretende „Korporal vom 
Tag" erhielt einen Auftrag und verschwand wie ein Blitz. Plötzliches Auf¬ 
tauchen zweier „lieber Kameraden“, die mich elenden „Schweinehund“ 
hinauszerrten und am Brunnen wie ein Bündel schmutziger Wäsche 
wuschen. Es war anfangs Januar, und die Eiszapfen hingen am Brunnen- 
rohr. Eine tüchtige Einreibung mit Salz sollte mich wahrscheinlich wieder 
erwärmen. — Und ich ging doch nicht zugrunde. 

Ich wurde einige Tage danach im Militär-Transportwege nach P. 
abgeschickt und meinem Vater zugestellt. 

Und nun hatte ich während acht Tagen ein rosiges Leben. Ich er- 


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Rittershaus, 


innere mich, daß mein Vater mich sogar geküßt hat und mir sagte: ,,Armer 
Bub, hätte ich nur etwas davon gewußt!“- 

Nach Verlauf von acht Tagen brachte mich, mein Vater nach N., 
■der Schwesterstadt P.s, die voneinander durch die herrliche Donau getrennt 
sind. In N. sollte ich nun Jeben und wirken; und zwar als der hoffnungs¬ 
reiche Handelslehrling bei einem serbischen Spezerei- und Südfrucht- 
■Großkaufmann. Was nützte mi^ all mein Flehen, mich Kunstmaler werden 
zu lassen ? — Nichts. Petroleum- und Datteln-Verkauf sind ja bekannter¬ 
maßen einträglicher als Farbenklexerei. Nur war ich zu jung und verstand 
nichts davon. 

Vier Wochen lang schmeckten mir die verschiedenen Herrlichkeiten 
■des Geschäftes, wie Datteln, Feigen, Rosinen, Rops, Drops, Schokolade etc. 
Da sollte ich eines Tages mit einem Paket einen Herrn an die Station der 
nach vergangenem Winter wieder eröffneten Donau-Dampfschiffahrts- 
gesellschaft (D. D. S. G.) begleiten. Das war ein Ereignis für mich. Das 
erste Mal in meinem Leben sah ich, begreifend, solch ein Wunder. Ein 
Schiff! Ein Dampfschiff! — Und als es den Herrn, dem ich am Ponton 
das Paket übergab, davontrug, da war es mir, als führte es auch ein Stück 
von meinem Herzen mit fort. — Helle Tränen strömten mir dabei aus den 
Augen. Im Wachen und Schlafen sah ich seit dieser Zeit nichts als Schiffe. 
— Mit diesen fortreisen, sei es stromaufwärts oder stromabwärts, war 
nun mein ganzes Ziel, mein ganzes Sehnen und Drängen. — Nur wider¬ 
willig ging ich zurück, in die Stadt zurück, in den Kaufladen, der mir auf 
einmal erschien, als sei es das ärgste Sklavengefängnis. — Einige Tage 
darauf fand ich im Schreibtisch meines Prinzipals eine Zehnguldennote. 
Wie ein Blitz durchzog mich der Gedanke: Hier hast du die Mittel, um mit 
einem der schönen Schiffe bis Budapest fahren zu können. — Ich über¬ 
legte nichts. Ich dachte an nichts anderes als an die Fahrt. Hastig steckte 
ich das Geld ein und lief, was ich konnte, zui Schiffahrtstation. Ich kam 
zur rechten Zeit, um mit dem gelösten Billet noch rasch auf Deck springen 
zu können, und .dann ging’s fort.- 

Welch ein Glück, welch göttliches Behagen mich durchströmte, als 
ich da am oberen Deck saß und vor meinen, sich mächtig weitenden Augen 
all die wundervollen Bilder des Donaustrandes vorbeiziehen sah. Hah, 
war ich glücklich, war ich selig! Ich hätte mit keinem Menschen auf der 
Welt tauschen mögen. Daß bei all meinem Glück in meiner Tasche nur 
einige Kreuzer klimperten und ich nichts anderes im Besitz hatte, als das 
allerdings befriedigende Gefühl, zu reisen wie es andere, erwachsene Männer 
taten, das scherte mich wenig. Ich war nun ein Mann. — Allein. — Frei! — 

Vergessen, wie nie dagewesen all die Petroleum oder Stearinkerzen 
kaufenden Dienstboten, die ich noch vor wenig Stunden bedienen und mit 
,,Fräulein“ anreden mußte. Vergessen die Süßigkeiten des Ladens, die 
Kameraden, die Sonntagspaziergänge, alles vorbei, sogar den Vater hatte 
ich vergessen.- 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 


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Der Abend kam. Es war empfindlich kalt geworden, und ich hatte 
iur ein dünnes Gewand an. Da drückte ich’mich gegen den Maschinen- 
aum uncl schlief dort wie ein Königskind im Flaumenbette. 

Budapest. — Den ganzen ersten Tag lief ich staunend und gaffend 
tlurch all die schönen Straßen, beguckte alles und vergaß beim Anblick 
filier Herrlichkeiten, daß mich der Hunger quälte. Hatte ich doch seit mehr 
als vierundzwanzig Stunden nichts genossen. Gegen Abend saß ich am 
Donauufer in der Nähe der Kettenbrücke und sog mit gierigen Augen 
den wundervollen Anblick fest, den mir das Panorama von Buda mit 
seinem Königspalast und dem Blocksberg gewährte. — Gesättigt von der 
Schönheit dieses herrlichen Bildes schlief ich auf der Bank ein. — 

Eine rauhe Faust weckte mich. Erw’achend sah ich einen Konstabler 
vor mir, der mich frug, warum ich hier schlafe. Es war Nacht Tiefe 
Nacht. Und tausend und abermals tausend Lichter glänzten und spiegelten 
sich im schwarzen Wasser der. „schönen blauen Donau“ und leuchteten 
wie Myriaden HofTnungssterne. Ich aber sah nur das Wogen der schwarzen 
Wellen, und plötzlich war’s mir, als käme eine solche wie ein ungeheures 
Ungetüm auf mich zu, um mich zu verschlingen. Ich wehrte mich dagegen, 
wollte schreien, um Hilfe rufen, da fiel mir eine harte, knochige Faust 
auf Mund und Nase, — das Blut spritzte, mein Kopf brummte wie ein 

Bienenkorb und dann lag ich am Boden.-Als ich zur Besinnung 

kam, fand ich mich in einem dunklen Raum, in welchem eine entsetzliche 
Luft herrschte. Kaum konnte ich atmen; das biß und ätzte Augen und 
Kehle zum Ersticken. Brenzliche Tränen flössen mir über die Wangen, 
und in meinen Eingeweiden wütete der furchtbarste Feind der Kreatur, 
— der Hunger. 

Ich war im Polizeiarrest eines Bezirkes Budapests. 

Am nächsten Morgen wurde ich vor einen Polizeioffizier geführt, 
nach Namen, Herkunft, Wohnung etc. befragt und — als heimloser Vaga¬ 
bund in das Schubhaus gebracht. Auf meine wahrheitsgemäßen Antworten 
hatte ich nur ^öhnisch-ungläubiges Gelächter und einige wohlgemeinte 
Fauststöße geerntet. Wie denn auch anders? — Legt sich da solch ein 
:flisgehungertes Ungeziefer, wahrscheinlich ein längst gesuchter Taschen¬ 
dieb, auf eine Bank, die von der fürsorglichen, guten Stadtverwaltung 
dem wohlgeehrten Publikum zu kurzer Rast gewidmet ist, und schläft 
darauf, als ob es keine Polizeiverordnung gäbe, die solche Schandtat 
unnachsichtlich verfolgt? — Unerhört. Na warte, — Schandbube, das 
wirst^u büßen müssen, um so mehr, als du die Frechheit besitzt, einen 
K. K. Offizier zu verleumden, dein Vater zu sein. 

Dies geschah etwa im März oder April. Im Februar des darauf¬ 
folgenden Jahres bequemte sich endlich die Behörde dazu, anzuerkennen, 
daß ich nach O. heimatberechtigt sei, und — ich wurde dahin mit zirka 
dreißig Personen verschiedenen Geschlechts und Alters abgeschoben. Von 
Pest bis zur nächsten Gemeinde ging es auf offenem „Schubwagen“ (ein- 


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Ritters haus. 


fachem Leiterwagen) umgeben von einer Kohorte berittener Konstabler. 
Wir saßen auf querliegend^n Brettern, die Händp aneinandergefesselt. 
und eine lange Kette verband uns alle zusammen. 

Die Menschen, die uns vorbeifahren sahen, spuckten vor uns aus 
und riefen uns verschiedene Flüche nach, wie sie nur die Ungarn aus¬ 
sprechen können. 

Von der nächsten Gemeinde bis K. ging es dann in, zweitägigem 
Marsch zu Fuß, über endlose und gründlich aufgeweichte, sehnee- uhd kot- 
bedeckte Straßen und Wege. Hie und da wurde ein Mitglied aus unserer 
Reisegesellschaft ausgelöst, um andere Wege einzuschlagen oder in einem 
oder anderem Dorfe zu verbleiben. 

Von K. bis 0. fuhr unsere stark zusammengeschmolzene Horde mit 
der Eisenbahn. Sehr liebenswürdige, sogenannte Schubwärter, mit alten 
Gewehren und Pistolen bewaffnet, begleiteten uns und versuchten auf alle 
Arten und Weisen, uns die Zeit zu verkürzen, indem sie abwechselnd bald 
den einen, bald den anderen Kameraden, bald die eine, bald die 
andere Kameradin mit feinfühligen Witzen beehrten und mit sanften 
Rippenstößen begleiteten. Wahrscheinlich waien wir noch nicht intel¬ 
ligent genug, um die harmlosen Humore zu würdigen, denn wir bil¬ 
deten uns ein, man mißhandele uns mit Wort und Tat. — Na, — bald 
waren wir ja in O. angelangt und da hörten meine Leiden auf. Ein Onkel 
nahm sich meiner an, ließ mich zuerst baden und gründlich reinigen 
(Rußland hat näirilich nicht allein das Vorrecht dieser gewissen kleinen 
Bicsterchen), — dann erhielt ich Wäsche und Anzug, und konnte endlich, 
wie ein von der Pest genesener Kranker, der Köchin meines Onkels 
vorgestellt werden. Er hat wahrscheinlich vergessen, mir seine Gemahlin 
und Töchter zu zeigen, oder — dachte er aus sanitären Rücksichten nicht 
anders handeln zu müssen? 

Wie dem auch sei, ich speiste mit gutem Appetit in der Küche und 
fuhr Nachmittags mit Onkel nach P. in Österreich, um dort eine von Wien 
kommende Tante zu begrüßen. — 

ln einer Villa P.s verbrachte ich in einem vorzüglichen Bett die 
Nacht. Das erste Bett seit fast einem Jahr. * 

Am anderen Morgen sah ich Tante Johanna.. Schüchtern begrüßte 
ich sie. Als ich ihr die Hände küssen wollte, stieß sie mich zurück und 
sagte mir: ,,Keine Komödie, wenn ich bitten darf!“ — 

Sie nahm mich nach Wien mit und brachte mich zu ihrer Freundin, 
der Flau H.- 

So war ich in Wien. — Ich war wirklich ein dummer Bube gewesen, 
denn ich bildete mir ein, daß meine Tante mich nur deshalb nach Wien 
brachte, um mich in einer armseligen Dachkammer Dächerstudien machen 
zu lassen, und daß sie sich vor meiner wichtigen Person versteckte, worin 
ich bald noch mehr bestärkt wairde, da einige Tage nachher Frau H. mich 
zum Bahnhof brachte, mir eine Fahrkarte III. Klasse nach P. lautend 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 


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nebst einigen zwei oder drei Guldenscheinen in die Hand drückte, mich 
in ein Abteil des bereitstehenden Zuges setzte und dann — kerzengerade, 
ohne ein Wort zu reden, stehen blieb, bis sich der Zug in Bewegung gesetzt 
hatte.. Ich Tölpel glaubte ein Lächeln über das Gesicht der alten würdigen 
Dame huschen zu sehen und einen Seufzer der Erleichterung zu hören, als 
die Räder zu rollen begannen Möglich, daß ich mich täuschte. Eines 
war gewiß: — Ich fuhr wieder auf der Eisenbahn! — Hurrah!- 

In P. angekommen, bekam ich meinen Vater nicht zu Gesicht. Ich 
schlief wohl in der väterlichen Wohnung in einem kleinen Zimmerchen, 
das bis dahin als Rumpel- und Sattelkammer gedient hatte, wurde 
aber in der Kantine der Familie K. beköstigt und war im übrigen 
frei wie ein Vogel. Tagüber streifte ich in den Schanzanlagen der 
gewaltigen Festung nmher, machte Forschungsreisen in den unter¬ 
irdischen Minengängen oder vergnügte mich mit Baden in der von mir 
so verehrten Donau. 

Eines Tags sagte mir Frau K., es sei Zeit, daß ich mich entschließe, 
etwas Vernünftiges zu erlernen. Ich gab zur Antwort, ich möchte Kunst¬ 
maler werden. Darob schlug die brave Frau über ihrem Haupte die Hände 
zusammen und machte mir begreiflich, daß die Kunst im Höchstfälle nur 
mit Lorbeer nähre, wogegen ein gutes Handwerk nebst Brot auch hie und 
da ein Stück Speck abwerfe. Und da die Gattin des Kantiniers K- mir 
nicht nur leibliche Nahrung verabreichen sollte, sondern überhaupt als 
Plenipotentiaire meines Vaters auftrat, so mußte ich wohl oder übel 
mich ihrem Willen beugen und meine mir zugedachte neue Lehrstelle 
bei einem Buchhändler antreten. Dieser gute Mann verkaufte nebst 
allerlei Pandekten auch römisch-katholische und griechisch-orientalische 
Missais, Traum- und Kochbücher, die neuesten Moritaten des Rinaldo 
Rinaldini, Rosa Sanders und des Schinderhannes, sowie die allempuesten 
Kursbücher der Eisenbahn M. A. 'V. (d. h. Magyar Allam Vasiet) und 
der D. D. S. G. in die ich rasend verliebt war. Diese unsinnige Liebe ver- 
anlaßte mich auch nach ein paar Wochen einen mir anvertrauten und 
der Post zu übertragenden Geldbetrag von 15 Gulden dazu zu verwenden, 
mir eine SchifTfahrtskarte nach Belgrad zu lösen und mit dem nächsten 
Dampfer nach dort abzudampfen. Auf Deck machte ich die Bekannt¬ 
schaft ei^es verwegen aussehenden Herrn, der einige Dutzend kroatische 
Baumfäller und Holzarbeiter nach Serbien geleitete, um dort in den den» 
Baron H. gehörenden Wäldern zu arbeiten. 

Diesem Umstande verdankte ich es. Serbien betreten zu können. 
Am Landungsplatz in Belgrad bei Nacht angelangt, schlüpfte ich, durch 
den Schafpelzmantel des Arbeiterführers ziemlich versteckt, durch die 
beiderseits des Pontons aufgestellten Grenzgendarmen und landete auf 
serbischem Boden ohne Papiere, mit einer ganz geringen Barschaft. 

Diese Nacht schlief ich mit dem erwähnten Herrn in einem Hotel 


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Rittershaus, 


am Kalimegdan, im selben Zimmer, im selben Bett. Ich habe nichts 
weiter sin diesem Herrn auszusetzen, nur fand ich, daß er seine Hand zu 
weit ausschweifen ließ, sonst aber ganz harmlos schlief. 

Als er am Morgen mit mir frühstückte,sagte er mir mit einem seligen 
Lächeln, — das mir aber sehr mephistoähnlich vorkam, — diese Nacht 
hätten wir sehr gut geschlafen und Kräfte gesammelt, um dafür aber in 
der kommenden Nacht uns „besser unterhalten“ zu können, und dabei 
erklärte er mir, daß ihm hübsche Knaben viel besser gefallen als schöne 
Mädels. Ich verstand nicht viel, oder besser gesagt, gar nichts vom Sinn 
seiner Worte, aber von Minute zu Minute flößte er mir mehr Abscheu ein, 
und schließlich überfiel mich die Angst, er wolle mich als Holzhauerlehr¬ 
ling in die Wäfder mitnehmen. Kaum gedacht, war ich aber auch schon fort. 

Ich kann mich noch erinnern, daß ich nach einigen Tagen ziel- und 
zwecklosen Umherstreifens in der Stadt und Umgebung auf das öster¬ 
reichisch-ungarische Konsulat ging,wo man mir zuerst etwas zu essen gab, 
um mich Abends durch den Konsulatsdiener auf die Bahn zu bringen und 
nach Semlin zu senden. In Semlin übernachtete ich bei Wirtsleuten, 
die mir mitleidig ein Bett anboten. Am anderen Tage ging ich an den 
Hafen und schwindelte dem Kapitän eines LastschilTes etwas vor, von 
meinem Vater, den ich in Budapest habe, und der mich auf seiner Reise 
an der serbischen Grenze verloren hätte usw‘ Da sein Schiff nach N- 
fuhr, nahm er mich unentgeltich mit. 

In N. wechselte ich im Laufe des darauffolgenden Monats drei 
Lehrherren. Bei einem Photographen fing ich an, ging dann zu einem 
Schuhhändler und schließlich zu einem Kutschenlackierer und Anstreicher. 

Da ich hier mit Farben zu tun hatte, so gefiel mir dies Metier einige 
Zeit, aber als mich mein Lehrherr einmal zu einem seiner Kunden sandte, 
um dort etwa 40 Gulden einzukassieren, kehrte ich nach vollbrachtem 
Aufträge nicht mehr zurück, sondern — fuhr nach Budapest mit dem 
Schiff. Hier will ich nur so nebenbei erwähnen, daß die Frau meines 

Lehrherrn die Tochter der Besitzerin eines Hauses in der.straße 

war. Wer N. kennt, wird auch wissen, daß diese Straße aus Häusern be¬ 
steht, wo ältere Damen das undankbare aber lukrative Geschäft betreiben, 
eine Menge in ihrem Hause wohnender Mädchen vorübergehend an Vorüber¬ 
gehende gegen eine gewisse Taxe zu verheiraten, um nach wenigen Minuten 
wieder die Scheidung auszusprechen. ’ 

Ich verstand damals noch nicht viel von diesen Sachen, aber da 
ich täglich dreimal bei der gnädigen Schwiegermutter speisen mußte, 
erweiterte sich mein Gesichtskreis ganz gehörig. Die Familie speiste 
nämlich an einem Tisch und die „Damen“ und ich an einem anderen. 
Diese „Damen“ machten sich einen Spaß daraus, mich in Dinge einzu- 
w T eihen, die ich besser ignoriert hätte. Auch machten sie sich manchmal 
in recht unangenehmer Weise über meine Naivität lustig und erreichten 
damit, daß ich aus dem einfachen Trieb, nicht „dumm“ gescholten zu 


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werden, es oft erfolgreich versuchte, sie zu überbieten. Nur, als mir 
einmal gerade die schönste, die ich heimlich als „Ideal“ liebte, mein 
Kipfel nahm, dasselbe in etwas tauchte und mir zurückgab mit den Worten: 

„Iß, wenn du mich lieb hast“-da konnte ich meine Tranen nicht 

zurückhalten und verzichtete auf weitere Anbetung meines „Ideals“ und 
auf den Genuß des Kipfels. Merkwürdigerweise erhielt ich vom Lehrherm 
dafür ein paar schallende Ohrfeigen. Hatte ich also doch nicht den vollen 
Wert der Handlung begriffen? — — Ach, ich war ja zu dumm. 

-Nun war ich zum zweiten Mal in Budapest.- 

Auf der Andrassystraße gegen Abend begegnete ich einem sehr 
elegant gekleideten Fräulein, das mich fragte, ob ich ihr folgen wolle? 
Dienstbereit war ich immer. Ich ging also sofort hinter der Dame her, 
bis sie plötzlich umkehrte und lächelnd fragte: „Kommst du mit. 
Kleiner?“ 

Ich gab ihr zu verstehen, daß ich ja bereits seit einigen Minuten 
ihr folge, um ihr zu dienen, da lächelte sie wieder und bat mich, neben sie 
zu treten und ihr die Hand zu geben, da ich zum Armreichen noch zu klein 
sei. Ich folgte augenblicklich. 

Wir blieben vor einem einfachen Haus in einer stillen Straße stehen, 
sie zog einen Schlüssel, öffnete die Haustüre, und wir traten ein. 

In einem Zimmer, in dessen einer Ecke ein riesiges Bett stand, 

machten wir endlich halt. Das Fräulein lächelte wieder und-zog 

sich aus. Ich mußte ein recht dummes Gesicht gemacht und mich noch 
dummer benommen haben, denn trotzdem ich Röcke, Unterröcke, Hemd- 
chen und Hose äußerst sanft, ja fast zärtlich auf einen Kleiderständer 
hängte und schüchtern frug, wo die Bürsten seien, um ihre Schuhe zu 
reinigen, lachte sie hell auf, hieß mich einen dummen Jungen, riß mir fast 
^die Kleider in Fetzen, bis ich ebenso nackt wie sie dastand, was mich ver¬ 
dammt genierte, da dies das erste Mal war, daß ich einer weiblichen Person 
gegenüber in diesem Aufzug erschien. 

Sie aber ergriff mich mit einer fast wilden Hast, warf sich mit mir 
auf das Bett, küßte und biß mich, als ob ich eine Puppe gewesen wäre, 
dann preßte sie meinen Kopf an ihre Brust, an ihren Bauch und tiefer, 
immer tiefer und rief mir dann Anweisungen zu, die ich schließlich befolgen 
mußte, da sie mir den Kopf mit Beinen und Händen zum Zerspringen drückte, 
als ich nicht gleich Folge leistete.- 

Am anderen Morgen verlangte sie von mir 20 Gulden für das be¬ 
nutzte Zimmer. Ich wagte nicht, sie zu verweigern und, nachdem sie mir 
ein glückliches Wiedersehen wünschte, war ich mit einem Gulden in der 
Tasche auf der Straße und fühlte mich todkrank. 

Ich war einige Tage in einem Spital mit Fieber und wurde dann als 
geheilt — der Polizei übergeben, da ich mittellos und unterstandlos war. 
Zwei Wochen später machte ich eine zweite Schubreise nach 0. mit. 

Mein Onkel, den ich nicht zu Gesicht bekam, ließ mir durch die 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. 49 


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Köchin zwei Gulden als Reisegeld nach Wien aushändigen mit dem Be¬ 
merken, nie wieder seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. 

So fuhr ich denn nach Wien, um Tante Johanna zu sehen. 

Meine Tante wohnte in einem prächtig möblierten Haus, ich konnte 
aber nicht viel davon sehen, da sie mich sofort zu ihrer Freundin brachte. 
Zwei Tage nachher kam Tante Johanna und holte mich zu einer Spazier¬ 
fahrt ab. Ich war froh wie ein Prinz, in solch schönem Wagen neben meiner 
noch schöneren und lieblich duftenden Tante durch die Straßen Wiens zu 
fahren. Doch war meine Herrlichkeit bald zu Ende. An einem Hause, 
über dessen Tür ein großer eiserner Doppeladler hing, hielt der Wagen, 
meine Tante stieg aus, hieß mich ihr folgen, und wir traten in das Haus. 
Im ersten Stockwerk mußte ich in einer Art Vorzimmer warten, während 
meine Tante durch eine Tür verschwand. 

Einige Augenblicke später traten einige Herren zu mir, sahen sich 
eine Zeitlang an und führten mich dann die Treppe hinab, bis in die Keller¬ 
räume, krick — krack, und ich saß im Loch. 

Abends wurde ich im Polizeigefängnis eingeliefert. Die erste Nacht 
lag ich, wie hx Budapest, in einem Raume, da über dreißig Männer und 

Buben auf halbgefüllten Strohsäcken lagen und-Läuse 

suchten, so lange es Licht gab. Dann wurden Geschichten erzählt, die 
aber keil) Viktor Hugo, kein Zola, kein Maxim Gorki erfunden hatte. 

Und ich weinte, denn ich konnte es nicht begreifen.- 

Am nächsten Tag führte man mich in eine Zelle, in welcher ein von 
der Zollbehörde in Haft genommener Tabakdefraudänt sich häuslich ein¬ 
gerichtet hatte und in aller Seelenruhe Zigaretten drehte. — Es war ein 
gebildeter Herr, der ungemein viel Bücher besaß,, die ich reichlich in 
Anspruch nahm. Noch nie hatte ein Mensch so zu mir gesprochen, wie 
dieser Herr: er behandelte mich, als wäre ich sein Sohn. Und als ich nach 
vier monatlich er Haft krank wurde, da pflegte er mich ohne Rücksicht, 
auf sein eigenes Ruhebedürfnis. 

Da das Fieber stärker wurde, brachte man mich in das Kronprinz 
Rudolf-Spital. Eine barmherzige Schwester nahm sich meiner an und wollte 
aus mir armem Ketzer absolut ein würdiges Glied der alleinseligmachenden 
Kirche machen, doch trug dies wahrscheinlich viel dazu bei, mich gesund 
zu machen, und so wurde ich entlassen. 

Da ich mehrere Kleinigkeiten besaß, die im Polizeigefängnis in Auf¬ 
bewahrung waren, ich aber dieselben ungern verlieren wollte, so ging ich 
denn schweren Herzens in den gefürchteten Bau, den die Wiener ,,das 
graue Haus“ hießen, und fand zu meinem größten Entzücken nebst meinem 

Habtum auch-meine Freiheit wieder. Man ließ mich einfach laufen. 

Ein Polizeimann, den ich frug, was ich nun tun solle, fuhr mich barsch an, 
ich solle zum Teufel gehen. Ein Herr, der dies hörte, faßte mich bei 
der Hand, führte mich in einen Kaffeeschank, ließ mir etwas zum Essen 
vorsetzen und erkundigte sich dann schlicht und teilnehmend nach meinen 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 

Verhältnissen. Ich erzählte ihm denn nun auch alles der Wahrheit ent¬ 
sprechend. 

Im Wiener Adreßbuch fand, ich nun die Wohnung einer Schwester 
meines Vaters, zu welcher er mich brachte. 

Nachdem diese sich ebenfalls meine Geschichte erzählen ließ, dankte 
sie dem Herrn, der sich dann mit vielen wohlgemeinten Ratschlägen von 
mir verabschiedete. , 

Hier erfuhr ich nun aus dem Munde dieser Tante, daß Tante Jo¬ 
hanna eigentlich keine Tante, sondern-meine Mutter sei.- 


Nach einigen Tagen war ich wieder, von meiner .wirklichen Tante 
mit allem Notwendigen versehen, im Eisenbahnzuge auf dem Wege nach P., 
nachdem ich meiner Tante heilig versprechen mußte, brav zu werden und 
etwas Ordentliches zu erlernen. Meines Vaters Verzeihung wollte sie mir 
schon verschaffen, ich sollte nur ruhig zu ihm gehen. 

Ich traf in P. ein und-streifte hier und in N. so lange herum, 

als mein Geld (einige Gulden) dauerte, und dann verdingte ich mich bei 
einem — Fischer auf der Donau gegen einen Tagelohn von einem Gulden 
nebst freier Verpflegung. Den ganzen Sommer verblieb ich denn auch bei 
diesem Metier. 

Wir fuhren auf der Donau bis Semendria und kehrten oft, reich 
beladen, an stromaufwärts fahrende Schiffe gekettet, zurück. Das war ein 
Leben voll Arbeit, Strapazen, Mühen, aber auch voll von Abenteuer und 
Freiheit. Wenn manchmal mein Lehrherr etwas Besonderes an der serbi¬ 
schen Küste zu tun hatte, dann war dies mein köstlichstes Vergnügen, ob¬ 
wohl wir dann oft die Kugeln der serbischen Grenz- und Zollwächter um 
unser Boot herum ins Wasser schlagen hörten. 

Aber das verfluchte Fieber packte mich wieder, und so sehr ich mich 
auch volle zwei Monate dagegen wehrte, mußte ich doch den mir lieb 
gewordenen Beruf aufgeben. Vierzehn Tage lang pflegte mich die Frau 
meines Brotherrn, bis ein Radikalmittel einer alten Zigeunerin mir wieder 
auf die Beine half. 

Dann verließ ich P.-N. und ging nach E., wohin mein Vater mit 
seinem Bataillon versetzt worden war. Und da nahm ich meinen Mut 
zusammen und wollte Vätern um Verzeihung und Hilfe bitten. 

Ich war sechszehn Jahre alt. 

Mein Vater ließ sich nicht sehen. Ich erhielt durch seinen Diener 
den Befehl, zum Oberst-Regimentskommandeur zu gehen, was ich auch 

befolgte, und da-wurde ich einfach in den Soldatenrock gesteckt, 

als Eleve einer Kompagnie übergeben, und---nach einigen 

Tagen mit einem Mannschafts-Nachschub nach der Herzegowina geschickt. 

Und so endete meine Jugendzeit, meine „goldenen Kinderjahre“. 

II. Im Militär. — Unser Transport unter dem Kommando eines 
Unteroffiziers fuhr an einem schönen Herbstmittag von E. ab. Die Reise 

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Rittershaus. 


ging via Agram nach Fiume mit der Bahn und von dort mit Schiff bis 
nach M. in Süddalmatien. Als wir in Fiume eingeschifft wurden, war all 
mein Kummer über meine neue Zwangslage wie weggeblasen. Es war 
vielleicht der Einfluß der Bora, diesem Herbstgast Dalmatiens, der all¬ 
jährlich das Adriatische Meer aufpeitscht. Alle waren seekrank, nur ich 
nicht. Ich saß während der ganzen Fahrt ganz vorne an der Spitze des 
Schiffes auf einer Rolle Taue und sah mit Entzücken in die lebende Flut 
Gierig saugte ich die Hafenbilder von Zara, Spalato, Gravosa und Ra- 
gusa ein. 

Als wir von M..mit der schmalspurigen Militärbahn in das Okkupa¬ 
tionsgebiet und beim Auswaggonieren in P. durch die krummen türkisch- 
herzegowinischen Gassen marschierten, um naffch dem Übersetzen der 
Darenta mittels Fähre die nachD., unserm Bestimmungsort, führende Land¬ 
straße zu'erreichen, da klopfte mir das Herz höher, und ich war von ganzer 
Seele bereit, meinem Vater zu verzeihen, daß ej mich zwäng, Soldat zu 
werden. Jeder Schritt durch dies Land erinnerte mich an die Märchen 
von Tausend und eine Nacht. Da fand ich ja Ali-Baba mit seinem bunten 
Rock, Pluderhose, Turban und magerem Esel. Dort wieder einen Hussam 
Bey in farbenprächtigem goldstrotzendem Gewand, auf reich gezäumtem, 
tadellosem Schimmel, hier, eine alte vermummte Zigeunerin, deren Fetzen 
lose am Leibe hingen und die welken Brüste unbedeckt ließen, während 
ein schmutziger Lappen die Gesichtshälfte unterhalb der Augen verhüllte, 
wahrscheinlich um das Abstoßende des Antlitzes zu mildern, dort wieder 
einen schwarzen sonderbaren Sack, der mit wackelnder Grazie über das 
holprige Pflaster schwebte und deutlich erkennen ließ, daß die unten herVor- 
guckenden Füße eine holde, junge Gestalt trugen. Kurz, ich war im Lande 
des Zaubers, der Scheherezaden, im Lande der Feigen, des KafTees — (um 
zwei Kreuzer die Tasse), — im Lande der unnahbaren Schönen und der 
zudringlichen Läuse. Was diese letzteren betrifft, so ist deren unmäßiger 
Nachwuchs daraus zu erklären, daß der Landmuselmann sie nicht tötet, 
sondern einfach wegwirft. O Land der vielen Gegensätze, o Land der heißen 
Sommer und der noch heißeren ungarischen Kulturträgerinnen in den 
verschiedenen Garnisonen, o Land der endlosen Märsche und Patrouillen¬ 
gänge und der langweiligsten Sonn- und Feiertage; dein Boden hat mich 
zum Manne reifen sehen, und deine Sonne hat mir mein bißchen Gehirn 
zerkocht, so daß, was übrig blieb, ein scheußliches Gerinnsel ist, dessen 
einzige Kraft war, den trägen Körper bis in den tiefsten Schlamm 
menschlicher Verderbtheit zu wälzen. — Tatsächlich gibt es niemand, 
der ein zartfühlenderes, mitleidigeres, gemeineres und verdorbeneres Herz 
besitzt als ich. Oder, liegt das nicht im und am Herzen? — 

Ich habe von 1888 bis 1889 in D. und J. als Eleve bei der 7. Kom¬ 
pagnie des ... Infanterie-Regiments gedient. Oberstleutnant von L. war 
mein Bataillonskommandeur. Gegen Mitte 1889 bekamen wir zum Kom¬ 
pagniechef den von der Gendarmerie zu uns versetzten Hauptmann 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 735 

• 

I ohann V. Er war der böse Geist unserer Truppe, — mir aber war er der 
Satan selbst. 

Im November 1889 nach erreichtem 17. Lebensjahr mußte ich auf 
Wunsch meines Vaters den Fahneneid ablegen und wurde infolgedessen 
l nfanterist. An dem Tage sagte mir Herr Hauptmann V. unter anderem, 
ich sollte mich lieber gleich erschießen, es wäre mir und meinem Vater 
förderlicher. 

Ich wundere mich heute darüber, dies nicht getan zu haben. War es 
ans Feigheit? — Wer vermag dies richtig beurteilen zu können?- 

Anfang Dezember 1889 wurde ich durch Bataillonsbefehl zum Ge¬ 
freiten befördert. Als mein Hauptmann mir dies verkündete, sagte er in 
Gegenwart der übrigen Kompagnieoffiziere, nicht eher ruhen zu wollen, 
bis er mir den Stern wieder vom Kragen gerissen haben würde. So kam 
das Jahr 1890 und mit ihm ein junger Mann zu unserer Kompagnie, der 
zwar im Jahre 1886 stellungspflichtig war, sich aber durch Flucht nach 
Serbien der Dienstpflicht entzogen hatte. Der Tod seiner Mutter führte 
ihn in seine Heimat zurück, um an ihrem Grabe zu beten, wobei er durch 

— von seiner^ Vater abgesandte—Gendarmen verhaftet wurde.-Der 

arme Teufel mußte eine sechswöchige Garnisonarreststrafe verbüßen und 
mit drei Jahre Nachdienen zu unserer Kompagnie einrücken. Da er sehr 
schwächlich von Körper war, anderseits aber eine gewisse Intelligenz besaß 
und sehr schön schreiben konnte, was bei unserer Truppe sehr mangelte 
(70—80% Analphabeten), so wurde er mit mir zur Führung der Rech¬ 
nungsgeschäfte der Kompagnie bestimmt. So waren wir immer beisammen, 
lernten uns kennen, wurden Kameraden und späterhin Freunde, zum 
Schluß aber — Mitschuldige! — Einmal verhinderte er mich durch zu¬ 
fälliges Hinzutreten, mich zu erschießen. Ich lag abends im Bett (in der 
Kanzleistube), legte das geladene Gewehr zwischen meine Füße, den Kopf 
mit dem Kinn an die Mündung und suchte mit dem rechten Fuß abzu- 
drücken, als er plötzlich hereinstürrate, lachend und jauchzend mir die 
Decke wegriß und mich zum Aufstehen und Mitkommen aufforderte. 
Mit der Schnelligkeit eines Affen entwaffnete er mich, entlud das Gewehr, 
sah mich an und sagte nur zu mir, plötzlich ernst werdend: 

„Pfui, — schäme dich!“ — dann ging er fort. 

Ich blieb am Bettrand sitzen und weinte. 

Ich glaube, ich habe einen zu großen Vorrat an Tränen, denn der 
geringste Anlaß macht mich flennen wie ein altes Weib über ihre 
Sünden.- 

Seit dieser Zeit sind wir Freunde geworden. Meine Lage bei der 
Kompagnie wurde von Tag zu Tag schlechter. Mein Hauptmann verging 
sich so weit, mich sogar zu schlagen. Da war das Maß voll.- 


Am 31. Oktober 1890 (wir waren in K. stationiert), mittags, reiste 
unser lieber Herr Hauptmann auf einen 4 tägigen Urlaub ab. Abends 


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Rittershaus, 


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ging mein Freund Milan P. mit mir zu dem uns bekannten Offiziersdiener 
des Hauptmanns, wie so oft, um ein Stündchen zu verplaudern. Nach 
einer geraumen Zeit forderte uns P. auf, aus einem Gasthof auf seine Rech¬ 
nung Speisen und Getränke zu holen, während er rasch am Schnellkoch« 
einen guten Kaffee bereiten wolle. Wir taten dieses gerne. Als wir mit 
dem Gewünschten zurückkamen, ließen wir es uns sehr gut schmecken und 
schieden nach acht Uhr vom Offiziersdiener mit dem Versprechen, morgen 
wiederzukommen. Auf der Straße faßte mich P. am Arme und frug mich, 
ob ich sein Freund sei. Ich frug ihn, ob das bißchen Wein ihn berauscht 
hätte, worauf er mir antwortete, dies sei nicht der FaU, im Gegenteil, « 
sei nüchterner denn je, aber er könne so nicht mehr weiter leben und sei 
fest entschlossen, sofort zu deserti«en, forderte mich aber auf, mitzu¬ 
kommen, da ich ja ebenfalls nichts zu verlieren, jedoch Freiheit und 
besseres Leben zu gewinnen habe. 

Auf mein Bemerken, daß wir ohne genügende Mittel nicht weit 
kommen würden, behauptete er, genügend Geld zur Reise und zur Ver¬ 
kleidung zu besitzen. 

Da ging ich mit.- : - 

In einem Han (Einkehrwirtshaus) fanden wir einen Fiaker, der am 
nächsten Morgen leer nach Sarajevo zurück wollte. Auf unser Zureden 
spannte er ein und fort ging’s. 

In Sarajevo kauften wir uns Zivilkleider, die P. bezahlte. 

Auf dem Wege zur Bahn gestand er mir dann, gestern abend unsere 
kurze Abwesenheit mit dem Diener dazu benutzt zu haben, um den Koffer 
unseres Herrn Hauptmanns zu erbrechen und daraus etwa 3- oder 400 
Gulden zu entwenden. 

So wurde ich Deserteur und Dieb, da mitgefangen, mitgehangen 
heißt.-- 

In einigen Tagen waren wir in Serbien. Um ungehindert üb« die 
Grenze kommen zu können, wiesen wir den Grenzjägern gefälschte Militär¬ 
pässe vor, die anstandlos visiert wurden. 

Einige Wochen darauf fuhr ich vonSemendria (Smederevo) in einem 
Fischerkahn in Gesellschaft zweier alten Fisch« nach d« ungarischen 

Seite. Warum kam ich zurück?-Ja, wenn ich das wüßte!- 

Ich ging eben, weil ich gehen mußte, weil mich etwas Ungreifbares, Un¬ 
sichtbares stieß und z«rte und ich diesem Drang gehorchen mußte, ob 
ich wollte oder nicht. 

In P. meldete ich mich bei d« dort stationierten Husaren-Eskadron 
und wurde in Begleitung eines Wachtmeisters nach Esseg transporti«t, 
wo man mich sofort in den Garnison-Arrest steckte. 

Ich wurde zur Degradierung und zu schw«em und verschärftem 
K«ker auf die Dauer von 2 Jahren nebst einem Jahr Nachdienen v«- 

urteilt und in das Festungsstrafhaus nach P. gebracht.-So sah ich 

als gefesselter Sträfling, umgeben von vier Soldaten mit aufgepflanztem 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 


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Bajonett, diese Stätte wieder, in dei ich vor kaum drei Jahren als privi¬ 
legierter Faulenzer umherstrich und die Bürger durch allerlei Schabernack 
beunruhigte. 

Was ich innerhalb dieses Festungsstrafhauses während der zwei 
Jahre erlebte und mitmachte, ist ja so gräßlich banal und so furchtbar 
erschütternd, daß ich noch heute mit Schaudern daran denke. 

Dies Mummenspiel, dem wir Sträflinge als willenlose Figuranten 
dienen mußten, um die alten Jahre des Kommandanten, eines längst in 
den Ruhestand versetzt gewesenen Oberstleutnants, etwas abwechslungs¬ 
reicher zu gestalten, diese Parodie des Militärstraf- und Disziplinargesetzes, 
diese mißlungene Übersetzung der mehr als hundertjährigen Zopftheorie 
in eine vollkommen entartete Praxis, wird zeitlebens in meinem Gedächtnis 
eingraviert bleiben. Heute, nach fünfundzwanzig Jahren noch, werde 
ich durch Erinnerungen daran geäfft und verfolgt und bis in die Träume 
hinein gepeinigt, denn selten habe ich andere Träume als aus dieser elend¬ 
sten Periode meines Lebens. 

Ich erhielt da die ersten Briefe meiner Tante-Mutter Johanna, und 
da ich nicht wußte, wie und was ich ihr schreiben sollte, so unterblieben 
meine Antworten. Da wurde ich dem Oberstleutnant W., dem Allein¬ 
herrscher in unserem Reiche, auf dessen Befehl vorgeführt und erhielt die 
Mahnung, während fünf Tagen in dunkler Zelle darüber nachzudenken, 
welche Pflichten einem jungen Burschen seiner sich für ihn aufopfernden 
Mutter gegenüber obliegen.- 

Da fing es an. In einer Kasematte untergebracht, wo ich als Stuben¬ 
genossen einen Meuchelmörder, zwei Raubmörder, zwei Straßeriräuber 
und vier diebische Matrosen der Kriegsmarine hätte, wurde ich bald in 
alle Mysterien der „hohen Schule“ eingeweiht. 

Ich hatte jeden dritten Monat in Einzelhaft zuzubringen, was mir 
das Gericht bei meiner Verurteilung wahrscheinlich deshalb zuerkannte, 
damit bei einer solchen Isolierung all das von der Gemeinschaftshaft an¬ 
gewachsene Schmarotzergewächs wieder abmodere. . Dies war aber eine 
weise Vorrichtung, die ich nicht genügend zu würdigen verstand. Mir war 
dies das Unerträglichste meiner ganzen Strafe. 

Während ich nun bei Beginn meines zweiten Strafjahres einen Monat 
in Einzelhaft zubrachte, ereignete es sich, daß meine Stubengenossen aus 
der Kasematte V einen Fluchtversuch verübten, der aber durch die rasche 
und lose Zunge des jüngsten der vier Diebe vereitelt wurde. Noch ehe sie 
das Weite finden konnten, trieb man sie in die Enge und belastete sie mit 
Fußketten und den sonst üblichen Strafen. Als ich wieder zurück in die 
Kasematte kam, war ich der einzige Genosse, dessen Füße kein klirrendes 
Anhängsel trugen. Dies ertrug mein kameradschaftliches Gefühl nicht. 
Ich fingierte daher einen geplanten Ausbruch und hatte nun das stolze 
Gefühl, auch für die Gemeinschaft etwas getan zu haben und leiden zu 
können. 21 Tage Einzelhaft mit neuntägigem Fasten, täglich sechs- 


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Rittershaus, 


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stündigem Schließen in Fuß- und Handspangen und Tragen von 48 cm 
langen Fußketten bis auf •weiteres war mein Lohn. 

Um nun zu zeigen, daß ich „Mann“ bin (aus dummer Bravour), 
führte ich mich so auf, daß ich aus den Disziplinarstrafen nicht mehr 
hinauskam. Mein Strafenregister wurde eines der längsten, und die Ketten 
trug ich fast elf Monate lang. 

Es war mir wie eine stolze Genugtuung, wenn ich meine Kameraden 
von mir sagen hörte; „Ja, das ist ein ganzer Kerl!“ 

Endlich war ich entlassen und rückte wieder nach Bosnien ein. Ich 
war um zw r ei Jahre älter geworden, war aber psychisch und moralisch 
ein Skelett. 

Und nun folgten meine Desertionen etc. Schlag auf Schlag. 

Ich hatte Montenegro durchquert um mich dann in Cattaro zu 
melden. Neun Monate Kerker, wovon mir vier Monate durch den Festungs¬ 
kommandanten geschenkt wurden. Wegen Diebstahls und Subordina¬ 
tionsverletzung 15 Monate schweren Kerker. Abgebüßt in P. Wegen der 
dritten Desertion und Diebstahls zwei Jahre schweren Kerkers, wieder 
abgebüßt in P. 

Und endlich im Jahre 1898 in E. lernte ich die zweite Frau meines 
Vaters kennen. Er war als Oberst in den Ruhestand versetzt worden und 
zog sich nach V. zurück. Dort lernte er Fräulein F. kennen und heiratete 
sie. Nun hatte ich doch eine Mutter (!).- 

Ich kam ins Spital. Eines Abends verließ ich dasselbe mit Erlaubnis 
des Chefarztes und spazierte in der Stadt herum bis gegen Mitternacht. 
In einem Weiberlokal trank ich mir einen derartigen Rausch an, daß ich 
auf dem Rückweg zur Kaserne, statt in die Festung zu gehen, zur’Drau 
ging, mich in einen Kahn setzte und stromabwärts trieb. 

Als ich am Morgen halberfroren erwachte (es war im Januar oder 
Februar), da befand ich mich an der Mündung der Drau in die Donau. 
An einer Schiffmühle setzte ich an und bettelte um ein Stück Brot und 
Gelegenheit mich zu wärmen. Inzwischen verständigte Gendarmen holten 
mich ab und brachten mich nach E. zurück. 

Vierte Desertion -- Resultat: Tod durch Erschießen. 

Ach, hätte man doch das Urteil vollstreckt!- 

Ich wurde durch den stellvertretenden Korpskommandanten K. H. 
Erzherzog Salvator begnadigt und zu fünf Jahren schweren Kerkers 
verurteilt. Ein Jahr für je eine Stunde Abwesenheit! 

Ich kam in die Militär-Strafanstalt nach A. 

Hier war ich'magenleidend geworden. So hatte ich nun zwei Übel. 

Ein von meiner (wirklichen) Mutter ererbtes Herzleiden und nun 
noch der Magen. Ich war fast immer in ärztlicher Behandlung. Eines 
Tages hatte ich den ganzen Kram satt. Ich lag in der Krankenkasematte. 
Unweit von meinem Bett stand der Verband- und Medikamentenkasten. 
Ich sah darinnen hinter der Glasscheibe unter anderen Fläschchen besonders 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 


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•zwei, die die Aufschriften „Opium“ und „Atropin“ trugen. Abends, nach¬ 
dem alles ruhte, öffnete ich mit einem Drahthaken die Glastüre des 
Schrankes, nahm beide Fläschchen, legte mich zu Bett und leerte sie auf 

einen Zug. Was weiter geschah, weiß ich nicht-Nach 

einigen Tagen wer ich so weit hergestellt, um aus der Kranken-Kasematte 
entlassen zu werden. Zwei Tage später kam ich wieder zurück: ein Mit¬ 
gefangener hatte mir in der Schreinerwerkstätte ohne Grund, ohne Streit, 
ohne ein Wort zu sagen zwei Hiebe mit einem schweren Schraubenschlüssel 
über den Kopf versetzt. 

Ich habe mehrere Male Ausbrüche von Wut, Resultat eines un¬ 
bändigen Jähzornes, gehabt und staune heute noch, dem Menschen, der 
mich verletzt hatte, nichts getan zu haben; im Gegenteil, ich wurde beim 
Kommandanten bittlich, den armen Teufel nicht zu bestrafen. Und dann 
blieb ich über zwei Wochen, ohne auch nur ein Wort zu reden. War es 
Trotz, Ekel, Abscheu, Menschenscheu? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, 
daß ich mich lieber hätte in Stücke hacken lassen, als ein Wort zu reden. 

Und doch litt ich darunter wie kein Mensch leidet.- 


Im Jahre 1903 wurde ich begnadigt, rückte zum Regiment nach E. 
ein, wurde superarbitriert und vom Militär entlassen. 

III. 1903—1913. — In V. ist die Familie Sch.-F. bekannt. Die 
Brüder Sch. heirateten die zwei ältesten Schwertern der Familie F., und 
zwar Wilhelm die Marie, Vinzenz die Therese. — Später heiratete dann 

mein Vater die Jüngste, Giselia.- 

Beide Sch. sind Weingroßhändler und K. K. Hoflieferanten. 
Therese Sch.-F. konzipierte mit meiner Stiefmutter einen Plan, uni 
meinen Vater für mich zu gewinnen, damit ich endlich auch einmal „lebe“. 
Denn bisher hatte ich nur vegetiert. 

Ich wurde also im Hause Vinzenz Sch. untergebracht. Das erste 
Mal in meinem Dasein ein echtes Familienleben! „Er“ „Sie“ und „Tochter“ 
(16 Jahre alt), wetteiferten miteinander, mir durch Liebe und Güte meine 
Vergangenheit vergessen zu machen, mich zu liebkosen und zu verzärteln. 
Abends kam dann meine Stiefmutter zu mir, und dann saßen wir denn 
Hand in Hand oft bis in späte Nachtstunde, vom Vater und von meiner 

Zukunft redend.- 

Hier muß ich einiges verschweigen, um nicht unnütz Kot aufzu¬ 
wühlen. Schwamm darüber!-Aber es drückte mich erbärmlich, 

und als ich kurze Zeit nachher vor meinem V ater in die Knie sank und 
weinend seine Hände küßte, und gar, als er, Tränen , in den Augen, sich 
niederbückte und mich mit den Worten „Armer Bub“ zu sich zog und 
mich küßte, ach, — da hätte ich sterben mögen vor Seligkeit und Reue. 


Ich wurde nun von Wilhelm Sch, als Korrespondent eingestellt und 
war bald Vertrauensmann. Meine freie Zeit brachte ich abwechselnd 


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Rittershaas, 


„oben“ (bei Vinzenz Sch.) und „unten“ (bei Vater) zu. Oben war am 
Berg, und unten war im Tal.- 

Und dann kam eine Zeit, — eine Zeit voll widerstrebender Gefühle, 
ewiger Kampf zwischen Dankbarkeit und Liebe, Pflichtgefühl und Sehn¬ 
sucht, ein Hin- und Herschleudern meines Herzens, und je mehr ich mich 
sträubte, desto tiefer sank ich. 

Eine Heirat mit einer Postinspektors-Tochter wurde geplant und 
von „zwei“ Seiten bekämpft. Sie war zu schön und zu arm. 

Ein anderes Projekt mit einer Gutsbesitzers-Tochter wurde auf’s 
Tapet gebracht von „zwei“ Seiten und von mir bekämpft. Sie war zu alt 
und zu häßlich trotz allen Reichtums. 

„Zwei“ gegen „eine“? — zu viel. „Drei“ für mich? nein, nein, ich 
wäre zugrunde gegangen. 

Da kam das Unheil geschlichen, Dieser Lindwurm, der in meinem 
Innern .nur scheinbar schlummerte, mein Gespenst, mein Phantom, mein 
Fluch erwachte! 

Ich sollte eine Summe Geldes für Wilhelm Sch. auf die Post tragen. 
Hörte ich da das Wort „armer Bub“!? — Nein. Ich sah nichts, hörte 
nichts, wi£ wenn Peitschenhiebe mich zur Bahn trieben und fort jagten. 
In Wien stürzte ich mich in jedes Vergnügen; Theater, Weiber, Wein und 
schließlich der Schnaps taten ihr Möglichstes, um Reue zu ersticken, Sehn¬ 
sucht zu erwürgen. Umsonst. Erst als ich auf der Landstraße nach Linz 
mittellos dahinwanderte und auf einem Steinhaufen sitzend meinen 
schönen Traum beweinte, dann ward es ruhiger in mir, und ich hatte meinen 
Weg zur Hölle mit den besten Vorsätzen gepflastert.- 

In Linz arbeitete ich einige Zeit als Hilfsschreiber bei einem Fabri¬ 
kanten, lernte ein Dienstmädchen kennen und entlockte dem armen 
Geschöpf ihre Ersparnisse (etwa 60 Gulden), die hinreichten, um über 
München, Lindau, Romanshorn, Zürich nach Basel und Beifort zu fahren. 
Da die französische Gendarmerie mich zu viel mit der „Fremdenlegion“' 
belästigte, fuhr ich nach Kolmar. Von hier zu Fuß nach Neu- und Alt- 
Breisach und nach dem Kaiserstuhl, wo ich bei einem Ortsvorsteher Arbeit 
für zwei Monate fand. Ich hatte hier Möbel, Wände, Türen, Fenster und 
Wagen anzustreichen, erhielt dafür meine Kost, Logis und jeden Sonnabend 
eine Mark für Tabak etc. 

Als ich eines Tages allein im Hause war, stahl ich aus dem versperrten 
Kasten der Hausmutter einige 60 oder 70 Mark und ging davon. Ich 

fuhr dann nach Breisach über die Schweiz und Tirol nach V.- 

Was wollte ich dort ? — Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich ge¬ 
storben wäre, wenn ich nicht dorthin gekommen wäre. Nach einem ge¬ 
heimen Wiedersehen mit meiner Stiefmutter fuhr ich nach N. Besuchte 

i P., lag stundenlang im Gras und schaute auf die Donau.-Wozu 

erzählen, was in mir vorging? Ich könnte es ja doch nicht wahrheitsgetreu 
wiedergeben und wenn auch, — niemand würde es verstehen. 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 741 

In Franzfeld traf ich eirfe wandernde Schauspielertruppe, der ich 
mich als Komiker und Liebhaber anschloß.- 

Von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort zogen wir und lebten in einer 
Freiheit ohnegleichen. Wenn nach der V orstellung die Honoratioren des 
Ortes uns „Künstler“ einluden, einigen Flaschen Wein den Hals zu brechen, 
dann traf uns gewöhnlich noch der Morgen beim Saufgelage, und da er¬ 
innere ich mich, an einem Orte eines Morgens im Verein mit der Gattin 
des betrunkenen Ortsvorstands in der nahen Kirche die Glocken zur Früh¬ 
messe gezogen zu haben, während der Küster mit Aufgebot all seiner 
Kräfte den Pfarrer zu Bett brachte, um dessen plötzliche „Erkrankung“ 
dem Vikar zu melden, der dann auch die Messe hielt und zwar die kürzeste, 
seines Lebens. Es fror ihn nämlich ungeheuer, da er in der Eile nur die 
Soutane umwarf, ohne Hosen etc. anzuziehen, da diese am Bette der 
Pfarrersköchin hingen und — von mir mitgenommen worden waren.- 

Und so weiter, und so weiter. 

Als im Winter der Theater-Direktor unserer Truppe eines Tages 
sein Gepäck in einem „Hotel“ zurücklassen mußte als Gage für unbe¬ 
zahlte Zeche, und wir „Künstler“ für unbezahlte „Tantiemen“ uns in seine 
Perücke teilen mußten, da flog die Bände auseinander. 

Ich kam nach Budapest, da mir meine Wirtsfrau zehn Gulden borgte, 
die ich noch nie zurückgab.- 

Und endlich war ich in der Landesirrenanstalt Lipotmezö (Leopolds¬ 
feld) bei Budapest. Ich hörte durch Wärter und barmherzige Schwestern, 
daß ich mich bei der Polizei eines schweren Verbrechens bezichtigt und 
dann keine oder nur konfuse Antworten gegeben hätte. 

Nach zwei Monaten wurde ich auf meine Bitten hin entlassen. Ich 
fuhr nach Wien und stellte mich der Polizei. 

15? Monate schweren Kerkers wurden mir zuteil, die ich in G. (Ober 
Österreich) abgebüßt habe. 

Hier erhielt ich Briefe von meiner Mutter, die in Paris lebte. Nach 
Ablauf meiner Strafzeit sandte sie mir das nötige Geld und ich fuhr nach 
Paris.- 

Sie erwartete mich auf der Bahn. Wir trafen uns, und dann lebte 
ich bei ihr in Le Perreux. Da habe ich die Bekanntschaft meiner Frau 
gemacht, mit welcher ich dann wohnte. Durch Intrigen meiner Mutter 
kam ich nach Straßburg, wohin meine Frau mir folgte. In einem kleinen 
Dorfe ließ ich dieselbe sitzen und fuhr mit ihrem Gelde (etwa 40 Franken) 
nach Stuttgart. 

Bei einer Heilsarmeeversammlung soll ich geweint und unverständ¬ 
liches Zeug geschwatzt haben, weshalb man mich zur Polizei und von da 
in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses brachte. 

Nach einigen Wochen auf eigene Bitten entlassen, ging ich zur 
Heilsarmee zurück, um mich nach dem Verbleib meiner Papiere und nach 
den näheren Umständen meiner Internierung zu erkundigen. Man konnte 


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Rittershaus. 


mir aber nichts erklären. Wohlwollende Personen nahmen sich meiner an, < 
verhallen mir zu einem kleinen Erwerb und verschafften mir Gelegenheit, 
mit Fräulein Pauline F. aus D. bekannt zu werden. 

Eine Liebschaft entspann sich. Frl. Pauline gab mir Geld, um mich 
als Kunstmaler einzurichten. Nach wenigen Tagen verkaufte ich an das¬ 
selbe Geschäft die gekauften Sachen um die Hälfte des gezahlten Preises 
und — fuhr nach London. Von hier schrieb ich an Frl. F. einen Erpres¬ 
sungsbrief, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern fuhr nach Man¬ 
chester, Liverpool, zurück nach London und wieder nach Paris.- 

Hier vereinigte ich mich wieder mit meiner Frau und machte mit ihr 
eine Fußreise nach Marseille. Wir fuhren nach Algier, Oran, kamen nach 
Algier zurück, fuhren nach Marseille, Nizza, Genua, Paris und kamen 
endlich nach Brüssel am 31. Dezember 1908.- 

Ein inzwischen verstorbener Verwandter meiner Frau verschaffte 
mir hier einen Kreis guter Kundschaften. Ich wurde als Zeichenprofessor 
an der städtischen Gewerbeschule für die Schneider! nnung angestellt, gab 
viele Privatstunden und hatte außerdem einmal einen sehr lohnenden' 
Auftrag. 

Als ich nach Ablieferung eines Teils meiner Arbeit hierfür den Lohn 

«inkassierte,-einige hundert Franken,-fuhr ich wieder 

davon, nach‘Berlin, wo ich in einer Nacht in der Friedrichstraße und 
Unter den Linden das Geld verjubelte. Am andern Abend hatte ich gerade 
so viel, um nebst einem kleinen Imbiß ein Stübchen im Lokal der Heils¬ 
armee für die Nacht zu mieten. In derselben Nacht wurde ich verhaftet 
auf Grund eines Stuttgarter Steckbriefes. Nach Stuttgart gebracht, 
wurde ich wegen versuchter Erpressung zu vier Monaten Gefängnis ver¬ 
urteilt, die ich zur Hälfte in Stuttgart durch die Untersuchungshaft, die 
andere Hälfte in Rothenburg abbüßte.- 9 

Und meine Frau? — Sie verzieh mir und schickte mir das nötige 
Geld, um nach Brüssel zurückzukommen. 

Noch einmal verließ ich sie für wenige Tage und kam "zu Fuß von 
Roermond über Maeseyck, Diest und Löwen zurück. 

Der Verwandte meiner Frau starb. Wir übersiedelten nach H. im 
März 1914. 

IV. Letzte Zeit. — Es hat auf dem ganzen Erdboden keinen glück¬ 
licheren Menschen gegeben, als mich im Jahre 1914. 

Mit meiner Hände Arbeit verdiente ich viel Geld. Aber am liebsten 
war mir mein Garten, mein Haushalt, meine Geflügel und Kaninchen und 
Schafe und Vögel, mein Haushund und mein kleiner Griffon Bruxellois 
„Pousset“. 

Da lebte ich froh, zufrieden und von meiner armen lieben, lieben 
Frau förmlich vergöttert, ohne den geringsten Schatten. Aus Mitleid 
nahmen wir die ehemalige Brüsseler Wochenfrau mit ihrer Tochter und 
ihren zwei erwachsenen Söhnen, wahren Lümmeln, zu uns ins Haus, um 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 743 

ihnen zu helfen, da ihr Gatte sie mit Erschießen bedrohte. Sie sollten 
unentgeltlich bei uns wohnen, sich Arbeit suchen und für die Nahrung 
uns dann einen kleinen Betrag zahlen. Doch fand die werte Familie es 
wahrscheinlich viel behaglicher, auf fremde Kosten ein Schlaraffenleben 
zu führen, denn sie taten nicht das geringste, um Verdienst zu finden. 

Und da brach der Krieg aus.- 

In H. mied man mich wie einen Pestkranken, nur hie und da hörte ich 
hinter meinem Rücken Drohungen aussprechen, wobei ich etwas wie „in 
den Kanal werfen“ verstand. Nun, die Zeit bis zum Einmarsch der Deut¬ 
schen in H. war sehr schwer und sehr böse.- 

Mit einem Schlag verlor ich nicht nur meine Kundschaft, sondern 
auch Geldsummen, die man in der Eile vergaß, mir zu bezahlen. Ich ver¬ 
diente nichts mehr. Wir mußten unsere zwei Schweine um einen wahren 
Spottpreis verkaufen, um doch etwas zum Essen zu haben, und als so 
ziemlich auch dieses Geld zur Neige ging, flogen auch unsere Aasgeier fort, 
da ja bei uns Schmalhans Küchenmeister geworden war. Sie haben unsere 
ganze Kartoffelernte aufgegessen, bis zu 15 ja 18 Kilo im Tag.- 

Nach einiger Zeit wurde ich als Magazin-Aufseher in dem Etappen- 
Magazin am Bahnhof angestellt. Ich erhielt zwei Mark vierzig Taglohn 
und war nun nicht gezwungen, die Armensuppe zu erbetteln, die man 
mir ja doch verweigert hätte. 

• Am 2. Dezember kam ich als Hilfsschreiber zur Bahnmeisterei in H. 

Ich tat meine Pflicht bis zum 11. Mai 1915. Und da brach mein altes 
Übel wieder los. Wie ich es diesmal geschehen ließ, verstehe ich ebenso¬ 
wenig, als ich mein ganzes übriges Leben nicht verstehe.-Ich habe 

in einem Moment alles, alles, vergessen, und was darauf folgte, waren ja 
nur Folgen des ersten Schrittes. Ein Schritt bringt den andern mit 
sich.- 

Ich habe in meinem Leben einige Male dem Tode ins Auge geschaut, 
ja selbst mehrere Male versucht, mich selber zu vernichten, und verdankte 
es jedes Mal besonderen Umständen, daß es mich nur streifte, hatte aber 
nie gezuckt, nie Furcht gezeigt. 

Dieses Mal hatte ich eine gute geladene Waffe bei mir. Ich bin vier¬ 
mal in H. gewesen, ohne Anstand gehabt zu haben,-schlich mich in 

den Garten und sah stundenlang zum Fenster hinauf, um meine Frau 
noch einmal zu sehen, und hatte diesmal den festen Willen gehabt, mir 
dann eine Kugel in den Kopf zu jagen. 

Es geschah nicht. Warum nicht? — Ich weiß es nicht. — 

Heißt es Feigheit oder wie?- 

Ich zitterte an Leib und Seele, wenn ich über die Felder wieder 
die nach Brüssel führende Landstraße erreichte. Es war jedesmal dunkle 
Nacht. Wenn ich über den Bahndamm schlich, um mich wieder nach 
rechts gegen die Gasfabrik zu halten, da dachte ich: zeig’ dich dem Posten, 
der schießt dich nieder, und aus ist’s!-Nein, es ging nicht. Wie 


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Rittershaus, 


von Furien verfolgt, jagte ich dann über Gräben und Gärten und Felder 
fort, — weg, als griffen des Teufels Krallen nach mir.- 

Ach, du elender Schandbube, sagte ich mir dann, und-war froh, 

heiler Haut davonzukommen. 

Wer will mich verstehen, wenn ich Selbst es nicht kann? — 

Und jetzt?-Alles mit Füßen getreten, Glück, Zufriedenheit, 

die so schwer errungene Ehre, Heim,, Zukunft, Achtung meiner Vorge¬ 
setzten und Aussicht auf ein ruhiges frohes Alter.- 

All dies durch meinen bösen Geist, der hie und da in mir die Oberhand 
gewinnt, und den ich deutlich fühle, wenn auch alle Welt ihn leugnen möchte. 

Ich habe als einziges Gut von meiner Mutter diesen unseligen Cha¬ 
rakter, oder besser gesagt, diese Charakterlosigkeit nebst dem Herzleiden 
geerbt. 

Ein Bruder meiner Mutter hat sich erschossen, und ein anderer Ver¬ 
wandter soll in ewige Schwermut verfallen sein. Meine Mutter selbst hat 
sonst alle Übel und nur ein Gutes an sich: gegen Fremde und gegen Tiere 
hat sie ein mitleidiges Herz, und ich auch. — 

Sie ist eine riesige V erehrerin von narkotischen Mitteln, ich auch 
und habe all diesen Kram schon mitgemacht. Wenn ich mir keines ver¬ 
schaffen konnte, so stahl ich es direkt aus dem Apothekerladen.- 

Und ich gäbe heute mein Leben dafür, könnte ich dagegen einige Unzen 
dieser Mittel erlangen, die einzig V ergessenheit bringen. 

Was ich getan, bereue ich aufrichtig und tief, aber mit freiem Wissen 
und Willen tat ich es nicht. Hermann B. 

Diese hintertreppenromanartige Fülle von Scheußlichkeiten 
und erschütternden Erlebnissen, vermischt mit raffinierten Be¬ 
trügereien und mit der oben bereits erwähnten posenhaft-theatra¬ 
lischen Selbstgefälligkeit ist so charakteristisch, daß man wohl 
daraus allein schon die Diagnose einer degenerativen Hysterie 
mit Sicherheit stellen kann. 

Es sei ohne weiteres zugegeben, daß, wenn auch nur der 
zehnte Teil von alledem wahr ist, was er nach dieser Auto¬ 
biographie angeblich erduldet hat, dies genügen würde, auch 
einen leidlich gesunden Menschen aus dem seelischen Gleich¬ 
gewicht zu bringen. Hier liegt aber zweifellos doch mehr vor 
als das, nämlich eine schwere endogene Entartung; denn so oft 
er in ruhige Verhältnisse und in eine manchmal sogar äußerst 
günstige Lebenslage hinein versetzt worden war, immer wieder 
hat ihn sein krankhafter Trieb, wie er selbst sehr charakteristisch 
schildert, daraus verjagt, allerdings unter häufiger Mitwirkung von 
sexuellen und andren Affektkomplexen. 


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Beitrag zul Frage Verbrechen und Hysterie. 


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Die gleiche Ätiologie spielt offenbar auch bei dem Stupor¬ 
zustand mit Mutismus und dem Ganserschen Dämmerzustand in 
<ler Heilsarmeeversammlung eine Rolle. 

Man könnte selbstverständlich auch an die Möglichkeit einer 
Kombination der Hysterie mit epileptischen Erscheinungen denken, 
jedoch scheint für diese Annahme keine zwingende Notwendigkeit 
■vorzuliegen, da sowohl der oft nachweisbar psychogen ausgelöste 
Wandertrieb wie auch die Bewußtseinstrübungen sich zwanglos in 
das Krankheitsbild der Hysterie einreihen lassen. Höchstens könnte 
man sein sinnloses Darauflostrinken als ein epileptisches Symptom 
auffassen, im circulus vitiosus hervorgerufen und verschlimmert 
durch den Alkoholmißbrauch. 

Die Angaben übrigens, die seine Frau hier machte, bestätigen 
die Diagnose einer Hysterie durchaus. 

Er ist nach diesen Angaben zwar zuweilen deprimiert, spricht 
nichts und weiß selbst nicht warum. Diese Zustände dauern 
manchmal einige Tage, manchmal einige Wochen. Während er 
sonst sehr nüchtern ist, trinkt er dann plötzlich sehr viel, alles 
was er bekommt, Schnaps, Absinth etc., wie oben bereits erwähnt. 
Zu anderen Zeiten ist er wieder sehr ausgelassen und heiter; 
diese Heiterkeit dauert aber nur wenige Tage; oft springt er 
plötzlich um, „als ob er eine kalte Dusche erhalten habe“, und 
wird wieder traurig. Man könnte bei dieser Schilderung, abge¬ 
sehen von der Möglichkeit epileptischer Stimmungsschwankungen, 
zunächst auch an ein manisch-depressives Irresein denken, ins¬ 
besondere auch unter Berücksichtigung der temperamentvollen 
Stilistik seines Lebenslaufes, und auch wieder dem Alkohol eine 
gewisse Rolle zuerkennen, und zwar sicherlich mit einem gewissen 
Recht; bei derartig degenerierten Menschen können sich bekannt¬ 
lich ja die Züge der verschiedensten Psychosen in der willkür¬ 
lichsten Weise miteinander mischen. 

Dies alles sind jedoch gewissermaßen nur kleine Schattie¬ 
rungen bzw. sekundäre Symptome, denn der Wandertrieb z. B. 
und die zahlreichen psychopathischen Erscheinungen hatten schon 
in einem Alter bestanden, in dem er noch keinen Alkohol etc. 
in größeren Mengen zu sich nahm. Der Grundzug des ganzen 


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Rittershaas, 


Krankheitsbildes bleibt eben doch wohl im wesentlichen eine 
schwer degenerative Hysterie. 

Nach Anssage seiner Frau ist er nämlich weiterhin sehr 
launisch und aufbrausend und hat auch einmal gedroht, sie mit 
einem Rasiermesser zu töten. Sie kennt ihn jedoch zu gut, um 
ihn dabei ernst zu nehmen; sie hat selbst dabei immer die 
Empfindung, als ob er ein gewisses Theater spiele. Sie hat stets 
viel Geduld mit ihm, aber wenn es zu schlimm wird, sagt sie: 
„Jetzt ist es genug!“ Dann.hört er auf. 

Diese Schilderung ist äußerst charakteristisch. 

Weiterhin bekommt er nach ihrer Angabe manchmal „Herz¬ 
krämpfe“, er setzt sich hin, krümmt sich, schreit vor Schmerzen 
und krallt die Hände zusammen. Eigentlich bewußtlos wird er 
jedoch dabei nicht. Die Zustände dauern 1—2 Stunden lang. 
Auch in seinem Lebenslaufe sucht er sich ja mit seinem „er¬ 
erbten“ Herzleiden interessant zu machen. Auch hierbei dürfte 
es sich um hysterische Zustände handeln. Objektiv fand sich 
am Herzen natürlich nicht der geringste krankhafte Befund. 

Zweifelhafter scheint das hysterische Moment vielleicht bei 
einem Sturz von einer Leiter; er soll damals bewußtlos gefunden 
worden sein. Bei dem gesamten Krankheitbilde wird man aus 
dieser Einzelheit jedoch nicht den Schluß auf eine Epilepsie 
ziehen können. Es kann sich hier selbstverständlich auch um 
einen hysterischen Anfall gehandelt haben, denn Verletzungen 
hat er sich dabei nicht zugezogen. Leichte Schwindelanfälle 
sollen nur auftreten beim Bücken, nicht von allein, kommen hier 
also ebenfalls wohl nicht in Betracht. 

Mehrmals hat er auch, wie in seinem Lebenslauf geschildert. 
Selbstmordversuche unternommen; oft wollte er als Soldat Mor¬ 
phium nehmen, fand aber nicht den Mut; einmal versuchte er 
sich in der Gefängniszelle zu erhängen, wurde aber wieder recht¬ 
zeitig abgeschnitten, einmal wollte er sich erschießen, wurde aber 
im letzten Moment daran verhindert; ein ander Mal trank er 
Opium und Atropin. Es widerspricht jedenfalls der Diagnose 
einer Hysterie nicht, daß er fast jedesmal „rechtzeitig“ gerettet 
wurde und das eine Mal ausgerechnet zwei Gegengifte gleich¬ 
zeitig nahm, wenngleich er jede Absichtlichkeit dabei ganz ent- 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 


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schieden in Abrede stellt. Auch in mehreren Briefen äußerte er 
sich in einer derartig posenhaften Weise zu dem Gedanken des 
Todes, daß man auch das als ziemlich charakteristisches Symptom 
heranziehen kann; und schließlich hat er sich, wie er selbst 
schildert, in der letzten Zeit häufig erschießen oder den Tod von 
deutschen Patrouillen suchen wollen, ohne es zu tun. — Dieses 
fortgesetzte Spielen mit dem Tode und dem Selbstmorde «kann 
wohl gar nicht anders als hysterisch gedeutet werden. 

Eine lange Strafliste findet sich in seinem Leben, höchst¬ 
wahrscheinlich viel länger, als sie bis jetzt aktenmäßig bekannt 
geworden ist, wenngleich er auch in seinem Lebenslauf in etwas 
auffallender Offenheit mit seinen zahlreichen Verbrechen gewisser¬ 
maßen kokettiert. 

Während der Beobachtung auf der psychiatrischen Abteilung 
des Kriegslazaretts I, Brüssel, bot er psychisch und körperlich 
nichts besonders Auffallendes dar nnd beschäftigte sich ziemlich 
fleißig mit Zeichenarbeiten, die er mit leidlichem Geschick aus¬ 
führte, ohne etwa eine besonders überragende malerische Be¬ 
gabung darzutun. 

Uber das ihm jetzt zur Last gelegte Vergehen seien noch 
einige Ausführungen aus dem über ihn erstatteten Gutachten 
nachgetragen: 

„Er hat bei seiner ersten V ernehmung ein umfassendes Geständnis 
unter Schilderung zahlreicher Einzelheiten abgelegt. Es kann sich dem¬ 
nach unmöglich um einen epileptischen Dämmerzustand mit Bewußtseins¬ 
trübung gehandelt haben. Wenn man auf Einzelheiten näher eingeht, 
wird dies immer deutlicher. So erzählte er hier z. B., er sei mit vollem 
Bewußtsein nach Brüssel gefahren, um eine Angelegenheit zu besorgen, 
habe dann auf dej Straße ein Mädchen angesprochen und habe mit diesem 
ein paar Glas Bier getrunken. Soweit fand er also selbst alles noch ganz 
in der Ordnung. Infolge dieses Alkoholgenusses nun sei es dann „plötzlich 
wieder über ihn gekommen“, und er habe immer weiter getrunken, an dem 
einen Abend in verschiedenen Lokalen dann noch Absinth, 2 Kognaks, 
eine Flasche Champagner, einige Flaschen Wein, dann wieder jnehrere 
Kognaks, mindestens 10 Stück, und schließlich wahrscheinlich nochmals 
Wein. Er sei 2 Tage lang mit diesem Mädchen zusammen gewesen und 
habe in dieser Weise weitergetrunken, sie vielleicht noch mehr als er, 
ja er behauptet sogar, was nicht ganz unglaubwürdig erscheint, er habe 
sie während dieser beiden ersten Tage nicht berührt. Er hat ihr auch 

Zeitschrift für PsychUtrie. LXXV. 6. 50 


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Rittershaus, 


späterhin allerhand teure Toilettengegenstände gekauft, und als dann 
sein Geld ausgejjangen war, die in seinem Geständnis geschilderten, z. T.. 
sehr raffinierten Betrügereien begangen. Daß er bei alledem bei vollem 
Bewußtsein gehandelt hat, geht auch aus seinen bei den Akten befind¬ 
lichen Notizbuchresten hervor, in dem er über seine ganze seitherige Tätig¬ 
keit fast pedantisch Buch geführt hat; auch ein geschäftlicher Eintrag ' 
vom 11. 5.15 befindet sich noch darin, dann kommt nochmals das Datum 
II. 5.45 und die Worte: „Von H. weg — Aus —“, dann am 15.5.15: „Mit 

einer anderen zusammengekuppelt, ein Sch.“ — unleserlich —• 

„Das ist doch wahr, um einige lumpige Fetzen“ — unleserlich — „alles 
verlassen! — Pfui!“ — 

Nach dem glanzvollen Schluß seiner auch stilistisch interessanten 
Autobiographie stellt er noch einmal in geschickter Weise alles zusammen, 
was zu der von ihm sicherlich ersehnten Exkulpierung führen könnte: 
die erbliche Belastung, seinen Mißbrauch von narkotischen Mitteln; er 
kokettiert mit dem Selbstmord und äußert tiefe und aufrichtige Reue 
— unter wiederholtem Hinweis jedoch, daß er nicht mit freiem Wissen 
und Willen gehandelt habe. — 

Dieses ganze, so unendlich vielseitige Krankheitbild, das so ziemlich 
alles umfaßt, was an Degeneration möglich ist, dieses ganze Leben voll 
Flucht und wildem Wandertrieb, voll Verbrechen, grausigen Erlebnissen, 
sexuellen Exzessen — in dem Gift, Verbrechen und Selbstmord eine fast 
alltägliche Rolle spielen, das ist alles zwar nicht epileptisch, aber immerhin 
zweifellos krankhaft genug, um die Voraussetzungen des § 51 StGB, zu 
erfüllen. Auch die Hysterie ist eine psychische Erkrankung, und wenn sie 
in einer derartigen Intensität auftritt und derartig mit degenerativen Zügen 
verknüpft ist, wie in dem vorliegenden Falle, so wird man sie wohl ohne 
weiteres als Geisteskrankheit im Sinne des Gesetzes ansehen können und 
wird sie praktisch ebenso bewerten wie eine Epilepsie, die ebenfalls nach 
langen, freien Intervallen ganz plötzlich zu schweren, fast unbegreiflichen 
Exzessen und zu Konflikten mit dem Strafgesetzbuch führt. 

Wegen seiner Neigung zu diesen Delikten, wegen seiner häufigen, 
zum Teil so raffinierten Betrügereien muß man nun aber die weitere Kon¬ 
sequenz ziehen und den Patienten als einen gemeingefährlichen Geistes¬ 
kranken ansehen, der zur Sicherung der menschlichen Gesellschaft auf 
lange Zeit, vielleicht für die Dauer seines Lebens, in einer geschlossenen 
Irrenanstalt interniert werden muß, da man nie vor einem neuen Ausbruch 
dieser Erkrankung und vor neuen asozialen Handlungen sicher ist. Auch 
in diesem Falle ist also, wie so oft, die Exkulpierung nach § 51 StGB, 
keine Humanitätsduselei, sondern in ihren notwendigen Konsequenzen 
eine bei weitem härtere, aber auch sicherer eingreifende Maßregel als eine 
im Verhältnis doch nur kurze Freiheitstrafe. 

Ich fasse also mein Gutachten dahin zusammen: 

B. ist ein erblich sehr schwer belasteter, schwer degenerierter Mensch, 


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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 


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wohl zur Gruppe der Hysterie gehörig, und befand sich zur Zeit der Be¬ 
gehung der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen wohl mit Sicher¬ 
heit in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch 
den nach § 51 StGB, die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. 

Er ist wegen der beständigen Gefahr erneuter Rückfälle und erneuter 
Verbrechen als gemeingefährlicher Geisteskranker anzusehen.“ 

So tiefes Mitleid man vielleicht auch nach der Lektüre seines 
Lebenslaufes mit dem Patienten fühlen mag, auch wenn, wie 
gesagt, nur der kleinste Teil davon wahr sein sollte, so mußte 
man doch logisCherweise diese letzte Konsequenz aus den Tat¬ 
sachen ziehen, da er durch eine Bestrafung, wie die Erfahrung 
zeigt, nicht gebessert werden kann, und da er andererseits durch 
einen glatten Freispruch nach § 51 StGB, gewissermaßen einen 
Freibrief für stets erneute Schwindeleien und Hochstapeleien 
erhalten hätte, von dem er, seinem ganzen Charakter nach, 
sicherlich weitestgehenden Gebrauch gemacht haben würde. 

Auf Grund des obigen Gutachtens wurde das Verfahren ein¬ 
gestellt und B. einer *österreichischen Irrenanstalt überwiesen. 
Hoffentlich hat ihm nicht die Revolution, wie so manchem anderen 
Verbrecher, seine Freiheit wiedergegeben, die er ja doch nur zu 
neuen Verbrechen mißbrauchen würde. 


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Ein Fall von posttraumatischer Demenz nach 
Schrapnellschnßyerletznng: des Schädels. 

Von Medizinalrat Dr. Helnlcke, 

Direktor der sächsischen Landes-Heil- und Pfleganstalt Waldheim. 

Bei der nach meinen Erfahrungen immerhin seltenen post¬ 
traumatischen Demenz halte ich es für nicht unangebracht, den 
folgenden' Fall zu veröffentlichen: 

Th. X. stammt von einem geisteskranken Vater; auch ist er von 
seiten der Mutter, die als unordentlich, kopfleidend, asthmatisch und 
gichtisch geschildert wird, offenbar belastet. Des weiteren sind auch 
einzelne Geschwister des Pat. psychisch nicht auf der Höhe, in der Haupt¬ 
sache wohl imbezill. 

Diese erbliche Belastung drückt sich bei dem' Kranken selbst in der 
Kindheit schon dadurch aus, daß er in derselben in glaubwürdiger Weise 
an Kopfschmerzen gelitten haben will; diese Belastung stempelt ihn auch 
von Jugend auf zu einem moralisch Minderwertigen; er stahl frühzeitig, 
auch war er Fürsorgezögling. Seine jugendliche abirrende Lebensweise 
führte schließlich dazu, ihn auf seinen Geisteszustand in einer Irrenanstalt 
beobachten zu lassen. Dortstellte man die Diagnose auf mäßigen Schwach¬ 
sinn; er neigte auch dort zu Diebereien und Tätlichkeiten; ohne rechte 
Andauer bei der Arbeit war er doch von seiner Leistungsfähigkeit durch¬ 
aus überzeugt. Aus einem späteren Polizeibericht geht noch hervor, daß 
X. auch stark getrunken haben soll. Immerhin war sein Gesamtzustand so, 
daß er während des Weltkrieges zum Heere eingezogen werden konnte; bei 
der Ausbildung fiel er keinem seiner Vorgesetzten auf, er unterschied sich 
in seinen Leistungen in keiner Weise von andern Rekruten; dabei darf 
nicht unerwähnt bleiben, daß seine Vorgesetzten seinen früheren Irren¬ 
anstaltsaufenthalt kannten und ihn deshalb besonders im Auge behielten: 
auch führte er sich im Rekrutendepot straffrei. 1915 erlitt er eine Schrap¬ 
nellschußverletzung des Schädels mit angeblichen Kommotioerscheinungen, 
die scheinbar ohne Folgen heilte. 1916 wurde er beim Militär kriminell; er 
erhielt Mittelarrest; während der Verbüßung desselben wurde er psychisch 
auffällig und der Lazarettbehandlung überwiesen. Dort äußerte er, daß sich 
seine Kopfschmerzen seit dem Schrapnellschuß verschlimmert hätten; es 


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Gin Fall von posttranmatischer Demenz usw. 


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sei ihm ferner die letzten Tage im Kopfe so komisch gewesen. Bei ruhigem 
und geordnetem Verhalten während der Untersuchung und bei erhaltener 
Orientierung brauchte er auffallend lange Überlegung, bis er die richtige 
Antwort fand. Diese erfolgte mit etwas weinerlicher Stimme in mono¬ 
tonem Ton. Seine Haltung hatte etwas Starres an sich. Hinsichtlich des 
somatischen Zustandes sei nur erwähnt, daß X. Herabsetzung der Schmerz¬ 
empfindlichkeit zeigte und spitz und stumpf nur ungenau unterscheiden 
konnte. Es bestanden also auf Hysterie verdächtige Zeichen, die, worauf 
hier besonders hingewiesen werden soll, bdi der früheren Irrenanstalts- 
beobachtüng fehlten. 

In noch ausgeprägterem Maße wurden hysterische Stigmata bei 
späterer Behandlung in einem Nervenlazarett festgestellt. X. wurde wegen 
seines Zustandes als U. entlassen. 

Im Juni 1918 wurde er erneut kriminell; er beteiligte sich an einem 
mit Einbruch verbundenen schweren Nahrungsmitteldiebstahl, der zu 
seinter Verhaftung führte. 

Während der Untersuchungshaft fiel er dem Untersuchungsrichter 
deutlich auf, und es kam schließlich, da der Gerichtsarzt kein abschließen¬ 
des Urteil hinsichtlich des Geisteszustandes des Angeschuldigten gewinnen 
konnte, zu einer Beobachtung desselben nach § 81 der StrPO. in der 
hiesigen Anstalt. 

Bei der mit ihm vorgenommenen körperlichen Untersuchung stellte 
ich zunächst deutliche Unterernährung fest; die Haut war rein, trocken 
bis auf deutliches Achselhöhlenschwitzen; rechts oberhalb des Nabels 
fand sich ein Mal. Die Kopfbehaarung erschien dünn; etwa auf der Höhe 
des Schädels rechts von der Längsnaht fand sich eine eingedellte, schmerz¬ 
hafte Narbe mit Knocheneindruck, die annehmbar identisch mit dem 
aktenmäßig belegten Schrapnellschuß war, sonst ließen sich nur neben¬ 
sächlichere Narben am Körper feststellen. .Die sichtbaren Schleimhäute 
waren mäßig blutreich. An Drüsen bestanden geringe Leistendrüsen. 
Neben dem Mal fanden sich als Entartungszeichen noch: leicht degenerierte 
Ohren, fliehende Stirn, etwas breite Nase, unregelmäßiger Zahnstand, 
ein Spalt über dem Nabel und flache Fußgewölbe. Über den sonst normalen 
Lungenspitzen wurde beiderseits Nonnensausen gehört. Der nicht beson¬ 
ders volle Puls zeigte 64 Schläge in der Minut.e. Bei der Untersuchung 
des Leibes wurde links befundlos gelegentlich Schmerz angegeben. X. 
klagte weiter über Polyurie, der Urin war aber o. B. 

Die Untersuchung des Zentralnervensystems förderte folgendes zu¬ 
tage: Die runden, untermittelweiten Pupillen reagierten auf Licht, Nahe¬ 
sehen und konsensuell, doch waren letztere zwei Reaktionen wenig aus¬ 
giebig. Die belegte Zunge wurde mit gröberer Unruhe hervorgestreckt. 
Die Uvula hing nach links. Die Sprache war schwerfällig, aber nicht para¬ 
lytisch gestört. Die Schriftprobe fiel andeutungweise zittrig aus, eigent¬ 
licher Tremor bestand aber nicht. Der Austritt des oberen und mittleren 


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Heinicke, 


rechten Quintusastes war auf Druck besonders schmerzhaft: links war 
diese Veränderung nur angedeutet. Der Schädel war klopfempflndlich. 
Die Hörfähigkeit erschien anfangs beiderseits herabgesetzt, bei späterer 
Nachprüfung aber besser. Die Trommelfelle erwie&en sich dabei frei, 
anscheinend aber chronisch verändert. Ob die wechselnde Hörschärfe 
darauf oder auf nervöse Einflüsse zurückzuführen war, muß dahingestellt 
bleiben. 

Hinsichtlich des Sehorganes klagjte der Angeschuldigte über Flim¬ 
mern. Die Prüfung des Geruchs und Geschmacks förderte eine deutliche 
Herabsetzung dieser Sinnesfunktionen zutage; zum Teil waren diese Aus¬ 
fallerscheinungen vielleicht auch durch psychische Schwerfälligkeit bedingt. 
Die Berührüngsempfindung erwies sich am Brustkorb und den Armen 
erloschen; in wechselnder Stärke war sie am sonstigen Stamm und am 
Kopf erhalten; hier spielten vielleicht auch Aufmerksamkeitstörungen 
eine Rolle. 

Entsprechend der Zone der erloschenen Berührungempfindung war 
auch die Schmerzempfindung dort gleich null; am besten war diese-am 
Gesäß erhalten, um dann weiter abwärts wieder weniger zu werden. 

Eine ausgesprochene Schmerzüberempfindlichkeit ließ sich an der 
rechten Kopf hälfte und da besonders im Gesicht feststellen, wie auch Druck 
auf oder in die Nähe der Schrapnellschußnarbe sonst geklagte Schmerzen 
deutlich verschlimmerte. Die Erkennung bei geschlossenen Augen in die 
Hände gegebener Gegenstände war nur einwandfrei für grobe Sachen. 

Der Bindehautreflex fehlte beiderseits, der Hornhautreflex war rechts 
geringer als links, der Gaumen- und der Würgereflex fehlte vollständig. 
Der Sehnenreflex des Oberarmstreckmuskels war beiderseits erhöht, das¬ 
selbe galt von dem Knochenhautreflex der Speichen und den Bauch¬ 
deckenreflexen. Der Kremasterreflex fehlte. Dieser Befund soll aber 
keine Verwertung finden, da das Skrotum zusammengezogen war. Die 
Patellarreflexe wurden auf das stärkste ausgelöst, es kam fast zum Klonus; 
der Achillessehnenreflex war beiderseits erhöht, aber ungleich, rechts 
stärker; Dermographie bestand in geringem Maße; bei Fußaugenschluß 
trat nach einiger Zeit ungekünsteltes Schwanken ein; es bestand Lid¬ 
flattern. Kontrolluntersuchungen des nervösen Status förderten an¬ 
nähernd denselben Befund zutage, dabei wurde auch noch Gesichtsfeld - 
einengung, und zwar rechts mehr als links, festgestellt. 

Bei der körperlichen Hauptbefundserhebung kam X. den Aufforde¬ 
rungen meist zwar prompt nach, er fiel &ber dabei durch gelegentliches 
Grimassieren und eigentümliche unmotivierte Bewegungen der Hände auf. 
Hinsichtlich des psychischen Befundes will Verf. nicht auf die eingehende 
Exploration genauer eingehen, sondern nur in kurzen Zügen das wieder¬ 
geben, was X. während der Beobachtung und der Untersuchung dies¬ 
bezüglich Wichtiges bot. Er zeigte sich während ersterer im allgemeinen 
äußerlich voll geordnet, auch war er meist ruhig; seine Ruhe war charak- 


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Ein Fall von posttraumatischer Demenz usw. 753 

terisiert einmal durch eine unverkennbare Indolenz, zuin andern durch 
eine gewisse Gemütsdepression; dazu gesellten sich ausgesprochene Denk 
hemmung, Störung der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses, Erscheinun¬ 
gen, die ihn blöder erscheinen ließen, als er es in Wirklichkeit war. Hin 
und wieder schien es auch zu vereinzelten Sinnestäuschungen gekommen 
zu sein. Dieses deprimiert-gehemmte, teilnahmlose Dahinleben machte 
aber auch Zeiten Platz, in denen X. lebhafter war, sich gesprächiger zeigte, 
zum Teil recht reizbar wurde, ja es kam sogar gelegentlich zu sichtlich 
gehobener Gefühlsbetonung. Das Verhalten war also wechselnd. Dabei 
wurde Kopfschmerz in verschiedener Stärke geklagt. Der Schlaf war im 
allgemeinen gut. Hinsichtlich der Tat bestand angeblich vollständige 
Erinnerunglosigkeit. Verschiedenes sprach aber dafür, daß dies nicht 
stimmte; möglich aber war es durchaus, daß die Erinnerung an die Tat 
eine lückenhafte war, bedingt einmal'durch die Krankheit an sich und 
dann vielleicht durch Alkoholgenuß am Abend vor der Tat. Hier, aber 
auch sonst, zeigte der Angeschuldigte eben Neigung zur Aggravation, die 
nicht wundernehmen kann, da er ja deutlichste Zeichen von traumatischer 
Hysterie auch sonst bot. 

Die mit X. vorgenommene eingehende psychiatrische Prüfung deckte 
sich im großen und ganzen mit der obigen Schilderung. Bei derselben 
zeigte der Angeschuldigte so gut wie ständig eine auffallende Hemmung 
seiner psychischen Funktionen, deren Grad wechselte. Daneben bestand 
auch ein deutlicher Schwachsinn. Die Gefühlsbetonung war eine labile. 

Von der einfachen indolenten Verstimmung gab es Übergänge b|s 
zum heftig in Erscheinung tretenden Weinausbruch; auch wurde ausge¬ 
sprochene unmotivierte Reizbarkeit beobachtet. X. selbst gab an, daß 
seit der Schädelverletzung eine Veränderung mit ihm vorgegangen sei; 
abgesehen von den wesentlich gesteigerten Kopfschmerzen, sprach, er von 
tourenweise auftretender Gemütsdepression, besonders betonte er auch 
seine Intoleranz gegen Alkohol; der Genuß desselben rufe bei ihm starken 
Kopfschmerz und länger anhaltendes übelbefinden sowie Apathie hervor, 
was die Ablehnung des geplanten Alkoholversuches gerechtfertigt erschei¬ 
nen ließ. • 

Vergleichen wib die Symptome, die X. hier bietet, mit denen, 
die z. B. Köipin -Bonn für die posttraumatische Demenz fordert, 
als: stumpfes, apathisches Wesen, Verlangsamung aller psychischen 
Vorgänge, Schwäche des Urteilsvermögens, Herabsetzung der Merk¬ 
fähigkeit etc., Krankheitserscheinungen, denen hinsichtlich ihrer 
Stärke eine deutliche Neigung zum Wechseln innewohnt, berück¬ 
sichtigen wir ferner die Tatsache, daß die posttraumatische De¬ 
menz häufig mit Pupillarstörungen und traumatisch hysterischen 
Symptomen verquickt ist, so dürfen wir nicht anstehen, mit Sicher- 


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754 \ Heinicke, Ein Fall von posttrautnatischer Demenz usw. 


heit anzunehmen, daß das vorliegende Krankheitsbild unbedingt 
als posttranmatische Demenz aufzufassen ist, 

Zudem wissen wir ja durch Krankengeschichtsnotizen und 
Beobachtungen, daß X. vor dem Schädeltrauma psychisch gan& 
anders, viel besser dastand als nach demselben, wenngleich er 
sicher ein Mensch ist, der von jeher die Zeichen angeborener 
Minderwertigkeit in Form eines leichten Schwachsinns darbot. 
Wichtig erscheint es ferner, auch darauf nochmals aufmerksam 
zu machen, daß die hysterischen Zeichen ebenfalls vor dem Trauma 
nicht beobachtet wurden. Erstmalige Notizen über Symptome, 
die unzweifelhaft als posttraumatische zu deuten sind, finden wir 
zur Zeit der Lazarettbeobachtungen im Anschluß an die Unter* 
brechnng des militärischen Mittelarrestes im Jahre 1916. 

Da die posttraumatische Demenz weiter einen bleibenden 
Defektzustand darstellt, mußte sie auch zur Zeit der Tat im Jahre 
1918, um derentwillen X. hier zur Beobachtung war, vorhanden 
gewesen sein. Dem Angeschnldigten war daher der Schutz des 
§ 51 des StrGB. zuzubilligen. 


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Kleinere Mitteilungen. 

Um die Erforschung psychopathischer Konstitutionen sowie die 
praktische Fürsorgearbeit an jugendlichen Psychopathen in Deutschland 
anzuregen, auszubauen und zusammenzüfassen, hat sich ein Deutscher 
Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen gebildet. 
Vorsitzender: Liz. S. Schulze, Leiter des Jugendamtes; Schriftführerin: 
Frl. v. d. Leyen, Leiterin der Berliner Jugendgerichtshilfe; unter den 
Beiräten: Prof. Kramer u. Prof. Stier. Geschäftsstelle Berlin N 24, Mon¬ 
bijouplatz 3. Jährlicher Beitrag mindestens 10 M. 


Die Heil- und Pflegeanstalt Schöneberg, bekannter unter 
ihrem früheren Namen Maison de Santö, wird am 1. 7. 19 geschlossen. 
1862 von dem späteren Geh. Sanitätsrat Dr. Eduard Levinstein als-Brunnen- 
und Badeanstalt eröffnet, wurde sie bald auf den Rat Griesingers in eine 
Privatanstalt für Geisteskranke umgewandelt. Seit 1895 leitet sie der 
Sohn des Begründers Sanitätsrat Dr. T Valter I^evinstein, der in der Über¬ 
zeugung, daß unter den jetzigen politischen und wirtschaftlichen Ver¬ 
hältnissen eine gedeihliche und auf persönlicher Verantwortung des An¬ 
staltleiters beruhende Fortentwicklung der Anstalt unmöglich geworden 
ist, Grundstück und Gebäude der Stadt Schöneberg übereignet. Nament¬ 
lich zwei Assistenten der Anstalt haben später Bedeutung erlangt: Hecker 
und der le'der nun auch gestorbene Hermann Oppenheim. 


Sanitätsrat Joh. Bresler, jetzt Direktor in Kreuzburg, beginnt eine 
wissenschaftliche Sammlung herauszugeben: Abhandlungen zum 
Ewigen Frieden, in Heften von 2 — 4 Bogen, Neberts Verlag, Halle. 
Diese Sammlung soll mitarbeiten an der ,,Lösung der Aufgabe, die Kant 
dem Menschengeschlecht gesetzt: den Ewigen Frieden herbeizuführen“. 


Personalnachrichten. 

Dr. Ferdinand Hegemann , Oberarzt in Marienthal bei Münster, ist zum 
Direktor in Suttrop ernannt worden. 

Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXV. 6. 51 


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Kleinere Mitteilungen. 


Dr. Alfred Schmidt, Oberarzt, ist von Suttrop nach Mariental bei 
Münster, 

Dr. Grabow, Oberarzt, von Schleswig nach Neustadt (Holstein), 

Dr. Straub, Oberarzt, von Neustadt (Holstein) nach Schleswig, 

Dr. Leonhard Rosen, Sanitätsrat, Oberarzt, von Görden nach der Idioten - 
anstalt Lübben, 

Dr. Kurt Gaüus, Sanitätsrat, Oberarzt, von Potsdam an die Anstalten in 
Treuenbrietzen, 

Dr. Paul Schmidt, Oberarzt, von Sorau nach Potsdam, 

Dr. Erich Noack, Oberarzt, von Teupitz nach Neuruppin, 

Dr. Joh. Hoff mann, Oberarzt, von Eberswalde nach Görden, 

Dr. /. P. Claus, Oberarzt, von Neuruppin nach den Anstalten bei 
Treuenbrietzen, \ 

Dr. Behrendt, Oberarzt, von Sorau nach Teupitz', 

Dr. Curt von Leupoldt, Oberarzt, von Teupitz nach Görden versetzt 
worden. 

Dr. Wolfgang Günther und 

Dr. Franz Maurer, Abt.-Ärzte in Suttrop, wurden zu Oberärzten be¬ 
fördert. 

Dr. A. H. Hasche-Klünder, Oberarzt in Hamburg, wurde zum Physikus 
daselbst, 

Dr. Wilh. Eccard, Direktor in Frankental, wurde zum Medizinalrat 
ernannt. 

Dr. Georg Paul, Oberarzt in Neuruppin, ist am 17. März, 

Dr. Alfred Fickler, Oberarzt in Obrawalde, am 31. März auf der Reise nach 
der Anstalt Dziekanka, deren kommissarische Leitung ihm über¬ 
tragen war, in Wronke (Posen) an Herzlähmung, 

Dr. Hermann Engelken, früher Direktor der Privatanstalt Rockwinkel bei 
Bremen, im Alter von 75 Jahren nach langer, schwerer Krankheit 
am 2. Mai, 

Dr. Friedrich Tauscher, Oberarzt in Dösen, am 4. Mai infolge Schlag¬ 
anfalls, 

Dr. Hermann Oppenheim, Prof., der bekannte Neurologe in Berlin, am 
22 . Mai im 62. Lebensjahre und 

Dr. Alfred Richter, Geh. Sanitätsrat, Direktor der Städtischen Heilan¬ 
stalt in Buch, am 24. Juni nach kurzem schweren Leiden 
gestorben. 


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[ ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE 
i UND PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN 

I HERAUSGEGEBEN VON 

DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 
LITERATURBERICHT ZU BAND LXXV 

















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UMIVERSITY OF MICHIGAN 




ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT 

; FÜR 

PSYCHIATRIE 

UND 

PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN 

HERAUSGEGEBEN VON 

DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN 

UNTER DER MITREDAKTION VON 

BLEULER BONHOEFFER FISCHER KLEIST MERCKLIN PERETTI STRANSKT 

ZÜRICH BERLIN WIESLOCH ROSTOCK TREPTOW A.R. GRAFRNBBRO 4 WIEN 

DURCH 

HANSLAEHR 

ZEHLENDORF-WANNSEEBAHN, TELTOWER STR. 19 


FÜNFUNDSIEBZIGSTER BAND 
i. Literaturheft 


BERLIN UND LEIPZIG 

VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER 

WALTER DE GRUYTER & CO., 

VORHALS G. J. GOSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG - 3 . GUTTENTAQ, VERLAGS. 
BT CHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL 3 . TRÜBNER - VEIT * COMP. 

1919 



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UMIVERSITY OF MICHIGAN 



BERICHT 


ÜBER DIE 

PSYCHIATRISCHE LITERATUR 

IM JAHRE 1917 

REDIGIERT 

VON 

OTTO SNELL 

DIBBKTOR DBB HEIL- D. PFLBGKAW8TALT LL’SEBURO 

I. 


1. LITERATURHEFT 

ZUM 76. BANDE 

DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE 



BERLIN UND LEIPZIG 

VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER 

WALTER DE GRUYTER & CO. 

VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VEBLAGSHANDLUNG — J. GCTTENTAG VERLAGS- 
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMEK — KARL J. TRUBNER - VEIT * COMP. 

1919 


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UNIVERSETY OF MICHIGAN 



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UMIVERSSTY OF MICHIGAN 



1. Anstaltswesen und Statistik. 

Ref.: 0. Sn eil-Lüneburg. 

I. Allgemeines. 

1. Arnemann, 0. (Hubertusburg), Die Weiterentwicklung weib¬ 
licher Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten, 
mit besonderer Berücksichtigung der im Königreich 
Sachsen gemachten Erfahrungen. Allg. Ztschr. f. 
Psych. H. 4, S. 341. 

2 a. Cox, W. H., Ideale in der Irrenpflege, auch im Zusammenhang 
mit der Institution Schuurmans Stekhoven. Psych. 
en neurol. Bl. vol. 21, p. 53. 

2 b. Dehio (Zschadraß), Beobachtungen über die Anstaltsruhr. 
Psych.-neurol. Wschr. Nr. 49/50 u. Nr. 51. (S. 3*.) 

3. Dietrich, Das Beobachtungshaus. Ztlbl. f. Vormundschafts¬ 

wesen Bd. 8, S. 238. 

4. Förster, Ed. (Berlin), „Die staatlichen Heil- und Pflege¬ 

anstalten sind doch nur bessere Strafanstalten und Ge¬ 
fängnisse.“ Eine öffentlich ausgesprochene richterliche 
Ansicht. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 41, H. 6, 

S. 385. 

5. Hanhart, E. (Zürich), Die amtliche Totenschau auf Grund der 

Verhältnisse in den verschiedenen Ländern mit besonde¬ 
rer Berücksichtigung der Erfahrungen im Kanton 
Zürich. Zürich 1916. Speidel u. Wurzel. 116 S. — 
2,50 M. 

6. Henkel, 0. (Hadamar), Über die Notwendigkeit systematischer 

Durchsuchungen von Irrenanstalten zur Auffindung von 
Typhusbazillen trägem. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 49. 
(S. 2*.) 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. a 


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UNIVERS1TY OF MICHIGAN 



2* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


7. van der Kolk, H. J., Kleine Pavillons auf der „Willem Arntsz- 

Hoewe“ zu den Dolder. Wilhelminagids vol. 2, p. 68. 

8. Lindner, K ., Die Methode Prof. Kortewegs medizinisch-statisti¬ 

scher Untersuchungen. Tijdschr. v. Ongevallengeneesk. 
vol. 2, p. 199. 

9. Low, H. (Bedburg-Hau), Über Tuberkulose in Irrensantalten. 

Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, H. 5, S. 443. 

10. Ollendorf, Kurt (Berlin), Beitrag zur russischen Irrenpflege 

auf dem Lande. Ein Kulturbild. Berl. klin. Wschr. 
Nr. 24, S. 584.- 

11. v. Olshausen (Reg.-Rat in Berlin), Über die Haftung der 

Leiter von Heilanstalten für Gemütskranke. Med. Klin. 
Nr. 24, S. 670. 

12. le Rütte, J. L. C., Plan für Observationspavillons für Un¬ 

ruhige auf Brinkgreven. Wilhelminagids vol. 2, p. 61. 

13. le Rütte, J. L. C., Die Reorganisation des Irrenwesens. Het 

Ziekenhuis vol. 8, p. 30. 

14. Schuurman-Stekhoven, J. H., Familienpflege unabhängig vom 

Anstaltskomplex. Wilhelminagids vol. 2, p. 73. 

15. Siebert, Harald (Libau), Bericht über eine Ruhrepidemie in 

der Libauer Städtischen Irrenanstalt. Psych.-neurol. 
Wschr. Nr. 3/4, S. 17. (S. 4*.). 

16. Sighart, A. (Günzburg a. D.), Der Röntgenapparat in den 

Heil- und Pflegeanstalten. Psych.-neurol. Wschr. Nr. 
37/38, S. 239. (S. 4*.) 

17. Thomalla, Kurt (Breslau), Zivildienstpflicht und Irrenhaus. 

Zukunft Nr. 19 v. 10. II. 1917, S. 161. (S. 4*.) 

18. van Trotsenburg, J. A., Familienpflege. Wilhelminagids vol. 

2, p. 4. 

Henkel (6) greift in seiner Arbeit auf die kritische Übersicht von ScAu/te-Jena 
(Vierteljschr. f. ger. Med. 1915, H. 2) zurück, nach der die Maßnahmen gegen 
Typhusbazillenträger in Irrenanstalten in 3 Punkten festgelegt werden: I. Frei¬ 
haltung typhusfreier Anstalten, 2. Feststellung der Keimträger in infizierten An¬ 
stalten. 3. spezielle Maßnahmen gegen die erkannten Keimträger und ihre Um¬ 
gebung. H. ist in seiner Anstalt, Hadamar, woselbst seit 1913 Typhus aufgetreten 
war, nach diesen Gesichtspunkten vorgegangen. Die Durchuntersuchung wurde 
nach Vorschlägen von Hilgermann, und mit dessen dankenswerter Unterstützung, 
auf Grund der IVidal-Reaktion vorgenommen. Blutproben wurden von sämtlichen 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


3* 

Anstaltsinsassen, Beamte und Pflegepersonal inbegriffen, entnommen und der 
Untersuchungsstelle eingeschickt. Bei positiver Reaktion sind dann in zwei- bis 
dreiwöchentlichen Zwischenräumen 5 Stuhl- und Urinproben eingeschickt. Von 
227 Blutproben fiel die lf7da/-Reaktion II7mal positiv aus. Unter den Aggluti- 
nanten (86 w. 31 rr. Pers.) waren 18 Bazillenträger (16 Frauen 2 Männer), darunter 
wurden bei 12 Typhus-, bei 6 Paratyphusbazillen nachgewiesen. Die große Zahl 
der Bazillenausscheider ist auffallend, und es ist zu verwundern, daß verhältnis¬ 
mäßig wenig Erkrankungen vor gekommen sind. Um die Weiterverbreitung der 
Infektion zu verhindern, wurde möglichste Absonderung der Bazillenträger durch¬ 
geführt und regelmäßige Typhus-Schutzimpfung des — besonders dfes weiblichen — 
Personals angeordnet (1915). Von einer Durchimpfung der Anstaltsinsassen wurde 
abgesehen. Versuche, mit inneren Mitteln Heilerfolge bei den Typhusbazillen¬ 
trägem zu erzielen, waren vergeblich, so führten die Natr. salicyl .-Therapie von 
Hilgcrmann, Behandlung mit Thymolkohle nach Geronne-Lenz , Verabreichung von 
Jod und Tierkohle nach Kalberlah zu keinem Resultat. Der Versuch nach t'e- 
truschky, Typhusfälle im Frühstadium aktiv zu immunisieren, erscheint H. mit 
Schultz aussichtsreich. Neues hat, wie H. selbst betont, die Durchuntersuchung 
nicht erbracht, das von Hilgermann vorgeschlagene Verfahren erscheint ihm aber 
zweckmäßig und unschwer durchführbar. Seines Erachtens haben alle Unter¬ 
suchungen von Neuaufnahmen, des Personals sowohl als auch der Kranken, keine 
Aussicht auf Erfolg, wenn nicht vorher die Anstalt auf vorhandene Bazillenträger 
durchuntersucht ist und diese abgesondert sind. 

Die Ausbreitung der Ruhr in den Anstalten Zschadraß und Colditz gibt 
Dehio (2b) Veranlassung zu seiner Veröffentlichung. Zschadraß ist seit der Er¬ 
öffnung, 1894, bis zum Jahre 1913/14 von der Ruhr verschont geblieben. Wahr¬ 
scheinlich hat dann Verschleppung von Sonnenstein und von Colditz, woselbst 
schon Ruhr herrschte, stattgefunden. In den Jahren 1913 bis 1917 erkrankten dann — 
im Januar 1917 flammte die Epidemie mächtig auf — 1913 = 21 Pers., 1914 = 
36 Pers., 4 Todesfälle, 1915 = 31 Pers., 3 Todesfälle, 1916 = 58 Pers. 13 Todesfälle, 
und zwar bis auf die 21 Erkrankungen im November/Dezember 1913 und einen Fall 
1916, die auf der Männerseite vorkamen, sämtlich Erkrankungen auf der Frauenseite. 
Dann ändert sich das Bild: 1917 — 59 Erkrankungen, 35 Todesfälle auf der Männer- 
seite, Frauenabteilung: 159 Erkrankungen 51 Todesfälle. Pflegepersonal erkrankte 
selten (in den ges. Jahren 9 Fälle). Die Monate der zweiten Hälfte des Sommers 
und die Wintermonate schienen besonders bevorzugt. Die geringe Zahl von Er¬ 
krankungen des Personals spricht für die Annahme, daß für den Krankheitserreger 
eine besondere Veranlagung vorhanden sein muß. Besonders häufig erkranken 
die Siechen, Bettlägerigen und Unsauberen. Kotanstauung scheint keine besondere 
Veranlassung zu sein, Hochzüchtung und Selbstansteckung findet bei denen statt, 
die „mit ihrem Kot nicht umzugehen verstehen“. Ob Tuberkulose dabei eine Rolle 
spielt, wie Low in Bedburg-Hau es für wahrscheinlich hält, ließ sich ohne eingehende 
statistische Untersuchungen noch nicht erweisen. Der körperliche Zustand steht 
im Vordergrund, und zweifellos spricht bei dem rapiden Anwachsen der Epidemie 
gegen Ende 1916 und im Jahre 1917 die Unterernährung mit. Es scheinen aber 

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4* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

noch andere unbekannte Bedingungen bei der Entstehung der Krankheit mitzu- 
wirken. Ganz besonders bösartig trat die Ruhr in Colditz auf; dort erkrankten 
und starben an Ruhr 1914 = 1 * 1915 = 34 mit 26 Todesfällen, 1916 = 5 mit 1 Todes¬ 
fall, 1917 5 mit 5 Todesfällen; an anderen Darmkrankheiten litten 1914=22, 
1915 = 61, 1916 = 52, 1917 = 84 mit 1 Todesfall. Auf den Zusammenhang mit 
den Todesfällen an Tuberkulose weist Verf. besonders hin. Weitere Ausführungen 
finden sich in eingehender Form in dem Aufsatz niedergelegt. 

Auch Siebert (15) befaßt sich mit der Ruhr und veröffentlicht Beobachtungen 
aus der Libauer Anstalt. Für die Entstehung der Epidemie hält S. unter Bezug¬ 
nahme auf eine hygienisch-fachmännische Ansicht interessanterweise die Über¬ 
tragung durch Fliegen für sehr wahrscheinlich, Fliegen halten sich infolge übler 
sanitärer Verhältnisse in der Nähe der Anstalt in großen Mengen auf. Allerdings 
kann auch an Einschleppung von außen gedacht werden, da in Libau fast ständig 
Dysenterie herrscht. Es erkrankten von 38 Anstaltsinsassen 14. Untersuchungen 
wurden nach Shiga-Kruse vorgenommen. Bemerkenswert war, daß bei einem völlig 
gesunden Individuum Dysenterieerreger gefunden wurden, es handelte sich um 
einen Bazillenträger. Dieser wurde mit Kalomel behandelt, wonach die Stuhlproben 
negatives Resultat ergaben. Der Verlauf der Dysenterie war im allgemeinen leicht, 
nur ein Todesfall. Bolus*alba schien sich bei der internen Therapie zu bewähren. 
Siebert s Beobachtungen erstreckten, sich auch auf den Einfluß der Erkrankung, be¬ 
sonders der fieberhaften Zustände, auf das Seelenleben der Geisteskranken. Seiner 
Beobachtung nach schädigt die Infektion durch Auftreten somatisch-psychischer 
Vorstellungen gewisse Erkrankungsformen in hohem Maße. 

Sighart (16) schreibt über den Röntgenapparat als diagnostisches und thera¬ 
peutisches Hilfsmittel in den Heil- und Pflegeanstalten, dem er eine weitere Ver¬ 
breitung wünscht. S . selbst arbeitet in der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg mit 
einem solchen. Er weist auf den Wert der Röntgenuntersuchungen bei Lungen¬ 
erkrankungen und Verletzungen des Knochensystems hin, auch bei der Auffindung 
von Veränderungen des Gewebes bei Tuberkulose leiste das Röntgenbild wertvolle 
Dienste. Die Verwendung der Röntgendurchleuchtung bei Epileptikern (Redlich 
und Schuller f Fortschritte der R. F. XIV) zur Feststellung traumatischer Schädel¬ 
defekte und dergleichen, der Form- und Größenanomalien des Schädels führt er an 
und geht auf die event. therapeutische Verwendung ein, worüber auf psychiatrischem 
Gebiet allerdings noch keine Erfahrungen gesammelt sind. Er denkt an eine Ein¬ 
wirkung auf die pathologisch veränderte Zelle, auf die Drüsen mit gestörter und 
veränderter innerer Sekretion, an die Vernichtung oder Abschwächung der Virulenz 
der Spirochäte im Paralytikergehirn durch Röntgenstrahlen. Praktisch käme zurzeit 
für Röntgen-Therapie in Betracht höchstens das weite Gebiet der Lungen- und 
Knochentuberkulose und die Strahlenbehandlung der Strumen mit Basedowerschei¬ 
nungen. Zweifellos würde in den Laboratorien modern eingerichteter Heil- und 
Pflegeanstalten der Röntgenapparat für serologische und klinische DetaOunter- 
suchungen nicht fehlen dürfen. 

Im Hinblick auf die Zivildienstpflicht und die Ausnutzung aller verfügbaren 
Kräfte bricht Thomalla (17) in der „Zuknuft“ für die Psychopathen eine Lanze. 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


5* 


für „diese Schmerzenskinder der Juristen und der arzdichen Sachverständigen, 
diese Unglücklichen, die zwischen Gefängnis und Irrenhaus hin» und hergezent 
werden.“ Th. erörtert das Wesen der Psychopathen nach Weyganit (Jahreskurse 
1916). Viele sind sozial verwertbar, leisten sich zwar oft Ausschweifungen, sind 
vielfach vorbestraft, machen aber sonst ihre Arbeit gut. Werden sie eingezogen — 
Rittenhaus bezeichnet sie als felddienstfähig, aber nicht gamisondienstfähig — so 
sind sie unter der Truppe, trotz oft erstaunlichem Wagemut, eine stete Gefahr, 
begehen, vollends wenn sie der Alkoholwirkung ausgesetzt sind, Straftaten, Achtungs¬ 
verletzung, Gewalttätigkeiten u.a., erleiden schwere Bestrafung und landen schlie߬ 
lich im Irrenhause, das ohnehin zahlreiche Psychopathen beherbergt. Um ihnen zu 
helfen, sie vor dauerndem Anstaltsaufenthalt zu bewahren und ihre Arbeitskräfte 
nutzbar zu machen, schlägt Th. die Errichtung von „Psychopathenheimen“ vor, 
eine Vereinigung von Irrenanstalt und Fabrik, deren Leitung in Händen von Ärzten 
liegt, woselbst die Unterhaltung aus der Arbeitsentlohnung bestritten wird. Th. 
führt die Idee der Organisation einer solchen Anstalt aus. Kracpclin ist dieser Ge¬ 
danke sympathisch, er gibt seine autoritative Ansicht in einem kurzen Nachwort 
zu erkennen, unter Betonung dauernd aufrechtzuerhaltender Enthaltung vom Al¬ 
kohol, diesem gefährlichen Feinde der Willenskraft, an der die Psychopathen vor 
allem kranken. 


- II. Anstaltsberichte. 

1. Alsterdorfer Anstalten in Hamburg-Alsterdorf. Bericht für 

das Jahr 1916. Dir.: Prof. Dr. Kellner. (S. 14*.) 

2. Bayreuth, Oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht 

für 1916. Dir.: Dr. Hock. (S. 20*.) 

3. Bergmannswohl, Unfall-Nervenheilanstalt der Knappschafts- 

B.-G. Schkeuditz (Bez. Halle a. S.). Dir.: Prof. Dr. 
Quensel. (S. 16*.) 

4. Berlin, Bericht der Deputation für die städtische Irrenpflege. 

Berichte über die Irrenanstalt Dalldorf und die Heil- 
und Erziehungsanstalt der Stadt Berlin, Irrenanstalt 
Herzberge, Irrenanstalt Buch und die Anstalt Wuhl- 
garten. Verw.-Bericht des Magistrats zu Berlin. Etats¬ 
jahr 1916. (S. 8*.) 

5. Bernische kantonale Irrenanstalten. Berichte der Anstalten 

Waldau, Münsingen und Bellelay für das Jahr 1916. 
(S. 21*.) 

6. Breslau, Städtische Heilanstalt für Nerven- und Gemüts¬ 

kranke. Bericht für 1916. Dir.: Primärarzt Dr. Hahn. 
(S. 10*.) 


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6* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


7. Burghölzli, Zürcherische kantonale Heilanstalt. Bericht für 

1916. Dir.: Prof. Dr. Bleuler. (S. 21*.) 

8. Cery, Rapport de Tasile. 1916. Dir.: Dr. Mahaim. S. 24*.) 

9. Eglfing bei München, Oberbayer. Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1916. Dir.: Dr. Vocke. (S. 17*.) 

10. Eichberg im Rheingau, Landes-Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1916/17. Dir.: Dr. Wachsmuth. (S. 12*.) 

lla. Ellen (Bremen), St. Jürgen-Asyl für Geistes- und Nerven¬ 

kranke. Bericht für 1916. Dir.: Prof. Dr. Delbrück. 
(S. 14*.) 

llb. Ellikon a. d. Thur, Trinkerheilstätte. Bericht für 1916. 

(S. 22*.) 

12. Friedmatt (Basel), Kantonale Heil- und Pflege-Anstalt. 

Bericht für 1916. Dir.: Prof. Dr. G. Wolff. (S. 23*.) 

13. Gabersee, Oberbayer. Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 

1916. Dir.: K. Med.-Rat Dr. Dees. (S. lg.) 

14. Herborn , Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1916. 

Dir.: San.-Rat Dr. R. Snell. (S. 12*.) 

15. Herisau, Appenzell-Außerrhodische Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1916. Dir.: Dr. A. Keller. (S. 22*.) 

16. Hördt, gemeinsame Irrenpflegeanstalt. Bericht für 1916/17. 

Dir.: Dr. Haberkant. (S. 17*.) 

17. Kaufbeuren, Heil- und Pflegeanstalten. Bericht über die 

Jahre 1914, 1915 und 1916. Dir.: K. Medizinalrat Dr. 
Prinzing. (S. 18*.) 

18. Königsfelden (Aargau), Kantonale Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1916. Dir.: Dr. Frölich. (S. 24*.) 

19. Kreuzburg O.-Schl., Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Be¬ 

richt für 1916. Dir.: Dr. Linke. (S. 10*.) 

20. Lewenberg, Kinderheim zu Schwerin. Großherzogi. Heil- und 

Pflegeanstalt für geistesschwache Kinder. Bericht für 
1916/17. Dir.: Dr. Rust. (S. 14*.) / 

21. Lindenhaus bei Lemgo, Fürstl. Lippische Heil- und Pflege¬ 

anstalt. Bericht für 1916. Dir.: Med.-Rat Dr. W. Alter. 
(S. 16*.) 

22. Luzern, Hilfsverein für arme Irren des Kantons. Bericht 

für 1916. (S. 25*.) 


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S n c 11, Anstaltswesen und Statistik. 


23. Mariaberg, Kgl. Württemberg. O.-A. Reutlingen, Heil- und 

Pflegeanstalt für Schwachsinnige. Bericht für 1916/17. 
Anstaltsarzt: Med.-Rat Dr. Burkarth. (S. 20*.) 

24. Münsterlingen, Thurgauische Irrenanstalt. Bericht für 1916. 

Dir.: Dr. H. Wille. (S. 23*.) 

25. Neustadt in Holstein, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1916/17. Dir.: San.-Rat Dr. Dabeistein. 

(S. 10*.) 

26. Niedernhart in Linz, Oberösterreichische Landes-Irrenanstalt. x 

Bericht für 1915/16. Dir.: San.-Rat Dr. Schnopfhagen. 

(S. 20*.) 

27. Rheinprovinz, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten. Bericht 

für 1916/17. Düsseldorf: Der Landeshauptmann der 
Rheinprovinz. (S. 13*.) 

28. Rockwinkel bei Bremen, Sanatorium für Nerven- und Gemüts¬ 

kranke. Bericht für 1916. Dir.: Dr. Walter Benning. 

(S. 15*.) 

29. Roda, Genesungshaus und Martinshaus. Berichte für 1916. 

Dir.: Med.-Rat Dr. Schäfer. (S. 15* u. 16*.) 

30. Schleswig (Stadfeld), Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt 

Bericht für 1916/17. Dir.: Prof. Dr. Kirchhoff. 

(S. 10*.) 

31. Schleswig (Hesterberg), Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt 

für Geistesschwache. Bericht für 1916/17. Dir.: Dr. 
Zappe. (S. 11*.) 

32. „Steinmühle ,t Obererlenbach, Arbeitslehr-Kolonie und Beob¬ 

achtungsanstalt. Bericht für 1916/17. (S. 12*.) 

33. St. Getreu zu Bamberg, Städtische Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1914, 1915 u. 1916. Dir.: Dr. A. Bott . 

(S. 19*.) 

34. St. Pirminsberg, Heil- und Pflegeanstalt b. St. Gallen. 

Bericht für 1916. Dir.: Dr. Haeberlin. (S. 23*.) 

35. Stephansfeld, Bezirksheilanstalt. Berichte für 1915/16 und 

1916/17. Dir.: San.-Rat Dr. Ransohoff. (S. 17*.) 

36. Strecknitz-Lübeck, Anstalt des Lübischen Staates für Ner¬ 

vöse und Geisteskranke. Dir.: Dr. Wattenberg. (S. 15*.) 

37. Tannenhof bei Lüttringhausen (Rheinland), Evangelische 


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8* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

Heil- und Pflegeanstalt für Gemüts- und Geisteskranke. 
Bericht für 1916/17. Leit. Arzt: Dr. Beelitz . (S. 14*.) 

38. Valeriusplein te Amsterdam, Geneeskundig Verslag van de 

Psychiatrische en Neurologische Kliniek over het Jaar 
1916. Dir.: Dr. Bouman. (S. 24*.) 

39. Waldhaus (Chur), Kantonale Irren- und Krankenanstalt. 

Bericht für 1916. Dir.: Dr. Jörger. (S. 21*.) 

40. Wehnen , Großherzogi. Oldenburgische Heil- und Pflegeanstalt. 

Bericht für 1916. Dir.: Ober-Med.-Rat Dr. Brümmer. 
(S. 16*.) 

41. Weilmünster , Landes-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht für 

1916/17. Dir.: San.-Rat Dr. Lantzius-Benniga. (S. 11*.) 

42. Wernigerode-Hasserode, „Zum guten Hirten “, Erziehungs¬ 

anstalt für schwach- und blödsinnige Mädchen. Bericht 
für 1916/17. (S. 16*.) 

43. Westfalen, Allgemeiner Bericht über die westfälischen An¬ 

stalten für Geisteskranke. Geschäftsjahr 1916. (S. 11*.) 

44. Wil, St. Gallen, Kantonales Asyl. Bericht für 1916. Dir.: 

Dr. Schiller. (S. 22*.) 

45. Zürich, Schweizerische Anstalt für Epileptische. Bericht für 

1916. Ärztl. Dir.: Dr. Ulrich. (S. 22*.) 

' Die Städtische Irrenpflege zu Berlin (4) hatte im Etatsjahre 1916zu 
verzeichnen einen Gesamtanfangsbestand von 7961 (3973 m. 3988 w.) Pat., Gesamt¬ 
schlußbestand 7211 (3430 m. 3781 w.), bei einer um 185 P. geringeren Durchschnitts¬ 
zahl als im Vorjahre. 

Im einzelnen ist dem Berichte zu entnehmen für: 

Dalldorf: Anfangsbestand 2628 (1242 m. 1386 w.). Zugang 754 (380 m. 
374 w.). Abgang 978 (494 m. 484 w.). Bleibt Bestand 2404 (1128 m. 1276 w.), 
davon in der Hauptanstalt 1161 (620 m. 541 w.), Heil- und Erziehungsanstalt 186 
(129 m. 57 w.), Privatanstalten 761 (230 m. 531 w.), Familienpflege 2% (149 m. 
-147 w.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 362 (107 m. 255 w.), para¬ 
lytischer 165 (115 m. 50 w.), Seelenstörung mit Epilepsie 16 (9 m. 7 w.) und mit 
Hysterie 12 (3 m. 9 w.), Idiotie, Imbezillität 156 (79 m. 77 w.), chronischem Al¬ 
koholismus 33 M., Morphinismus 2 M.; zur Beobachtung 38 (32 m. 6 w.), davon 
12 Heeresangehörige. Mit dem Strafgesetz in Konflikt 37 m. 9 w. Unter den Neu¬ 
aufnahmen gewohnheitsmäßig dem Alkohol ergeben 33, gegen 62 i. J. 1915 und 144 
i.J. 1914. Entlassen geheilt, gebessert 284 (157 m. 127 w., ungeheilt 155 (70 m. 
85 w.), davon an Straf- und Besserungsanstalten abgegeben 5 m. 1 w., zur Unter¬ 
suchungshaft zurück 16 m. 3 w.; aus der Beobachtung entlassen insgesamt 35 (3t m. 
4 w.). Gestorben 504 (236 m. 268 w.), davon an Altersschwäche 15 (4 m II w.). 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


9* 


Erschöpfung 185 (96 m. 89 w.), Schwindsucht 52 (25 m. 27 w.). Todesfälle 1915 = 
547 (185 m. 162 Fr.). 

Herzberge: Anfangsbestand 1661 (837m.824w.). Zugang991 (628m.363w.) 
Abgang 1192 (779 m. 413 w.). Bleikt Bestand 1460 (686 m. 774 w.) t davon in Privat¬ 
anstalten 266 (39 m. 227 w.), Familienpflege 114 (70 m. 44 w.). Vom Zugang litten 
an einfacher Seelenstörung 570 (296 m. 274 w.), paralytischer 156 (98 m. 58 w.) f 
Seelenstörung mit Epilepsie 48 (32 m. 16 w.), und Hysterie 12 (7 m. 5 w.), Idiotie, 
Imbezillität 51 (46 m. 5 m.), chron. Alkoholismus 120 M. 1 Fr.; zur Beobachtung 33 
(29 m. 4 w.), davon 23 Heeresangehörige. Mit dem Strafgesetz im Konflikt 340 
(307 m. 33 w.) t gewohnheitsmäßiger Alkohol mißbrauch bei 232 M. Entlassen 
geheilt, gebessert 650 (572 m. 78 w.) # ungeheilt 142 (39 m. 103 w.), davon an Straf- 
und Besserungsanstalten abgegeben 27 (22 m. 5 w.). Gestorben 364 (139 m. 225 w.), 
davon infolge Altersschwäche 58 (10 m. 48 w.), Erschöpfung 53 (20 m. 33 w.), Herz¬ 
schwäche 124 (86 m. 38 w.). 

Buch: Anfangsbestand 2274 (1108 m. 1166 w.). Zugang 724 (432 m. 292 w.). 
Abgang 946 (609 m. 337 w.). Bleibt Bestand 2052 (931 m. 1121 w.), davon in Privat¬ 
anstalten 681 (355 m. 326 w.) f Familienpflege 244 (133 m. 111 w.). Vom Zugang 
litten an einfacher Seelenstörung 367 (157 m. 210 w.), paralytischer 105 (73 m 
32 w.), Seelenstörung mit Epilepsie 14 (12 m. 2 w.), und Hysterie 8 (2 m. 6 w.) f 
Idiotie, Imbezillität 103 (64 m. 39 w.), chronischen Alkoholismus 122 (120 m. 
2 w.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt 235 (219 m. 16 w.), gewohnheitsmäßiger 
Alkoholmißbrauch bei 122 (120 m. 2 w.). Geheilt, gebessert entlassen 355 (235 m. 
120 w.), ungeheilt 92 (50 m. 42 w.), an Straf- und Besserungsanstalten abgegeben 
4 M., zur Untersuchungshaft zurück 5 M.; nach Beobachtung entlassen 6 (5 m. 

1 w.). Gestorben 475 (311 m. 164 w.), davon infolge Altersschwäche 25 (13 m. 
12 w.) # Erschöpfung 13 (10 m. 3 w.), Herzschwäche 344 (226 m. 118 w.). 

Wuhlgarten: Anfangsbestand 1398 (786 m. 612 w.). Zugang 469 (339 m. 
130 w.). Abgang 572 (440 m. 132 w.). Bleibt Bestand 1295 (685 m. 610 w.), davon in 
Privatanstalten 9 Fr., Familienpflege I M. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstö¬ 
rung 3 M., paralytischer 7 (4 m. 3 w.), Seelenstörung mit Epilepsie 402 (285 m. 117 w.) 
und Hysterie 31 (26 m. 5 w.). Idiotie, Imbezillität 9 (4 m. 5 w.), chron. Alkohol ismus 
17 M. Bestraft waren von 339 aufgenommenen Männern 218 = 697 S v. H., davon 
mit Arbeitshaus 15= 6 g / 9 %, Haft I7V*%, Gefängnis 145 = 667«%» Zuchthaus 
20 = 9 3 /,%. Unter den 285 aufgenommenen an Epilepsie leidenden M. = 177 
Trthker, an 23 Hysterie leidenden = 7, an Hystero-Epilepsie leidenden = 2 Tr., 
insgesamt 186 Trinker. Unter den 117 epileptischen Frauen = 2 Trinkerinnen. 
Erbliche Belastung der an Epilepsie, Hysterie und Hysteroepilepsie leidenden, 
hauptsächlich Abstammung von trunksüchtigen Eltern, bei 155 M. = 51*4%, 
40 Fr. = 25 3 / 4 % f 5 Kn. I9 l 4%, 4 Md. = 30V 4 %. Erbliche Belastung durch 
Trunksucht eines oder beider Erzeuger bei 64 M. = 21%%. 9 Fr. = 8%, 1 Md. = 
7 ,/ *%, anßerdem Familienanlage bei 95 M. = 31 4 /?%, 18 Fr. = 16%, l Md. = 
7V 0 . Entlassen geheilt, gebessert 361 (274 M. 87 Fr.). Gestorben 211 (166 m. 
45 w.), davon infolge Altersschwäche 3 (I m 2 w.), Erschöpfung 42 (38 m. 4 w.), 
im epileptischen Anfall 19 (15 m. 4 w.), Zustand 7 (3 m. 4 w.), Lungenentzündung 64 


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10* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


(46 m. 18 w., Lungentuberkulose 20 (17 m. 3 w.). — Gesamtmortalität der An¬ 
stalten 14,26% der Verpfl. — Gesamtausgabe für sämtliche Anstalten: 8638098,49 
M., davon Kriegsausgaben: 331 407,80 M. 

Breslau (6): Anfangsbestand 151 (68 m. 83w.). Zugang 532 (256 m. 276 w.). 
Abgang 587 (287 m. 300 w.). Bleibt Bestand 96 (37 m. 59 w.), hiervon in Familien¬ 
pflege 14 P. Poliklinik seit Kriegsausbruch geschlossen. Vom Zugang litten an einfach 
erworbenen Psychosen 202 (98 m. 104 w.), konstitutionellen Psychosen 167 (127 m. 
40 w.), epileptisch-hysterischen Formen 124 (87 m. 37 w.), alkoholischen u. a. toxi¬ 
schen Psychosen 92 (67 m. 25 m.), an Delir, pot. wurden überhaupt behandelt 58, 
an paralytischen, senilen und sonstigen organischen Geisteskrankheiten litten vom 
Zugang 177 (104 m. 73 w.). Entlassen geheilt sind 63= 10,7% des Abgangs, 
gebessert 191 = 32,05%, ungeheilt 208 = 35,4%, davon nach andern Anstalten 
überwiesen 120; gestorben sind 110= 18,8%. — Gesamtausgabe: 294 420,06 M. 

Kreuzburg, 0.-Schles. (19): Anfangsbestand 618 (344 M. 274 Fr.). Zugang 
108 (56 M. 52 Fr.). Abgang 185 (105 M. 80 Fr.). Bleibt Bestand 541 (295 M. 
246 Fr.), davon in Familienpflege 24 (6 M. 18 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher 
Seelenstörung 76 (32 M. 44 Fr.), paralytischer 12 (10 M. 2 Fr.), Epilepsie mit Seelen¬ 
störung 9 (5 M. 4 Fr.), Idiotie, Imbezillität 6 (5 M. 1 Fr.); zur Beobachtung 4 M. 
Mit dem Strafgesetz in Konflikt II M. 2 Fr.; erbliche Belastung nachweisbar bei 
19 M. 17 Fr.; Trunksucht Krankheitsursache bei 2 M., Syphilis 8 M. 3 Fr. Krank¬ 
heitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 13 (5 M. 8 Fr.) 3—6 Monate 24 (II M. 
13 Fr.). I Jahr 14 (8 M. 6 Fr.), 2-5 Jahre 15 (8 M. 7 Fr.), mehr als 5 Jahre 17 (9M 
8 Fr.), seit Kindheit 7 (5 M. 2 Fr.). Entlassen aus der Beobachtung 3 P., geheilt 
17 (10 M. 7 Fr.), gebessert II (5 M. 6 Fr.), imgeheilt 75 (43 M. 32 Fr.), davon 
nach andern Anstalten 58 (33 M. 25 Fr.). Gestorben 79 (43 M. 36 Fr.) = 14,02% 
der Verpfl. (im Vorj. 7,9%). davon an Tuberkulose 18, Gehirnerweichung 12, Epi¬ 
lepsie 9, Altersschwäche 11, Erschöpfung, Entkräftung 9. Reservelazarett 80 Betten. 

Neustadt i. Holstein (25): Anfangsbestand 1033 (582 M. 451 -Fr.). Zugang 
236 (149 M. 87 Fr.). Abgang 358 (245 M. 113 Fr.). Bleibt Bestand 911 (486 M. 
425 Fr.), hiervon in Familienpflege 55 (13 M. 42 Fr.). Von den Aufgenommenen 
litten an einfacher Seelenstörung 118 (75 M. 43 Fr.), paralytischer Seelenstörung 33 
(25 M. 8 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 50 (25 M. 25 Fr.), Epilepsie mit 
und ohne Seeienstörung 17 (13 M. 4 Fr.), Hysterie 6 Fr., Neurasthenie 1 Fr., Al¬ 
koholismus 7 M. Zur Beobachtung aufgenommen 4 (3 M. I Fr.). Von den Auf¬ 
genommenen waren Vorbestrafte 18 M. = 12%, Unruhige M. 4%, Fr. 3,4%, 
Unreine 2,8 u. 3,4%, Erblichkeit vorliegend bei 10 u. 10,4%, Potus 18 M. = 12%, 
1 Fr. Im festen Haus verpflegt 36 Kr., davon 1 M. als nicht geisteskrank begut¬ 
achtet, 5 M. zur Feststellung der Strafvollzugsfähigkeit, davon 3 nicht strafvollzugs¬ 
fähig. Entlassen geheilt 7 (4 M. 3 Fr.), gebessert 49 (27 M. 22 Fr.), ungeheilt 34 
(22 M. 12 Fr.), davon nach andern Anstalten 14 (9 M. 5 Fr.). Gestorben 267 
(191 M. 76 Fr.), davon an Lungenschwindsucht 5, Lungen- und Darmtuberkulose 3 
Gehirnerweichung 29, Herzmuskelentartung 59, Erschöpfung 45, Altersschwäche 20, 
Darmkatarrh 46. — Gesamtausgaben: 848 737,46 M. 

Schleswig, Stadtfeld (30): Anfangsbestand 1236 (603 M. 633 Fr.). Zugang 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


11 * 


523 (305 M. 218 Fr.). Abgang 690 (403 M. 287 Fr.). Bleibt Bestand 1069 (505 M. 
564 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 382 (205 M. 
177 Fr.), paralytischer Seelenstörung 43 (39 M. 4 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 
24 (13 M. 11 Fr.), Imbezillität, Idiotie 71 (46 M. 25 Fr.), Delir, potat. 1 M., nicht 
geisteskrank 1 M. I Fr. Unter den Krankheitsursachen Familienanlage bei 147 
(55 M. 92 Fr.), deprim. Gemütsaffekte (Krieg) 77 (55 M. 22 Fr.), Alkoholismus 19 
(18 M. 1 Fr.), Lues 40 (37 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung von Zivilbehörden einge¬ 
wiesen 4 M. 4 Fr. Aus der Kieler Klinik aufgenommen 46 M. 18 Fr., aus den Privat¬ 
anstalten 22 M. 25 Fr., an diese wieder abgegeben 27 M. 29 Fr. Entlassen gebeilt 
72 (36 M. 36 Fr.), gebessert 149 (77 M. 72 Fr.). Gestorben 278 (161 M. 117 Fr.), 
davon infolge tuberkulöser Erkrankung 47, Paralyse 31, Darmkatarrh, Herzschwäche, 
allgemeine Erschöpfung 104, Altersschwäche 23. Unter den Aufnahmen 119 Militär¬ 
personen, davon 13 Kriegsgefangene. — Gesamtausgaben 1 173 099,07 M. 

Schleswig, Hesterberg (31): Anfangsbestand 441 (252 M. 189 w.). Zugang 
66 (48 m. 18 w.). Abgang 116 (74 m. 42 w.). Bleibt Bestand 391 (226 m. 165 w.). 
davon in Familienpflege 5 männi. Zöglinge. Vom Zugang litten an Idiotie 34 (24 m. 
10 w.), Schwachsinn 28 (21 m. 7 w.), Epilepsie 2 (1 m. 1 w.), Kretinismus 2 m. 
Entlassen gebessert 9 (6 m. 3 w.), nicht gebessert 61 (36 m. 25 w.). Gestorben 46- 
(32 m. 14 m.). Schulbesuch am Ende des Berichtsjahres 55 Kn., 43 Md. — Gesamt¬ 
ausgaben 337 695,27 M. 

Heilanstalten der Provinz Westfalen (43): Gesamtanfangsbestand 5651 Kr. 
Zugang 1850. Abgang 2205. Bleibt Bestand 5296, weniger gegen das Vorjahr 
um 355. Gestorben 889 = 11,85% (mehr gegen das Vorjahr 4,9%) der Verpflegten. 

Krankenbewegung in den einzelnen Anstalten: 


| Anfangs- ! 
j bestand ! 

Zugang 

Abgang j 

1 Bleibt 
Bestand 

in Familien 
pflege 

Entlassen 

*» heüt bessert 

[ Gestorben: 

i 0 o der 
Anzahl | verpfl. 

Marsberg 

; 624 

119 

152 

591 

i. Vorj. 

; 14(16) 

! 22 

27 

80 

10,77 

Lengerich 

1 882 

217 

284 

815 ] 

[ 196 (196) 

1 27 

88 

106 

9,83 

Münster 

676 

539 

553 

662 

22(19) 

1 50 

213 

71 

5,84 

Aplerbeck 

724 

282 

357 

649 

! 19(20) 

46 

77 

128 

12,72 

Warstein 

1447 

3% 

373 

1470 

109(105) 

70 

75 

194 

10,53 

Eickelborn 

! 1298 

297 

486 

1109 

! 100(91) 

36 

73 

308 

19,31 


Unterhaltungskosten p. a. und pro Kopf eines Kranken (ohne die Ausgaben 
für Verzinsung, Tilgung, landwirtschaftliche und Werkstättenbetriebe usw.) in 
Marsberg 638,68 M. (i. Vorj. 625,32 M.), Lengerich 605,45 M. (580,08 M.), Münster 
670,80 M. (684,34 M.), Aplerbeck 840,06 M. (656,26 M.). Warstein 588, 33 M. 
(551,50 M.). Eickelborn 485„54 M. (456,79 M.). 

Weilmünster (41): Anfangsbestand 879 (430 M. 449 Fr.). Zugang 132 
(67 M. 65 Fr.). Abgang 281 (170 M. 111 Fr.). Bleibt Bestand 730 (327 M. 403 Fr.). 
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 87 (38 M. 49 Fr.), paralytischer- 
Seelenstörung 7 (5 M. 2 Fr.), Epilepsie 13 (8 M. 5 Fr.), Hysterie I M. 1 Fr., Im¬ 
bezillität, Idiotie 17 (9 M. 8 Fr.), Alkoholismus 4 M.; nicht geisteskrank 2 M. (be- 


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12* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


obachtet). Krankheitsdauer vor der Aufnahme unter 3 Monaten 39 (20 M. 19 Fr.) 
von 3—6 Monaten 17 (8 M. 9 Fr.), über 6 Monate 74 (37 M. 37 Fr.). Erblich 
belastet 69 (29 M. 40 Fr.), durch Trunksucht der Eltern 2! (13 M. 8 Fr.). Alkohol - 
mißbrauch bei II M. Mit dem Strafgesetz Konflikte 21 (19 M. 2 Fr.). Entlassen 
109 (73 M. 36 Fr.), davon geheilt 16 (10 M. 6 Fr.), gebessert 54 (32 M. 22 Fr.) 
ungeheilt 38 (30 M. 8 Fr.); nicht geisteskrank 1 M. Gestorben 172 (97 M. 75 Fr.) 
davon infolge Tuberkulose 65 (34 M. 31 Fr.), Altersschwäche 26, Kräfteverfall 19. 

Herborn (14): Anfangsbestand 538 (248 M. 290 Fr.). Zugang 145 (73 M 
72 Fr.). Abgang 255 (137 M. 118 Fr.). Bleibt Bestand 683 (321 M. 362 Fr.). Vom 
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 79 (30 M. 49 Fr.), paralytischer Seelen¬ 
störung II (6 M. 5 Fr.), Imbezillität, Idiotie 16 (10 M. 6 Fr.),'Seelenstörung mit 
Epilepsie 12 (9 M. 3 Fr.), Hysterie 8 (2 M. 6 Fr.), Alkoholismus 18 (15 M. 3 Fr.); 
nicht geisteskrank (zur Beobachtung) I M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme 
bis 3 Monate 15 (6 M. 9 Fr.), 3—6 Monate 23 (11 M. 12 Fr., mehr als 6 Monate 95 
(50 M. 45 Fr.), Dauer unbekannt bei 11 (5 M. 6 Fr.). Erbliche Belastung durch 
Nerven- oder Geisteskrankheiten in der Familie 45 (24 M. 21 4*Y.), Alkoholismus 
der Eltern 15 (9 M. 6 Fr.), früherer Alkoholismus zugegeben bei 18 (15 M. 3 Fr.) 
Unter den Ursachen für Ausbruch der Geistesstörung an erster Stelle wiederum 
erbliche Belastung, dann Greisenalter (Zuführung zahlreicher seniler Erkrankungen 
aus der Frankfurter Anstalt), psychische,, mit dem Kriege zusammenhängende Ur¬ 
sachen, Alkoholisten erheblich zurückgegangen (Zeitumstände). Mit dem Straf¬ 
gesetz Konflikte 31 M. = fast die Hälfte der Aufgenommenen, 5 Fr. Entlassen 
genesen 3 Fr., gebessert 36 (21 M. 15 Fr.), ungebessert 43 (30 M. 13 Fr.). Gestorben 
173 (86 M. 87 Fr.), davon infolge Altersschwäche 16, Erschöpfung 73, Paralyse 51. 
Tuberkulose 6. 

Eichberg (10): Anfangsbestand 696 (353 M. 343 Fr.). Zugang 133 (87 M. 
46 Fr.). Abgang 243 (157 M. 86 Fr.). Bleibt Bestand 586 (283 M. 303 Fr.), davon 
in Familienpflege 57 (26 M. 37 Fr.), verpflegte Militärpersonen 22. Vom Zugang 
litten an einfacher Seelenstörung 86 (49 M. 37 Fr.), paralytischer Seelenstörung 11 
(10 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie 9 (7 M. 2 Fr.), Epilepsie 7 (3 M. 4 Fr.), Hysterie 
1 Fr., Alkoholismus ‘9 M., psychopath. Konstitution, postapopl. Demenz je 2 M 
Morphinismus I Fr.; nicht geisteskrank 5 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme 
bis zu 3 Monaten 26 (12 M. 14 Fr.), 3—6 Monate 17 (13 M. 4 Fr.), mehr als 6 Monate 
77 (52 M. 25 Fr.), Dauer unbekannt bei 8 (5 M. 3 Fr.). Erbliche Belastung durch 
Nerven- und Geisteskrankheiten in der Familie bei 46 (27 M. 19Fr ), Alkoholismus 
der Eltern 10 (8 M. 2 Fr.); Alkoholmißbrauch bei 9 M. Mit dem Strafgesetz Kon¬ 
flikte 32 (28 M. 4 Fr.). Beobachtungen auf Grund Gerichtsbeschlusses 5, davon 
unter § 51 StGB, gestellt 3. Entlassen genesen 3 Fr., gebessert 50 (27 M. 23 pr.), 
ungebessert 50 (35 M. 15 Fr.), nicht geisteskrank 5 M. Gestorben 135 (90 M. 
86 Fr.), davon infolge Paralyse 5 (4 M. 1 Fr.), Tuberkulose 22 (10 M. 12 Fr.), Lungen¬ 
entzündung 27 (19 M. 8 Fr.), Marasmus, Altersschwäche 42. 

r„Steinmühle“-Obererlenbach (32): Anfangsbestand36 Zögl.(i.Vorj.26) 
Zugang 58 (39). Abgang 55 (29). Bleibt Bestand 39. Unter den Aufnahmen 76 
im Alter von 12—16 J. Zweck der Anstalt: Beobachtung und Arbeitserziehung 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


13* 


Von 286 seit 1908 in der Anstalt verpflegten Zöglingen zum Heeresdienst eingezogen 
und bewährt ca. 45. — Gesamtausgaben 87 150.11 M. 

Rheinprovinz (27): Gesamtanfangsbestand 7567 Kr. Zugang 4252. Ab¬ 
gang 5138. Bleibt Gesamtbestand 6681. 

In den einzelnen Anstalten: 

Andernach: Anfangsbestand 623 (346 M. 277 Fr.). Zugang 384 (246 M. 
138 Fr.). Abgang 549 (368 M. 181 Fr.). Bleibt Bestand 458 (244 M. 234 Fr. 

Bedburg-Hau Anfangsbestand 1786(953 M. 833 Fr.). Zugang 369 (198 M. 
171 Fr.). Abgang 599 (357 M. 242 Fr.). Bleibt Bestand 1556 (794 M. 762 Fr.). 

Bonn: Anfangsbestand 987 (519 M. 468 Fr.). Zugang 878 (511 M. 367 Fr.) 
Abgang 972 (594 M. 378 Fr.). Bleibt Bestand 893 (436 M. 457 Fr.). 

Düren: Anfangsbestand 708 (353 M. 355 Fr.). Zugang 189 (100 M. 89 Fr.). 
Abgang 253 (103 M. 150 Fr.). Bleibt Bestand 644 (350 M. 294 Fr.). 

Galkhausen: Anfangsbestand 849 (425 M. 424 Fr.). Zugang 637 (350 M 
287 Fr.). Abgang 683 (381 M. 302 Fr.). Bleibt Bestand 803 (394 M. 409 Fr.). 

Grafenberg: Anfangs bestand 887 (499 M. 388 Fr.). Zugang 979 (678 M 
301 Fr.). Abgang 1015 (710 M. 305 Fr.). Bleibt Bestand 851 (467 M. 384 Fr.). 

Johannistal: Anfangsbestand 906 (484 M. 422 Fr.). Zugang 364 (173 M. 
191‘Fr.). Abgang 487 (256 M. 231 Fr.). Bleibt Bestand 783 (401 M. 382 Fr.). 

Merzig: Anfangsbestand 765 (402 M. 363 Fr.). Zugang 445 (289 M. 156 Fr.) 
Abgang 570 (393 M. 177 Fr.). Bleibt Bestand 640 (298 M. 342 Fr.). 

Brauweiler: Anfangsbestand56 M. Zugang7. Abgang 10. BleibtBestand53. 
Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 2939 (1640 M. 1299 Fr.), 
paralytischer Seelenstörung 461 (347 M. 114 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 435 
(283 M. 152 Fr.), Epilepsie 72 (37 M. 35 Fr.), davon waren in Johannistal unterge- 
gebracht 59 (27 M. 32 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 199 (120 M. 79 Fr.), 
Delirium potat. 40 (38 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank waren 106 (87 M. 19 Fr.) 
Vererbte Anlage bei 407 M. 498 Fr. = 21,2% der Aufgenommenen (im Vorj. 
17,9%); Mißbrauch geistiger Getränke in 309 Fällen (200 M. 109 Fr.) = 7,2% 
des Zugangs (im Vorj. 7,1%). Mit dem Strafgesetz in Konflikt gewesen 340 (291 M. 
41 Fr.) = 8% des Zugangs (im Vorj. 6,2%). Unmittelbar aus Strafhaft eingeliefert 
124 P. (im Jahre 1908 = 300, 1909 = 247. 1910 = 191,1911 = 166, 1912 223, 

1913 = 211, 1914=161, 1915=112). In den'3 Bewahrungshäusern wiederum 
fast alle Plätze besetzt, in Bedburg-Hau sogar Oberbelegung: 62 Kr. bei 58 Plätzen. 
Von den Verpflegten geheilt oder gebessert entlassen in Andernach 23,4% bei 
38,1% Aufnahmen, Bedburg-Hau 7,3% : 17,1%, Bonn 22,6% : 473%. Düren 
17,32% :31,6%, Galkhausen 21,2% :42,9%, Grafenberg 20,05% :51,4%, Jo¬ 
hannistal 15,3% : 29,1%, Merzig 17,7% : 36,7%, Brauweiler 4,5%: 11,1% 
Vorstehende Prozentsätze durchweg höher als vor dem Kriege. Prozentsatz der 
Aufnahmen gewachsen durch Zuweisung zahlreicher geisteskranker Soldaten, da 
bei diesen hauptsächlich akute Störungen, stieg der Prozentsatz an Heilungen und 
Besserungen entsprechend der Heilungstendenz; größte Steigerung in Düren und 
Andernach: 7 bzw. 10%. Selbstmordfälle mit tätlichem Ausgang 2 (im Vorj. 9). 
Entweichungen 118. Nicht geisteskrank 124 Verpflegte. An Tuberkulose litten 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


14* 

von den in den Anstalten Verpflegten 189 (80 M. 109 Fr.) = 2,5% (1,7% M. 
2,7% Fr.) gegen 0,9% (0,5% M. 1,6% Fr.) im Vorj. Höchster Prozentsatz Ander¬ 
nach mit 57%, geringster = Grafenberg, 0,4% (im Vorjahre Galkhausen mit 
0,3%). Von den Tuberkulosen und Tuberkuloseverdächtigen i. g. 223 (98 M. 
125 Fr.) starben 144 =1,1% der Verpflegten. Höchste Zahl der Tuberkulosen in 
Bedburg-Hau (19,8%) und Merzig (20,2%), niedrigste Grafenberg (1,9%). Ins¬ 
gesamt starben von II 918 in den 9 Anstalten Verpflegten 1785 = 15,1% (im Vorj. 
von 12851 Verpfl. 1156 = 9%, mehr demnach gegen das Vorjahr = 6.1%), davon 
starben infolge Paralyse 17% = 6,6% Paralytiker weniger als im Vorjahre. Typhus 
in Andernach (2 Todesfälle) und Bonn. Ruhr wiederum epidemisch in Galkhausen 
(erkrankt 49 M. ,16 Fr., 7 Pflegefr., 11 M. starben). In den Anstalts- und neueinge¬ 
richteten Reservelazarettabteilungen wurden aufgenommen 1060 verwundete, 1264 
körperlich kranke, 3990 geisteskranke Soldaten einschl. 432 Kriegsgefangener. 
Gestorben 62. Am Schluß des Berichtsjahres noch in Verpflegung insgesamt 1605 
Mil.-P.— Gesamtausgaben: 7 677474,41 M. Verpflegungs- und Unterhaltungskosten 
pro Kopf und Kranken 2,50 M., im Vorj. 1,95 M. 

Tannenhof b. Lüttringhausen (37): Anfangsbestand 521 (257 M. 264 Fr.). 
Zugang 211 (73 M. 138 Fr.). Abgang 263 (124 M. 139 Fr.). Bleibt Bestand 469 
(207 M. 262 Fr.). Entlassen genesen 35 (II M. 24 Fr.), gebessert 45 (19 M. 26 Fr.), 
ungeheilt 39 (14 M. 25 Fr.), davon zurückgenommen 28 (11 M. 17 Fr.), überführt 
nach anderen Anstalten 9 (2 M. 7 Fr.), entlassen nicht geisteskrank 2. Gestorben 142 
(78 M. 64 Fr.) = 19,4% der Verpflegten (in normalen Zeiten 5—7%). Infolge 
Paralyse starben 24 (22 M. 2 Fr.), Lungen- und Darmtuberkulose 9 (4 M. 5 Fr.). 
Typhus, epidemisch, 20 Erkr. 4 .Todesfälle. — Im Kriegslazarett 80 Neuaufnahmen 
zum Bestand von 27, Entlassungen 81, davon dienstfähig 40. 

Lewenberg, Schwerin (20): Anfangsbestand 262 (155 m. 107 w.), Zugang 
24 (13 m. II w.). Abgang 27 (18 m. 9 w.). Bleibt Bestand 259 (150 M. 109 w.). 
Entlassen geheilt 6 (5 m. 1 w.), ungebessert 8 (5 m. 3 w.). Gestorben 27 (18 .9 w.) = 
9,44% der Verpflegten (im Vorj. 9,66%), davon an Tuberkulose 4. Tuberkulose¬ 
verdächtig fast die Hälfte der Kinder (Untersuchung nach V. Pirquet). Schulunter¬ 
richt 26,92%, Handfertigkeitsunterricht 27,41% der Verpflegten. 

Alsterdorfer Anstalten (I). Anfangsbestand 981 (533 m. 448 w,). Zugang 
114 (64 m. 50 w.), davon Minderjährige 75 (45 m. 29 w.). Abgang 124 (88 m. 36 w.) 
Bleibt Bestand 971 (509 m. 462 w.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie, 
Kretinismus 77 (40 m. 37 w.), Epilepsie 36 (23 m. 13 w.), Chorea 1 m. Vom Gesamt¬ 
bestand behaftet mit Erbsyphilis 18 (12 m. 6 w.), Lungen- und Unterleibsschwind¬ 
sucht 40 (33 m. 7 w.). Gestorben 69, davon infolge Tuberkulose 27. Durchschnitt¬ 
liche Sterblichkeit der Schwachsinnigen öM-mal größer als die geistig Normaler. 

Ellen (Bremen), St. Jürgen-Asyl (11): Anfangsbestand 582 (292 M. 290 Fr.). 
Zugang 490 (311 M. 179 Fr.). Abgang 429 (257 M. 172 Fr.). Bleibt Bestand 643 
(346 M. 297 Fr.), davon in Familienpflege 174 (93 M. 81 Fr.). Vom Zugang litten 
an Imbezillitas 27 (14 M. 13 Fr.), konstitutionellen Formen 27 (23 M. 4 Fr.), manisch- 
depressiven Formen 76 (23 M. 53 Fr.), Schizophrenie und paranoiden Formen 125 
(76 M. 49 Fr.), Hysterie 37 (31 M. 6 Fr.), akuten hysterischen Störungen nach Kriegs- 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


15* 


erlebnissen 7 M., Fuguezuständen (bei Soldaten) 6 M., Fieber- und Inanitiorts- 
delirien 4 M., alkohol. Geisteskrankh. 14 (12 M. 2 Fr.), Morphinismus I M. I Fr., 
Epilepsie 37 (25 M. 12 Fr.), davon 3 mit Alkoholismus, senilen und arterioslder. 
Formen 51 (23M. 28 Fr.,) apoplekt. Irresein 5(4 M. 1 Fr.), Paralyse 62 (53 M. 9 Fr.), 
• Lues cerebri 3 (2 M. I Fr.), multipl. Sklerose 2 M., Basedow, Chorea degen. je I M.; 
nicht geisteskrank 3 M. Entlassen aus der Beobachtung 20 = 4,66% der Verpfl., 
geheilt 10,72%, gebessert 33,33%, ungeheilt 24,71%. Gestorben 114 = 26,57%. 
Reservelazarett mit 60 Betten. 

Rockwinkel b. Bremen (28): Anfangsbestand 36 (18 H. 18 D.). Zugang 77 
(23H.54D.). Abgang 75 (25 H. 50 D.). Bleibt Bestand 38 (15 H. 23 D.). Von 
den Aufgenommenen litten an manisch-depressivem Irresein 2 H. 8 D., Dementia 
praecox 3 D., Melancholie 2 H. 12 D., Paranoia I H. 5 D., Amentia 1 H., Hysterie 
I H. 7 D., Neurasthenie 2 H. 8 D., Alkoholismus I H. 2 D., Dementia senilis 3 D., 
Dem. paralytica 4 H., Dementia arteriosclerotica 3 H., Taboparalyse, Lues cerebri 
je I H., Apoplexie 1 D., Epilepsie, Chorea I H. 1 D., Degeneratio, Imbezillitas 2 H. 
1 D., Diabetes 1 H.; nicht krank 3 D. Entlassen geheilt, gebessert 47. Gestorben 
12, in eine andere Anstalt überführt 6 Kr. 

Strecknitz-Lübeck (36): Anfangsbestand 332 (170 M. 162 Fr.). Zugang 
135 (75 M. 60 Fr.). Abgang 170 (96 M. 74 Fr.). Bleibt Bestand 297 (149 M. 148 Fr.) 
Von den Aufgenommenen litten an Psychosen bei gröberer Hirnerkrankung I M. 

1 Fr., Psychosen bei körperl. Erkr. 2 M. 4 Fr., Lues cerebri und Tabespsychosen 

2 M., progr. Paralyse 13 M. 2 Fr., senile und präsenile Psychosen 2 M. 8 Fr., Hebe- 
phrenie 26 M. 26 Fr., epiiept. Psych. 2 M. 3 Fr., Melancholie 4 Fr., man.-depr. 
Irresein 1 M. 1 Fr., Hysterie 4 M. 2 Fr., Neurasthenie 2 Fr., Paranoia, paranoide und 
querulatorische Pers. I M. 2 Fr., psychopathische Pers. 11 M. I Fr., Debilitas und 
Imbezillität 2 M. 2 Fr., Idiotie 1 Fr.; nicht geisteskrank bzw. psychopathisch 3 M. 
Erblich belastet von den Neuaufgenommenen 26,26%, vom Bestände 46,38% 
Krankheitsursachen der Neuaufgen. erbliche Belastung überhaupt bei 14 M. 22 Fr., 
Trunksucht 10 M. 1 Fr., Syphilis 4 M. 1 Fr., Verletzung 3 M. 1 Fr., nicht nach¬ 
weisbar bei 44 M. 35 Fr. Entlassen geheilt 18 (8 M. 10 Fr.), gebessert 45 (35 M 
10 Fr.), ungeheilt 27 (10 M. 17 Fr.), nicht geisteskrank 6 M. Gestorben 74 (37 M 
37 Fr.), davon infolge Paralyse 9 M. 2 Fr. — Gesamtausgaben: 405 041,69 M. 

Roda, Genesungshaus (29): A. Abt. f. Geisteskranke: Anfangsbestand 439 
(231 m. 208 w.). Zugang 189 (93 m. 96 w.). Abgang 262 (152 m. 110 w.). Bleibt 
Bestand 366 (172 m. 194 w.), davon in Familienpflege 35. Vom Zugang litten an 
einfacher Seelenstörung 129 (52 m. 77 w.), paralytischer Seelenstörung 23 (18 m. 
5 w.), Imbezillität, Iditoie, Kretinismus 16 (II M. 5 w.), Epilepsie 14 (8 m. 6 w.), 
Hysterie 2 m. 2 w., andern Krankheiten des Nervensystems 2 m., Alkoholismus I w. 
Erblichkeit nachgewiesen bei 101 (48 m. 53 w.). Alkoholmißbrauch 28(24 m. 4 w.). 
Als Ursachen der Erkrankung erbliche oder familiäre Disposition bei 14 (9 m. 5 w.), 
angeborene 13 (10 m. 3 w.), psychische 40 (14 m. 26 w.). Entlassen 106 (55 m. 59 w.). 
Gestorben 156 (97 m. 59 w.), davon infolge Paralyse 6 (4 m. 2 w.), Tuberkulose 47 
(33 m. 14 w.), Lungen- und Brustfellentzündung 34 (21 m. 13 w.), Darmkatarrhen 
28 (8 m. 20 w.). B. Abt. f. körperl. Kranke: Verpflegt 223 Kr., davon geheilt ent¬ 
lassen 59,19%, verstorben 4,48%. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


Roda, Martinshaus (29): Anfangsbestand88 (47 m.41 w.). Zugang23 (15 m 
8 w.). Abgang 10 (6 m. 4 w.). Bleibt Bestand 101 (56 m. 45 w.). Von den Verpflegten 
litten an Epilepsie 21 (15 Kn. 6 Md.), Chorea 2 Kn., Lähmungen der Hirn nerven 14 
(8 Kn. 6 Md.), der Gliedmaßen 9 (3 Kn. 6 Md.), beider 1 Md., Epilepsie und Lähmun¬ 
gen 4 (3 Kn. I Md.). Erbliche bzw. familiäre Disposition zu Nerven- und Geistes¬ 
krankheiten bei 51 (32 m. 19 w.), Alkoholismus 24 (13 Kn. II Md.), Syphilis 1 Kn. 
2 Md., Tuberkulose 6 (5 Kn. 1 Md.). Schulbesuch von 78 (47 Kn. 31 Md.), Ge¬ 
storben 4, davon infolge Tuberkulose 3. 

Lindenhaus-Lemgo (21): Anfangsbestand 392 (193 M. 199 Fr.). Zugang 
142 (101 M. 41 Fr.). Abgang 193 (106 M.87 Fr.). Bleibt Bestand 341 (188 M. 153 
Fr.). Von den Verpflegten litten an einfacher Seeeinstörung 221 M. 200 Fr., Seelen¬ 
störung nach Syphilis 14 M., Imbezillität, Idiotie 20 M. 24 Fr., Epilepsie 14 M. 
11. Fr, Alkoholismus 15 M. 1 Fr., Hysterie 4 M. 2 Fr., Neurasthenie 3 M. 1 Fr., Ge- 
himkrankheit 1 M.; nicht geisteskrank 2M. I Fr. Durch Erblichkeit zu Geisteskrank¬ 
heiten und Nervenleiden veranlagt38,4%,Trunksucht 17%,Syphilis 2,6%, Tuber¬ 
kulose 6,1 %. Vorbestraft44 M.24 Fr. = 12,7%, aus Fürsorgeerziehung 14 M.6 Fr. = 
3,8%, als Trinker bekannt 75 M. 17 Fr. = 17,2%, tuberkulös 19,2%. Zur Beob¬ 
achtung 2 M. u. 11 Militärpersonen. Entlassen erwerbsfähig 33, gebessert 63, unge- 
heilt 44, entwichen 7. Gestorben 46 = 8,6% der Verpflegten, davon infolge Lungen¬ 
schwindsucht 6, allg. Tuberkulose 1, Selbstmord 1. — Gesamtausgaben der Haupt- 
anstatt 342 326 M. 

„Zum guten Hirten“ Wernigerode-Hasserode (42): Eingetreten 9 Pfl. 
verstorben 2, Gesamtzahl der Pflegl. 50. Von 43 am Jahresschluß anwesenden Zögl. 
beschäftigt 12 Md., Schulbesuch 8, nichtbeschäftigungsfähig 23. — Gesamtausgabe: 
22224,93 M. 

Wehnen (40): Anfangsbestand-351 (190 m. 161 w.). Zugang 120 (62 m. 58 w.). 
Abgang 148 (80 m. 68 w.). Bleibt Bestand 323 (172 m. 151 w.). Vom Zugang litten 
an angeborenem Schwachsinn 3 (2 m. I w.), psychopath. Minderwertigkeit 8 (3 m. 
5 w.), Dementia paralytica 17 (14 m. 3 w.), epilept. Irresein 4 (3 m. 1 w.), Hirn¬ 
erkrankung 5 (2 m. 3 w.), senilem Irresein 6 (I m. 5 w.), man.-depr. Irresein 29 
(11 wm. 18 .), Schizophrenie 37 (18 m. 19 w.), Alkoholismus 5 M., erworbener 
Nervenschwäche, psychogenem, thyreogenem Irresein je I P., syphilitischem, in¬ 
fektiösem Irresein 2 m. 1 w. Zur Beobachtung I m., imbezill, begutachtet 4 P. 
Entlassen geheilt 32 (19 m. 13 w.), gebessert 31 (16 m. 15 w.), ungeheilt 23 (12 m. 
II w.). Gestorben 61 (32 m. 29 w.), davon infolge Lungentuberkulose 11, Para¬ 
lyse II. Sterblichkeit: 12,9% der Verpflegten. Militärpersonen in der Anstalt: 
Anfangsbestand 7. Zugang 12. Entlassen 12. — Gesamtausgaben: 421 022,83 M. 

Bergmannswohl (3).: Anfangsbestand 20 (II Beobachtungs-, 9 Behand¬ 
lungsfälle). Aufnahmen 800 (662 u. 138). Entlassungen 801 (664 u. 137). Bleibt 
Bestand 19 (9 u. 10). Zahl der Verpflegungstage auf einen Kr. durchschnittl. 11,7 
(10,05 im Vorj.), bzw. auf einen abgeschlossenen Beobachtungsfall 5,82 (631 im 
Vorj.), Behandlungsfall 39,21 (4332 im. Vorj). Unter den Diagnosen Nervens- 
schwäche mit 132, Kommotionsneurose 161, Starkstromverletzung 6, Dementia 
traumatica 7, Hysterie 88, Melancholie 3, Hypochondrie 6, Debilitas 14, Epilepsie 19, 


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UMIVERS1TY OF MICHIGAN 



9*nell, Anstallswesen und Statistik. 


17* 


Dement, paralytica 6, Lues cerebrospin. 4, Tabes 7, multiple Skleroae II, Syringo¬ 
myelie 8, progressive Muskelatrophie 3, Einzelfälle von Seelenstörung, man.-depr. 
Irresein, Imbezillität, Idiotie, Dementia praecox, Poriomanie, Alkoholismus (I) 
usw., 1 Rentenkampfneurose, Querulanten 2. Außer den Beobachtungs- und Be¬ 
handlungsfällen erstattete Gutachten 108. — Bergmannswohl als Vereinslazarett: 
Übernommen aus dem Vorjahre 109 Militärkranke. Neuaufnahmen 382 (376 im 
Vorj.). Entlassungen 401 (368 im Vorj.), meist zu den Ersatztruppenteilen. 

Stephansfeld (35): Anfangsbestand 1915 = 1000 (436 M. 564 Fr.). Zugang 
365 (228 M. 137 Fr.). Abgang 344 (211 M. 133 Fr ). Bleibt Bestand für 1916 = 
1021 (453 M. 568 Fr.). Zugang 329 (159 M. 170 Fr.). Abgang 375 (205 M. 170 Fr.) 
Bleibt Bestand 975 (407 M. 568 Fr.). Vom Zugang 1915 litten an einfacher Seelen¬ 
störung 221 (112 M. 109 Fr.), paralytischer Seelenstörung 49 (42 M. 7 J*Y.), sonstigen 
organischen Psychosen 13.(8 M. 5 Fr.), Epilepsie, Hysterie 40 (31 M. 9 Fr.), Idiotie, 
Imbezillität 26 (20 M. 6 Fr.), Alkoholismus 10 M.; nicht geisteskrank 6 (5 M. 1 Fr.), 
davon zur Beobachtung 3 M. 1 Fr. Unter den Aufgenommenen 92 Heeresangehörige, 
2 russische Gefangene, 4 Kr. aus den besetzten Gebieten, Zur Beobachtung im 
Strafverfahren 7 M. 1 Fr. Entlassen genesen 37 (23 M. 14 Fr.), gebessert 124 (79 M 
45 Fr.), ungeheilt 16 (9 M. 7 Fr.), in andere Anstalten überführt 61 (37 M. 24 Fr.), 
aus der Beobachtung und nicht geisteskrank 12 (11 M. I Fr.). Gestorben 94 (in den 
Vorjahren 84 und 85), davon infolge Tuberkulose 25 (8 M. 17 Fr.), Paralyse 26 
(23 M. 3 Fr.). — Im Jahre 1916 befanden sich unter den Aufnahmen 29 Heeres¬ 
angehörige, 2 russische Kriegsgefangene, 1 M. 2 Fr. aus besetzten Gebieten. Zur 
Beobachtung im Strafverfahren eingewiesen 4 M. 2 Fr. Entlassen genesen 53 (25 M. 
28 Fr.), gebessert 108 (67 M. 41 Fr.), ungeheilt 111 (53 M. 68 Fr.), davon nach 
anderen Anstalten 93, nach Frankreich 10. Gestorben 98 (57 M. 41 Fr.)= 7,3% 
der Verpflegten, davon an Tuberkulose 19 (3 M. 16 Fr.), infolge progr. Paralyse 27 
(25 M. 2 Fr.). Kruppöse Lungenentzündung epidemisch (22 Todesfälle an Er¬ 
krankungen der Atmungsorgane). — Gesamtausgabe 1915: 777154,88 M.; 1916: 
975463,63 M. 

Hördt (16): Anfangsbestand 483 (292 M. 191 Fr.). Zugang 164 (100 M. 
64 Fr.). Abgang 176 (109 M. 67 Fr.). Bleibt Bestand 473 (285 M. 188 Fr.), davon 
im Verwahrungshaus 41 M. Krankheitsformen der Aufgenommenen: Dementia 
praecox bzw. paranoides bei 88 (48 M. 40 Fr.), einfache Melancholie 9 (5 M. 4 Fr.), 
manisch-depressives Irresein II (4 M. 7 Ff*), angeborener Schwachsinn 11 (4M. 
7 Fr.), Idiotie 5 M., epil. Demenz 16 (14 M. 2 Fr.), traumat. Epilepsie, hyster.Seelen¬ 
störung je 1 M., chron. Alkohol ismus 8 M., senile Demenz 2 M. 2 Fr., Demenz bei 
mult. Sklerose 1 M., Hirnlues 2 Fr., progr. Paralyse I M., Paranoia 2 M., psychop. 
Zustände 3 M.; nicht geisteskrank I M. Entlassen 4 M. Gestorben 170 (103 M. 
67 Fr.), davon infolge tuberkulöser Erkr. 29 M. 23 Fr., Lungenentzündung 25 M. 
9 Fr., Herzschwäche 12 M. 10 Fr., Darmkatarrh 6 M. 2 Fr., 2 Typhusbazillen¬ 
träger. — Gesamtausgaben 339 904,59 M. 

Eglfing(9): Anfangsbestand 1239 (611 M. 628 Fr.). Zugang 433 (192 M. 
241 Fr.). Abgang 489 (256 M. 233 Fr.). Bleibt Bestand 1183 (547 M. 636 Fr.). 
87,52% der Aufn.aus München, aus der Psych. Klinik überführt 169 (71 M. 98 Fr.), 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. b 


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18* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


von dort polizeilich eingewiesen 179 (70 M. 109 Fr.), sonst polizeilich eingewiesen 5 
(I M. 4 Fr.), gemäß § 81 StrPO. 3 M. 2 Fr., § 656 CPO. 2 M. 5 Fr. Vom Gesamt¬ 
zugang litten an traumat. Hirnerkr. 2 M., Morph. I M., Alkoholismus 12 (10 M. 

2 Fr.), Lues, Tabopsychose 1 M. 1 Fr., progr. Paralyse 63 (49 M. 14 Fr.), senilen, 
präsenilen Erkr. 12 (I M. II Fr.), arterioskl. Erkr. 12 (4 M. 8 Fr.), Dem. praecox 
144 (57 M. 87 Fr.), paranoiden Schwachsinnsformen 2f (8 M. 13 Fr.), Epilepsie 
16 (10 M 6 Fr.), man.-depr. Zuständen u. Psych. 100 (29 M. 7l F.), Haftpsychosen 

3 M., paranoide, querulat. Pers., Paranoia 4 (2 M. 2 Fr.), Psychopathie 6 M. 1 Fr., 
Imbezillität, Debilität 11 (3 M. 8 Fr.), Idiotie I M. 2 Fr.; nicht geisteskr. 3 M. 
Entlassen genesen 1 M. 1 Fr., gebessert 161 (47 M. 114 Fr.), ungebessert 105 (87 M. 
18 Fr.), davon nach anderen Anstalten 83 (66 M. 17 Fr.). Gestorben 252 (117 M. 
100 Fr.) = 12,98% des Gesamtbestandes, davon infolge Tuberkulose 59 (31 M. 
28 Fr.), Paralyse 49 (39 M. 10 Fr.). Durchschnittsbestand des R.-L. Eglfing 134 M. — 
Gesamtausgabe: 1 739 779,69 M., davon für gemeinsam-techn. Betneb Eglfing und 
Haar 308 674,40 M. 

Gabersee (13): Anfangsbestand 828 (426 M. 402 Fr.). Zugang 213 (88 M. 
125 Fr.). Abgang 191 (78 M. 113 Fr.). Bleibt Bestand 850 (436 M. 414 Fr.). Vom 
Zugang] litten an einfacher Seelenstörung 161 (50 M. III Fr.), paralytischer Seelen¬ 
störung 17 (11 M. 6 Fr.), Imbezillität, Idiotie u. Kret. 11 (8 M. 3 Fr.), Epilepsie 8 
(6 M. 2 Fr.), Alkoholismus 8 (6 M. 2 Fr.). Erblichkeit nachgewiesen bei 79 (29 M 
50 Fr.), Alkohol mißbrauch 9 (7 M. 2 Fr.). Polizeilich wegen Sicherheitsgefährdung 
eingewiesen 44% des Zugangs (im Vorj. 32%). Heeresangehörige aufgenommen 13, 
davon entlassen zur Heimat 3. Entlassen vom Gesamtbestand genesen 21 = 11% 
des Abgangs, gebessert 30,4%, ungebessert zum Teil nach andern Anstalten 12,1%, 
nicht geisteskrank 1%. Gestorben 87 (39 M. 48 Fr.) = 10,3% des Durchschnitts¬ 
bestandes, 8,4% des Gesamtbestandes (im Vorj. 10,7 u. 8,8%), davon infolge Tuber¬ 
kulose 27, Paralyse 11. — Gesamtausgabe 920 332,87 M. 

Kaufbeuren (17): Anfangsbestand 1914 = 791 (401 M. 390 Fr.). Zugang 
453 (248 M. 205 Fr.). Abgang 440 (229 M. 211 Fr.). Bleibt Bestand 804 (420 M. 
384 Fr.). Zugang 1915 = 424 (227 M. 197 Fr.). Abgang 497 (287 M 210 Fr.). 
Bleibt Bestand 731 (360 M. 371 Fr.). Zugang 1916 = 345 (175 M. 170 Fr.). Abgang 
440 (220 M. 220 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1916 = 636 (315 M. 321 Fr.). Durch¬ 
schnittliche Belegung: 1914 = 811 Kr., 1915 = 799,2, 916 = 650,9. Zur Beob¬ 
achtung eingewiesen 1914 = 10 M. 5 Fr., 1915 = 10 M. 3 Fr., 1916 = 3 M. 2 Fr.; 
aus Strafanstalten 3,2 u. 2 Gef., als gemeingefährlich eingewiesen 65,66 u. 55 Pers. 
Heeresangehörige aufgenommen insges. 107, noch in der Anstalt 5. — Von den Zu¬ 
gängen 1914—16 (Anstaltskranke) litten an traumat. Hirnerkr. 3 P., Psychosen bei 
gröberer Hirnerkr. 5 P„ Alkoholismus 1914 = 40 M., 1915 = 26 (24 M. 2 Fr.), 
1916= 15 (14 M. 1 Fr.), Psych. bei körperl. Erkr. 1914—16= 14 P., Lues- u. 
Tabespsychosen 5 P., progr. Paralyse 1914 = 23 (19 M. 4 Fr.), 1915 = 37 (28 M. 
9 Fr.), 1916 = 31 (21 M. 10 Fr.), senilen, präsen. Erkr. 1914 = 29 (15 M. 14 Fr.), 
1915= 19(11 M. 8 Fr.), 1916= 16 (8 M. 8 Fr.), arterioskl. Erkr. 1914-16= 12 P., 
Kretinismus 2 P., Dem. praecox 1914= 118 (76 M. 42 Fr.), 1915 = 97 (48 M. 
49 Fr.), 1916 = 97 (38 M. 59 Fr.), paranoiden Schwachsinnsformen 1914= 15 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


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(3 M. 12 Fr.), 1915 = 8 (5 M. 3 Fr.), 1916 = 7 (4 M. 3 Fr.), Epilepsie 1914 = 8 
(6 M. 2 Fr.), 1915 = 8 (5 M. 3 Fr.), 916 = 9 M., man.-depr. Veranlagungen u. 
Psych. 1914= 117 (28 M. 89 Fr.), 1915= 115 (29 M. 86 Fr.). 1916 = 80(18 M. 
62 Fr.), Hysterie 1914 = 11 Fr., 1915 = 20 Fr., 1916 = 1 M. 15 Fr., Haft- u. Emo- 
tionspsychosen insges. 8 P., paranoide, querulat. Pers., Paranoia 10,5 u. 4 P., Psycho¬ 
pathie 17,4 u. 9 P.. Imbezillität. Debil. 1914 = 22 (11 M. 11 Fr.), 1915 = 11 (7 M. 
4 Fr.),' 1916 = 10 (6 M. 4 Fr.); unklar insges. 3 P.; nicht geisteskrank usw. 86 M. 
4 Fr. 'Von den 107 aufgen. Heeresangehörigen litten an Paralyse 8, man.-depr. 
Irresein 16, Dem. praecox 41 — 383% —, Hysterie 7, Alkoholismus 2, Psycho¬ 
pathie 13, Imbezillität 4, Epilepsie 4 usw. Von den Anstaltskranken entlassen ge¬ 
nesen u. gebessert 1914 = 21,5%, 1915=17,5%, 1916=15,8% des Gesamt¬ 
bestandes, von den Heeresangehörigen 73 M. Gestorben 1914 = 6,1%, 1915 = 
7,4%, 1916 = 73% des Gesamtbestandes, Heeresangehörige 2 M n infolge Lungen¬ 
tuberkulose starben insgesamt 21, Paralyse 54; 1 Selbstmord,. 2 Unglücksfälle in den 

3 Berichtsjahren. — Pflegeanstalt Irrsee Anfangsbestand 1914 = 270 (125 M. 
145 Fr.). Zugänge 13,24 u. 21 P. Schlußbestand 1916 = 239 (102 M. 137 Fr.) 
Gestorben 14,16 u. 28 P., davon i. J. 1916 an Ruhr und Tuberkulose 43%. — Nach 
der 1915 eröffneten Anstalt. Günzburg bis Ende 1916 überführt 224 (HO M. 
124 Fr.). — Gesamtausgaben: Kaufbeuren 1914 = 810339,85 M., 1915 = 
88220034 M., 1916 = 960518,52 M.; Jrrsee 1914 = 258143,93 M.; 1915 = 
281 922,88; 1916 = 309499,46 M. 

Bamberg, St. Getreu (33): 1914 = Anfangsbestand 152 (67 M. 85 Fr.) 
Zugang 65 (32 M. 33 Fr.). Abgang 75 (36 M. 39 Fr.). Bleibt Bestand 142 (63 M 
79 Fr.). Zugang 1915 = 58 (25 M. 33 Fr.). Abgang 64 (28 M. 36 Fr.). Bleibt Bestand 
136 (60 M. 76 Fr.). Zugang 1916 = 60 (21 M. 39 Fr.). Abgang 57 (20 M. 37 Fr.). 
Bleibt Bestand Ende 1916 = 139 (61 M. 78 Fr.). Von den Aufgenommenen litten 
i. J. 1914 an Tumor des Gehirns I M., Alkoholpsychosen 1914 = 6 (5 M. 1 Fr.) 

1915 = 3 M., 1916 kein Pat., Kollapszustand 1916 = 1 Fr., Psychosen bei körperl. 
Erkr. 1914 = 1 M. 1 Fr., progr. Paralyse 1914 = 1 M. 2 Fr., 1915 =1 M. 2 Fr, 

1916 = 2 M. I Fr., senilem Schwachsinn 1914 = 1 M. I Fr., 1915 = 1 Fr., 1916 = 

2 M., arterioslder. Erkr. 1914 = 2 M., senilem Verfolgungswahn 1915=1 M. 
Dementia praecox 1914 = 11 (6.M. 5 Fr.) v 1915= 10 (5 M. 5 Fr.), 1916 = 7 (3 M. 

4 Fr.) paranoiden Schwachsinnsformen 1914 = 5 (1 M. 4 Fr.), 1915 = 6 (2 M. 
4 Fr.), 1916 = 9 (2 M. 7 Fr.), genuiner Epilepsie 1914 = 3 Fr., 1915 = 5 (2 M. 

3 Fr.), 1916 = 3 (1 M. 2 Fr.), manisch-depr. Psychosen 1914 = 19 (8 M. 
11 Fr.), 1915= 12 (I M. 11 Fr.), 1916 = 20 (3 M. 17 Fr.), hyster. Erkr. 1914 
= 4 (I M. 3 Fr.), 1915 = 5 (2 M. 3 Fr.), 1916 = 4 (1 M. 3 Fr.), traumat. 
Neurosen 1914= 1 M., 1916= 1 M, Einotionspsychosen 1914= 1 M. 2 Fr, 

1915 = 1 M. 2 Fr, 1916 = 2 M. 1 Fr, Haftpsychosen 1915 = 1 M, Paranoia 
1915= 1 M„ 1916= 1 Fr, Psychopathie 1914 = 2 M, 1915 = 5 (4 M. I Fr.). 

1916 = 4 M, Imbezillität 1914= 1 M, 1915 = I M. 1 Fr, 1916 = 2 Fr, Erb¬ 
liche Belastung 1914 = in 19 Fällen, 1915 = 19, 1916 = 19, Lues 1914 = 4, 
1905 = 3, 1916 = 3, Alkoholmißbrauch 1914 = 9, 1915 = 3, 1916 = 0. Entlassen 
geheilt, gebessert 1914 = 45, 1915 = 37, 1916 = 35. Gestorben 1914=16, 1915 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


= 13,1916= 17 = ca. 7% der Verpfl.— Gesamtausgaben: 1914= 14200,91 M* 
1915 = 157 942,07 M.. 1916 = 201 240,86 M. 

Bayreuth (2): Anfangsbestand 662 (364 M. 296 Fr.). Zugang 282 (209 M. — 
165 Heeresangehörige — 73 Fr.). Abgang 330 (230 M. — 163 Heeresangehörige — 
100 Fr.). Bleibt Bestand 614 (343 M. 271 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher 
Seelenstörung 189 (142 M. 47 Fr.), paralytischer 14 (12 M. 2 Fr.), Seelenstörung 
mit Epilepsie u. Hysteroepilepsie 33 (31 M. 2 Fr.), anderen Krankheiten des Nerven¬ 
systems 31 (14 M. 17 Fr.), Imbezillität 11 (6 M. 5 Fr.), Alkoholismus 3 M.; nicht 
geisteskrank 1 M. Erbliche Belastung bei 55,5% (52,8% M. 63% Fr.). Alkohol 
mißbrauch 17,78%. Zur Beobachtung und Begutachtung eingewiesen 7 M. I Fr, 
'distriktspolizeilich 39 (17 M. 22 Fr.). Entlassen genesen 22,18%, gebessert 36,47% 
ungebessert 17,62%; hiervon nach andern Anstalten (Kutzenberg 25) überführt 45. 
Gestorben 23,7% des Abgangs (78 P. — 33 M. 45 Fr. —), davon an Tuberkulose 
25,6% (23% im Vorj.). — Gesamtausgabe 640433,90 M. 

Mariaberg (23): Bestand vom 1.7. 16= 181 (131 m. 50 w.). Eingetreten 
sind 10 (7 m. 3 w.), somit verpflegt 191. Ausgetreten sind 5 m. Gestorben 4(3 m. 

1 w.). Bleibt Bestand 182 Pfl. Am Schulunterricht nahmen teil 54; arbeitsfähige 
Erwachsene 68; bildungs- u. arbeitsunfähige Pfl. 60. Gesundheitszustand wiederum 
sehr günstig. — Gesamtausgaben: 16624136 M. 

Niedernhart i. Linz (26): Anfangsbestand 1915 = 953 (444 M. 509 Fr.) 
Zugang 353 (180 M. 173 Fr.). Abgang 386 (204 M. 182 Fr.). Bleibt Bestand für 
.1916 = 920 (420 M. 500 Fr.). Zugang 1916 = 400 (210 M. 190 Fr.). Abgang427, 
247 M. 180 Fr.). Schlußbestand Ende 1916 = 893 (383 M. 510 Fr.). Vom Zugang 
m den beiden Berichtsjahren litten an Idiotie, Imbezillität 22 (20 M. 2 Fr.) u. 22 

12 M. 10 Fr.), einfacher Geistesstörung: Melancholie 13 (2 M. 11 Fr.) u. 28 (15 M. 

13 Fr.), Manie 7 (1 M. 6 Fr.) u. 11 (4 M. 7 Fr.). Amentia 12 (9 M. 3 Fr.) u. 27 
(22 M. 5 Fr.), Paranoia 27 (13 M. 14 Fr.) u. 22 (12 M. 10 Fr.), Psychosis peri- 
odica) 40 (14 M. 26 Fr.) u. 47 (14 M. 33 Fr.), Dementia 116 (51 M. 65 Fr.) u. 126 
(57 M. 69 Fr.), progressive Paralyse 50 (42 M. 8 Fr.) u. 47 (33 M. 14 Fr.), kom¬ 
plizierte Geistesstörung: mit Epilepsie 23 (19 M. 4 Fr.) u. 34 (21 M. 13 Fr.), Hysterie 
17 Fr. u. 11 (2 M. 9 Fr.), Neurasthenie 7 (4 M. 3 Fr.), mit Herderkrankung 3 (1 M. 

2 Fr.) U. 2 (1 M. 1 Fr.); Alkoholismus 10 (9 M.4 Fr.) u. 14 (13 M. 1 Fr.); nicht 
geisteskrank 6 (4 M. 2 Fr.) u. 2 (I M. I Fr.), zur Beobachtung 1916 = 1 M. Erb¬ 
liche Belastung 1915 bei 110, 1916 bei 108, Alkoholmißbrauch 14 (13 M. 1 Fr.) u. 
17 (16 M. 1 Fr.), Syphilis-Krankheitsursache bei 38 (34 M. 4 Fr.) u. 27 (22 M. 5 Fr.). 
Aus Strafhaft aufgenommen 34 u. 29. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 
I Monat bei 76 (30 M. 46 Fn) u. 66 (23 M. 43 Fr.), bis zu 3 Monaten 64 (15 M. 
39 Fr.) u. 83 (43 M. 40 Fr.), 6 Monate 33 (23 M. 10 Fr.) u. 55 (40 M. 15 Fr.), 
I Jahr 44 (23 M. 21 Fr.) u.45 (24 M. 21 Fr.). 2 Jahre 15 (6 M. 9 Fr.) u. 16 (10 M. 
6 Fr.) mehr als 2 Jahre 115 (69 M. 46 Fr.) u. 132 (68 M. 64 Fr.). Geheilt entlassen 
31 (9 M. 22 Fr.) u. 41 (4 M. 37 Fr.), nach anderen Anstalten 13 (9 M. 4 Fr.) u. 
33 (22 M. 11 Fr.), sonstige Eptlassung 178 (99 M. 79 Fr.) u. 167 (114 M. 53 Fr.). 
Gestorben 164 (87 M. 77 Fr.) u. 186 (107 M. 79 Fr.), davon infolge Lungentuber¬ 
kulose 31 (II M. 20 Fr.) u. 53 (22 M. 31 Fr.), progressiver Paralyse 50 (34 M. 


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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik. 


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16 Fr.) u. 39 (33 M. 6 Fr.). Typhuserkrankungen 1915 : 39 (34 Pfl., 4 Personal), 
1916: 41 (37 Pfl. 4 Schwestern), darunter 7 Paratyphusfälle, an Typhus verstorben 
16 u. 7 Pfl. 

Bernische Anstalten (5): Waldau, Anfangsbestand 858 (427 M. 431 Fr.) 
Zugang 191 (98 M. 93 Fr.). Abgang 193 (107 M. 86 Fr.). Bleibt Bestand 856 
(418 M. 438 Fr.). Krankheitsformen der Auf genommenen: Angeborene Störungen 
4 (3 M. 1 Fr.), konstitutionelle 6 (2 M. 4 Fr.), erworbene einfache Störungen 128 
(52 M. 76 Fr.), darunter Verblödungsformen 98 (43 M. 55 Fr.), paralytische, senile, 
organische Störungen 23 (15 M. 8 Fr.), epileptische Störungen 8 (7 M. 1 Fr.), 
Intoxikationspsychosen 18 (16 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank 4 (3 M. 1 Fr.) Ge¬ 
richtlich begutachtet 10 M.; davon 5 für die Militärgerichte. Entlassen genesen 25 
(13 M. 12 Fr.) — 12,95% der Entlassungen, 2,38% des Gesamtbestandes. Ge¬ 
storben 59 (32 M. 27 Fr.) = 5,62% des Gesamtbestandes, davon infolge Tuber¬ 
kulose 13. — Münsingen: Anfangsbestand 857 (406 M. 451 Fr.), Zugang 183 
(94 M. 89 Fr.), Abgang 172 (92 M. 80 Fr.). Bleibt Bestand 868 (408 M. 460 Fr.), 
davon in Familienpflege'53 (18 M. 35 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen 
Störungen 8 (6 M.2 Fr.), konstitutionellen 31 (16 M. 15 Fr.), erworbenen einfachen 
Störungen 102 (42 M. 60 Fr.), paralytischen, senilen, organischen Störungen 20 
(12 M. 8 Fr.), epileptischen 2 M., Intoxikationspsychosen 6 (4 M. 2 Fr.); nicht 
geisteskrank 14 (12 M. 2 Fr.). Erblich belastet 53,6% der Aufnahmen (53,2% M. 
54% Fr.) durch Trunksucht der Eltern 32,7% der Belasteten. Entlassen genesen 
oder wesentlich gebessert 49,6% der Entlassungen, 8,2% der Verpflegten. Gestorben 
56 “(33 M. 23 Fr.) = 5,38% der Verpflegten, seit Eröffnung der Anstalt (1895) 
starben 16% der Verpflegten (4634). Gerichtlich begutachtet 18 Fälle, davon 6 mit 
Zurechnungsfähigkeit. — Bellelay: Anfangsbestand 327 (132 M. 195 Fr.). Zugang 
41 (17 M. 24 Fr.). Abgang 38 (18 M. 20 Fr.). Krankheitsformen der Aufgenomme¬ 
nen: Idiotie, Imbezillität bei 10 (6 M. 4 Fr.), konstitutionelle Psychosen 6 (2 M. 
4 Fr.), erworbene einfache 15 (3 M. 12 Fr.), organische Störungen 7 (4 M. 3 Fr.), 
Alkoholismus chron. 1 M., epileptische Störungen 2 (I M. 1 Fr.); nicht geisteskrank —. 
Entlassen geheilt I M. I Fr., gebessert 3 Fr., ungebessert 1 M. 1 Fr. Gestorben 
31 (16 M. 15 Fr.) — 9 der Verpflegten. — Gesamtausgabe, Waldau: 782 971,05 Frs., 
Münsingen: 728 217,60 Frs., Bellelay: 265 668,67 Frs. 

Waldhaus (39): Anfangsbestand 313 (159 M. 154 Fr.). Zugang 104 (68 M. 
36 Fr.). Abgang 98 (67 M. 31 Fr.). Bleibt Bestand 319 (160 M. 159 Fr.). Vom 
Zugang litten an angeborenen Störungen 8 (7 M. 1 Fr.), erworbenen Störungen, 
einfachen Psychosen 60 (29 M. 31 Fr.), paralytisch-senilen-org. Störungen 12 (II M 
1 Fr.), erworbenen Störungen mit Epilepsie 6 (3 M. 3 Fr.), Intoxikationspsychosen 
9 M.; nicht geisteskrank 6 M. Erblichkeit anzunehmen bei 41 (25 M. 16 Fr.) Ent¬ 
lassen geheilt 14 (10 M. 4 Fr.) — 15,2% des Abgangs, 3,4% der Verpflegten, ge¬ 
bessert 31 (22 M. 9 Fr.), ungebessertl8 (12M. 6 Fr.). Gestorben 29 (18 M. 11 Fr.) = 
6,9% des Gesamtbestandes, l / 3 der Todesfelle: Tuberkulose. — Gesamtausgabe: 
288648,71 Frs. 

Burghölzli (7): Anfangsbestand 399 (194 M. 205 Fr.). Zugang 641 (350 M. 
291 Fr.). Abgang 612 (329 M. 283 Fr.). Bleibt Bestand 428 (215 M. 213 Fr* 


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22* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

•Diagnosen der (rischen Aufnahmen: 480 (272 M. 208 Fr.): Angeborene Psychosen 
bei 23 (12 M. II Fr), konstitutionelle 41 (23 M. 18 Fr.), erworbene idiopathische 
Psych. 229 (92 M. 137 Fr.), davon manisch-depr. Formen 6 (1 M. 5 Fr.), Ver¬ 
blödungsformen 208 (79 M. 129 Fr.); organische Störungen bei 73 (55 M. 18 Fr.), 
epileptische 18 (9 M.9 Fr.), Intoxikationspsychosen 69 (57 M. 12 Fr.), unklar 1 Fr. 
nicht geisteskrank 26 (24 M. 2.Fr.). Entlassen geheilt 30 M. 8 Fr., gebessert 158 M 
168 Fr., ungebessert 91 M. 89 Fr., davon nach anderen Anstalten usw. überführt 
75 M. 113 Fr. Gestorben 44 (28 M. 16 Fr.). Militärpersonen wurden aufgenommen 
24 (im Vorj. 33), Kriegsinvalide 4, davon waren Schizophrene 5, Schwachsinnige I, 
Psychopathen 5, Alkoholiker 3, geistig gesund 10, Simulanten 3. Gutachten a. d. 
Anstalt und der Poliklinik abgegeben 172, davon strafrechtlich 54. Poliklinik besucht 
von 450 neuen Patienten (110 mehr als imVorj.). — Bleuler rügt im Bericht dringlich, 
daß die Anstalt gezwungen ist, jährlich Dutzende von verbrecherischen Kranken 
aufzunehmen, trotzdem sie für derartige Internierte nicht eingerichtet ist! — Ge¬ 
samtausgaben 755 424,87 Frs., davon wirkliche Betriebsausgaben 529 950,70 Fr.; 
Kosten des Verpflegungstages 352,03 R. gegen 329,83 R. im Vorjahre. 

Zürich, Epileptiker-Anstalt (45): Anfangsbestand 285 (164 m. 121 w.). 
Zugang 159 (102 m 57 w.) Abgang 157 (98 m. 59 w.). Bleibt Bestand 287 (168 m. 
119 w ) Genesen 16 (7 m. 9 w.), gebessert hat sich der Zustand bei 36 (18 m. 18 w.), 
davon nach Hause oder anderen Anstalten entlassen 25. Gestorben 4 (2 m. 2 w.). 
Zur Beobachtung waren aufgenommen 75 (54 m. 21 w.), davon litten an Epilepsie 
31, traumatischer Neurose 13, Hysterie 9, Dementia praecox 9, Imbezillität 6, 
Idiotie 2, Melancholie 2, Kretinismus 1, Arteriosklerose, AIkoholismu$ je 1. — An 
Legaten und Gaben sind eingelaufen 64 730,55 Frs. — Betriebsausgaben: 457097,07 Frs. 

Ellikon (11 a): Anfangsbestand 18 Pfl. Zugang33. Entlassungen 26. Schluß- 
bestand 25. An chronischem Alkoholismus litten 15, mit Delirium tremens 3, ab¬ 
ortivem Delirium tremens 1, bei Imbezillität 1, leichter Imbezillität 2, mit Korsa- 
koff 1, schwer disziplinierbarer Charakter 1; periodische Trunksucht mit Delirium I, 
Trunksucht mit pathologischem Rausch 1, mit Dementia praecox 1, schwachem 
Charakter 2, Senilität 1; einfache Trunksucht 2. Von 33 Aufgenommenen erblich 
belastet 13. Die Kurzeit haben durchgeführt 14 Pfl. Aufenthaltsdauer 12 Monate 
bei 13, 9 Monate 1, hiervon abstinent geblieben 12, rückfällig 1, fraglich 1. — Ge¬ 
samtausgabe: 30 275,53 Frs. 

Herisau (15): Anfangsbestand 305 (148 M. 157 Fr.). Zugang 146 (69 M. 
77 Fr.). Abgang 129 (56 M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 322 (161 M. 161 Fr.). Vom 
Zugang litten an angeborenen Psychosen 4 (3 M. 1 Fr.), konstitutionellen Psychosen 
15 (10 M. 5 Fr.), idiopathischen Psychosen, a) manisch-depressivem Irresein 14 
(5 M. 9 Fr.), b) Schizophrenie 80 (31 M. 49 Fr.), c) anderen Formen 2 M. 1 Fr., an 
organischen Psychosen 10 M. 10 Fr., epileptischen Psychosen 7 (6 M. 1 Fr.), In¬ 
toxikationspsychosen 2 M. I Fr. (letztere Pantoponsucht). Geheilt, gebessert ent¬ 
lassen 59,7% der Entlassenen. Gestorben 6% der Verpflegten. — Gesamtausgabe: 
304664,85 Frs. 

Wil (44): Anfangsbestand870 (433 M. 437 Fr.). Zugang 349 (167 M. 182 Fr.). 
Abgang 322 (161 M. 171 Fr.). Bleibt Bestand 897 (449 M. 448 Fr.). Von den Auf- 


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Snell, Anstaltswesen und Statistik. 


23* 


genommenen litten an angeborenen Störungen 27 (14 M. 13 Fr.), konstitutionellen 
23 (14 M. 9 Fr J, einfachen erworbenen Störungen der paralytischen, senilen und 
organischen Gruppe 64 (26 M. 38 Fr.), auf Grundlage der Epilepsie 13 (6 M. 7 Fr.), 
Intoxikationspsychosen 33 (31 M. 2 Fr); nicht geisteskrank 2 M. Körperlich 
Kranke und Altersschwache 66 (34 M. 32 Fr.). Erblichkeit nachweisbar bei 60% 
der aufgenommenen Männer, 43% Fr.; übermäßiger Alkoholgenuß Krankheits¬ 
ursache bei 25 M. 2 Fr. Mit den Strafgesetzen in Konflikt 26 M. = 20% der männl. 
Aufnahmen. 8 gerichtliche Gutachten, davon Anerkennung der Zurechnungs¬ 
fähigkeit in vollem Umfange 2. Entlassen geheilt 34 (II M. 23 Fr.), gebessert 78 
(40 M. 38 Fr.), ungebessert 61 (32 M. 29 Fr.). Gestorben insgesamt 147 (66 M. 
81 Fr.) — 12% der Verpflegten, davon Geisteskranke 10% ihres Bestandes, körper¬ 
liche Kranke und Altersschwache 21% ihres Bestandes; von der Gruppe der paralyti¬ 
schen, senilen und organischen Psychosen entfielen an Todesfällen 44% des Be¬ 
standes dieser Gruppe. — Gesamtausgabe 643 275,80 Frs. 

St. Pirminsberg (34): Anfangsbestand 312 (157 M. 155 Fr ). Zugang 110 
(49 M 61 Fr.). Abgang 105 (43 M. 62 Fr ). Bleibt Bestand 317 (163 M. 154 Fr.). 
Krankheitsformen der Aufgenommenen: Angeborene Psychosen bei 4 (3 M. 1 Fr.), 
konstitutionelle 5 (4 M. 1 Fr.), erworbene einfache Psychosen 88 (33 M. 55 Fr.), 
epileptische — organische Psychosen 7 (3 M. 4 Fr.), Intoxikationspsychosen 6 M. 
Erbliche Belastung der erstmals Aufgenommenen (78) bei 56 = 72%. Kriminelle 
Kranke 1 M. 1 Fr., 2 mit dem Strafgesetz in Konflikt geratene Kr. (1 Querulant, 
I Alkoholiker) bedingt entlassen. Krankheitsdauer vor der Aufnahme, frische Auf¬ 
nahmen (78) bis 1 Monat 35 (14 M. 21 Fr.), 1—3 Monate 12 (3 M. 9 Fr.), 3—6 
Monate 5 (2 M. 3 Fr.), 6-12 Monate 9 (2 M. 7 Fr.), 1-2 Jahre 6 (2 M. 4 Fr.), 
2—5 Jahre 7 (6 M. 1 Fr.), über 5 Jahre 15 (10 M. 5 Fr.). Entlassen genesen 24 
(10 M. 14 Fr.), gebessert 39 (19 M. 20 Fr.), ungebessert 27, davon nach anderen An¬ 
stalten 16. Verhältnis der Genesenen zum Gesamtabgang = 23%, zur ‘Gesamt¬ 
zahl der Verpflegten = 5,9%. Gestorben 15 (4 M. 11 Fr.) = 3,6% des Gesamt¬ 
bestandes. — Gesamtausgabe: 305 642,56 Frs. 

Münsterlingen (24): Anfangsbestand 418 (176 M. 242 Fr.). Zugang 185 
(76 M. 109 Fr ). Abgang 169 (80 M. 89 Fr.). Bleibt Bestand 434 (172 M. 262 Fr.). 
Vom Zugang litten an angeborenen Psychosen 19 (10 M. 9 Fr.), konstitutionellen 
Psych. 15 (7 M. 8 Fr.), erworb. einfachen Psych. a) manisch-depr. 12 Fr., b) Ver¬ 
blödungsformen 80 (30 M. 50 Fr.), c) anderen Formen 5 (2 M. 3 Fr.), organ. Psych. 19 
(8 M. 11 Fr.), davon progr. Paralyse 3 M. I Fr., epilept. Störungen 10 (5 M. 5 Fr.), 
Intoxikat.-Psych. 23 (14 M. 9 Fr.), davon rein alkohol. 20 (12 M. 8 Fr.); nicht geistes¬ 
krank (zur Beobachtung) 2 Fr. Krankheitsdauer vor Aufn. bis 3 Monate bei 48 
(18 M. 30 Fr.), 6 Mor. 10 (4 M. 6 Fr.), bis 1 Jahr 14 (8 M. 5 Fr.). 2-5 Jahre 35 
(18 M. 17 Fr.), über 5 Jahre 46 (23 M. 23 Fr.), angeboren 17 (11 M. 6 Fr.). Ent¬ 
lassen geheilt 14, gebessert 99. Gestorben 10 M. 16 Fr. = 431% der Verpfl., davon 
an Tuberkulose 1 P. — Gesamtausgaben: 354 359,24 Frs. 

- Friedmatt (Basel) (12): Anfangsbestand 292 (135 M. 157 Fr.). Zugang 187 
(90 M. 94 Fr.). Abgang 205 (103 M. 102 Fr.). Bleibt Bestand 274 (122 M. 152 Fr.). 
Vom Zugang litten an Idiotie, Imbezillität 14 (II M. 13 Fr.), konstitut. Psych. 40 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


24* 

(28 M. 12 Fr.),* erworb. einf.'Psych. 87 (23 M. 64 Fr.), paralyt. 15 (10 M. 5 Fr.), 
senilen 8 (5 M. 3 Fr.), anderen organ. Psych. 2 Fr., epilept. 9 (4 M. 5 Fr.), alkohol. 
Psych. II (9 M. 2 Fr.): nicht geisteskrank 1 Fr. Erblichkeit bei 33 M. 55 Fr„ zu 
Trunksucht veranlagt II M. 22 Fr. Krankheitsdauer vor Aufn. bis 1 Monat bei 37 
(14 M. 23 Fr.). 2-3 Monate 19 (4 M. 15 Fr.), 3-12 Monate 16 (4 M. 12 Fr.), 
1—5 Jahre 19 (4 M. 15 Fr.), über 5 Jahre 30 (14 M. 16 Fr.), Dauer unbekannt 66 
(50 M. 16 Fr.). Geheilt entlassen 24 (13 M. 11 Fr.), gebessert 69 (33 M. 36 FrJ. 
Gestorben 28 (14 M. 14 Fr.), davon infolge Tuberkulose 1 M- — Gesamtausgaben: 
498402,80 Frs. 

Königsfelden (18): Anfangsbestand 815 (370 M. 445 Fr.), Zugang 244 
(135 M. 109 Fr.). Abgang 223 (128 M. 95 Fr.). Bleibt Bestand 836 (377 M 459 Fr.). 
Vom Zugang litten an Idiotie, Kretinismus 31 (13 M. 18 Fr.), konstitutionellen, 
originären Formen 12 (8 M. 4 Fr.), einfachen Störungen 125 (62 M. 63 Fr.), organi¬ 
schen Störungen (paralyt., senilen) 29 (17 M. 12 Fr.), epileptischen Störungen 14 
(9 M. 6 Fr.), Intoxikationspsychosen 30 (25 M. 5 Fr.); nicht geisteskrank 1 M I Fr. 
Dauer der Krankheit vor der Aufnahme bei 89 = 1 —3 Monate, bei 15 = 4—6 
Monate, 3 = 7—12 Monate, 35 = I —3 Jahre, 17 = 3—5 Jahre, bei 82 über 5 Jahre, 
2 unbestimmte Dauer. Ursächliches Moment der Erkrankung Alkoholismus bei 
25,9% der Männer, 2,7% Frauen. Erbliche Belastung nachweisbar in 68%. Geheilt 
entlassen 29 M. 14 Fr. Genesung trat ein bei 46% im ersten Vierteljahre, bei 38% 
Dauer der Heilung 4—6 Monate, 3% ein halbes bis ein Jahr, 13% länger als 1 Jahr; 
entlassen gebessert 59 M. 46 Fr., unverändert 20 M. 12 Fr., davon in ein anderes 
Asyl 20 (15 M. 5 Fr.). Gestorben 58 (35 M. 23 Fr.), hauptbeteiligt Lungen- u. 
Darmtuberkulose. Typhusepidemie plötzlich auf getreten, erkrankt 24 Insassen, 
gestorben 4. — Gesamtausgabe: 608 79031 Frs. 

Cery (8): Anfangsbestand 536 (270 M. 266 Fr). Zugang 405 (243 M. 162 Fr.). 
Abgang'423 (252 M. 171 Fr.). Bleibt Bestand 518 (261 M. 257 Fr.). Vom Zugang 
litten an Idiotie 40 (25 M. 15 Fr.), konstitutionellen Psychosen 35 (20 M. 15 Fr.), 
einfachen erworbenen 208 (105 M. 103 Fr.), organischen 63 (42 M. 21 Fr.), epi¬ 
leptischen Psychosen 10 (7 M. 3 Fr.), Alkoholismus und anderen Intoxikationen 41 
(38 M. 3 Fr.); nicht geisteskrank 7 (6 M. I Fr.). Von den aufgenommenen Trunk¬ 
süchtigen litten an akuter Erkrankung 2 M., chronischer 18 (16M. 2 Fr.). Korsakoff- 
psychose 1 M., Delirium tremens 16 M. Erblichkeit nachweisbar unter den erst¬ 
mals Aufgenommenen (290 P.) bei 195, davon auf alkoholistischer Basis 91. Vom 
Gesamtbestand entlassen geheilt 90 (50 M. 40 Fr.), gebessert 127 (77 M. 50 Fr.), 
ungebessert 118 (69 M. 49 Fr.). Gestorben 80 (50 M. 30 Fr.), davon an Tuberkulose 
6 M. 4 Fr. — Gesamtausgabe 780 981,05 Frs. 

Valeriusplein, Amsterdam (38): Neuaufnahmen 435 (229 M. 206 Fr.) 
12 P. mehr als im Vorj. Höchstbezifferte Krankheitsformen: Man^depr. Zustande 
99 (33 M. 66 Fr.), psychopath. Konstitution 25 (18 M. 7 Fr.), Dementia paraiytica 
21 (19 M. 2 Fr.), Dem. praecox 59 (25 M. 34 Fr.), senilis 10 (8 M. 2 Fr.), Hystene 
57 (17 M. 40 Fr.), Neurasthenie 7 M., Epilepsie 11 (5 M. 6 Fr.), Luespsychosen, 
Lues cerebri 9 (5 M. 4 Fr.), Arteriosclerosis cerebri 7 M., Psycbasthenie 11 (5 M, 
6 Fr.), traumat. Neurosen 14 M., alkoholistische Erkr. 5 M. Von 445 Verpfl. geheilt. 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie. 


25* 


gebewert 202. Gestorben 27 (14 M. 13 Fr.). Die Poliklinik von Valeriusplein wurde 
besucht von 334 P. (1915 = 235), die von Ter Haarstraat von 236 P. Anzahl der 
Konsultationen 621. Vorträge im April- und Oktoberkursus. 

Hilfsverein des Kantons Luzern (22): Der Mitgliederbestand hob sich 
gegen das Vorjahr um 249. An Jahresbeiträgen ist mit 11,529 ein Mehr zu verzeichnen 
von 488 Frs- Legate und Gaben gingen ein 23,184 Frs. (im Vorj. 5,525). Unter¬ 
stützungsbeträge wurden verausgabt 18,164 Fr. (im Vorj. 17,638 Frs.). Der Ver¬ 
mögensbestand ist angewachsen auf 238312 (mehr gegen das Vorj. 21337) Frs. 


2. Gerichtliche Psychiatrie. 

Ref.: Karl Wendenburg-Bochum. 

1. Adler, Alfred (Wien), Das Problem der Homosexualität. 

Manchen. E. Reinhardt. 52 S. — 1,20 M. (S. 35*.) 

2. Anton, G. (Halle a. S.), Arzt und Jugendgericht. Psych.- 

neurol. Wschr. Nr. 15/16, S. 89. (S. 32*.) 

3. Anton, G. (Halle a. S.), Gesundheitszeugnisse durch staat¬ 

liche Ärzte behufs Ehebewilligung. Ztschr. f. Kinder¬ 
forschung H. 1. (S. 32*.) 

4. Aschaffenburg (Cöln), Die Pseudologia'phantastica im Kriege. 

Sitzungsbericht. Münch, med. Wschr. Nr. 31, S. 1015. 

5. Baller, Emil (Owinsk), Krieg und krankhafte Geisteszustände 

im Heere. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, H. 1, S. 1. 

6. Birnbaum, Karl (Berlin-Buch), Zur Simulationsfrage geistiger 

Störungen. Arch. f. Kriminologie Bd. 66, H. 1 u. 2. 

7. Boas, Kurt, (Chemnitz), Über das Vorkommen und die fo¬ 

rensische Bedeutung homosexueller Vergehen bei Tabi¬ 
kern. Arch. f. Kriminologie (1917). 

8. Bönheim, Flora, Über Dissimulation. Inaug.-Diss. Königs¬ 

berg u. Arch. f. Psych. Bd. 57, H. 2, S. 457. (S. 33*.) 

9. Bonhoeffer, K. (Berlin), Die Dienstbeschädigungsfrage in der 

Psychopathologie. (Aus: Die militärärztliche Sachver¬ 
ständigentätigkeit a. d. Geb. des Ersatzwesens und der 
militärischen Versorgung.) Jena. G. Fischer. 

10. Bonhoeffer, Gaupp u. a., Die militärärztliche Sachverständi¬ 

gentätigkeit auf dem Gebiete des Ersatzwesens und der 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 



26* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


militärischen Versorgung. I. Teil. 10 Vorträge, ver¬ 
anstaltet unter Förderung der Med. Abt. des Kriegs¬ 
ministeriums, vom 30. Oktober bis 18. Dezember 1916, 
gehalten von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bonhoeffer, Prof. 
Dr. R. Gaupp, Prof. Dr. Kurt Goldstein , Generaloberarzt 
Prof. Dr. A. Köhler , Geh. Med.-Rat Dr. Krückmann, 
Oberstabsarzt Dr. Martinek , Prof. Dr. H. Oppenheim, 
Generalarzt Dr. Schultzen, Oberstabsarzt Prof. Dr. 
Ewald Stier, Stabsarzt Dr. Wätzoldt. Herausgegeben 
vom Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen 
in Preußen, in dessen Auftrag redigiert von Prof. Dr. 
C. Adam, Generalsekretär. Jena 1917. Verlag Gustav 
Fischer. 320 S. — 5 M. 

11. Bostroem, A., Neurologische und psychologische Erfahrungen 

eines Frontarztes. Med. Klin. Nr. 50. (S. 35*.) 

12. Engel, Herrmann (Berlin), Tod durch angeblichen Selbst¬ 

mord, nicht Folge eines 11 Jahre zurückliegenden Be¬ 
triebsunfalls. Ärztl. Sachverst.-Ztg. Nr. 14, S. 161. 
(S. 37*.) 

13. Fehlinger, H. (München), Das englische Gesetz über die Inter¬ 

nierung geistig minderwertiger Personen. H. Groß 
Archiv. Bd. 66, S. 333. 

14. Felisch, Wirkl. Geh. Admiralitätsrat, Ein deutsches Jugend¬ 

gesetz. Berlin. Mittler & Sohn. 72 S. 

15. Gaupp, R. (Tübingen), Die Dienstbrauchbarkeit der Epi¬ 

leptiker und Psychopathen. Die militärärztliche Sach- 
verständigentätigkeit auf dem Gebiete des Ersatzwesens 
und der militärischen Versorgung, red. v. Adam, Verlag 
v. Fischer-Jena. Teil 1, S. 115. 

16. Gaupp, R. (Tübingen), Der Begriff der „überstandenen oder 

bestehenden Geisteskrankheit“ nach Anlage 1 H. 15 und 
die Frage der Dienstbeschädigung und Versorgung der 
Geisteskranken im Heere. Med. Korrespondenzbl. d. 
Württemb. ärztl. Landesverbandes H. 10/11. 

17. Gaupp, R. (Tübingen), Die gerichtsärztliche Beurteilung 

der militärischen Dienstverweigerung aus religiösen 


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I 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



VPendenbutg r Cerjchtlkhe Psychiatrie. 


or?* 


27 


18 . 


Gründen. Sitzungsbericht: Münch, nied. Wschr. Nr. 29. 
S. 950. 

GoUhtein, Kurt (Frankfurt a, M.), Die mildkrarztikhe Sacli- 
verstMigentatigtoil auf dem Gebiete: des Ersatz¬ 
wesens und der militärischen Versorgung bei Hirnver¬ 
letzungen. Sonderdruck aus „Die mihtliriimhehL Sach 


rgk 


19. 

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M; 

23. 

24. 

25. 

20. 
& 
28. 
29. 

■3o; 


u. d. militärischen Versurgvmg''. Hentusgegeben von 
C. AMffl Verlag G, Fischei-km»... 'M S. ('S. 36*.) 
Gregor , .4. ( Leipzig), Ziit mbralisdrer 

Entwicklung und von V<,rwabriosvmgstypeo. Ztschr. L 
Vornumdsdiaftsvv. 8d. % S, 0. 

Gregor, Adalbert (Leipzig), Ober kindliche VetvvahrlosüUg. 

Jahrb. f. Kindcrheilk. Bd. 85. H. 6, S. 41b. 

Gregor, Adalbert (Leipzig)^ Ärztliche Bewertung der Ver¬ 
wahrlosten.. .Me.d. Kfm. Nr, 5 u. 6. S. IÜX n. 137« 
Gregor, Adalbert (Leipzig), Über VmVahrlasUftgstypen. 

Mtschr. f. Psydi. u. Neuml, Bd. 42, H. 1, S, 1. 

Grutde, Haas \V. (Heidelberg), Kriminalpsychoiogiscbc Kasu¬ 
istik. Arch- f. Kriminologie Bd. 68. S. 2. 

Mw. H Frankfurt ä, MX Die miiitiirSrz.tliche - Bewertung. 
der Isolierten Püpillenstaafßv ÜMunch. tned, Wschr. 
Nr. 29. S. m. <3 3b\) 

HastebuHm ^(Ragaz)üKt4inkfett bjdef $ifnuFa.tXori. Koriaisiiort- 
denzbl. f. Schweizer Ärzte Nr..38. 

%dm -u\ *Vv ; * v ^ *? * * '» •*”rV- k- x \ -V- ;■! „\V\ y '|V ff :« v- * , . 

Hauser , hidividualpsytftoiogie und Krimmalpolitik. Zt-schr. 

t Individualpsychol. Nr b - 9. 

Henneberg, R. (Berhn), Aggravation und Simulation. 

Sitzungsbericht • Kerl, kl.in. Wschr, Nr. 28. S. 930. 
Hcnsdid, A.. Der. Fall E r ein Kapitel aus dem irretireclu. 

'Ard!. | Kriminologie Bei. MH. 2. (S. 35*,) 
Hernike-,, Karl (Eickelborn i. WA. Aus der Begutachtung 

psvchottö'tttlstbet: •fesö'rfii.ghi^tälen. GArdu t Psych. 

Bd. 58, $, 635. (S. 33*.) 

Hersclmu;nu, H, (Laibach), Totschlag im p 

Raine/h. Arcli f. Krimino!. Bd. 69, H. 2, iS 33* ) 




28* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

31. Hoche, A. (Freiburg i. B.), Das Berufsgeheimnis des ärztlichen 

Sachverständigen. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 599. 
(S. 32*.) 

32. Horn, Paul (Bonn), Über die Arbeitsfähigkeit bei Unfall¬ 

schädigungen innerer Organe und des Nervensystems. 
Ztschr. f. Gewerbehygiene. Jahrg. 5. 

33. Horstmann, W. (Stralsund), Zur Frage der Gemeingefährlich¬ 

keit geisteskranker Personen. Vjschr. f. ger. Med. u. 
öffentl. Sanitätsw. Bd. 53, H. 2, S. 237. (S. 32*.) 

34. Hübner, A. H. (Bonn), Die strafrechtliche Begutachtung 

Heeresangehöriger. Ärztl. Sachverst.-Ztg. Nr. 11 u. 12, 
S. 121 u. 135. (S. 35*.) 

35. Hübner, A. H. (Bonn), Ein Fall von Homosexualität kom¬ 

biniert mit Masochismus, Koprophagie und Farben¬ 
fetischismus. Neurol. Ztlbl. Nr. 15, S. 617. (S. 33*.) 

36. Hummel, Ed. (Emmendingen), Selbstmord durch Kombina¬ 

tion von Erhängen und Erdrosseln bei Status lymphati- 
cus. Vierteljahrsschr. f. ger. Med. u. öffentl. Sanitätsw. 
Bd. 54, H. 1, S. 165. 

37. Jacobsohn, L., Die Kriminalität der Jugendlichen und ihre 

Verhütung. Mtschr. f. krim. Psych. u. Strafr. Ref. 
Jahrg. 11/12, Schlußhefte. (S. 34*.) 

38. Jansky, J., Simulation der Geisteskrankheit bei einem 

Mörder. Cas. öesk. 16k. vol. 46, p. 43. 

39. Kampschulte, Wilh., Überblick Ober die in den Jahren 1900 

bis 1915 in die Irrenabfeilung der Strafanstalt Münster 
i. W. beobachteten Geistesstörungen. Inaug.-Diss. 
Bonn. 76 S. (S. 34*.) 

40. Klefberg, F., Bidrag tili kännedomen on Simulationen, med 

speziell hänsyn tili försakringsväsende. Hygiea Bd. 79, 
H. 7. 

41. Klein (Elberfeld), Über psychische Störungen in der Unter¬ 

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42. Kobudzinski, Johann, Über Grab- und Leichenschändung bei 

Geisteskranken. Inaug.-Diss. Königsberg. 30 S. 
(S. 33*.) 


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Original fram 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie 29* 

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44. König, H. (Bonn), Beiträge zur Simulationsfrage. Arch. f. 

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45. Lorenzen, Karl, Zur forensischen Bedeutung des pathologi¬ 

schen Rausches. Inaug.-Diss. Kiel. 

46. Marcuse, Max (Berlin), Ein Fall von periodisch alternieren¬ 

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Bd. 41, H. 3, S. 185. 

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beschädigung bei den Psychosen. Arch. Psych. Bd. 57, 
H. 1, S. 209. (S. 36*.) 

48. Meyer, E. (Königsberg i. Pr.), Kriegsdienstbeschädigungen 

bei Psychosen und Neurosen. Sitzungsbericht: Berl. 
klin. Wschr. Nr. 16, S. 398. 

49. Meyer, E. (Königsberg i. Pr.), Kriegsdienstbeschädigung bei 

Psychosen und Neurosen. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 616. 
(S. 35*.) 

50. Meyer, E. (Königsberg i. Pr.), Über Grab- und Leichenschän- 

durng duch Geisteskranke. Arch. f. Psych. Bd. 58, 
S. 779. (S. 33*.) 

51. Meyer, Walter, Zur Frage der Zurechnungsfähigkeit Jugend¬ 

licher. Arch. f. Kriminologie Bd. 68, H. 3 u. 4. 

52. Mezger, E., Kriminalpsychologische Studien aus der ger. 

Praxis. K. Groß’ Arch. Bd. 68, H. 3/4. (S. 33*.) 

53. Mezger, E., Dr. jur., Ein Fall von Blutuntersuchung zur 

Beurteilung des Geisteszustandes. Mtschr. f. Kriminal- 
psychol. u. Strafrechtsreform Bd. 11, S. 672. (S. 34*). 

54. Müller, 0. (Tübingen), Konstitution und Kriegsdienst. 

Württemb. Korrespondenzbl. Nr. 16. (S. 36*). 

55. Nebendahl, Max, Zur forensischen Beurteilung des Queru¬ 

lantenwahns. Inaug.-Diss. Kiel (S. 34*.) 

56. Neumann, Otto Ph. (Elberfeld), Zur Beurteilung der Dienst¬ 

fähigkeit auf Grund der Kriegserfahrung. Berl. klin. 
Wschr. Nr; 49, S. 1172. 

57. Numa Praetorius, Der- Streit um Walt Whitmans Homo¬ 

sexualität im „Mercure de France“ und den „Archives 


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Original fro-rri 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



30* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


d’anthropologie criminelle“ vom Jahre 1913—1914. 
Ztschr. f. Sexualwissensch. Bd. 3, H. 8 u. 9. 

58. Oppenheim, Herrn. (Berlin), Die Frage der Dienstbrauchbar¬ 

keit, Dienstbeschädigung und Versorgung bei organi- 
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venverletzungen. (Aus: Die militärärztl. Sachv.- 
Tätigkeit, G. Fischer-Jena). Bericht Kurt Mendel: 

Neurol. Ztlbl. Nr. 15, S. 630. 

59. Papirnik, A. S., Zur neuen Verordnung über Bevormundung 

mit Rücksicht auf die Insassen öffentlicher Irren¬ 
anstalten. Cas. öesk. 16k. vol. 56, p. 509. (Böhmisch.) 

60. Pese, Alfred , Heeresdienst und luetische Erkrankung des 

Zentralnervensystems. Diss. Breslau. (S. 36*.) 

61. Pieszczek , Franz (Kortau), Die gerichtsärztliche Bedeutung 

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64. Puppe, 0. (Königsberg i. Pr.), Zur Psychologie und Pro¬ 

phylaxe des Kindsmordes. D. med. Wschr. Nr. 20, 
S. 609. (S. 34*.) 

65. Raecke, £., Verbrechen und Geisteskrankheit. Die Irren¬ 

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66. Raimann, E. (Wien), Sinnestäuschungen in gerichtspsychi¬ 

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67. Reichel, Hans (Zürich), Selbstmordversuch einer Anstalts¬ 

patientin; Haftpflicht des Anstaltsinhabers. Ärztl. 
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68. Repkewitz, Qtto (Schleswig), Über die Simulation und Über¬ 

treibung. Sitzungsbericht: Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. 
Psych. R. u. E. Bd. 15, H. 3, S. 275. 

69. Rhein, John H. W. (Philadelphia), Mental condition of 

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Okt. 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie. 


31* 


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71. Rothenhäusler, 0. (Zürich), Bewußtlos-Aufgefundene. Die 

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Zürich 1916. Speidel & Wurzel. 58 S. — 2 M. 

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74. Seeliger, Siegfried, Zur forensischen Beurteilung sexueller 

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Primitive in ihm. Arch. f. Kriminologie Bd. 58, Nr. 1. 

80. Tausk, Viktor, Zur Psychologie des Deserteurs. Intern. Ztschr. 

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Springer. 105 S. — 4,80 M. (S. 33*.) 

82. Viegener, Johannes, Über die forensische Begutachtung der 

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[ 83. Wagner (Gießen), Die Dienstbeschädigung bei nerven- und 

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Psych. Orig.-Bd. 37, H. 3/4, S. 219. (S. 36*.) 


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32* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


84. Weber , L. W. (Chemnitz), Über Familienmord in forensischer 

Beurteilung. Sitzungsbericht. Neurol. Ztlbl. Nr. 4, 
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85. Weber, L. W. (Chemnitz), Der Familienmord. Groß’ Arch. 

S. 269.. (S. 34*.) 

86. Weygandt, W. (Hamburg), Aus dem Kapitel: Militärische 

Verwendungsfähigkeit und Psychosen. Sitzungsbericht: 
Münch, med. Wschr. Nr. 19, S. 623. 

87. Weygandt, W. Hamburg), Psychiatrische Gutachtertätigkeit 

im Kriege. Jahreskurse für ärztl. Fortbildung. (Schrift¬ 
leiter: Sarason , Verleger: J. F. Lehmann-München.) 
Maiheft S. 22. (S. 35*.) 

88. Weygandt, W. (Hamburg), Diensttauglichkeit und Dienst¬ 

beschädigung bei psychischer Störung. (Demonstra¬ 
tion.) Sitzungsbericht: Berl. klin. Wschr. Nr. 27, S. 667. 

89. Zeller, Das Strafrecht in seinen Beziehungen zur Individual¬ 

psychologie. Ztschr. f. Individualpsychol. Nr. 6—9. 

Hoche(31) bespricht das Berufsgeheimnis des ärztlichen Sachverständigen. 
(§ 300 StGB. § 52, StPO., § 383 CPO., § 385 CPO.). Schwierigkeiten körmen beson¬ 
ders dann entstehen, wenn dem Gutachter von dem Angeschuldigten Bekenntnisse 
abgelegt werden, die sich auf eigene Schuld oder auf Mittäterschaft beziehen, dem 
Gericht aber unbekannt sind. Er beklagt, daß das Berufsgeheimnis von den Ärzten 
noch nicht immer genügend gewahrt würde und führt das darauf zurück, daß die 
Ärzte mit den einschlägigen Bestimmungen ebensowenig vertraut wären, wie das 
Publikum. Er macht darauf aufmerksam, daß der Sachverständige weder Staats¬ 
anwalt noch Verteidiger sein darf, sondern unparteiisch sein Gutachten zu erstatten 
hat. Die ärztliche Schweigepflicht wird durch die Sachverständigentatigkeit nicht 
ohne weiteres aufgehoben. 

Die Erstattung von'Gesundheitszeugnissen durch staatliche Ärzte behufs 
Ehebewilligung ist der Gegenstand einer kleinen Arbeit von Anton (3). Er stellt 
12 Leitsätze auf, nach denen der Arzt seine Zustimmung zur Ehe zu geben dat. 

Anton (2) bespricht die Anforderungen, welche an den Arzt gestellt werden 
müssen, wenn er als Berater des Jugendgerichts zugezogen wird. Die einzelnen 
Leitsätze müssen im Original nachgelesen werden. 

Horstmann (33) befaßt sich mit den schon oft erörterten Begriffen der Gemein- 
gefährlichkeit. Er teilt einigeFälle mit, welche die Schwierigkeiten der Behand¬ 
lung und die große Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters gegenüber gemeingefähr¬ 
lichen Kranken in das rechte Licht rücken. Ein Fortschritt in der Beandlung der 
Gemeingefährlichen ist nur von einer genauen Umschreibung der Kriterien der 
Gemeingefährlichkeit zu erhoffen. Vor allem müßte den Gemeingefährlichen auch 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie. 33* 

im Interesse unserer Rasse.vor allem im Interesse der geistig gesunden Menschen, 
schärfer entgegengetreten werden. 

Hemk.es (29) beschreibt eingehend 5 psychopathische Persönlichkeiten, welche 
die Schwierigkeiten der Sachverständigenbegutachtung bei ihrer Straffälligkeit 
beleuchten. 

Hübner (35) berichtet kurz über einen 30 Jährigen Studenten, bei dem es sich 
um eine seltene Kombination von Homosexualität, Farbenfetischismus, Kopro- 
phagie und Masochismus handelt. Über die Zurechnungsfähigkeit waren die Meinun¬ 
gen der Gutachter geteilt. Verf. trat daiür ein, daß die Voraussetzungen des § 51 
gegeben wären, denn diese Kranken bleiben ihr ganzes Leben hindurch Sklaven 
ihrer abnormen geschlechtlichen Neigungen. Der Entwicklungsgang des Ange¬ 
klagten hätte deutlich gezeigt, daß die Rücksicht auf seine krankhafte Vera nlag ung 
bei allen wichtigen Entschließungen (Lebensberuf, Verkehr, Auftreten) ausschlag¬ 
gebend gewesen sei. 

Über den seltenen Fall einer Grab- und Leichenschändung durch Geistes¬ 
kranke berichtet E. Meyer (50). Es handelte sich upi einen Halluzinanten, der von 
Stimmen getrieben, das Grab seiner vor 5 Jahren verstorbenen Frau geöffnet hatte, 
und im 2. Falle um einen schweren Psychopathen in Zwangszuständen. 

Kobudzituki (42) beschreibt einen geisteskranken Tapezierer, der wiederholt 
das Grab seiner vor langer Zeit verstorbenen Frau geöffnet hatte. Die Ursache der 
Öffnung des Grabes sah der Sachverständige in einer geistigen Erkrankung, einer 
Dementia paranoides. > 

König (44) bringt ausführlich mitgeteilte kasuistische Mitteilungen zur Simula¬ 
tionsfrage. Die interessanten Fälle müssen im Original nachgelesen werden. 

Flora Boenheim (8) beschäftigt sich mit der Frage der Dissimulation. Sie 
erwähnt zunächst den Begriff. Der Kranke muß, abgesehen von seinen Erklärungen 
durch sein ganzes Gebahren den Versuch machen, gesund zu erscheinen, und zwar 
absichtlich. Sie geht dann auf die Mittel der Dissimulation ein und berücksichtigt 
dabei sowohl die Literatur wie praktische Beobachtungen und beschreibt zum Schluß 
einige selbst untersuchte Fälle. 

Mezger (52) teilt einige praktische Strafrechtsfälle aus dem Gebiete der Sexual- 
Psychologie mit. 

Herschmann (30) berichtet über einen Totschlag im pathologischen Rausch, 
ausgeführt von einem Soldaten (Matrose) an einem kleinen Mädchen. 

von Speyr (75) berichtet ausführlich über einen Brandstifter und vierfachen 
Mörder, der seit Jahren an Jugendblödsinn litt, wiederholt in-Anstalten gewesen 
war, aber trotzdem zunächst auf Grund eines ärztlichen Gutachens für gesund 
erklärt und verurteilt war. 

Einen reichhaltigen Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der 
Brandstifter liefert Heinrich Többen (81). Er verfügt über 101 Fälle, die er getrennt 
nach ihren Beweisgründen eingehend schildert. Unter den Antrieben zur Brand¬ 
stiftung spielt Rache und Haß die Hauptrolle. Habsucht und Neid stehen an zweiter 
Stelle. In weiten Abständen folgen dann mit 11% die durch Geistesstörungen aus¬ 
gelösten Brandstiftungen und eine noch geringere Rolle spielt der Alkoholismus, 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. C 


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34* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


das Heimweh, der Mutwille und das Bestreben, vom Militär, aus Erziehungsanstalten 
oder sonstigen Gewahrsamen sich zu befreien. Seinen Beobachtungen schickt er 
eine eingehende Einleitung, eine sehr gründliche Übersicht über die medizinische 
und kriminalistische Literatur sowie statistische Mitteilungen über die volkswirt- 
sthaftliche Bedeutung der Brandstiftung voraus. Den Beschluß bilden Untersuchun¬ 
gen über den Geisteszustand der Täter sowie Bekämpfungsvorschläge für die Brand¬ 
stiftung. Unter diesen Vorschlägen spielt die Bekämpfung der Trunksucht, der 
Obdachlosigkeit, die Verwahrung der Geisteskranken und geistig Minderwertigen 
ensprechend dem Vorentwurf zum neuen Strafgesetzbuch eine Hauptrolle. Eine 
eingehende Kritik der Vorschläge des Vorentwurfs bringt beachtenswerte, praktische 
Hinweise auf die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Abänderungsvorschläge 
Das klar und verstän^ch geschriebene Buch wird für alle Richter und Sachver¬ 
ständigen und Kriminalisten eine Quelle dar Belehrung sein, zumal es sich duych 
wohltuende Kürze auszeichnet. 

Die Aschaffenburg'sehe Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Straf¬ 
rechtsreform bringt nach längerer Pause die Schlußhefte des 11. und 12. Jahrgangs. 
Der Band enthält eine Reihe von interessanten Aulsätzen, so von Jacobsohn (37) 
über die Kriminalität der Jugendlichen und ihre Verhütung und Metzgerei) 
über die Bedeutung der Blutuntersuchung in einem Falle zur Beurteilung des 
Geisteszustandes und andere kriminalpsychologische, wertvolle Beiträge. 

L. W. Weber (85) bringt neue Beiträge zum Kapitel des Familienmordes. 
Er faßt ihn als einen* erweiterten Selbstmord auf, der häufig auf ausgesprochene. 
Geisteskrankheiten zurückzuführen ist. Man darf aber nicht außer Acht Jassen, daß 
auch psychologische Ursachen, Reue und Verzweiflung Anlaß zum Familienmord 
geben können. Diese Ursachen fallen nicht unter den § 51 StGB. 

Kampschulte (39) gibt einen Überblick über die in den Jahren 1900—1915 
in der Irrenabteilung der Strafanstalt zu Münster beobachteten Geistesstörungen 
Es handelt sich um 1724 Aufnahmen aus Strafanstalten, Gefängnissen und aus der 
Untersuchungshaft. Die Aufnahmeziffer stieg von Jahr zu Jahr, erreichte im Jahre 
1914 mit 159 Kranken ihren Höhepunkt und sank im Jahre 1915 auf 87. Unter den 
zur Beobachtung gekommenen Geistesstörungen standen die degenerativen Psychosen 
mit 37,2% an erster Stelle, es folgt das Jugendirresein mit 20%, die Epilepsie mit 
11% und die chronische Wahnbildung mit 14,8%. Angeborene Schwachsinns¬ 
formen waren in 6%% die Ursache zur Aufnahme. Es folgen dann Einzelfälle. 

Eine gemeinverständliche Darstellung der Beziehungen zwischen Verbrechen 
und Geisteskrankheit für das Pflegepersonal der Heilanstalten bringt Raeke (65) in 
der Irrenpflege. Der Aufsatz ist für Laien gedacht. 

Einen Beitrag zur Kenntnis des Querulantenwahns liefert Max Nebendahl (55). 
Die Beobachtung stammt aus der Kieler Klinik. 

Puppe (64) macht kurze und genaue Mitteilungen über die Psychologie und 
Prophylaxe des Kindesmordes. Danach sind die Zahlen der Bestrafungen wegen 
Kindesmordes von Jahr zu Jahr zurückgegangen, aber wohl nur deswegen, weil das 
Gericht auf fahrlässige Tötung, nicht auf Kindesmord erkannt hatte. Er selbst hat 
140 gerichtliche Obduktionen von Neugeborenen gemacht, bei denen in 49 Fällen 


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Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie. 


35* 


Anklage erhoben wurde, während in 23 Fällen die Obduktion Totgeburt ergab. 
Puppe berichtet eingehend über die' Todesursache, die angewandte Methode, die 
Ursache der Totgeburten und erörtert dann die anzuwendenden Methoden der 
Vorbeugung und Abhilfe. 

Alfred Adler (I) untersucht in einer kleinen Schrift das Problem der Homo¬ 
sexualität. 

Siegfried Sediger (74) bespricht in einer Doktorarbeit aus der Kieler Klinik 
die Literatur über die gerichtsärztliche Beurteilung der Sexualverbrechen und 
berichtet über 3 Fälle, deren erster einen Schwachsinnigen mit epileptoiden Zu¬ 
ständen, deren zweiten einen vollkommenen Idioten betraf, während im drtten 
Falle chronische Verrücktheit die Ursache des Verbrechens war. 

Hensehel (28) knüpft an den Fall eines Schwachsinnigen mit degenerativen 
Zügen, der wiederholt wegen Sittlichkeitsverbrechens unter Anklage stand, Be¬ 
trachtungen über die irrenrechtliche Bedandlung derartiger krankhafter Menschen. 

Die strafrechtliche Begutachtung Heeresangehöriger macht dem Psychiater 
nicht selten große Schwierigkeiten. Wie überall machen auch bei Militär die Gren- 
zustände die Hauptarbeit. Hübner (34) teilt aus dem reichen Schatz seiner Er¬ 
fahrung kurz und knapp viele praktische Fälle mit, welche sich auf militärische Ver¬ 
gehen beziehen. Unerlaubte Entfernung, Fahnenflucht, Feigheit, Selbstverstümme¬ 
lung, Vergehen gegen die Unterordnung und die Simulationsfrage werden kurz 
und übersichtlich geprüft. 

Eine eingehende Darstellung der Beziehungen der Geistes- und Nervenkrank¬ 
heiten zumKriegsdienst liefert Weygandi (87) in einer Arbeit, die als Jahreskurs 
für ärztliche Fortbildung erschienen ist. 

E. Meyer (49) stellt Betrachtungen über die Frage der Dienstbeschädigung 
bei den Geisteskrankheiten der Soldaten an. Es kommen hauptsächlich Jugend¬ 
irresein, dann manisch-depressives Irresein und die Epilepsie in Beracht. Bild 
und Verlauf dieser Krankheiten ist hauptsächlich bei den Soldaten das Gewöhnliche. 
Meist bestehen Erscheinungen schon vor dem Kriegsdienst. Äußere Schädigungen 
sind verhältnismäßig selten festzustellen. Der Vergleich mit den Friedenserfahrungen, 
wie die bisherigen Kriegsbeobachtungen sprechen dafür, daß Kriegsdienstbeschä- 
digung bei den genannten Geisteskrankheiten nur angenommen werden kann, wenn 
die Kranken über die Masse der Kriegseinwirkungen hinausgehende Einzelschädi¬ 
gungen erlitten haben, nicht aber deshalb schon, weil sie überhaupt im Kriegsdienst 
gestanden haben. 4 

M. Rosenfeld 70) tritt dafür ein, daß man bei der großen Zahl von Fällen mit 
leichteren, nervösen Ausfalls- und anderen Beschwerden der Kriegsteilnehmer bei der 
Anerkennung ihrer Erwerbsbeschränkung durch Dienstbeschädigung viel strenger 
verfahren müßte als bisher. In allen leichten Fällen wäre es gerechtfertigt, eine 
Dienstbeschädigung ganz abzulehnen. Die Geringfügigkeit der subjektiven Be¬ 
schwerden und objektiven Symptome und die völlige Harmlosigkeit der Störungen, 
■die sich nie zu verschlimmern pflegen, rechtfertigen dieses Verfahren. Ein solches 
Verfahren würde etwa in 65% aller Falle eines Lazaretts gerechtfertigt gewesen sein. 

Bostroem (11) vergleicht die Wahrnehmungen des Truppenarztes an der Front 
mit den Beobachtungen in den neurologischen psychiatrischen Kliniken des Inlandes. 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


36* 

E. Meyer (47) (and bei den Kriegsteilnehmern hauptsächlich psychogene 
Neurosen, während die neuras thenischen und traumatischen dagegen zurück traten. 
Der neurasthenische Typus kommt für die Frage der Kriegsdienstbeschädigung 
weniger in Betracht, während diese bei den psychogenen und traumatischen Formen 
eher anzunehmen ist. Eine Kriegsparalyse im Sinne Weygandt s gibt es nach Meyer 
nicht. 

Wagner (83) hat 1700 nervenkranke Soldaten eines Lazaretts beobachtet, die 
zum Teil an vorübergehenden Erschöpfungszuständen, zum andern Teil an neur- 
asthenisch-hypochondrischen Symptomenbildern litten. Er untersucht an der Hand 
zahlreicher, teils ausführlich, teils kurz mitgeteilter praktischer Fälle die Frage der 
Dienstbeschädigung. Die Hauptsache ist die Heilung der nervösen Kriegsteil¬ 
nehmer. 

Otfried Möller (54) bespricht den Einfluß der Konstitution insbesondere 
der Diathesen auf den Kriegsdiensrt. 

Goldslein (18) beschäftigt sich hauptsächlich mit der militärischen Versorgung 
der Hirnverletzten und ihrer Bedeutung auf dem Gebiete des Ersatzwesens. 
Die Gehimverletzten müssen von eifern doppelten Gesichtspunkt aus beurteilt, 
werden: 1. von dem der Gefahr, in der sie infolge der Verletzung selbst auch nach 
Abheilen der äußeren Wunde noch eine längere Zeit schweben; 2. von dem der 
Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit. Die Beurteilung erfordert eine Berück¬ 
sichtigung des Gesamtverlaufes sowie eine genaue Untersuchung, die bei den meisten 
Fällen nur nach einer mehrtägigen Lazarettbeobachtung möglich sein wird. 

Pest (60) hat insbesondere das Material der Breslauer Nervenklinik daraufhin 
untersucht, ob zwischen luetischen Erkrankungen des Zentralnerven¬ 
systems und dem Heeresdienst Zusammenhänge bestehen. Es stellte sich 
heraus, daß die Inkubationszeit bei den Militärpersonen vom Zeitpunkte der In¬ 
fektion bis zum Zeitpunkte des Ausbruchs einer Lues cerebrospinalis fast 3 Jahre 
kürzer war als wie bei den Zivilkranken. Es schien so, als ob die frische Lues durch 
die Anstrengungen des Krieges besonders ungünstig beeinflußt würde. Er bringt 
dann 2 Falle, die beide nach einem leichten Kopfstreifschuß wenige Tage später 
mit einer Meningitis cerebrospinalis luetica erkrankten. In einem Falle betrug die 
Inkubationszeit nur 3 Monate. Bei den tabischen Kriegsteilnehmern ließ sich keine 
Verkürzung des Zeitpunktes zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit fest¬ 
stellen. Die Zahlen waren bei dem Kriegs- und Friedensmaterial gleich. Dasselbe 
gilt für die Paralyse. Dementsprechend darf man die Frage der Dienstbeschädigung 
bei Ausbruch von Lues cerebrospinalis leichter bejahen als bei Paralyse und Tabes. 

Pönitz (62) berichtet aus der Halleschen Klinik über die psychologischen und 
psychopathologischen Ursachen der Fahnenflucht im Kriege. Er unterscheidet 
3 Gruppen, Die erste wird aus allgemein verständlichen Motiven fahnenflüchtig, 
die zweite umfaßt die Psychopathen, die dritte die Leute mit sogenannten Fugue- 
zuständen. 

Hahn (24) beobachtete einen 18 jährigen Soldaten, dessen Vater an Tabes litt 
und der selbst infolge hereditärer Lues eine Pupillenstarre ohne andere Erschei¬ 
nungen seitens des Nervensystems hatte und einen 45 jährigen Landsturmmann, 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


37* 


4er auch an Pupillenstarre, wohl auf Grund einer früher erworbenen Lues, litt. 
Während der erste Soldat bei seinem jugendlichen Alter unbedenklich als k. v. 
angesehen werden konnte, mußte der zweite für d. u. erachtet werden, denn bei ihm 
war auf Grund des Blut- und Lumbalbefundes mit einer beginnenden Paralyse 
zu rechnen. 

Spliedt (76) beschäftigt sich mit den geistigen Erkrankungen der feindlichen 
Kriegsgefangenen in Deutschland. Er verfügt über 114 Fälle, von denen das Jugend- 
Irresein mit 77 Fallen den Hauptanteil hat. An zweiter Stelle folgt die Paralyse mit 
11 Fällen. Spliedt hat auf Grund seiner Tätigkeit nicht den Eindruck gewonnen, 
daß die Kriegsgefangenschaft an sich den Ausbruch von geistigen Erkrankungen 
bei den Gefangenen fördert. 

Ruhemann (72) erstattete über den Selbstmord eines Unfallverletzten 
■ein Gutachten, dessen Hauptfragen lauteten: 1. Ist nach Lage der Akten anzu¬ 
nehmen, daß der Verstorbene den Selbstmord durch Erhängen infolge geistiger 
Gestörtheit in willenlosem, unzurechnungsfähigem Zustande begangen hat? 2. Be¬ 
jahendenfalls, steht diese Geistesstörung mit dem vor 17 Jahren erlittenen Betriebs¬ 
unfall in ursächlichem Zusammenhang? Er verneinte auf Grund seiner eingehenden 
Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Selbstmord 
und sprach sich dahin aus, daß eine Unzurechnungsfähigkeit infolge geistiger Ge¬ 
störtheit nicht Vorgelegen hätte. 

Über einen ähnlichen Fall wie Ruhemann berichtet Engel (12). Auch er nahm 
<bei seinem Falle keinen Zusammenhang zwischen Selbstmord und Betriebs¬ 
unfall an, da Lebensüberdruß nach der Entscheidung des Reichsversicherungs¬ 
amtes nicht als Unfallfolge anerkannt wird. Es muß der Beweis der Unzurechnungs¬ 
fähigkeit erbracht sein. Wenn jemand aber einen lange geplanten und öfter vor¬ 
bereiteten Selbstmord ausführt, so kann von einer im Zustande krankhafter Geistes¬ 
störung unter Ausschluß der freien Willensbestimmung vor genommenen Handlung 
keine Rede sein. 


3. Allgemeine Psychiatrie. 

Ref.: Hermann Gr r i m m e - Hildesheim. 

1. Abderhalden , E., Lehrbuch der physiologischen Chemie, in 

Vorlesungen. Dritte vollständig neu bearbeitete und 
erweiterte Auflage. 2 Teile vollständig erschienen 1917. 
Berlin-Wien. Urban & Schwarzenberg. — 50 M. 

2. Albrecht, Die Trennung der nichtorganischen von den organi¬ 

schen Hörstörungen mit Hülfe des psychogalvanischen 
Reflexes. Arch. f. Ohrenheilk. Bd. 101, H. 1. 

3. Adam , C., Die militärärztliche Sachverständigentätigkeit auf 

dem Gebiete des Ersatzwesens und der militärischen 


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38* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

t 

Versorgung. I. Teil 10 Vorträge, II. Teil 12 Vorträge. 
Herausgegeben vom Zentralkomitee für das ärtztliche 
Fortbildungswesen in Preußen. Jena. Gustav Fischer 
1917. (S. 54*.) 

4. Anton, G. (Halle a. S.), Über Geistesstörungen bei- Kriegs¬ 

teilnehmern, insbesondere über Hebephreniker und 
Psychopathen. Eigenbericht: Neurol. Ztlbl. Nr. 4, S. 171. 

5. Anton, G. (Halle a. $.), Gesundheitszeugnisse durch staat¬ 

liche Ärzte behufs Eheeinwilligung. Ztschr. f. Kinder¬ 
forschung H. 1. 

6. Anton , G. (Halle a. S.), Der Balkenstich bei angeborenen und 

erworbenen Erkrankungen des Gehirns. Neue Deutsche 
Chirurgie Bd. 12, T. II. 

7. Anton, G. u. Schmieden, V. (Halle a. S.), Der Subokzipital¬ 

stich (eine neue druckentlastende Hirnoperationsme¬ 
thode). Ztlbl. f. Chir. Jg. 44, Nr. 10 u. Arch. f. Psych. 
Bd. 58, S. 1. (S. 69*.) 

8. Auerbach, Siegm. (Frankfurt a. M.), Die diagnostische Be¬ 

deutung des sog. Gordonschen paradoxen Zehenphäno¬ 
mens. Münch, med. Wschr. 37, S. 1197. • (S. 63*.) 

9. Babinski, J. (Paris), Fusion anticipSe des secousses faradiques 

dans les muscles de la plante du pied. Rev. neurol. 
vol. 24, I, p. 45. 

10. Babinski; J. et Froment, J., Troubles physiopathiques d’ordre 

rSflexe. Presse med. no. 38. 

11. Bäumler, Ch. (Freiburg i. B.), Über die Beeinflussung der 

Herztätigkeit in der Hypnose. Münch, med. Wschr. 
Nr. 40 u. 41. (S. 64*.) 

12. Bauer, Julius (Wien), Einige Grundlagen der Lehre von der 

konstitutionellen Krankheitsdisposition. Med. Klin. 
Nr. 20, S. 554. 

13. Bauer, Julius, Die konstitutionelle Disposition zu inneren 

Krankheiten. Berlin. Jul. Springer. 586 S. — 24 M. 

14. Bauer, Julius (Wien), Konstitution und Nervensystem. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychol. R. u. E. Bd. 15, 
H. 3 u. 5, S. 161 u. 337. 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


39* 


15. Beck, D.J. , Resultat einer Reihe von Suggestionsversuchen. 

Ned. Tijdschr. voor Geneesk. vol. 61 (II), p. 1014. 

16. Beck, D.J., Über Suggestion. Doktordissertation Groningen. 

17. Becker, W. H. (Herborn), Narkotika und Hautaffektionen. 

Psych.-neurol. Wschr. Nr. 45/46, S. 345. (S. 69*.) 

18. Becker , W. H. (Herborn), Gibt es einen Augenblick des Ster¬ 

bens? Vjschr. f. ger. Med. u. öff. San.-W. Bd. 53, H. 2, 
S. 212. (S. 55*.) 

19. Becker , W. H. (Herborn), Psychotherapie in Irrenanstalten. 

Würzburger Abh. a. d. Gesamtgeb. d; prakt. Med. Bd. 17, 
H. 4. Würzburg. Kabitzsch. 77 S. — 1 M. (S. 55*.) 

20. Becker , W. H. (Herborn), Briefe an Angehörige von Geistes¬ 

kranken. Berlin. S. Karger. — 2,50 M. (S. 55*.) 

* 

21. Becker, W. H. (Herborn), Die heutige Kriegsernährung und 

ihre Wirkung auf unsere Geisteskranken. Moderne 
• Med. H. 5. 

22. Becker, W. H. (Herborn), Männliche und weibliche Geistes¬ 

kranke. Ztschr. f. Sexualwiss. Bd. 4, H. 2/3. (S. 55*.) 

23. Berkhan , Oswald (Braunschweig), Über die Wortblindheit, 

ein Stammeln im Sprechen und Schreiben, ein Fehl im 
Lesen. Neurol. Ztlbl. Nr. 22, S. 914. 

24. Bernoulli, Dosierung der Bromsalze bei Epilepsie und De¬ 

pressionszuständen. Korrespondenzbl. f. Schweizer 
Ärzte.' 

25. Bleuler, E. (Zürich), Unbewußte Gemeinheiten. 3. Aufl. 

München. E. Reinhardt. 38 S. — 0,50 M. (S. 55*.) 

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von J. Schwalbe. H. 2. Leipzig. Gg.Thieme. 131 S. — 
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kranker. Jahresber. f. Neurol. u. Psych. Bd. 20, 1616. 


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Wiesbaden. J. F. Bergmann. 207 S. — 10 M. 

133. Moeli, C., Zur Erinnerung an Heinrich Schüle. Arch. f. 

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Sitzungsbericht: Ztschr. f. d. Neurol. u. Psych. R.- u. 
E.-Bd. 14, H. 5, S. 423. — Originalaufsatz: Med. Klin. 
Nr. 42, S. 1116. (S. 70*.) 

135. Möller, P. (Kopenhagen), Ein Fall von komplettem Herma¬ 

phroditismus masc. Virch. Arch. Bd.»223, H. 3. 

136. Müller, Reiner (Cöln), Unterwärme des Körpers. (Unter¬ 

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med. Wschr. Nr. 33, S. 1069. 


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schwere Anämie mit Osteomalazie und innersklerotischen 
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139. von Neergaard, K. (Zürich), Grundregeln der mikroskopi¬ 

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140. Neisser, Albert, Die Geschlechtskrankheiten und ihre Be¬ 

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142. Oppenheim, Herrn. (Berlin), Über das Symptom des ,,durch¬ 

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143. Oppenheim, Herrn. (Berlin), Gibt es auch eine psychopathi¬ 

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146. Placzek, Siegfr. (Berlin), Freundschaft und Sexualität. 

3. erweiterte Aufl. Bonn. Marcus & Weber. 103 S. — 
2 M. (S. 61*.) 

147. Plaut, F. (München), Zur Errichtung der Deutschen For¬ 

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148. Popper, E. (Prag), Ein kurzer Beitrag zur Frage der Lumbal¬ 

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Nr. 50. 

149. Quensel, F. (Leipzig), Paul Flechsig zum 70. Geburtstag. 

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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


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(Bemerkungen zu dem gleichnamigen akademischen 
Vortrag von C. Jung.) Arch. f. Psych. Bd. 57, H. 2, 
S. 408. (S. 61*.) 

151. Reinhardt, Ad., Über Komplikationen der diagnostischen 

Gehirnpunktion. Mitteil. a. d. Grenzgeb. d. Chir. u. Med. 
Bd. 29, S. 521. 

152. Reiß, E. (Frankfurt a. M.), Die Blutdruckmessung und ihre 

klinische Bedeutung. Ztschr. f. ärztl. Fortbild., Juli- 
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153. Ribbert, Hugo (Bonn), Die Konstitution der Menschheit 

D. med. Wschr. Nr. 52. (S. 61*.) 

154. Rohleder, H. (Leipzig), Heilung von Homosexualität und 

Impotenz durch Hodeneinpflanzung. D. med. Wschr. 
Nr. 48, S. 1509. 

155. Rothschild, AL F. (Frankfurt, a. M.), Über Erfahrungen mit 

„Eukodal“. Münch, med. Wschr. Nr. 51, S. 1643. 

156. Ruttmann, W. J. (Marksteff-Metz), Erblichkeitslehre und 

Pädagogik. Ausschnitte aus der experimentellen und ange¬ 
wandten Erblichkeitslehre und Individualforschung. 
Leipzig, A. Haase. 152 S. — 3,60 M. Referat R. Sommer- 
Gießen: D. med. Wschr. Nr. 32, S. 1013. 

157. v. Sarbö, A. (Budapest), Über Kriegsschädigungen. Wiener 

klin. Wschr. Nr. 42. 

158. Sauerbrey, Wilhelm, Über den Wert der Intelligenzprüfungs¬ 

methode von Binel-Simon. Inaug.-Diss. Leipzig. 

159. Schaffer, Karl (Budapest), Über normale und pathologische 

Hirnforschung. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., 
Orig.-Bd. 38, H. 1/2, S. 1. (S. 61*.) 

160. Schaffer, Karl (Budapest), Zum Mechanismus der Furchen¬ 

bildung. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 38, 
H. 1/2, S. 79. (S. 61*.) 

161. Schallmeyer, W., Einführung in die Rassenhygiene. Ergebn. 

der Hygiene usw. Herausg. von Prof. Weichardt. Sonder¬ 
heft. Berlin. Jul. Springer. 101 S. 

162. Scheffer, C. W. (Ermelo, Holland), Über den reaktiven Faktor 

Zeitschrift für Psychiatrie* LXXY* Lit <J 


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50* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


bei einigen Fällen von Fugue und Dipsomanie. Mtschr. 
f. Psych. u. Neurol. Bd. 42, H. 4, S. 236. (S. 68*.) 

163. Schiötz, Aphasie, Adipositas, Wachstumshemmung. Norsk. 

mag. for Laegevid. vol. 78, H. 1. 

164. Schlomer, G., Leitfaden der klinischen Psychiatrie. München. 

R. Müller & Steinicke. 224 S. 

165. Schmidt, Ad. (Halle a. S.), Unterernährung, Magerkeit und 

krankhafte Abmagerung. D. med. Wschr. Nr. 14, S. 417. 

166. Schopen , Wilhelm, Zur Lehre von den Psychosen bei Ne¬ 

phritis. Inaug.-Diss. Kiel. 34 S. (S. 71*.) 

167. Schröder, P. (Greifswald), Zur Systematik in der Psychiatrie. 

Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 42, H. 6, S. 364. (S. 62*.) 

168. Schultze, F. E. Otto (Frankfurt a. M.), Über den Nachweis 

von Schwachsinn und Ermüdung. Sitzungsber.: Ztschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psych., R.- u. E.-Bd. 14, H. 5, S. 415. 

169. Schulze, Johannes, Beitrag zur Kenntnis der Beziehungen 

zwischen Taubstummheit und Psyche. Inaug.-Dfes. 
Kiel. 37 S. (S. 71*.) 

170. Schultz, J. H., S. Freuds Sexualpsycheanalyse. Kritische 

Einführung für Gerichtsärzte, Ärzte und Laien. Berlin. 
Verlag S. Karger. (S. 62*.) 

171. Schuurmans-Stekhoven, J. H., Soziale Arbeit bei Nerven¬ 

leiden und Geisteskrankheit. Wilhelminagids. (Maandb). 
v. h. Krankzinn. W. vol. 2, p. 17.) 

172. Schwartz, L., Dermographismus als Untersuchungsmethode. 

Korr.-Bl. f. Schweizer Ärzte Nr. 26. 

173. Senf, M. R., Psychosexuelle Intuition. Ztschr. f. Sexual¬ 

forsch. Bd. 1, Nr. 3. 

174. Siebert, Fr., Der völkische Gehalt der Rassenhygiene. 

Bücherei deutscher Erneuerung Bd. 3. München. J. F. 
Lehmann. 214 S. — 3 M. (S. 62*.) 

175. Siebert, Harald (Libau), Zur Klinik der Geschwisterpsychosen 

anscheinend exogenen Ursprungs. Mtschr. f. Psych. u. 
Neurol. Bd. 42, H. 1, S. 24. (S. 71*.) 

176. Siebert, Harald (Libau), Die Psychosen und Neurosen bei 

der Bevölkerung Kurlands. Allg. Ztschr. f. Psych. 
Bd. 73, H. 6, S. 493. 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


51 * 


177. Siemens, H. W., Die biologischen Grundlagen der Rassen¬ 

hygiene und die Bevölkerungspolitik. München. J. F. 
Lehmann. 80 S, — 1,80 M. (S. 62*.) 

178. Siemens, F. (Stettin), Über neuere Anschauungen in der 

Psychiatrie. Vortrag im Wissenschaftl. Verein der Ärzte 
in Stettin. Berl. klin. Wschr. Nr. 47, S. 1135. (S.72*.) 

179. Siemerling, E. (Kiel), Paul Flechsig zum 70. Geburtstag. 

Arch. f. Psych. Bd. 57, H. 3, S. 867. 

180. Siemerling, E. (Kiel), Psychosen und Neurosen in der Gra¬ 

vidität und ihre Anzeige zur künstlichen Unterbrechung 
der Schwangerschaft. Mtschr. f. Geburtsh. u. Gynäkol. 
Bd. 46, H. 3 u. 4. 

181. Sighart, Der Röntgenapparat in den Heil- und Pflege¬ 

anstalten. Psych.-neurol. Wschr. Nr. 37/38, S. 239. 
(S. 68*.) 

152. Siwinski, B., Beobachtungen über das Verhalten der bei 
Geisteskranken durch intensiven psychischen Schreck 
hervorgerufenen Eindrücke. Gazeta lekarska (1916), 
No. 13. Ref. Higier: Neurol. Ztlbl. Nr. 22, S. 936. 

183. Snoeck Henkemans, D. (s’ Gravenhage), Medizinische Sta¬ 

tistik und Psychoanalyse. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 
vol. 60 (II), p. 786. 

184. Sokolowsky, Alexander (Hamburg), Die Psyche der Malaien 

und ihre Abstammung. Med. Klin. Nr. 25, S. 685. 

185. Sommer, R. (Gießen), Friedrich der Große vom Standpunkt 

der Vererbungslehre. Klin. f. psych. u. nerv. Krankh. 
Bd. 10, H. 1, S. 33. (S. .63*) 

186. Spinner, J. R. (Zürich), Vorwiegen der Frauen beim Gift¬ 

mord. Korr.-Bl. f. Schweizer Ärzte Nr. 27. 

187. Spliedt, W. (Waldfrieden b. Neuendorf), Über Psychosen 

bei Kriegsgefangenen. Psych.-neurol. Wschr. Nr. 43/44, 
S. 33. (S. 72 *.) 

188. Stargardt, K. (Bonn), Über familiäre Degeneration in der 

Makulagegend des Auges mit und ohne psychische 
Störungen. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 852. (S. 68*.) 

189. Starck, Paul, Psychosen nach Herzfehler und Nephritis. 

Inaug.-Diss. Kiel. 

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52* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


7 


190. „Statistische Korrespondenz“: Art, Gründe und Zeit der 
Selbstmorde sowie Alter und Religionsbekenntnis der 
Selbstmörder in Preußen. (Vgl. Min.-Bl. 1917, S. 324.> 
Vjschr. f. ger. Med. u. öffentl. San.-W. Bd. 52, H. 2, 
S. 302. 

291. Steinigeweg, Alb. Friedr., Über Selbstbeschädigung bei 
Geisteskranken. Inaug.-Diss. Kiel. 

192. Sterz, Georg (Breslau), Typhus- und Nervensystem. Berlin. 

S. Karger. 104 S. — 4,60 M. 

193. Strafella, F. G., Das Geschlechtsleben Geisteskranker. Arch. 

f. Kriminologie Bd. 66, H. 1 u. 2. 

194. Strümpell, Adolf (Leipzig), Die Schädigungen der Nerven 

und des geistigen Lebens durch den Krieg. Leipzig. 
F. C. W. Vogel. 30 S. — 1,50 M. (S. 68*.) 

195. Stuchlik, Jar. (Rot-Kostelec), Aus der Vergangenheit der 

Psychiatrie. Rev. v. neuropsychopath.. vol. 11, p. 284. 
(Böhmisch.) (S. 63.) 

196. Suchy, Über Pupillenreaktion. Wiener klin. Wschr. Nr. 21 * 

S. 663. 

197. Säzsz, T. und Podmanizky, T. (Budapest), Über die Be¬ 

ziehungen des Stirnhirns zum Zeigeversuch. Neurol. 
Ztlbl. Nr. 21, S. 878. (S. 68*.) 

198. Szlapka, Czeslaus, Über psychische Störungen nach Abort. 

Inaug.-Diss. Kiel. 21 S. 

199. Taussig, L., Moderne Biologie in der Psychiatrie. Rev. v. 

neuropsychopathol. vol. 13, no. 1. (Böhmisch.) 

200. Teleky, Ludwig, Grundzüge der sozialen Fürsorge in der 

öffentlichen Gesundheitspflege. Wien u. Leipzig. A. Höl-, 
der. — 2,20 M. 

201. Thomalla, Kurt (Breslau), Zivildienst und Irrenhaus. Zu¬ 

kunft Jg. *25, Nr. 19, S. 161. 

202. Tintemann, W. (Osnabrück), Unzulängliche im Kriegsdienst. 

Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, H. 1, S. 34. 

203. Tischy, Fr., Tuberkulose und Psyche. Rev. v. neuropsycho¬ 

pathol. vol. 14, p. 185. (Böhmisch.) 

204. Trümbach, Ludwig, Ein Beitrag zum Hermaphroditismus* 

Inaug.-Diss. Würzburg. • 


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1 



Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


53* 


205. Urbantschitsch, V. (Wien), Über Störungen des Gedächt¬ 

nisses infolge von Erkrankungen des Ohres. Mtschr. 
f. Ohrenheilk. u. Laryngo-Rhin. Jg. 51, H. 3/4. 

206. Urbantschitsch , V. (Wien), Über otogene psychische Er¬ 

regungszustände. Sitzungsber.: Wiener klin. Wschr. 
Jg. 31, S. 733. 

207. van Valkenburg, C. T., Über Wahnbildung. Ned. Tijdschr. 

v. Geneesk. vol. 61 (II), p. 1543. 

208. Villiger, £., Gehirn und Rückenmark. Leipzig. W. Engel¬ 

mann. 318 S. 4. Aufl. — 14 M. 

209. Voorhoeve , N., Das Krankheitsbild der blauen Sklerae im 

Zusammenhänge mit anderen hereditären bzw. ange¬ 
borenen Abweichungen. Ned. Tijdschr. v.' Geneesk. 
vol. 61 (I), p. 1873. — Referat van der Torren: Ztschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psych., R.- u. E.-Bd. 15, H. 1, S. 24. 

210. Wedekind, Arnim W., Beiträge zur Kasuistik der psychischen 

Infektionen. Journ. f. Psychol. u. Neurol. Bd. 22, H. 6 
u. Bd. 23, H. 1 u. 2, 

211. Weber, L. W., Über den Mißbrauch mit der Diagnose „Hirn- 

erschfitterung“. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 13, 1917. 
(S. 69*.) 

212. Weichbrodt, R. (Frankfurt a. M.), Über die Entstehung von 

Größenideen. Arch. f. Psych. Bd. 57, H. 1, S. 204. 
(S. 72*.) 

213. Weiß, Alice und Sittig, 0. (Prag), Über primären infantilen 

Agrammatismus. Jahrbücher f. Psych. u. Neurol. 
Bd. 37, H. 1/2, S. 1. 

214. Westphal, A. (Bonn), Carl Pelman^. Arch. f. Psych. Bd. 57, 

H. 2, S. 552. 

215. Westphal, A. (Bonn), Über einen Fall von vorübergehender 

reflektorischer Pupillenstarre nebst anderen Erscheinun¬ 
gen von seiten des Nervensystems bei Diabetes mellitus 
(mit anatomischer Untersuchung). Neurol. Ztlbl. Nr. 13, 
S. 514. (S. 69*.) 

216. Weygandt, W., Über Psychologie und Psychopathologie der 

kriegführenden Völker. (Nach einem Vortrag Ende 


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54* 


Bericht über die psychiatrische Litera^uf 1917. 

1916.) Mitteil. a. d. hamburg. Staatskrankenanstalten 
Bd. XV, H. 9. 

217. Wideroe, J., Sindsygdomsformen hos naera slegtniger. 

Tidskrift for den Norske Laegeforeniging 1916, no. 4 u. 5. 

218. Wiersma, E. D. (Groningen), Psychische Nachwirkungen. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 35, H. 3, 
S. 191. (S. 63*.) 

219. Wiesenack, H. (Berlin), Über therapeutische Versuche mit 

Tuberkulinkuren bei Psychosen. Jnaug.-Diss. Jena. 
Berlin. E. Ebening. 26 S. (S. 70*.) 

220. Winterstein, Hans (Rostock), Über Wiederbelebung bei 

Herzstillstand. Münch, med. Wschr. Nr. 5, S. 153. 
(S. 70*.) 

221. Wollenberg , R. (Straßburg i. E.), Zur Frage der Schwanger¬ 

schaftsunterbrechung bei psychischen Krankheiten. 
Arch. f. Gynäkol. Bd. 107, H. 2. (S. 71*.) 

222. Wollenberg, R. (Straßburg i. E.), Psychopathische Persön¬ 

lichkeiten. Straßburger med. Ztg. H. 5. 

223. Ziehen, Theodor, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters 

einschließlich des Schwachsinns und der psychopathi¬ 
schen Konstitutionen. II. Hälfte. Berlin, bei Reuther 
u. Reinhard. 1917. 489 S. — 18 M. (S. 63*.) 

224. Zimmermann, Richard (Hamburg), Über Temperatur- und 

Blutdruckschwankungen sowie Lungenbefund bei 
Geisteskranken. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 42, 
H. 3, S. 162. (S. 69*.) 

225. Zimmermann, R., Beitrag zum antitryptischen Index und 

dem Vorkommen von Eiweiß bei Geisteskranken. 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 36, H. 1/2. 
(S. 69*.) 

226. Zsaskö, St., Pupillenreaktion in bewußtlosem Zustande. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 35, H. 5, 
S. 539. 


Allgemeines. 

Adam (3). Dies in zwei Teilen erschienene Werk gibt die Vorträge wieder, 
die das Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen im Oktober- 


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Gr irnme, Allgemeine Psychiatrie. 


55 * 


Dezember 1916 im Kaiser -Fr iedr ich-Haus in Berlin veranstaltet hat. Der erste Teil 
umfaßt ln erster Linie die militärärztliche gutachtliche Tätigkeit auf dem Gebiete 
der Nerven- und der psychischen Krankheiten, zu der Bonhoefler, Gaupp, Stier, 
Oppenheim, Goldstein die Beiträge geliefert haben. Während der zweite Teil die 
übrigen für die Begutachtung der Militärpersonen in Frage kommenden Krankheiten 
behandelt. Diese Zusammenstellung der Vorträge ist mit Freuden zu begrüßen, 
denn ihr Wert ist nicht für die militärische Begutachtung erschöpft, sondern geht 
durchweg weit über sie hinaus, so daß auch jeder praktische und Facharzt sie als 
Nachschlagewerk benutzen kann. 

Becker (18) beobachtete bei einem soeben gestorbenen Paralytiker ein leichtes, 
vibrierendes Zucken in der lateralen Hälfte des linken Augenlides und stellt fest, 
daß die Zeichen des Lebens nacheinander aufhören, daß Atmung und Herztätig¬ 
keit fast nie gleichzeitig aufhören, und daß sie nicht die alleinigen Zeichen des Lebens 
sind. Vitale Erscheinungen können Atmungs- und Herzstillstand überdauern (Mund¬ 
öffnungsbewegungen bei den Köpfen Hingerichteter). 

Becher (19). Becken Schrift kann jedem Anfänger sehr empfohlen werden 
Ebenso eignet sie sich aber auch für das Pflegepersonal; denn sie gibt in recht ver¬ 
ständlicher Form einen guten Überblick darüber, wie man mit Geisteskranken ve: - 
kehren soll und wie nicht. 

Beckers (20) „Briefe an Angehörige von Geisteskranken“ können den An¬ 
fängern im Fach empfohlen werden. Denn sie zeigen, wie man aufklärend und 
beruhigend die zum Teil überaus unglücklichen und zum Teil uns nicht gut ge¬ 
sinnten Angehörigen beeinflussen soll. Wenn solche Briefe auch nicht geschrieben 
werden, so kann man sich doch in den mündlichen Besprechungen mit den Ange¬ 
hörigen nach ihnen richten. 

Becker (22). Schilderung der Unterschiede zwischen den Psychosen bei 
Männern und Frauen. Dieser Unterschied ist größer, als es beim ersten Hinschauen 
der Fall zu sein scheint. Es ist einmal die Art der Erkrankungen eine verschiedene; 
denn bei den Männern kommen mehr Alkohol- und Luespsychosen, bei den Frauen 
mehr Erkrankungen an manisch-depressivem Irresein vor. Ferner weist die Aus¬ 
gestaltung der Psychosen und das Verhalten der Kranken im Verkehr mit der Um¬ 
gebung Unterschiede auf. 

Bleuler (25). Unter dem Titel „unbewußte Gemeinheiten“ hat Bleuler einen 
Vortrag erscheinen lassen, in dem er mit herzerfrischender Deutlichkeit die Sünden¬ 
geiß eit, die sich der eine gegen den andern zuschulden kommen läßt. Es bekommt 
ein jeder sein Teil ab, der einzelne, die Gesellschaft und der Staat mit seinen Ge¬ 
setzen. Die Schrift hat schon die dritye Auflage erlebt, ein Beweis, wie sehr Bletders 
Worte gezündet haben. Ein jeder lobt solche Bücher; aber ob sich jeder nach ihnen 
richten wird? Im allgemeinen begnügt man sich damit, die Splitter im Auge des 
lieben Nächsten zu sehen. 

Freud (53). Von Freuds Psychopathologie des Alltagslebens ist eine fünfte, 
vermehrte Auflage erschienen. Sie umfaßt jetzt 232 Seiten. Die Einteilung ist 
die gleiche geblieben; stark erweitert sind aber die Ausführungen und die Belegung 
der Ausführungen durch Beispiele. Die Aufgaben sind ziemlich schnell hinterein- 


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56* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


ander gefolgt, ein Beweis, wie sehr das allgemeine Interesse sich den Fretsi sehen 
Deduktionen zugewandt hat. Es ist eben ein Werk, an dem niemand vorüber gehen 
kann, der überzeugt ist, daß es „nichts Willkürliches, Undeterminiertes im Psychi¬ 
schen gibt“, und der bestrebt ist, dem mancherlei Auffälligen und anscheinend auch 
Unbegreiflichen in unserem alltäglichen Denken, Tun und Lassen genauer nach¬ 
zuspüren. So ist das Buch für jeden psychologisch Interessierten und nicht allein 
für Psychiater bestimmt. Es ist zwar vieles der Ausführungen Freuds je nach der 
Stellung, die der einzelne der psychoanalytischen Forschung entgegenbringt, auf 
Widerspruch gestoßen, und wird auch fernerhin Widerspruch erregen; doch bleibt 
das Buch in seiner Gesamtheit ein Fortschritt in der Erkenntnis unseres psycho¬ 
logischen Wissens. 

Friedländer (54) gibt seine Erfahrungen über die durch den Krieg bedingten 
psychischen und nervösen Störungen Seine Voraussage, daß auch die gesund ge¬ 
bliebenen Kriegsteilnehmer längere Zeit brauchen werden, bis sie sich wieder an 
die gleichmäßige, bürgerliche Arbeit gewöhnt haben, ist leider eingetroffen, auch 
wenn man von dem Einfluß der Revolution absehen will. Er befürchtete auch eine 
gewaltige Zunahme der Nervenstörungen nach dem Kriege und redet deshalb einer 
energischen Prophylaxe, die sich zunächst auf die Geschlechtskrankheiten und den 
Alkoholismus zu erstrecken hat, das Wort. Ausführliche, mit Beispielen belegte 
Hinweise schildern den Gang der Untersuchung und die Behandlung, namentlich 
ihre psychologische Seite. Ein besonderes Kapitel wird der Begutachtung gewidmet. 

Fuchs (56). Allgemeine Bemerkungen über Schädel- und Gehirngröße und 
über das Wachstum vom Schädel und Gehirn. Schädelsynostose und Wachstums¬ 
kümmerlichkeit des Gehirns können beide primär sein. Bei der Beurteilung der 
Kopfgröße sind einwandfreie Grenzzahlen nicht zu verlangen. Ebenso kann das Ge¬ 
hirnmindestgewicht in gewissen Grenzen schwanken. 

Fuchs (57) hat seit Jahren persönlich nach eigener Methode Messungen an 
den Schädeln der Kranken vorgenommep und nach ihrem Tode die Gewichte der 
Gehirne festgestellt, um Beziehungen zwischen Intelligenz und Schädelgröße und 
* Gehirngewicht aufzudecken. Er hat solche 'Beziehungen zwischen der Schädelgröße 
und Gehirngröße festgestellt; doch handelt es sich nur tun Wahrscheinlichkeiten. 
Ebenso bestehen Beziehungen zwischen Kopfgröße und Intelligenz; die soziale Pro¬ 
gnose der Psychosen soll bei größeren Schädelmaßen besser sein; gute Stirnschädel¬ 
maße sollen auf gute intellektuelle Anlagen im Sinne der Lebhaftigkeit, des Eifers, 
der Phantasie hindeuten, während gute (Jinterhauptmaße für Zähigkeit, ruhiges 
Wollen und Energie sprechen sollen. 

Fuchs (58). Unter den Ursachen des Weltkrieges hat als Folge des zu lang 
ausgesponnenen Friedens eine zugespitzte, fast blutdürstige seelische Spannung mitge¬ 
wirkt. Deshalb erzeugte der Kriegsausbruch, von jeher von abnormer Erregung 
begleitet, diesmal eine besonders abwegige Mentalität. Die Anfangsbegeisterung war 
ebenso ephemer, wie es .die Abspannung sein wird, die jetzt z.B. in den ewigen 
Friedensangeboten sich symptomatisiert. Die Pazifisten sind Querulanten oder 
psychisch Minderwertige. 

Jene Stimmungsextreme sind beide ungeeignet als Basis für politische Maß- 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


57* 


nahmen, die die Zukunft festlegen. Die Weltgeschichte warnt vor romantischer 
Psychologie. Der Staatsmann darf kein* Momentmedium sein. Ein voller Tropfen 
Psychiatrie mangelt der Achse unserer Politik. 

Dem Fürsten geben Tradition und Intuition die Fähigkeit, klarer zu sehen 
als seine Beamten: die Farbe des Purpurs ist für die politische Netzhaut gesunder 
als die Farbe des grünen Tisches. 

Gaapp (59). Im Anschluß an die Bestimmung des Begriffes Konstitution 
durch J. Bauer und Tandler gibt Gaapp eine klinische Schilderung des Begriffes 
psychopathische Konstitution. Die individuelle Körperverfassung wird gebildet 
durch die Summe der durch das-Keimpla9ma übertragenen Eigenschaften und der 
Summe der intra- und extrauterinen Erwerbungen, Beeinflussungen und Anpassun¬ 
gen des Organismus. Die Konstitution ist angeboren, in ihrem Grundwesen unab¬ 
änderlich und im Leben nur wenig modifizierbar. Klinisch ist von Bedeutung, daß 
die angeborene Konstitutionsanomalie keineswegs eine Krankheit ist, daß sie sich 
oft erst recht spät unter den Einwirkungen besonderer Umstände bemerkbar macht, 
daß man also von einer latenten Disposition sprechen kann. Ferner ist sie bisweilen 
durch das ganze^Leben hindurch stationär. Sie ist vererbt oder durch Keimfeind¬ 
schaft entstanden; doch ist die Unterscheidung zwischen vererbter und der ange¬ 
borenen, aber intrauterin erworbenen Krankheitsanlage nicht immer möglich. Bei 
schwer erblicher Belastung kommt es nicht selten infolge periodischer Steigerungen 
zur Psychose. Die Symptomatologie läßt bestimmte Typen und Unterformen unter¬ 
scheiden. 

' Gereon (60). Ausführliche psychologische Untersuchung über die Entstehung 
und das Wesen von Schmerz und Schreck. Die Bewegungen, die bei lebhaftem 
Schmerz ausgeführt werden, sind Abwehrbewegungen, die unbewußt und unwill¬ 
kürlich ausgeführt und durch einen nervösen Mechanismus erzeugt werden, der 
Schmerzmechanismus genannt wird, weil er durch schmerzhafte Reize ausgeführt 
wird und mit dem Schmerzgefühl verknüpft ist. Der Mensch hat ihn von den Tieren 
ererbt. Auch der Schreck beruht auf einem nervösen Mechanismus, der sogar Be¬ 
wußtlosigkeit herbeiführen kann. Auch er ist ein Erbe unserer tierischen Vorfahren. 
Er wird wie bei den Tieren ohne vorstellendes Bewußtsein ausgeübt. Die Erscheinun¬ 
gen, die der Schreckmechanismus bei den Tieren hervorruft, gleichen auffällig denen, 
die beim Menschen auftreten. Schmerz und Schreck stehen in ursächlichem Zu¬ 
sammenhänge miteinander. Der Schreckmechanismus hat sich in aufsteigender 
Tierreihe durch das Angstgefühl als Bindeglied im Anschluß an den Schmerzmecha¬ 
nismus entwickelt. Die Tiere, die den Schreckmechanismus bes i tzen, sind auch fähig, 
den Schmerz bewußt zu fühlen. Man kann annehmen, daß von den Anthropoden an 
der Schmerz bewußt gefühlt wird. 

Die genaueren Ausführungen müssen im Original nachgelesen werden. 

Gereon (61). Der Verf. hat sich 'die Aufgabe gestellt, die wechselseitigen Be¬ 
ziehungen der Geschlechter zueinander und das Verhalten jedes Teiles zur Zeit der 
Geschlechtsreife und des Begattungsaktes zu beleuchten und phylogenetisch zu er¬ 
klären. Besprochen werden »der Kampf der Geschlechter", „die Brunstreflexe“, 
„das Geschlechtsgefühl“, „das Weinen und Lachen". Zu den Brunstreflexen werden 


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58 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


die unbewußten und unwillkürlichen Bewegungen gerechnet, die Geschlechtsreize 
bei Tieren und«Menschen hervorrufen, also das, was an Stelle der Kämpfe getreten 
ist, die Scheinkämpfe, das Liebesspiel, die Balzbewegungen. Auch der Kuß und. 
der Tanz, ferner der Ursprung der Musik und der Sprache werden mit dem Brunst¬ 
reflex in Beziehung gebracht. In dem Kapitel über das Geschlechtsgefühl wird die 
Entstehung der Wollust aus dem Liebesschmerz zu zeigen versucht. Auch das 
Weinen und Lachen wird als Brunstreflex erklärt, und es wird geschildert, wie das 
Lachen aus einem dem Weinen ähnlichen Brunstreflex entstanden sein soll. 

Graudcnz (64). Allgemeine Übersicht über die Entartungszeichen unter 
Schilderung eigener Fälle. 

Grünbaum (66). Psychologische Bemerkungen zu einem Erlebnis, in dem 
eine komplizierte Wahrnehmung trotz der peripheren Empfindungskomponente nur 
als Vorstellung bewußt wurde. 

Szymon Hern (75) hat Tintenkleckse in ihren verschiedensten Formen Schul¬ 
kindern, normalen Erwachsenen und Geisteskranken vorgelegt und sie zu Deutungen 
der Kleckse veranlaßt, um auf diese Weise einen Einblick in das Walten der Phantasie 
zu bekommen. Die verschiedenartige Beeinflussung der Phantasie je nach dem Alter, 
dem Geschlecht, dem Charakter und der ganzen Lebensauffassung, der sozialen 
Stellung, dem allgemeinen Gedankenkreise, dem Beruf usw. tritt deutlich hervor. 

Hinrichsen (76). Dieses Schriftchen des Schweizer Psychiaters gehört zu den 
besseren von all den vielen Schriften, die den Seelenzustand der kämpfenden Völker 
zum Inhalt haben. Es ist gewandt und temperamentvoll geschrieben und schildert 
die Massensuggestion, und wie die Volksstimmungen entstehen, recht anschaulich’ 

'Magnus Hirschftlch (78) Sexualjjtathologie dürfte berufen sein, den Platz von 
Kraft Ebings .Psychopathie sexualisr einzunehmen. Es ist ein aus der ganz außer¬ 
ordentlich reichen Erfahrung des Verf. entstandenes Werk; es ist, wie er in der Ein¬ 
leitung selbst sagt, nicht in der Schreibstube, sondern im Sprechzimmer entstanden. 
Dies merkt man dem Buche bei der Lebendigkeit der Darstellung auf jeder Seite an; 
dazu kommt, daß das Buch infolge der Einteilung des Stoffes, der ein systematisches 
Vorgehen zugrunde liegt, einen überaus einheitlichen Eindruck macht. Die innere Sekre¬ 
tion, die nicht nur in ihrer Bedeutung, sondernauch tatsächlich zu Kraft EbingsZtitien 
noch unbekannt war, oder vielmehr die Störung dieses inneren Chemismus durch¬ 
zieht als Leitmotiv das ganze Buch. Zuerst wird der angeborene und erworbene 
Geschlechtsdrüsenausfall behandelt. Dann folgt der Infantilismus, d.h. das Stehen¬ 
bleiben auf kindlicher Entwicklungsstufe. Hieran schließt sich die Frühreife. Im 
4. Kapitel werden die Störungen in dem Entwicklungsjahre behandelt; im 5., einem 
groß angelegten Abschnitt, die Onanie in ihrem Wesen, ihrer Erscheinungsform und 
ihrer Behandlung, und endlich im 6. Kapitel das Verliebtsein in den eigenen Körper, 
der sogenannte Automonosexualismus. Abbildungen und Krankengeschichten ver¬ 
vollkommnen die Darstellung, die durchweg so gehalten ist, daß der Wunsch, es 
möchte auch der andere Teil des Werkes bald erscheinen, sehr rege wird. 

Horstmann (84) kommt in seinen Untersuchungen über die psychologischen 
Grundlagen des Negativismus zu folgenden Ergebnissen. Als disponierend wirken 
eine Herabsetzung der Urteilsfähigkeit, ferner gewisse Einflüsse der Stimmung, die 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


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Gegensätzlichkeit im Ablauf der Bewußtseinsvorgänge und die Neigung des Gefühls 
zum Invertieren. Dagegen sieht er in dem Kontrasthunger ein aktiv wirksames 
Prinzip. Der Negativismus mäßigen Grades ist physiologisch und hilft die Persönlich¬ 
keit bilden; er ist aber ein Ausdruck einer Störung im Ausgleich der Strebungen und 
Kontraststrebungen und findet sich bei allen psychischen Schwächezuständen, die 
eine intrapsychische Ataxie zeigen. 

Jentsch (88). Es ist immer ein sehr anerkennenswertes Unterfangen, psychi¬ 
schen Störungen hervorragender oder nach irgendeiner Richtung ihrer Veranlagung 
hin auffallender Persönlichkeiten nachzugehen; doch ist die Aufgabe aus leicht be¬ 
greiflichen Gründen vielfach eine äußerst schwierige und muß häufig eine unvoll¬ 
kommene bleiben. Man wird auch die Untersuchungen Jentschs über Linggs Krank¬ 
heit dankbar begrüßen; es bleibt aber zweifelhaft, ob man seiner Auffassung über die 
Erkrankung als ein neurasthenisches Irresein überall zustimmen wird.' Doch soll 
eine solche Verschiedenheit in der Auffassung die Beurteilung der Arbeit nicht 
beeinträchtigen. 

Jentsch (89). Ausführlicher geschichtlicher und klinischer Überblick über die 
Lehre von den Degenerationszeichen, ihre Beziehungen zu anatomischen Varietäten, 
zu den Mißbildungen, zur Pathologie. Viele Entartungszeichen äußern sich als 
Störungen in der morphologischen Entwicklung; es liegt ihnen eine „Gleichgewichts¬ 
störung der Trophik“ zugrunde. Diese können $ich als Ähnlichkeiten vererben, 
insofern als nur die abnorme Anlage als Prinzip bleibt und ihre Äußerungen bald 
diesen, bald jenen Körperteil befallen und verschiedene Formen annehmen können. 
Auch über das morphologische Gebiet hinaus ist der Entartungsbegriff auf Vorgänge 
übertragen, die in das physiologische Gebiet gehören, z. B. auf die Linkshändigkeit, 
Stottern und Schielen, weiter auf die Tics, die Reflexanomalien, das Zittern. Die 
Beziehungen zwischen den Degenerationszeichen und der Nervenpathologie sind 
noch zu wenig erforscht, um allgemeine' klare Einblicke zu gewähren. Sichere Schlüsse 
auf spezielle Diagnose und Prognose der Nerveg- und Geisteskrankheiten können 
noch nicht gezogen werden. 

v..Kemnitz (96) greift mit einem tief angelegten Werke in die Frauenbewegung 
ein. Sie will der Frau zu ihrem Rechte verhelfen und die für die Allgemeinheit 
nützlichen Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts für den Staat auch benutzt wissen. 
Doch erblickt sie einen Fehler der bisherigen Bestrebungen darin, daß das wirkliche 
Können des Weibes, wie es sich aus der besonderen geistigen Veranlagung, aus den 
Eigentümlichkeiten des Intellektes, des Affektes, der Phantasietätigkeit, des Inter¬ 
esses, des Urteilens, des Gedächtnisses, des Gefühlslebens, des Willens usw. ergibt, 
nicht zug unde gelegt ist. Das Weib ist nicht minderwertig und auch dem Manne 
nicht gleich, sondern es bestehen große Unterschiede zwischen männlicher und 
weiblicher Veranlagung. Bis jetzt sind wenige Fähigkeiten des Weibes verwertet^ 
und dadurch hat sich Staat und Familie viel entgehen lassen; andrerseits würde es 
aber auch zu einem Mißbrauch der-Frauenkraft kommen, wenn bei der Erweiterung 
der weiblichen Arbeitsgebiete nur von der Gleichberechtigung der Geschlechter 
ausgegangen würde. Deshalb gibt v. Kemnitz in dem ersten Hauptteil „Die Ergeb¬ 
nisse der wissenschaftlichen Forschung über weibliche Eigenart“ wieder, bespricht 


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60* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

in dem zweiten Hauptteile „Die Anwendung der Forschungsergebnisse zur Erklärung 
der Vergangenheit“ und kommt zuletzt auf die Forderungen, die sieb hieraus auf 
die „Entwicklung und Betätigung der Frau* ergeben, v. K. sucht sich einer gerechten 
Würdigung der physiologischen Tatsachen zu befleißigen, und das Werk wird gerade 
in dieser Zeit, die der Frau wenigstens die politische Gleichberechtigung gebracht 
hat, fraglos größten Anklang finden. 

Loevoenfdd (120) schildert den enormen Einfluß, den die Suggestion, mit deren 
Hilfe es unseren Feinden gelang, die ganze Welt gegenuns*aufzuhetzen, gehabt hat, 
und zeigt das Wirken der Suggestion an vielen Beispielen. Nach einer Veranschauli¬ 
chung des Wesens der? Suggestion und der Suggestibilität wird die Suggestion in 
der Politik, unter den Kriegsursachen, im Verlaufe des Weltkrieges, ferner in der 
Antwortnote des Verbandes auf das deutsche Friedensangebot und in dem, was die 
Gegner von dem deutschen Imperialismus und Verwandtem zu sagen wußten, 
geschildert. U. a. lernt man erkennen, welche suggestive Kraft die Benennung Wilsons 
als den Friedenspräsidenten, ferner für Frankreich die Revancheidee und für England 
der Glaube, von Gott zur Weltherrschaft berufen zu sein, und für Rußland die angeb¬ 
liche Notwendigkeit, Konstantinopel zu besitzen, gehabt hat. Außerordentlich zahl¬ 
reich und zutreffend sind ferner die Beispiele für die Suggestion im Verlaufe des 
Krieges. So bringt das Werk durchweg ein volles Verständnis für so viele Erscheinun¬ 
gen, die zunächst nicht erfaßt werden können. Es ist aber nicht nur die interessante 
Wissenschaft, die den Leser an das Buch fesselt, sondern auch die überall durch¬ 
klingende Vaterlandsliebe, die die Gefahren der feindlichen Suggestion und die uns 
zugefügte Schmach richtig und rechtzeitig erkannt hat. Hätten wir Deutschen uns 
doch dieses Mittels bedient und bedienen können. 

Lubarsch (122). Kurzer Überblick über die Bedeutung Virchotos und Orths 
für die pathologisch-anatomische Wissenschaft. Die wesentliche Aufgabe der Patho¬ 
logie wird für die Zukunft sein, die Beziehungen zwischen Krankheiten, den Krank¬ 
heitserscheinungen und den krankhaften Verändei ungen des Organismus festzu¬ 
stellen. Es ist dies eine Aufgabe, die sowohl grundsätzlich als auch für den Einzelfall 
erhebliche Schwierigkeiten machen kann, denn die Ansichten über die pathologische 
Bedeutung ganzer Gruppen krankhafter Veränderungen gehen noch auseinander und 
haben im Laufe der Zeiten erhebliche Wandlungen erfahren. Lubarsch weist hierfür 
auf die Lehre von den Verfettungen und Amyloidablagerung hin. Zur Erreichung 
dieses Zieles müssen alle Hilfswissenschaften und Methoden der biologischen For¬ 
schung herangezogen werden. Inniges und vertrauensvolles Zusammenarbeiten 
zwischen Klinikern und Pathologen ist nötig. Auch die Fragen der Disposition und 
Konstitution spielen eine große Rolle. Eine weitere Aufgabe der pathologischen 
Forschung ist die nach der Gewinnung eines zuverlässigen Urteils über die Richtig¬ 
keit des ärztlichen Handelns aus dem Leichenbefund. 

E. Mojer (129). Voraussetzung für die Entstehung der psychischen und 
nervösen Krankheiten ist die Krankheitsanlage. 

Märchen (137) faßt die nach einer spezifischen Schockwirkung im Schützen¬ 
graben auftretenden Innervationsstörungen unter der Bezeichnung „Innervations¬ 
schock** zusammen und unterscheidet einen primären und einen sekundären Innerva- 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


61* 


tionsschock. Den primären vergleicht er mit dem Zustande, in dem sich ein unter 
dem Zwange einer posthypnotischen Suggestion stehender Mensch befindet. Es 
handelt sich um einen krankhaft veränderten Geisteszustand, bei dem man auch 
häufig psychische Defekte der Merkfähigkeit, des Auffassungsvermögens und der 
Ansprechbarkeit festgestellt hat. Diese Zustände werden von den Kranken selbst 
häufig als ein Gefühl unwiderstehlichen Zwanges empfunden. Eine Mitwirkung des 
bewußten und unterbewußten Denkens spielt bei ihrer Entstehung keine Rolle. 
Unter dem Einfluß solchen Denkens entwickelt sich der sekundäre Innervations¬ 
schock. Beide Fdrmen können ineinander übergehen; die sekundäre Form kann 
aber auch ohne vorangegangene primäre Störungen oder längere Zeit nach ihrer 
Abheilung entstehen. Ihr Wesen ist eine psychogene Fixierung der Schockwirkung, 
bei der weniger bewußte Strebungen und Wünsche als Verdrängungen eine Rolle 
spielen. Deshalb wird auch der Ausdruck „Zweckneurose“ vermieden. 

Placzek s (146) „Freundschaft und Sexualität“ erscheint in der dritten und 
erweiterten Auflage. Es ist also innerhalb Jahresfrist eine neue Auflage nötig geworden, 
ein Zeichen, daß die Schrift Anklang gefunden hat. Die Erweiterung besteht in der 
Aufnahme der Kapitel „Freundschaft, Lehrer und Erzieher“ und „Sokrates und 
Alcibiades“. Namentlich das erste dieser beiden Kapitel wird von allen in der Jugend¬ 
erziehung tätigen Personen mit Interesse gelesen werden, denn es läßt mit einer 
wortgetreu wiedergegebenen Abhandlung einen im Kriege gefallenen Lehrer zu Worte 
kommen. Dbnit wird ein neues Gebiet menschlichen Zusammenlebens, in dem 
freundschaftliche und sexuelle Beziehungen eine Rolle spielen, berührt. 

Raeckfi (150). Eine Entgegnung auf Jtmgs Schrift „Der Inhalt der Psychose“, 
in der Jung etwas einseitig die psychologische Forschungsmethode gegenüber den 
anatomischen Bestrebungen in den Vordergrund stellt. 

Ribbert (153). Man ist nicht in der Lage, die Entstehung der erblichen, krank¬ 
haften Veränderungen, der scharf umgrenzten sowohl wie der konstitutionellen 
Anomalien, zu erklären. Die Menschheit ist im weitesten Maße mit ihnen durch¬ 
setzt; sie sind wahrscheinlich nicht durch nachteilige Einflüsse auf Keimzellen 
irgendwelcher Entwicklungsstufen entstanden, sondern haben sich unmerklich wie 
alle normalen Eigenschaften allmählich herausgebildet. Es ist eine über ungezählte 
Generationen sich ununterbrochen erstreckende Vererbung. 

Schaffer (159). Nach einer literarischen Übersicht über die Theorien der 
Furchenbildung des Gehirns kommt Schaffer zu'dem Schluß, daß infolge von Wachs¬ 
tum im Hemisphäreninneren eine Spannung auftritt, die abwechselnd in saggitaler 
bzw. transversaler Richtung wirkt, als lokaler Reiz dient, die lokale Randschleier¬ 
veränderung entstehen ließe, die ihrerseits zunächst zur Grübchen-, dann zur Furchen¬ 
bildung führt und so das Entstehen der konstanten Furchen bewirkt. Die inkon¬ 
stanten Furchen werden daneben durch Vererbungsmomente bestimmt. Der Fur¬ 
chungsprozeß muß als Einkerbung und nicht als Fältelung aufgefaßt werden. 

Schaffer (160). Nach einer kritischen literarischen Übersicht schildert Schaffer 
am Gehirn eines fünfmonatigen Fötus die normale Hirnfurchung. Im zweiten Teile 
wird im Anschluß hieran die pathologische Rindengestaltung unter Beschreibung 
von zwei Fällen von Mikrogyrie geschildert und wiederum_eine kritische Übersicht 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


62* 

über die Pathogenese und Histogenese der Mikrogyrie gegeben. 16 Textfiguren 
und 11 Tafeln veranschaulichen das Gesagte. Einzelheiten müssen im Original nach¬ 
gelesen werden. 

Schroeder (167) bestreitet, daß die Psychiatrie in der Diagnostik so weit hinter 
der inneren Medizin zurück sei, da die innere Medizin, sobald nur die Erkrankungen 
einzelner Organe in Frage kommen, auch nur sehr wenige scharf abgrenzbare Krank¬ 
heiten kenne und in vielen Fällen, z. B. bei den Erkrankungen der Nieren, mindestens 
die gleiche, wenn nicht gar sehr viel mehr Unsicherheit und Unbestimmtheit erkennen 
lasse wie die Psychiatrie. 

J. H. Schultz (170) gibt eine kritische Einführung von Freuds Sexualpsycho¬ 
analyse, die für Gerichtsärzte, Arzte und Laien bestimmt ist; sie soll den Weg zur 
selbständigen Beurteilung und zum näheren Studium der Psychoanalyse erleichtern. 
Man muß es Schultz zu Dank anrechnen, daß er sich dieser Mühe unterzogen hat, 
denn er gibt in knapper Form das Wesentlichste aus diesem für jeden Fernerstehenden 
schwierigen Gebiete, so daß die Schrift jedem empfohlen werden kann, der sich mit 
den psychoanalytischen Forschungen beschäftigen Will. Sie ist nicht nur ein Auszug 
aus der Literatur, sondern stützt sich auf eine reichhaltige eigene Erfahrung. 

Siebert (174) hat in der vom Verlag J. F. Lehmann in München herausgegebenen 
Sammlung „Bücherei deutscher Erneuerung“ als drittes Heft unter dem Titel „Der 
völkische Gehalt der Rassenhygiene“ ein 214 Seiten umfassendes Buch herausgegeben, 
das allen denen sehr empfohlen werden kann, die sich über die Grundlagen unter¬ 
richten wollen, auf denen unser Vaterland wieder aufgebaut werden muß. Da die 
Rassenbygiene oder die Stammespflege weitgehend von medizinischen und auch 
psychiatrischen Gesichtspunkten bestimmt wird, ist die Besprechung des Buches 
hier angezeigt. Der erste Teil, betitelt „Volkstum und Rassenpflege“, behandelt die 
allgemeinen Fragen. Erfreulich klingt die Scheidung, die Siebert macht zwischen der 
Weltanschauung, wie sie die französische Revolution mit der Predigt von der Gleich¬ 
heit aller Menschen bis heute noch herrschend gemacht hat und der, wie sie jeder 
Stammespflege zugrunde liegen muß. Weiter wird besprochen „die Blutsgemein¬ 
schaft und die Auslese" in ihren Arten und Wirkungen, die Volkszahl und die Folgen 
der Geburtenbeschränkung. In dem zweiten Abschnitt ,Die Stammespflege eine 
völkische Aufgabe“ werden die praktischen Forderungen behandelt, wie sie die „Ge¬ 
sundheitspflege“ und „die aufbauende Stammespflege“ verlangen, und zwar besonders 
die Mittel zur Hemmung des Sinkens der Geburtenzahl und die Mittel zur Rein¬ 
haltung des Blutes. Durch das ganze Buch geht das Bestreben, jedem einzelnen die 
völkische Gemeinschaft wieder als das kostbarste Stammesgut erkennen zu lassen 
und die Lehren der gleichmacherischen Demokratie in ihrer Schädlichkeit zu zeigen. 

Siemens (177). Kurze, gemeinverständliche Darstellung der experimentdien 
Erblichkeitslehre und Rassenforschung. Die Ergebnisse der vererbungswissen¬ 
schaftlichen Forschungen sollen weiten Kreisen zugänglich gemacht werden. Eine 
Vorbedingung hierzu ist von Siemens damit erfüllt, daß er die fremdsprachlichen 
Ausdrücke durch deutsche ersetzt hat. Wenn irgendwo diese Eigentümlichkeit, nur 
fremdsprachliche Ausdrücke zu gebrauchen, zu Hause ist, dann ist es in der Erblich¬ 
keitsforschung der Fall. Das Studium wird dadurch für weite Kreise außerordentlich 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


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erschwert. Die Siiemenssche Schrift liest sich sehr leicht und wird deshalb fraglos 
<lazu beitragen, die Lehre der Rassenforschung weit im deutschen Volke zu verbreiten. 

Sommer (185). In sehr interessanten Ausführungen untersucht Sommer im 
Anschluß an die Gesamtausgabe der Schriften Friedrichs des Großen dessen schrift¬ 
stellerische Fähigkeit vom Standpunkt der Vererbungslehre; und zwar wird nicht nur 
die Begabung selbst genetisch verfolgt, sondern es wird auch gezeigt, wie die be¬ 
sonderen Eigentümlichkeiten seines schriftstellerischen Ausdrucks auf einzelne Per¬ 
sönlichkeiten unter seinen Ahnen zurückgehen, von denen eine jede ihre besondere 
Ausdrucksform gehabt hat. Friedrich der Große war für seine schriftstellerische 
Begabung wesentlich aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg beeinflußt. Auf diese 
Abstammung lassen sich aber auch noch weitere Charaktereigenschaften zurück¬ 
führen, z. B. sein Mißtrauen. 

Stuchllk (195) demonstriert an dem Psychotherapie betreffenden Inhalt der 
Reihehen „Rhapsodien“, wie die heute als besondere Formen der Psychotherapie 
bekannten Lehren schon diesem alten Arzt bekannt und von ihm praktisch angewendet 
wurden; auch Elemente der modernsten Psychoanalyse lassen sich konstatieren. 
Die Grundlage der Tatsachen — trotzdem anderen wissenschaftlichen Jargons — und 
-die Auffassung derselben ist damals die gleiche gewesen wie heute. 

Jar. St uchllk (Rot-Kostdec). 

Wienma (218) hat an Schulkindern Untersuchungen über die psychische 
Nachwirkung, die dem Gedächtnis und der Übung zugrunde liegt, angestellt. Er 
konnte den Einfluß der Übung feststellen und die Abhängigkeit des Gedächtnisses 
von der psychischen Nachwirkung beweisen. Stärker anstrengende Arbeit beein¬ 
trächtigt die Nachwirkungen vorangegangener leichterer Arbeit. Ausführliche Ta¬ 
bellen veranschaulichen das Ergebnis der Untersuchungen. Die Einzelheiten müssen 
im Original nachgelesen werden. 

Ziehen (223). Von dem Ziehenschen Werke „Die Geisteskrankheiten des 
Kindesalters“ ist jetzt die zweite Hälfte erschienen, die die Psychosen ohne Intelli¬ 
genzdefekt behandelt. Die Einteilung der Psychosen ist die gleiche wie in dem Lehr¬ 
buch von Ziehen, in I. einfache und II. zusammengesetzte Psychosen mit ihren be¬ 
kannten Unterabteilungen. Die Schilderung der einzelnen Krankheitszustände ist 
«ine ausführliche, so daß sie dem nicht medizinisch und besonders nicht psychiatrisch 
vorgebildeten Lehrer und Erzieher ein klares, verständliches Bild der Krankheiten 
gibt. Der Hinweis auf praktische Fälle und die Wiedergabe kurzer Krankheits¬ 
geschichten erleichtern das Verständnis nöch mehr. Bei der großen Bedeutung für 
das Kindesalter ist das, was Ziehen unter den Dämmerzuständen und unter Begleit- 
-delirien zusammenfaßt, ferner die Geistesstörung aus Zwangsvorstellungen und die 
mannigfachen Bilder der psychopathischen Konstitutionen besonders eingehend be¬ 
handelt. Der Arzt wird die Anführung der Literatur, die sogar durch einen Anhang 
noch vervollständigt ist, dankbar begrüßen. 

Das Werk umfaßt 274 Seiten und kostet 11,50 M. 

Diagnostik. 

Auerbach(8). Gordonsche Zehenphänomen. Tiefer Druckmitden Fingern II—V 
«iner oder beider Hände auf das distale Drittel der Wadenmuskulatur erzeugt bei 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


Affizierung des Tractus cortico-spinalis eine träge, isolierte DorsaHkktion der großen 
Zehe. Sie wurde gefunden bei multipler Sklerose, Lues cerebrospinalis, Meningo¬ 
myelitis luetica, multiplen Karzinommetastasen, Luxation der unteren Dorsal- und 
oberen Lendenwirbelsäule, Granatsteckschuß im rechten Stirnlappen u. a. 

Bäumler (11). Beschleunigung des Pulses in der Hypnose und sofortige Rück¬ 
kehr der normalen Pulszahl nach Aufhören des hypnotischen Zustandes. Keine 
affektive Beeinflussung. 

Böhme (27). Es handelt sich um einen Reflex, der in Seitenlage des Kranken 
geprüft wird. Das unten liegende Bein wird-in Strecksteilung, das oben liegende 
in Beugestellung gebracht und mit der Hand ein wenig unterstützt. Wird jetzt'die 
Sohle des unten liegenden, gestreckten Beines durch Stechen oder Streichen gereizt, 
so daß es reflektorisch in'Beugestellung gerät, so streckt sich gleichzeitig oder etwas 
später das oben liegende, in Beugestellung befindliche Bein. Der Reflex!tritt"auf 4 bei 
Erkrankung der Pyramidenbahn. 

Bonhoeffer (31). Entgegnung auf die Kritik an der von ihm aufgesteilten 
exogenen Reaktionstypen. Specht gegenüber hält B. daran fest, daß das Vorkommen 
einfacher Depressionen aus exogener Ursache zum mindesten eine Seltenheit ist. 
Bei den Dämmerzuständen nach Alkohol und bei Delirien bei Fieber, die nach 
Spechts Meinung wohl exogen ausgelöst, aber endogen begründet sind, ist B. in teil¬ 
weiser Anerkennung des Specfaschen Standpunktes bereit, als Erklärung für die 
innere Konstellation ein autotoxisches Agens anzunehmen, das exogen in seinem 
Sinne wirken könne. Doch räumt B. ein, daß sich bei solchen Zuständen die Ab¬ 
grenzungsmöglichkeit des Exogenen und Endogenen verwische. Auch die Specht - 
Anschauung, daß die exogenen Reaktionstypen nur Steigerungen des endogenen 
Krankheitsprozesses beim manisch-depressiven Irresein sein sollen, bestreitet B. 
unter Hinweis darauf, daß solche Zustände nur nach arteriosklerotischen Insulten 
und nach somatischen Störungen anderer Art aufgetreten sind. Es kann sich auch 
nicht bei jeder endogenen Psychose jedes beliebige exogene Zustandsbild einschieben. 
Auch der Auffassung Knauers, der durch die Aufstellung einer Gelenktheumatismus- 
psychose, die Ansicht Bonhoeßers, daß bestimmten Noxen ein spezifischer psychoti¬ 
scher Typus nicht entspräche, widerlegen zu können glaubt, wird widersprochen. 
. Fließ (52) hat beobachtet, daß ein Symptomenkomplex, bestehend aus Hinter¬ 
hauptsschmerz und Schmerzeri in den Beinen, die auf den Ischiasnerven zu beziehen 
sind, anfallsweise auftretendes Mattigkeitsgefühi und Störungen des Denkens im 
Sinne vermindertet Konzentrationsfähigkeit auf eine Hypofunktion der Hypophysis 
zurückzuführen sind. Diese Störungen finden sich namentlich bei Frauen und 
schließen sich vielfach an Schwangerschaften an. Gelegentlich stehen sie auch in 
Verbindung mit Störungen, die von der Funktion der Schilddrüse abhängig sind. 
Zuführung von Hypophysentabletten Ix achten die Beschwerden zum Verschwinden. 

Gregor (65) macht unter Hinweis auf sein ausführliches, noch im Erscheinen 
begriffenes Werk Mitteilung von den Ergebnissen seiner mehrjährigen Beobachtung 
von annähernd 1500 Fürsorgezöglingen, die in dem Heilerziehungsheim Kleinmeus¬ 
dorf bei Leipzig beobachtet waren. G. hebt dabei zwei verschiedene Typen unter 
seinen Zöglingen hervor; einmal solche Fälle, bei denen djpVerwahrlosung ziemlich 


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Grimm e, Allgemeine Psychiatrie. 


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plötzlich mit einer förmlichen Umwandlung des Individuums einsetzt und einen 
mehr episodischen Charakter hat, und im Gegensatz hierzu Fälle, in denen die Ver¬ 
wahrlosung sich aus kleinen Anfängen langsam entwickelt und die tief angelegte 
Neigung zu unmoralischem Handeln allen Erziehungsversuchen zum Trotz erhalten 
bleibt. Die ersten nennt er die moralisch Schwachen und die anderen die moralisch 
Minderwertigen. Bei den moralisch Schwachen setzt die Verwahrlosung vielfach 
in den kritischen Entwicklungsphasen, nämlich in der Zeit der Vorpubertät im 
12. Lebensjahre oder in der Pubertät ein und ist von auffälligen Änderungen der 
psychischen Persönlichkeit, die an Symptome der Dementia praecox erinnern, be¬ 
gleitet. Ferner spielen bei ihnen exogene Einflüsse eine große Rolle, während bei der 
Gruppe der moralisch Minderwertigen endogene Einflüsse in den Vordergrund treten. 
Diese beiden Typen werden nach der einen Seite hin ergänzt durch Fälle, die G. als 
moralisch intakt bezeichnet, und nach der anderen Seite hin durch sogenannte asoziale 
Typen. Endlich unterscheidet G. noch Fälle mit moralischer Indifferenz, bei denen 
die Vergehen die Folge eines krankhaften psychischen Mechanismus sind und bei 
denen die Verantwortlichkeit infolgedessen aufgehoben ist. 

Hoche (79) gibt die Beobachtungen wieder, die er an der Bevölkerung der 
Stadt Freiburg bei den wiederholten Fliegerangriffen machen konnte. Bemerkens¬ 
wert ist die Gewöhnung, die alsbald bei einem großen Teil der Bevölkerung eintrat 
Schwer wirkt die Passivität des Erduldens, namentlich dann, wenn die Spannung 
und Erwartung durcn Hören des Herankommens der Bombe verschärft wird. Psychi¬ 
sche Schädigungen, die zur Aufnahme in die Klinik hätten führen müssen, sind nicht 
aufgetreten. Mit zunehmendem Alter wurde die Widersiandsfähigkeit gegen die 
nervösen Eindrücke besser, im höheren Alter wohl deshalb, weil die mit dem Altern 
verbundene Unerregbarkeit einen Schutz bildete. Der Einfluß auf die Kranken der 
Klinik war gering. Gewisse psychopathische Persönlichkeiten durchlebten die Er¬ 
eignisse in einer gewisäen Freudigkeit. Beträchtlich waren unter den Nachwirkungen 
die Schlafstörungen vertreten. Die mit der Explosion verbundenen Luftdruck¬ 
schwankungen wurden wenig empfunden. 

Hübner (85) bespricht die funktionellen Störungen, die bei der Beobachtung 
von Kriegsteilnehmern und Unfallverletzten in der psychiatrischen Klinik Bonns 
gemacht sind, ohne eine zusammenfassende Bearbeitung des reichen Materials geben 
zu wollen. Eine Differenzierung der Krankheitsbilder nach Ursachen ist nicht 
möglich. Bei der Entstehung von Neurosen wirken nicht allein Wunschvorstellungen 
mit, sondern auch andere Faktoren. Man muß zwischen der Entstehung eines Sym- 
ptomes und seinem Fortbestehen unterscheiden. Bei der Entstehung wirkt in erster 
Linie die individuelle Reaktion des Betroffenen mit. Die bei den Kranken beob¬ 
achteten Erscheinungen haben auch Ähnlichkeit mit den Erscheinungen des Traum¬ 
lebens. Auch die „Einstellung“, die Situation, in der sich die Kranken vor Eintritt 
des Geschehnisses befinden, spielt eine Rolle; ferner die „Hysterisierung“. Das Fort¬ 
bestehen der Symptome hängt von einer Unsumme von Einzelfaktoren innerer und 
äußerer Art ab. Bei den Psychoneurosen werden eingehend die Schlafstörungen und 
ähnliche, am Tage bei vollem Wachen eintretende Störungen geschildert, ferner die 
episodisch sich einstellenden Schlafzustände und die Zwangserscheinungen. Von 
Zeitschrift iflr Psychiatrie. LUV. Lit 6 


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66* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

Psychosen werden zunächst Dämmer- und Hemmungszustände geschildert und das 
Hailuzinationsproblem, die Eigentümlichkeit, daß die gleichen Vorstellungen als 
Halluzinationen, als Pseudohalluzinationen, als Träume und als Wachträumereien 
auftreten können, besprochen. Weiterhin Krankheitsfälle, die gegenüber der Hebe» 
phrenie mit ihrem läppischen Verhalten und der Paraphrenie und dem manisch» 
depressiven Irresein abzugrenzen sind. 

Isserlin (90) bespricht die psychischen und nervösen Erkrankungen, die er als 
Stabsarzt im Reservelazarett München L beobachtet hat. Die Neurasthenie be¬ 
schränkt Isserlin auf die Erscheinungen, die in einer langer dauernden Übermüdung 
und Erschöpfung körperlicher und seelischer Art ihre Begründung haben, während 
er Krankheitszustände, die auf übermäßig starke Gefühlsvorgänge und Gemüts¬ 
erschütterungen zurückzuführen sind, von der Neurasthenie abtrennt und sie den 
Schreck- oder Schockneurosen zurechnet, zu denen die Krankheiten zusammengefaßt 
werden, deren Symptomatologie den Erscheinungen des normalen Ausdrucks starker 
Gemütsbewegungen entspricht. Audi die einfachen Zittererscheinungen werden 
hierher gerechnet. Die hysterischen Symptome werden aber deshalb von dieser 
Gruppe abgetrennt, weil sie gänzlich T abnorme Bahnen des Ausdrucks dar stellen. 
Bei dieser Einteilung handelt es sich nicht nur um Fragen der Nomenklatur, sondern 
auch um solche der Prognose und um praktische Erfordernisse. Bei der Erörterung 
der hysterischen Symptome wird in kurzer, aber verständlicher Form der Unter¬ 
schied zwischen thymogener’und ideagener Entstehungsweise klar gemacht. Die 
Leh e Oppenheims von der traumatischen Neurose wird von /. nicht angenommen, 
sondern es wird auf die oft recht deutliche ideagene und sich als Schutzmaßnahme 
kennzeichnende Entstehungsweise hingewiesen. Unter den Depressionszuständen 
konnte I. von den echten Depressionen manisch-depressiver Art solche abgrenzen, 
deren gedanklicher Inhalt gänzlich von dem Kriegserleben'bestimmt war, und die er 
als psychogene aufhißt. Eine Reihe von ihnen hatte paranoide Züge. Bei der Epi¬ 
lepsie konnte in einer Reihe von Fällen festgestellt werden, daß eine epileptische An¬ 
lage durch den Krieg geweckt wurde. Den Schluß der Arbeit bildet die Wiedergabe 
der Ergebnisse psychologischer Untersuchungsmethoden und ein kurzes Eingehen 
auf die Therapie. 

Kohnstamm (106) berichtet über einen Soldaten, der nach einer Verschüttung, 
der eine Bewußtlosigkeit gefolgt war, bei vollkommenem Fehlen aller Zeichen, die 
auf Erkrankung bestimmter Bahnen oder peripherischer Nerven deuten könnten, 
eine schwere Schädigung des retrograden Gedächtnisses und der Merkfähigkeit 
erlitten hatte. Auch alle im engeren Sinne intellektuellen Funktionen waren erhalten. 
Eis war wesentlich mehr das spontane als das lernende Merken gestört. [ Die alltäglich¬ 
sten Vorkommnisse wurden sofort wieder vergessen; nichts von dem alltäglichen 
zufälligen Erleben wurde behalten. Dagegen wurden Merkprobleme, die ihm zum 
Merken vorgelegt waren, besser behalten. Eine Hypnose brachte keine Besserung. 
Wahrscheinlich handelte es sich um Kohlenoxydvergiftung, und es wird eine ähn¬ 
liche ausgedehnte Rindenschädigung angenommen, wie beim Korsakoff. 

Mendel (128). Berichte über eigene, während des Feldzuges beobachtete, im 
allgemeinen seltener vorkommende Fälle: 1. Motorische Amusie nach einem Kopf- 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


67* 


schuß in der Gegend des rechten Scheitelbeines und Obersicht über die bisher be¬ 
kannten Falle dieser Erkrankung. 2. Narkolepsie bei einem Grenadier; seit dem 
18. Jahre bestehend. Der} Mann ist trotz seiner Erkrankung in vorderster Front 
verwandt. 3. Hemianopsia inferior nach Kopfschuß. Einschuß auf der Hohe des 
Schädeldaches in der Mitte und Ausschuß nach hinten und rechts davon. Lähmung 
des linken Beines. 4. Polyneuritis nach Enteritis. 5. Poliomyelitis chronica lateralis. 
6. Intermittierendes Blindwerden nach Fall auf den Hinterkppf. Es wird ein funktio¬ 
nelles Leiden angenommen. 7. Zerebellarer Symptomenkomplex + Hysterie. 
•8. Chorea electrica (hysterische Form). 9. Besprechung der Kaufmannschen Methode. 

E. Meyer (130). In dem großen Sammelwerke „Diagnostische und thera¬ 
peutische Irrtümer und ihre Verhütung** hat E. Meyer das zweite Heft „Psychiatrie“ 
bearbeitet. Der Überblick über unser Fach auch einmal von dieser Seite war geradezu 
zu einem Erfordernis geworden. Die Bearbeitung durch Meyer wird jedem, auch dem 
Fachkollegen, von größtem Nutzen sein. Namentlich sollte man seine Verbreitung 
in den Kreisen der praktischen Ärzte wünschen; denn für diese sind unsere größeren 
Lehrbücher oft zu lang und die kleineren meistens zu knapp gehalten; vor allen 
•Dingen bieten sie aber nicht in dem Maße den Vergleich mit den andern Krank¬ 
heiten und den Hinweis auf die vielfachen diagnostischen Schwierigkeiten, wie sie 
.dies Werk gibt, das in jedem Kapitel von der praktischen Erfahrung des Verf. Zeugnis 
.ablegt. Eingeteilt ist der Stoff in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. In 
diesem hat Meyer folgende Unterabteilungen: Dementia praecox. Originär para¬ 
noische Veranlagung. Manisch-depressives Irresein. Neurasthenie. Hysterie 
(Psychogenie). Andere Formen der psychopathischen Konstitution. Imbezillität. 
Alkoholische Psychosen. Morphinismus und Kokainismus. Symptomatische Psy¬ 
chosen bei körperlichen und Infektionskrankheiten. Traumatische Psychosen. Hirn¬ 
krankheit. Senile und arteriosklerotische Prozesse. 

Oppenheim (143). Unter Wiedergabe ausführlicher Charakteristiken von 
Neuropathen und Psychopathen beweist Oppenheim, daß es nicht nur eine psycho¬ 
pathische Minderwertigkeit, sondern auch eine psychopathische Höherwertigkeit 
gibt. Seine Beispiele betreffen Persönlichkeiten, die mit vielen neuropathischen und 
■psychopathischen Zügen behaftet sind, die aber nicht das sonst so vielfach vorhandene 
Unausgeglichene 'in ihrem Seelenleben zeigen und intellektuell und namentlich 
ethisch entschieden über dem Durchschnitt stehen; es sind Menschen mit einem 
stark ausgeprägten Rechtssinn und Altruismus ohne egoistische Färbung un d mit 
einem starken Gefühlsleben, die ihr eigenes Empfindungsleben nicht mit harten 
Tatsächlichkeiten der Umwelt in Einklang bringen können und hierauf mit psycho¬ 
pathischen Erscheinungen antworten. 

Peretti (144). Allgemeine Übersicht über die von ihm in dem ihm unterstellten 
Vereinslazarett beobachteten 800 Nervösen und von 300 in der Anstalt Grafenberg 
untergebrachten geisteskranken Soldaten. Nur 14 manische Zustände; 72 Depres¬ 
sionszustände, von denen aber mindestens ein Drittel psychogener Natur waren. Bei 
diesen ist die Selbstmordgefahr nicht geringer anzuschlagen wie bei den Melancholien 
im engeren Sinne. 160 Fälle von Dementia praecox, die nichts besonderesr^boten. 
Kriegsdienstbeschädigung darf nicht von vornherein abgelehnt werden. Für die Er- 

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68* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


krankungen an hysterischen und psychogenen Störungen muß eine Disposition an¬ 
genommen werden. Eigentliche Erschöpfungspsychosen kommen nicht vor. Die Para¬ 
lyse tritt bei Kriegsteilnehmern nicht früher auf als bei der Zivilbevölkerung. Von 
123 Epileptikern hatten 88 schon vor dem Kriegsdienst Anfälle gehabt. 

Scheffer (162) bespricht die Entstehung der Verstimmungszustände bei Fugue 
und Dipsomanie. Es ist zuweilen schwer, zu einem sicheren Anhaltspunkte über die 
Ursachen der Verstimmungen zu kommen. S. belegt die9 mit zwei „negativen“ 
Fällen, d. h. Verstimmungszuständen, die nicht zum Trinken und Fortlaufen geführt 
haben. Bei den anderen Fällen war der inaktive Charakter der Verstimmungen deutlich 
nachweisbar; sie Werden von ihm nicht zur Epilepsie gerechnet. 

Sighart (181) redet der Einführung eines Röntgenapparates in den Heil- und 
Pflegeanstalten das Wort, indem er auf die Erleichterung der Diagnostik bei Lungen- 
erkrankungen, bei Magen-Darmerkrankungen und bei Verletzungen am Skelett¬ 
system hinweist. 

Stargardt (188) bringt eine Zusammenstellung der bisher in der Literatur zer¬ 
streuten Fälle von familiärer progressiver Makuladegeneration mit und ohne psychische 
Störungen, denen er die von ihm selbst beobachteten Fälle anfügt, und gibt eine zu¬ 
sammenfassende Darstellung des Krankheitsbildes. Der Beginn fällt bei denFällenohne 
psychische Störungen in das 12.—14. Jahr und bei den mit psychischen Störungen 
um das 6. Jahr. Das Sehvermögen kann sich verschlechtern, ohne daß Veränderungen 
in der Makulagegend zunächst nachweisbar sind. In der Regel langsames Fortschreiten 
bis zu einem Zentralskotom für Weiß und alle Farben. Die psychischen Störungen 
bestehen in zunehmender Verblödung. Lues kommt nicht in Betracht. 

Strümpell (194). In einer außerordentlich flüssigen und feinstilisierten Schrift 
schildert Strümpell nach einer kurzen, aber äußerst verständnisvollen Darlegung über 
das Bewußtsein und die Bewußtseinsvorgänge die mannigfachen Schädigungen, die 
das Nervensystem und seelische Leben im Kriege erlitten haben, von den grobana¬ 
tomischen Verletzungen des peripheren Systems und des Gehirnes an bis zu den 
psychischen Störungen, bei denen der Schreck, die Furcht und Angst die bedingende 
Ursache spielen, und die durch Granatexplosionen, Verschüttungen und dergl. zur 
Auslösung gebracht werden. Schwieriger sind die neurasthenischen Zustände zu 
beurteilen, bei denen sich körperliche und seelische und auch toxische Krankheits¬ 
ursachen miteinander mischen. Wirkliche Geisteskrankheiten sind nicht durch die 
seelischen Schädlichkeiten entstanden. Für das Heimatsgebiet spielen andere psychi¬ 
sche Einflüsse eine Rolle. Hier tritt der einzelne zurück und die Masse tt itt in Wirkung. 
Sie wird beherrscht von gemeinsamen Vorstellungen und Empfindungen, deren Rolle 
als „überwertige Ideen“ von Strümpell eingehend geschildert wird. 

Szasz u. Podmanicxky (197). Das Stirnhirn steht mit dem Zeigeversuch in 
einem bestimmten Zusammenhänge. Bei Verletzungen des Stirnhirnes zeigten die 
Kranken Spontan richtig. Durch vestibuläre’^Reize konnte Vorbeizeigen nach der 
Seite der Verletzung hervor gerufen Werden. Die Abkühlung des Stirnhirndefektes 
erzeugte ein Vorbeizeigen beider oberen Extremitäten nach der entgegengesetzten 
Seite. 


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Gr im me. Allgemeine Psychiatrie. 


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L. W. IVttier (211). Weben Aufsatz in der ärztlichen Sachverständigen-Zeitung 
kann nur dankbar begrüßt werden; denn dem Mißbrauch mit der Diagnose Hirn¬ 
erschütterung mußte einmal entgegengetffeen werden. Unter Zugrundelegung der 
//braschen Begriffsbestimmung der zerebralen Kommotionsneurosen wird das, was 
man unter einer Hirnerschütterung und ihren Folgen zu verstehen hat, geschildert 
und an Beispielen die jn ihren Folgen oft so weittragende falsche Diagnostik gekenn¬ 
zeichnet. 

A. Wcstphal, Bonn (215). .Ausführliche Mitteilung eines Falles von vorüber¬ 
gehender reflektorischer Pupillenstarre, links und recht geringer Lichtreaktion, rechts 
mit vorübergehend fehlenden Kniesehnenreflexen und starken Schmerzen in den 
Beinen bei Diabetes. Lues war anamnestisch und serologisch ausgeschlossen. Nor¬ 
maler mikroskopischer Befund. 

Zimmermann (224) hat bei Epileptikern und Paralytikern die Temperatur und 
den Blutdruck untersucht und glaubt feststellen zu können, daß Anfälle die Tempera¬ 
tur nach einer anfänglichen Steigerung herabsetzen. Tiefe und plötzlich sich voll¬ 
ziehende Temperaturstürze faßte er als Ausdruck einer schweren parenteralen Eiwei߬ 
spaltvergiftung auf. Nach vereinzelt auftretenden Anfällen der Epileptiker kommt es 
meistens zu geringen Temperatursenkungen. Der Blutdruck sinkt nach schweren 
Anfällen oder gegen das Ende eines Status epilepticus. Bei Paralytikern und Epi¬ 
leptikern findet man post mortem Lungenerscheinungen, die an den anaphylaktischen 
Schock erinnern und in einer fleckigen und diffusen Rötung und in einer Blähung 
bestehen. 

Zimm e rm ann (225). Bei Epileptikern, Paralytikern und Schizophrenen läßt 
sich ein vermehrter Eli weiß zerfall, der sich in der Erhöhung des antitryptischen 
Nenners ausdrückt, biologisch häufig nach weisen. Ebenso können bei Epileptikern 
häufig nach Anfällen im Harn Eiweißausscheidungen nachgewiesen werden. 

Therapie. 

Anton und von Schmieden (7) berichten über den Subokzipitalstich, eine neue, 
druckentlastende Hirnoperationsmethode, die sehr viel schonender und auch un¬ 
gefährlicher als der Balkenstich ist und eine intrakranielle Liquorstauung beseitigt, 
ohne eine nach außen mündende Öffnung zu schaffen. Das Gehirn selbst wird nicht 
durch die Operation freigelegt, sondern es wird durch einen in der Mittellinie zwischen 
Protuberantia occipitalis externa und dem Dornfortsatz des IV. Halswirbels geführten 
Schnitt das Ligamentum nachae gespalten und damit die Cisterna cerebello-medul- 
laris eröffnet. 

Becker (17) berichtet von einer Art Pruritis nach Narkolicis. 

Cohn (40) gibt eine Übersicht über die Bedingungen zur Einleitung eines 
künstlichen Abortes bei Neurosen und Psychosen. Die künstliche Abtreibung ist 
nur gestattet, wenn durch Unterlassen dieses Eingriffes, d. h. durch Fortdauer der 
Schwangerschaft, das Leben der Mutter bedroht und nichts als dieser Eingriff zur 
Beseitigung der Lebensgefahr geeignet ist. Aus anderer Rücksicht als der für das 
Leben der Mutter gibt es keine Indikation. Auch muß das Leben der Mutter in der 
Tat gefährdet sein. Es gibt keine Nerven- oder Geisteskrankheit, die an sich in allen 


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70* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

Fällen eine künstliche Schwangerschaftsunterbrechung rechtfertigt; aber es gibt 
relative Indikationen. Zu den als solche anerkannten Indikationen können die Chore» 
und die Epilepsie gehören, ferner gewiss^ Ynelancholische und katatonische Zustände. 
Bei den Verstimmungen darf es sich nicht um die „Graviditätsverstimmung der 
Psychopathen“ handeln, sondern um echte endogene Depressionen im manisch- 
depressiven Irresein. Manische Erregungszustände bieten praktisch kaum besondere 
Veranlassung zum Eingreifen. Auch bei der Katatonie wird eine Berechtigung zum 
Eingreifen, aber keine Verpflichtung anerkannt. Bei Angst- und Zwangsneurosen 
und bei der Hysterie erscheint ihm die Berechtigung zweifelhaft. 

Enge (44) berichtet über die Behandlung gynäkologischer Erkrankungen mit 
Spuman Styli. Es ist dies ein von den Luitpold-Werken in München hergestelltes 
. Präparat, das in Stangenform in den Handel kommt, aus Thymolresorzin-Formal- 
dehyd, Bismut. subgallicum, Alum. acet. tart., Hexamethylentetramin, Acid. tart u. 
Natron bicarb. besteht, durch das Scheiden-Uterussekret zergeht und einen Schaum 
erzeugt, der in alle Schleimhautwinkel einzudringen bestrebt ist, so daß die dem 
Präparat beigegebenen spezifischen Arzneimittel (Argent. nitric., Ichtyol, Protargol 
u. a.) tatsächlich auch alle krankhaften Stellen erreichen und in sie eindringen. 
können. Diese Behandlungsart macht alle Scheidenspülungen unnötig und erleichtert 
die Behandlung geisteskranker Frauen nach jeder Richtung hin. 

Jacob Kläsi (102) bespricht die in der psychiatrischen Universitätspoliklinik 
gebräuchlichen Behandlungsmethoden bei den mancherlei Formen der Psychopathie 
und bei der Neurasthenie. Seine Ausführungen machen in erster Linie den Eindruck 
des Niederschlags persönlicher Erfahrungen und gewinnen dadurch noch mehr an 
Wert. 

Er bespricht die Arbeitstherapie, gewisse suggestive Methoden, die Charakter¬ 
erziehung und widmet ein eigenes Kapitel der Behandlung der Neurasthenie. Klm 
schreibt in einem sehr leicht lesbaren und manchmal sogar etwas humorvoll klingen¬ 
den Stile, und seine Darlegungen klingen zum Teil als etwas ganz selbstverständ¬ 
liches; doch geht es hiermit wie mit manchen andern Selbstverständlichkeiten, 
die nur nicht jeder findet. 

Mehr (134). Aus der Praxis der Psychotherapie. Energische Befürwortung 
der Psychotherapie bei allen Neurosen und in vielen Fällen körperlicher Erkrankungen, 
interner und chirurgischer Art. Natürlich müssen die psychologischen Mechanismen, 
die den augenblicklichen Zustand bedingt haben, aufgeklärt sein, wenn eine kausale 
Therapie betrieben werden soll. Hierher gehören u. a. die körperliche Komponente, 
ihre assotiativ und affektiv falsche Bearbeitung und das, was man unter „Flucht in. 
die Krankheit“ zusammengefaßt hat 

Wiesenack (219). Es* wurden mit einer lOproz. Lösung von Alt-Tuberkulin 
7 Fälle von Schizophrenie und eine als Erschöpfungsamentia auf gefaßte, im letzten 
Schwangerschaftsmonat entstandene und die Geburt überdauernde Psychose be¬ 
handelt. Diese und eine der Schizophrenieerkrankungen werden als durch die Tu¬ 
berkulinkur geheilt bezeichnet. 

Winterstein (220) hat in vielen Fällen bei Tieren, die durch Erfrierung, Nar¬ 
kose, Erstickung, Kohlenoxydvergiftung, Gehirnerschütterung „getötet“ wurden. 


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Grimme, Allgemeine Psychiatrie. 


71* 

selbst nach einem Zeitraum von 1% bis 2 Stunden durch intraarterielle Infusion 
von adrenalinhaltiger Ringerlösung die Herztätigkeit wieder in Gang bringen können 
und so unter Umständen vollkommene Wiederbelebung des Gesamtorganismus 
erzielt. 

R. Wellenberg, Strafiburg i. E. (221) -engt die Berechtigung zur Unterbrechung 
einer Schwangerschaft recht ein. Für die Dementia praecox und das manisch- 
depressive Irresein, wie überhaupt für echte Psychosen erkennt er die Berechtigung 
nicht an. Sie kann aber unter bestimmten Umständen bei gewissen psychoneuroti- 
schen Zuständen, die sich bei psychopathischen Persönlichkeiten finden und unter 
der Form einer schweren Angstneurose verlaufen, eine schwere Erschöpfung mit 
Schlafmangel infolge Unterernährung bedingt haben und Selbstmordneigung hervor- 
rufen, erforderlich sein. Doch sind auch dies nur seltene Fälle. 


Ätiologie. 

E. Meyer (131) hat zur Klärung der Frage nach exogenen Ursachen bei 
Psychosen die Fälle von Dementia praecox und manisch-depressivem Irresein seiner 
Klinik aus den letzten zwei Jahren vor dem Kriege untersucht und auch an der Hand 
dieses Materials nachgewiesen, dafi die Bedeutung exogener Ursachen für diese 
Psychosen nur eine recht geringe ist. 

Schopen (166). Beschreibung einer'Katatonie, die nach einer akuten Nephritis 
entstand. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Geisteskrankheit und Ne¬ 
phritis tritt nicht klar hervor. Es kann sich auch um ein zufälliges Zusammentreffen 
handeln. 

Schabte (169) 'gibt eine ausführliche Übersicht über die Erkrankungen des 
Gehörorgans, soweit sie zur Taubheit führen, wobei er drei Zeitabschnitte unter¬ 
scheidet: die intrauterine Periode, die ersten 6 Lebensjahre und die Zeit nach dem 
7. Jahre. Nach diesem Jahre spielen Gehörstörungen für psychische Erkrankungen 
nur eine geringe Rolle; die Zeit vorher ist charakterisiert*durch den nach erworbener 
Taubheit eintretenden Verlust der bis dahin erlernten Sprache; in der ersten Periode 
mufi unterschieden werden zwischen Personen, bei denen der Defekt nur im Gehör¬ 
organ liegt und Personen, die daneben noch eine entwicklungsgeschichtlich bedingte 
oder auf hereditätere Basis entstandene Gehirnschädigung erlitten haben. Es folgen 
4 Krankengeschichten von Taubstummen, die geistig erkrankt sind. 

Siebert (175) berichtet über Psychosen, die bei Geschwistern auftraten* und 
die von ihm mit äußeren Schädigungen in einen gewissen ursächlichen Zusammenhang 
gebracht werden. Er bezieht auch das Erkranken von drei Geschwistern im Laufe 
von 10 Jahren in seiner Zusammenstellung ein. Als exogene Schädigung berück¬ 
sichtigt Siebert Kopferysipel, fieberhafte Angina, Kopftrauma, eitrige Mastitis, 
septischen Abort, Wochenbett; ferner chronischen Alkoholismus und anhaltendes 
religiöses Sektirertum. Es handelt sich um endogene Erkrankungen katatoner Form, 
um eine mit amentiaartigem Verlauf, Delirium tremens und um den KoTsakpwsdxen 
Symptomenkomplex. Die endogene Anlage wird von Siebert mit als das Ausschlag¬ 
gebende bei diesen Erkrankungen vorgebracht. 


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72* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

F. Siemens, Stettin (178). Überblick über die Anschauungen vom Wesen und* 
der Entstehung der Geisteskrankheiten bis zu der jetzt immer mehr m den Vorder¬ 
grund tretenden Lehre von den Störungen der inneren Sekretion. 

Spliedt (187) bestätigt den Satz, daß die Kriegsgefangenschaft, wie sie in 
Deutschland vollzogen wird, keine geistige Schädigung der Gefangenen darstellt 
oder imstande ist, eine Geisteskrankheit auszulösen. Die Erkrankungen betrafen mit 
einer Ausnahme, die eine Hysterie bei einem bereits vor dem Kriege krank gewesenen 
russischen Studenten bildete, nur die gewöhnlichen Psychosen. Sie boten auch in 
ihrem Verlaufe nichts Besonderes; nur der Inhalt der Wahnvorstellungen hing viel¬ 
fach mit den Eigenheiten des Lagerlebens zusammen, bezog aber häufiger seine 
Färbung aus dem Kulturzustande des betreffenden Volkes. 

Wdchbrodt (212). Bei den verschiedensten Infektionskrankheiten sind Größen- 
ideen beobachtet. W. führt sie'auf die Wirkung der Toxine zurück und glaubt, daß 
auch bei der Paralyse die Toxine der in das Gehirn^ eingedrungenen Spirochaeta 
pallida die Größenideen verursachen. Die Spirochaeta pallida soll die Toxine nur 
in geringer Menge erzeugen, so daß sie nur lokal wirken können. 


4. Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 

Ref.: F. S c h o b - Dresden. 

1. Bauer, Über Zwergwuchs, Infantilismus und verwandte Vege¬ 

tationsstörungen. Med. Klin. 

2. Bloch, Zwei Fälle von Anenzephalie. Inaug.-Diss. München. 

3. Böcker, Das Denken mit besonderer Berücksichtigung des 

Denkens beim Hilfsschulkind. Die Hilfsschule 10. Jg. 

4. Bolten, Over juveniele dementia paralytica. Nederl. Tijdschr. 

v. Geneesk. 61. 

5. de Bruin, Ein Fall von Muskelhypertrophie bei Kretinismus. 

Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 61. 

6. Carrie, Statistik über sprachgebrechliche Schüler in den Ham¬ 

burger Volksschulen. Die Hilfsschule 10. Jg. 

7. Cassel, Über Mißbildungen am Herzen und an den Augen 

beim Mongolismus der Kinder. Berl. klin. Wschr. 
(S. 85*.) 

8. Cerny, Das schwer erziehbare Kind. Jahrb. f. Kinderheilk. 35. 

9. Coenen, Mongolismus beim Kinde und Myxödem bei der 
* Mutter. Ned. Maandsc. v. Verlosk., Vrouwenz. en Kinder- 

geneesk. 6. 


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Schob, Idiotie, Imbezilität, Fürsorgeerziehung. 


73* 


10. Cornils, Kasuistischer Beitrag zur Lehre vom Eunuchoidismus. 

Inaug.-Diss. Kiel. (S. 83*.) 

11. Doesseker, Über einen Fall von atypischen tuberösen Myx¬ 

ödem. Arch. f. Derm. u. Syph. 73. Bd. 

12. v. Dziembowski, Dystrophia adiposo-genitalis mit Myopathie. 

D. med. Wschr. (S. 83*.) 

13. Engler, Über Analphabetia partialis (kongenitale Wortblind¬ 

heit). Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 42. (S. 77*.) 

14. Erlich, Ein Fall von Eunuchoidismus. Gaz. lekarska 24. poln. 

Ref. Neurol. Ztlbl. 1918, Nr. 20. 

15. Ganter, Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin. 

Allg. Ztschr. f. Psych. 73. Bd. (S. 77*.) 

16. Ganter, Über einen Fall von Hydrocephalus maximus. Allgem. 

Ztschr. f. Psych. 73. Bd. (S. 81*.) 

17. Gaumnitz, Eine Intelligenzprüfung zur Feststellung Schwach¬ 

sinniger. Ztschr. f. dt Behandlung Schwachsinniger 
37. Jg. 

18. Gerhardt, Der Einfluß des Krieges auf das Seelenleben unserer 

Pflegebefohlenen. Ztschr. f. d. Behandl. Schwachs. 
37. Jg. 

19. Good, Zur Behandlung und Verhütung des psychischen Mi߬ 

wuchses. Ztschr. f. d.. Behandl. Schwachsinn., 37. Jg. 

20. Gregor, Über kindliche Verwahrlosung. Jahrb. f. Kinderheilk. 

85. Bd. (S. 85*.) 

21. Gregor, Verwahrlosungstypen. Mtschr. f. Prych. u. Neurol. 

42. Bd. (S. 85*.) 

22. Graf Haller, Anatomisch-physiologische Studien und Be¬ 

trachtungen über den kongenitalen Hydrozephalus. 
Virchows Arch. 223. Bd. 

23. Heine, Über angeborene Wortblindheit. Sitzungsber. Münch. 

med. Wschr. 

24. Herfort, Beiträge zur Pathologie des Wachstums bei den 

Schwachsinnigen. Öas. öesk. lek. (Tschechisch.) 
(S. 75*.) 

25. Heuer, Definitionsaufgabe als Intelligenztest. Die Hilfsschule 

10. Jg. 

26. Higier, Ein Fall von angeborener Akromegalie und Im- 


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74* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


bezillität und sogenannter Cutis laxa. Annalen der 
Warschauer ärztl. Ges. 

27. Hübner, Über kongenitale Lues. Arch. f. Psych. 57. Bd. 

(S. 79*.) 

28. Hussels, Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse mit 

besonderer Berücksichtigung der Augensymptome. Allg. 
Ztschr. f. Psych. 73. (S. 80*.) 

29. Kellner, Neuere Untersuchungen über die Ursache des en¬ 

demischen Kopfes und Kretinismus. Ztschr. f. d. Be- 
handl. Schwachsinn. 37. Jg. (S. 84*.) 

30. Kraus und Rosenbusch, Kropf, Kretinismus und die Krank¬ 

heit von Chagas. Wiener klin. Wschr. 

31. Kretschmer, Über eine familiäre Blutdrüsenerkrankung. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 36. Bd. (S. 83*.) 

32. Lommel, Über Infantilismus und Störungen der Geschlechts¬ 

reifung. Sitzungsber.^Med. Klin. 

33. Naville, Etüde anatomique du nävraxe dans un cas d’idiotie 

familiale amaurotique de Sachs. Schweizer Arch. f. 
Neurol. u. Psych. I. 

34. Naville, L’idiotie amaurotique de Tay-Sachs. Ebenda I. 

35. Neukirchner, Zum Intelligenzproblem. Ztschr. f. d. Behftndl. 

Schwachsinn. 34. Jg. , 

36. Nilsson, Blutzuckerbestimmungen bei einem Fall von in¬ 

fantilem Myxödem. D. med. Wschr. (S. 84*.) 

37. Ranschburg, Die Leseschwäche (Legasthenie) und Rechen¬ 

schwäche (Arithmasthenie) der Schulkinder im Lichte 
des Experiments. Zwanglose Abhandlungen aus den 
Grenzgeb. der Pädagogik u. Med. Berlin. J. Springer. 
1916. H. 7. (S. 75*.) 

38. v. Rohden, Über die Pathologie der Paralytikerfamilie. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 37. Bd. (S. 78*.) 

39. Sauerbrey, Über den Wert der Intelligenzprüfungsmethode 

nach Binel-Simon für klinische Zwecke. Inaug.-Diss. 
Leipzig. 

40. Sebald, Vier Fälle von progressiver Paralyse beim Kinde mit 

besonderer Berücksichtigung der pathogenetischen Fak¬ 
toren. Inaug.-Diss. München. 


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Schob, Idiotie, Imbezilität, Fürsorgeeiziehung. 


75* 


41. Seelert, Untersuchungen der Familienangehörigen von Para¬ 

lytikern und Tabikern auf Syphilis und damit zusammen¬ 
hängende nervöse Störungen unter besonderer Berück¬ 
sichtigung des Infektionstermins dieser Paralytiker und 
Tabiker. Mtschr; f. Psych. u. Neurol. 41. Bd. (S. 79*.) 

42. Stargardt, Über familiäre Degeneration in der Maculagegend 

des Auges mit und ohne psychische Störungen. Arch. 
f. Psych. 58. Bd. (S. 82*.) 

43. Westphal, Zur Lehre von der amaurotischen Idiotie. Arch. f. 

Psych. Bd. 58. (S. 81*.) 

44. Weygandt, Fall von sporadischem Kretinismus. Sitzungsber.: 

' Neurol. Ztlbl. Nr. 24. 

45. Weygandt, Über Degeneratio adiposogenitalis. Sitzungsber.: 

Arch. f. Psych. u. Nervenkr. 57. Bd. (S. 84*.) 

46. Weygandt, Turmschädelratige Mißbildung. Hamburger Ärzte- 

Korr. (Sitzungsber.) 19. Jg. (S. 80*.) 

47. Winkler, Amaurotische Idiotie. Typus Tay-Sachs. Nederl. 

Tijdschr. v. Geneesk. 71. 

Herfort (24) basiert seine Ausführungen auf der Grundidee der parallelen 
Entwicklung des Körpers und der Seele. Zeigt auf Grund seines Materials und der 
großen Literatur, daß die geistig Minderwertigen, Schwachsinnigen, auch in der über¬ 
wiegenden Mehrzanl der Fälle körperlich verkrüppelt waren; ihr Körpergewicht und 
ihre Körperlinge waren bedeutend unter der Norm. Ebenfalls die Formierung des 
Körpers erleidet manche Mängel, namentlich Assymmetrien kommen sehr häufig 
vor; der Infantilismus, d. i. das Erhaltenbleiben einiger oder mancher Merkmale 
(körperlicher sowie seelischer) auf der Höhe des Kndesalters bis in spätere Zeit ist 
aber nicht als einfaches Stehenbleiben des Wachstums aufzufassen. Es ist eine 
Äußerung sehr komplizierter Prozesse, die manchmal schon in pränataler Zeit an¬ 
setzen, andersmal mit der Dysfunktion bestimmter Drüsen einhergehen oder als 
Folge äußerlicher Einflüsse und chronischer Katarrhe auhufassen sind. Die ver¬ 
schiedenen Klassifikationen zahlreicher Autoren genügen in keinem Falle, um den 
Reichtum der Infantilismusformen erklären zu können. Bei den Schwachsinnigen 
kombinieren sich dazu die verschiedenen seelischen Anomalien mit den ebenso zahl¬ 
reichen körperlichen, so daß jede Klassifikation, die bestrebt ist, vollständig zu sein, 
unübersichtlich ist, viele Ausnahmen und unklassifizierte Fälle zuläßt und deshalb 
nur als Hilfemittel, nicht aber als Ausdruck bestehender Verhältnisse aufzufassen ist. 

Jar. StuchUk, (Rot-Kostelec). 

Ranschburgi 37.) hat experimentelle, tachistoskopische Untersuchungen der Lese¬ 
fertigkeit bei Schulkindern angestellt, einer Methode, die es erlaubt, Normalwerte 
festzustellen und die Abweichungen von denselben innerhalb einiger Minuten zuver- 


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76* 


Bericht über dis psychiatrische Literatur 1917. 


lässig zahlenmäß ig zu fixieren. Ais Normalwerte eignen sich besonders d ie an Schülern 
der zweiten Klasse durch Auffassung einsilbiger Worte bei 0,1 Sek. erhaltenen 
Treffer zahlen. Die Trefferzahl um mehr als 75%, die mehr als zwei Drittel der 
7- bis 8jährigen normalen Schüler (die schwächsten mit eingerechnet) zukommt, 
daher als'Nor mal wert derselben bezeichnet werden kann, wird von den pathologisch 
Schwachbefähigten (Hilfsschulkindern) im Alter von 8 Jahren in keinem einzigen 
Fall, mit9bis 10 Jahren in6%, mit 11 Jahrenin6,7%, mit 12b!s 14 Jahren in25,7% 
der Fälle erreicht. Andrerseits kommt diejenige geringe Trefferzahl, die bei mehr 
-als 90% der Hilfsschüler das Normale %t. bei keinem einzigen Normalschüler vor. 
Die Feststellung der Lesefertigkeit gehört zu den geeignetsten Tests zur Fest' 
Stellung der pathologischen Natur der Schwachbefähigung und ihrer Abgrenzung 
von der normalen Schwachbegabung. Auch innerhalb der normalen Begabung 
kann man verschiedene Fähigkeitsgruppen der Lesefertigkeit abgrenzen; sie zeigen 
einen durchschnittlichen Parallelismus mit den Stufen der allgemeinen Begabung. 
Ein untrügliches]Mittel zur Feststellung des Grades der Begabung ist die Lest' 
fertigkeit nicht; denn es scheinen doch auch Fälle von verbaler Ataxie bei sonst 
leidlicher oder guter Begabung vorzukommen. Für die schwächsten Grade 
der pathologisch J^eseschwachen hätte der Unterricht sich möglichst bald mit ihrer 
Feststellung abzufinden und den Schwerpunkt auf den sonstigen, des geläufigen 
Lesens weniger bedürfenden Unterricht zu verlegen. 

Weiter hat Ranschburg Untersuchungen über, die Rechenschwäche angestellt 
Die Schwierigkeiten auf dem Gebiete des Rechnens, die zur Rechenschwäche führen, 
sind zweierlei Art; die erste Art von Schwierigkeit liegt im Rechenstoffe selbst, die 
zweite in der Anlage der Schüler. Selbst dem elementarsten Rechenvorgang kommt 
eine spezifische Schwierigkeit zu, die gemäß der zunehmenden, inneren Kompliziert' 
heit der Aufgabe wächst und sich vornehmlich in der nachweisbaren Verlängerung 
der Dauer ihrer Lösung kundgibt, so ist z. B. nicht bloß 3 + 6 schwieriger als 6 + 3, 
sondern schon 3+5 schwieriger als 3 + 4, Auch den einzelnen Rechenarten ent¬ 
sprechen verschiedene Schwierigkeitsgrade, dieselben sind größer bei den reziproken 
als bei den direkten Funktionen. Diese inneren Schwierigkeiten der Rechenauf¬ 
gaben geben sich am leichtesten bei den noch ungeübten Schülern der unteren Klassen 
kund- Zur raschen Orientierung eignen sich infolge ihrer relativ ansehnlichgn 
inneren Schwierigkeiten am besten Reihen aus 20 unbenannten Subtraktionen des 
Zehner- bzw. Zwanzigerkreises, wobei die mittlere Rechendauer aus den mittels einer 
Fünftelsekundenuhr bestimmten Einzelwerten der richtigen Lösungen berechnet 
wird. Nach den Rechenleistungen lassen sich die normalen Schüler ohne Zwang 
in Gruppen von guter, mittelmäßiger und schwacher Anlage einreihen.’J Die schwache 
Anlage zum Rechnen, Rechenschwäche oder Arithmasthenie, tritt sowohl in der 
größeren Zahl der falschen oder unsicheren, spontan oder erst auf Aufforderung 
berichtigten oder überhaupt entfallenden Lösungen als insbesondere und am kon¬ 
stantesten in der auffallenden Langsamkeit des Prozesses der richtigen Lösungen 
zutage. Diese schwächere Anlage unterscheidet sich aber noch ganz wesentlich von 
der pathologischen Rechenschwäche. Unter 117 Normalschülern, darunter mehr als 
ein Drittel der schwächsten Rechner, fand sich keiner, der aus den’20 Aufgaben 


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weniger als 15, d. h. weniger als 75%, richtig gelöst hätte. Dagegen lösten von den 
untersuchten pathologisch Schwachbefähigten 20% weniger als 25% und 16,4% 
weniger als 50% die Aufgaben; es läßt sich daher ein pathologisches Intervall auf- 
sfellen, in welches kein normaler Rechenschwacher hineingehört. Bei Betrachtung 
des zeitlichen Verlaufes der Rechenleistung gewinnt man auch eine Zone der Nor¬ 
malität, die keinem oder nur einem Bruchteil der pathologisch Schwachbefähigten 
zugänglich ist. Während z. B. die Subtraktionszeiten der Normalen bei mehr als % der 
Schüler zwischen 1—2 Sek. schwankten, gab es unter 17 Schülern der zweiten Hilfs¬ 
schulklasse keinen einzigen, unter 18 Schülern der dritten Klasse 5% und unter 
30 Schülern von 12—17 Jahren insgesamt 26%, die in das Intervall von 1—2 Sek. * 
entfielen. Die Bestimmung der Normalwerte und der Grenzen der Schwankungs¬ 
breite der Normalität ist aus pädagogischen, heilpädagogischen, psychologischen, 
medizinischen und forensischen Gründen noch durch ausgedehnte Untersuchungen 
festzulegen. Schon jetzt sind von Ranschburg und seinen Schülern Jahre hindurch 
Fälle von Verwahrlosung und jugendlicher Kriminalität mit bestem Erfolge auch 
auf ihre Rechenfähigkeit geprüft worden. 

Die 24jährige Patientin Ganters (15) stand seit ihrem 12. Jahre in Anstalts¬ 
erziehung und litt seit ihrer frühenjugend an typischen Anfällen, die etwa aller 3 Wochen 
meist mehrmals hintereinander auftraten. Während die Intelligenzprüfung im all¬ 
gemeinen einen ziemlich beträchtlichen Grad von Schwachsinn ergab, zeigte sie 
Rechenleistungen auf, die weit über den Leistungen anderer Rechenkünstler standen. 
Sie vervielfältigte z. B. drei- mit zweistelligen Zahlen in 2% Minuten, drei- mit drei¬ 
stelligen in 18 bzw. 10 Minuten, vier- mit vierstelligen m 35 Minuten usw.; auch ihr 
Gedächtnis für Zahlen war außergewöhnlich, so behielt sie große Aufgaben tagelang 
im Kopfe, während ihre Merkfähigkeit für andere Dinge, z. B. auch Kalenderdaten, 
unter dem Durchschnitt blieb. Das ganze Verhalten der Patientin bei der Ausführung 
der Aufgaben sprach dafür, daß die Patienten mit dem Gehörs- und Gesichtssinn, 
mit dem motorischen Apparat der Sprachwerkzeuge und des Armes (sie machte Be¬ 
wegungen nach Art der Schreibbewegungen) arbeitete, also mit all den Sinneswerk¬ 
zeugen, den Wegen, auf denen beim Lernen die Eindrücke dem Gehirn übermittelt 
werden. 

Nach Engler (13) wird als „kongenitale Wortblindheit“ oder „kongenitale 
Alexie“ das isolierte Fehlen der Lesefähigkeit auf Grund eines angeborenen Defektes 
beschrieben. Wolff hat dafür den Namen Analphabetia partialis vorgeschlagen; 
der Name kongenitale Wortblindheit ist zu verwerfen; es besteht keine Veranlassung, 
eine als Produkt mangelhafter Schulbildung zu betrachtende Unfähigkeit mit dem¬ 
selben Namen zu belegen wie einen durch Hirnschädigung entstandenen, äußerlich 
gleichwertigen Leistungsausfall. Die in Betracht kommenden Individuen sind zwaf, 
weil sie abschreiben können, keine vollkommenen Analphabeten, aber ihr Unvermögen 
beruht auf einer durch psychische Schwäche verursachten mangelhaften Schulbildung. 
Als anatomische Grundlage Aplasie der Rinde des Gyrus angularis anzusprechen, 
wie das namentlich englische Autoren tun, hat keine Berechtigung; denn wenn es 
sich um einen herdförmigen Defekt handelte, so würden sicher andere Stellen des 
Gehirns kompensatorisch eingetreten sein. Engler teilt selbst einen einschlägigen Fall 


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78* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

mit: Ein 19jähriger Rekrut machte in der Rekrutenschule im Lesen und Schreiben 
last keine Fortschritte; im Lesen brachte er es nur zum Lesen von Buchstaben und 
einigen kleinen Wörtern; Spontanschreiben war, abgesehen vom Namen, unmöglich; 
auf Diktat schrieb er unverständlichste Wörter; dagegen erfolgte Abschreiben ziemlich 
fehlerfrei, wenn es sich um deutsche Vorlagen handelte. Die Intelligenzprüfung 
ergab, daß der Patient ein imbeziller Mensch mit einer besonders ausgeprägten In* 
suffizienz im Lesen und Schreiben war. Verfasserin bespricht die einschlägige Literatur, 
insbesondere auch die englische; sie bezweifelt, daß die sogenannte kongenitale Wort* 
blindheit bei intellektuell vollkommen intakten Individuen vorkommt, wie das in der 
Literatur mehrfach behauptet worden ist. 

Die Untersuchungen o. Rohden» (38) erstrecken sich auf Ehegatten und Kinder 
von 70 in die Landesanstalt Nietleben aufgenommenen Paralytikern. In 54 von 
70 Familien, also in 77%, bot mindestens einer der Angehörigen serologische oder 
klinische Veränderungen dar. 62 Paralytikerehegatten gelangten zur Untersuchung, 
davon waren 70% pathologisch und 30% normal. Die quantitativen Geburtsver¬ 
hältnisse in Paralytikerfamilien sind schlecht. Ein Viertel der Graviditäten sind Fehl¬ 
und Totgeburten, ein weiteres knappes Viertel stirbt im Laufe der ersten Jahre. Die 
Fruchtbarkeit der paralytischen Ehen bleibt mit 1,7 pro Ehe fast um die Hälfte hinter 
der Norm zurück. Paralytikerfamilien zeigen damit Tendenz zum Aussterben. Von 
208 untersuchten Kindern bieten über 19% organische Erkrankungen des Nerven¬ 
systems, über 29% somatische oder psychische Degenerationszeichen, über 6% 
positive Wassermannreaktion bei negativem Nervenbefund. Die Gesundheitsverhält' 
nisse der Paralytikerkinder sind demnach nicht ganz so schlecht wie die der Para¬ 
lytikerehegatten. Der Paralytiker ist für seine Angehörigen nur gefährlich, solange 
er noch die Syphilis übertragen kann, ebenso der Tabiker. Gegen die A/aedfeesche 
Theorie von der originären Disposition der Paralytikerdeszendenz spricht der Um¬ 
stand, daß sämtliche vor der syphilitischen Infektion der paralytischen Eltern gebore¬ 
nen Kinder gesund sind. Die Gefährdung der Paralytikerkinder ist um so größer, 
je näher dem Zeitpunkt der syphilitischen Infektion sie geboren sind. Die Gesund¬ 
heitsverhältnisse bessern sich, je mehr der Zeugungstermin sich dem Ausbruch der 
Paralyse nähert. Diq relativ günstigsten klinischen und serologischen Befunde liefern 
die unmittelbar vor und nach Beginn der Paralyse geborenen Kinder. Über ein Drittel 
sämtlicher sicher syphilitischen Kinder stammt aus einer Zeit, wo die Infektion des 
paralytischen Elters länger als 8 Jahre zurückliegt. In der Nähe des 13. Jahres nach 
dem Primäraffekt scheint eine gewisse Grenze zu liegen, über die hinaus die Infek¬ 
tiosität des latenten Syphilitikers, einerlei, ob er paralytisch wird oder nicht, nur 
ausnahmsweise in Erscheinung tritt. Es besteht jedoch kein Grund zur Annahme, 
daß die ein Jahrzehnt und länger zweifellos wirksame Infektiosität in dem Augen* 
blicke plötzlich verschwindet, wo die latente Form der Lues in ihre paralytische 
Manifestation übergeht. Die Theorie von der Paralyse als einer nicht infektiösen 
syphilitischen Nachkrankheit kann nicht mehr aufrecht erhalten werden, nachdem 
der Nachweis virulenter Spirochäten sowohl im Gehirn als auch im Blut der Para- 
ytiker gelungen ist. Der klinische Beweis dafür, daß die Paralytikerspirochäte ebenso 
wie die des noch nicht paralytischen Luetikers auch unter natürlichen Bedin g u n gen 


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Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 


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auf die Angehörigen übertragen wird, steht noch aus. Die bisherigen Ergebnisse 
lassen sich schwer mit der Annahme eines Virus nervös, in Einklang bringen; diese 
wäre erst erwiesen, wenn gezeigt werden könnte, daß die Kinder der Paralytiker und 
Tabiker sicher häufiger an organischen Nervenleiden erkranken als die Kinder anderer 
•Luetiker. 

Seelert (41) faßt die Ergebnisse seiner Untersudhungen an Familienangehörigen 
von 30 Paralytikern und 10 Tabikern dahin zusammen: Syphilis und namentlich 
syphilogene Nervenkrankheiten wurden bei Familienangehörigen der Paralytiker und 
Tabiker, die sich während der Ehe oder nur wenige Monate vorher infiziert hatten, 
wesentlich häufiger gefunden als bei den Angehörigen der andern, deren Infektion 
drei oder mehr Jahre vor der Heirat erfolgt ist; die Schädigung der Nachkommen- 
schaft durch die Syphilis ist in Jenen Fällen am schwersten gewesen, in denen der- 
Vater sich während oder kurz vor der Ehe infiziert hat. In allen fünf Familien mit 
syphilitischen Kindern, in denen der Infektionstermin bekannt ist, hat sich der Vater 
während oder kurz vor der Ehe infiziert. Es ist anzunehmen, daß in diesen Familien 
die Infektion beider Eltern gleichzeitig oder mit nur kurzer Zwischenzeit stattgefunden 
hat, die Infektion der Mutter also aus frischer, noch nicht durch Abwehraktion 
des Organismus in der Virulenz geschwächter Infektionsquelle stammt. Daraus 
ergibt sich die Frage, ob ein Syphiliskranker, der sich seine Infektion aus frischer 
Infektionsquelle, d.h. von einem erst kurz vorher infizierten Menschen zugezogen 
hat, hinsichtlich der Entstehung syphilogener Nervenkrankheit mehr gefährdet ist 
als ein anderer, der durch einen schon lange an Syphilis leidenden Kranken infiziert 
worden ist. Weitere Untersuchungen, die diesen Gesichtspunkt berücksichtigen, 
sind notwendig. 

Während die meisten Autoren bei dem gleichzeitigen Nachweis von nervösen 
und psychischen Erkrankungen und kongenitaler Lues ohne weiteres auch einen 
ätiologischen Zusammenhang zwischen beiden Affektionen annehmen, glaubt Hübner 
(27), daß in dieser Frage wohl zu oft lediglich nach dem Grundsatz post hoc, ergo 
propter hoc verfahren wird. Er untersucht daher in seinem eigenen Material von 
30 Fällen in kritischer Weise, wieweit ein Zusammenhang von Erbsyphilis und Er¬ 
krankungen des Nervensystems besteht. Bei dem Befund von psychischer Minder¬ 
wertigkeit und allgemeiner Nervosität braucht durchaus nicht immer die Syphilis 
zur Erklräung herangezogen werden; vielfach erklären sie sich aus'der sonstigen Be¬ 
lastung. Von seinen Patienten konnte nur bei 30% die Syphilis für das Bestehen 
«fieser Erscheinungen verantwortlich gemacht werden; diese Fälle zeigten als Besonder¬ 
heiten ‘oft unmotivierte Verschlechterungen, häufig auch somatische Erscheinungen,. 
also Symptome florider Lues. Ähnlich verhält es sich mit dem Zusammenhang 
zwischen Erbsyphilis und Schwachsinn; die echten syphilitischen Schwachsinns¬ 
formen weisen meist nebenher Symptome auf, die erkennen lassen,'“daß die Syphilis 
noch nicht zur Ruhe gekommen ist, daß es sich um progrediente Erkrankungen 
handelt. Echte Chorea als Folgeerscheinung von Erbsyphilis gibt es nicht, dagegen 
in seltenen Fällen choreatische Zuckungen, die aber mit der echten Chorea nicht 
identifiziert werden; ein ätiologischer Zusammenhang zwischen Dem. praecox und 
Erbsyphilis ist abzulehnen. Das Gebiet der Psychosen bei kongenitaler Lues ist 


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80* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

noch wenig durchforscht; sowohl die Frage des geologischen Zusammenhanges mit 
der kongenitalen Lues als auch die Symptomatologie der luetischen Psychosen bedarf 
noch weiteren Studiums. Verf, teilt zunächst einen Fall von ganz ungewöhnlichem 
Verlauf mit, der sich schließlich doch als juvenile Paralyse herausstellte: Beginn der 
Erkrankung im 19. Jahre; anfargs Depression, dann rasch Größen- und Verfolgungs¬ 
ideen, später katatone Symptome mit Stupor und Erregungszuständen, so daß die 
Diagnose Lues cerebri mit katatonen Symptomen in Erwägung gezogen wurde. 
Möglicherweise handelte es sich in diesem Falle nicht um kongenitale, sondern um 
eine erst am Ende des ersten Lebensjahres erworbene Lues. In einem andern Falle, 
wo Taubstummheit und Schwachsinn auf der Basis kongenitaler Lues bestanden, 
entwickelten sich im 12. Jahre Angstzustände, vereinzelte hypochondrische Wahn¬ 
ideen, Sinnestäuschungen ängstlichen Inhalts von zeitweise delirantem Charakter, 
Verfolgungsideen, episodische Erregungszustände zur Zeit der Menses. Da dem 
Auftreten der psychischen Störungen eine Schilddrpsenvergrößerung vorangegangen 
war, da die Pat. stark belastet war, da menstruelle Steigerungen zu beobachten 
waren, nimmt H. an, daß neben der Syphilis auch endogene Faktoren eine Rolle 
gespielt haben. Eine juvenile Tabes kann sich bei kongenitaler Lues noch seht 
spät entwickeln. Von den Fällen kongenitaler Lues, die H. gesehen hat, waren 26% 
überhaupt frei von gröberen nervösen Störungen. Die Frage der Lebensdauer und 
der Schicksale kongenitaler Luetischer in nervöser Beziehung muß noch weiter 
studiert werden, ebenso die Frage nach den Folgen der Lues in der zweiten 
Generation. 

Husscls (28) teilt 4 Fälle von juveniler Paralyse mit. In dem einen Falle, bei 
dem außerdem chronischer Hydrocephalus internus bestand, waren Zeichen eines 
fortschreitenden Hirnprozesses bereits mit 5 Jahren aufgetreten. In allen Fällen 
bestanden absolute Pupillenstarre und Mydriasis; diese Erscheinung ist deshalb 
v on Bedeutung, weil erfahrungsgemäß bei juveniler Paralyse gerade im Hirnstamm, 
wohin der Sitz der absoluten Pupillenstarre verlegt wird, der anatomische Prozeß 
der Paralyse am ausgeprägtesten zu sein pflegte. Auffallend ist die Tatsache, daß 
der paralytische Prozeß bei der juvenilen Paralyse nur die Funktion der inneren 
Augenmuskeln zu schädigen scheint, während die Funktion der äußeren intakt 
bleibt. Von Bedeutung ist weiter, daß bei der juvenilen Paralyse die so häufige 
Opticusatrophie nicht wie bei der Tabes mit Hinterstrang-, sondern mit Seitenstrang- 
symptomen (Spasmen, Steigerung der Sehnenreflexe) verbunden ist. 

Weygandt (46) beschreibt einen Fall, in dem die turmschädelartige Mi߬ 
bildung des Schädels auf Erbsyphilis zurückzuführen ist. Der Vater des 16%Jährigen 
Pat. war Potator; der Pat. lernte mit 3 Jahren laufen, lernte in der Schule mangelhaft; 
im Alter von 10 Jahren trat binnen 4 Monaten Erblindung ein. Mit 14% Jahren 
las er noch Blindenschrift; mit 15% Jahren begann er zu zittern; es kam zu geisti¬ 
gem Rückgang mit Wahnvorstellungen, Lähmungsei scheinungen traten hinzu. 
Befund: turmschädelartige Kopfbildung, Pupillen lichtstarr, Mydriasis, Papillen 
atrophisch, Schwerhörigkeit, Skoliose der Wirbelsäule, rechtsseitige spastische Arm¬ 
lähmung, Erhöhung der Sehnenreflexe, Fußklonus. 4 Reaktionen positiv. Die Dif¬ 
ferentialdiagnose schwankte zwischen juveniler amaurotischer Idiotie und Geistes- 


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Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 81* 

Störung auf hereditär-luetischer Grundlage, auch anjuvenile Paralyse wurde gedacht 
(nach einer persönlichen Anmerkung des Verf. im Besprechungsexemplar anatomisch 
als ju\ enile Paralyse festgestellt). 

In dem Falle von Hydrocepbalus maximus, über den Ganter (16) berichtet, 
handelt es sich um einen 44 Jahre alten Patienten; der Schädelumfang betrug 74 cm. 
Eingereiht in die Tabelle von Glüh, würde der Fall nach dem Alter der vierte, nach 
dem Umfang der sechste sein. In den Beinen bestanden hochgradige Spasmen, 
in den Armen etwas schwächere. Psychisch war er meist euphorisch, zeigte wenig 
Antrieb zum Sprechen; die Intelligenz war stark herabgesetzt, immerhin besaß e f 
ein gewisses Auffassungs- und Erinnerungsvermögen für die alltäglichen Vorgänge 
seiner Umgebung. Bis zum 4. Monat war Pat. gesund gewesen, dann wurde er 
krank; im Anschluß entwickelte sich der Hydrocephalus. Der Tod wurde durch ein 
Durahämotom (Psychomeningitis) herbeigeführt; das Gewicht des ganz abgeplatteten 
Gehirns betrug ohne Liquor immerhin noch 1129 g. Als Ursache kommen wahr¬ 
scheinlich angeborene Anlage, Rhachitis und ein entzündlicher Prozeß, worauf die 
Pachymeningitis hinweist, in Frage. 

Der Fall von Westphal (43) bot klinisch die ausgeprägten Symptome der 
Tay-Sachsscben Form der amaurotischen Idiotie bei einem jüdischen Kinde: Beginn 
im Alter von 4—5 Monaten mit Schwäche der Halsmuskulatur, später der Extremi¬ 
täten. Apathie, Schlafsucht, Schreckhaftigkeit. Progressive Abnahme des Sehver¬ 
mögens mit charakteristischer Makulaveränderung; später Anfälle, erst vom Jackson- 
sehen Typus, zuletzt allgemeine. Tod nach 1%jähriger Krankheitsdauer. Patho¬ 
logisch-anatomischer Befund: An den Ganglienzellen Volumenzunahme des Plasmas 
mit Veränderungen der Nißl- Körper, Bild der wabigen Zellerkrankung, in manchen 
Zellen auch das Wabennetz zerfallen, an den Vorderhornzellen vielfach Bild der 
perinukleären Homogenisation. Starke Beteiligung der Dendriten am Schwellungs¬ 
prozeß. Zugrundegehen der Fibrilleninnennetze, besseres Erhaltenbleiben der 
Außenfibrillen. Vereinzelt zweikernige Zellen. Pigmentablagerung fehlt im Nißl- Bild, 
im Bilde nach May-GrümüalJ und bei Färbung mit Scharlachrot; dagegen bröcklige I 
Schollen im Zelleib bei Färbung nach der fPefeerfschen Markscheidenmethode. 

Starke Ausfälle im Markfaserbild, besonders im Rinden-, aber auch im tieferen Mark. 

Im Gliabild zahlreiche progressive Veränderungen; Bildung protoplasmareicher 
Zellen, Spinnenzellen, Monstragliazellen, Gliavasenbildung; im Kleinhirn hoch¬ 
gradige Wucherung der Bergmannschen Stützfasern mit Bildung eines mächtigen 
Randfilzes. Am mesodermalen Gewebe, abgesehen von Ansammlung intensiv rot¬ 
gefärbten Substanzen in den Adventitialscheiden, keine Veränderungen. Der Befund 
ist für die Tay-Sachssche Form charakteristisch. Als Besonderheiten sind der Nach¬ 
weis zweikerniger Ganglienzellen und die Bildung der mächtigen Randschicht am 
Kleinhirn hervorzuheben, die letzteren besonders deshalb, weil den Erkrankungen 
des Kleinhirns bei den verschiedenen heredodegenerativen Erkrankungen eine be¬ 
sondere Bedeutung beizulegen ist. Bei Vergleichung der Befunde mit denen bei der 
juvenilen Form bildet besonders das Studium der Abbauprodukte große qualitative 
und quantitative Unterschiede: im Falle Westphals ein durch WetgerHcP.es Mark- 
scheidenhämatoxylin und Ehrlichsches Hämatoxylin intensiv schwarz bzw.blau färb- 
Zeitschrift für Psyohiatrie. LXXV. Lit. { 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


barer Detritus, davon bei Spielmeyer nichts; andrerseits in Spidmeyen Fallen Bildung 
eines grünlichen Pigmentes, typische Granulierung im Bilde nach May-Grünwald, 
davon bei Westphal nichts. Obereinstimmung, soweit es sich um die Resultate der 
Scharlachrotfärbung handelt. Auch Westphal hält die Abbauprodukte in den Gan¬ 
glienzellen für myelinoide Vorstufen des Fettes. Weitgehende Unterschiede bestehen 
. auch hinsichtlich des Glia- und Markbildes. Im Gegensatz zu den Befunden West- 
phak treten bei der Spidmeyerschen Form Gliaveranderungen stark zurück; dasselbe 
gilt vom Markscheidenbilde. Beide Formen sind Gruppen einer Krankheit Die 
Differenzen im Gesamtbilde sind aber so eigenartige, daß gefragt werden muß, ob 
nicht außer der verschiedenen Intensität des Prozesses bei beiden Formen noch 
andere besondere Momente zur Erklärung herangezogen werden müssen. Die 
außerordentlich starke Erkrankung der Markfasern im Westphalschen Falle legt den 
Gedanken nahe, daß dieser Erscheinung besondere Ursachen zugrunde liegen müssen. 
Nach seinen eigenen früheren Untersuchungen bestehen weitgehende Unterschiede im 
Markscheidenbilde des jugendlichen und erwachsenenNerver.kranken,sie zeigen durch¬ 
aus abweichendes Verhalten gegen verschiedene Reagentien, z. B. Osmiumsäure usw., 
auch Flechsig weist darauf hin, daß den physikalischen Differenzen zwischen fötalem 
und ausgereiftem Mark auch chemische entsprechen. Die Unterschiede im Mark¬ 
faserbilde der infantilenund juvenilen Form sind wohl zum größten Teil durch Diffe¬ 
renzen in der Markentwicklung bedingt; die jugendliche Nervenfaser ist gegenüber 
Schädlichkeiten endogener wie exogener Art weniger widerstandsfähig, daher gröbere 
Störungen des Markbildes bei der infantilen Form. Vielleicht sind auch die bisher 
konstant nachweisbaren Unterschiede im mikroskopischen Verhalten der in den 
Zellen angehäuften Abbauprodukte auf die chemische Verschiedenheit des unent¬ 
wickelten und des reifen Nervenmarks zurückzuführen. 

Bei der großer Bedeutung, die unter den heredodegenerativen Erkrankungen 
den mit Augenstörungen einhergehenden familiären Erkrankungsformen zukommt 
sei diä Arbeit von Stargardt (42) ebenfalls etwas ausführlicher wieder gegeben 
Bietet doch wahrscheinlich das Material der Idiotenanstalten sehr viel Material zum 
Studium der einschlägigen Fragen. Stargardt unterscheidet 4 Formen: 1. die präsenile 
Makuladegeneration (Tay): Auftreten heller Fleckchen in der Gegend der Makula 
und der Papille, daneben eventuell noch strahlige Pigmentherdchen. Über nervöse 
und geistige Störungen bei där Erkrankung nichts bekannt. 2. Die familiäre, honig- 
wabenähnliche Makuladegeneration (Honeycomb or family choriodites Doyne). 
Entwicklung in frühester Jugend/Auftreten zahlreicher weißet Flecke in der Gegend 
der Papille und Makula, in honigwabenartiger Anordnung. Möglicherweise dabei 
Verblödung; in einem Falle vielleicht Epilepsie. 3. Die familiäre angeborene Makula¬ 
degeneration Best. Angeboren, nicht progressiv; bei 8 Mitgliedern einer Familie 
von 59 Personen. Makulaherde von verschiedener Größe und Form; bisweilen Ver¬ 
änderungen, die an abgelaufene Chorioiditis erinnern; weiße Herde mit mehr oder . 
weniger Pigment. Nervöse oder psychische Erkrankungen dabei nicht beobachtet. 
4. Die familiäre progressive Makuladegeneration mit und ohne psychische Störungen. 
Anfänglich zarte, gelblichgraue Flecke, dann Unregelmäßigkeiten in der Pigmen¬ 
tierung, dann zusammenfließender Fleck in Makulagegend, liegendoval von 2 Pa- 


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Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 


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pillendurchmessergroße: eigenartig schmutziggrau bis bleigrau, im Herd gewöhnlich 
noch einige Aderhautgefäße, Pigmenthäufchen, in der Umgebung weißliche, fleckige 
Trübungen. Die erkrankten Geschwister erkranken entweder alle psychisch oder 
bleiben alle frei. Bei Fallen ohne psychische Störungen Beginn im 12.—14. Lebens¬ 
jahre, bei Fällen mit psychischen Störungen zwischen 3% und 6 Jahren, Beginn 
gleichzeitig mit den Sehstörungen; mehr oder minder schnelle Verblödung; in einem 
Falle epileptiforme Anfälle. In der Ätiologie der Fälle mit psychischen Störungen 
spielt Konsanguinität möglicherweise eine Rolle. 

Kretschmer (31) konnte bei einem Soldaten folgenden Symptomenkomplex 
. feststellen: eunuchoider Habitus und partieller akraler Riesenwuchs; überlange Glied¬ 
maßen, offene Epiphysenfugen, kleiner Schädel mit flachem Hinterhaupt, mangel¬ 
hafte Behaarung des Körpers, kleine Hoden, akromegale Verhältnisse an Nase, 
Händen und Füßen; daneben möglicherweise als Nebennierenerscheinungen aufzu¬ 
fassende Befunde: abnorme Hautpigmentierungen, Dermographie, Tachykardie, 
Krampfaderbildung; außerdem Arthropathien der Wirbelsäule und Kniegelenke, 
psychische Minderwertigkeit und intellektuelle Schwäche, lokale Pse6dohypertrophie 
der Muskulatur. Der Vater zeigte ähnliche Symptome, und auch Großvater und 
Geschwister des Vaters sollen ebenfalls ähnliche Erscheinungen geboten haben. 
faßt den Zustand als polyglanduläres Syndrom auf, in dessen Mittelpunkt ein Hoden- 
Hypophysenkomplex steht, zu dem sidi wahrscheinlich noch Nebennierensymptome 
gesellen. 

Comils (10) teilt die Krankengeschichte eines Falles von Eunuchoidismus mit: 
49 jähriger Mann, Vater und 5 Brüder ebenfalls von riesenhaftem Wuchs; beschränkt; 
schon in Schule auffallend groß; in der Ehe große Libido, aber langdauemder Koitus 
und geringe Ejakulation. Nach einem Unfall neurotische Symptome, 2 Monate 
später keinerlei Geschlechtsverkehr mehr. Riesenhafter Wuchs, Extremitäten abnorm 
lang, teigige Schwellung der Haut, besonders am Mons veneris, mangelhafte Be¬ 
haarung im Gesicht, in Achselhöhlen und Schamgegend, Penis mäßig entwickelt; 
Genu valguae, geringe Intelligenz. Verf. gibt keinerlei Erklärung für das auffällige 
Verschwinden der Libido nach dem Unfall. 

In dem Falle von Dziembowsltf (12) bestanden von Geburt an in den rechts¬ 
seitigen Extremitäten mäßige Schwäche und krampfartige Erscheinungen (zerebrale 
Kinderlähmung); im 5. Jahre längere Zeit starke Kopfschmerzen, anschließend 
rapid zunehmende Fettsucht, nach 3 Jahren stationär; denn Jahre hindurch Poly- 
-dipsia und Polyurie als Erscheinungen von Diabetes insipidus, weiterhin Schwinden 
der Libido, Verkleinerung der Hoden. Soldat. Im Felde wiederum im Anschluß an 
Kopfschmerzen stärkeres Hervortreten der Schwäche in der rechten Körper hälfte. 
Typisches Bild der Dystrophia adiposogenitalis: Fettwülste besonders an Brüsten, 
Schultern, Bauch, dürftige feminine Behaarung, leichte bitemporale Hemianopsie, 
Lymphozytose, niedriger Blutdruck; daneben jedoch auffallende Schlaffheit der 
Muskulatur, stellenweise an Erb sehe Dystrophie erinnernd, keine Entartungsreaktion, 
.aber etwas langsame und träge Zuckung, Tachykardie, die wahrscheinlich auf eine 
Herzmuskelschwäche zu beziehen ist. In der Literatur ist nur selten Myopathie in¬ 
folge Hypophysenerkrankung beschrieben worden. Da bei dem 26jährigen Manne 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


durch Darreichung von Pituitrin und Hypophysia bereits nach 14 Tagen über¬ 
raschende Besserung erzielt wurde, vor allem Gewichtsabnahme, Steigerung und 
Kräftigung des Muskeltonus und der Herztätigkeit, schließt Verf., daß die Myopathie 
in seinem Falle zweifellos eine Folge der Erkrankung und Unterfunktion der Hypo¬ 
physe gewesen ist. 

Weygandi (45) teilt mehrere etwas atypische Fälle von Degeneratio adiposo- 
genitalis mit: Fall 1. Schwach beanlagtes Mädchen mit Parese des linken Beines, 
Menses mit 15 Jahren, Cessatio mensium mit 16% Jahren, gleichzeitig Kopfschmerz, 
Schwindel, Hinfallen, krampfartige Bewegungen in der 1. Hand, Schlafsucht, Amau¬ 
rose. Von 17% Jahren an rapide Gewichtszunahme von 35 auf 70 kg. Rückkehr 
der Menses. Zustände von Somnolenz mit Erbrechen und epileptiformen Anfällen, 
zeitweise läppisch, heitere Stimmung. Gliasarkom der Hirnbasis, Hypophyse knopf- 
artig plattgedrückt; zeigte überwiegend nur noch Drüsengewebe, Neurohypophysen- 
gewebe nur noch als kleiner Randstreifen. Bemerkenswert ist, daß trotz schwerer 
Kompression der Neurohypophyse die genitale Komponente wenig ausgeprägt war. 
Untersuchung des Blutes nach Abderhalden ergab Abbau der Hypophyse. Der hypo¬ 
physäre Schwachsinn bietet insofern ein ganz eigenartiges Bild, als es sich um eine 
Demenz von ausgesprochen erethisch-euphorischem Gepräge handelt. 

Fall 2. Männlicher Patient; mit 1% Jahren Krämpfe, epileptischer Anfell mit 
19 Jahren. Sehr schwachsinnig, wild und zergtörutigssüchtig. Schon früh sehr dick, 
mit 30 Jahren 151,5 kg, sank wieder auf 122 kg. Exitus mit 35 Jahren. Neurohypo- 
physe faserreiches Gewebe mit wenig Kernen, Drüsenteil und Pars intermedia gut 
ausgebildet. Schilddrüse hypoplastisch-infantil. Ursache wahrscheinlich Enzepha¬ 
litis. Ähnliche Erscheinungen finden sich bisweilen bei Porenzephalie, Epilepsie, 
Hydrozephalie, auch bei Mikrozephalie, Lues hereditaria. 

Fall 3. Sekundäre Adipositas bei hochgradigem Hydrocephalus mit Chondro¬ 
dystrophie. Mädchen mit Mißbildung des Schädels geboren, links blind, mit 1 Jahre 
Laufen und Sprechen gelernt, mit 14 Jahren Stillstand der geistigen Entwicklung, 
immer Euphorie, geistiger Rückgang. Stirnhöcker stark aufgetrieben, horiontaler 
Umfang in Höhe der Stirnhöcker 42 cm, in Höhe der stark auscinandergetriebenen 
Schläfenschuppen 58 cm. Mißbildungen an Händen und Füßen. Starke Adipositas. 
Tod mit 16% Jahren. 1150 g Hirnwasser; Hypophyse offenbar durch Drude ge¬ 
schädigt. 

Kellner (29) gibt eine kurze, ansprechend geschriebene Darstellung der neueren 
Untersuchungen, die über die Ätiologie des endemischen Kropfes und Kretinismus 
angestellt worden sind, und über die hauptsächlichsten, zurzeit erörterten Theorien. 
Nilsson (36) hat bei einem Falle von infantilem Myxödem Blutzucker Bestimmungen 
gemacht. Bei der Aufnahme vertrug der Pat. 300 g Glykose, ohne daß Glykosurie 
auftrat; es wurde nun der Blutzuckergehalt nach 100 g Glykose bestimmt und dann 
nach etwa zweimonatiger Thyreoidinbehandlung nochmals. Bei einem Vergleich 
zwischen der Blutzucker kurve nach 100g Glykose vor und nach Thyreoidinbehandlung 
zeigte sich, daß nach der Behandlung die Werte des Blutzuckers und ebenso die Dauer 
der Blutzuckersteigerung wesentlich erhöht. Diese Veränderung in der Gestaltung 
der Blutzuckerkurve steht mit der Behandlung offenbar in direktem Zusammenhang, 


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Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 85* 

tun so mehr, als eine Veränderung der Blutzucker kurve durch Einwirkung der Thyre¬ 
oidea mit dem schon bekannten Unterschied in der Zuckertoleranz bei Hyper- und 
Athyreoidismus in voller Übereinstimmung steht. Vor und während der Thyreoidin- 
ibehandlung sind auch Versuche mit Adrenalininjektionen gemacht worden. Während 
bei den ersten Versuchen eine deutliche Steigerung des Blutzuckergehaltes auftrat, 
zeigte der Blutzucker bei den letzteren Versuchen kaum eine sichere Reaktion. Das 
ist auffällig, denn nach der Theorie von dem steigernden Einfluß der Thyreoidea auf 
<die Funktion des chromaffinen Systems hätte man bei den letzteren Versuchen eine 
noch stärkere Reaktion erwarten müssen. 

Cassel (7) hat 60 Fälle von Mongolismus beobachtet, und zwar 35 Knaben und 
25 Mädchen. Die Kinder stammten meist aus kinderreichen Familien; einer 14. Kind; 
ein Fall 1. Kind einer 15jährigen Mutter, zweimal handelte es sich um einen mongo- 
listischeaZwilling, einmal Knabe, einmal Mädchen, der andere Zwilling war jeweils 
differenten Geschlechts und gesund. 52 waren noch nicht I Jahr alt, einer 6, einer 8.' 
16 sind nachweislich an Erkrankungen der Atmungs- oder Veidauungsorgane ge¬ 
storben. Von Mißbildungen hat Cassel gesehen Palatum fissum, Atiesia ani, Hydro- 
cephalus congenitus, ausgebliebenen Descensus testiculorum, 8 mal angeborene Herz¬ 
fehler. Die Diagnose dieser Herzfehler gründete sich auf die bekannten Symptome: 
Blausucht ohne Odem, öfters vergesellschaftet mit Trommelschlägelfingern, überlaute 
Herzgeräusche. In 3 Fällen wurde doppelseitiger angeborener Katarakt gefunden, 
ein Symptom, auf das in Deutschland bislang wenig geachtet worden ist, wie über¬ 
haupt den Augenveränderungen bei Mongolismus in der deutschen Literatur noch 
wenig Beachtung geschenkt worden ist, während in der ausländischen Literatur mehr 
Gewicht da.auf gelegt worden ist. 

In zwei Arbeiten beschäftigt sich Gregor (20.21) auf Grund seiner Erfahrungen 
über 1500 im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf beobachtete Fälle mit der Frage der 
Verwahrlosung. Die erste handelt von der Aufstellung von Verwahrlosungstypen 
(20). Eine Gliederung des Materials lediglich nach medizinisch-klinischen Gesichts¬ 
punkten ergibt keine befriedigende Lösung; Verf. hat daher eine weitere Einteilung 
nach der moralischen Haltung und Entwicklung der Fürsorgezöglinge vorgenommen. 
Er gelangt so zur Abgrenzung von 5 Gruppen: 1. Moralisch Intakte. Bei ihnen 
handelt es sich um Individuen, die eine normale Anlage zeigen oder nur unwesentlich 
innerhalb einer auch hier anzunehmenden physiologischen Breite von moralisch ein¬ 
wandfreien Individuen abweichen. 2. Moralisch Schwache. Hier setzt die Ver-' 
wahrlosung. oft in der Pubertät oder Vorpubertät, ziemlich plötzlich ein, ist begleitet 
von einer auffälligen Änderung der Persönlichkeit, trägt mehr episodischen Cha¬ 
rakter, klingt wieder ab, um wieder einer korrekten Lebensweise Platz zu machen. 
An Dementia praecox erinnernde Züge, eigenartige somatische Befunde, namentlich 
Choreasymptome, weisen auf das Pathologische des Gesamtprozesses hin. Exogene 
Momente spielen eine größere Rolle. 3. Im Gegensatz dazu treten bei den moralisch 
Minderwertigen endogene Momente, namentlich Belastung durch Verbrechertum, 
in den Vordergrund. 4. Asoziale, bei denen es sich um die sogenannten schweren 
Fälle mit tiefen moralischen Defekten handelt. 5. Moralisch Indifferente. Sie 
bilden jene Gruppe von moralischer Verwahrlosung, bei der die Delikte die Kon- 


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86 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


sequenz eines pathologischen psychischen Mechanismus bilden, dessen Träger im 
strafrechtlichen Sinn für die Störungen der Rechtsordnung nicht verantwortlich 
sind. — Von den klinischen Gruppen sind Psychosen unter dem Material sehr gering 
vertreten, ebenso Epilepsie; in einem größeren Prozentsatz angeborener Schwach¬ 
sinn, namentlich in seinen leichteren Formen; im Vordergrund steht die Psycho¬ 
pathie. Bemerkenswerte Unterschiede weisen Schulpflichtige und Schulentlassene 
auf; bei den Schulentlassenen kommen doppelt soviel Asoziale, weitaus mehr Psycho¬ 
pathen vor, dagegen fast keine moralisch Intakten. Bei den schulpflichtigen Mädchen 
fehlen Asoziale ganz,-moralisch Intakte sind ’n größerem Umfang vorhanden. Ist 
mit der erwähnten Bestimmung ein wesentlicher und praktisch wichtiger Zug der 
Persönlichkeit festgestellt, so bezweckt die Aufstellung von Verwahrlosungstypen 
eine anschauliche Vorstellung der im besonderen Falle vorliegenden Verwahrlosung 
nach der Struktur der Persönlichkeit und deren Handeln. Die weitgehende Überein¬ 
stimmung, welche die Verhaltungsweise Verwahrloster zeigt, ist in der gleichzeitigen 
psychischen Struktur begründet, durch welche Entwicklung, Form und Verlauf der 
Verwahrlosung bestimmt werden. Gregor kommt hierbei zur Aufstellung folgender 
Typen; 

I. Exogener Typ. Fälle, die lediglich infolge äußerer Ursachen verwahrlosen. 
Erziehungsmangel, körperliche und geistige Vernachlässigung, Anstiftung zu 
Vergehen. 

II. Triebhaftigkeit (kindliche Individuen). 

1. harmlos' gutartig, 

2. bösartig asozial, 

3. niedrig organisiert, 

Dieser Typ wild durchaus von Kindern und infantilistisch gearteten Jugend¬ 
lichen vertreten. Das in frühester Jugend überwiegende Triebleben erfährt bei ihnen 
im späteren Kindesalter keine Beherrschung durch intellektuelle und gemütliche 
Hemmungen. 


a) neurasthenisch, 

b) phantastisch-hysterisch, 

c) sexuell erregt. 


III. A. Haltsloigkeit. 

1. lebhaft (erethisch), 

2. gleichgültig-stumpf (torpide), 

3. brutal, 

4. exzentrisch-phantastisch, 

5. triebhaft. 


B. Sexuelle Verwahrlosung. 

1. gutmütig, schwach beschränkt. 

2. sexuell triebhaft, 

3. sinnlich-arbeitsscheu, 

4. niedrig organisiert, 

5. bewußt-absichtlich. 


Die von anderer Seite behauptete Beziehung von Kriminalität und Sexualität 
besteht nicht; ein Übergang von kindlichem Diebstahl zu sexuellen Ausschweifungen 
ist nicht vorhanden. Die Zahl sexuell triebhafter und bewußt absichtlich sexuell ver¬ 
wahrloster Mädchen steht hinter den anderen Formen zurück. 

IV. Kriminelles Handeln. 

1. Verbrecherische Neigungen. 

2. (Pathologische) Schwindler und Lügner 

3. Geborene Verbrecher. 

Die zweite Veröffentlichung (21) ist speziell der kindlichen Verwahrlosung 
(bzw. der Schulpflichtigen) gewidmet. Was zunächst die Frage der Ätiologie anlangt. 


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Schütte, Intoxikations-Psychosen. 


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so zeigen die schulpflichtigen Zöglinge eine sehr starke Belastung namentlich durch 
Trunksucht und Verbrechertum; es läßt sich daraus schließen, daß bei den Schul¬ 
pflichtigen endogene Momente eine große Rolle spielen, während man äußeren Mo¬ 
menten gewöhnlich nur eine die Verwahrlosung fördernde Wirkung zuerkennen kann. 
Frühzeitiger Beginn der Verwahrlosung ist nicht selten. Die Delikte, die von dem 
aus der Leipziger Kreishauptmannschaft stammenden Material in der Hauptsache 
begangen worden sind, sind Diebstahl, Vagabundage, Verlogenheit, während Roheits¬ 
delikte zurücktreten. An der Hand von Beispielen werden die klinisch-medizinischen 
Gruppen und ihre Beziehungen zur Verwahrlosung besprochen. Die psychisch 
Intakten zeigen eine etwas niedrigere psychische Organisation; bei den Psychopathen 
tritt eine ungleichartige Anlage und Entwicklung der psychischen Funktionen zutage; 
sie weisen einen Gegensatz von Intellekt und Gefühl, starke Reizbarkeit, Schwankun¬ 
gen, Anomalien der sexuellen Entwicklung, gemütliche und -moralische Defekte, 
Neigung zu Phantastik, Gefühlsübertreibung, Schwindeleien und Lügenhaftigkeit 
auf; bei den Epileptikern stehen bisweilen poriomanische Zustände im Vordergrund; 
geisteskranke Individuen sind selten; in Frage kommen vor allem Dementia praecox 
und manische Erregungszustände. Bei den Schwachsinnigen*gibt sich die Geistes¬ 
schwäche in dem triebmäßigen, aber auch unberechenbaren Charakter, des Handelns 
kund-. Die Verwahrlosung stellt im allgemeinen keine Funktion einer bestimmten 
klinischen Gruppe vor, trägt aber bei den einzelnen klinischen Gruppen einen be¬ 
sonderen Charakter, so daß im einzelnen Fall ein Verständnis der Verwahrlosung nur 
durch die Kenntfiis der klinischen Form möglich wird. Für die Prognosestellung 
beim normalen Individuum ist die moralische Artung fast allein ausschlaggebend, 
während in pathologischen Fällen in erster Linie die Krankheitsprognose zu berück¬ 
sichtigen ist. Sie ist beim kindlichen Individuum oft besonders schwierig. Unter 
den -Gegenmaßnahmen erwähnt Gr. an erster Stelle die Schutzaufsicht, deren Wirk¬ 
samkeit sich durch Begründung poliklinischer Sprechstunden noch steigern ließe, in 
denen sich z. B. Eltern von dem mit der Natur der Verwahrlosung vertrauten Arzt 
Rat holen könnten. Ist Anstaltsbehandlung nötig, so kommt als erste Einlieferungs¬ 
stelle eine Beobachtungsstation in Frage, wo die Fälle zu sichten sind, bevor sie in 
die entsprechenden Anstalten (Heilerziehungsanstalten, pädagogische Anstalten, 
Idioten- und Schwachsinnigenanstalten) überwiesen werden. Die Erfolge auf dem 
Gebiete der Verwahrlosung sind immerhin erfreulich, wenn auch zugegeben werden 
muß, daß namentlich bei den Psychopathen ein voller Erfolg schwer erreichbar ist, 
und ein sehr beträchtlicher Teil als hoffnungslos gelten muß. 

5. Intoxikations-Psychosen. 

Ref.: Schütte -Langenhagen. 

1. Biberfeld, Joh. (Breslau), Über Morphiumgewöhnung. Sitzungs¬ 

bericht: Med. Klin. Nr. 8, S. 224. 

2. Bonhoeffer, K. (Berlin), Über die Abnahme des Alkoholismus 


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88* . Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

während des Krieges. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 
Bd. 41, H. 6. (S. 91*.) 

3. van Braam-Houckgeest, A. Q. (Warnsveld), Über die Alkohol - 

paranoia. Psyctü en neurol. Bl. vol. 21, p. 304. 

4. Brandenburg, Kurt (Berlin), Experimentelle Forschungen 

über den Morphinismus. Med. Klin. Nr. 8, S. 231. 

5. Brunzema, Friedrich, Zur Symptomatologie der Polyneuritis 

alcoholica. Inaug.-Diss. Kiel. (S. 92*.) 

6. Carnegie-Institut, Die hemmenden Wirkungen des Alkohols. 

(Auszug aus einem Bericht des Nahrungsmittellabora¬ 
toriums des C.-I. vom Nov. 1915.) Alkoholfrage 13. Jg., 
Nr. 2, S. 123. 

7. Denis, J., Alcool et tuberculose. fitude de statistique com- 

paree. .Genfcve. Impr. Atar. 31 p. — 1 Fr. 

8. Dorendorff, H. (Berlin), Über Botulismus. D. med. Wschr. 

Nr. 49 u. 50, S. 1531 u. 1554. (S. 92*.) 

9. Dresel, E. G. (Heidelberg), Die Ursachen der Trunksucht und 

ihre Bekämpfung durch die Trinkerfürsorge in Heidel¬ 
berg. Alkoholfrage Jg. 13, Nr. 1, S. 33. (S. 90*.) 

10. Eichhorst, H., Beiträge zur Kenntnis der Alkoholneuritis. 

D. Arch. f. klin. Med. Bd. 121, H. 1—3. 

11. Eulenburg, A. (Berlin), Krieg und Alkoholismus. Die Zeit 

Nr. v. 6. Jan. 1917. 

12. Flaig, J. (Berlin), Schweizerische Trinkerversorgungsgesetzt. 

Alkoholfrage Jg. 13, Nr. 2, £. 126. 

13. Forel, Aug. (Chigny), Die Ärzte und der Kampf gegen den 

Alkohol. Der Schweizer Abstinent Nr. 23/24, S. 48. 

14. Frus, J., Neues Reglement über Bevormundung und der 

Kampf gegen Alkoholismus. Rev. v. neuropsychopath. 
vol. 13, p. 13. (Böhmisch.) 

15. Goedde, H. (Wildbad-Schlömberg), Schwere Morphium- und 

VeronalVergiftung. D. med. Wschr. Nr. 7, S. 204. 

16. Gregory, M. S. (New York), Modern opinion of the alcohol- 

intoxication. NewVork med. journ. April nr. 

17. de Groot, Sr. J., Beriberi und Vitamine. Ned. Tijdschr. voor 

Geneesk. vol. 61 (I), p. 952. 

18. Hansen, Landesversicherungsrat in Kiel, Sport und Alhohol. 

Alkoholfrage Jg. 13, Nr. 2, S. 115. 


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Schütte, Intoxik&tionstPsychosen. 


89’ 


19. Hansen, Landesversicherungsrat in Kiel, Zur Abnahme der 

Trunksucht. Alkoholfrage Jg. 13, H. 3, S. 219. 

20. Hesse , P. (Berlin), Trinkerfürsorge, Polizei und Staatsanwalt. 

Berlin. J. Springer. 

21. Hofius , Hans, Zur Symptomatologie der alkoholischen 

Geistesstörungen. Inaug.-Diss. Kiel. (S. 92*.) 

22. v. Hueber, E. (Salzburg), Ein Fall von Schlafmittel Vergiftung 

(Amylenhydrat). Münch, med. Wschr. Nr. 7, S. 216. 

23. Jelliffe, Smith Ely (New York), The mentality of the alcoholic. 

' New York med. journ. April nr. 

24. Knack (Hamburg), Psychische Störungen nach Kampfgas¬ 

vergiftungen. Sitzungsber.: Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. 
Psych., R.- u. E.-Bd. 15, H. 1, S. 23. 

25. Köchlin, Ed. (Bern), Alkohol und Tuberkulose. Internat. 

Mtschr. H. 10, S. 213. 

26. Köchlin, Ed. (Bern), Neue wissenschaftliche Erscheinungen 

auf dem Gebiete der Alkoholforschung. Das Blaue 
Kreuz (Bern) Nr. 25,. S. 2. 

27. Krukenberg, Elsbeth (Kreuznach), Alkohol und Volkserziehung. 

Alkoholfrage Jg. 13, H. 4. 

28. Kuenen, W. A., Die Untersuchungen des Reis in Zusammen¬ 

hang mit ihren prophylaktischen Eigenschaften der 
Beriberi gegenüber. Ned. Tijdschr. voor Geneesk. •* 
vol. 61 (I), p. 2084. 

29. Kuhn, Philalethes (Straßburg i. E.), Die Anmeldung alkohol¬ 

kranker Kriegsteilnehmer zur bürgerlichen Fürsorge. 
Med. Klin. Nr. 27, S. 732. (S. 91*.) 

30. Linne, 0. W., Zur Lehre von der Alkoholhalluzinose. Inaug.- 

Diss. Kiel. 40 S. (S. 92*.) 

31. Lorenz, W. C., Mental diseases by pellagra. Public health 

rep. vol. 31, nr. 5. 

32. Maßmann, Werner (Mohrungen), Zwei Fälle von alkoholischer 

Pseudoparalyse. Inaug.-Diss. 1916. Marburg. 33 S. 

33. Nonnenbruch, Wilh. (Würzburg), Ein mit Seruminjektion 

geheilter Fall von Botulismus. Münch, med. Wschr. 

Nr. 43, S. 1409. 

34. Oppenheim, Herrn . (Berlin), Zur Kenntnis der Veronalver- 


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90* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


giftung und der funktionellen Formen der Sehstörung. 
D. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 57, H. 1 u. 2. (S. 93*.) 

35. Robert, Paul, Über die Abnahme des Alkoholismus während 

des Krieges an der Königl. psychiatrischen und Nerven-. 
kliniic zu Kiel. Inaug.-Diss. Kiel. 14 S. (S. 91*.)' 

36. Schellmann, Erfahrungen aus der Praxis mit dem § 120 der 

RVO, insbesondere im Hinblick auf die gleiche Fürsorge 
für alkoholkranke Krieger. (Vgl. Kuhn, Phil., Fürsorge 
für alkoholkranke Krieger, in Berl. klin. Wschr. Nr. 27, 
S. 732.) Berlin W. 15. Mäßigkeitsverlag. 1916. 

37. Schnyder, K. (Basel), Über Hirnödem bei Pilzvergiftungen. 

Vjschr. f. ger. Med. ü. öffentl. San.-W. Bd. 54, H. 2, 
S. 211. 

38. Schürer v. Waldheim, Tabakvergiftungen im Heere. D. Mili¬ 

tärarzt Nr. 11. 

39. Semerau und Noak (Straßburg), Mitteilungen über Botulis¬ 

mus. Sitzungsber.: D. med. Wschr. Nr. 41, S. 1312./ 

40. Specht, Josef, Beitrag zur Lehre von der Halluzinose der 

Trinker. Inaug.-Diss. Kiel. (S. 92*.) 

41. Tallquist (Helsingfors), Über Erythrozytose und chronischen 

Alkoholismus. Ther. der Gegenw., Juli-Nr. 

42. Trier, Georg (Zürich), Vorlesungen über die natürlichen 

Grundlagen des Antialkoholismus. I. Halbband. Berlin. 
Gebr. Bornträger. 363 S. — 12 M. 

43. Weichbrodt, R. (Frankfurt a. M.), Über die Abnahme des 

Alkoholismus während des Krieges. Mtschr. f. Psych.' 
u. Neurol. Bd. 42, H. 4, S. 258. 

44. Zadek, J. (Berlin), Beiträge zur Ätiologie, Klinik und Hämato-. 

logie der perniziösen Anämie. Berl. klin. Wschr. Nr. 53, 
S. 1253. 

.a) Alkoholismus. 

Dresel (9) (and, daß unter 151 Trinkern 43 einen trinkenden Vater, 13 eine 
trinkende Mutter hatten; in 7 Fällen tranken beide Eltern. 5 Trinker waren als 
Kinder in Zwangserziehung. Vielfach zeigte sich eine auffallend niedrige Schul¬ 
leistung, die für die geistige Minderwertigkeit eines Teiles der späteren Trinker 
spricht. Von den 151 Trinkern stiegen 12 auf einen fcozial höheren Beruf, 20 blieben 
auf derselben Stufe stehen, 51 sanken in eine tiefere Schicht und 63 blieben auf der 
tiefsten sozialen Stufe stehen. 70 von 148 Männern dienten beim Militär; im August 


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Schütte, Intoxikations-Psychosen. 


91* 


1914 standen 70 in militärpflichtigem Alter, doch waren nur 12 von ihnen für den 
Dienst brauchbar. Unter 640 Geburten waren 83 Totgeburten, von den 357 Lebend- 
geborenen starben 123 als Kinder. Die Ernährungsverhältnisse waren vielfach un¬ 
genügend. Tuberkulose konnte bei 69 Trinkern oder ihren Frauen festgestellt werden. 

Die behördlichen Maßnahmen bestanden im Wirtshausverbot für 37 Trinker, 
von denen nur 6 geheilt oder gebessert wurden, weil die Verordnung zu spät kam. 
Dasselbe gilt für 14 Entmündigte, von denen nur einer geheilt wurde. In 7 Fallen 
bewährte sich die Umwandlung einer Rente in Sachleistung gut. Trinkerheilstätte 
und Arbeitshaus hatten keine Erfo.ge. 107 Trinker stellten sich als psychopathische 
Persönlichkeiten heraus, von denen 72 schon vor dem 21. Lebensjahre dem Alkoholis- 
mus verfallen waren. Diese letztere Gruppe gibt die schlechteren Heilungsaus¬ 
sichten. Sehr wichtig ist, daß die psychopathischen Anlagen möglichst früh von einem 
erfahrenen Arzte festgestellt werden. Alle Personen, die vor dem 21. Lebensjahre 
trunksüchtig wurden, sind nach Ansicht des Verf. geistig abnorm. Die Kriminalität 
der Trinker sieht er nicht als Folge der Trunksucht an, sondern vielmehr als neben¬ 
einanderhergehende Folgeerscheinung abnormer Veranlagung. 

Bonhoeffer (2) führt aus, daß die Zahl der alkoholistischen Erkrankungen in 
der Charitd seit dem zweiten Drittel des Jahres 1914 erheblich zurückgegangen sind, 
und zwar auf der Männerseite bis auf den vierten Teil gegenüber dem Jahre 1913; 
auf der Frauenstation wurde 1916 überhaupt keine Alkoholistin aufgenommen. 
Schon seit Beginn des Jahrhunderts hatten die Deliriumerkrankungen allmählich 
abgenommen, im Kriege trat ein besonders starker Abfall bis auf 9% der alkoholisti¬ 
schen Aufnahmen bei den Männern ein; bei den Frauen fehlten Delirien völlig. 
Dagegen stiegen die Zahlen über den pathologischen Rausch von 12% im Jahre 1912 
auf 40% im Jahre 1916, eine Erscheinung, die vor allem durch das Manifestwerden 
der psychopathischen Konstitutionen im Gefolge der Kriegsverhältnisse zu erklären 
ist. Die Erfahrung des Krieges bestätigt, daß eine eigentliche Trunksucht im Gegen¬ 
satz zur Morphiumsucht kaum je gefunden wird. Zum Schluß bemerkt Verf., daß 
die Zahlen der schizophrenen Prozesse eine gleichmäßige Erkrankungsziffer zeigen,, 
da sie von äußeren Einflüssen unabhängig sind. 

Robert (35) hat sich mit der Abnahme des Alkoholismus unter den Kranken 
der psychiatrischen Klinik in Kiel während des Krieges beschäftigt. Das Fallen der 
Alkoholismusziffer im Jahre 1914 trotz Zunahme der Gesamtzugänge erklärt er durch 
ide zahlreichen Einberufungen und die verbesserte Arbeitsmöglichkeit für Männer 
und Frauen, ferner durch die Erschwerung des Konsums und die erhebliche Preis¬ 
steigerung. Eine Steigerung der akuten Alkoholerkrankungen während des Krieges 
geht aus seiner Tabelle nicht deutlich hervor, ebensowenig der Einfluß der erhöhten 
Alkoholbsteuerung im Jahre 1909. 

Kuhn (29) schlägt vor, ebenso wie es jetzt schon bei tuberkulösen Lungen¬ 
kranken und Geschlechtskranken geschieht, auch die alkohol kranken Kriegsteil¬ 
nehmer der bürgerlichen Fürsorge zu überweisen, und zwar sowohl diejenigen, 
welche ohne Versorgung, als auch die, welche mit Rente entlassen sind. Er weist 
darauf hin, daß erfahrungsgemäß viele Soldaten erst nach ihrem Ausscheiden dem 
Alkoholismus verbdien, und daß es vielfach gerade die Kriegsverletzten sind, denen 


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alle F MICHIGAN 



92* 


Bericht Ober die psychiatrische Literatur 1917. 

die Gefahr der Trunksucht droht. Besonders wichtig ist es, daß der § 120 der RVO*, 
betreffend die Gewährung von Sachleistungen an Stelle der Rente, auch auf Kriegs¬ 
teilnehmer ausgedehnt wird. Leider besteht die Absicht, diese Bestimmung nur 
auf Kriegsbeschädigte anzuwenden, die bereits vor dem Kriege trunksüchtig waren; 
auch will man nur in Ausnahmefällen mit dieser Maßnahme Vorgehen. Durch solche 
Einschränkungen würde natürlich der Zweck der ganzen Einrichtung vereitelt werden. 

Linnt (30) beschreibt in einer Dissertation drei Krankheitsbilder der Alkohol- 
Halluzinose, die sich durch große Verschiedenheiten des Verlaufes auszeichnen. 
Ef bezeichnet die Halluzinose einfach als die schwerere, kompliziertere Form des 
Delirium tremens. 

Die Dissertation von Hofius (21) bringt eine Reihe von Krankengeschichten, 
die chronischen Alkoholismus, akutes Irresein und Alkoholepilepsie betreffen. 

Specht (40) bespricht die akute Halluzinose der Trinker und bringt 5 Kranken¬ 
geschichten aus der Psychiatrischen Klinik in Kiel. Er kommt zu dem Resultat, 
daß bei den Sinnestäuschungen der Gehörsinn zwar sehr im Vordergründe steht, 
daß aber auch Gesichtshalluzinationen fast niemals fehlen. Auch Gefühlstäuschungen 
kommen nicht selten vor. Dagegen sind Geruchs- und Geschmackshalluzinationen 
sowie hypochondrische Sensationen selten; wenn sie vorhanden sind, bedeuten sie 
meist eine üble Prognose. Im übrigen ist die Vorhersage als gut zu bezeichnen, die 
Dauer der Erkrankung beträgt höchstens zwei Monate. Die chronische Alkohol- 
halluzinose gibt nur selten ein gut abgegrenztes Kranhkeitsbild. 

Die Symptomatologie der Polyneuritis alcoholica ist von Brtmzema (3) in einer 
Dissertation bearbeitet und durch drei Beobachtungen erläutert. In einem Falle 
handelte es sich um eine Kombination von Alkoholismus und Diabetes, in einem 
zweiten schloß die Polyneuritis sich' an ein Delirium tremens an, der dritte Pal. war 
plötzlich mit polyneuritischen Erscheinungen erkrankt. Der zweite Fall bot das 
schwerste Krankheitsbild mit starker Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit und 
Beteiligung der Hirnnerven. Die Prognose ist hier im Gegensatz zu den beiden 
andern Beobachtungen ungünstig 

b) Andere Gifte. 

Sieben Erkrankungen an Botulismus hat Doreniorf (8) in einem Kriegslaza¬ 
rett des Ostens beobachtet. Er fand, daß die ersten Krankheitserscheinungen — 
Übelkeit, Druck oder Schmerz in der Magengegend — unmittelba oder einige 
Stunden nach Genuß des Giftes auftraten. Dann folgte Erbrechen, Schwindel, 
nach frühestens 24 Stunden Lähmungserscheinungen, besonders an den inneren 
Muskeln des Auges. Regelmäßig kommen Parese des Magens und Darmes vor, auch 
Blasenlähmung. Bei zwei Kranken bestanden Gehörstörungen. Die Erkrankung 
verläuft fieberlos, falls nicht Komplikationen eintreten. Die Sektion eines Falles 
ergab Hyperämie der inneren Organe. Im Gehirn zeigten die Ganglienzellen der 
Vierhügelregion, der Brücke und Medulla obl. sehr ausgedehnte chromolytische Ver¬ 
änderungen. In den Kerpen des Vagus, Oculomotorius und Abduzens erschienen 
die Zellen zerfressen und besenförmig aufgelöst. Auch die Ganglien des Großhirns 
waren leicht verändert. Rückenmark und Kleinhirn waren intakt. Gl «Veränderungen 


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UNIVERSITÄT OF MICHIGAN 



Kafka» Serologie. 


93* 


fanden sich nur spärlich in Medulla obl. und Brücke. Hamorrhagien fehlten. Ursache 
der Erkrankung ist der Bacillus botulinua, der allerdings in den hier beschriebenen 
Fallen nicht nachgewiesen werden konnte. Die Therapie besteht in Magenspülung, 
da wegen der Parese des Magens Reste des Giftes noch lange Zurückbleiben, ferner 
Aderlaß und subkutane Infusion. Sehr anzuraten ist die Anwendung des Botulismus^ 
serums, welches in einem Falle anscheinend lebensrettend wirkte. Eine Wirkung von 
Diphtherieserum auf die Lähmungserscheinungen konnte nicht beobachtet werden. 

Einen sehr interessanten Fall von Veronalvergiftung bei einem 19jährigen 
neuropathischen Offizier konnte Oppenheim (34) beobachten. Es trat anfangs ein 
soporöser Zustand von etwa dreitägiger Dauer ein, der mit Oligurie, Pulsverlang¬ 
samung und subnormaler Temperatur verbunden war. Die Reflexe waren bis auf 
den Bauchdeckenreflex erhalten. Eine Ptosis sowie Nystagmus bildeten sich bald 
zurück, es blieb aber eine Augenmuskellähmung zurück sowie als hervorstechendstes 
Symptom eine der Amaurose nahekommende Amblyopie und eine ungewöhnliche 
Form der Gehstörung. Das Krankheitsbild gleicht sehr der Polioencephalitis haemor- 
rhagica sup.; man geht wohl nicht fehl, wenn man den Hauptangriffsort der Veronal¬ 
vergiftung im Grau des Zwischen- und Mittelhirnes sucht. Die Gehstörung bei dem 
Pat. wurde durch das Kaufmannsche Verfahren behoben. Verf. halt es für wahr¬ 
scheinlich, daß sie' ursprünglich toxisch bedingt war und auf psychogenem (unter¬ 
bewußtem) Wege einen starken Auftrieb und eine Fixation erfahren hat. Die Am¬ 
blyopie, welche nach einjähriger Beobachtung noch fast unverändert fortbestand, 
ist schwer zu deuten. Der ophthalmoskopische Befund war dauernd normal, die 
Pupillenreaktion lebhaft. Von der hysterischen Sehstörung unterschied sich die hier 
vorliegende Amaurose in vielen Punkten, so daß man sich mit der Diagnose einer 
nichtorganisch bedingten Form begnügen mußte, deren psychogene Grundlage sich 
nicht beweisen ließ. 


6. Serologie. 

Ref.: V. Kafka-Hamburg. 

1. Abderhalden, Methoden zum Nachweis der Abwehrfer¬ 

mente im Blutserum. Münch, med. Wschr. Nr. 30, 
S. 970. (S. 101*.) 

2. Blanck, Th. (München), Die Originalmethode der Wasser - 

mannschen Reaktion und die quantitative Methode nach 
Kaup. Münch, med. Wschr. Nr. 41, S. 1324. (S. 99*.) 

3. Boas und Neve , Untersuchungen über die Weil-Kafkaschz 

Hämolysinreaktion in der Spinalflüssigkeit, speziell bei 
sekundärer Syphilis und Tabes dorsalis. Ztschr. f. d. ges. 
Neurol. Bd. 22, H. 4/5, S. 429. (S. 104*.) 


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w 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


4. Bolten, C. G. (Haag), Über die Bedeutung der Blutantitrypsine * 

für die psychiatrisch-neurologische Diagnostik. Psych. 
en neurol. Bl. vOl. 21, p. 111. 

5. Borberg, N. Chr. (Kopenhagen), Untersuchungen über den 

Zuckergehalt der Spinalflüssigkeit mit Bangs Methode. 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. Bd. 32, H. 4/5, S. 354. (S. 103*.) 

6. Bruck, Carl (Altona), Eine serochemische Reaktion bei 

Syphilis. Münch, med. Wschr. Nr. 1, S. 25. (S. 100*.) 

7. Bruck, Carl (Altona), Weitere serochemische Untersuchungen 

bei Syphilis. Münch, med. Wschr. Nr. 35 u. 36, S. 1130 
u. 1166. (S. 100*.) 

8. de Crinis, Max (Graz), Über die Änderungen des Serumeiwei߬ 

gehaltes unter normalen und pathologischen Verhält¬ 
nissen. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 42, H. 2, S. 69. 
(S. 102*.) 

9. Edel und Piotrowski (Berlin), Beitrag zur Verwertung der 

Wasser mannschen Reaktion bei progressiver Paralyse. 
Neurol. Ztbl. Nr. 5, 1916. (S. 103*.) 

10. Gärtner, W. (Kiel), Die Brucksche Globulinfällungsreaktion 

in den einzelnen Stadien der Syphilis. Zugleich ein 
Beitrag zum Wesen dieser Reaktion. Berl. klin. Wschr. 
Nr. 25, S. 603. 

11. Haas, Gg. (Gießen), Das Blutindikan und seine diagnostische 

Bedeutung. Münch, med. Wschr. Nr. 42, S. 1363. 

12. Halbey, Kurt (Kattowitz), Die Torday-Wienersehe Reaktion 

(Gold-Cyan-Aldehyd-Essigsäure-Reaktion) und ihre Be¬ 
deutung für die Diagnose der Syphilis. Med. Klin. Nr. 5, 

S. 128. (S. 101*.) 

13. Hauptmann, A. (Freiburg i. B.), Zur Bruckschen „serochemi¬ 

schen Reaktion“ bei Syphilis. D. med. Wschr. Nr. 16^ 
S. 490. 

14. Hauptmann, A. (Freiburg i. B.), Zur Bewertung der Nonne¬ 

schen Ph. I. D. Ztschr. f. Nervenheilk.'Bd. 55, S. 165. 
(S. 103*.) 

15. Heller, Jul. (feerlin), Zur Frage der Zuverlässigkeit der 

Wassermannschen Reaktion. (Eine Erwiderung auf die 
Arbeit des Herrn Prof. Dr. von Wassermann in Nr. 5 
d. Ztschr.). Berl. klin. Wschr. Nr. 13, S. 306. (S. 99*.) 


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Kafka, Serolope. 


95* 


. Herrenschneider-Gumprich und Herrenschneider (Hamburg), 
Untersuchungen der Zerebrospinalflüssigkeit mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der Pandyschen Reaktion. 
D. Ztschr. f. Nervenheilk. 1916, Bd. 56. (S. 103*.) 

. Hudovernig, Karl (Budapest), Vergleichende Untersuchung 
des Blutes und der Zerebrospinalflüssigkeit, mit besonde¬ 
rer Berücksichtigung der Sulfosalizylsäure. Neurol. Ztlbl. 
Nr. 16 u. 17, S. 657 u. 699. 

;. Hupe,-Käthe (Hamburg), Erfahrungen mit der von Weich- 
brodt angegebenen „einfachen Liquorreaktion“. Ztschr. 
f. d. ges. Neurol., Orig.-Bd. 36, H. 3/4, S. 340. (S. 103*.) 
). Kämmerer , H. (München), Bemerkungen über das Wesen der 
ßruckschen serochemischen Syphilisreaktion. Münch, 
med. Wschr. Nr. 8, S. 268. , 

>. Kämmerer , H. (München), Bemerkungen zu C. Brucks neue¬ 
sten serochemischen Untersuchungen. D. med. Wschr. 44, 
S. 13. 

1. Kafka, V. (Hamburg); Die Fermente der Zerebrospinalflüssig¬ 
keit des Menschen. Bemerkungen zu der Arbeit von 
Leschke urtd Pincussohn in Nr. 1 d. Ztschr. D. med. 
Wschr. Nr. 5, S. 149. (S. 104*.) 

>. Kafka, V. (Hamburg), Über das Schicksal des Komplements 
während des Ablaufes des Dialysierverfahrens nach 
Abderhalden. D. med. Wschr. Nr. 23, S. 825 (1916). 
(S. 102*.) 

3. Kafka, V. (Hamburg), Serologische Studien über die Vor¬ 

gänge beim Ablauf des Dialysierversuches nach Abder¬ 
halden. Ztschr. f. Immunitätsf. Bd. 55, H. 3, S. 266. 
(S. 102*.) 

4. Kafka, V. (Hamburg), Über die Bedeutung der Serologie für 

die Neurologie und Psychiatrie. Jahresber. .f Neurol. u. 
Psych. Bd. XX, S. 9. 

5. Kafka , V. (Hamburg), Fortschritte der für die Psychiatrie 

und Neurologie bedeutsamen serologischen Forschungs¬ 
zweige. Jahreskurse f. ärztl. Fortbildung, Maiheft 1917. 

6. Kafka, V. (Hamburg), Die moderne Blut- und Liquordia- 


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96* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917 


gnostik der Geistes- und Nervenkrankheiten. NeuroL 
Ztbl. Nr. 24 (1916). 

27. Kafka , V. (Hamburg), Über die Bedeutung neuerer Blut- und 

Liquorreaktionen für die Beurteilung und Behandlung 
nerven- und geisteskranker Kriegsteilnehmer. Münch, 
med. Wschr. Nr. 42, S. 1377. (S. 104*.) 

27 a. Kafka, V. und Haas, E. (Hamburg), Über die Verände¬ 

rung der hämolytischen .Komponenten, besonders des 
Komplements im Blutserum der Syphilitiker. Med. 
Klin. Nr. 50 (1916). (S. 100*.) 

28. Kaup, J. (München), Zur Fragt der Zuverlässigkeit der 

Wassermannschen Reaktion. Münch, med. Wschr. Nr. 39, 

S. 1092. (S. 99*.)' 

28 a. Kaup, Kritik der Methodik der Wasser mannschen Reaktion 

und praktische Vorschläge für die quantitative Messung • 
der Komplementbindung. Verlag R. Oldenbourg. 
München u. Berlin 1917'. (S. 99*.) 

29. Kaup, J. und Kretschmer, J. (München), Kritik der Methodik 

der Wasser mannschen Reaktion und neue Vorschläge 
für die quantitative Messung der Komplementbindung. 
Münch, med. Wschr. Nr. 5, S. 158; ebenso Arch. f. Hyg. 
Bd. 87, H. 1—4. (S. 99*.) 

30. Kirchberg, Paul (Frankfurt a. M.), Serologische Untersuchun¬ 

gen bei Geisteskrankheiten/insbesondere bei Paralyse. 
Arch. f. Psych. Bd. 57. H. 1, S. 1. (S. 104*.) 

40. Kißmeyer, A. (Kopenhagen), Weitere Untersuchungen über 

Agglutininbildung bei Syphilitikern. (Vgl. Nr. 11, 
Jg. 1915 d. Ztschr.) D. med. Wschr. Nr. 46, S. 1447. 
(S. 101*.) 

41. König , Hans (Bonn), Über den Wert der Luetinreaktion in 

differentialdiagnostiscljer Beziehung. Arch. f. Psych. 
Bd. 57, H. 1, S. 91. (S. 101*.) 

42. Leschke, E. und Pincussohn, L. (Berlin), Untersuchungen über 

die Fermente der Zerebrospinalflüssigkeit des Menschen. 
D. med. Wschr. Nr. 1, S. 8. (S. 103*.) 

43. Lindig, Gießen), Untersuchungen über die Fermente der 

Zerebrospinalflüssigkeit des Menschen. (Vgl. Leschke 


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Kafka, Serologie. 


97* 


und Pincussohn, d. Ztschr. Nr. 1.) D. med. Wschr. 
Nr. 14. (S. 104*.) 

44. Mandelbaum (München), Neue Beobachtungen über Kom¬ 

plemente und deren Bedeutung. II. Mitteilung. (Vgl. 
Mitteilung I. Jg. 1616, Nr. 20.) Münch, med. Wschr. 
Nr. 9, S. 277. (S. 100*.) 

45. Morse, St. (New York), Dry permanent Standards in the 

Wassermann reaction and a technic based on their use 
Psychiatric bulletin, january 1916. 

46. Müller, Rudolf (Wien), Über C. Brucks neue „Serochemische 

Reaktion bei Syphilis“. Münch, med. Wschr. Nr. 9, 
S. 300. 

47. Müller, Rudolf (Wien), Über die Grundlagen des von J. Kaup- 

München und J. Kretschmer vorgeschlagenen Modifika¬ 
tion der Wasser mannschen Reaktion nebst Bemerkungen 
zur Kritik der bisherigen Methoden. Wiener klin. Wschr. 
Jg. 30, S. 301. 

48. Nathan, E. (Frankfurt a. M.), Über die Brucksche serochemi¬ 

sche Reaktion bei Syphilis.. Berl. klin. Wschr. Nr. 25, 
S. 607. 

49. Oppler, Berthold (München), Zum Nachweis der Abwehr¬ 

fermente im Blutserum. Bemerkungen zum Aufsatz 
Abderhaldens in der Münch, med. Wschr. Nr. 30. D.med. 
Wschr. Nr. 51, S. 1596. 

50. Pöhlmann, A. (München), Die Technik der Wasser mannschen 

Reaktion. Kurzgefaßte Anleitung zur Ausführung der 
Reaktion. München. Müller & Steinicke. 67, S. 
1,25 M. (S. 99*.) 

51. Rautenberg, H. (Hamburg), Wert des Abderhaldenschen Dia- 

lysierverfahrens für die Kriegspsychiatrie. D. militär- 
ärztl. Ztschr. H. 23 u. 24. (S. 102*.) 

.52. Runge, Werner (Kiel), Über Erfahrungen mit dem Abder¬ 
haldenschen Dialysierverfahren in der Psychiatrie und 
Neurologie. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 71. (S. 102*.) 
53. Sachs, H. (Frankfurt a. M.), Zur serodiagnostischen Bedeutung 
der Globulinveränderungen (insbesondere bei Syphilis). 
Münch, med. Wschr. Nr. 45, S. 1462. (S. 100*.) 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Llt. g ( 


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98* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

54. Salus, G. (Prag), Die Hämolysinreaktion ( Weil-Kafkasche 

Reaktion) als Hilfsmittel der Meningitisdiagnose. D. 
med. Wschr. Nr. 31. (S. 104*.) 

55. Schmitz, Herrn. (Dresden), Über die Brucksche serochemische 

Reaktion bei Syphilis. Münch, med. Wschr. Nr. 7, S. 211. 

56. Siebert, Harald (Libau), Erfahrungen mit der Wassermann- 

schen Reaktion in der neurologischen Praxis. D. med. 
Wschr. Nr. 17, S. 528. 

57. Sonntag, Erich, Die Wassermannscht Reaktion in ihrer sero¬ 

logischen Technik und klinischen Bedeutung. Berlin. 
Jul. Springer.. 1905. — 6,80 M. (S. 99*.) 

58. Stilling, Erwin (Frankfurt a. M.), Über den Einfluß der 

Seruminaktivierung bei der Wassermannschen Reaktion. 
Berl. klin. Wschr. Nr. 11, S. 253. (S. 99*.) 

59. Stiimpke, Gustav (Hannover), Zur Frage der serochemischen 

Reaktion der -Syphilis nach Bruck. Berl. klin. Wschr. 
Nr. 35, S. 605. 

60. Trinchese, Josef (Berlin), Die positive Wassermannsche Re¬ 

aktion als Zeichen der Infektiosität der Lues. D. med. 
Wschr. Nr. 2, S. 38. (S. 100*.) 

61. von Wassermann (Berlin-Dahlem), Zur Frage der Zuverlässig¬ 

keit der Wassermannschen Reaktion. Berl. klin. Wschr. 
Nr. 5, S. 105. (S. 98*.) 

62. Weichbrodt, R. (Frankfurt), Zur serochemischen Reaktion bei 

Syphilis nach Bruck. Münch, med. Wschr. Nr. 8, S. 269. 

63. Weichbrodt, Eine einfache Liquorreaktion. Mtschr. f. Psych. 

* Bd. 40, H. 6. (S. 103*.) 

64. Zimmermann, Richard (Hamburg), Beitrag zum antitrypti- 

schen Index und dem Vorkommen von Eiweiß bei 
Geisteskranken. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., 
Orig.-Bd. 36, H. 1/2, S. 59. (S. 102*.) 

65. Zimmermann, Richard (Hamburg), Über den Alkaligehalt des. 

Blutes bei Geistesgesunden und Geisteskranken. Mtschr. 
f. Psych. u. Neurol. Bd. 40, H. 6, S. 335. (S. 102*.) 

I. Blut. 

Gegenüber einer Reihe von Angriffen auf die Wassermanmdit Reaktion, be¬ 
sonders jenen von Heller, Frendenberg und Saalfeld, veröffentlicht ü. Wassermann (61) 


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Kafka, Serologie. 


99* 


eine Reihe von Ergebnissen der Wa.-R., die unter strengen Bedingungen an den 
gleichen Seren bei zwei verschiedenen Instituten erhoben wurden (Kaiser'Wilhelm- 
Akademie und Kaiser-Wilhelm-Institut). Sie zeigten vollkommen Übereinstimmung. 
v. W. führt daher alle Resultate, die, von verschiedener Stelle erhoben, bei demselben 
Serum different erscheinen, auf ungleichmäßiges Arbeiten oder auf Verwendung 
ungleichmäßig eingestellter Reagenzien zurück. 

Hdler (15) bringt dazu eine Reihe von Entgegnungen und Richtigstellungen. 

Kaup (28) kritisiert ebenfalls die Zuverlässigkeit der Wa.-R. Er hat trotz sorg¬ 
fältigster Beobachtung der Vorschriften der Waaerman nschen Originalmethode und 
bei Kontrolluntersuchungen an verschiedenen Untersuchungsstellen in einem erheb¬ 
lichen Prozentsatz der Fälle unter sich widersprechende Resultate erhalten; die Er¬ 
gebnisse wurden nicht bessere, wenn staatlich geprüfte Reagenzien verwendet wurden. 
Auch sei die Originalmethode in ihrer heutigen Form nicht empfindlich genug. 
Wesentlich sei vor allem die Anwendung der richtigen Methodik. Diese könne sich 
aber nur aufbauen auf der Erkennung der Gesetzmäßigkeit der Wirkung zwischen , 
Immunambozeptor (und den andern Reagenzien) einer- und dem Komplement 
andrerseits. Dadurch werden unspezifische Hemmungen vermieden und die Emp¬ 
findlichkeit erhöht. 

Kaup und Kretschmer (29) sowie Kaup (28 a) besprechen ausführlich die neue 
Methode der Bestimmung der Komplementeinheit. Es wird vor allem in zwei Unter¬ 
suchungsreihen der Titer des Immunambozeptors bestimmt, und zwar mit 0,5 und 
' 0,1 einer Komplementverdünnring 1 :10, dann wird das Komplement in absteigenden 
Dosen austitriert, und zwar 1. im hämolytischen System allein, 2.-unter Zusatz von 
Normalserum, 3. unter Zusatz von Extrakt, 4. unter Zusatz von Extrakt und Normal- 
serym. Auf diese Weise wird die Komplementeinheit bestimmt. Es werden nun 
im Hauptversuch mit jedem Serum in den Extraktröhrchen die 1-, 1/4-, 2-, 3- und 
4 fache Komplementeinheit an gesetzt, in der Serumkontrolle wird ebenfalls mit 
der Komplementeinheit gestiegen. So läßt sich die Bindungskraft des Serums allein 
wie auch des Serums mit Extrakt exakt feststellen. Kaup hat auf solche Weise sehr 
günstige und empfindliche — aber spezifische Ergebnisse erhalten. ‘Auf die näheren 
Einzelheiten der Methodik kann hier nicht eingegangen werden. 

Blanck (2) empfiehlt die Kaupsche Methode der quantitativen Messung der 
Komplementbindung. Er hat 1292 Fälle vergleichend mit der Wassermannachen 
Originalmethode und Kaup untersucht; es ergab sich ein Mehr von 53 positiven 
Fällen für die Kaupsche Methodik. Mit dieser läßt sich auch die jeweilige Ver¬ 
mehrung oder Abnahme der Luesreagine bestimmen. 

Sonntag (57) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Wa.-R. mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der Praxis. 

Poehbnann (50) gibt eine kurzgefaßte Anleitung zur Ausführung der Wa.-R. 

Stäling (58) stellt an einer Reihe von Versuchen fest, daß die Reaktionsfähigkeit 
desSerums für die Wa.-R. bei länger dauerndem Erhitzen abnehme, dabei verminder¬ 
ten sich aber auch die die Hämolyse begünstigenden Einflüsse, so daß die Ergebnisse 
eine Resultante beider Faktoren darstellen. Eine Inaktivierung von 5 Min. führt 
nicht zu einer Erhöhung der Empfindlichkeit, wenn sie auch die Unspezifität be- 

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100* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

seitigt. Für die Praxis erscheint es nicht erwünscht, die Dauer der Inaktivierung 
unter 34 Stunde herabzusetzen. 

Trinchese (60) hat als Ergebnis klinischer Erfahrungen und zum Teil auch 
des Tierversuches festgestellt, daß mit Ausnahme der „Metaluiker“ positiv nach 
Wassermann reagierende Individuen infektiös sein können, und daß umgekehrt alle 
infektiösen Syphilitiker eine positive Wa.-R. bieten. 

Bruck (6) fügt zu 03 inaktiv. Serum 2 ccm destilliertes Wasser, hierauf genau 
03 ccm Add. nitric. pur., dann wird geschüttelt, es bildet sich ein weißer Nieder¬ 
schlag, man läßt nun 10 Min. bei Zimmertemperatur stehen, dann gibt man 16 ccm 
destilliertes Wasser von Zimmertemperatur zu, schüttelt gut und wiederholt dieses 
nach 10 Minuten, dann läßt man 34 Stunde bei Zimmertemperatur stehen. Bei 
normalen Seren geht der gebildete Niederschlag in Lösung, und es resultiert eine 
wasserklare oder durchsichtig opaleszierende Flüssigkeit. Bei Luesseren bleibt eine 
deutliche feinflockige weiße Trübung bestehen. Laßt man 2—3 Stunden, besser 
12 Stunden, weiter stehen, so bleiben die Normalsera völlig Idar und durchsichtig 
und zeigen keine Spur von Bodensatz, während sich bei den Syphilisseren eine 
größere oder kleinere gelatinöse Niederschlagskuppe am Boden des Glases findet. 
Es ergab sich Obereinstimmung mit der Wa.-R und dem klinischen Befund. 

In einer, zweiten und dritten Mitteilung gibt Bruck (7) zu. daß seine sero¬ 
chemische Reaktion praktisch zur Luesdiagnose noch'nicht verwendbar sei, wegen 
der unspezifischen Resultate bei andern Erkrankungen. Er zieht aus der Reaktion 
den Schluß, daß nicht die Menge der Globuline im Luesserum vermehrt ist, sondern 
ihre Fällbarkeit. Er kommt im Verlauf weiterer Versuche zu interessanten Ergeb¬ 
nissen bezüglich der Erscheinungen bei der Inaktivierung der Sera und der Fällbar¬ 
keit der Globuline. 

H. Sachs (53) bespricht, angeregt durch die ßrtic&schen Untersuchungen, seine 
früheren Studien über die Komplementinaktivierung im salzarmen Medium und 
meint, daß diese in Verbindung mit neueren Theorien geeignet seien, den Vorgang des 
Komplementschwundes bei der Wa.-R. auf eine Globulinveränderung bestimmten 
Grades zurückzuführen, für die bei der Wa.-R. die Extraktwirkung das physikalisch 
aufschließende Moment bildet. 

Mandelbaum (44) hat Studien über das Eigenkomplement des Serums gemacht 
und- gefunden, daß der Komplementgehalt in iedem Menschenserum der gleiche ist 
und im gesunden Serum im Eisschrank während mehrerer Tage erhalten bleibt; 
eine Reihe von pathologischen, vor allem Luessera, verlieren ihr Komplement inner¬ 
halb 24 Stunden im Eisschrank vollkommen. 65% sämtlicher nach dieser Methode 
positiv reagierenden Sera stammte von Syphilitikern; von den nach Wassermann 
positiv reagierenden Fällen zeigten 55% Komplementschwund. M. kommt zu dem 
Schlüsse, daß bei Ausschluß von chronischer Tuberkulose, chronischen Eiterungen, 
Scharlachrekonvaleszenz ein positiver Ausfall des Komplementschwundes auf eine 
wahrscheinlich vor längerer Zeit erworbene syphilitische Infektion bzw. auf eine 
kongenital erworbene Syphilis hinweist. 

Kafka und Haas (27 a) gehen im Anschluß an Mandelbaums Untersuchung 
auf die Geschichte der Forschungen über die He absetzung der hämolytischen Kom- 


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Kafka, Serologie. 


101* 


ponenten bei Lues ein und betonen, daß Weil und Kafka zu gleicher Zeit mit Elias¬ 
berg häufiges Fehlen des Eigenkomplements bei der Paralyse nachgewiesen haben, 
daß ferner Kafka oft auch eine Herabsetzung der. Reaktionsfähigkeit des Normal¬ 
ambozeptors festgestellt hat, andrerseits den Komplementsschwund neben der Para¬ 
lyse oft dann gefunden hat, wenn die Lues mit Erscheinungen von seiten des Zentral¬ 
nervensystems einherging. Alle diese Punkte sind bestätigt worden. Die neuerlichen 
Ergebnisse Mandelbatam, daß auch die Syphilitikersera im frischen Zustand genügend 
Komplement enthält, der Schwund des Alexins daher erst außerhalb der Bhit- 
bahn erfolge, haben die Autoren nachgeprüft. Es ergab sich Fehlen von Kom¬ 
plement in 16% der wassermannpositiven Fälle; in frischem Zustande war meist 
Komplement vorhanden, zwei Fälle zeigten aber auch da schon Komplementver¬ 
minderung, so daß eine vollständige Bestätigung der Befunde von Mandelbaum nicht 
möglich war. Bezüglich des hämolytischen Normalambozeptors wurde gefunden, 
daß er fast immer vorhanden, daß aber bei den Luesseren seine Reaktionsfähigkeit 
durch den Prozeß der Inaktivierung oft schwer geschädigt wird. 

Halbey (12) hat die Gold-Zyan-Aldehyd-Essigsäure-Reaktion nach Torday und 
Wiener in ihrer Bedeutung für die Diagnose der Lues untersucht. Das Prinzip der 
Methode ist das, daß alle Blutsera durch Zugabe von einem Gold-Zyan-Aldehyd- 
Gemisch starke Niederschläge bilden, während diese sich aber nach Zugabe von 
Essigsäure bei nicht syphilitischen Seren nicht nennenswert klären, beobachtet man 
bei Syphilitikerseren schwächere und stärkere Klärung, ja Aufhellung der Nieder¬ 
schläge. Die Deutung der Reaktion ist nach H. nicht immer ganz leicht. Bei der 
Untersuchung von 180 Fällen ergab sich in 80% eine Übereinstimmung mit der 
Wa.-R. In einzelnen Fällen war die T.W.-R. bei vorhandener Lues positiv, bei 
negativer Wa.-R. 

Kißmeyer (40) hat Agglutinationsversuche der Spirochaeta pallida mit 19 Seren 
und 1 Liquor Syphilitischer sowie mit 10 Normalseren und 2 normalen Liquorse 
gemacht und gefunden, daß das Serum der Syphilitiker in spezifischer Weise die 
Spirochaeta pallida agglutiniert. Die Reaktion ist bei Syphilis nicht konstant vor¬ 
handen, aber in allen Stadien nachgewiesen. 

König (41) hat das Luetin Noguchis bei einem Material von 100 Kranken intra¬ 
kutan geimpft; 75 Fälle ließen sich ätiologisch auf Lues zurückführen. Die Lues 
cerebrospinalis ergab die höchste Prozentzahl an positiven Reaktionen, so daß man 
mit einer gewissen Vorsicht den positiven Ausfall für Lues cerebri und gegen Paralyse 
verwenden kann. Es ergibt sich auch auf Grund von K .s Zusammenstellungen ein 
größerer Zusammenhang zwischen Luesreaktion und Lues cerebri. 

Abderhalden (1) stellt die bisherigen Methoden v zum Nachweis der Abwehr¬ 
fermente zusammen. Als Richtlinien für die Zukunft haben zu gelten: erstens Ver¬ 
suche, aus Organeiweiß spezifische Substrate herzustellen, zweitens, mit dem Eiweiß 
einen leicht nachweisbaren Stoff chemisch oder physikalisch zu verknüpfen, wobei 
die Bindung im Zusammenhang mit dem kolloidalen Charakter des Substrates stehen 
müsse. Geht diese beim Abbau verloren, so muß der aufgenommene Stoff zur Ab¬ 
gabe gelangen, sein Nachweis müßte also das Zeichen des Abbaus sein. Zu diesem 
Zwecke wurden Versuche mit kolloiden Metallen, Beladung mit Eiweiß u. ä. versucht; 


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102* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

letzteres war erfolgreich. Der Versuch wurde auch mit guten Ergebnissen von 
Thocncn ausgeführt 

Runge (52) hat das Dialysierverfahren bei einer Reihe von Seren Geistes- und 
Nervenkranker angestellt. Er findet die Ergebnisse interessant, spricht aber nicht 
für eine praktische Anwendung der A.-R. 

Rautenberg (51) hat an der Hand von 300 Militärfällen den Wert des Dialysier- 
verfahrens nach Abderhalden für die Kriegspsychiatrie erörtert. R. hatte sehr günstige 
Ergebnisse zu verzeichnen, die im Original nachgelesen werden müssen. Er sieht sich 
daher berechtigt, die A.-R. zur Klärung der Fragen der Diensttauglichkeit, Dienst»' 
Beschädigung und Zurechnungsfähigkeit heranzuziehen. 

Kafka (22, 23) hat Versuche über die Vorgänge beim Ablauf des Dialysier- 
versuches nach Abderhalden angestellt. Er hat vor allem gefunden, daß dem Kom¬ 
plement eine funktionelle Bedeutung beim Zustandekommen der A.-R. nicht zuzu¬ 
sprechen ist. Auf die andern theoretischen Ergebnisse kann hier nicht eingegangen 
werden; für die Praxis wurde geschlossen, daß es bei Anstellung der A.-R. notwendig 
ist, auch die Menge Außenflüssigkeit genau abzumessen und möglichst gleichmäßige 
Hülsen und Kölbchen zu verwenden, daß ferner als Hülsenprüfung auch jene mit 
einer abgemessenen Menge 0,9% Na Q-Lösung als Hülseninhalt empfohlen werden 
muß; die Kochsalzlösung muß nach Ablauf des Versuches genau gemessen werden 
und die gleiche Probe mit verschiedenen Kölbchen wiederholt werden. 

Zimmermann (65) hat Messungen des Alkaligehaltes des Blutes Geistesgesunder 
und Geisteskranker mit Hilfe der Titrationsmethode von C. 5. Engel angestellt. Er 
fand bei den meisten Psychosegruppen kaum ein Abweichen von der Norm, doch war 
die Menge der titrierbaren Alkalis bei Dementia praecox am größten (5,6 mg), hierauf 
folgten die Geistesgesunden (4,5 mg), dann die Paralytiker (3,87 mg), schließlich die 
Epileptiker (3,05 mg). 

de Crinis (8) hat den Serumeiweißgehalt refraktometrisch im physiologischen 
und psycho-pathologischen Zustande gemessen. Er fand bei Schwangeren Werte 
an der unteren Grenze des Normalen und darunter; im Schlafe zeigte sich Abnahme 
des Eiweißgehalts, und zwar doppelt so groß, als jene in der Ruhe. Bei motorischer 
Unruhe fanden sich immer höhere Werte, und zwar unabhängig von der Art der Er¬ 
krankung des Gehirns, bei melancholischen Symptomenkomplexen fanden sieb 
Werte an der obersten Grenze der normalen, die aber häufig überschritten wurden. 
de C. sieht dieses Phänomen als Teilerscheinung des melancholischen Stoffwechsels 
an; der hierbei oft gefundene Leberabbau kommt ursächlich nicht in Frage» Ist der 
Serumeiweißgeha’t bei Me’ancholie vermindert, so beruht er auf komplizierenden,, 
zur Kachexie führenden Erkrankungen. 

Zimmermann (64) konnte auf Grund von Untersuchungen über die antitrypti- 
sche Kraft des Blutserums feststellen, daß bei Epileptikern, Paralytikern und Schizo¬ 
phrenen ein vermehrter Eiweißzerfall vorhanden ist, der sich in Erhöhung des anti- 
tryptischen Titers äußert. Z. führt eine Reihe von Ursachen für diesen Eiweißzerfall 
an. Im Harn von Epileptikern hat er oft Eiweiß nach weisen können, nach Anfalls¬ 
reihen fast immer; bei Paralytikern sah er Eiweißausscheidung im Urin nicht selten,, 
vermißte es aber meist bei Dementia praecox. 


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Kafka, Serologie. 


103* 


II. Liquor. 

Herrenschnäder-Gum prich und Herrenschneider (16) haben die Reaktion nach 
andy und Phase I bei einer größeren Reihe von Spinalflüssigkeiten Nervenkranker 
igestellt und von bemerkenswerten Ergebnissen gefunden, daß Phase I auch bei 
llgemeinen funktionell nervösen Beschwerden ohne organischen Befund vorkomme. 

Edel und Piotrowsltf (9) haben eine Reihe von beginnenden Paralysen mit den 
vier Reaktionen“ untersucht. Hieibei war oft die Luesanamnese negativ, die Wa.-R. 
m Blute negativ, ebenso Phase I und Pleozytose; den diagnostischen Ausschlag 
ab die Wa.-R im Liquor, die bei 0,1 ccm positiv war. Sie sehen daher dieses Phä- 
omen als das früheste an, es kommt heute im präparalytischen Stadium vor. Sie 
«tonen fernen, daß auch negativ Wa.-R. im Blute nicht gegen die Diagnose Para- 
yse sprechen dürfe. 

Hauptmann (14) macht kritische Bemerkungen zu den Arbeiten von Herren- 
chneider-G umprich und Herrenschneider sowie Edel und Piotrounitf. Er kommt zum 
Irgebnisse, daß das Vorkommen von Phase I bei nichtorganischen Nervenkrank- 
leiten bisher nicht erwiesen ist, daß ferner die bei „Metasyphilis“ zuerst auftretende 
:rankhafte Liquorveränderung nicht die positive Wa.-R. im Liquor, sondern positive 
5 h. I-Reaktion sei. 

Weichbrodt (63) teilt eine neue Liquorreakt'on mit: 3 Teile einer Vioos Sublimat- 
ösungen werden zu 7 Teilen Liquor hinzugefügt. Normaler Liquor bleibt Idar, 
>aUnlogischer trübt sich Diese Reaktion war bei allen durch Lues bedingten Psycho¬ 
sen positiv, bei allen nichtsyphilitischen negativ. 

Hupe (18) tritt an der Hand ihres Materials dagegen auf, daß die von Weich- 
irodt angegebene Sublimatreaktion für syphilitische oder metasyphilitische Er- 
crankungrn des Zentralnervensystem* spez fisch sei. Sie kommt zu dem Schluß, 
laß die Sublimatreaktion nur eine einfache Reaktion auf Eiweißkörper im Liquor sei. 

Bürberg (5) hat den Zuckergehalt einer größeren Reihe (165) von Spinalflüssig- 
ceiten mit der Bangschen Mikromethode bestimmt. Er beträgt normalerweise 
3,5—0,75%o» In sonst normalen Flüssigkeiten, die aber von kranken Individuen 
itammten, wurden Werte hinunter bis 0,4 und hinauf bis 1,0%o gefunden. Bei allen 
Formen der infektiösen Meningitis fand sich eine Verminderung des Zuckergehaltes; 
die Abnahme stand im proportionalen Verhältnis zur Intensität der meningitischen 
Symptome. Bei eitriger Meningitis waren die Werte Spuren 0,l3°/oo> bei tube- 
kulöser durchschnittlich 0,2 %o* bei syphilitischer durchschnittlich 0,41 0 /oo, bei 
Paralyse durchschnittlich 0,48 °/oo» bei Tabes wurde die untere Grenze der Normal¬ 
werte erreicht. Bei Gehirnerkrankungen nicht infektiöser Natur zeigte sich, auch wenn 
Pleozytose vorlag, keine Verminderung des Zuckergehalts. Die Zuckerbestimmung 
spielt daher bei der Diagnose einer infektiö\en Erkrankung des Zedtralnervensystems 
eine Rolle. 

Lcschkc und Pinctmohn (42) konnten im Liquor Normaler sowie än Tabes, 
Lues cerebri, Paralyse, Neurasthenie, Tuberkulose. Arteriosklerose Erkrankter 
glykolytisches Ferment nachweisen (Drehungsabnahme 0,04%); es hält sich nur kurze 
Zeit im Liquor und ist bei Diabetes nicht nachzuweisen. In allen untersuchten Fällen 
war das diastatische Ferment in geringen Mengen in der Spinalflüssigkeit vorhanden. 
Abwehrferraente wurden im Liquor nicht gefunden. 


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104* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917 


Kafka (21) hat gegenüber Leschkfi und Pincmsohn betont, daß er schon 1911 
die Rückenmarksflüssigkeit auf diastatisches Ferment untersucht und gefunden 
habe, daß von Liquor Nervennormaler keine oder nur geringe Diastasemengen vor¬ 
handen seien; höhere Werte fanden sich bei der Paralyse, Dementia praecox, dem 
Alkoholismus sowie bei senilen und arteriosklerotischen Prozessen. Ferner erwähnte 
K., daß er kurz nach Fausers Veröffentlichungen den Liquor auf Abwehrfermente 
untersucht und solche nie gefunden habe. 

Lindig (43) .stellte fest, daß er bereits 19(2 und 1913 die Rückenmarksflüssigkeit 
auf Abwehrfermente untersucht habe und bis auf zwei Fälle, die aber mit Vorsicht v 
zu verwerten sind, negative Ergebnisse erhalten habe. 

Boas und Neve (3) haben die Hämolysinreaktion nach Wed und Kafka an 
einem großen Material, speziell bei Lues II und Tabes, angestellt. Sie fand sich, 
positiv bei I von 9 Patienten mit Induration und positiver Wa.-R.; ferner zeigte sie 
sich bei 12 von 82 Patiehten mit Lues II sowie bei 2 von 10 Kranken mit Lues III 
(hiervon eine Lues cerebri). Zweimal wurde sie unter 27 Patienten mit latenter 
Syphilis gefunden, einmal bei kongenitaler Lues. Bei Paralyse fand sich die Reak¬ 
tion positiv in 73% der Fälle, bei Tabes in 47%, mit überwiegender Häufigkeit bei 
frischen Fällen. 32 Kontrollfälle zeigten die Reaktion nicht. In einer Reihe von 
Fällen war die Hämolysinreaktion die einzige positive im Liquor. Sie war — bei 
quantitativer Anstellung — bei Paralyse stärker als bei andern Formen. 

G. Salus (54) hat die Hämolysinreaktion nach Weil und Kafka, bei 284 Proben 
von 206 Fällen zur Klärung der Meningitisdiagnose angestellt. Er zieht den Schluß» 
daß diese Reaktion einen wertvollen Beitrag zu den diagnostischen Ermittlungen bei 
Meningitisverdacht darstellt und wert wäre, Gemeingut der Kliniker zu werden. 

Kirchberg (30) hat die Spinalflüssigkeiten von Geisteskranken nach Wassermann^. 
Zellgehalt, Pandy und Phase I, Hämolysinreaktion, Goldsolreaktion, Mastixreaktion 
und einer neuen Kolloidreaktion untersucht; mit dem Blute hat er neben der Wa.-R. 
auch die A.-R. ausgeführt. Die Ergebnisse bringen nichts wesentlich Neues; von 
Interesse ist die neue Kolloidreaktion, die Berlinerblaureaktion. Er hat, angeregt 
durch Bechhold, eine kolloidale Berlinerblaulösung hergestellt (I g Berlinerblau wird 
rfiit 3 ccm 5%iger Oxalsäure auf 100 ccm in destilliertem Wasser in der Kälte gelöst). 
Zum Versuche wurde diese Stammlösung 1:10 mit destilliertem Wasser verdünnt.. 
Die weitere Versuchsanordnung war wie bei der Goldsolreaktion. K. nahm auf 
Grund seiner Versuche an, daß die Berlinerblaureaktion auch in bezug auf die Er- 
gebnisse mit der Goldsolreaktion parallel geht. 

Kafka (27) hat untersucht, wieweit gewisse Blut- und Liquorreaktionen die 
praktische Beurteilung der Nerven- und Geisteskrankheiten der Kriegsteilnehmer 
unterstützen körnten. Bezüglich der Beantwortung der Frage der Simulation verhält 
sich K. vorsichtig. Bei Kriegsneurotikern, zumal Zitterern, fand er durchwegs eine 
deutliche relative Lymphozytose (meist über 40 bis 60 %) unabhängig vom Stadium 
und der Dauer der Erkrankung; er schließt daraus auf die konstitutionelle krankhafte 
Anlage des Zentralnervensystems der betreffenden Kranken. Bei thyreotoxischen 
Symptomenkomplexen, zumal solchen auf dem Boden der Erschöpfung, hat sich 
nie die Bestimmung der Blutgerinnungszeit, des Blutbildes und der A.-R. bewährt. 


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Kafka, Serologie. 


105* 


Besonders wichtig aber erwiesen sich die neueren Untersuchungsmethoden des 
Blutes und der SpinaHlüssigkeit (Wa^R., Pleozytose, Phase I, Hämolysinreaktion, 
Mastixreaktion) zur Erkennung und Beurteilung der Lues des Zentralnervensystems, 
zumal in einer Reihe von Fällen ohne serologische Untersuchung vorher Paralyse 
oder Gehirnsyphilis angenommen wurden, bei denen aber die serologischen Probendie 
klinische Ablehnung dieser Diagnosen unterstützten; in einer anderen Reihe von 
Fällen waren vorher aus einer negativen Blutreaktion diagnostische Fehlschlüsse 
gezogen worden; die Liquoruntersuchung brachte Klarheit. In anderen Fällen 
wieder war die positive Blutreaktion nach Wassermann vorher übersehen und 
waren Fehldiagnosen gestellt worden. Ferner gelang die Abgrenzung innerhalb 
der Luesgruppe sowie jene von nichtsyphilitischen organischen Nervenkrankheiten. 
Dergestalt konnte die serologische Untersuchung die Beantwortung der Frage nach 
Dienstfähigkeit und Dienstbeschädigung ebenfalls mit unterstützen helfen. 


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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE 

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BERICHT 


ÜBER DIE 

PSYCHIATRISCHE LITERATUR 

IM JAHRE 1917 

* 

REDIGIERT 

VON 

OTTO SNELL 

DIREKTOR DER HRIL* C. PrLEORAS8TA.LT LÜNEBORO 

II. 


II. LITERATURHEFT 

ZUM 76. BANDE 

DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE 



BERLIN UND LEIPZIG 

VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER 

“ ' WALTER DE GRUYTER & CO. 

VORMALS G.J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHAXDLUNG — J.GCITENTAG VERLAGS¬ 
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT A COMP. 

1920 


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UNIVERSITY OF MICtHfiÄN I 



7. Funktionelle Psychosen. 

Ruf. r U trt p f o n l • a c b - Bonn. 

1. Aller*, Psychosen bei Inf ekiionskrankheiten. besoo.l- i*' 0t>- 

Pneumonie. Fall von Fieberdelirium bei Pn • ; t . 
Inaug -Dt&s. Kiel. 

2. Altäre?, inneren Beziehungen ?W%heh 

Paralysis agitmts und den bei ihr vorkommetKteu 
Psychosen. Irtaug - Di sh. Kiel. 

3. Anton, Gabriel, (Halle a.,S.}, Über Geistesstörungen m 

Kriegsteilnehmern, insbesondere bei Hebephreoikern 
und Psychopathen. 20» Vers, mitteldeutscher .Psyi-Iuarcr 
und Neurologen In Dresden, Januar 1917. 

4. Anion, Gabriel {Halle ö. S > r Dasselbe. Siizungsber. Mmu-m 




•;;::vk k ; 'ine<b' : Ws(;hr* Nr. 64, S. 186» 

% 'Oustair (Cöln), Öie Pseudologia pbao (esUea 

im Kriege. Simwgsber. Neuro!. Zentralb! Nr jö. 


S. 734. 

V*/j. 




wfrw tu*:* 


6. Bagins/ä, Adolf (Ber Im), Fälle von neuropathisc* 1 - ’ 

rungen (einschließlich Psychosen und Sprächt•>■ . - ce» 
nach akuten fieberhaften Erkrankungen i.m > . ! 
alter. Arch. h Kinderheilk. Bd. 65, H, 5 u. 6. 

7. BallerBmü (0‘winsk}. Krieg und krankhafte Geistes-• 


im Fixere*; Atlg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, S. hi: 

8. Becker, W. H. (Weilmünster), Männliche und >v\0 '>' 
'Geisteskranke. Ztschr. f. Sexual vvissenscb. U :: • 

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ÜNlV EpSfP^'' 6| 




108* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


10. Becker, W. H, (Herborn), Zur Differenzialdiagnose von an¬ 

geborener und in reiferem Alter erworbener Demenz. 
Fortschr. d. Med. Bd. 54, S. 11. 

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anstalten. Würzburg, Kurt Kabitzsch’ Verlag, 1917. 
(Würzb. Abh. aus dem Gesamtgebiete d. prakt. Med. 
r Bd. 17, H. 4.) 

12. Bernoulli, Zur Dosierung der Bromsalze bei Epilepsie und 

Depressionszuständen. Korr.-Bl. f. Schweizer Ärzte 
1917, Nr. 32. 

13. Bilicki, Eduard, Geistesstörungen bei Karzinomerkrankun¬ 

gen. Inaug.-Diss. Kiel. 

14. Binswanger, L. (Kreuzlingen), Über Kommotions- 

psychosen und Verwandtes. Korr.-BI. f. Schweizer 
Ärzte 1917, Nr. 47, S. 1401. 

15. Birnbaum, Karl (Berlin-Buch), Kriegsneurosen und 

-psychosen auf Grund der gegenwärtigen Kriegsbe¬ 
obachtungen. Sammelbericht. Vierte Zusammenstel¬ 
lung von Anfang Februar 1916 bis Ende Juli 1916. 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Referate Bd. 13, 
S. 457, Bd. 14, S. 313. 

16. Bleuler , E. (Zürich), Mendelismus bei Psychosen, speziell 

bei der Schizophrenie. Schweiz. Arch. f. Neurol. u. 
Psych. Zürich, Art. Institut Orell & Füßli; Bd. 1, S. 19. 
(S. 126*.) 

17. Blume , £. (Berlin), Kriegspsychose (Krankenvorstellung). 

Sitzungsbericht. Neurol. Zentralbl. Bd. 36, S. 251. 

18. Bolten, G. C., Über die Bedeutung der Blutanti¬ 

trypsine für die psychiatrisch-neurologische Diagnostik. 
Psych. en Neurol. Bladen Bd. 21, S. 111. 

19. Bonhoeffer, Karl (Berlin), Erfahrungen aus dem Kriege 

über die Ätiologie psychopathologischer Zustände mit 
besonderer Berücksichtigung der Erschöpfung und 
Emotion. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, S. 77. 

20. Bornstein , Maurycy (Warschau), Über einen eigenartigen 

Typus der psychischen Spaltung (Schizothymia re- 


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UMIVERSITY OF MICHIGAN 



Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


109 * 


activa). Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig. 
Bd. 36, S. 86. (S. 121*.) 

21. Bovetiy William (Cery), Un nouveau fait acquis touchant 

I'h6r6dit6 de la d£mence präcoce (Rüdins 6tude sur 
I’h6r6dit6 et l’gclosion de la dämence pr6coce). Korr.- 
Bl. f. Schweizer Ärzte Nr. 47, S. 605. (S. 122*.) 

22. Boven, William (Cery), H6r6dit6 et dämence pr6coce. Korr.- 

Bl. f. Schweizer Ärzte Nr. 47, S. 19. 

23. Braam, Houckgeest, van , Über die Alkoholparanoia. Psych. 

en Neurol. Bladen Nr. 21, S. 304. 

24. Bresler, Johannes (Lüben), Entsteht Dementia praecox 

durch Schädel- bezw. Hirnverletzungen ? Psych.-Neurol. 
Wschr. Nr. 18, S. 381. . 

25. Briand, Marcel , Les toxicomanes et la mobilisation. La 

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26. Brodsky, Observations on symptomatic psychosis with a 

rep. of cases. Med. Record 20. Januar. 

27. Brun, de, L’amn&ie paludienne. La Presse m£dicale no. 61. 

28. Bumke, Oswald (Breslau), Körperliche Symptome der De¬ 

mentia praecox. Sitzungsber. Berl. klin. Wschr. Nr. 54, 
S. 196. 

29. Bumke, Oswald (Breslau), Dasselbe. Deutsche med. Wschr. 

Nr. 43, S. 478. 

30. Bumke, Oswald (Breslau), Zur Paranoiafrage. Sitzungsber. 

Ajlg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, S. 373. 

31. Busch, Werner, Zur Symptomatologie der Paranoia chro¬ 

nica. Inaug.-Diss. Kiel. 

32. Cohn, Toby (Berlin), Der künstliche Abort bei Neurosen 

und Psychosen. Berl. klin. Wschr. Nr. 50. 

33. Crinis, Max de (Graz), Über die Änderungen des Serum¬ 

eiweißgehaltes unter normalen und pathologischen Ver¬ 
hältnissen. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd.42, S.69. (128*.) 

34. Drecki, Johann, Ein Beitrag zur Lehre von der Paranoia 

chronica hallucinatoria. Inaug.-Diss. Kiel. 

35. Dumesnil, M., D6Hres de guerre. lnfluence de la guerre sur 

les formes des psychoses chez les militairs. Th&se de 
Paris 1916. Ref. Rev. neurol. vol. 23 (II), p. 475. 

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UNIVERSITY OF MICHIGAN 




110* Bericht iititM vl»o {»tyehiafrische Uteraiwr KU?; 

3 6. £)upr& ei Grimbert , La ;psy:Cjfeo^Vl^ : vßmotlviite 

constitutionelte et acqüts«; Reh Rev. netiroL voL 24 (I), 

P-$| 

37- Elmiger, j. (St Urban, Luzern), Über schizophrene Heredi¬ 
tät. Psych.-Neurot. Wsclir. 4913, H. R $. 197 211. 
(S. 122*.t 

38. Enge- Johannes (Lübeck) Zu? Behandlung gynäkologiscber 

>;:§rkrankuflg£n' bei Geisteskranken. Foftsehr. d, Med, 

.Jahrg. 34. 

39. Bfigel. 'Adolfe Die Blgen&ri der akuten Psychoserr im Rindes- 

{ alter. inaug -DisstHalle a. S. 

4t). Bitgehrmnu. Th. (München^ Ein typischer EaJl Von QtUs 
rulanfemvahn. Ällg. Ztschr. f. Psych. Bd, 73, S. 42S. 

• Bip Tadlman Kip , Af. J. van, . Insania nioraüs, (Vortrag. 

Psych. en jurid. Gesehsch, '17, Febr, 1917,) R ei. yajt 

der Tonen. Ztschr. f. d. ge& Neuroi. u. Psych., Ref. 

Bd. 15. $. 237. 

42. Bischer. Siegfried, i )bet Tefcaniepsycliosen. inaug.-Diss. 
Breslau. 

43; FretZi G. R, r De ziekfe van' Alzheimer. Ned, Tijdschr. v. 
Gen, voh OL p. iS 12. 

AA. Frey f Lothar, Beitrag zur Kenntnis der frübkaiatoine, 
Inaug.-Diss. Kiel. 

4b Feiger io. A„ Psicosts polineuritica di Korsakow da gravi* 
danza. Rlv. di path. nerv, e ment vol. 22, p. 40. 

4ö. Flicks, Adolf (Kaufbeuren), Die diagnostische Bedeutung 
von Fupiilenstürungeu bei Dementia praecox. Psych.». 
Neuroi. Wschr, Bd,' 19, S. 127, 143, 157, iß. 120*.) 

‘-' 7, O'Wpp, Rotiert (Tübingen), Seelisches Leid ab Ursache der 
Melancholie, Warft. med. Korr.-ÖL Bd. 87, H. 42 
(S. 120*) 

48/ Gaupp, Robert (Tübingen), Der Begriff der „überstandenen 
oder poch bestehenden Geisteskrankheit* 4 nach An¬ 
lage 1. ij. 15 und die Trage der Dietustbeschädigung 
und Versorgung der Geisteskranken im Heere. Württ. 
med. Korr.-Bl. 17. März 1917. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


111 * 


49. Großebrockhoff, Clemens, Beitrag zur Lehre, von den 

postoperativen Psychosen. Inaug.-Diss. Kiel. 

50. Gummich, Alex Otto, Acht Fälle von psychogener Pseudo- 

demenz. Inaug.-Diss. Breslau. 

51. Gutsch, Werner, Beitrag zur Paranoiafrage. Inaug.-Diss. 

München. 

52. Gutstein, Rüben (Lipno), Über vorzeitiges und gehäuftes 

Vorkommen von Arteriosklerose bei manisch-depressi¬ 
vem Irresein. Inaug.-Diss. Erlangen. (S. 120*.) 

53. Hahn, Friedrich, Zur Symptomatologie der Paranoia chro¬ 

nica. Inaug.-Diss. Kiel. 

54. Hautsch, Johannes, Beitrag zur Lehre von den postoperativen 

Psychosen. Inaug.-Diss. Kiel. 

55. Heilig, G. (Kosten), Epilepsie und affektive Psychose nach 

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Originalien Bd. 37, S. 92. 

56. Henneberg, Richard (Berlin), Kriegs- und Lazarettpsychosen. 

Sitzungsber. Deutsche med. Wschr. Bd. 43, S. 317. 

57. Herman, Euphemius (Lodz), Behandlung der Demmentia 

praecox mit Natrium nucleinicum. Preglad Lekarski 
(Krakau) Nr. 14—15. (S. 122*.) 

58. Herzig, Ernst (Wien-Steinhof), Zur Differentialdiagnose der 

Stupor- und Erregungszustände. Ztschr. f. d. ges. Neu¬ 
rol. u. Psych. Originalien Bd. 36, S. 146. (S. 123*.) 

59. Hinrichsen, Otto (Basel-Friedmatt), Krankheitsbewußtsein 

und Krankheitseinsicht bei der Dementia praecox. 
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Originalien Bd. 35. 
S. 223. (S. 123*.) 

60. Hinrichsen, Otto (Basel-Friedmatt), Die Kriegspsychose bei 

den kämpfenden Völkern. Basel, E. Finckh Verlag. 
48 S. 

61. Hoche, A. (Freiburg i. Br.), Beobachtungen bei Flieger¬ 

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62. Hoche, A. (Freiburg i. Br.), Dasselbe. Sitzungsber. 

Neurol. Zentralbl. Bd. 36, S. 565. 

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minor. Inaug.-Diss. Kiel. 


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Original fro-rri 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



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65. Hudovernig, Karl (Budapest), Vergleichende Untersuchungen 

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Neurol. Zentralbl. Nr. 36, S. 657, 699. 

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67. Hübner, A. H. (Bonn), Über therapeutische Versuche bei 

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Nr. 43, S. 1213. 

68. Hübner, A. H. (Bonn), Über kongenitale Lues. Arch. f. 

Psych. u. Nervenkrankh. Bd. 57, S. 169. 

69. Jansky, J., Simulation von Geisteskrankheit bei einem 

Mörder. Casopis Ceskych 16karuv Bd. 56, S. 43. 

70. Isserlin, M. (München), Über psychische und nervöse Er¬ 

krankungen bei Kriegsteilnehmern. Würzburg, Kurt 
Kabitzsch, 1917. (Würzb. Abh. Bd. 16, H. 10 u. 11.) 
70 a. Jörger, J. B., Über unklares Denken und Pseudologie. 
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73. 

71. Kafka, Viktor (Hamburg), Die moderne Blut- und Liquor¬ 

diagnostik der Geistes- u. Nervenkrankheiten. Sitzungs¬ 
ber. Deutsche med. Wschr. Bd. 43, S. 61, 126. 

72. Karlbaum, Margarethe (Jena), Über Psychosen bei Darm¬ 

krankheiten. Sitzungsber. Münch, med. Wschr. Bd. 
62, S. 1018.. 

73. Karlbaum, Margarethe (Jena), Dasselbe. Sitzungsber. 

Deutsche med. Wschr. Bd. 43, S. 638. 

74. Kesseler, Karl (Wanne), Über die Beziehungen zwischen 

Trauma und endogenen Geisteskrankheiten. Inaug.-Diss. 
Würzburg. (S. 128*.) 

75. Kettelhoit, Clemens, Ein Beitrag zur Lehre von den psychi¬ 

schen Störungen nach Blitzschlag. Inaug.-Diss. Kiel. 

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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


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befund bei Geisteskranken. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 
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120* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


170. Ziveri , Alberto , Contributo allo Studio della epilessia tarda 
e della demenza arteriosclerotica. Riv. di pathol. nerv, 
e ment. vol. 19, p. 11. 


a) Manisch-depressives Irresein. 

Fuchs (46) hat die bisherigen Arbeiten über die Pupfllenstör ungen bei De¬ 
mentia praecox zusammengestellt und laßt alle Beobachtungen dahin zusammen: 

Von der großen Anzahl dir Pupillenstörungen bei Dem. praecox kommen von 
den Störungen als solchen eine diagnostische Bedeutung nur zu djm Bumke sehen 
Symptom und der A. Westphals chen katatonischen Pupillenstarre. Inwieweit 
die Pupillenstarre auf Iliakaldruck (E. Meyer) für die Krankheit pathognomonisch 
ist, läßt sich heute noch nicht mit Bestimmtheit behaupten. Der isolierten reflek¬ 
torischen Pupillenstarre kommt ein diagnostischer Weit in negativem Sinne zu. 

Wenn auch die andern Pupillenstörungen, wie die durchschnittlich größere 
Weite der Pupillen, die Pupillendifferenz, die Änderungen der Pupillenfarm, die 
Trägheit der Lichtreaktion, an sich, wie schon erwähnt, diagnostisch nicht verwertbar 
sind, so zeichnen sie sich doch in ihrer Gesamtheit durch ein gemeinsames Merkmal 
ans: das ist ihre Unbeständigkeit, ihr rascher Wechsel. Hierin scheint nun ihr 
differentialdiagnostischer Wert gegenüber der Abgrenzung des manisch-depressiv« 
Irreseins zu liegen, bei dem derartige Störungen nicht zur Beobachtung kommen. 

Schließlich wird man wohl auch berechtigt sein, eine pathologische Herab¬ 
setzung der Pupillenunruhe, der psychischen und sensiblen Reflexe als differential- 
diagnostisches Hilfsmittel für die Erkennung der Dementia praecox heranzuriefaen* 
Denn eine Herabsetzung der genannten Reaktionen wird bei Gesunden nur äußerst 
selten, bei Dementia praecox-Fällen dagegen sehr häufig gefunden. 

Gaupp (47) zeigt hier an einigen Krankheitsfällen, wie irrig die Ansicht ist, 
laß psychische Krankheiten psychischen Ursachen entspringen müssen, da das 
manisch-depressive Irresein eine endogene Krankheit ist Unter anderem erkennt 
man es daran, daß z. B. schmerzliche Erlebnisse unter Umständen die Genesung 
eines Melancholikers nicht stören, sondern die Krankheit nimmt ihren natürlichen 
Verlauf weiter. 

Gutstein (52) fand bei einer allerdings nur kleinen Zahl von Kranken, bei 
Männern in 75%, bei Frauen in etwa 60% mit manisch-depressivem Irresein 
Arteriosklerose, also in sehr viel höherem Maße als bei geistig Gesunden. Stacke 
Gemütsbewegungen verursachen Blutdruckschwankungen und somit Arterio¬ 
sklerose. Psychische Erregungen und Blutdruckschwankungen vermehren die 
Abgabe von Adrenalin in den Nebennieren. Tierexperimente haben gezagt, daß 
Adrenalin Arteriosklerose hervorrufen kann. Auch andere endokrine Drüsen und 
Organe könnten durch Affekte beeinflußt werden. So sei es wahrscheinlich, daß 
die das manisch-depressive Irresein begleitenden körperlichen Veränderungen 
sekundär durch das veränderte Affektleben bedingt sind. In seltenen Eällen gibt 
Arteriosklerose den Anstoß zum Ausbruch der manisch-depressiven Psychose. 


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Urapfenbach, Funktionelle Psychosen. 


121* 


b) Dementia praecox. 

Bornstein (20) stellt hier, mit eingehender Analyse, einen Fall von Schizo¬ 
phrenie im Sinne Bleulers zwei Fälle gegenüber mit wesentlichen Abweichungen 
vom typischen schizophrenischen Typus. Persönlichkeitsspaltung ist vorhanden, 
doch fehlten die charakteristischen Assoziationsstörungen (Spannungen), es fehlen 
ausgesprochene Halluzinationen und es fehlen Verfolgungsideen. Die Wahnvor¬ 
stellungen tragen einen spezifischen Charakter; sie stellen einzig die direkte Ver¬ 
wirklichung derjenigen Verlangen dar, die in der gesunden Zeit unerfüllt geblieben 
sind und somit zur Grundlage der Psychose geworden sind. Entgegen der soge¬ 
nannten „milden Paranoia“ ( Friedmann ) hat die Psychose in den beiden Fällen 
einen akuten Verlaut „Sie stellen einen spezifischen Typus von einem „psychi¬ 
schen Prozeß“ dar (Jaspers), dessen spezifische Merkmale in akutem Beginn, Re¬ 
aktivität und Zirkumskriptheit bestehen. Wir haben es folglich mit einem akuten, 
reaktiven und zirkumskripten psychischen Prozeß zu tun.“ B. schlägt vor, den 
Jasperschen Terminus „psychischer Prozeß“, weil die Persönlichkeitsspaltung prin¬ 
zipiell und in erster Linie die affektive Seite umfaßt, die intellektuelle unberührt läßt, 
durch Schizothymie zu ersetzen. Die Spaltung entsteht auch meistens in engem 
Zusammenhang mit einem gewissen affektiven Erlebnis. Seine 2 Fälle bezeichnet er 
als Schizothymia acuta reactiva circumscripta. B. schlägt die folgende Klassi¬ 
fikation der Dementia praecox vor:' 

1. Schizothymie. Der Kraukheitstypus kommt dadurch zustande, daß sich 
ein einziger, vorwiegend mit einem wirklichen Erlebnis verbundener Komplex von 
der gesamten Psychik abspaltet, und stellt somit meistens eine Reaktion gegen jenes 
Erlebnis dar. Das klinische Bild besteht in direkter Verwirklichung des in diesem 
Komplex enthaltenen, im Leben aber unerfüllt gebliebenen Verlangens. Dieser 
Typus von Persönlichkeitsspaltung weist weder Assoziationsstörungen, tiefgreifende 
Affektivitätsänderungen noch Halluzinationen auf; trotzdem hinterläßt er eine 
andauernde Umwandlung der Persönlichkeit, wobei gleichzeitig eine allgemeine 
Besserung im praktischen Lebenssinne möglich ist und häufig vorkommt 

2. Schizophrenie (Bleuler). Vermag ebenso wie Typus I als Reaktion gegen 
ein schweres wirkliches Erleben zu entstehen, kann aber unabhängig von den Lebens¬ 
angelegenheiten spontan zum Ausbruch kommen, als ein Schub des zur Grundlage 
liegenden Prozesses. Klinisch unterscheidet sie sich dadurch vom I. Typus, daß 
sie spezifische Assoziationsstörungen, eine meist primäre affektive Verkümmerung 
oder Disproportion der Affekte zu den Vorstelungen aufweist; weiter kommen 
öfters Verfolgungsideen, Halluzinationen vor. Dieser Spaltungstypus pflegt sonst 
ebenfalls eine dauernde Umwandlung der Persönlichkeit herbeizuführen, doch 
kann derselbe auch mehrmals im Leben des Individuums wiederkehren, ohne zu 
endgültigem Blödsinn zu führen; im Gegenteil, er kann jedesmal in gutartiger Weise 
verlaufen, sehr lange und gute Remission geben. Je nach dem Überwiegen dieser 
oder jener Symptome lassen sich verschiedene Abarten dieses Typus unterscheiden 
(Schizophrenia catatonica, paranoides etc.). 

3. Dementia schizophrenica. Es sind dies Fälle von psychischer Spaltung, 


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122* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


die einen progressiven Verlauf haben und schweren Blödsinn von spezifischem 
Charakter herbeiführen. 

In dieser Weise würde sich der Terminus „Dementia praecox* 1 als völlig über' 
flüssig erweisen, da er tatsächlich nichts ausdrückt. 

Boven (21) unternimmt es hier, seine Landsleute bekannt zu machen mit 
Rüdins Studien über Vererbung und Entstehung geistiger Störungen. L Vererbung 
und Neuentstehung der Dementia praecox, Berlin 1916, und Weinbergs: Weitere 
Beiträge zur Theorie der Vererbung, Archiv für Rassenbiologie und Gesellschafts¬ 
hygiene 1910—1912, wie er hinzufügt, in der Hoffnung, dadurch beizutragen zur 
Wiederanknüpfung der Beziehungen zwischen den Ärzten der verschiedenen Natio¬ 
nen. La psychiatrie reste un domaine commun! 

Elmiger (37) fand in den Familien mit schizophrenen Kindern auf 2,6 gesunde 
Geschwister ein schizophrenes, dagegen bei den Geschwistergruppen mit andern 
Psychosen auf. 6,3 gesunde ein krankes. Direkte schizophrene Heredität in 15% 
sämtlicher Fälle, indirekt sogar in 67,7%. Ohne schizophrene Belastung 26%, 
darunter 7% ohne jede Belastung. In 16% war allein die indirekte schizophrene 
Belastung verantwortlich zu machen, in den übrigen Fällen war sie kombiniert mit 
Charakteranomalie oder Trunksucht des einen oder andern Elter. Die indirekte 
schizophrene Heredität ist etwa 4 mal so groß als die direkte. Auffällig ist auch die 
geringe Rolle der schizophrenen Heredität bei den nicht schizophrenen Psychosen; 
E. konnte hierbei nur 4% nachweisen. 

Daß auf 2,6 gesunde Geschwister ein schizophrenes kommt, spricht dafür, 
daß die Vererbung sich nach der Mendel&chen Regel vollzieht. Dies Resultat ist 
der zahlenmäßige Ausdruck dafür, daß die indirekte Vererbung die Hauptrolle 
spielt, und daß die Schizophrenie sieb rezessiv vererbt Die indirekte Belastung 
läßt sich meistens nur auf einer Seite nachweisen. In etwa 30% der Falle von E. 
waren Vater und Mutter als auffällig bezeichnet Die Schizophrenen sind in 27% 
verheiratet die nicht schizophren Erkrankten in 42%, — gegen ca. 60% der Normal- 
bevölkerung (Schweiz). Die Ehen mit einem schizophrenen Elter stehen an Kinder¬ 
zahl weit unter der Normalbevölkerung, 3 gegen 6,4 Kinder. 26% der Ehen mit 
einem schizophrenen Elter waren kinderlos, in der Normalbevölkerung nur 10%. 

Herman (67) gibt 11 Fälle von Dementia praecox an, die durch Hautein¬ 
spritzungen mit Natrium nudeinicum behandelt wurden. Indem er diejenigen Fälle, 
in welchen er eine bedeutende Besserung erlangte (27,2%), analysiert, sowie die 
„ verschiedenen Resultate, welche andere Autoren erzielten, vergleicht (es erzielten 
keine Resultate: Lepme in 76%, Lundwall in 16,6%, Donath 21,7%, Uten 100%, 
Haüber 58,9%, Kruze-Paiotowska 41,8%, Kielhole 22,4%), gelangt er zum Schluß, 
daß diese Unterschiede in den Resultaten von der Dauer der Krankheit abhängen« 
In den Fällen, wo er Besserung erzielte, dauerte die Krankheit ca. 3—4 Monate, 
in andern bis einige Jahre. Er macht auch aufmerksam, daß bei Beurteilung der 
Resultate eine längere Beobachtung nach Beendigung der Behandlung, sowie eine 
genaue psychologische Untersuchung von Wichtigkeit sind. 

Auf Grund eigener bereits angeführter und anderer Fälle kommt er zu folgen¬ 
den endgültigen Schlüssen: 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


123 * 


1. Die Behandlung der Dementia praecox mit Natrium nucleinicum ist für 
geboten, gewissermaßen für notwendig zu betrachten. 

2. Zur Behandlung eignen sich frische Fälle von Dementia praecox. 

3. Die Einspritzungen sind in kurzen Zeiträumen, sofort nach dem Fallen 
der Wärme bis zur Norm, vorzunehmen. (Die Serie besteht aus 10 Einspritzungen.) 

4. Nach einer gewissen Zeit (nach einmonatiger Unterbrechung) ist eine Wieder* 
aufnahme der Behandlung geboten. 

5. Das Quantum des gegebenen Mittels hat auf die Resultate keinen Einfluß, 

6. Die Höhe der Wärm esteigerungen entscheidet nicht öber die Resultate der 

Behandlung. (Selbstbericht.) 

Herzig* (68) kritische Bemerkungen betr. Differenzierung gleichartiger Zu» 
standsbilder, insbesondere der Stupor- und Erregungszustände, deren Ursache eine 
verschiedene ist, eignen sich nicht für ein kurzes Referat. Man wird sie stellen¬ 
weise mit großem Interesse studieren. 

Hinrichsena (69) ausführliche Analyse des Wesens der Dementia praecox 
und ihrer einzelnen Symptome eignet sich nicht für ein kurzes Referat Er betont 
als Schlußresultat seiner Erörterungen, daß jede Analyse von Erscheinungen wie 
Krankheitseinsicht, 'Wahnideen, Manieren usw. deshalb so schwierig bleiben 
muß, weil es nicht möglich ist, die Einzelerscheinungen eigentlich zu scheiden. Das 
Ganze bleibt uns seinem eigentlichen Wesen nach unklar, wie können wir uns also 
Aber das Einzelne, worin das Ganze in individueller Form in Erscheinung tritt, 
klar werden? Es ist einfach zu konstatieren, Wahnideen seien inkorrigibel, und 
aus dieser „Tatsache“ dann Schlüsse zu ziehen. Sie sind eben nur unkorrigierbar, 
. solange ein bestimmter Zustand, eine bestimmte seelische Konstellation besteht, 
welche Wahnbildung bewirkt und das Auftreten dieser bestimmten Wahnideen, 
welche aber eine Umformung oder Korrektur erfahren, wenn sich dasjenige ändert, 
was wir eben nicht zu erfassen vermögen. 

Krause (82) fand, nach Ausschaltung aller zurzeit erregten Dementia praecox- 
Kranken, in 76% der Fälle durch Steigerung des Viskositäts-, in geringem Grade 
auch des Refraktionsgrades, eine Globulinvermehrung im Blutserum, darunter bei 
vielen das Globulin prozentlich überwog. Es ließ sich bis 96% Globulingehalt 
feststellen, das Refraktometer zeigte Werte bis 73,6°. In einem geringen Prozentsatz 
lagen abnorm niedrige Viskosimeterwerte vor, denen die Refraktometerwerte an¬ 
nähernd parallel gingen. Ein ausführlicher Bericht folgt nach Abschluß der Unter¬ 
suchungen. 

Meyer (99) hat die Versuche von Pötzl, Eppinger, Heß und Willy Schmidt über 
die pharmakodynamische Ansprechbarkeit des sympathischen und antonomen 
Nervensystems bei bestehender Psychose fortgesetzt. Schmidt hat bei seinen Ver¬ 
suchen an Katatonikern und Hebephrenen die Injektionen von Adrenalin immer 
ohne .Einfluß auf den Blutdruck gefunden im Gegensatz zu Gesunden und andern 
Geisteskranken. Seine 10 normalen Versuchspersonen reagierten alle auf Adrenalin 
mit Pulsbeschleunigung und bis auf eine mit Blutdruckzunahme. Dasselbe fand 
er bei Neurosen, Psychopathen und Epileptikern und Psychosen, die nicht dem 
Zustandsbilde der Dementia praecox angehörten. Bei letzteren fehlte in der Hälfte 

Zeitschrift fttr Psychiatrie* LXXV. Lit. i 


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124* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

der Fälle die Pulsbeschleunigung. Bei den 30 Fällen der Dementia praecox-Gruppe 
sind nur katatonische, stuporöse und paranoide Zustandsbilder, — erregte Formen 
nicht. In 7 Fällen fand sich eine Unempfindlichkeit in bezug auf Pulsircquenz 
and Blutdruck. In ungefähr 50% der Fälle fand sich keine Veränderung oder eine 
Senkung des Blutdrucks, in 12 Fällen eine Senkung bis zu 25 mm, in 2 Fällen bis 
46 resp. 55 mm Hg. Bei ruhigen Imbezillen fand M. sogar in 60% der Fälle die 
Unempfindlichkeit. Die Adrenalin-Unempfindlichkeit ist demnach nicht charak¬ 
teristisch fyr die Dementia praecox-Gruppe. M. verspricht eine •weitere Mitteilung 
über Versuchsergebnisse des Einflusses von Adrenalininjektonen auf Zusammen¬ 
setzung und Veränderungen des Blutbildes. 

Pilcz (111) macht hier nochmals auf das im Kapitel Dementia praecox seines 
Lehrbuches, III. Aufl. S. 181, erwähnte Symptom aufmerksam. Bei an Dementia 
praecox Erkrankten, speziell der katatonen Form, findet man sehr häufig folgende 
Erscheinung: Bei Druck auf die Augäpfel lebhafte Unlustgefühle, sich äußernd in 
entsprechender mimischer Schmerzreaktion, Abwehrbewegungen, gleichzeitig häufig 
verbunden mit Rötung des Gesichts, vertiefter Inspiration und exquisiter Vagus¬ 
pulswirkung, d. h. Langsamer- und Kleinwerden des Pulses. Das Pilcz - t>on 
Wagenmche Baibusdruckphänomen wird häufig bei katatonem Stupor beobachtet, 
dagegen nicht bei depressivem Stupor, epilept Stupor, hysterischer Analgesie. 
Pilcz traf das Phänomen häufig bei Dementia praecox auch unabhängig vom stupo- 
rösen und katatonen Zustandsbildem. 

Zimmermann (169) beschäftigt sich hier hauptsächlich mit Psychosen, die mit 
Krämpfen verlaufen. Für uns ist von Interesse die Tatsache, daß man mitunter 
bei Schizophrenen die fleckige rote Lunge findet. Bei Katatonikem, die in einem 
schweren Verwirrtheitszustand, einem Delirium acutum verstorben, sind die Lungen 
stark gebläht und blaß zyanotisch. Auch Ödeme kommen vor. 


c) Paranoia. 

Krueger (84) beginnt seine ziemlich umfangreiche Monographie mit einer 
Geschichte der Paranoia, die einen Zeitraum von etwa 60 Jahren umfaßt Nach 
K. ist die Paranoia „charakterisiert durch die Ausbildung eines Systems von Wahn¬ 
vorstellungen der Beeinträchtigung und der Selbstüberschätzung, das logisch aufgebaut 
und weiter entwickelt wird, im wesentlichen aus dem Rahmen normaler Möglich¬ 
keiten nicht heraustritt und bei unbegrenzter Dauer die psychische Gesamtpersönlich¬ 
keit des erkrankten Individuums bis zu dessen Tode, abgesehen von einer durch die 
mehr oder weniger weitgehende Einengung des Interessenkreises hervorgerufene 
Einbuße an psychischer Anpassungsfähigkeit, nur im Sinne des Wahnes verändert, 
ohne daß % auf außerhalb des wahnhaften Vorstellungskreises liegenden Gebieten 
bei Fehlen von Komplikationen zu beständigen Störungen kommt — Der Paranoiker 
wird geboren; er ist meistens nur mäßig intellektuell begabt, wenn auch tätig und 
fleißig. Seine Eigenschaften machen es ihm schwer oder unmöglich, sich in den 
Rahmen seines Gesellschaftskreises einzufügen. Die Krankheit selbst entwickelt 
sich meist nur langsam. 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 125* 

Kr. spricht von Paranoia corabinatoria, hallucinatoria und querulatoria, doch 
gibt es fließende 'Übergänge. Die halluzinatorische Form schließt sich meist an 
die Involutionen an, beginnt auch oft mehr oder weniger akut. Nach 
langjährigem Bestehen der Krankheit werden übrigens die Erscheinungen der Unter- 
form der Paranoiaeinander immer ähnlicher. Es kommt im ganzen nicht zu einem Defekt 
auf einem der verschiedenen Gebiete der Intelligenz. „Die Paranoia — in der von 
Krueger angenommenen Umgrenzung — ist als eine prämature Alterserscheinung 
zu betrachten, entstanden durch eine mangelhafte Fähigkeit des Organismus, den 
durch die gewöhnlichen Lebensvorgänge entstandenen Aufbrauch an Gehirnsub¬ 
stanz durch regenerative Prozesse auszugleichen, die ihrerseits wieder auf einer 
angeborenen fehlerhaften Anlage des Zentralnervensystems, die eine geringere 
Widerstandskraft im Kampfe ums Dasein mit sich bringt, beruht. 

Den Schluß des Werkes bildet die Differentialdiagnose. Mit Krnepelin will 
Krueger von einer akuten Paranoia nichts wissen; denn milde und abortiv verlaufende 
Psychosen gehören zur paranoischen Konstitution. Die Paraphrenien Kraepelvns 
werden auf die Dementia paranoides und die Paranoia verteilt. Schwierig ist die 
Unterscheidung der Paranoia von den wahnbildenden Psychosen, die auf dem Boden 
des chronischen Alkoholismus erwachsen. 

Siebert (130) dringt darauf, paranoische Erkrankungen als funktionelle Psycho-* 
sen von homologen psychischen Störungen, die vermutlich anatomische Abbau- 1 
prozesse darstellen, zu scheiden. Unter Paranoia kann nur eine Seelenstörung ver¬ 
standen werden, die im Gegensatz zum Jugendirresein bzw. dem ihm eigenen Ver¬ 
blödungsprozesse, im reiferen Alter zutage tritt und unter Wahnbildung mit- und 
ohne Sinnestäuschungen in chronischer Form verläuft, ohne daß eine Verblödung 
eintritt. Siebert gibt dann ausführlich 2 Fälle, die er wohl mit Recht als paranoische 
Erkrankungen auffaßt. Auch Siebert betont die Seltenheit der echten Paranoia. 

Wickel (164) bringt hier einige Krankengeschichten, bei denen es sich dem 
Scheine nach um echte Paranoiafälle handelt, deren Periodizität aber beweisend ist 
für ihre Zugehörigkeit zur manisch-depressiven Gruppe. Abgesehen von manischen 
Zustandgbildern, spricht eine interkurrent einsetzende melancholische Phase für 
die Richtigkeit der Diagnose. 

Wigerts (165) Studien über die paranoischen Psychosen sind auch als Sonder¬ 
abdruck im Verlag von Julius Springer in Berlin, 151 S., erschienen. Sie sind wohl 
hervorgegangen aus der Psychiatrischen Klinik des KaroUnischen Mediko-Chirurgi¬ 
schen Instituts in Stockholm (Krankenhaus Konradsberg, Direktor: Prof. Brov 
Godelius). W. beginnt seine Studien mit einem Bericht über die Stellungnahme der 
führenden Kliniker des vergangenen Jahrhunderts zur Paranoiafrage, um die Um¬ 
wälzungen zu beleuchten, welche die Anschauungen bezüglich dieser Frage im 
Laufe der Zeit durchgemacht haben. W. beherrscht die Literatur in ganzer Aus¬ 
dehnung. Bei Besprechung der affektiven Genese der paranoischen Wahnvorstellun¬ 
gen und des paranoischen Syndroms, die jetzt außer allem Zweifel gestellt seien, 
nimmt IV. in interessanter Weise Stellung zu den verschiedenen Autoren; gegen 
Bleulers Behauptung, daß durch die Affekte alle diejenigen Assoziationen gehemmt 
werden, die ihnen entgegen3tehen, die entsprechenden aber gefördert werden, sagtW: 

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126* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

Durch die Affektbetonung der Vorstellungen werden alle diejenigen Assoziationen 
gehemmt, die ihnen entgegenstehen, die entsprechenden aber gefördert Gegen Kraepelin 
betont IV., daß ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Glauben und dem 
Wissen nicht durchführbar ist. Die paranoischen Wahnvorstellungen entwickeln 
sich im Prinzip auf dieselbe Weise wie die affektiv bedingten Irrtümer. Eine ratio¬ 
nelle Grenze zwischen paranoischen Wahnvorstellungen und paranoisch gefärbten 
Irrtümem läßt sich ebensowenig ziehen wie sonst zwischen Wahn und Irrtum. 
TV. weist auf seine frühere Untersuchung (Paranoia som karaktärogen psykos) bin , 
worin er nachzuweisen versuchte, daß die verschiedenen Eigenschaften, die das 
paranoische Syndrom auszeichnen, sämtlich auf einen affektiven Ursprung hinweisen. 

Ausführlich, in psychologischer und psychiatrischer Hinsicht, immer mit 
Hinzuziehung der diesbezüglichen Literatur, spricht sich dann TV. über Wahn¬ 
bildung und die Genese der paranoischen Wahnideen aus. „Die ab origine vor¬ 
handene individuelle Konstitution, die der paranoischen Entwicklung zugrunde 
hegt, muß eine minder gute Ausrüstung für das Leben in sich schließen, muß ab 
eine minderwertige Variation von der Norm betrachtet werden. Die paranoischen 
Zustände müssen hier ab degenerative Krankheiten betrachtet werden und wegen 
der gleichartigen Grundlage, des gleichartigen pathopsychologischen Entstehungs¬ 
mechanismus und der gleichartigen Symptomatologie iniferhalb derselben eine 
natürliche Gruppe bilden. In dieser Gruppe fließen also Querulantenwahn, Kraepe- 
lins Paranoia, Friedmanns milde Paranoia und andere psychogene paranoische 
Psychosen nebst andern Zuständen zusammen.“ Innerhalb dieser Gruppe sind 
die paranoischen Wahnbildungen die dominierenden Krankheitssymptome. Da es 
wesentlich zwei Faktoren sind, die genetische Bedeutung für die paranoische Psychose 
haben, nämlich die äußere Situation und der individuelle Charakter, und die Holle 
dieser Faktoren in verschiedenen Fällen stark variiert, schlägt TV. vor, je nachdem 
der eine oder der andere Faktor dominiert, von paranoischer Situationspsychoee 
und paranoischen Charakterpsychosen zu reden. Paranoia und manisch-depressives 
Irresein gehören zu den degenerativen Zuständen und zeigen deshalb zahlreiche 
Verbindungen miteinander. Nach W. soll aber auch ein analoges Verhältnis zwischen 
der Paranoia und den schizophrenen Psychosen bestehen. 

Als Kasuistik bringt TV. 12 ausführliche Krankengeschichten. Den Schluß 
des Werkes bilden therapeutische Gesichtspunkte. 

Die Paranoia hat zwei Ursachen, die psychische Konstitution und die äußere 
Situation. Die erstere kann der Arzt nicht beeinflussen, wohl die letztere. Also 
Milieuwechsel, event. Krankenhausbehandlung, auch bei Abwesenheit antisozialer 
Neigungen. Im übrigen psychische Beeinflussung durch einen Sachverständigen, 
einen Irrenarzt, Arbeit, unter Umständen, den Kranken die Dissimulation lehren 
nach Tanzt s Ausspruch: Le paranoiaque ne gudrit pas, il d&arme. 


d) Sonstiges. 

Bleuler (16) glaubt, daß Rüdvn den Versuchen, die Vererbung der Psychosen 
nach Mendels eben Gesichtspunkten zu studieren, ein Ende gemacht hat. Den 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 


127 * 


technisch-mathematischen Teil hat Rüdin mit Weinberg nach einer Richtung hin 
zum Abschluß gebracht In klinischer Beziehung besitzen wir noch nicht alle not¬ 
wendigen Voraussetzungen. Nach dem Ergebnis von Rüdin könnte die manifeste 
Schizophrenie ein monohybrides Mendelsches Merkmal nicht sein. Es wäre aber mög¬ 
lich, daß die Schizophrenie ein dihybrides, also aus zwei Eigenschaften zusammen¬ 
gesetztes Material wäre, das bei den Nachkommen zweier latenten Merkmalträger im 
Wertzustand von 6,25% auftritt. Aus Rüdin s Daten folgt, daß die Dementia praecox 
nicht bloß Zusammenhang hat mit den Keimen der nämlichen Krankheit in der 
Familie, sondern auch mit andern Psychosen und mit Trunksucht, ja daß die schizo¬ 
phrene Belastung kaum eine engere Beziehung zur Entstehung der Dementia praecox 
hat. als die andern psychopathischen Faktoren zusammengenommen. 

Was nun vererbt wird, geht aus den ßüdtnschen Untersuchungen nicht hervor. 
Bestehen diese Untersuchungen zu recht, so gibt es kein einheitliches Gen der 
Schizophrenie, sondern es müssen verschiedene Dinge Zusammenkommen, um die 
Krankheit in Erscheinung treten zu lassen. Auch läßt sich eine polymorphe Ver¬ 
erbung bisher nicht ausschließen. 

Die erste Grundlage einer Erblichkeitsstudie müßte die Feststellung des Be¬ 
griffes und des Umfanges der ^sychose geben. Die Dementia praecox eignet sich 
nicht gut zu solchen Studien. Nach Bleuler ist die Dementia praecox diejenige 
Psychose, deren Vorhandensein oder Fehlen mit am schwersten sicherzustellen ist. 
Die soziale Untüchtigkeit, die in verschiedenen Umgebungen ganz verschieden 
definiert werden müßte, ist kein Kriterium für die biologische Grenze einer Krankheit. 
Es ist im gegebenen Fall unmöglich, eine Schizophrenie auszuschließen. Der Schizo¬ 
phreniebegriff muß weiter gefaßt werden, als es Rüdin getan hat Die familiären 
Zusammenhänge der Schizophrenie mit andern Psychosen und Neurosen lassen 
sich nicht unter dem Gesichtspunkte des Di- oder Polyhybridismus betrachten. 
Von den Hereditätsforschungen erwartet Bleuler allein den definitiven Aufschluß 
für die Abgrenzung der einzelnen Formen innerhalb der ganzen Schizophreniegruppe. 

Wir haben erst zu suchen, was vererbt wird, denn die „Erbpsychose“ deckt 
sich sicher in der Fülle der großen Psychosen nicht mit den sichtbaren Krankheiten; 
beide sind, wenigstens bei der Schizophrenie, wahrscheinlich -durch eine längere 
Kausalkette getrennt, die die manifesten Symptome aus der Anlage entwickelt. Aus 
dem Vorkommen und Fehlen der Sichtpsychose kann nicht ohne weiteres auf das 
Verhalten der Erbpsychose geschlossen werden. Kein Wunder, daß wir nicht auf 
geradem Wege zu der Erbeinheit kommen, wenn wir von dem andern Ende, der 
Sichtschizose, ausgehen. Die Erbschizose braucht direkt gar keine psychische 
Anomalie zu sein, sie kann eine gehimanatomische, chemische, neurologische Eigen¬ 
tümlichkeit sein, die als Symptom die Krankheit zeitigt. Äußere Faktoren wirken 
bei der Erzeugung der manifesten Schizophrenie mit. Auch innere Einflüsse, be¬ 
gleitende psychische Anlagen, die an sich nichts mit dem Gen der Krankheit zu 
tun haben, können möglicherweise mitwirken. Die Kompliziertheit des vererbtem 
Merkmals, der Erbschizose, bleibt offen. Gegen die Auffassung als monohybridcs 
Merkmal spricht die Seltenheit der Krankheit bei Stiefgeschwistern. Die sichtbaren 
Beziehungen der Schizophrenie zu andern Psychosen und zum Alkoholismus lassen 


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128 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


sich nicht nur als Zeichen einer polyhybriden Genese der Krankheit deuten, sondern 
auch so, daß zu einem für die Schizophrenie spezifischen Gen noch irgendeines von 
verschiedenen andern Genen hinzutreten müßte, um die Krankheit zu erzeugen. 
Verschiedene Teilanlagen wären dann äquivalent, indem nicht nur xy, sondern auch 
xz, xl , xu die Krankheit erzeugen könnten (äquivalenthybrid). Für die Zukunft 
scheint Bleuler die wichtigste und dankbarste Aufgabe die Durchforschung von Fa¬ 
milien in allen ihren Gliedern, aber nicht einseitig nur vom Sippen mit einer be¬ 
stimmten Krankheit, sondern von beliebigen Stämmen, seien sie irgendwie belastet 
oder gesund. 

De Crinis (33) findet, daß der Eiweißgehalt des Serums nicht nur bei den 
Krankheitszust&nden mit motorischer Hyperfunktion erhöht ist, sondern auch beim 
melancholischen Symptomenkomplex. Während bei ersterer die Erhöhung des 
Eiweißgehalts durch die erhöhte Arbeitsleistung erklärt ist, mangelt diese Erklärung 
beim melancholischen Symptomenkomplex. Der erhöhte Eiweißgehalt wird wohl 
hier als eine Teilerscheinung des pathologisch verlaufenden Stoffwechsels anzusehen 
sein. Er ist nicht auf Eiweißabbauprodukte der Leber zurückzuführen. Bei der 
melancholischen Kranken, welche keine Erhöhung, sondern im Gegenteil eine Er¬ 
niedrigung des Serumeiweißwertes zeigte, konnte diese auffällige Erscheinung durch 
den Nachweis einer komplizierten, zur Kachexie neigenden internen Erkrankung 
(Lungentuberkulose) im Einklänge mit der bei letzterer gefundenen Erniedrigung 
des Eiweißwertes erklärt werden. 

Kesseler (74) beweist hier durch Gutachten von 8 Fällen von Dementia praecox, 
je 6 von Manisch-Depressiven und Paranoia die absolute Seltenheit derartiger 
Psychosen infolge von Trauma. Die endogenen Psychosen der drei genannten 
Gruppen können im allgemeinen keine Unfallfolgcn sein. Dies lehren die Erfahrun¬ 
gen des letzten Krieges und die Unfallbegutachtung. 

Lewin (89) spricht sich gegen die Bezeichnung degeneratives Irresein und 
Degenerationspsychose aus. Die Bezeichnung ist zu unbestimmt, und schließlich 
würde sie auch die funktionellen Psychosen umfassen müssen, denn wir finden 
eigentlich überall eine degenerative Anlage in irgendeiner Form und in allen mög¬ 
lichen Übergängen. — Nicht die Anlage ist minderwertig, sondern sie macht die 
Persönlichkeit als Träger dieser Anlage minderwertig. Außergewöhnliche, nicht 
habituelle Reaktionen der gesamten Persönlichkeit, weil nicht partielle degenerative 
Anlage, sind die Merkmale der uns hier beschäftigenden Zustände. L. möchte für 
die Psychopathie die pathologische Reaktivität als Einteilungsgrund ansehen, dann 
hätte man 3 Gruppen: die endogenen, die reaktiven und die Situationstypen. Bei 
den ersteren entsteht die Psychose rein von innen heraus, äußere Momente spielen 
nur eine geringe oder gar keine Rolle, so gewisse Fuguezustände, periodisch auf¬ 
tretende Verstimmungen, gewisse paranoische Bilder bei paranoiden Charakteren. 
Bei der zweiten Gruppe sind die psychotischen Zustände deutliche Reaktionen auf 
äußere Reize, wie reaktive Verstimmungen, reaktive tobsüchtige Erregungszustände, 
manche querulatorisch-paranoische Zustände in der Haft, viele der Hysterie zuzu¬ 
zählende Fonuen. Bei der 3. Gruppe, dem Situationstyp, spielt das auslösende Er¬ 
eignis eine dominierende Rolle, derart, daß die ganze Psychose nur als eine sich 


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Umpfenbach: Funktionelle Psychosen.' 129* 

an das auslösende Ereignis anschließende, über kurz oder lang wieder vorübergehende 
Episode im Leben des Individuums erscheint. 

Über diese Situationspsychosen kommt L. zu folgendem Resultat: Es gibt 
psychotische Zustände sowohl in der Freiheit wie in der Halt, die allein einer sozu¬ 
sagen zufälligen Kombination innerer und äußerer Momente ihre Entstehung ver¬ 
danken und nur eine Episode im Lebön und Schicksal der Persönlichkeit darstellen. 
Sie verdienen daher zu einer gemeinsamen Gruppe der Situationspsychosen zu¬ 
sammengefaßt zu werden, die im übrigen verschiedene Bilder der Symptomatik 
und Pathogenese, den jeweiligen Umständen und der Individualität entsprechend, 
aufweisen, wenn auch im allgemeinen die Anzahl leicht Degenerierter überwiegt. 
Als Untergruppe haben wir die emotionellen, hysterischen mit den ihnen nahe¬ 
stehenden pseudoparanoiden und die paranoiden Situationspsycbosen abgrenzen 
können; kenntlich sind sie an den verschiedenen Situationsformen: der Situations¬ 
fixierung, der Situationsverschiebung, der Situationsumdeutung und der Situations¬ 
verfälschung. ' 

Bei ihm haben wir es also nicht mit Erkrankungen zu tun, die nach inneren 
Gesetzen wie die endogenen Psychosen Verlauf und Ausgang nehmen, sondern mit 
vorübergehenden Zuständen, die durch ein zufälliges Zusammentreffen von Fak¬ 
toren, wie degenerative Anlage, individuelle Eigenschaften, Lebensschicksale, Milieu, 
psycho-physische Konstellation und emotionelle Ereignisse hervorgerufen, mit dem 
Fortfall dieser Kombination auch ihren Abschluß finden. Mit der Bezeichnung 
„degeneratives Irresein“ oder Hysterie wird man also der tatsächlichen Mannig¬ 
faltigkeit nicht gerecht. Gibt es doch Individuen, die weder vorher noch nachher 
die Zeichen einer Degeneration oder hysterischen Anlage aufweisen, bzw. bei 
denen die psychopathische Konstitution nicht derartig ist, daß sie die hinreichende 
Ätiologie abgibt. Man wird den Satz, daß die psychogene Reaktion als solche Kenn¬ 
zeichen einer degenerativen Anlage sei, nicht in seiner Allgemeinheit anerkennen. 
Auch die Kriegserfahrungen mancher Psychiater sprechen dagegen. Man wird 
vielmehr — allgemein ausgedrückt — die Frage, ob gesunde Individuen infolge 
einer unglücklichen Verkettung von Umständen transitorisch erkranken können, 
einer weiteren Diskussion unterziehen müssen. Vielleicht werden uns hier die Er¬ 
fahrungen des jetzigen Krieges weiterhelfen. 

Meyer (96) hat in dem von J. Schwalbe bei Georg Thieme in Leipzig heraus- 
gegebenen Lehrbuch: Diagnostische und therapeutische Irrtümer und deren Ver¬ 
hütung, den psychiatrischen Teil übernommen. Das Werk, dessen Abhandlungen 
über die großen Krankheitsgebiete in Einzelbänden erscheinen, hat sich die Aufgabe 
gestellt, „den Praktiker in der Erkennung und Behandlung innerer Krankheiten 
dadurch zu fördern, daß ihm die häufigeren Irrtümer, die nach beiden Richtungen 
gemacht werden, vorgeführt und die Wege zu ihrer Verhütung gezeigt werden,... 
e contrariis soll der Arzt die Krankheitsbilder richtig deuten, die zweckmäßige 
Therapie wählen lernen“. * 

v. Muralt (108), Schüler von Bleuler und Jung , bietet hier eine sehr interessante 
Beschreibung und ausführliche Analyse eines Pseudopropheten, die sich für ein kurzes 
Referat nicht eignet. 


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130 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


Nach Naef (104) kommt es bei den als funktionelle Neurosen angesehenen 
Choreaformen au Geistesstörungen vom Charakter der Erschöpfungspsychosen: 
L Psychose mit Sinnestäuschungen und traumhafter Desorientierung und Ver¬ 
worrenheit, die 2. in höheren Graden der Erregung zu Delirium acutum-artiger 
Form führt Die Psychose hat nichts Eigenartiges, was nicht auch bei andern Er- 
schöpfungs- und Intoxikationspsychosen beobachtet wurde. 

Anders ist der Charakter der Geistesstörungen bei chronischen Choreaformen, 
die auf dem Boden eines chronischen Hirnprozesses entstehen. L Chorea bei pro¬ 
gressiver Paralyse, einhergehend mit paralytischer Demenz. 2. Fälle von Chorea 
chronica progressiva hereditaria ( Huntington ), mit einfacher Demenz, die bis zu 
tiefster Verblödung fortschreitet. 3. Eine seltene Form mit echter Huntinglon&chec 
Chorea zeigt einen paranoiden Typus mit langsamem geistigem Verfall. 

Runge (119) warnt davor, jetzt bereits in dem Abderhaldemchen Verfahren 
ein bestimmtes Mittel zur Unterscheidung zwischen der Dementia praecox und dem- 
manisch-depressiven Irresein in klinischer und prognostischer Hinsicht zu sehen, 
wenn auch zahlreiche positive Reaktionen bei Katatonie und den organischen Krank¬ 
heiten vorliegen gegen die meist negativen bei den funktionellen Psychosen. Es ist 
noch mit zahlreichen Fehlerquellen bei der Organzubereitung, Blutgewinnung etc. 
zu rechnen. 

Scheffer (121) will durch 6 ausführlich beschriebene Fälle beweisen, daß Dipso¬ 
manie nicht, jedenfalls nicht zu einem bedeutenden Teil, zur Epilepsie gerechnet 
werden muß, auch nicht in der Mehrzahl der Fälle zu den manisch-depressiven 
Psychosen, sondern zu den psychopathischen Zuständen. Bei allen 6 Patienten tritt 
das reaktive Element bei den Verstimmungen sehr in den Vordergrund; sie sind 
dabei willenlose schwache Personen. „Die Forderung primärer autochthoner Dys- 
pborie für die Diagnose echte Dipsomanie scheint mir allein vom Epilepsiestandpunkt 
aus aufrechterhaltbar zu sein und wird übrigens auch von Kraepelin nicht mehr 
geteilt.“ 

Siebert (129) verfügt über 26 Geschwisterpsychosen, deren Krankengeschichten 
hier kurz beigebracht sind. Unter exogenem Ursprung versteht er nicht Schreck, 
Erschöpfung, erschütternde psychische Eindrücke oder dergleichen. In seinen 
Fällen handelt es sich um Kopferysipel, fieberhafte Angina nebst Kopftrauma, 
eitrige Mastitis, septischen Abort, Kopftrauma mit anschließender fieberhafter 
Eiterung, Wochenbett, anhaltendes religiöses Sektierertum, und in 5 Fällen um 
Alkohol. — S. legt diesen Traumen nur eine untergeordnete Bedeutung beim Zu¬ 
standekommen der Gesamtstörung bei, der endogene Grundfaktor .wird in seinem 
Wesen keineswegs ausgeschaltet Daß es sich in fast allen Fällen um katatonische 
Krankheitsbilder handelt, während die exogenen Faktoren verschieden sind, läßt 
vermuten, da es sich doch um Geschwister handelt, daß ungleiche zerebrale Anlage 
im Spiele ist. 

Siemerling (135) bringt zunächst einen Überblick über die diesbezügliche 
Literatur. Unter den Aufnahmen von den letzten 14 Jahren in der Kieler Klinik 
befanden sich 307 Fälle, das sind 6%, Generationspsychosen. Daran beteiligt sich 
das Wochenbett mit 62,6%, Gravidität mit 29,3%, Laktation mit 8,1%. — Hier 


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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 131* 

interessieren nur die 89 Graviditätspsychosen. Darunter sind am häufigsten die 
melancholischen Verstimmungen und Depressionszustände, dann kommen der 
Zahl nach die katatonischen Formen und die im Gefolge von Epilepsie und Hysterie 
auftretenden Störungen. S. bringt hier 20 ausführliche Krankengeschichten, 
darunter 11 Melancholien resp. Depressionszustände. Ein wesentlicher Unterschied, 
zwischen den melancholischen Vorstellungen, der reinen melancholischen Depression 
und den Situationsverstimmungen ist der, daß bei ersteren nur äußerst selten eine 
Anpassung des Gedankeninhalts von den affektbetonten Ideen, welche an die 
Schwangerschaft und bevorstehende Entbindung mit ihren Folgen anknüpfen, 
beobachtet wird. Bei den Situationsdepressionen fehlen die Versündigungsideen 
fast immer; der Schwangerschaftskomplex beherrscht fast immer die Szene, ln 
4 Fällen von Melancholie wurde der Abort ausgeführt; ebenso in einem Falle von 
Katatonie. Bei manisch-depressiven Fällen und hysterischen Psychosen nicht. 
S. schließt, daß Psychose und Neurose nur selten Anlaß zur Unterbrechung der 
Gravidität geben; am ersten noch die Depressionszustände. Bestimmte Symptome, 
die ein- für alleihal die Einleitung des künstlichen Aborts erforderlich machen, 
gibt es nicht. Die Indikation ist nur dann als vorliegend zu erachten, wenn schwerste 
Gefahr für Leben und Gesundheit vorhanden ist Genaueste Erforschung und 
Kenntnis der ganzen Persönlichkeit und des einzelnen Falles mit seinen S ym pt omen 
und Beratung mit mehreren Ärzten ist zu jeder Entscheidung in der Frage der 
Schwangerschaftsunterbrechung nötig. 

Helene Friederike Stdzner (141) findet, daß nach den Erfahrungen des jetzt 
länger dauernden Krieges sich gezeigt hat, daß ausgesprochene Erschöpfungs* 
psychosen auch gänzlich gesunde Individuen befallen können. Die Erschöpfbarkeit 
ist nicht immer ein Stigma der allgemeinen neuropsychopathischen Veranlagung. 
Auch der nervengesundeste Organismus ist bis zu einem gewissen Grade erschöpfbar, 
wenn nur die ermüdenden Eindrücke von genügender Stärke sind, um die Beiz* 
sohwellen zu treffen. Die Form der Krankheit kann dann dieselbe sein wie bei be¬ 
lasteten Patienten. Verl stellt hier 15 Krankengeschichten zusammen von Kriegs¬ 
teilnehmern, um zu zeigen, welche verschiedenen Wertigkeiten von den physiologi¬ 
schen Grenzen der Ermüdung bis zur ausgesprochenen Psychose sich unter dem 
Einfluß der Kriegsstrapazen entwickelt hatten. Den Anfang machen 2 Fälle von 
Schlafsucht. Dann folgen einige sehr interessante Erschöpfungspsychosen, Ver- 
wirrtheits- und Erregungszustände, auch mit Wahnideen und Sinnestäuschungen, 
bis zu monatelanger Dauer, denn allen gemeinsam ist die Herabsetzung der Denk¬ 
fähigkeit. Den Schluß machen die mit Dämmerzuständen einhergehenden Er¬ 
schöpfungspsychosen, bei denen natürlich Epilepsie, Hysterie, Alkohol, Trauma 
nicht in Frage kommen. Genesung trat ein in 2—12 Wochen. Unter den Kranken 
befanden sich auffallend viele Artilleristen. 

Slertz (142) hatte an einem sehr großen Material von Rekonvaleszenten von 
Typhus reichlich Gelegenheit zum Studium des schädlichen Einflusses des Typhns 
auf das Nervensystem. Für uns ist hier nur von Interesse seine Mitteilung, daß er 
keine Gelegenheit gehabt hat, eigentliche Psychosen zu beobachten, von denen man 
mit einiger Sicherheit annehmen konnte, daß sie auf Grundlage des Typhus er* 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


wachsen seien. Offenbar gehören die beim Typhus vorkommenden Geistesstörungen 
fast durchweg dem Fieberstadium oder dem der Entfieberung an und bleiben darum 
naturgemäß von der Überführung nach dem Rekonvaleszentenheim ausge¬ 
schlossen. St. beschränkt daher seine Mitteilungen auf einen Fall von Residualwahn, 
einige amnestische Zustandsbilder, Differentialdiagnose des postinfektiösen und 
hebephrenen Stupors, 3 Fälle von Dementia praecox. » 

Stiefler (143) berichtet über 342 Psychosen der verschiedensten Art aus dem 
Gamisonlazarett in Przemysl. Die Fälle stammen mit wenigen Ausnahmen aus 
der Kampfzone. Es handelt sich demnach nur um akut entstandene Psychosen, 
die bereits wenige Stunden nach ihrem Beginn in ärztliche Beobachtung kamen. 

Stransky (147) weist darauf hin, wie häufig bei nervösen Sprechstunden - 
patienten die Klagen sind über besondere Ermüdbarkeit und Arbeitsunlust, Er¬ 
schwerung des Denkvermögens und der Entschlußfähigkeit, ein Gefühl der Minder¬ 
wertigkeit der eigenen Persönlichkeit, Selbstvorwürfe verschiedenen Inhalts, zu¬ 
weilen auch Taedium vitae, — also Symptome, die wir bei den manisch-depressiven 
Kranken wiederfinden. Danach gehört ein großer Teil des Neurosenmaterials 
seiner Privatklinik zur manisch-depressiven Familie. St. rechnet aus, daß ein 
Drittel seiner Patienten dazu gehört Er betont daher die Wichtigkeit der psychiatri¬ 
schen Vorbildung bei den praktischen Neurologen für Diagnosenstellung und 
Therapie in der Sprechstunde. 

Traut (154) hat die Arbeiten von Hoeßle und Sauer nachgeprüft an 60 Fällen, 
wo eine organische Erkrankung auszuschließen war und wo es sich nur um funktio¬ 
neile nervöse Beschwerden handelte. Es waren Neuro- und Psychopathen. Der 
Hämoglobingehalt war in keinem Falle übernormal; der Befund deckt sich mit dem 
von Huhle, 90—65%. Dagegen fand sich unter den 60 Fällen 37 mal eine Erhöhung 
der Lymphozytenzahl über 30%, dann 20mal über 36%, 8mal über 40%. Also 
in 13 Fällen betiug die relative Lymphozytenzahl unter 30%. Die niedrigste ge¬ 
fundene -Zahl war 24%, die höchste 49,6%. Im allgemeinen fand sich bei starker 
Erregbarkeit der Patienten im Affekt eine Vermehrung der Lymphozyten, während 
die mehr depressiven Erscheinungen niedrige Werte zeigten. T. hält eine Lympho¬ 
zytose von unter 30% nicht für pathologisch. 


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k* 


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223. Rosenfeld, M. (Straßburg), Symptomatologie von zwei 

Fällen mit Hirntumor. Sitzungsber. Deutsche med. 
Wschr. Nr. 41, S. 1311. 

224. Rosenthal, Wilhelm, Über die traumatische Entstehung der 

Tabo-Paralyse. Inaug.-Diss. Kiel. 

225. Rothfeld, J. (Lemberg), Beitrag zur Kenntnis der Acro- 

asphyxia chronica hypertrophica. Deutsche Ztschr. f. 
Nervenheilk. Bd. 57, H. 3/5. 

226. Rübensohn, E. (Cöln), Einige Betrachtungen über die pro¬ 

gressive Paralyse im Lichte der Dienstbeschädigung und 
Unfallgesetzgebung. Reichs-Med.-Anz. Jahrg.42, Nr. 11. 

227. Rudberg, Daniel, Fall av akut Sinusitis frontalis. Hygiea 

vol. 79, p. 71. 

228. Rälf, J. (Bonn), Ein Fall von Ponstumor. Sitzungsber. 

Deutsche med. Wschr. Nr. 50, S. 1576. 

229. Saenger, Alfred (Hamburg), Über die Röntgenbehandlung 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


151 * 


von Gehirn- und Rückenmarksgeschwülsten. ' Neurol. 
Zentralbl. Nr. 19, S. 784. 

230. Sakobielski, Ernst, Beitrag zur Symptomatologie der de¬ 

pressiven Form der Dementia paralytica. Inaug.-Diss. 
Kiel. 

231. Salus, G. (Prag), Die Hämolysinreaktion (Weil-Kafka) als 

Hilfsmittel der Meningitisdiagnose. Deutsche med. 
Wschr. Nr. 31, S. 970. 

232. Sebald, Georg Anton , Vier Fälle von progressiver Paralyse 

beim Kinde mit besonderer Berücksichtigung der pa¬ 
thogenetischen Faktoren. Inaug.-Diss. München. 

233. Schacherl, Max (Wien), Zur Technik und Indikation der 

endolumbalen Salvarsanbehandlung bei Paralytikern, 
Tabikern und Luetikern. Wien. klin. Wschr. Jahrg. 30, 
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234. Schaffer, Karl, und Richter, Hugo (Budapest), Hirnpathologi¬ 

sche Beiträge aus dem hirnhistologischen Institut der 
Universität Budapest. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 
Orig. Bd. 38, H. 1 u. 2, S. 1—160. (S. 170*.) 

235. Scherber, G., Über die Wirkung intramuskulärer Milch¬ 

injektion auf die latente und manifeste Syphilis und 
Mitteilung der Erfahrungen mit der Fiebertherapie im 
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236. Schlesinger, Herrn. (Wien), Einige Bemerkungen über die 

multiple Seerose nach eigenen Erfahrungen. Therap. 
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237. Schlößmann, H. (Tübingen), Der Nervenschußschmerz. 

Klinische Studie. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 
Orig. Bd. 35, H. 5, S. 442 u. Berlin, J. Springer. 96 S. 
M. 3.60. 

238. Schneemann, W., Einige seltene Folgezustände nach Schä¬ 

delschüssen und ihre Behandlung. Bruns Beitr. z. klin. 
Med. Bd. 106, S. 229. 

239. Schneider, J. Rudolf, Über pseudomyotonische Motilitäts¬ 

störungen nach zentral bedingter Parese. Inaug.-Diss. 
Leipzig. 


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152 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


240. Schredl, Anton, Stauungspapille am atrophischen Seh¬ 

nerven bei Hypophysistumor. Inaug.-Diss. Würzburg. 

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verletzungen. Für Neurologen und Chirurgen. Stutt¬ 
gart 1915. F. Enke. - 54 S. M. 1.60. 

242. Schröder, Paul (Greifswald), Über Encephalitis nach Mye¬ 

litis. Sitzungsber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., 
R. u. E., Bd. 14, H. 2, S. 120. 

243. Schrottenbach, H. (Graz), Studien über den Hirnprolaps 

mit besonderer Berücksichtigung der lokalen post¬ 
traumatischen Himschwellung nach Schädelverletzun¬ 
gen. (Monographie a. d. Geb. d. Neurol. u. Psych. 
H. 14.) Berlin, Jul. Springer. 80 S. M. 7.60. 

244. Schürmeyer, Ernst, Zur Ätiologie und Symptomatologie der 

multiplen Sklerose. Inaug.-Diss. Kiel. 

245. Schultz, J. H. (Jena), Zur Klinik der Nachbehandlung 

Kopfverletzter. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 42, H. 6. 

246. Schultz-Heucke, Harald, Der Einfluß des militärischen Kriegs¬ 

dienstes auf die progressive Paralyse. Inaug.-Diss. 
' Freiburg i. B. 

247. Schultze, Friedr. (Bonn), Familiär auftretendes Malum 

perforans der Füße (Familiäre lumbale Syringomyelie?). 
Deutsche med. Wschr. Nr. 18, S. 545. 

248. Schuster, Paul (Berlin), Beitrag zur Lehre von den sen¬ 

siblen Zentren der Großhirnrinde. Neurol. Zentralbl. 
Nr. 8, S. 321. 

249. Seelert, Hans (Berlin), Untersuchungen der Familien¬ 

angehörigen von Paralytikern und Tabikern auf Sy¬ 
philis und damit zusammenhängende nervöse Störungen 
unter besonderer Berücksichtigung des lnfektionsfermins 
dieser Paralytiker und Tabiker. Mtschr. f. Psych. u. 
Neurol. Bd. 41, H. 6, S. 329. (S. 171*.) 

250. Seelert, Hans (Berlin), Operierte Tumoren der Hirnhäute. 

Sitzungsber. Neurol. Zentralbl. Nr. 15, S. 653. 

251. Severin, Josef (Breslau), Zwei Fälle von Myotonia con¬ 

genita (Thomsensche Krankheit). Sitzungsber. Bert, 
klin. Wschr. Nr. 17. 


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Brennecke, Organische Psychosen. 163* 

252. Siebert, Harald, Trauma, funktionelle Störung und Lues 

cerebri. Neurol. Zentralbl. Nr. 24, S. 1003. 

253. Sieglbauer, F. (z. Z. Belgrad), Ein Fall von Morbus Reck¬ 

linghausen. Wien. klin. Wschr. Nr. 38, S. 1207. 

254. Simmonds, M. (Hamburg), Über das Vorkommen von 

Riesenzellen in der Hypophyse. Virch. Arch. Bd. 223, 
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255. Simons, A., und Mer ekel, H. (München), Zur Kenntnis der 

chronischen tuberkulösen Zerebrospinalmeningitis. Neu« 
rol. Zentralbl. Nr. 7, S. 258. 

256. Simons , A. (Berlin), Knochen und Nerv (Kriegserfahrun¬ 

gen). Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 37, H. 1/2, 
S. 36. 

257. Singer, Kurt (Berlin), Kasuistische Mitteilungen: 1. Be¬ 

merkenswerter Fall von Thomsenscher Krankheit. 
2. Meningitis cerebrospinalis epidemica. 3. Polyneuritis 
dysenterica. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 41, H. 4, 
S. 234. (S. 171*.) 

258. Singer, Kurt (Berlin), Kryptogene Aphasie. Med. Klin. 

1917, Nr. 49, S. 1293. 

259. Sittig, 0. (Prag), Über Störungen des Ziffernschreibens bei 

Aphasischen. Ztschr. f. Pathopsychol. Bd. 3, S. 3. 

260. Sokolow (Wil), Spinale progressive Muskelatrophie bei einer 

Geisteskranken. Korr.-Bl. f. Schweizer Ärzte. 

261. Sommerfeldt, Spinale progressive Muskelatrophie nach Polio¬ 

myelitis. Norsk. Mag. f. Laegev. vol. 78, H. 5. 

262. Souques, A. (Paris), Ar6flexie g6n6ralisle chez un bless6 du 

eräne. Rev. neurol. vol. 24 (I), p. 33. 

263. Spielmeyer, G. (München), Über Regeneration der peri¬ 

pheren .Nerven. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 
Orig. Bd. 36, H. 5, S. 431. 

264. Stein, Friedr. Wilh., Beitrag zur Kenntnis der Tabo-Para- 

lyse des weiblichen Geschlechts. Inaug.-Diss. Kiel 1917. 

265. Stein, Werner, Zwei Fälle von Glioma cerebri mit latentem 

Verlauf. Fehlen der Stauungspapille und andere diagnosti¬ 
sche Schwierigkeiten. Inaug.-Diss. München. 

266. Steiner, G. (Straßburg i. E.), Über das Verhalten des Sy- 


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154 * 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


philiserregers im Zentralnervensystem. Sitzungsber. 
Deutsche med. Wschr. Nr. 27, S. 863. (S. 171*.) 

267. Steiner, G. und Kuhn (Straßburg i. E.), Ätiologie der mul¬ 

tiplen Sklerose. Sitzungsber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. 
u. Psych., R. u. E. Bd. 15, H. 2, S. 109. 

268. Stephan, R. (Leipzig), Zur Kenntnis und Ätiologie der 

unter dem Bilde eines Tumors verlaufenden Erkrankun¬ 
gen der Cauda equina. Deutsche Ztschr. f. Nerven- 
heilk. Bd. 57 ? H. 1/2. 

269. Stern, C., Die Punktion des Rückenmarks (Lumbalpunktion) 

in der Diagnose und Therapie der Syphilis. Arch. f. 
Dermatol, u. Syph. Bd. 123, H. 6. 

270. Stern , Erich (Straßburg i. E.), Experimentelle Untersuchun¬ 

gen über die Assoziationen von Gehirnverletzten. Arch. 
f. Psych. Bd. 57, H. 3, S. 725. 

271. Stern, Felix (Kiel), Beitrag zur Pathologie der epidemischen 

Genickstarre. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 216. (S. 171*.) 

272. Stier , E. (Berlin), Isolierte Agraphie und Alexie bei einem 

linksseitig gelähmten Linkshänder. Sitzungsber. Ztschr. 
f. d. ges.Neurol. u. Psych., R. u. E. Bd. 13, H. 7, S. 615. 

273. Stockleb, Richard, Über die Beziehungen zwischen Neuro¬ 

fibromatose und kongenitaler Elephantiasis. Inaug.- 
Diss. Jena. 

274. Stühmer, A., Vermeidung der Gefahren einer Salvarsan- 

behandlung. Münch, med. Wschr. Nr. 40. 

275. Stargardt , K. (Bonn), Über familiäre Degeneration in der 

Maculagegend des Auges mit und ohne psychische Sto¬ 
rungen. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 852. 

276. Sztanojewits, L. (Wien), Beiträge zur Diagnostik der Hirn- 

aneurysmenruptur. Neurol. Zentralbl. Nr. 18, S. 737. 

277. Sztanojewits, L. (Wien), Beiträge zu den Rückenmarks¬ 

erkrankungen. 1. Poliomyelitis chronica lateralis. 
II. Unilaterale Gliose. Neurol. Zentralbl. Nr. 3, S. 106 
u. 108. 

278. Taussig, L., Pseudoparalysen. Öas. öesk. 16k. vol. 56, 

p. 1220 (böhmisch). (S. 172*.) 

279. Thoma, R. (Heidelberg), Untersuchungen über das Schädel- 


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Br.ennecke, Organische Psychosen. 


155* 


Wachstum und seine Störungen. IV. Hypostasen und 
Hyperostosen. Virch. Arch. Bd. 223, H. 2, S. 73. 

280. Tintemann, W. (Osnabrück), Beitrag zur Kenntnis der 

Kleinhirnagenesie. Arch. f. Psych. Bd. 57, H. 2, S. 417. 
(S. 172*.) 

281. Treupel, W. (Jena), Der Einfluß des Salvarsans auf den 

Verlauf der Paralyse und Tabes. Berl. klin. Wschr. 1917, 
Nr. 39, S. 933—937. (S. 172*.) 

282. Uhthoff, W. (Breslau), Seltene differentialdiagnostisch 

wichtige Gesichtsfeldanomalie bei Hirnsyphilis. 
Sitzungsber. Berl. klin. Wschr. Nr. 42, S. 1022. 

283. Vossius, A. (Gießen), Über familiäre Optikusatrophie. 

Sitzungsber. Med. Klinik Nr. 31, S. 850. 

284. Warmbt, Gertrud , Über die initialen Optikusaffektionen bei 

den Erkrankungen des Nervensystems. Inaug.-Diss. 
Berlin. 

285. Weber, L. W. (Chemnitz), Kriegsparalyse und Dienstbe¬ 

schädigung. Deutsche med. Wschr. Nr. 34, S. 1064- 

286. Westheim-Salomonson, J. K. A. (Amsterdam), Zerebrale 

Muskelatrophie. Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 17. Nov. 

287. Werther, Joh. F. (Dresden), Über Liquoruntersuchungen 

und Liquorbehandlung bei Syphilitischen. Deutsche 
Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 57, H. 112. 

288. Westphal (Bonn), Kranken vorstell ungen: a) Neurofibro- 

matosis universalis (Recklinghausensche Krankheit), 
b) Fall von hysterischem Hemispasmus glosso-labialis. 
Deutsche med. Wschr. 1917, Nr. 29. 

289. Wexburg, Erwin (Wien), Kriegsverletzungen der peripheren 

Nerven. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Orig. Bd. 36, 
H. 5, S. 345. 

290. Weygandt, W. (Hamburg), Zwei Fälle schwerster Schädel¬ 

verletzung ohne direkten tödlichen Ausgang mit Über¬ 
gang in traumatische Verblödung. Sitzungsber. Deut¬ 
sche med. Wschr. Nr. 21, S. 669. 

291. Weygandt, W. (Hamburg), Hydrocephalus internus und 

Tumor cerebri (Demonstration). Sitzungsber. Deutsche 
med. Wschr. Nr. 25, S. 797. 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. | 


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156* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

292. Weygandt, W. (Hamburg), Demonstrationen: a) Fall von 

alter Encephalitis und Störung der Neurohypophyse; 
b) Chondrodystrophie mit Hydrocephalie. Sitzungsber. 
Hamb. Ärzte-Korr.-Bl. Nr. 2, S. 15. 

293. v. Wiesner, R. (Wien), Zur Encephalitisfrage. Die Ätiologie 

der Encephalitis lethargica. Sitzungsber. Wien. klin. 
Wschr. jahrg. 30, S. 933. 

294. Willige, Hans (Halle a. S.), Endolumbale Behandlung der 

luetischen Erkrankungen des Zentralnervensystems. 
Sitzungsber. Neurol. Zentralbl. Nr. 4, S. 176. 

Ahlswede (1) beschreibt einen Fall von multiplem Melanosarkom des Gehirns 
bei einer 77 jährigen Frau. Doch gibt Verf. weder im klinischen noclj im patho¬ 
logisch-anatomischen Befund Aufschluß über Sitz, Art, Größe etc. des oder der 
Tumoren. In der Einleitung zählt er die verschiedenen Arten der Gehirngeschwülste 
auf, in der Epikrise bringt er eine Schilderung der Allgemeinsymptome. 

Alexander (3) beschreibt einen Fall von Myxödem bei einem 36 Jahre alten 
Armierungssoldaten aus Ostpreußen. Aus den Symptomen ließ sich die Diagnose 
einwandfrei stellen und wurde fernerhin durch den prompten Erfolg der organo- 
therapeutischen Behandlung bestätigt. — Verf. ist der Ansicht, daß schon eine 
hochgradige Hypoplasie der Schilddrüse genüge, um das Myxödem in Erscheinung 
treten zu lassen. Unter den ätiologischen Ursachen führt A. Erkältungen 
( Buschan), akute Entzündungen der Schilddrüse (de Quervain) im Verlauf akuter 
Infektionskrankheiten und Morbus Basedow ( Balduin und v. Wagner) an. Auch 
heftige Gemütsbewegungen, Sorge, Kummer, Schreck und Aufregungen wurden 
nach Ewald als ätiologische Momente angegeben. Maßgebend sei hierbei nicht 
das körperliche, sondern das psychogene Trauma. Im vorliegenden Falle beob¬ 
achtete A. das Auftreten der Krankheitserscheinungen nach einer Verschüttung 
durch Granatexplosion. Verf. ist daher der Ansicht, daß bei dem Pat. seiner Beob¬ 
achtung unbedingt ein vagotonischer Einschlag als Krankheitserscheinung und 
eine Herabsetzung des Sympathicustonus angenommen werden müsse. Letztere 
Annahm e erhärtet er aus einer kritischen Würdigung der einzelnen beobachteten 
Symptome. — Der Pat. wurde als d. u. entlassen, wobei die Krankheit als eine 
Kriegsdienstbeschädigung angesehen wurde. Diese wurde in dem psychogenen 
Trauma gesehen, das Pat. durch den Einschlag der Granate und die Verschüttung 
erlitten hatte. Das psychogene Trauma habe zuerst eigentlich nur die Erscheinungen 
einer Vagotonie zutage treten lassen; daneben sei aber schon den früher behandeln¬ 
den Ärzten die Pigmentation in den Achselhöhlen, am Halse und an der Kreuzbein- 
gegend aufgefallen, so daß der Gedanke an Morbus Addisson aufgekommen sei. 
Erst später seien die typischen äußerlichen und psychischen Erscheinungen des 
Myxödems aufgetreten. 

Anton und Schmieden (6) berichten über eine neue, druckentlastende Hirn- 
Operationsmethode, den Subokzipitalstich, d. h. die Eröffnung der Membrana occipito- 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


157* 


atlantea. Die Operation wird unter bis auf die Knochenhaut reichender Lokal¬ 
anästhesie in Seitenlage des Pat. folgendermaßen ausgeführt: Ein genau medianer 
Längsschnitt, zwei Finger breit unter der Protuberantia occip. ext. bis unterhalb 
des Dornfortsatzes des 2. Halswirbels durchtrennt die Weichteile bis auf das Hinter¬ 
hauptsbein und die Dornfortsätze des 1. Halswirbels. Bei genau median ange¬ 
legtem Schnitt sei die Blutung kaum nennenswert. Halb stumpf, halb scharf werden 
die Weichteile über dem Okziput auseinandergedrängt, bis man, genau median 
eindringend, die hintere Umrandung des Foramen occipitale magnum und unterhalb 
den knopfartigen Domfortsatz des Atlas tastet. Zwischen beiden spannt sich die 
Membrana atlanto-occipitalis posterior. Nunmehr werden Wunde und Umgebung 
sorgfältig von Blut gereinigt, sodann wird die Dura median durchtrennt durch 
einen Messerstich, der meist sofort den klaren Liquor im Strahl herausfließen läßt. 
Um die auf diese Weise hergestellte Parazentese offen zu halten, rät Verf. zur Aus- 
echneidung eines viereckigen Fensters von % cm Breite und Höhe. Dieses klaffe 
vollständig ausreichend und bleibend. Über der Liquorfistel werden die Weichteile 
und die Haut mit möglichst vielen Schichten vernäht. — Der Beschreibung der 
Technik reihen die Verf. einige Fälle derartig behandelter Patienten an. Die Opera¬ 
tion sei an und für sich leicht möglich und werde in den Folgen mit geringen Be¬ 
schwerden vertragen. ' 

Beyerman (12) beschreibt die Krankengeschichten von 8 Patienten mit kon¬ 
genitalem Kleinhirnmangel. Aus dem von ihm beobachteten Material zieht Verf. 
folgende Schlußfolgerungen: 1. Bei 50% wird eine deutlich verkleinerte Schädel¬ 
grube röntgenologisch gefunden. 2. In 6 Fällen ließ sich Nystagmus hervorrufen, 
in 2 Fällen fehlte er. 3. Bei allen Patienten war die Sprache die nämliche, langsame, 
monotone, verwaschene, etwas explosive und skandierende. 4. Nur in 1 Falle 
bestand Störung der Kopfhaltung. 5. In 6 Fällen zeigte sich deutliche Hypotonie 
der Muskeln und Extremitäten, in einem Falle war der Tonus normal, in einem 
andern in den Beinen deutlich erhöht. 6. Die Patellarreflexe waren in 2 Fällen 
normal, zweimal lebhaft und viermal erhöht. 7. Störungen der Bewegungskoordina¬ 
tion wurden in allen Fällen beobachtet; in 1 Falle deutlich, in den andern Fällen 
dabei angedeuteter ötat cataleptique spdcial. 8. Abgesehen von einer geringen 
Entwicklung der Sensibilität, namentlich des Lagegefühls und der Wahrnehmung 
passiver Bewegungen, waren keine stärkeren Abweichungen des Gefühls nachzu¬ 
weisen. 9. In einem Falle trat deutlicher Kaltwassemystagmus, in allen Fällen 
typischer Nystagmus nach der andern Seite nach Drehbewegungen ein. 10. Der 
Zeigeversuch nach Ba any ergab in 2 Fällen stärkere, in 2 andern geringere Koordina¬ 
tionsstörungen. Unter abweichenden Symptomen erwähnt B. trophische Störungen, 
Sehnervenschwund, Babinskis Phänomen, Krämpfe, Imbezillität. 

Bings (16) Kompendium der topischen Gehirn- und Rückenmarksdiagnostik 
zeichnet sich durch eine ganz besondere Klarheit der Darstellung aus. Der Stoff 
ist übersichtlich geordnet. Verf. behandelt zunächst die topische Diagnostik der 
Rückenmarksläsionen, trennt scharf die Querschnittsdiagnostik von der Höhen¬ 
diagnostik. An die Besprechung der anatomischen und physiologischen Grund¬ 
lagen reiht er die Aufzählung der charakteristischen Symptome der einzelnen Läsio- 

1 * 


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158* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


nen (Seitenstrangaffektion, Vorderhornaffektion, Kombination beider, Sensibilitäts- 
nnd Motilitätsstörungen, Affektion der Hinter- und Seitenstränge etc.). In dem 
Kapitel über Höhendiagnostik erörtert Verf. eingehend, klar und faßlich die Segment¬ 
diagnose der motorischen Lähmungen, der Sensibilitäts- und Reflexstörungen. 
Die topische Diagnostik der Hirnläsionen reiht er ebenfalls den anatomischen und 
physiologischen Fundamenten an. In gesonderten Kapiteln behandelt B. die Läsio¬ 
nen des Hirnstammes, die des Kleinhirns und die des Großhirns, der Stammganglien 
und der Hypophyse. Kortikale und subkortikale Motilitäts- und Sensibilitäts- 
störnngen werden übersichtlich differentialdiagnostisch auseinandergehalten. Den 
psychischen Störungen ist ein besonderer Abschnitt gewidmet. — Der Wert des für 
den praktischen Arzt wie für den Spezialisten gleich wichtigen Buches wird durch 
die dem Texte beigegebenen ausgezeichneten schematischen Zeichnungen noch be¬ 
deutend erhöht. 

Die Arbeit Bimuangers und Schädels (17) bringt einen sehr wertvollen Beitrag 
zur Frage nach der Bedeutung der Konstitation bei Entwicklung von Geistes¬ 
krankheiten. Die Verf. geben zunächst eine eingehende Schilderung der normalen 
Histologie der Hirnarterien. Es Werden sodann an Beispielen die nachgewiesenen 
Hypoplasien dieser Gefäße beschrieben. Mangelhafte Entwicklung, besonders der 
elastischen Fasem, zeigte sieb 

a) bei ausgeprägten Entwicklungsstörungen, die klinisch der Idiotie mit Epi¬ 
lepsie zugewiesen werden; 

b) bei juvenilen, ,nervös konstituierten“ Individuen (S. Dekade), die bei dem 
Anprall körperlicher und geistiger Erschütterungen unter stürmischen deliranten 
Erscheinungen zugrunde gegangen sind; 

c) bei jugendlichen Paralytikern; 

d) bei den verhältnismäßig selteneren I äffen der präsenilen Demenz, wo sich 
der konstitutionelle Faktor in einer vorzeitigen, meist jähen Beendigung der geistigen 
Leistungsfähigkeit kundgibt. . 

• Auch bei den „Spätkatatonien“ vermutet Binsuanger ähnliche Verhältnisse. 

Der Schlußteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Beschreibung der arterio¬ 
sklerotischen Veränderungen der Himgefäße. (Josephy.) 

du Bois-Re ,mond (20) führt einleitend über die Begriffsbestimmung, Ätiologie, 
Pathologie und Therapie der Hirntumoren registrierend die wichtigsten Gesichts¬ 
punkte an, berührt in großen Zügen die Differentialdiagnose der einzelnen Tumor¬ 
arten, läßt sich dann weiter über die anatomischen Folgeerscheinungen aus, stellt 
die allgemeinsten klinischen und Herdsymptome zusammen und beschreibt schließlich 
die Krankengeschichte eines 46jährigen Mannes mit wenig ausgeprägten Herd¬ 
symptomen, die auf einen Herd im rechten Hirn (Okziput) schließen ließen. Der 
Sektionsbefund ergab ein stark verfettetes und nekrotisches Gliom im rechten Hinter- 
hauptslappen, hineinreichend bis in den Scheitellappen. 

Brouwer (27). Bei einer 68 jährigen Frau mit spastischer Lähmung des rechten 
Beins zeigte sich bei der Sektion ein Erweichungsherd im Lobus paracentralis. Die 
Pyramidenbahn war deutlich degeneriert, und zwar war diese Degeneration im 
vorderen Teil der Brücke eine diffuse; weiter kaudalwärta war der mediale Teil der 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


159* 


PyramidenbahA besser erhalten als der laterale. Von der Med. oblongata bis zum 
oberen Halsmark erstreckte sich die Degeneration wieder diffus auf die ganze Pyra¬ 
midenbahn. Es besteht demnach in den niederen Regionen des Z.-N.-S. nicht 
mehr die scharfe Lokalisation nach Körperabschnitten, wie sie sich in der Pyra¬ 
midenbahn des Großhirns findet (Joseph .) 

Cwrschmann (34) beschreibt 14 Fälle von multipler Sklerose, die im Verlauf 
und in den Symptomenkomplexen starke Variationen untereinander zeigten, ln dem 
einen Falle handelte es sich um eine in Schüben und Remissionen verlaufende 
benigne Form der multiplen Sklerose; in einem andern Fall um einen lumbosakralen 
Typus mit Fehlen der Sehnenreflexe und Muskelatrophie und initialer Latenz von 
etwa 20 Jahren. Bei einer weiteren Beobachtung fand Verf. eine atrophische Gaumen¬ 
segellähmung als dominierendes Symptom der multiplen Sklerose. Fall 6 zeigte 
eine Hemiatrophia linguae bei raittelschwerer, sonst nicht bulbärer, multipler Skle¬ 
rose, Fall 7 den sakralen Typus der Scleros. multipl. mit vorwiegenden Klonus- 
symptomen, Fall 8 gekreuzte Okulomotorius-Extremitätenlähmung als ersten Schub 
der multiplen Sklerose, Fall 12 eine gleichzeitig mit Morbus Basedowii beginnende 
multiple Sklerose, Fall 13 periodische extragraviditäre Milchsekretion mit Amenor¬ 
rhoe bei einem schweren Schub einer multiplen Sklerose. 

Diec’,ert (37) führt außer einem ausfühlicher beschriebenen Falle von Him- 
abszeß, bei dem in der Psychiatrischen Klinik in Königsberg wegen positiven Blut¬ 
wassermannes ein Gumma angenommen worden war, noch mehrere Fälle aus den 
Beobachtungen von Nonne, Müller, Oppenheim, Herter, Fumaro'a, Marburg und 
Di Her an, in denen bei Syphilitikern mit positiver Serumreaktion nicht syphilitische 
Hirntumoren bei der Obduktion gefunden wurden, während die Diagnose intra 
vitam infolge des positiven Wassermanns bezüglich der Art und Therapie 
der betreffenden Tumoren eingeleitet worden war. Aus dem Material der Königs¬ 
berger Psychiatrischen Klinik beschreibt Verf. noch des weiteren: 1 Fall von Cysti¬ 
cercus racemosus und 1 Fall von funktionellem Nervenleiden. Beide Pat, hatten 
eine frühere syphilitische Infektion überstanden und zeigten positiven Wassermann 
im Blutserum. 

Econonw (46) beschreibt eine Reihe eigenartiger Fälle von Enzephalitis, die 
histologisch das Bild einer Polioencephalitis cerebri, pontis et medullae oblongatae 
mit geringer Poliomyelitis, perivaskulärem, entzündlichem und diffus infiltrativem 
aber nicht hämorrhagischem und nur schwach ausgeprägtem neurophagem Charakter 
boten. Verf. glaubt, daß diese Enzephalitis leicht epidemischen Auftretens und eine 
spezifische Erkrankung sui generis sei und durch ein spezifisches lebendes Virus 
hervorgerufen werde, das, nach der Geringfügigkeit der „grippösen“ Allgemein- 
symptome und aus der Heftigkeit der zerebralen Erscheinungen zu schließen, eine 
spezifische Affinität zum zentralen Nervengewebe habe, ähnlich dem Virus der 
Poliomyelitis ( Heine-Medin ). 

Funkhäuser (51) fand bei einem klinisch typisch verlaufenen Falle von pro¬ 
gressiver ' Paralyse neben dem gewöhnlichen mikroskopischen Hirnbefund eine 
eigenartige hyaline Degeneration der Gefäße, die er für luetisch hält An einigen 
Stellen der Rinde war sie so hochgradig, daß Ernährungsstörungen auftraten — 


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160* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

Degeneration der Ganglienzellen, Wucherung der Glia, Fibrinablagerung. Makro¬ 
skopisch imponierten diese Partien als etwa erbsengroße, rauh und derb anzu¬ 
fühlende, nicht prominente Herdchen. Vereinzelt fanden sich außerdem im Gehirn 
lymphozytäre, die Adventitia überschreitende luetische Infiltrationen. (Josephy.) 

Fankhauser (62) beschreibt kristallisierende Substanzen (Harnsäure?), die sich 
in der grauen Substanz des gehärteten Gehirns nachweisen lassen. Auf Grund ver¬ 
gleichender Untersuchungen an Gehirnen geistig Normaler und Geisteskranker 
kommt er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu dem Schluß, „daß wir in dem Auf¬ 
treten der beschriebenen Kristalle einen pathologisch anatomischen Befund vor uns 
haben, der einerseits als eine Ausdrucksform der Gehirnschädigungen zu betrachten 
ist, wie sieschwere körperliche (speziellinfektiös-toxische un d anämische)Erkrank ungen 
begleiten, der andererseits aber mit verschiedenen psychotischen Prozessen, speziell 
mit der Dementia praecox und den senilen Störungen, in .direktem Zusammenhang 
steht. Bei der Paralyse finden wir Kristalle nicht häufiger als bei den körperlich 
Kranken, und sie sind wohl dem Wesen dieser Krankheit fremd“. (Joseph .) 

Goldstein (70) erörtert in Form eines Referates die Frage über den heutigen 
Stand der Lehre von. der Rindenblindheit. Verf. glaubt nach dem heutigen Stande 
unseres Wissens annehmen zu müssen, daß jedem Punkte der Netzhaut eine be¬ 
stimmte Stelle der Sehsphäre entspricht, und daß benachbarte Netzhautstellen auch 
auf der Sehsphäre benachbar lokalisiert sind. Außerdem stehe wahrscheinlich jede 
Netzhautstelle noch mit anderen Stellen in der „föderativen“ Netzsphäre in Ver¬ 
bindung, die event. bei Vernichtung der ersten Stelle für diese eintreten könne. 
Das Sehzentrum sei hauptsächlich auf die Area striata zu lokalisieren. Das Ein- 
trahlungsgebiet der Fasern der Macula lutea liege vorwiegend in einem relativ 
großen Abschnitt am hinteren Ende der Calcarina; daneben finde wohl aber noch 
eine diffuse Ausbreitung der Fasern statt. Wahrscheinlich sei jede Macula auch in 
beiden Hinterhauptlappen vertreten. Die Form des Gesichtsfelddefektes sei ab¬ 
hängig von dem umschriebenen Defekt der Sehsphäre und von der mehr oder weniger 
völligen Intaktheit des nicht zerstörten Gebietes, die eine mehr oder weniger weit¬ 
gehende Restitution ermögliche. Dasselbe gelte für die Macula. Falle das Macula¬ 
sehen aus, so sei nicht nur eine schwere Läsion der Sehzentren und Sehbahnen 
anzunehmen, sondern wahrscheinlich noch weitergehende Defekte der Hilfszentren 
und -bahnen. 

In einem zweiten Teil seiner Abhandlung läßt sich Verf. über die Orientierungs- 
störungen aus. 

' Groddeck (76) vertritt in seiner Abhandlung den Standpunkt, daß organische 
Leiden wie Angina catarrhalis, Adipositas, Ascites etc., sodann auch Erscheinungen 
wie die Akne des Gesichts in der Pubertätszeit beim männlichen Geschlecht, Schutz- 
und Abwehrmaßnahmen des „Ed“, des „Ubw“ seien. „Die Erkrankung, sei sie 
akut oder chronisch, infektiös oder nicht, gibt Ruhe, schützt vor der kränkenden 
Außenwelt oder wenigstens vor wohlbestimmbaren Erscheinungen, die unerträglich 
sind.“ In der psychoanalytischen Aufdeckung und Klärung verdrängter Komplexe 
des Ubw sieht Verl den gangbarsten therapeutischen Weg. Er erwähnt als „er¬ 
staunlichstes Ereignis seiner ärztlichen Tätigkeit“ die erfolgreiche psychoanalytische 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


161* 


Behandlung eines schweren Falles von Sklerodermie. „Die Psychoanalyse darf und 
wird vor organischen Leiden nicht Halt machen. Wie weit ihr Machtbereich geht, 
wird sich zeigen!“ 

Van Hasselt (82) beschreibt einen Fall von Meningo-Encephalitis tuberculosa 
circumscripta, die bei einem 28jährigen Zimmermann nach einem Schädeltrauma 
auftrat. 

Hauptmann (84) führt in seiner Abhandlung unter Berücksichtigung der Er¬ 
fahrungen und des statistischen Materials auch anderer Autoren, daß nach dem 
heutigen Stande der Forschung exogenen Momenten kein wesentlicher Einfluß auf 
den Ausbruch und Verlauf der Paralyse zugebilligt werden könne. Verf. lehnt daher 
Dienstbeschädigung bei Paralyse ab, wenn nur die allgemeinen Schädlichkeiten des 
Krieges eingewirkt haben. Auch glaubt er nicht annehmen zu können, daß , .Er¬ 
schöpfte“ ein größeres Kontingent zu den Nervenkrankheiten im sekundären Stadium 
der Lues stellten. 

Heilig (85) beschreibt die Erkrankungen des motorischen Nervensystems dreier 
Schwestern, Kinder polnischer Eltern aus dem Arbeiterstande. Das Alter war 24, 
19 und 12 Jahre. Zwei von den Schwestern kamen ad exitum. Unter Zusammen¬ 
fassung des klinischen und histopathologischen Befundes handelte es sich in erster 
Linie um eine Degeneration als Pyramidenbahnen. Verf. hält die beobachtete 
familiäre Erkrankung für eine Entwicklungshemmung des motorischen Gesamt¬ 
systems. 

Heveroch (90) versteht unter Anarithmetik den Verlust der Fähigkeit, zu 
rechnen. Diese Fähigkeit, namentlich was ihre Komponente: das Erkennen und 
Lesenkönnen der Zahlen betrifft, geht nicht parallel mit der Fähigkeit des 
Erkennens der Zeichen für Zahlen überhaupt; denn es gibt Aphatiker, die die Zahlen 
nicht besser aussprechen können als andere Worte, aber lesen und schreiben können 
sie dieselben, auch dann, wenn ihnen die Fähigkeit, Worte zu schreiben und zu lesen, 
verloren gegangen ist. Unter des Autors 4 Fällen handelt es sich bei dem ersten 
Pat. um plötzlichen Verlust der Sprache überhaupt, wobei er aber das Gesprochene 
vollkommen versteht und selbst korrekt schreiben kann. Obgleich er gut rechnen 
konnte, ist er jetzt nicht imstande, zu rechnen, die Aufgaben löst er nicht und macht 
primitivste Fehler: auch die Technik und das Äußere des Rechnens ist ihm abhanden 
gekommen. Außerdem beobachtete Verf. bei ihm eine Störung in den geographi¬ 
schen Kenntnissen. Klinisch war es Pseudobulbärparalyse. Bei dem zweiten Pat. 
um einen Luetiker, bei dem seit ca. einem halben Jahre Gedächtnisschwäche zu kon¬ 
statieren ist und der vor einigen Wochen ziemlich plötzlich zu rechnen vergessen 
hat. Hauptsächlich für Eigennamen besteht bei ihm amnestische expressive Aphasie. 
Nach antiluetischer Therapie (graue Salbe) trat Besserung ein; aber das Rechnen 
geht immer sclilecht. Der dritte Pat. hatte eine vorübergehende Störung des Rechen ¬ 
vermögens, der vierte Pat. konnte nach einem apoplektiformen Anfall mit Mühe 
sehr schlecht rechnen; auch nach der Besserung sonst gestörter Funktionen (Ver¬ 
stehen des Gelesenen, Sprachstörungen) bleibt die Störung des Rechnenvermögens 
ziemlich unverändert. Die Klassifikation der genannten Störungen läßt sich im 
Sinne des Verf. Schema ebenso wie bei den schon früher referierten Funktionen 
analog durchführen. Jar. Stuchltk (Rot-Kostelec). 


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162* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


Heveroch (91) bezeichnet den Verlost der musikalischen Fähigkeiten als 
Amusie. — Diese Fähigkeiten lassen sich einteilen in: L die Fähigkeit, den Rhythmus 
aalzulassen und während der Produktion einzuhalten; 2. die Höhe, Färbung und 
Stärke des Tones wahrzunehmen und zu produzieren; 3. die Melodie und Harmonie 
und die in denselben ruhende Schönheit begreifen zu können bzw. dieselben zu repro¬ 
duzieren imstande sein; 4. musikalisches Gedächtnis, d,i. die Fähigkeit, musikali¬ 
sche Kompositionen zu merken und auswendig wiederreproduzieren zu können. — 
Außer diesen Funktionen kommt noch in Betracht, daß wir die Kompositionen durch 
bestimmte Zeichen schriftlich fixieren können, die Noten schreiben, lesen, ab¬ 
schreiben, verstehen, den Text gleichzeitig mit den Noten lesen und singen. — Diese 
verschiedensten Funktionen, die in dem Begriffe „musikalische Fähigkeiten“ ent¬ 
halten sind, bezeichnet Autor einheitlich fm; und nach seinen in einer früheren Arbeit 
wiederholt angewandten Schemen können wir analog unterscheiden: fm l = mnestä- 
sche musikalische Funktion, musikalisches Gedächtnis; /,m = meristische Funk¬ 
tion, d. i. das Vermögen, die Töne in Harmonien und Melodien zusammenzu¬ 
bringen; f,tn — die Fähigkeit, die Noten zu erkennen, sie lesen, schreiben und za 
verstehen. Im Detail bezeichnet z. B.: /m“ f = die Fähigkeit, beim Anhören die 
Töne zu erkennen; m t e t = die Fähigkeit, die Töne zu reproduzieren; f m t a n = die 
Fähigkeit, die Namen der Noten (n) zu verstehen; fm t °n = den Ton aus den 
Noten lesen zu können; fm t fn = die Fähigkeit, Noten benennen zu können; 
fm t = Noten zu schreiben etc. Durch langes Üben werden bei dem Musiker 
viele Funktionen automatisiert, was sehr wichtig für die Beurteilung einzelner 
pathologischer Symptome sein kann und bei andern Störungen nirgends in so 
großem Maße vorkommt. Wenn wir noch in Betracht ziehen, daß eine große Rolle 
dem Rhythmus gebührt (/r), können wir das bekannte Schema für musikalische 
Fähigkeiten folgendermaßen konstruieren: 

/ fm t °n*~ f 3 o 

/r»! «-- fm t «- fm t a i*~ f 3 a 

/ ^ f t a 

\ sfr\ 

fm l l 'W’ ^ —* /m, e -► fm t e t -*j a e 

M* ar n-*Ugr 

Das Schema für die Fähigkeit, ein Lied zu singen, fällt noch komplizierter aus, 
da es sich in dem Falle um die musikalische Fähigkeit und die, den Text lesen zu 
können, handelt; leicht begreiflich, wie komplizierte Störungen in diesem Falle 
zustande kommen können. 

Die Kasuistik des VerL enthält instruktive und seltene, vielleicht einzeln da¬ 
stehende Beispiele isolierter und kombinierter Störungen einzelner Funktionen (Pat. 
mit dem Verluste der Fähigkeit, Töne und Akkorde erkennen zu können; Pat. mit 
den gestörten: fm t W, fm t f; Pat mit Störung in /m, f, /, r, fm, <**«>, 

u. a. m.) sowie eigene als auch aus der Literatur. Die Beschreibung der Fälle läßt 
sich aber im Referat nicht wiedergeben. Jor. Stuchlik (Rot-Kostdeo). 

Heveroch (92) setzt in dieser Mitteilung seine in dieser Zeitschrift wiederholt 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


163* 


referierten Studien über die Formen der Sprachstörung fort. Er beschäftigt sich 
mit den Störungen der Funktion f v der phatischen Funktion im Sinne seines be¬ 
kannten Schemas J /, -► /„ wobei /, die meristische, /, die arthrische Funk¬ 

tion bezeichnet Die amnestische Aphasie, die nach dem präziseren Schema 

y /, W. (a >°’ f) - 

"* fl e -+ f t (f>9r) f t (f,gr) 

entweder total sein oder nur die perzeptive resp. expressive Komponente 
der Funktion in sich einschließen kann, ist eine solche Sprachstörung, bei welcher 
der Kranke sich nicht an Worte, dejren er sich bei Äußerung seiner Gedanken münd¬ 
lich oder schtiftlich bedienen möchte, erinnern kann; das Wort ist ihm verloren 
gegangen, es fehlt in seinem Wortschatz. Er kann auch nicht sagen, wieviel Buch¬ 
staben und Silben hat das betreffende Wort, ist aber imstande — wenn die Störung 
nicht allzu tief liegt—beider Hilfe sich des Wortes doch zu bedienen oder es aufzu¬ 
schreiben. Dadurch unterscheidet sich der Aphatiker, dessen Zustand durch die 
Benennung „Amnesia verbalis expressiva“ präziser charakterisiert ist, von dem an 
Amerisia Leidenden, der wohl ebenfalls das Wort nicht sagen kann, aber doch auf¬ 
schreiben, oder umgekehrt oder -r- bei Amerisia totalis — kann es weder sagen, 
noch aufschreiben, aber genau angeben, wieviel Silben und Buchstaben es enthält. 
Der Ameritiker weiß beim Versprechen oder überhaupt schlechter Aussprache, wo 
der Fehler sitzt, ist aber nicht imstande, denselben zu korrigieren; der Aphatiker 
kann (aber braucht nicht immer) wissen, daß er Fehler gemacht hat, aber wo der¬ 
selbe liegt, ist ihm nicht bekannt Praktisch, bei klinischer Diagnose, die ja in 
leichteren Fällen unter Umständen sehr schwierig zu sein pflegt kann noch in Be¬ 
tracht gezogen werden, daß Aphatiker in der Regel zuerst wenig benutzte Worte 
verlieren, so daß die Worte des täglichen Umgangs nur in fortgeschrittenen Fällen 
ausfallen. 

Bei der Terminologie des Verfassers ist nicht zu vergessen, daß amnestische 
Aphasien anderer Autoren nicht denselben Zustand zu bezeichnen brauchen, und 
umgekehrt andere Termini für des Autors Störung geprägt werden. Detaillierte 
diesbezügliche Angaben sind im Original zu suchen. — Bemerkenswert bleibt noch, 
daß bei den meisten Kranken die Störung der phatischen (mnestischen) Funktion j 1 
beide Komponenten derselben (expressive und perzeptive) betrifft, so daß die 
amnestische oder pressive Aphasie resultiert (9 Fälle der Kasuistik Hjb); 
die reine motorische (expressive) und sensorische (perzeptive) läßt sich im Kranken¬ 
material aber auch konstatieren (3 Fälle der Kasuistik; bei einigen Patienten handelt 
es sich um das Überwiegen einer der genannten Komponenten). 

Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec). 

Heveroch (93) erörtert die Grundlage und Beschaffenheit der Surditas verbalis« 
Nach seinem Schema 

f t p(a) f t (a,o,t) «_ 


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164* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. * 

ist es leicht zu begreiren, daß: 1. die Vernichtung der Funktion /,(») “ »uditiv gich 
klinisch als gewöhnliche Taubheit zeigt; 2. die Störung in f t a die Unfähigkeit dar- 
stellt, aus den vernehmbaren Geräuschen und Lauten einzelne Worte aufzufassen 
oder aus den wahrgenommenen Vokalen und Konsonanten Worte zusammenzu¬ 
stellen. Die Störung muß als Surditas verbalis ameristica bezeichnet werden 
(= subkortikale sensorische Aphasie Lichtheims = Surditas verbalis pura Dfyerirus); 
3. die Störung in /“ dadurch gekennzeichnet ist, daß der Kranke das wahrgenommene 
gehörte (er kann es gut wiederholen) Wort nicht versteht: Surditas verbalis 
amnestica. Diese Störung, die auditive amnestische Aphasie, die haupt¬ 
sächlich darin besteht, daß der Kranke das Gesprochene, das er gut wiederholen oder 
als Diktat aufschjeiben oder sogar von sich selbst gut sprechen und schreiben kann, 
nicht versteht, nicht begreift, würde noch am besten der Lichtheiv, sehen transkorti¬ 
kalen sensorischen Aphasie entsprechen. Da aber die perzeptive / t und expressive j x 
beim Menschen in der Regel sehr innig verknüpft sind, finden wir eine isolierte 
Störung nur ausnahmsweise; die Kasuistik des Verf. ebenso wie die Kritik der 
Literaturfälle bestätigt nur diese Behauptung. Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec). 

Heverochs (94) allgemeines Schema für Sprachstörungen lautet: 

j x P(a,o,t) «_ f % p{a,o,:j fjp(a,o,z) 

wobei die perzeptiven (p)-Funktionen, d. i. die auditive (<*)-, optische (o)- und 
taktile (i)-Funktion und die expressiven (e)-, d. i. die phonische (/)- und graphische 
(yr)-Funktion durch in Klammern angeführten Buchstaben angedeutet sind. Je 
nach dem Sitze der Störung kann man unterscheiden: Amnesiaverbalis = Aphasia 
amnestica (gestörte /,), totalis (fi lp ’ e> ) oder partialis, und zwar: expressiva (f t e ) 
oder perceptiva Dasselbe gilt für die meristische (/ 2 )-Funktion, wobei die 

partiellen Formen der Störung unter selbständigen Namen bekannt sind, nämlich: 
die Amerisia expressiva partialis phonica (/ 2 <H/ ) = reine motorische Aphasie = 
Brocasche Aphemia, und die Amerisia expressiva partialis graphica (f. e{qri ) = reine 
Agraphie. Die Amerisia perceptiva (/ 2 ) partialis kann je nach der Störung dieser 
oder jener der drei angegebenen Funktionen sich als reine Alexie (/ 2 ^ 0) ) oder reine 
Worttaubheit = subkortikale sensorische Aphasie ( f 2 p{ai ) präsentieren; die Störung 
} a P( t] dürfte nur bei Erblindeten, die mit Hilfe des Betastens lesen können, vor¬ 
handen sein. Bisher ist aber kein derartiger Fall bekannt. Die Störungen f 3 gehören 
eigentlich nicht hierher, weil es sich nicht um Sprachstörung ss. handeln kann. 
Denn die gestörte/ 8 ° ist Blindheit, / 3 ° Taubheit, f 3 Verlust des Tastvermögens; 
bedeutet Lähmung, Kontraktur, Apraxie oder Ataxie der Muskeln, die dem Sprechen 
dienen, / 3 e ^ r >) die Lähmung, Kontraktur, Apraxie oder Ataxie der das Schreiben 
versorgenden Muskulatur. In der Terminologie II .s ist also mit dem Worte totalis 
die Afunktion (resp. Dysfunktion) .sämtlicher Komponenten einer / bezeichnet, mit 
dem Worte partialis nur eine von den 2—3 möglichen, und mit dem Worte 
combinata = complicata die Störung der Funktionen verschiedener Etagen (/). 
So z. B. Aphasia perceptiva combinata ist die Störung f x P + /,**, und dergleichen 
mehr. — Die klassische kortikale motorische Aphasie = Aphasia totalis combinata. 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


165* 


bei welcher die Störung der motorischen Funktion im Vordergründe steht; die 
kortikale sensorische Apraxie analog mit dem Hervortreten der gestörten sensorischen, 
perzeptiven Funktion. — Die Kasuistik H. s enthält einen Patienten mit Störungen: 
^(p,e) 4 - / a « — Aphasia amnestica totalis + Amnesia perceptiva optica; im Verlaufe 
der Krankheit (apoplektische Insulte) gesellten sich noch Störungen / 8 zu. Ferner 
einen mit f t K + f t ", eine Frau mit ähnlicher Störung, einen Mann mit stärker be¬ 
schädigtem f x * schwächer f x v , total alteriertem /,°y und beträchtlich gestörtem f 3 °l 
(v = verbalis, l = literaris). Eine Frau mit gestörten //' + fi p 4- /*" + f 3 . Und 
dergleichen mehr. Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec). 

Hübner (105) warnt, in der diagnostischen Verwertung der kongenitalen Lues 
als ätiologischem Moment allzusehr nach dem Grundsätze ,.Post hoc., ergo propter 
hoc“ zu verfahren. Sicher sei wohl unter den Entarteten die Syphilis stärker ver¬ 
breitet als unter den geistig Normalen. Für viele nervöse und psychische Störungen 
kongenital Luetischer sei die hereditäre Belastung durch die Entartung eines oder 
beider Eltern ein nie außer Rechnung zu setzender, ja oft wesentlicherer Faktor für 
die Erkrankung des Deszendenten als die Lues selbst. Von diesen Gesichtspunkten 
aus betrachtet Verf., zum Teil an der Hand von beobachteten Krankheitsfällen, die 
verschiedenen, mit ererbter Syphilis vergesellschafteten nervösen und psychischen Er¬ 
krankungen, z. B. Entartung, Schwachsinn, Chorea, Dementia praecox, und be¬ 
handelt endlich gesondert die Psychosen auf der Basis der kongenitalen Lues (Him- 
syphilis, juvenile Paralyse, Psychosen ohne Komplikationen von seiten der Motilität 
und Sensibilität und die postsyphilitische Demenz. 

Hunstein (107) stellt, nach einer Zusammenfassung der Allgemeinerscheinun¬ 
gen bei Himgeschwülsten, die einzelnen Herdsymptome und die Möglichkeiten der 
genaueren Lokalisation eines Tumors zusammen und beschreibt einen Fall von 
Sarkom im rechten Schläfenlappen bei einem 53 Jahre alten Manne. 

Die Arbeiten Jahne s (110, 111, 113, 115) beschäftigen sich mit der so 
außerordentlich wichtigen Frage des Vorkommens der Spirochaeta pallida im Para¬ 
lytikergehirn. Die Morphologie der Pallida wird eingehend beschrieben; J. macht 
besonders auf die mannigfachen Formen aufmerksam, die durch Verkürzung, Ein¬ 
rollung und Skelettierung zustande kommen. Die Methoden des Nachweises werden 
eingehend beschrieben. Es ist ein unzweifelhaftes Verdienst J. s, ein Verfahren 
ausgearbeitet zu haben, das bei völliger Unterdrückung der Fibrillenfärbung eine 
gute Darstellung der Spirochäten im Z.-N.-S. ermöglicht. Er kombiniert zu diesem 
Zweck die Silbermethode mit einer Vorbehandlung der Stücke in Urannitrat. 

Im Paralytikergehim kommt die Spirochaeta pallida nur in der grauen Sub¬ 
stanz vor. Im Mark konnte ./. sie nicht nachweisen. Sie findet sich am häufigsten 
und zahlreichsten im Stimhim. Nur einmal fand J. sie in dem weißen Streifen, 
die den Linsenkem durchziehen. Dreimal konnte er sie in den Stammganglien 
nachweisen. Auch im Kleinhirn war sie darzustellen. Theoretisch von .großer Be¬ 
deutung ist der Umstand, daß es ,/. nicht gelang, in andern Organen des Para¬ 
lytikers als im Z.-N.-S. Spirochäten zu finden. 

In den Schnitten liegen die Spirochäten entweder bienenschwarmartig in 
dichten Haufen oder mehr diffus verteilt. Dabei finden sie «ich nicht etwa regel- 


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166’ 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


mäßig im Präparat verteilt, „sondern man findet Stellen mit vielen Spirochäten, in 
deren unmitttelbarer Nachbarschaft wieder ganz parasitenfreie Gegenden“. Be¬ 
stimmte Beziehungen zwischen den Gewerbsveränderungen einerseits und den Spiro» 
chäten andrerseits waren nicht nachzuweisen. ( Josephy.) 

Jahnel (112) bringt eine kurze Darstellung der Bedeutung der Lues, besonders 
der Spirochätenbefunde für Paralyse und Tabes. (Josephy.) 

Jendrassik (117) unterscheidet beim Verlauf der Infektion skrankh eiten die 
Immunität vom Heilprozeß (Bakteriolyse). Die relative Größe dieser Reaktionen 
des Körpers und eine auch bei andern Infektionskrankheiten bekannte Organaffinität 
erkläre die sets wechselnde Form der Lues und ihren zyklischen Verlauf. Hierbei 
entwickelte sich eine spezielle Organimmunität der einzelnen Organe, wodurch der 
Übertritt der Rezidive auf andere Lokalisationen erklärt werde. Als wirkliche 
Nervenlues erkennt Verf. nur die Tabes und die Paralyse an. Die übrigen Formen 
seien nur luetische Erkrankungen der Hirnhäute, der Gefäße und verursachten 
nur sekundäre Nervenerscheinungen. Erfolgreich sei die Behandlung der Lues nur 
während des aktiven Rezidivs möglich. Letzteres trete in den inneren Organen von 
Patienten unbemerkt ein, so daß diese meist zu spät ärztliche Hilfe suchten. Verf. 
hält deshalb häufige Prüfung Infizierter auf ihre Wa.-R. und Beobachtung durch 
Internisten für dringend notwendig. / . 

Kcmkeleit (121) bespricht ausführlich die Krankengeschichten zweier Fälle 
von Tumoren der Hypophysengegend. Im ersten Falle handelte es sich um einen 
zystischen Tumor am Infundibulum, dessen histologische Untersuchung ein Platten - 
epithelkarzinom ergab. Die Hypophyse war intakt Im zweiten Falle fand sich 
ein knochenharter, zystischer Tumor in der Hypophysengegend, mit Zerstörung der 
Hypophyse und Durchbruch in die Keilbeingegend. 

Karl (123) untersuchte in 16 Fällen das Rückenmark von Paralytikern. Es 
fand sich ein Parallelgehen der Hinterstrangserkrankung mit der Pupillenstarre, 
ferner starke Inkongruenz zwischen den klinisch beobachteten spastischen Sym¬ 
ptomen und den anatomisch feststellbaren Seitenstrangerkrankungen. Am Rücken¬ 
mark von Kranken in höherem Lebensalter mit organischen Erkrankungen fanden 
sich wenig charakteristische Veränderungen. Außerdem werden noch die Rücken¬ 
marksbefunde bei einigen Fällen sonstiger Himkrankheiten besprochen. (Josephtfy) 

Kastan (125) beschreibt einen Fall von Chorea paralytica, bei dem die Sektion 
einen graugrünen, sich nach hinten vergrößernden Erweichungsherd ergab, aber die 
ganze innere Kapsel, den ^insenkem, die graue Substanz des Hypothalamus ein¬ 
nahm und nach außen von der äußeren Kapsel begrenzt wurde, während die untere 
Grenze ziemlich scharf über dier Substantia perforata anterior abschloß. — Intra 
vitam hatte der Kranke, ein 16 V*jähriger Laufbursche, außer den typischen choreati¬ 
schen Symptomen außergewöhnliche psychische Erscheinungen geboten: Unorien- 
tiertheit, Ideenflüchtigkeit, Amnesie und ein eigenartig negativistisches Verhalten« 

Kaupp (126) führt über die Zuverlässigkeit der Wa.-Re. folgendes aus: L Seine 
trotz sorgfältigster Beobachtung der Vorschriften der Wa.-Re. bei den Kontroll- 
untersuchungen an verschiedenen Untersuchungsstellen in einem erheblichen Pro¬ 
zentsatz der Fälle unter sich widersprechende Resultate erhalten; auch bei Ver- 


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Brenn ecke, Organische Psychosen. 


167* 


Wendung der gleichen Extrakte und Immunsera und mit staatlich geprüften Agentien 
seien die Erfolge nicht besser gewesen. 2. Übereinstimmendere Resultate dagegen 
seien erzielt bei Verwendung desselben Aktivserums trotz Verschiedenheit des hämo¬ 
lytischen Serums und des Extraktes. 3. Von einer zuverlässigen Methode müsse 
nicht allein Übereinstimmung in den Resultaten, sondern auch für den klinischen 
Bedarf hinreichende Empfindlichkeit verlangt werden. ' Die Originalmethode ent¬ 
spreche keiner der beiden Forderungen. Die im Münchener Hygien. Institut ange¬ 
wandte „quantitative Methode“ beruhe auf erkannten Gesetzmäßigkeiten zwischen 
hämolytischem Antiserum und Aktivserum, auf genauer Kenntnis der Wirksamkeit 
der Extrakte und der Patientensera; sie lasse durch die Art der Anordnung die Ge¬ 
fahren unspezifischer Hemmungen vermeiden. 

König (130) führt an der Hand einer großen Anzahl von Untersuchungen aus, 
daß die L letinreaktion sich heute zu einer praktischen Verwertung in differential- 
diagnostischer Beziehung noch nicht eigne. 

Lohmeyer (147) schildert in großen Umrissen die Allgemein- und Herderschei¬ 
nungen bei Hirntumoren und beschreibt einen Fall von Tumor im linken Schläfen- 
lappen bei einer 52 jährigen Frau. Die klinische Diagnose wurde durch den Sek¬ 
tionsbefund eines Gliasarkoms im linken Schläfenlappen bestätigt. 

Lohmann (148) beschreibt die Krankengeschichte einer 50 jährigen Frau mit 
Dystrophia adiposogenitalis, Trockenheit der Haut, fehlender Behaarung der Achsel¬ 
höhlen und Genitalgegend, Sehstörungen, Störungen der Reaktion der rechten Pu¬ 
pille, Lähmung des rechten Oculomotorius und Läsion des rechten N. opticus. 
Außer diesen Herdsymptomen wurden als Allgemeinerscheinungen anfangs Kopf¬ 
schmerz, Übelkeit und Erbrechen, später psychische Störungen beobachtet. Die 
klnische Diagnose lautete auf Hypophysentumor. Die Sektion ergab einen haselnu߬ 
großen zystischen Tumor, der unter dem Chiasma n. opt. gelegen, am Hypophysen¬ 
dach in der Gegend des Hypophysenstiels fest verwachsen war. Der rechte N. opticus 
zeigte an seiner Abgangsstelle Adhäsion an den Tumor. 

Maschmeyer (156) erörtert die Frage über den Zusammenhang zwischen mul¬ 
tipler Sklerose und Unfall Statistisch verwertbar sind nach Ansicht des Verf. nur 
solche Fälle, in denen 1. der Unfall von einer gewissen Schwere und seiner Art nach 
geeignet war, das Zentralnervensystem erheblich zu erschüttern; 2. zwischen Unfall 
und Beginn des Nervenleidens mindestens einige Wochen, höchstens 1 Jahr ver¬ 
flossen sind, und 3. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein schon vor dem Unfall 
vorhandenes Nervenleiden ausgeschlossen werden kann. 2 Bis jetzt blieben nach Aus¬ 
merzung aller, diesen Forderungen nicht genügenden Fälle höchstens 5—10% Er¬ 
krankungen an multipler Sklerose übrig, in denen die Möglichkeit eines ätiologischen 
Zusammenhanges mit dem Unfall gegeben sei. Eine endgültige Lösung der Frage 
sei erst nach Klärung der Pathogenese der multiplen Sklerose möglich. Mit der Fest¬ 
stellung der entzündlichen Entstehung der Erkrankung würde die Rolle des Traumas 
sehr in Frage gestellt werden. 

Müller , Rudolf (166) bespricht den Wirkungsmechanismus und den thera¬ 
peutischen Wert der parenteralen Proteinkörpertherapie. Er erklärt die therapeuti¬ 
sche Wirkung auf akut entzündliche Erscheinungen aus der durch die parenterale 




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168* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


Zufuhr artfremden Eiweißes vermehrten Hyperämie und Transsudation in Ent¬ 
zündungsherden des Körpers. „Auf diesem Prinzip könnte wenigstens zum Teil 
der Erfolg der Behandlung von Paralytikern nach v. Wagner beruhen.“ Wenn diese 
auf klinischer Bebachtung sichtbaren Entzündungsherde basierte Anschauung 
richtig sei, dürfe sich ein Ausbau der Paralysetherapie als möglich erweisen. 

Die kurze Arbeit Neergarda (171) enthält die Beschreibung einer — nach der 
Angabe des Verf. durchaus brauchbaren — improvisierten Apparatur für Mikro¬ 
photographie. Außerdem bringt sie eine lesenswerte Darstellung der Theorie und 
Praxis der Mikrophotographie. (Josephy.) 

Oppenheim (181) stellt als differentialdiagnostische Momente zwischen mul¬ 
tipler Sklerose und Pseudosklerose folgendes auf: 1. Multiple Sklerose: selten in 
Kindheit und Pubertät, meist später; Pseudosklerose: umgekehrt. 2. /Multiple 
Sklerose: Keine RoBe der Heredität und Familiarität, Pseudosklerose: oft familiäres 
Auftreten. 3. Zittern ist bei der multiplen Sklerose streng an die aktiven Bewegungen 
gebunden, bei der Pseudosklerose bei Bewegungen und psychischen Bewegungen. 
4. Muskeltonus beiderseits erhöht, aber bei der mult. Ski. fast stets nur in den 
Beinen, bei der Pseudosklerose vom Typus der Paralysis agitans. 5. Parese bei der 
mult Ski. konstant, bei der Pseudoski. keine dauernde Lähmung oder erst sub finem. 
Mult SkL: selten apoplektiforme oder epileptiforrne Anfälle, Pseudosklerose: Auf¬ 
treten von Lähmungszuständen bes. nach apoplektiformen Anfällen. 6. Bewegungs¬ 
ataxien bei der mult. Ski. ziemlich häufig, bei der Pseudosklerose selten stark aus¬ 
gebildet. 7. Zerebellare Ataxien bei der mult. Sklerose typisch, bei der Pseudo¬ 
sklerose selten. 8. Adiadochokinesis bei beiden häufig. 9. Optikussymptome bei 
mult. Sklerose häufig, bei der Pseudosklerose höchstens Hemeralopie. 10. Augen¬ 
muskellähmung, Nystagmus, Schwindel, Sensibilitätsstörungen, Blasen- und Mast¬ 
darmsymptome sind bei der mult. Sklerose typisch, bei der Pseudosklerose sehr 
selten und wenig hervortretend. 11. Bauchreflexe bei der mult. Sklerose meist, bei 
der Pseudosklerose nicht selten erloschen. Pro- und Retropulsion nie bei der mul¬ 
tiplen, selten bei der Pseudosklerose. 12. Psychische Störungen kommen bei der 
mult. Ski. nur leicht und selten, meist sub finem vois bei der Pseudosklerose häufig 
und früh in Form von Demenz und Wutausbrüchen. 13. Krämpfe in beiden Fällen 
selten, Zwangslachen häufig. 14. Pigmentation der Cornea bei der multiplen Sklerose 
nie, bei der Pseudosklerose oft. Der Verlauf der multiplen Sklerose erfolgt in Schüben, 
nur ausnahmsweise in einfacher Progression; dagegen der der Pseudosklerose ist einfach 
progredient, mit apoplektiformen Anfällen, passageren Lähmungen und ausnahms¬ 
weise echtem Rezidivieren und Exazerbieren. 

Oppenheim (183) behandelt in einer umfassenden Arbeit (136 S.) die Kriegs¬ 
verletzungen des peripherischen Nervensystems. Die Symptome der Verletzungen 
des Medianus und der Ulnaris werden eingehend erörtert, ebenso die Verletzungen 
der Nerven der unteren Extremitäten. Ferner läßt sich Verf. unter gleichzeitiger 
Berücksichtigung der Forschungsergebnisse anderer Autoren über die Frage der 
Regeneration aus und bespricht dieFolgeerscheinungen gröberer Verletzungen auf 
motorischem, sensiblem und trophischem, vasomotorisch-sekretorischem Gebiete. 
Den theoretischen Erörterungen schließt 0. als Kasuistik die Krankengeschichten 
von 63 Beobachtungen von Verletzung peripherer Nerven an. 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


169* 


Pde ( 186 ) beschreibt in seinen kasuistischen Beiträge^ • zur Lehre von den 
Rückenmarksgeschwülsten einen Fall von völlig isolierter und dann seift ausgedehnter 
Tuberkulose der Dura des R.-'M., die in ihrer Masse und in ihrer Isoliertheit wie ein 
«xtraduraler Tumor imponierte; ferner einen Fall einer operativ behandelten Pachy- 
meningitis oder Peripachymeningitis des R.-ä£, deren Pathogenese nicht mit 
Sicherheit festzustellen war; endlich einen Fall von intramedullärem Tumor des 
Lumbo-Sakralmarkes, der sich mikroskopisch als ein Angiom darstellte. 

von Rad (198) beschreibt 4 Fälle von Psychosen bei Tabes und vertritt in 
der kritischen Besprechung der Fälle die Ansicht, daß die zu allermeist akut, ver¬ 
laufenden halluzinatorisch-paranoischen Formen als Tabespsychosen anzusprechen 
seien. Schwieriger sei die Bewertung der kurzdauernden, deliranten Erregungs¬ 
zustände. Nicht selten kämen Veränderungen der ganzen psychischen Wesensart 
der Tabiker meist in Form von Veränderungen der Affektlage oder Defekten des 
ethisch-moralischen Empfindens vor. Die Annahme des Vorkommens einer tau¬ 
schen Demenz hält Verf. für sehr schwach begründet und mehr für eine Erschei¬ 
nung der geisttötenden Eintönigkeit eines Kranken- oder gar Siechenhauses. Bei 
Tabikern, die in der Familie verpflegt wurden, sei das Auftreten einer Demenz 
überaus selten. Bei den andern im Verlauf einer Tabes vorkommenden Geistes¬ 
störungen’ handle es sich um zufällige Kombinationen. 

Raecke (199) betont die hohe Bedeutung der neueren Spirochätenbefunde 
im paralytischen Gehirn nicht nur für die pathologische Histologie und Patho¬ 
genese, sondern auch für die Klinik. Er glaubt aus der Feststellung, daß die Spiro¬ 
chäten gerade dort vorwiegend angetroffen werden, wo durch die alten Färbe¬ 
methoden die stärksten Gewebsveränderungen nachgewiesen wurden, ein sicheres 
Anzeichen des engen kausalen Zusammenhanges zwischen Spirochätenaussaat 
und paralytischer Rindenzerstörung annehmen zu können. 

In einer weiteren Arbeit, speziell betreffs der Dementia paralytica (200), 
führt Verf. aus: Die Spirochätenbefunde im paralytischen Gehirn machten jedoch 
zurzeit keine tief einschneidende Änderung in praktischer Beziehung erforderlich. 
Eine sofortige Erweiterung oder wesentliche Umgestaltung der Behandlungs¬ 
methoden sei nicht zu erwarten. Ein therapeutischer Einfluß auf die innerhalb 
der Ganglienzellen angesiedelten Spirochäten erscheine dem Verf. ganz unwahr¬ 
scheinlich. Von einer Steigerung der einzelnen Salvarsandosis oder von der Wahl 
eines noch kräftigeren Mittels sei eine durchschlagende Wirkung kaum zu erhoffen, 
eher noch von einer häufigeren und möglichst lange fortgesetzten Wiederholung 
kleiner Dosen. Ganz unberührt blieben die Spirochätenbefunde bisher von allen 
therapeutischen Maßnahmen, die, wie z. B. die Tuberkulinbehandlung, bezwecken, 
die Abwehrkräfte des Organismus gegen die Parasiten zu stärken. 

Redlich (204) beschreibt 6 Fälle eigener Beobachtung von Encephalitis pontis 
et cerebelli und streift die Ansichten anderer Autoren sowie die verschiedenen 
Fragen der Differentialdiagnose und Pathogenese der Erkrankung. 

Reichmann (207) berichtet über 2 Fälle von Schußverletzungen des Kleinhirns. 
von Rohden (218) berichtet in einer umfangreichen Arbeit über die Pathologie 
der Paralytikerfamilien, die er auf 70 Paralytikerfamilien eigener Beobachtung 


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170* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


stützt, n. a. folgendes j 1. In 77% der Fälle bot mindestens einer der Angehörigen 
serologische oder klinische Veränderungen, nur bei 23% blieb der schädigende 
Einfluß der Syphilis auf den primär erkrankten Ehegatten beschränkt 2. Von 62 
‘Paralytikerehegatten waren 70% pathologisch, 30% normal. Unter Hinzurech¬ 
nung der Beobachtungen anderer Autoren ( Hauptmann , Raven, Schacherl) erhöht 
sich die Zahl auf 72%. Von diesen zeigten 15% Pupillen- und Reflexerscheinungen 
bei negativem serologischen Befund, 23% positive Wa.-R. bei normalen klinischen 
Symptomen. Im ganzen war bei 64% die Wa.-R. +, nur 28% blieben gesund. 
3. Ein Viertel der Graviditäten in Paralytikerfamilien sind Fehl- und Totgeburten, 
ein weiteres Viertel starb im Laufe des ersten Jahres. 4. Die durch¬ 
schnittliche Kinderzahl einer paralytischen Ehe betrug 1,7. 6. Von 

den öberebenden Kindern hatten 19% organische Erkrankungen • des Zentral¬ 
nervensystems, 29% somatische oder psychische Degenerationsstigmata, 6% posi¬ 
tiven Wa. bei normalem klinischen Befund. 6. Die Paralyse an sich kommt als 
ursächlicher Faktor für die Schädigungen der Angehörigen nicht in Betracht. Der 
Paralytiker ist für seine Angehörigen nur insoweit gefährlich, als er noch Syphilitiker 
ist 7. Die Paralytikerkinder sind um so mehr gefährdet, je näher dem Zeitpunkte- 
der syphilitischen Infektion sie geboren sind. Die relativ günstigsten Befunde 
liefern die immittelbar vor oder nach dem Beginn der Paralyse geborenen Kinder. 
8. Die von einer Paralyse bedrohten Syphilitiker verlieren während der ganzen 
Dauer des paralytischen Inkubationsintervalls nicht ihre Infektiosität 9. Wahr¬ 
scheinlich zeigen alle „paralytischen“ Syphilitiker bis zum Beginn der Paralyse 
positive Wa.-R. (100%), wie nach Ausbruch der Lues. 

v. Rohden verwirft die Theorie von der Paralyse als einer nicht infektiösen 
syphilitischen Nachkrankheit (Metasyphilis). Auch vermag er die Annahme eines 
Virus nervosus mit dem Ergebnis seiner Untersuchungen nicht in Einklang zu bringen. 

Rosenfeld (222) schildert die Erscheinungen, die bei einem 20jährigen Manne 
nach Gewehrdurchschuß beider Frontallappen beobachtet wurden. Die Verletzung 
an sich verlief aseptisch und kam ohne entzündliche Reaktion zur Ausheilung. 
Der Pat zeigte in den ersten 3 Tagen ganz geringfügige Hirndrucksymptome, 
fast 2 Monate lang psychische Störungen nach Art eines katatonischen Stupors 
und endlich eine eigentümliche Störung des Gehens und Stehens nach Art der 
frontalen Ataxie. Letztere und zum Teil auch den Stupor erklärt Verf. aus der 
Verletzung des motorischen Assoziationsgebietes in den Frontallappen (Franz), 
in dem die vorbereitenden psychischen Vorgänge der willkürlichen Bewegungen 
oder die Bewegungsvorstellungen lokalisiert sind. Nach Auffassung Flechsig* ist 
dieses frontale Assoziationsgebiet hauptsächlich der Sitz der Willensakte. 

Schaffer* „Himpathologische Beiträge“ (234) aus dem Budapester Institut 
bringen in dem zum Referat vorliegenden Heft (II, 1) zwei Arbeiten von Schaffer, 
die sich mit dem Problem der normalen und pathologischen Himfurchung bei 
schattigen; von demselben außerdem einen Beitrag zur Histopathologie der proto¬ 
plasmatischen Neuroglia. (Josephy.) 

Richter (209) bringt einen Fall von atypischer multipler Sklerose —klinisch 
der amyotrophischen Lateralsklerose nahestehend, ununterbrochen, ohne Schub, 


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Brennecke, Organische Psychosen. 


171* 


verlaufend; anatomische Herdbildong, der Gefäßverteilung entsprechend und 
trotz des chronischen Verlaufe mit mesodermalen Infiltraten. Er beschreibt ferner 
(210) einen einzigartigen Fall von Stirnhirnschwund mit Verblödung. Bezüglich 
der zahlreichen Einzelheiten muß auf das Original verwiesen werden. ( Josephy .) 

Seelert (249) stellt in seiner Abhandlung auf Grund der Untersuchung von 
Familienangehörigen von 80 Paralytikern und 10 Tabikern fest, daß Syphilis und 
syphilogene Nervenkrankheiten bei Familienangehörigen der Paralytiker und 
Tabiker, die sich wenige Monate vor oder während der Ehe infiziert hatten, wesent¬ 
lich häufiger gefunden werden, als bei den Angehörigen der andern, deren Infektion 
3 oder mehr Jahre vor der Heirat erfolgt ist. Die Schädigung der Nachkommen¬ 
schaft durch die Syphilis ist in den Fällen am schwersten gewesen, in denen 
der Vater sich während oder knrz vor der Ehe infiziert hat. 

Die Frage, ob ein Syphiliskranker, der sich aus frischer Infektionsquelle, 
d. h. von einem erst kurz vorher infizierten Menschen, die Lues zuziebt, hinsichtlich 
der Entstehung syphilogener Nerve nkrankh eiten mehr gefährdet sei als ein anderer, 
der durch einen schon lange an Syphilis leidenden Kranken infiziert wurde, läßt 
Verl offen. 

Singer (267) beschreibt in seinen kasuistischen Mitteilungen einen bemerkens¬ 
werten Fall von Thomsenscher Krankheit bei einem 36 jährigen Kriegsteilnehmer, 
ferner einen Fall von Meningitis cerebrospinalis epidemica, beobachtet an einem 
26jährigen Soldaten, und endlich einen schweren Fall von Polyneuritis dysenterica. 

Steiner (266). Die Spirochaeta pallida tritt sehr früh, schon in der frühen 
Sekundärperiode, im Z.-N.-S. aul Dementsprechend ist das Z.-N.-S. bei allen 
Frühfällen von Lues genau zu untersuchen; bei irgendwelchen klinischen Erschei¬ 
nungen ist die Lumbalpunkäon vorzunehmen, und die Behandlung ist erst dann 
abzuschließen, wenn die Liquorsymptome beseitigt sind Bei Frühsyphilis liegen 
die Spirochäten in enger Beziehung zum Blut- und Lymphgefäßsystem, bei Spät¬ 
lues, besonders bei progressiver Paralyse, findet sich eine herdförmige Durch¬ 
setzung des Parenchyms. Die Spirochäten müssen zu irgendeiner Zeit aus der Blut- 
und Lymphbahn in das eigentliche Nervengewebe eindringen. „Die Möglichkeit 
liegt nahe, daß dieser Übergang sich klinisch besonders deutlich ausdrückt“ (Er¬ 
regungszustand, Anfälle, Manifestwerden der Geisteskrankheit nach einem neur- 
asthenischen Vorstadium). Es finden sich hier Analogien zur Hühnerspirochätose. 
Die Theojie von der neurotropen Spirochätenabart lehnt SL ab. Er konnte zeigen, 
daß ein volivirulenter Spirochätenstamm durch Zusatz von Paralytikerliquor eine 
deutliche Virulenzabschwächung erfährt; die verlängerte Inkubationszeit bei Impfun¬ 
gen mit spirochätenhaltigem Material aus Paralytikergehirnen ist also kein Grund 
für die Annahme einer besonderen Spirochätenabart. ^ ( Josephy .) 

t Stern (271) berichtet an der Hand von 4 Fällen von epidemischer Genick¬ 
starre über die Erfolge und Aussichten der Serumbehandlung der Zerebrospinal- 
meningitis. Verf. legt in Übereinstimmung mit andern Autoren großen Vert auf 
die möglichst frühzeitige Einleitung der Seruminjektionen, hält aber die Kom¬ 
bination der intrakameralen Anwendung des Serums mit Optochin (Friedemann) 
oder Protargol (Wofff) in manchen Fällen für ratsam. 

Zeitschrift für Psychiatrie- LXXV. Lit- Dl 


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172* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


Taussig (278) entwirft auf Grund seiner Kasuistik folgende Einteilung der 
großen Gruppe der Pseudoparalysen: luetische und nicht luetische. Unter den 
letzteren kann man weiter unterscheiden: Intoxikations-, Auto in to xikations-Para 
lysen und auf der Basis der organischen Zerebropathien entstandene Pseudopara¬ 
lysen. Diese Einteilung ist hauptsächlich für die diagnostische Praxis bestimmt; 
rein systematologisch müßte man pathologenetisch einteilen, und so müßten auch 
die sehr seltenen pseudoparalytischen Zustände auf der Basis der Inanitionszustände 
der Amentia und noch einige andere hierher gerechnet werden. Die Intoxikations* 
paralysen sind meistens alkoholischen Ursprungs; selten infolge Vergiftung, noch 
seltener die Autointoxikationspseudoparalysen bei Diabetes oder Urämie. Von 
organischen Zerebropathien sind die diffuse Arteriosklerose mit folgender En- 
zephalomalazie, die multiple Sklerose und die Geschwülste des Frontallappens als 
Grundlage des pseudoparalytischen Bildes zu nennen. Die Diagnose gegen Para¬ 
lyse ist meist leicht; der Pupillarreflex ist immer erhalten (Autor beobachtete nur 
einen Fall mit Robert Argyllsomchem Phänomen, sonst war die Reaktion immer 
erhalten); psychisch charakterisiert die stetige Abnahme und Veränderung sämt¬ 
licher seelischer Fähigkeiten die echte Paralyse in den meisten Fällen genügend. 
Biologisch ist die Feststellung schon nicht so eindeutig, Ausnahmen sind häufig. 
Die schwierigste Differentialdiagnose zwischen der Paralyse und luetischer PBeudo- 
paralyse stößt oft auf unüberwindliche Hindernisse; die Inkubationszeit, die bei 
der letzteren ebenso lang sein kann wie bei der Paralyse, die körperlichen und 
psychischen Merkmale, die eventuellen Erfolge der antiluetischen Therapie, der 
Verlauf, der Ausfall der vier Reaktionen — das alles bestimmt nicht die Diagnose. 
Vielleicht gehört aber das definitive Schlußwort doch den biologischen Methoden; 
ihre weitergehende Verfeinerung ist aber Voraussetzung dazu. 

Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec). 

Tintemann (280) beschreibt die Krankengeschichte eines Falles angeborener 
Erkrankung des Kleinhirns bei einem 34jährigen Manne. Bei dem Pat war das 
Hauptsymptom der Kleinhirnagenesie, die Inkoordination, in den unteren Ex¬ 
tremitäten und im Beckengürtel sehr prägnant ausgesprochen. Das Krankheits- 
bild bot, zusammengefaßt, folgendes: Bei der Geburt Enzephalozele. Später 
Zurückbleiben in der geistigen Entwicklung, spätes und unvolkommenes Gehen 
und Sprechenlernen. Später Kleinhirnataxie, Sprachstörung, Idotie und Diabetes 
mellitus. Dem entsprach pathologisch-anatomische Hypoplasie und partielle 
Agenesie des Kleinhirns mit Beteiligung des Nucleus dentatus und Verkümmerung 
der Olivenformation. Unterentwicklung der Fibrae arenatae der Medulla ob- 
longata und der Querfaserung der Brücke. Mangelhafte Entwicklung der Gro߬ 
hirnrinde. 

Treupel (281) berichtet an der Hand von 10 mit Salvarsan behandelten Fällen 
von Paralyse und Tabesparalyse über den therapeutischen Wert des Salvarsan 1 
folgende^: „Paralysen bessern sich unter Salvarsanbehandlung zunächst glänzend,* 1 
doch sei 'der erzielte Erfolg nur ein Trugbild. Trotz guter Behandlung weiche die 
Besserung einer mehr oder minder großen Verschlimmerung; nach den Erfahrun¬ 
gen der Jenaer Hautklinik trete gewöhnlich innerhalb eines Jahres nach Aufhören 


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Laehr, Neurosen. 


173* 


der Behandlung der Tod ein. Eine starke Salvarsanbehandlung scheine also den 
Verlauf der Paralyse eher etwas abzukiirzen. — Für Taboparalysen gelte dasselbe. 
Tabesfälle dagegen würden wesentlich gebessert, und die erzielte Besserung halte an. 
Verf. rät daher, Paralysen und Tabesparalysen nur mit größter Vorsicht mit Sal- 
varsan zu behandeln, dagegen bei Tabes Salvarsan möglichst frühzeitig und aus* 
giebig anzuwenden. 


9. Neurosen. 

Ref.: Hans La ehr-Zehlendorf. 

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sonscher Epilepsie mit Röntgenbefund. Neurol. Zen¬ 
trale. S. 74. 

8. Barth, Ernst (Charlottenburg), Die psychogenen Lähmungen 

der Stimme, Sprache und des Gehörs. Med. Klinik 
S. 1330. (S. 201*.) 

9. Bauer, Joachim (Stuttgart), Hysterische Erkrankungen bei 

Kriegsteilnehmern. Arch. f. Psych. Bd. 57, S. 139. 

10. Bauer, Julius (Wien), Myasthenia gravis pseudoparalytica 
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Radialis. Ermüdbarkeit. Parotishyperplasie mit Ge¬ 
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Original fro-rri 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



174* . Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

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Laehr, Neurosen. 


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Original fro-rri 

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62. Fürnrohr, Wilh. (Ingolstadt), Das ideogene Moment in der 

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79. Halbey, Die unter dem Begriff der „nervösen Störung der 

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Orig., Bd. 32 (1916), S. 288. 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


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von Lues. Zentralbl. f. inn. Med. S. 202. 

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120. Kalmus, E. (Hamburg), Die aktive Behandlung der Kriegs¬ 

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121. Kaufmann, F. (Mannheim), Bemerkungen zur Therapie der 

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u. Psych., Ref. Bd. 14, S. 484. 


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125. Derselbe, Psychogene Störungen des Auges und des Gehörs. 

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135. Kraus, C., Jod, Schilddrüse und Arteriosklerose. Hier. d. 

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137a. Qersäöe, Hysterische Erkrankung und hysteri •n= g-- 
;>• / ZtsänV f. d. ges. Neurpl. u. Psyclu. Qris* 

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147. Lev\>: Räbert (Berg zabern), Ubef die Resultate de* Kaut- 

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148. Lewamioivsky, Max (Berlin), Was kann in der Behamikm s 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


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Wschr. S. 65. 


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73. Meyers, F. C., Die Neurosen und unsre jetzige Unfall¬ 

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74. Möbius, A., Die Stimmbildungslehre Prof. Dr. Engels und 

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zur Kenntnis des Wesens des Mutismus. Mfinch. med. 
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179. Derselbe, Beitrag zur Diagnose und Therapie der Emotions¬ 

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Bd. 22 d. Neuen Deutschen Chir. (herausgeg. v. Küttner). 
Stuttgart, F. Enke. 201 S. — M. 9.40. (S. 197*.) 

182. Derselbe, Unfallneurosen. Diagnost. u. ther. Irrtümer u. 

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(S. 196*.) 

183. Derselbe, Über Myotonia atrophica, speziell über Symptome 

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Münch, med. Wschr. S. 1631. 

184. Neu, Hans (Ulm a. D.), Über zwei bemerkenswerte 

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186. Derselbe, Die Hemmungstendenz der Armbewegungen als 

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187. Nießl v. Mayendorf, E. (Leipzig),' Das ideagene Moment in 

der Entstehung des Zitterns bei Kriegsteilnehmern und 
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(S. 200*.) 


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Laehr, Neurosen. 


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Neurol. u. Psych., Ref. Bd. 14, S. 486. 

189. Derselbe , Über erfolgreiche Suggestivbehandlung der hy- 

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ges. Neurol. u. Psych. Orig., Bd. 37, S. 191. (S. 204*.) 

190. Derselbe und Wachsner (Hamburg), Therapeutische Erfolge 

in der Behandlung sog. Neurosen. Sitzungsber. Ztschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psych., Ref., Bd. 15, S. 271 
(S. 204*.) 

, 191. Oberndorf , C. P. (NewYork), Traumaticäl hysteria. New 

York med. journ., Okt. 

192. Oeconomakis, Milton (Athen), Akroasphyxia chronica und 

Akromegalie. Neurol. Zentralbl. S. 578. 

193. Oehme, Kurt (Göttingen), Demonstration eines 19jährigen 

jungen Mannes mit hypophysärer Dystrophie leichten 
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194. Oehmen (Kevelaer), Die Heilung der hysterischen Erschei¬ 

nungen in v Wachsuggestion. Deutsche med. Wschr. 
S. 463. (S. 204*.) 

195. Ohm, Joh. (Bottrop), Das Augenzittern der Bergleute und 

Verwandtes. Bericht, vorgelegt der von der Kgl. Preuß. 
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Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. H 


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212. Quensel, F. (Leipzig), Traumatische Neurosen, Unfall¬ 

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10. (S. 200*.) 

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Kriegsneurosen. Przegl. Hk. Nr. 41 u. 42. 

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en Holkemas Boekhandel. 164 S. Fl. 3.75. Ref. v. d. 
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Freiburg in gleicher Ztschr. 1916, S. 1782.) Münch, 
med. Wschr. S. 39. 


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242. Schmidt-Schwarzenberg, Richard, Die Psychose bei der Sy- 

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Regensburg im Jahre 1519 und 1520. Arch. f. Psych. 
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


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263. Stein. Leopold (Wien), Beitrag zur Methodik der Stotter¬ 

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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


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286. Derselbe , Zur Frage der sozialen Bedeutung der KrLgs- 

neurosen. Ärztl. Sachverst.-Ztg. S. 239. 

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289. Wagner, A. (Lübeck), Arbeitstherapie und Rentenab¬ 

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291. Walke, Karl (Prag), Über Hyperthyreoidismus und akute 

Basedowsche Krankheit nach typhöser Schilddrüsen¬ 
entzündung. Med. Klinik S. 357. 

292. Weber, L. W. (Chemnitz), Demonstration einer nach Kauf¬ 

mann geheilten Kriegshysterie. Sitzungsber.: Münch, 
med. Wschr. S. 5J>8. 

293. Derselbe, Hysterische Schüttelerkrankung und „Insuffi- 


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La ehr, Neurosen. 


195* 


cientia vertebrae“ Schanz. (Zu dem Aufsatze von 
Schanz in Nr 12.) Münch, nied. Wschr. S.6Q5. (S. 201*.) 

294. Derselbe, Zur Behandlung der Kriegsneurosen. Mönch. 

med. Wschr. S. 1234. (S. 204*.) 

295. Derselbe, Über den Mißbrauch der Diagnose „Hirnerschütte¬ 

rung“. Ärztl. Sachverst.-Ztg. S. 145. 

296. Derselbe, Neurosen. Diagnostische und therapeutische Irr- 

tümer und deren Verhütung, herausgeg. v. J. Schwalbe, 
H. 3, Leipzig, Thieme. 81 S. — M. 3.—. (S. 196*.) 

297. Weichbrodt, R. (Frankfurt a. M.), Über eine einfache Me¬ 

thode zur schnellen Heilung hysterischer Störungen. 
Sitzungsber. Neurol. Zentralbl. S. 175. 

298. Derselbe, Zur Behandlung hysterischer Störungen. Arch. 

f. Psych. Bd. 57, S. 578. 

299. Wertheimer, H. (Franzensbad), Hyperthyreoidismus nach 

Schußverletzung der-Schilddrüse. Wien. med. Wschr. 
Nr. 16. 

300. Westphal, A. (Bonn), Ein in der Schwangerschaft ex- 

azerbierender, durch operative Entfernung einer Zyste 
der motorischen Rindenregion wesentlich gebesserter 
Fall von Rindenepilepsie. Deutsche med. Wschr. S. 996. 
(S. 206*.) 

301. Derselbe, a) Über progressive neurotische Muskelatrophie. 

b) Über doppelseitige hysterische Amaurose. Sitzungs¬ 
ber. Deutsche med. Wschr. S. 1575. 

302. Wexberg , E. (Wien), Eine neue Familie mit periodischer 

Lähmung. Jahrb. f. Psych. u. Neurol. Bd. 37, S. 108. 

303. Weygandt, W. (Hamburg), Über Degeneratio adiposo- geni¬ 

talis. Arch. f. Psych. Bd. 57, H. 1. 

304. Derselbe, Atypische und sekundäre Fälle von Fettsucht: 

a) auf Grundlage von Enzephalitis bei Störung der 
Neurohypophyse; b) beruhend auf Coronardystrophie 
mit Hydrocephalus. Sitzungsber. Hamburger Ärzte- 
korr. S. 15. 

305. Derselbe, Die Sprachbehandlungstation Friedrichsberg. 

Sitzungsber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Ref., 
Bd. 14, S. 416. 


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196* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


306. Derselbe, Sekundäre hypophysäre Fettsucht. Sitzungsber. 

Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych , Ref., Bd. 15, S. 65. 

307. Wilde, A. (Lübeck), Paralysis agitans. (Ärztl. Gutachten 

auf dem Gebiete des Versicherungswesens, red. von 
H. Engel-Berlin.) Med. Klinik S. 427. 

308. Derselbe, Hysterie als Unfallfolge. (Ärztl. Gutachten auf 

dem Gebiete des Versicherungswesens, red. von H. 
Engel-Berlin.) Med. Klinik S. 506. 

309. Williamson. R. T. Remarks of the treatment of neu- 

rasthenia and psychasthenia following shell-shok. Brit. 
med. Journ. Nr. 2970. 

310. Wilmanns, R. (Heidelberg), Die Behandlung der Kranken 

mit funktionellen Neurosen im Dienstbereich des XIV. 
Armeekorps. Deutsche med. Wschr. S. 427. (S. 204*.) 
310 a. Derselbe, Die Wiederertüchtigung der an funktionellen 
Neurosen leidenden Kriegsbeschädigten. Kriegsbeschä¬ 
digtenfürsorge. 2. Jg., H. 3. 

311. Winter, G. (Königsbergi. Pr.) Die künstliche Unterbrechung 

der Schwangerschaft bei Stoffwechselkrankheiten und 
Störung der inneren Sekretion (Morbus Basedowii und 
Struma, Diabetes mellitus, Tetanie, Osteomalazie). 
Med. Klinik S. 931. 

312. Wolf, H. F . (New York), The treatment of the locomotoric 

ataxia by Maloney. New York med. journ., July. 

313. Wohlwill, Friedr. (Hamburg), AthSthose double. Sitzungs¬ 

ber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Ref., Bd. 15, 
S. 56. 

314. Wollenberg, Ri (Straßburg), Ein seltener Fall psychogener 

Kriegsschädigung. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 837. 

315. Derselbe, Wesen und Behandlung der Kriegsneurosen. 

Sitzungsber. Deutsche med. Wschr. S. 63. 

316. Derselbe, Traumatische Neurosen. Bruns Beitr. Bd. 101, 

Nr. 4. 

317. Derselbe, Psychopathische Persönlichkeiten im Kriege. 

Straßb. med. Ztg. H. 5. 

Wie bei den früheren Heften der Schwalbe sehen „Irrtümer und deren Ver¬ 
hütung“ werden von Weber (296) und Nägeii (182) die differentialdiagnostischen 


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La ehr, Neurosen. 


197* 


and therapeutischen Schwierigkeiten bei den einzelnen Krankheiten behandelt. 
Bemerkenswert ist, daß jede echte Chorea als Infektionskrankheit aufgefaßt werden 
muß, und daß Weber in einigen Fällen, namentlich bei starkem Fieber und schweren 
endokarditischen Symptomen, mit Erfolg Opsonogen oder ein anderes polyvalentes 
Serum gebraucht hat. (Bresler.) 

In den „Kriegsbeschädigungen des Nervensystems“ (96) hat Hezel die Schu߬ 
verletzungen der peripherischen Nerven, Marburg die Kriegsverletzungen des zen¬ 
tralen Nervensystems, Vogt die Neurosen im Kriege, Weygandt die Geisteskrank¬ 
heiten im Kriege bearbeitet. Die drei erstgenannten waren im Kriege neurologische 
Beiräte, We gandt psychiatrischer, also in der Lage, einschlägige Erfahrungen zu 
sammeln. An Einzelheiten sei hervorgehoben, daß Vogl rät, bei den Kriegsneuroti- 
kem die Diagnose Hysterie nur dann zu stellen, wenn die allgemeinen Erscheinungen 
eines hysterischen Zustandes gegeben sind; manche Einzelsymptome, wie z. B. die 
Massigkeit motorischer Ausdruckserscheinungen, legen schon allein den Gedanken 
der Hysterie nahe, aber sehr viele andere monosymptomatisch auftretende Zu¬ 
stände, auch die Lähmung einzelner Gliedabschnitte, berechtigen an sich keines¬ 
wegs zur Diagnose Hysterie. Weygandt nimmt an, daß jene Paralysefälle in der 
Armee, bei denen der Verlauf schneller ist als bei Friedensfällen, ohne die Kriegs- 
Schädigungen mit großer Wahrscheinlichkeit paralysefrei geblieben wären; auch 
Auslösung der Paralyse durch eine Schädelverletzung könne man schwerlich als 
ausgeschlossen oder als hochgradig unwahrscheinlich erachten; ähnlich bei Aus¬ 
bruch der Paralyse eines Kriegers in auffallend frühen Lebensjahren oder erweislich 
rasch nach Infektion. Aber einer allgemeinen Annahme von Dienstbeschädigung 
bei Paralyse der Feldzugteilnehmer könne nicht das Wort geredet werden. Bei Dem. 
praecox hat Wyegandt den Nachweis des Organabbaus nach Abderhalden , ins¬ 
besondere der Hirnrinde, des Hodens und einer oder zweier anderer innersekretori¬ 
scher Drüsen stets als eventuelle Bestätigung der Diagnose geschätzt. Weit mehr noch 
ab bei Paralyse soll man im allgemeinen zurückhaltend sein mit der Annahme 
einer Auslösung der Dem. praecox durch Mobilmachung oder Kriegsereignisse, 
aber die Möglichkeit läßt sich nicht von der Hand weisen, jedenfalls nicht eine 
Wahrscheinlichkeit nach schwerem Trauma. Das gleiche gilt vom manisch-depres¬ 
siven Irresein. (Bresler.) 

Nägelia Bearbeitung (181) ist Fr. Schultze (Bonn) gewidmet, „der zuerst für 
die richtige Auffassung der Unfallneurosen gekämpft und seine Ansicht dezennien- 
lahg bis zum schließlichen Siege verteidigt hat“, und schließt: „Die Prophylaxe 
kann nur dann irgendwelchen Erfolg haben, wenn die früheren vollkommen ver¬ 
kehrten und sozialschädlichen Auffassungen über Unfall- und Begehrungsneurosen 
in den Kreisen der Ärzte vollständig verbannt sind und die frühere Oppenheimache 
Lehre in vollem Umfange als Irrlehre von A bis Z durchschaut ist.“ Dadurch ist 
die Richtung gekennzeichnet. Nach Ansicht N. s ist es unter allen Umständen zu 
vermeiden, daß die unheilvollen pessimistischen Anschauungen, die so lange über 
dem Schicksal der Unfallneurotiker geherrscht haben, auch auf die Kriegsneurotiker 
übertragen werden. „Die Fortdauer der maßlos übertriebenen Einschätzung leichter 
nervöser Erscheinungen, wie sie noch vor wenigen Jahren allgemein in der Begut- 


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198* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

achtuog üblich war, könnte geradezu katastrophale Folgen nach sich ziehen, und 
zwar nicht nur für die Finanzen des Staates, sondern vor allem für das Gesund¬ 
werden und die Zufriedenheit der Bürger.“ Bas sehr reichhaltige Buch sei bestens 
empfohlen. Besonders beachtenswert sind die Parallelen zu den traumatischen 
Neurosen, bei denen ein Unfall überhaupt nicht in Rede steht. Die. Aufzählung 
der Abschnittsüberschriften möge einen Hinweis auf den Inhalt geben. 1. Begriff 
und Abgrenzung der Begriffe Unfall- und Begehrneurosen. 2. Einteilung der 
Sammelbegriffe Unfall- und Begehrneurosen. 3. Gab es Unfallneurosen vor dem 
Inkrafttreten der Unfallversicherungen, und gibt es Unfallneurosen ohne Ent¬ 
schädigungsansprüche? 4. Vorschlag zu einer psychologischen Bezeichnung in den 
heutigen Diagnosen auf dem Gebiete der Unfall- und Begehmeurosen. 6. Paral¬ 
lelen zu den Unfallneurosen. 6. Fehlende Parallelen. 7. Aus der Psychologie des 
Alltaglebens in Hinsicht auf die Entstehung der Begehrvorstellungen. 8. Die 
spezielle Psychogenese bei den Unfall- und Begehmeurosen. 9. Historisches zur 
Auffassung der traumatischen Neurosen bis zu den Monographien von Oppenheim 
10. Die völlige Wandlung unserer Auffassungen über Unfallneurosen seit 1892 bis 
heute. 11. Die Folgen der Überbewertung der Unfallneurosen. Die finanziellen 
Lasten. 12. Die Symptome der Unfall- und Begehmeurosen. 13. Das körperliche 
Verhalten und dessen Untersuchungen. 14. Vorkommen und Häufigkeit der Unfall- 
und Begehmeurosen. 16. Die Prognose der Unfallneurosen. 16. Die Frage der 
Simulation bei den Unfall- und Begehmeurosen. 17. Die Taxation der Erwerbs- 
einbuße. 18. Therapie und Prophylaxe. Literatur (12 S. in kleinem Drude). 

(Bresler.) 

Gegen Nägeli wendet sich Oppenheim (202) scharf und energisch, betont be-, 
sonders, daß er nie die organische Natur der traumatischen Neurose behauptet habe, 
sondern nur für viele Erscheinungen eine körperliche Grundlage annehme. Hier¬ 
gegen sprechen auch nicht die Nonne-Kaufmannschßn Erfolge, die nicht nur hysteri¬ 
sche, sondern auch andere nicht organische Erscheinungen verdrängen, zwar keine 
Heilung bedeuten, aber rasch arbeitfähig machen und deshalb nicht zu unter¬ 
schätzen sind. 

. Quensel (212) und Horn (104) betonen die Notwendigkeit, die Unfall- und 
Kriegsneurosen nach ätiologischen Gesichtspunkten zu sondern, wodurch größere 
Klarheit gewonnen und zugleich praktischen Forderungen genügt wird. 

Birnbaum (16) sucht in sehr lesenswerter Abhandlung einen gangbaren Weg 
durch die Schwierigkeiten hindurch, die sich der Aufstellung und Abgrenzung der 
psychogenen Störungen entgegenstellen. 

Pick (207) führt das Vorbeireden im hysterischen Dämmerzustand auf eine 
diesem eigentümliche, psychologisch als Abstraktion (innerhalb der Teilempfindun¬ 
gen) zu qualifizierende Einengung des Blickfeldes zurück. 

Cimbal (32) faßt unter Zweckneurosen Krankheitsformen zusammen, die — 
ausgelöst durch Vermittlung starker krankhafter Affekte, meist solcher der Abwehr, 
selten des Wunsches oder der Begehrung — zwar zweckwidrig erscheinen mögen, 
aber doch tatsächlichen Lebenszwecken des Kranken entsprechen. Sie treten je 
nach der äußeren Lage als Kriegs- oder Unfallneurosen, Verantwortungs- oder 


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Laehr, Neurosen. 


199* 


Haftpsychosen auf. Arbeitverstfche steigern die gereizt selbstbewußte und gekränkte 
Stimmungslage zu einer Erregung, deren körperliche Zeichen (Blutdruckspannung 
Pulsänderung, Schwitzen) nicht willkürlich zu erzeugen sind, und zugleich ist die 
Arbeitkurve gekennzeichnet durch das Auftreten überstarker, unregelmäßiger 
Schwankungen und Fehler oder durch plötzliche Unterbrechung infolge von Beiz¬ 
erscheinungen (Schwindel, Augenmuskel-, Herzschmerzen). — Zbgrunde liegt die 
Affektspannung, deren Ausdrucksform sich dem Willen entzieht, während der 
Affekt selbst in hohem Maße durch die Willensrichtung gesteigert oder unterdrückt 
werden kann; Willenssperrungen und „Mätzchenbildungen“, die das Krankheits¬ 
bild bestimmen, gestalten sich nach Lage und zufälligen Umständen verschieden. 
Selten beruht die Zweckneurose allein auf nervöser oder seelischer Unterwertigkejt, 
meist besteht daneben ein tatsächlich begründetes Schwächegefühl, oft schwere 
Organkrankheit oder nervöse Erschöpfung, deren Unlustaffekte die Unlustaffekte 
der Zweckneurose zu verstärken geeignet sind. Der Befand beim Arbeitversuch 
gestattet die Trennung der einzelnen Krankneitsformen und ihrer Beteiligung am 
Krankheitsbilde. 

Märchen (176) bestätigt an größerem Material seine frünere Feststellung 
(s. diese Ztschr. Bd. 74, S. 90*), daß es traumatische Neurosen bei Kriegsgefangenen 
fast gar nicht gibt. Himerschütte rang haben anscheinend viele Gefangene durch¬ 
gemacht, manche nach eigener Angabe auch zeitweise die Herrschaft über Glieder 
oder Sprache eingebüßt, aber eben bald wiedererlangt. Wie man also auch die 
Wirkung des Traumas sich denkt, sie heilt in der Gefangenschaft fast regelmäßig 
aus. Die Gefangennahme wirkt als Entlastung, zugleich muß der Gefangene sich 
der neuen Lage anpassen, ihm fehlt das Mitleid der Umgebung, es fällt die Aussicht 
auf Rückkehr zur Front, die Dienstbeschädigungsfeststellung weg. Rückfälle kamen 
vereinzelt nach Untersuchung zu bestimmten Zwecken. Hiernach unterscheidet M. 
primären und sekundären Innervationsschock. Jener ist am meisten verwandt dem 
blinden Zwange posthypnotischer Suggestion. Es sind psychisch Kranke, nicht or¬ 
ganisch Verletzte. Dagegen ist der sekundäre Innervationsschock oft psychogen. 
Ältere Störungen werden häufig sekundär geworden sein, d. h. durch Mitwirkung 
bewußten oder unterbewußten Denkens unterhalten werden, während andere noch 
primär sind, indem z. B. eine Funktionseinheit durch psychische Blockierung der 
Innervation dauernd ausgeschaltet ist. Andrerseits kann die Störung von vornherein 
sekundär sein, wenn der durch den Schock gesetzte affektive Eindruck erst später 
unter Mithilfe bestimmter psychischer Bedingtheiten (z. B. Sorge vor der Front 
oder Wunsch nach Rente) zum Innervationsschock führt, womöglich nach Heilung 
eines primären Innervationsschocks. „Zweckneurose“ und „Begehrungsvorstellung“- 
tut den Leuten Unrecht und paßt auch nur auf sekundäre Fälle. Dagegen „Situa¬ 
tionspsychose“ paßt für viele. In einem späteren Aufsatze (177) berichtet M., daß 
er Reflexlähmungen auch bei Gefangenen in größerer Anzahl gefunden hat, meist 
als neurotische Überlagerung anatomischer Läsionen, oft zentripetal von der Ver¬ 
wundungsstelle. Die besondere Lage der Gefangenen, die die Entwicklung psycho¬ 
gener Neurosen verhindert, beeinflußt also nicht die Entwicklung solcher Reflex¬ 
lähmungen. Auch das zeigt deren Sonderstellung und läßt sie als unmittelbare 


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200* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


somatische Schockwirkung auffassen. Zwischen organischer (pathologisch-ana¬ 
tomischer) Änderung und Psychogenem steht die somatisch-funktionelle Leitungs¬ 
änderung, die auch in bezug auf psychische Beeinflußbarkeit in der Mitte steht (vgL 
M., ref. Bd. 74, S. 162*, und Bäbinskis troubles physiopathiques). 

Genauer hat Rosenleld (223 und fast gleichlautend 222) solche funktionellen 
Extremitätenlähmungen verfolgt Er fand bei 9 reinen (d. h. weder mit ausge¬ 
sprochen hysterischen oder neurasthenischen Zuständen noch mit ausgedehnten Zer¬ 
trümmerungen von Knochen und Muskeln verbundenen) Fällen übereinstimmend 
schlaffe Lähmung auf der Seite der Verletzung, keine Störung der elektrischen 
Erregbarkeit oder der Sehnenreflexe, dagegen Sensibilitätsstörungen, anfangs völlige 
Anästhesie, später Störungen der Schmerzempflndlichkeit dazu angioneurotische 
Störungen (blaurote, kühle, feuchte Glieder) und leichte Volumabnahme der Mus¬ 
keln; ganz verschieden dagegen Ort und Schwere der Verletzung; nirgends neuro- 
oder psychopathische Disposition, nur mehrmals zarte, etwas weichliche Kon¬ 
stitution; keine hysterischen Krämpfe, wohl aber gewöhnlich handschuh- oder 
strumpfförmige An- und Hypästhesien, distal am stärksten, nach dem Rumpf zu 
abnehmend, anfangs stets die Verletzungsstelle einschließend. In 6 Fällen deutliche 
Abhängigkeit der Intensität der Lähmung von rein psychischen Momenten, einmal 
Auftreten der Lähmung 9 Monate nach der Verletzung infolge von Aufregung. 
R, glaubt nicht an Entstehung der Lähmung durch mechanische Erschütterung; 
Inaktivität und Fixierung des verletzten Gliedes beeinflussen die Trophik und 
Motorik, Schmerzen lassen Bewegungen vermeiden, längere Abkühlung kann Be¬ 
wegungserschwerung nach sich ziehen, die oft sofort vorhandene, reflektorisch (z. B. 
durch Schmerz) entstandene angioneurotische Störung, die häufigin ihrer Intensitätmit 
den sensiblen und motorischen Störungen parallel- geht, kann den Kranken anregen, 
sich mit dem gestörten Organgefühl zu beschäftigen und es psychisch weiter zu 
verarbeiten. Manche Fälle sind schwer zu bessern, andere zu Rückfällen geneigt. 

Besonders beim Zittern der Kriegsteilnehmer geht der Streit fort, ob somat»- 
oder psychogene Entstehung. Fürnrohr (62), der dieselben Erscheinungen sah, 
gleichgültig, ob die Leute sie immittelbar nach Verschüttung oder Granatexplosion 
oder Wochen nach der Rückkehr aus dem Felde oder, ohne überhaupt im Felde 
gewesen zu sein, nach kaltem Bad, anstrengendem Marsch oder dergleichen er¬ 
worben hatten, nält im Gegensatz zu Nießl v. Mayendorf das psychische Moment 
für die Entstehung, namentlich aber die Fixierung der Bewegungsstörungen für 
wichtig. Wunsch nach Ruhe sei nach Solchen Erlebnissen die natürliche Reaktion 
jedes normalen Menschen. Im Anfang mögen gelegentlich Schreck, starke seelische 
Erschütterung allein den Tremor auslösen, zu dauernder Krankheit entwickelt sioh 
dieser nur, wo Vorstellungen, wie Wünsche, Angst usw., eine gewisse Intensität 
erlangt haben. Nießl v. Mayendorf (187) wendet dagegen ein, daß, wie mechanische 
Erschütterung oder Abkühlung .und andere Schädigungen zum Zittern führen 
können, ebenso gelegentlich auch Hysterie, daß aber Begehrungsvorstellungen in 
manchen Fällen ausgeschlossen und in den übrigen nicht nachgewiesen seien. Unter¬ 
bewußte Vorstellungen kenne nicht der Kranke, nur der Arzt Wer beweist daß 
die Vorstellung des Muskelzittems vor dem Muskelzittern da war? Die Beseitigung 


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Laehr, Neurosen. 


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in Hypnose zeigt nicht, daß das Zittern ideogen, sondern daß Pak abnorm sug- 
geetdbel war. 

Roihfeld (229) fand, daß 1. beim Schiitteltremor ein Tremor des Qnadrizeps 
nur eintritt, wenn der Muskel willkürlich innerviert wird, daß 2. bei gleichzeitiger 
Innervation der Oberschenkelbeuger und der Kniestrecker die Innervation der 
enteren versagt, nnd daß 3. bei allen diesen Versuchen unwillkürliche Gegen¬ 
bewegungen durch die Antagonisten zustande kommen. Unabhängig davon sind 
der kleinschlägige Tremor der ganzen Extremität (in Ruhe oder in Emotion) und 
die Muskelkrämpfe, beides nicht konstant. Bei Schütteltremor der Beine findet sich 
falsche Innervation oft auch an den Armen: bei verlangten Bewegungen wurden 
die Antagonisten stärker innerviert. Auch nach Heilung des Zitterns zeigen die ersten 
Bewegungen noch immer Mangel an richtiger Innervation, was nach wenigen Übungen 
schwindet. Diese Erscheinungen deuten auf AÜnesia amnestica ( Oppenheim ). 

Curschmann (38) fand grobe hyperkinetische oder akinetische Neurosen nach 
Kriegstrauma bei Offizieren verhältnismäßig viel seltener und prognostisch viel 
günstiger als bei dem Gros der Mannschaften. Dies spricht für die Psychogenie 
dieser Störungen. Ähnliches bei Barth (8). 

Cunckmann bekämpft ferner (37) hauptsächlich im Interesse zweckmäßiger 
Behandlung die Auffassung Sarbö s, der sowohl Zitterkrankheit und Lähmungen 
(234) wie die kriegstraumatische Taubstummheit (234 a u. b) auf organische Schädi¬ 
gung zurückführt. Noch wirksamer Bonhöffer (26), auf den Sarbö sich berufen 
hatte. B. hat in den Fällen von Zittern, Taubstummheit und Astasie, die er in den 
ersten 12—24 Stunden untersuchen konnte, nie zerebrale oder spinale Symptome 
wie Babinski oder andere Pyramidenbahnenreflexe, Nystagmus, zerebrale Fazialis¬ 
paresen, Abduzensschwäche, Benommenheit mit paraphasischen Symptomen, per- 
severatorischer Reaktion, Korsakousche Symptome feststellen können, während er' 
andrerseits wohl organische Benommenheitszustände, Trommelfellzerreißungen, 
Nystagmus, aber ohne Zitterzustände usw., gesehen hat. 

Weber (293) und Räther (216) weisen die Insufficientia vertebrae (Scham) als 
Ursache der Schüttelerkrankung zurück. Wenn R. zugleich darauf aufmerksam 
macht, daß viele alte Fälle von sog. Ischias oder Rheumatismus sich durch die 
schnelle Heilung durch die Kaufmann- Methode als rein funktionelle Störungen 
erweisen, so begegnet er sich darin mit E. Meyer, der im Königsberger Verein f. wiss. 
Heilk. (D. med. Wschr. Nr. 12) im Anschluß an Vorträge über Behandlung der 
Ischias mit epiduralen Injektionen hervorhebt, wie häufig Ischias von psychogenen 
Störungen überlagert öder vorgetäuscht wird. 

Liebmann (157) beschreibt 21 Fälle von. Sprachstörung bei Kriegsteil¬ 
nehmern. Die Symptome sind wohl im ganzen dieselben, wie man sie auch im 
Frieden beobachtet, aber doch im allgemeinen weit schwererer Natur. Es handelt 
sich vorwiegend um Stotterer (10 Fälle) nnd Aphasie (6 Fälle). Auf die Behandlung 
wird besonders genau eingegangen. (Bresler.) 

Barth (8) gibt eine gute Übersicht über die psychogenen Lähmungen der 
Stimme, Sprache und des Gehörs. 

Frösehela (69) beobachtete die Entstehung tonischen Stotterns aus dem kloni- 


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202* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

sehen durch Anwendung des elektrischen Stromes. Indem Pat. sich anstrengt, die 
klonische Sprachstörung zu vermeiden, entsteht die tonische. Beide sind nicht 
völlig unabhängig vom Willen, automatisieren sich aber bald. Heilung der Aphonie 
durch den Strom ist verständlich, da Pat., der von der Großhirnrinde aus das Pho- 
nieren nicht zustande bringt, den subkortikalen Schreimechanismus innerviert und, 
da er den Zusammenhang nicht kennt, suggestiv beeinflußt wifd. Beim Stottern 
würde, auch wenn der richtige Moment getroffen wurde, nur ein Schrei entstehen, 
dieser aber nicht suggestiv wirken, da Pat. ja weiß, daß er schreien kann. 

Stuchlik (273) entwirft für die Einteilung verschiedener Stotterformen folgen¬ 
des Schema: 1. Das Stottern ist eine hereditäre Affektion; es vererben sich psychi¬ 
sche Grundeigenschaften, z.B. Himzentrenanomalien. 2. Das Stottern ist eine 
kongenitale Affektion; sie hängt mit der gänzlichen anomalen Entwicklung der 
Psyche zusammen oder der allgemeinen körperlichen Verkrüppelung oder mit der 
pathologischen Entwicklung bestimmter Zentren und Organe, z. B. der Zentren und 
der Koordination ihrer Tätigkeit. 3. Das Stottern isteine erworbene Affektion, entweder 
psychischen oder somatischen Ursprungs oder durch Kombination von Elementen 
beiderseitiger Herkunft entstanden. Als psychische Anomalie kann sich das48tottern 
entweder als Krankheit oder als vorwiegendes Symptom einer Krankheit zeigen; 

' so wurde z. B. das Stottern als transitive auditive Amnesie aufgefaßt oder als Sym¬ 
ptom bei der Psychasthenie, Phobie, Kinesiphobie, Angstneurose, Neurose in psycho¬ 
analytischem Sinne, Imitation bez. psychischer Infektion, Schock. Oder als Ano¬ 
malie spezieller psychischer Vorgänge, so als Sprachenkonfliktresultat, Inkoordina¬ 
tion zwischen Bede und Denken, Folge des Bewußtwerdens und Bewußtmachens 
oder als Anomalie, die durch derartige Störungen verschlimmert zu sein pflegt. 
Somatischen Ursprungs kann das Stottern sein als Folge anatomisch-neurologischer 
Inkoordination, von Zerebralstörungen, Zerebellar- und Bulbäranomalien, des Al¬ 
koholismus, adenoider Vegetationen, Skrophulose, Anomalien' der Mundhöhle, 
Rhachitis, allgemeiner Unterernährung; auch als Folgeerscheinung der Imbezillität 
soll es vorgekommen sein. Genaueres Eingehen zeigt, daß diese zahlreichen Theo¬ 
rien einerseits auf voreilige Verallgemeinerung seltener Tatsächlichkeiten, andrerseits 
auf das Nichtberücksichtigen des Faktums, daß es keine Krankheit Stottern, sondern 
nur ein Symptom Stottern gibt, zurückzuführen sind. Die Auffassung des Stotterns 
als Symptom verschiedenster somatischer (neurologischer und anderer) und psychi¬ 
scher Erkrankungen erlaubt uns nicht nur eine einheitliche, logische und vollständige 
Klassifikation, sondern macht auch die positiven, durch mannigfaltigste Methoden 
erzielten Resultate begreiflich (Stuchlik.) 

Über psychogene Störungen des Auges und des Gehörs berichtet Kehre r 
(125). Eine psychogene bzw. hysterische Lähmung wurde nicht beobachtet. 
K. bestreitet überhaupt das Vorkommen echter funktioneller Lähmungen am Auge 
Wo das Bild einer solchen primär vorgetäuscht wird, dürfte es sich um Entgleisungen 
von krampfartigen Innervationen in den Antagonisten handeln. Nur ganz aus¬ 
nahmsweise läßt sich bei gründlicher Erforschung von Anamnese und Organbefund 
ein ursächlicher oder zeitlicher Zusammenhang der funktionellen Störungen der 
Augenbewegungen mit irgendwie anatomisch begründeten optischen Störungen 


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Laehr, Neurosen. 


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nicht nachweisen. In dem einzigen Falle, in dem es nicht gelang, handelte es sich 
um Fixierung eines seit Kindheit episodisch bzyr. periodisch anftretenden Schielens, 
offenbar einer aus Spieltrieb erworbenen psychomotorischen Fertigkeit. Für die 
besondere Gestaltung der Blickstörung zieht K. individuelle Differenzierungen der 
Bewegungsformel der konjugierten Augenmuskeln oder eine abnorme Dissozia¬ 
tionsfähigkeit der Muskulatur heran, die vielfach den Charakter „dynamischer De¬ 
generationszeichen“ bzw. lokalisierter Symptomdispositionen haben. Häufig entsteht 
aus ihnen das hysterische Symptom aus ganz verschiedenen Motiven einfach durch 
Vertiefung und Fixierung der abnormen bzw. übernormalen psychomotorischen 
Fertigkeit. Simulation spielt bei Augenbewegungsstörungen eine verschwindende 
Rolle. Die gleichen Regeln gelten für die Lidmuskulatur. Komplizierend tritt hinzu 
„die individuelle Tiefenwirkung willkürlicher Innervationen auf die sympathischen 
Muskelelemente“. Echte hysterische Ptosis schien sicher vorzukommen. Das beste 
Diagnostikum der komplizierteren Bewegungsstörungen der äußeren und inneren 
Augenmuskeln ist der Erfolg einer „souveränen“ Psychotherapie. — Den 3 Fällen 
psychogener Sehstörung war gemeinsam, daß irgendeine „Organbegründetheit“ 
vorhanden war, die psychogen ausgewertet oder in den Dienst „hysterischer Motive“ 
gestellt wurde. — Bei einer überraschend großen Zahl Schwerhöriger oder Ertaubter 
deckte die eingehende psychopathologische Analyse Abweichungen des Seelen¬ 
lebens auf, die für die Beurteilung des Mechanismus der psychogenen Hörausfälle 
Ausschlag gaben, besonders häufig einen meist durch den Erfolg der Psychotherapie 
zu erweisenden Zusammenhang mit leichtem Stupor, „psychogene Anreicherung 
oder Aufpfropfung auf alteingesessene organische Schwerhörigkeit“. Auf dem eigen¬ 
artigen psychogenen Wege des apperzeptiven Mindergebrauchs wird die Hörfähig¬ 
keit nicht so ausgenutzt, als es dem organischen Zustand entspricht. Schwach¬ 
sinnige Schwerhörige zeigten reaktiv nach Einwirkung akustischer Überreize oder 
situativ im Rahmen leichter Stuporzustände psychogene, nicht hysterische Ver¬ 
schlechterung der Hörfähigkeit ohne andere psychogene körperliche Symptome. Es 
ließ sich psychologisch affektive Absperrungstaubheit (Verdrängung der Hörfähig¬ 
keit) und apperzeptive Untererregbarkeit herausheben. Mißtrauen und Hypo¬ 
chondrie spielen als Dauermotive eine Rolle. Bei einzelnen löste Hörprüfung regel¬ 
mäßig Examenstupor aus, bei dem objektive Prüfung der Hörfähigkeit nicht möglich 
war. Im engeren Sinne hysterische Schwerhörigkeit oder Taubheit, die Vorstellung 
des Nichthörenkönnens, machte sich geltend in der psychischen Infektion eines 
Ohrs durch das organisch kranke oder als Eigennachahmung (Automimesis) aus¬ 
geglichener früherer organischer Hörstörungen (ideogene Absperrungstaubheiten). 
Auch bewußt willkürliche Nachahmung früher organisch, dann hysterisch be¬ 
dingter Hörausfälle (Simulationshysterie) wurde beobachtet. In dem einen Falle 
reiner Simulation handelte es sich um Rekurs auf organische Schwerhörigkeit. 
Bei psychogenem Hörausfall läßt sich entweder eine körperliche Grundlage oder 
abnorme seelisch-nervöse Anlage oder beides zugleich nachweisen. Taubstummheit 
und häufig auch Taubheit ohne Verletzung des Gehörapparats nach Explosion 
oder Verschüttung bei bis dahin Ohrgesunden sind auf eigenartige abnorme Seelen- 
zustande zurückzuführen und entwickeln sich regelmäßig nur auf dem Boden irgend¬ 
wie nachweisbarer psychasthenischer oder hysterischer Anlage. (Bresler.) 

Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. lat. 0 


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204* 


Bericht über die psychiatrische Literatur. 1917. 


Ohm (197) kommt in sehr eingehender Studie zu dem Ergebnis, daß der 
Nystagmus beruflicher und nicht Jjeruflicher Art eine einheitlich zu erklärende 
Innenrationsstörung ist, was ursprünglich nicht erwartet wurde. Das pendelfönnige 
Zittern beruht auf einem Wechsel zwischen Rechts- und Linksablenkung; in dem 
kurvenmäßigen Ausdruck dieses Wechsels müssen Unterschiede bemerkbar sein 
je nach der Augenstellung unter dem Einfluß beider Labyrinthe. ( Bresler .) 

Die Behandlung funktionaler Neurosen wurde weiter ausgebaut, und ihre 
Erfolge wirkten wieder auf die Auffassung der Erkrankungen zurück. Auf Grund 
sehr großen Materials stellt in Übereinstimmung mit Andren Wilmanns (310) fest, 
daß es auf seelische Beeinflussung ankommt, ob aber diese am besten durch Iso¬ 
lierung, Hypnose, Zwangsexerzieren, starke Elektrizität erzielt wird, hängt von der 
Person des Arztes ab, denn diese, nicht die Art der Behandlung heilt. Ähnlich 
Schütz (249), der besonders darauf dringt, daß die Behandlung der Kriegsneurotiker 
so früh und so aktiv wie möglich einsetze. Weber (294) hebt in Anknüpfung an 
Lewandowsky (148) hervor, daß allerdings die Ursache der Kriegsneurosen nicht 
in der Vergangenheit, dem Kriegstrauma liegt, sondern in der Zukunft, in dem, 
was der Kranke nicht mehr erleiden will, daß aber die heilende seelische 
Umstimmungebensoguterfolgenkann,wennder Arzt nicht Militär und Vorgesetzterisk t 
W. empfiehlt im Anschluß an Af. Fischer die Angliederung künftiger Nervenabteilungen 
als offene Abteilungen an die großen Landesanstalten, da hier genaue Aufsicht, 
Regelung, Ordnung, Arbeitsgelegenheit und die Möglichkeit der Verlegung auf die 
passendste Abteilung gegeben ist. 

Die von Liebermeister (154) mitgeteilten Erfahrungen stützen sich auf 600 
von L. untersuchte und behandelte Fälle. Das Buch ist außerordentlich reich an 
scharfen Beobachtungen und nützlichen praktischen Winken, eins der besten, die 
auf diesem Gebiet geschrieben, und verdient, eifrig zu Rate gezogen zu werden. 

( Breskr .) 

Mit der gemilderten Kaufmann- Methode erzielten Rüther (214) und Spränget 
(269) vorzügliche Ergebnisse, ebenso Levy (147), der aber dadurch in der Regel 
Rückfälle erlebte, daß seine „geheilten“ Kranken an die Front zurückgeschickt 
wurden. Gute, mit der Zeit steigende Erfolge berichtet Nonn$ (189) sowohl mit 
der Kaufmann- Methode (s. auch Paschen (205), Kalmus (120) und Wachsner (287)) 
wie mittels hypnotischer Suggestion. Wo eine Methode versagte, wirkte öfters die 
andere. Auch N. hält es für unwesentlich, ob der Arzt Vorgesetzter ist, wichtig ist 
dagegen, daß der Erfolg in der 1. Sitzung eintritt. Nachbehandlung durch Übung 
und Erziehung ist unbedingt nötig. 

Oehmen (194) heilt durch entschlossene Wachsuggestion mit Unterstützung 
des meist schwachen faradischen Stroms, mit dem er Kontrakturen hebt, Lähmun¬ 
gen ausgleicht, Zittern ausschaltet, nachdem vorher die Spannung und Erregung 
des Kranken aufs höchste gesteigert ist. Zuspruch und Angabe der Bewegungen 
unter Vormachen ist das Wesentliche, der Strom soll nur die Wortsuggestion ver¬ 
decken. Ollendorf (198), Beyer (12) und L. Schüller (248) hatten mit dieser Methode 
gleichfalls ausgezeichnete Erfolge. 

Kehrer (123) hat, um den Willen zur Gesundung und Symptomüberwindung 


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La ehr, Neurosen. 


205 * 


-zu stärken, das Gewaltexerzieren erdacht: die verschiedensten Exerzier- und Frei¬ 
übungen in raschem Wechsel mit Lob und Tadel, eventuell mit schmerzhaftem 
galvanischen Schlag als Antrieb. In Fällen, wo milde Symptombeseitigung und 
'kräftige Willensstärkung wünschenswert ist, wird Hypnose mit folgendem gelinden 
Gewaltexerzieren in einer Sitzung verbunden; besonders für monosymptomatisches 
Stettern, Tachypnoe, Blasenstörungen sowie für interne Hysterien ist diese Kom¬ 
bination geeignet. Funktionelle Taubheit ward geheilt, indem bei verbundenen 
Augen Kochsalzeinspritzungen ins Ohr und unter die Haut der Umgebung, dann 
Stichelung und unter stärkster Suggestion einschleichend galvanische Ströme bis 
zu6 M.-A. auf den Warzenfortsatz angewandt wurden, so daß, um stärkeren Schmer* 
zu vermeiden, nur der Ausweg blieb, hören zu wollen. Sehr wichtig ist bei allem 
die Überzeugung, daß keiner ungeheilt von dannen zieht; dann erfolgt oft Spontan¬ 
heilung vor der Behandlung. 

Kretschmer (138) erreicht durch strenge Bettruhe und Absonderung in stillem, 
-verdunkeltem Zimmer, in dem das Sehen eben möglich, Beschäftigung aber aus¬ 
geschlossen ist, meist in 14 Tagen Besserung, in 4—6 Wochen Heilung von Tiks 
oder Zittern, oft gerade bei schwierigen Kranken, die für schroffe Methoden unan¬ 
greifbar sind. Nur muß der Kranke wissen, daß die Maßregel zur Beruhigung 
seiner Nerven dient. 

Joseph und Mann (116) heflen durch Einspritzung von Aq. dest. im Ätherrausch 
nach Suggestion, daß die Einspritzung, deren Schmerzhaftigkeit die Narkose 
erfordere, den Tremor beseitige. Die Suggestion wirke besonders kräftig im be¬ 
sonderen, psychisch aufrüttelnden Erlebnis. Dagegen läßt Goldstein (70) die 
Einspritzung fort und nimmt, um jeden Schock zu vermeiden, statt des Äthers 
Chloräthyl, ebenfalls mit vorzüglichem Erfolg. 

Sommer (258) klärt den funktionell Tauben dadurch über seine Hörfähigkeit 
auf und heilt ihn, daß der Kranke, am Apparat zur Analyse der Fingerbewegungen 
befestigt, die auf Anschlag einer Glocke auftretende Zuckung seiner Hand sich 
deutlich an der Registriertrommel aufzeichnen sieht. 

Muck (178) brachte solche Fälle von psychogener Stummheit oder Taub¬ 
stummheit, in denen der Kranke willkürlich ein- und ausatmen konnte, die Glottis 
aber bei der Aufforderung, zu phonieren, weit geöffnet blieb wie bei Adduktoren¬ 
parese, dadurch schnell zur Heilung, daß er die Kugel in den Kehlkopf einführte 
und so den Stimmlaut erzwang. Das kurzdauernde Angstgefühl kam diesen 
Stummen nicht recht zum Bewußtsein, sie wußten nachher nicht anzugeben, was 
ihnen geschehen war. 

Von fast allen Seiten wird, besonders nach Schncllheilungen, die dankbare 
und freudig erregte Stimmung der eben noch mürrischen und widerwilligen Kranken 
hervorgehoben, ebenso aber auch die Notwendigkeit längerer Nachbehandlung und 
der Befreiung vom Felddienst, um Rückfälle zu vermeiden. 

Sluchhk (272) beschreibt ausführlich Krankengeschichte und Behandlungs¬ 
gang bei stotternden Knaben im Alter von 11 und 15 Jahren. Beim ersten wurde 
nach geeigneten Suggestionen in oberflächlicher Hypnose schon binnen weniger 
Sitzungen normales Sprechen erzielt Nach einem Rückfälle, der mit einer von 

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206* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


außen beeinflußten feindlich-affektiven Einstellung gegen den behandelnden Arzt 
zusammenhing, blieb nach folgender Besserung der Knabe geheilt und spricht 
jetzt, d. h. ein Jahr nachher, gut. Der andere Knabe, intellektuell debil, affektiv sehr 
zornig und labil, wurde früher längere Zeit pädagogisch und mit Hilfe der Atmungs¬ 
gymnastik ohne jeglichen Erfolg behandelt. Schon nach der ersten Hypnose einige 
Tage dauerndes, vollkommen normales Sprechen. Allmählich sich einstellende 
Verschlimmerung wurde wederholt durch neue Hypnosen beseitigt. Aus geistiger 
Faulheit, und da ihm die Fortschritte im Sprechen nicht lieb waren (man hat an 
ihn Forderungen gestellt, die früher in bezug auf seinen Sprachfehler sich nicht 
stellen ließen), entzog sich der Knabe konsequenter Behandlung und verfiel in sein 
früheres schreckliches Stottern. ( Stuchlik .) 

Hauptmann (86) konnte unter 52 zugrunde gelegten Beobachtungen den Nach¬ 
weis schon vor dem Kriege vorhanden gewesener Epilepsie an nicht weniger 
als 46 Fällen führen = 88%, in weiteren 6 Fällen fanden sich prädisponierende 
Momente; nur in einem wurden auch solche vermißt Bei bestehender Epilepsie 
konnte nur in 2 Fällen eine Zunahme ihrer Äußerungen im Krieg bezw. durch 
den Krieg sicher festgestellt werden, in 3 Fällen mußte miudestens mit der gleichen 
Wahrscheinlichkeit an eine spontane Fortbildung gedacht werden. Wenn der 
Kriegsdienst in so geringem Maße bestehende Epilepsie beeinflußt, so darf er 
auch für das Hervorrufen einer solchen auf vorbereitetem Boden nicht ohne weiteres 
angeschuldigt werden. Man muß in solchen Fallen, zumal bei Jugendlichen, immer 
auch an das spontane, im Entwicklungsgang der Krankheit gelegene, erste Auf¬ 
treten der epileptischen Erscheinungen im Kriege denken (die posttraumatische 
Epilepsie wurde dabei außer Betracht gelassen). Auch die Unabhängigkeit der 
einzelnen epileptischen Manifestationen von akuten exogenen Momenten ist so 
groß, daß es durchaus erlaubt erscheint, ein gelegentlich beobachtetes Zusammen¬ 
treffen, wenn nicht andere zwingende Beweise für einen Zusammenhang vorliegeu, 
als zufällig zu bezeichnen, d. h. abnorme Gehirnbeschaffenheit (epileptische Re¬ 
aktionsfähigkeit) ist die unbedingt notwendige und die wesentlichste Voraussetzung 
für das Zustandekommen einer Epilepsie. Mit einer Zunahme der Epilepsie durch 
den Krieg werden wir im ganzen wohl kaum zu rechnen haben. Spezielle, für ge¬ 
wisse Formen der Epilepsie etwa charakteristische Reizstoffe haben wir nicht zu 
erwarten; es wird bald dieser, bald jener, vielleicht auch ein normales Stoffwechsel¬ 
produkt den Anfall auslösen können. Die Unabhängigkeit des Anfalls von äußeren 
Momenten spricht für den epileptischen Charakter desselben im Gegensatz za 
äußeren; die einzelnen Anfallsymptome epileptischer und hysterischer Anfälle 
können sich außerordentlich gleichen. Einzig das positive Babinski-Phänomen- 
darf als Beweis für Epilepsie angesehen werden, ist aber nicht in allen Fällen vor¬ 
handen. Das willkürliche Hervorrufen eines Anfalls durch Kokaininjektion gelingt 
nicht immer, auch kommen unangenehme Nebenwirkungen nicht selten vor; es 
ist überflüssig. — Psychogene Symptome werden erst infolge späterer Hysteri- 
sierung durch Willensmomente hysterisch. (Bresler.) 

Westphal (300) fand als Ursache isolierter Stereoagnosie bei intaktem Lage- 
und Bewegungsgefühl und fast normaler Berührungsempfindung eine Zyste nur an 


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Laehr, Neurosen. 


207 * 


der vorderen Zentralwindung und nur deren Oberfläche betreffend. — Hansen (82) 
beschreibt Anfälle, die er als epileptische Absenzen mit schlechter Prognose ansieht, 
die aber doch wohl als pyknoleptische (T'Vtedwanwsche gehäufte kleine Anfälle) auf¬ 
zufassen sind. — Mendel (171) beobachtete 4 Fälle nach Art der 7?üf/schen (s. diese 
Ztschr. Bd. 74, S. 94*) und hebt als gemeinsam hervor 1. die rein kortikale Natur 
der Krankheitserscheinungen, 2. das völlige Erhaltensein des Bewußtseins und 
das Freibleiben des Sprachzentrums, 3. das Fehlen jeglicher Hirndrucksymptome, 
4. den während und außerhalb der Anfälle unbedeutenden objektiven Befund, 5. die 
günstige Prognose und den Mangel an Progression des Leidens, 6. die völlig unklare 
Pathogenese der Anfälle. Im Gegensatz zu Rülf nimmt er eine organische Grund¬ 
lage an, einen vielleicht ausgeheilten enzephalitischen Prozeß oder eine sonstige gut¬ 
artige Erkrankung der Hirnrinde. 

Bei Basedowkrankheit erzielte Liek (158) durch ausgiebige Resektion der 
Thyreoidea in 20 von 34 Fällen Heilung (Herstellung der Arbeitfähigkeit, dauernde 
Beseitigung von Kropf und Tachykardie), in 6 Besserung; 3 ungebessert, 6 ohne 
Nachricht. Frühzeitiger Eingriff anzuraten, wenn noch die Entartung innerer 
Organe, besonders des Herzens, fehlt und das Drüsengewebe weniger brüchig, also 
die Blutung leichter zu beherrschen ist Wichtig ist die Vermeidung des Schocks, 
wozu Verf. eingehende Regeln angibt. 

Tiling (276) führt das häufige Vorkommen von Basedow oder einzelnen Base¬ 
dowsymptomen bei Kriegsneurosen auf die Kriegsschädigungen des Nervensystems 
zurück; es handle sich hier also um die neurogene Form. Langelaan (144), der 
als Hauptursachen der Nervenkrankheiten Lues, nervöse Abnutzung und Alkohol 
betrachtet, fand besonders Frauen mit empfindlichem Schilddrüsenapparat .zur 
nervösen Abnutzung veranlagt und diese Empfindlichkeit des SchilddrüsenapparatB 
sei fast nur im blonden Teil der holländischen Bevölkerung als erbliche Minder¬ 
wertigkeit verbreitet 

Hofstätter, der (101) die Ergebnisse der experimentellen Zirbelforschung 
kritisch und mit Heranziehung eigener Versuche zusammenstellt hat (102) mit 
Pinealextrakten, zumal Epiglandol, gute Erfolge gegen Hyperlibido bei Frauen, be¬ 
sonders nach Kastration, dazu leichte Beruhigung der Psyche, nie aber üble Wirkun¬ 
gen gesehen. * 

Über seltene Familienerkrankungen berichten Gebell und Runge (68) und 
Kretschmer (137). 

Die essentielle Enuresis nocturna infantum ist nach Kläsi( 128) meist 
psychogen, in den Fällen des Verf. vorwiegend teils Folge der Angst durch ge¬ 
schlechtlichen Verkehr mit einem Nässer von diesem angesteckt zu sein, teils Folge 
von Schuldgefühlen wegen Onanie, denen das Nässen als „Schuldersatzhandlung“ 
zur Äußerung verhilft d. h. als Handlung, die für die eigentliche Schuld, die nicht 
verraten werden darf, eine Ersatzschuld schafft durch welche das nicht zu unter¬ 
drückende Unbehagen ausgelöst zu werden scheint. Auch in diesem Falle liegt 
Angst zugrunde, mindestens die Angst vor Entdeckung der Onanie, oft aber auch 
die Angst vor der mit ihr in Verbindung gebrachten Unterleibs- oder Blasen¬ 
schwäche. Daher stehen unter den psychischen Erscheinungen Aufgeregtheit, 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


Schüchternheit und Menschenscheu im Vordergründe. Wo diese drei Erscheinun¬ 
gen fehlten, handelte es sich um familiäres Nässen, und die Kinder standen ihm wie 
etwas Fremdem und Selbstverständlichem gegenüber. Dann Var therapeutisch fast 
nichts zu erreichen, während sonst einfache Aufklärung oder Hypnose, Faradisa- 
tion u. a. erfolgreich waren. 

W. Stekel (264) bringt auf mehr als der Hälfte seines Buches Kasuistik, 
darunter auch Fälle aus der Literatur, mit Eigenschilderungen einzelner Fälle. 
S. betont im Vorwort mit Nachdruck, daß er sich von Freud losgelöst habe, der 
einen Irrtum immer nur unter schwersten Kämpfen zugestanden habe. „Wer nicht 
blindlings mit ihm geht, ist sein Gegner. Mit einer geschickten Verschiebung ver¬ 
steht er es dann, das Sachliche ins Persönliche zu übertragen.“ Er wolle es aber 
„vermeiden, dem genialen Manne, dem er so viel Anregung verdanke, mit gleichem 
zu vergelten. „Eine Psychoanalyse der Psychoanalytiker gäbe eine ergötzlich» 
Satire.“ S. glaubt, viele der Übertreibungen, durch welche die Freudsehe Schule 
sich so viele Gegner gemacht hat, vermieden zu haben; andrerseits gehe er weit über 
Freud hinaus; Freud selbst habe ihm sogar oft vorgeworfen, daß er „den psychi¬ 
schen Bogen überspanne“. Aber „die Sehne hält fest, ui\d soweit die Pfeile tragen — 
sehe ich Neuland“. Durch Wiedergabe einiger Hauptpunkte sei diese Perspektiv» 
angedeutet 

Nach S. ist frühes Erwachen des Geschlechtstriebes nicht die Ausnahme, 
sondern die Regel, Koitus und Onanie im Kindesalter nicht Zeichen von Degenera¬ 
tion und Entartung, sondern im Gegenteil häufig die ersten Symptome eines regen 
Geistes, einer starken Begabung, deren erste Anfänge immer ein gesundes, urkräftige« 
Triebleben darstellen. Mit diesem Trost beruhige er Eltern, die ihn wegen Ona- 
nierens ihrer Kinder um Rat fragten; es könne das Zeichen außerordentlicher Be¬ 
gabung und frühzeitiger Regung starker Kräfte sein. Aber, fügt S. selbst zu, das 
Gegenteil ist gar nicht selten: auch abnorme Kinder, welche den Keim einer 
schweren Geisteskrankheit in sich tragen, fangen auffallend früh an, stark zu 
onanieren; dabei ist das hemmungslose Triebleben bereits erstes Symptom der 
Krankheit, die sich auch in andern Zeichen äußere. „Manchmal ist die Diagnose 
jedoch schwer zu stellen,“ betont S.; also ist es doch mit obigem Trost ein» 
'schlimme Sache! 

Nach S. existieren alle Schädigungen, die man der Onanie znschreibt, nur 
in der Phantasie der Ärzte, sind sogar „Kunstprodukte der Ärzte und der herrschen¬ 
den Moral, welche seit zwei Jahrtausenden einen erbitterten Kampf gegen die 
Sexualität und alle Lebensfreude führt“ (S. 11). „Meiner Erfahrung nach steht die 
Onanie an Schädlichkeit (wenn wir von den sekundären seelischen Begleiterschei¬ 
nungen absehen) in gleicher Linie wie der sogenannte normale Akt“ (S. 12). Da 
nach einigen Statistiken 90—100% der Menschen onanieren — nach *9. alle —: 
wie müßte also das Menschengeschlecht aussehen, wenn dieses „furchtbare Laster“ 
in der Tat schädlich wäre?“ (S. 15). Die Warnungen vor Onanie haben sicherlich 
viel mehr Schaden gestiftet als die Onanie selbst. Viele Lustmorde unterblieben 
z. B„ weil die Onanie es den Sadisten ermöglichte, ihre Instinkte in der Welt der 
Phantasien auszuleben. Also: „Die Onanie wird auf diese Weise eine Sicherung 


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La ehr, Neurosen. 


209 * 


der Gesellschaft gegen ihre Vergangenheit. Sie erfüllt eine bedeutsame soziale 
Funktion.“ Sie bewahrt die Gesellschaft vor den asozialen Trieben des Individuums. 
Beim Neurotiker muß sich alle verbotene Lust in den onanistischen Akten ent¬ 
laden. „Die Neurose bricht erst aus, wenn die Menschen die Onanie aufgeben“ 

(S. 85). Bei vielen erlischt die Lebensfreude, wenn sie die Onanie aufgeben (S. 40). 
Wenn die Onanie gestattet wäre, würde sie den größten Reiz vertieren (S. 77). 

Dies einige Blicke ins „Neuland“. 

S .s Theorie über Homosexualität — ,4m Ausbau der Lehren Freuds ge¬ 
bildet“, besagt: „Alle Menschen sind ursprünglich bisexuell veranlagt. Von dieser 
Regel gibt es kdine Ausnahme. Bei dem normalen Menschen zeigt sich bis zu der 
Pubertät eine deutliche bisexuelle Periode. Der Heterosexuelle verdrängt dann 
seine Homosexualität. Er sublimiert auch einen Teil der homosexuellen Kräfte in 
Freundschaft, Nationalismus, soziale Bestrebungen, Vereinswesen usw. Mißlingt 
ihm diese Sublimierung, so wird er neurotisch. Da jeder Mensch seine Homo¬ 
sexualität nicht gänzlich bewältigen kann, so trägt er dadurch schon die Disposition 
zur Neurose in sich. Je stärker die Verdrängung ist, desto größer dann die neuroti¬ 
sche Reaktion, die bis zur Paranoia führt.“ Usw. 

In Sa Buch liegt ohne Zweifel großer Gedankenreichtum, nur kann man 
nicht zugeben, daß alle Gedanken unbestritten richtig sind. ( Bresler ,.) 

In Schlußmanns (240) Material folgten den Schußverletzungen peripherer 
Nerven in 40% Nervenschmerzen. Vielfach handelt es sich um lokalen Nerven¬ 
schock oder Fernschädigung, um eine Totalerschütterung der peripherischen Nerven . 
mit stunden-, ja tagelangem Aulgehobensein jeder Bewegungsfähigkeit und Emp¬ 
findung in dem verletzten Güede. Die mechanischen Druckwellen, die das durch¬ 
schlagende Geschoß im- lebendigen Gewebe erzeugt, werden in den feinen Achsen- 
zylindem, die einfache, flüssigkeitgefüllte Leitungsrohre darstellen, besonders gut 
und weit fortgepflanzt. Die Dinge liegen hier ähnlich wie bei Gehirnerschütterung, 
auch hinsichtlich der Erholung der erschütterten Nerven. Das sind die primären 
Nervenschußschmerzen. Die sekundären (Spätschmerzen) entstehen durch Narben 
(in 27% der Fälle), besonders Nerven-Innennarben. Die Nervenschußschmerzen 
sind zuweilen ganz außergewöhnlich heftig, so daß die Kranken laut aufschreien; 
sie steigern sich oft gegen Abend und bis Mitternacht, sind auch von der Witterung 
abhängig (auch von bevorstehendem Gewitter), manchmal ist die Wärme an sich 
unerträglich, selten auch Sinnes- und seelische Reize. Es gibt neben dem Narben¬ 
schmerz noch „verletzungsfernen Bewegungsschmerz“ (Erschütterung oder Prellung 
der sensiblen Bahn). Begleiterscheinungen sind motorische und sensible Lähmun¬ 
gen, Druckempfindlichkeit der verwundeten und spontan schmerzhaften Nerven, 
vasomotorische und trophische Störungen, Hyperhidrosis, Anhidrosis. Unter Dauer¬ 
wirkung der Schmerzen stellt sich auch bei nicht Belasteten und nicht Degene¬ 
rierten ein neurotischer Zustand ein, der, oft zum Schaden des Kranken für Hysterie 
angesehen, durch rechtzeitige lokale Behandlung der Schmerzen mit letzteren 
schwindet Die durch Femwirkung entstandenen Nervenschußschädigungen — die 
Kommotionsschüsse — sind besonders stark zu Reiz- und Schmerzbildung dis¬ 
poniert die den Nerv vollkommeh durchtrennenden Abschüsse dagegen sehr wenig. 


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210 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

Zur Erklärung wird an die Schußversuche von Perthes, D. m. Wschr. 1916, Nr. 28, 
erinnert (mechanische Seitenwirkung). Die makroskopischen Veränderungen bei 
Kommotionsschiissen, denen mit so besonderer Häufigkeit Schmerzen folgen, 
sind meist auffallend gering. Bei Nervenschußschmerz handelt es sich um Neuritis, 
nicht um Neuralgie; es lagen ausnahmslos organische Veränderungen vor. S. emp¬ 
fiehlt daher *den Ausdruck Schußneuritis als eine Vertreterin der traumatischen 
Neuritis. Bei dem fließenden Übergang von Neuritis zur Neuralgie kann die Unter¬ 
scheidung schwer werden; beides kann auch nebeneinander Vorkommen. Audi 
reflektorische Beschwerden können Vorkommen. Behandlung: Hydrotherapie, 
Heißluft (versagte im allgemeinen), Diathermie (Erfolge), Morphium (in schweren 
Fällen), Novokain - SuprareninlÖsung, endoneural injiziert (6—20 ccm einer 1—2proz. 
Lösung: Verschwinden aller Schmerzen für 6—24 Stunden); Neurolyse, perineural 
oder endoneural, oder Resektion und Nervennaht; Schmerz schwindet jedoch erst 
nach einer Reihe von Wochen. (Bresler.) 


10. Psychologie und Psychqphysik. 

Ref.Hirt-München-Pasing. 

1. Babäk, £., Über die Beschaffenheit der Empfindungen als 

Komponenten des psychischen Geschehens, L6karske 
wzhledy vol. 6, p. 72 (böhmisch). (S. 218*.) . 

2. Derselbe , Über das Verhältnis des psychischen Monismus 

zu gewissen (gegenwärtig noch) okkulten Erscheinungen. 
L6k. wzhledy vol. 6, p. 109 (böhmisch). (S. 225*.) 

3. Baade, Walter , Selbstbeobachtung und Introvokation. 

Ztschr. f. Psych. Bd. 79, H. 1—3. (S. 216*.) 

4. Derselbe , Experimentelle Untersuchungen zur darstellenden 

Psychologie des Wahrnehmungsprozesses. Ztschr. f. 
Psych. Bd. 79, H. 1—3. (S. 216*.) 

5. Baxter , Mildred F., Jamada, Koto, and Washburn, M. F. t 

Directed recall of pleasant and unpleasent experiments. 
The Americ. Journ. of Psych. vol. XXVIII, no. 1. 

6. Berger, Psychologie und Physiologe des Sehens. Korr.-Bl. 

f. Schweizer Ärzte Nr. 28, S. 892. 

7. Burnham, William H., The Significance of Stimulation in 

the Development of the Nervous System. The Americ. 
Journ. of Psych. vol. XXVIII, no. 1. 


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Hirt, Psychologie and Psychophysik. 


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8. Carol, W. L. L., Einige Bemerkungen zur Psychoanalyse. 

Ned. Tijdschr. v. Geneesk. vol. 61 (II), p. 561. 

9. Cowles, Edward, Research in Päthological Psychology and 

Biochemistry. The Americ. Journ. of Psych. vol. XXVIII, 
no. 1. 

10. Dessoir, Max, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissen¬ 

schaften in kritischer Beleuchtung Stuttgart, Fr. Enke, 
344 S. 

11. Erismann, Angewandte Psychologie. Sammlung Göschen, 

Nr. 774. Leipzig. 

12. Feldkeller, Paul, Über Begriffsüberschiebungen. Arch. f. d. 

ges. Psych. Bd. 36, H. 5. u. 6. 

13. Fernberger, Samuel W., On the Number of Articles of Psy- 

chological Interest Published in the Different Langu- 
ages. The Americ. Journ. of Psych. vol. XXVIII, 
no. 1. 

14. Fisher, Sara Carolyn, An Analysis of a Phase of the Process 

of Classifying. The Americ. Journ. of Psych. vol. XXVIII, 
no. 1. 

15. Fröbes, Joseph, Lehrbuch der experimentellen Psychologie. 

Bd 1, Abt. 2. Freiburg, Herder. 605 S. — M. 8.60. 

16. Gehrcke, H. H. f, Versuche über das Verhalten der Auf¬ 

fassungsfähigkeit gegenüber verschiedenen Gruppierun¬ 
gen schnell nacheinander durch das Gesichtsfeld ge¬ 
führter Buchstabenkomplexe. Bearbeitet von G. E. 
Müller. Ztschr. f. Psych. Bd. 79, H. 1—3. (S.217*.) 

17. George, S. S., Attitüde in Relation to the Psychophysical 

Judgment. The Americ. Journ. of Psych. vol. XXVIII, 
no. 1. 

18. Giese, Fritz, Deutsche Psychologie, herausgegeben von. 

I. Bd., H. 3 u. 4. Langensalza, 1916. Druck und 
Verlag von Wendt & Klauwell. 

19. Goerrig, M. Antonie, Über den Einfluß der Zeitdauer auf 

die Größenschätzung von Armbewegungen. Arch. f. d. 
ges. Psych. Bd. 36, H. 5 u. 6. (S. 223*.) 

20. Goldscheider, A. (Berlin), Über den Willensvorgang. Deutsche 

med. Wschr. Nr. 42, S. 1313. (S. 229*.) 


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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


21. Groos, Karl, Untersuchungen über den Aufbau der Systeme. 

Ztschr. f, Psych. Bd. 77, H. 3 u. 4. (S. 223*.) 

22. Grünbaum A. A., Untersuchungen über die Funktionen des 

Denkensund des Gedächtnisses. II. Erscheinungs¬ 
weisen des Bewußtseins (besonders der Beziehungen.) 
Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 37, H. 1. (S. 221*.) 

23. Derselbe, Untersuchungen über die Funktionen des Denkens 

und des Gedächtnisses. I. Psychologische Natur der 
Beziehungserlebnisse. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 36, 
H. 4. (S. 221*.) 

24. Haering, Theodor, jr., Beiträge zur Wertpsychologie, ins¬ 

besondere zum Begriff der logischen oder Erkenntnis¬ 
wertung. Ztschr. f. d. ges. Psych. Bd. 37, H. 1. 

25. Henning, Hans, Versuche über Residuen. Ztschr. f. Psych. 

Bd. 78, H. 3 u. 4. (S. 218*.) 

26. Hens, Szymon (Warschau), Phantasieprüfung mit form¬ 

losen Klecksen bei Schulkindern, normalen Erwachse¬ 
nen und Geisteskranken. Inaug.-Diss. Zürich. 

27. Hellwig, A., Zur Psychologie kinematographischer Vor¬ 

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28. Hertz, A., Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 

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30. Hoppe, Adolf (Rinteln), Kriegspsychologische Beobachtun¬ 

gen. Sitzungsber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 
R. u. E. Bd. 14, H. 5, S. 408. 

31. van der Hoop, J. H., Die psychoanalytische Methode. Ned. 

Tijdschr. v. Geneesk. vol. 61 (II), p. 458. 

32. Horstmann, W., Über die psychologischen Grundlagen des 

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H. 2. (S. 229*.) 

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37. Kaplan, Leo, Hypnotismus, Animismus und Psychoanalyse. 

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(S. 218*.) 

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pansen und beim Haushuhn. Ztschr. f. Psych. Bd. 77, 
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spontane^ und des lernenden Merkens. Mtschr. f. 
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von Willensvorgängen und das Grundgesetz der Asso¬ 
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43. Lindworsky, J., Voruntersuchungen über die Perseverations¬ 

tendenz der Vokale in der geordneten Rede. Ztschr. 
f. Psych. Bd. 78, H. 3/4. (S. 223*.) 

44. Löhlein, M., ijrsachenbegriff und kausales Denken. Med. 

Klinik Nr. 50, S. 1314. 

45. Marcuse, Ludwig, Die Individualität als Wert und die Phi¬ 

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Psych. Bd. 36, H. 2/3. 


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Hirt, Psychologie und Psychophysik. 


215 * 


liehen Erziehung. Klin. f. psych. u. nerv. Krankh. 
Bd. 10, H. 1, S. 57. (S. 216*.) 

61. Steinmann , Gustav Heinrich, Zur systematischen Stellung 

der Phänomenologie. Arch. f. d. ges. Psych. Bd.36, H.4. 

62. Stern, W., Die Psychologie und der Personalismus. Ztschr. 

f. Psych. Bd. 78, H. 1/2. (S. 226*.) 

63. Stuchlik, Jaroslav (Rot Kostelec), Über den Beschäftigungs¬ 

komplex. (Böhmisch.) (S. 231*.) 

64. Szymanski, J. S., Versuche über die Entwicklung der Fähig¬ 

keit zum rationellen Handeln bei Kindern. Ztschr. f. 
Psych. Bd. 78, H. 5/6. * 

65. Trüb, H. M. (Zürich), Über Aufmerksamkeit und Auffas¬ 

sungsfähigkeit bei Gesunden und Kranken. Inaug.< 
Diss. Zürich. 51 S. 

66. Verworn, Max (Bonn), Die Frage nach den Grenzen des 

Erkenntnisses. 2. Aufl. Jena, G. Fischer. 52 S. — M. 1.20 

67. Voß, G. (Krefeld), Assoziationsversuche bei Kriegsteil¬ 

nehmern. Sitzungsber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. 
Psych., R. u. E. Bd. 14, H. 5, S. 407. 

68. Weygandt, W. (Hamburg), Über Psychologie und Psycho¬ 

pathologie der kriegführenden Völker. Mitteil. a. d. 
Hamburgischen Staats-Krankenanstalten Bd. 15, H. 11, 
S. 201. 

69. Winkler, C., Das System Prof. Sigm. Freuds. Geneesk. Bl. 

vol. 19, p. 269. 

70. White, Sophie D., May, Sybil, and Washburn, M. F., A Study 

of Freshmen. The Americ. Journ. of Psych. vol. 
XXVIII, no. 1. 

71. van Woerkom, W., Über Raumsinn, Zeit- und Zahlenbegriff. 

Der Einfluß ihrer Störung auf das Handeln, die Sen¬ 
sibilität und den Denkmechanismus. Ned. Tijdschr. v. 
Geneesk. vol. 61 (I). 

72. Wolff, Gustav, Zur Frage des Denkvermögens der Tiere. 

Ztschr. f. Psych. Bd. 77, H. 3/4. 

73. Zimmermann, P., Über die Abhängigkeit des Tiefenein¬ 

drucks von der Deutlichkeit der Konturen. Ztschr. f. 
Psych. Bd. 78, H. 5/6. (S. 223*.) 


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216 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. v 

Der Umfang des Gebietes, das eine Wissenschaft zu erhellen vermag, and 
nicht minder die Sicherheit ihrer Ergebnisse, wird in hervorragendem Maße mit¬ 
bestimmt durch die ihr eigenen Methoden. In den Dienst der Psychologie sind non 
die experimentellen Methoden hauptsächlich zu dem Zwecke eingeführt worden, 
um das, was die Selbstbeobachtung mehr qualitativ erfaßt, quantitativ zu be- 
stimmen, indem entweder die auslösenden Beize gezählt und gemessen oder die 
körperlichen Reaktionen psychischer Vorgänge nach Größe und Dauer festgesteüt 
werden. In der Regel werden diese „physiologischen“ Bestimmungen für sehr exakt' 
und zuverlässig angesehen. R. Sommer (60) möchte sie daher zur Messung turne¬ 
rischer Leistungen heranziehen. Es ist daher sehr beachtenswert, daß Schütz und 
Wittmann (56) in der Lage sind, gegen eine dieser am häufigsten angewendeten 
Meßmethoden, die ergographische, eine Reihe von Einwendungen zu erheben. 
Zwar hat Volkmann schon im Jahre 1870 geschrieben: „Betrachtet man den Inhalt 
der Kurven al§ Maß der. Arbeit, so sieht man, daß ziemlich beträchtliche Ermüdung 
der Größe der Arbeit nur wenig schadet, wenn man dagegen beim Bemessen der 
Arbeit auch auf die Zeit, die sie beansprucht, Rücksicht nimmt, so findet sich, daß 
sie dann mit der Ermüdung 'eine sehr rasche Verminderung erfährt“ Trotzdem 
werden in den meisten Arbeiten mit dem Ergographen noch heute die Arbeitsgröße 
gleich der Summe der Einzelhebungen, die Arbeitszeit gleich ihrer Länge gesetzt. 
Schütz zeigt nun, daß eine solche Auswertung der Ergogramme ungenau ist, wefl 
sie die Schwingungen unberücksichtigt läßt, die sowohl das gehobene wie das wieder 
gefallene Gewicht ausführt, weil es an einer elastischen Darmsaite oder einem Draht 
hängt. Diese Schwingungen können in dem Augenblick, in dem eine neue Hebung 
beginnt, das Gewicht in der Richtung der lebenden Kraft bewegen, diese also 
unterstützen, oder in umgekehrter Richtung gehen und die hebende Kraft um 
jenen Kraftaufwand belasten, der erforderlich ist, um die Tendenz des Falles auf; 
zuheben. Die eigentliche Hebung beginnt dabei bald unterhalb, bald oberhalb der 
Abszisse, wie auseinandergezogene Kurven auf rasch rotierender Trommel deutlich 
zeigen. Die übliche Schlittenregistrierung erweist sich, verglichen mit der Ge¬ 
wichtsregistrierung, als ungenau. Die zur Überwindung im Apparat selbst liegen¬ 
den Widerstände, besonders der Reibung aufgewendete Arbeit wird überhaupt 
nicht aufgezeichnet Da der Arbeitsrhythmus ununterbrochen wechselt, läßt sich 
ein Bild der effektiven Leistung nur bei Berücksichtigung der variablen Arbeits¬ 
zeiten gewinnen. 

Von großer methodologischer Bedeutung scheinen mir Baade s Ausführungen 
über „Selbstbeobachtung und Introvokation“ (8. 4) und über „experimentelle 
Untersuchungen zur darstellenden Psychologie“ zu sein. Um planmäßig „im- 
mediat-konsekutive“ Beobachtungen zu ermöglichen, z. B. um den unmittelbaren 
Eindruck von Wahrnehmungen darzustellen, wurde der sich abspielende psychische 
Prozeß durch homosensorielle oder heterosensorielle Reize unterbrochen, die der 
Versuchsperson als Signal dienten, daß sie ihre Aufmerksamkeit nun sofort auf 
die Selbstbeobachtung zu richten habe. Die Methode hat eine gewisse Ähnlichkeit 
mit den schon früher von Baxt, Catteil, Schumann u. a. anges teilten „ Löschreiz- 
versuchen“, in denen das Nachbild von Gesichtsreizen durch nachfolgende stärkere 


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Hirt, Psychologie and Psychophysik. 


217 * 


Beize zam Verschwinden gebracht and der Erkennnngsvorgang bis zum Auftreten 
der Löschreize möglichst genau analysiert wnrde. Es bestand bei diesem Unter¬ 
suchungen aber nicht .die Instruktion der Versuchsperson, ihre Aufmerksamkeit auf 
das Signal hin umzusteuem, wie Bande sie gibt. Trotzdem ist das zweifellos in 
gewissen Versuchen (denen Schumanns) vorgekommen und sind dadurch immediat- 
konsekutive Beobachtungen zustande gekommen. Bande verwendet die Intro- 
vokationsmethode in erster Linie zu einer „ Mikrotomierung“ des Wahrnehmungs- 
prozesses, wobei sie besonders geeignet scheint, die ganze psychische Strecke auf das 
Vorhandensein „isolierter Empfindungen“ abzusuchen, oder die vorsprachliche 
Phase von den späteren, in denen sich Sprachvorstellungen finden, zu trennen, die 
Phasen des „Noch-nicht-erkennens“ oder des „Hörens-ohne-zu erkennen“ bzw. 
„Sehens-ohne-zu erkennen“ vom „unsprachlichen Erkennen“ und andern 
späterenPhasen zu scheiden. Die genauere Untersuchung des Unterschiedes zwischen 
originärer und progressiver Phase führt dann neben der Frage nach den isiolierten 
Empfindungen noch auf die nach einer „empfindungslosen“ Phase. Kurze Be¬ 
sprechungen der Ergebnisse solcher Untersuchungen auf den verschiedenen Sinnes¬ 
gebieten schließen die interessanten Darlegungen. Seinem Titel nach könnte man 
auch in Walter Hirte (29) Buch die Beschreibung einer psychologischen Methode 
vermuten. Es gibt eine solche jedoch nicht, sondern ist ein mit viel Wissen und 
Fleiß und mit nicht weniger Metaphysik unternommener Versuch, von einer allge¬ 
meinen Naturbetrachtung aus zu einer philosophischen Grundauffasssung von der 
Seele und ihren verschiedenen Erscheinungsweisen zu gelangen. 

Überaus reich sind die Ergebnissee der „Versuche über das Verhalten der 
Auffassungsfähigkeit gegenüber verschiedenen Gruppierungen schnell nacheinander 
durch das Gesichtsfeld geführter Buchstabenkomplexe“. M. H. Gehrcke hat sie 
vor dem Kriege angestellt, G. E. Müller nach Gehrcke s Tod auf dem Schlachtfelde 
bearbeitet (16). Der hier zur Verfügung stehende Raum erlaubt leider nur wenige 
Andeutungen. Die Versuchsperson hatte beim Erscheinen einer ein a enthaltenden 
Silbe jedesmal zu reagieren, bei allen andern Silben jede Reaktion zu unterlassen. 
Es werden nun Fehler gemacht, indem 1. geforderte Reaktionen unterlassen, 
2. unwichtige Reaktionen ausgeführt werden. Diese Fehler sind die Folge von 
perzeptiverUndeutlichkeit der vorgeführten Silben einerseits, lebhafter Erwartung, 
eine a-Silbe zu erblicken, andrerseits. Größe und Art der Schrift der Buchstaben 
Dauer ihrer Sichtbarkeit, Verhalten der Aufmerksamkeit und der Blickbewegungen, 
der Vp. sind dabei maßgebend. Der Erwartungsfaktor ist bei verschiedenen Vp. 
ungleich groß. Während eines Versuches kommen sowohl Ermüdungs- als auch 
Übungswirkungen zur Geltung. Die Ermüdung setzt den Erwartungseinfluß herab, 
steigert den Undeutlichkeitseinfluß, die Übung steigert die Erwartung durch Er¬ 
höhung der Gedächtnisresiduen der a-Silben und gestaltet das Verhalten von 
Aufmerksamkeit und Blickwendungen günstiger. Übungs- und Ermüdungswirkun¬ 
gen kombinieren sich. Steigerung der Vorführungsgeschwindigkeit erhöht die Un¬ 
deutlichkeit und setzt die Erwartung herab. Häufen sich in einem Versuch die 
a-Silben, so sinkt die Erwartung. Länge der leeren Intervalle zwischen den einzel¬ 
nen Silben und deren Konstellation sind von Einfluß auf die Zahl der Fehler. Nach 


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218 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

langen Intervallen werden — im allgemeinen — weniger Fehler gemacht, bei 
gewissen Vp. aber und unter gewissen Bedingungen setzen allzu lange Intervalle 
die Aufmerksamkeit herab. Die günstige Wirkung längerer Intervalle scheint sich 
u. U. auch noch für die Auffassung der übernächsten Silbe geltend machen zu 
können. Die gleichförmige Gruppierung der Silben (= gleicher Abstand von Silbe 
zu Silbe) ist für die Auffassung nicht die günstigste. 

An dieser Stelle sei kurz Kliens (3S) „Beitrag zur Psychopathologie und 
Psychologie des Zeitsinns“ erwähnt. Bei dem 8jährigen Patienten konnte eine 
widerspruchslose Erklärung seiner Zeitsinnstörung — es stellte sich anfallsweise der 
Eindruck ein, als ob die Veränderungen in der Umgebung und am eigenen Körper» 
z. B. das eigene Sprechen, viel rascher sich vollzögen als in der Norm — durch die 
Annahme einer „krankhaften Störung des sensoriellen Mechanismus der Zeit* 
Wahrnehmung“ gegeben werden. Der Fall stellt also einen Beweis für die W irksam- 
keit dieses Mechanismus bei der normalen Wahrnehmung von Zeitgrößen dar* 

Babäk (1) versucht nachzuweisen, daß die analytische, deskriptive Psycho¬ 
logie nur irrtümlicherweise unter der Bezeichnung „Empfindung“ auch eine rede 
Existenz sucht, obgleich es sich in der Wirklichkeit nur um eine fiktive Größe handelt. 
Denn das, was man unter dem Namen Empfindung als denkbar Einfachstes begreifen 
möchte, ist immer und immer unendlich kompliziert, abgesehen dabei davon, daß 
das Ansreißen eines Stückes aus dem fließenden dynamischen Prozeß zur Grund¬ 
lagebestimmung für psychologische Lehre wohl nicht genügt. 

(Jar. SiuchHk, Rot-Kostelec.) 

Daß beim Zustandekommen jeder Wahrnehmung ein unmittelbar vom Reiz: 
abhängiger Empfindungsbestandteil zusammenwirkt mit Spuren früherer Erregun¬ 
gen, ist als allgemeine Tatsache bekannt. Das Wahmehmungsbild ist die Re¬ 
sultante aus Empfindungskomponente und Residualkomponente. Es waren nun 
von Ranschburg gewisse Auffassungsfehler (Transformationen oder Defekte bei der 
Auffassung homogener Reizreihen — Stellungsfehler bei der Auffassung heterogener 
Reihen) vorwiegend auf die Reizkomponente bezogen und, wie analoge Fehler der 
Gedächtnisleistung, durch ein „neuro-psychologisches Grundgesetz“ zu erklären 
versucht. Das Gesetz lautet: „sich berührende Inhalte und Vorgänge der Seele 
stören sich in ihrer selbständigen Entwicklung um so weniger, *je heterogener, um 
so mehr, je homogener sie sind; oder auch: das Gleichartige strebt je nach den» 
Grade seiner Gleichheit zur Verschmelzung in eine Einheit.“ Dieser psychologi¬ 
schen Verschmelzung soll physiologisch eine Art von Hemmung entsprechen. In 
einer eingehenden Diskussion der grundlegenden Versuche und ihrer Interpretation 
weist nun Hans Henning (2b) nach, daß die psychologischen Grundlagen sich dem 
neuro-psychologischen Grundgesetz nicht fügen, daß Ranschburg sehr verschieden¬ 
artige Tatbestände unter dieselben Begriffe zusammenfaßt, und daß eine Erklärung 
der Ranschburgschen Versuchsergebnisse, die Henning durch zahlreiche planvoll 
variierte Experimente vermehrt, nur durch Berücksichtigung der Residualkom¬ 
ponente gegeben werden kann. Die Residualkomponente kann bei sukzessiver 
Beanspruchung nicht zweimal ansprechen, und die Zeit, innerhalb der dies der 
Fall ist, entspricht der physiologischen Refraktärzeit Sie nimmt in der Ermü düng» 


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Hirt, Psychologie und Psychophysik. 


219 * 


in der Narkose usw. zu. Andrerseits bedingen Wiederholung und Übung eine größere 
Bereitschaft. Es gilt dies für die Auffassungstätigkeit auf verschiedenen Sinnes¬ 
gebieten, insbesondere auf dem optischen und auf dem akustischen. Auf letzterem 
kommt es unter den genannten Bedingungen zu Fälschungen und zu Kontamina¬ 
tionen; der kleinste Auffassungsausfall betrifft mindestens ein ganzes Lautelement, 
der größte das ganze Wort. Das Residuensystem eines Wortes ist kompliziert 
gebaut, es ist etwas anderes als das sukzessive Ansprechen der seinen einzelnen 
Lautelementen angehörigen Residuen. Die Auffassung mehrerer kleiner Worte 
wird leichter gestört wie die eines großen mit ebensoviel Lautelementen. 

Eine Reihe von Arbeiten zeigt uns, daß die experimentelle Untersuchung in 
erfolgreicher Weise zur Erforschung komplizierterer seelischer Vorgänge heran- 
gezogen wurde. Seifert (58) untersuchte, ob die Eigenschaft „Fundament-Sein 
für eine Gestalt“ auf die Abstraktion derjenigen Elemente, denen diese Eigenschaft 
zukommt, einen Einfluß hat, und wie sich des näheren ein solcher Einfluß äußert. 
Den Vp. wurden tachistoskopisch vorgeführt: a) Figuren, Quadrate, Rechtecke, 
Dreiecke, Kreise, Ellipsen etc.; die Begrenzungen dieser Figuren waren dargestellt 
durch „einzelne, mit kleinen Abständen nebeneinandergesetzte Elemente von ver¬ 
schiedener Form und Farbe; b) dieselben Elemente zu gestaltlosen Haufen und 
regellosen Konglomeraten angeordnet. Bei objektiver Gestaltgrundlage wurde in 
69 Versuchen 58 mal zunächst die dargebotene Figur als einheitliche Gestalt auf¬ 
gefaßt und erst sekundär ihre einzelnen Bestimmtheiten (analytische Gestaltauf¬ 
fassung); 7 mal wurde von der primären Erfassung eines einzelnen Bestandteiles 
aus die Gestalt in mehreren psychischen Prozessen aufgebaut (synthetische G.-Auf¬ 
fassung); in 4 Fällen blieb die G.-Auffassung unentschieden. Die synthetische 
G.-Auffassung kam besonders dann vor, wenn die einzelnen Elemente der Bilder 
weiter auseinander lagen und deshalb „weniger deutliche Anweisungen zur Gestalt¬ 
bildung enthalten“. Bei objektivem Mangel jeder geläufigen Gestaltgrundlage 
resultiert gelegentlich ein „reiner Unregelmäßigkeitseindruck“ ohne Richtungs-, 
Geradheit«-, Krümmungseindrücke. Häufig jedoch treten aus der anfangs gestalt¬ 
losen Mannigfaltigkeit die letztgenannten Momente hervor, und zwar auch dann, 
wenn die objektiven Anhaltspunkte für diese Eindrücke sehr geringe sind. Es 
besteht nach den Aussagen der Vp. eine Art Gestaltungsdrang als Funktion 
unserer im normalen Leben stets unbewußt praktischen Orientierung, völlig gestalt¬ 
lose Eindrücke erwecken Unlust, nicht selten erleidet das ganz regellose Kon¬ 
glomerat in der Auffassung durch die Vp. eine Umbildung zu einer geläufigeren 
Form. Die Elemente, welche die Gestalt fundieren, brauchen nicht in gleicher 
Weise bewußt zu sein wie die Gestalt selbst. Sinnlicher Reizkomplex und Gestalt 
sind 2 Dinge. Der Gestalteindruck drängt sich meist vor Auffassung der Elemente 
auf, umgekehrt ist fehlende oder schwache Gestaltbildung der Erfüllung der Ab¬ 
straktionsaufgabe günstig. Abstraktion im psychologischen Sinne ist Heraus¬ 
sonderung eines Einzelgegenstandes aus einer gegebenen Vielfältigkeit auf Grimd 
einer Scheidung des psychisch Wirksamen vom psychisch Unwirksamen. Der 
Klarheitsgrad des Aufgefaßten braucht dadurch nicht unbedingt verstärkt zu 
werden. Mit vollzogener Abstraktion ist häufig ein Erfüllungsbewußtsein ver- 
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. n 


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220 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

bunden. IUusionsartige Umdeutungen von Farben im Sinne der Aufgabe sind 
nicht selten; es werden dabei immer ähnliche Farben verwechselt. Es läßt sich 
eine aktive und eine passive Abstraktion unterscheiden, letztere geht immer aus 
vom Objekt, das nicht gesucht wird, sondern sich darbietet. Die aktive A. stellt 
sich meist dar als ein sukzessives Durchwandern mit willkürlicher Aufmerksam* 
keit. Kombinationen aktiver und passiver A. kommen vor. Ferner finden wir 
positive und negative A., letztere bis zum empfindungsmäßigen Auslöschen. Selb¬ 
ständigkeit der Elemente ist für ihre Abstraktion vorteilhaft, ihr durch die Gestalt 
bedingter Zusammenhang stört die Abstraktion. 

Einen verhältnismäßig breiten Raum nehmen auch im Berichtsjahre 1917 
wieder die Arbeiten über Denkpsychologie an. Rangette (61) untersucht durch 
Aufgaben, die an das reproduktive, produktive und kritische Denken gestellt werden, 
wie sich die elementaren Inhalte, d. h. Vorstellungen, Schemata, Lokalisationen 
und Gedanken innerhalb eines komplizierteren Denkprozesses verhalten. An diesen 
elementaren Inhalten betätigt sich das Denken im Meinen, Urteilen, Schließen, 
und zwar unter dem Einfluß determinierender Tendenzen. Vorstellungen 
treten im Denkprozeß auf 1. als Begleiterscheinungen in zeitlicher Folge nach einem 
Gedanken als einordnende, dem Gedanken vorangehende und als ablösende Vor¬ 
stellungen; 2. innerhalb eines Denkprozesses, besonders beim mathematischen 
Denken. Der Gedanke kann sich aus der Vorstellung heraus entwickeln oder die 
Vorstellung bestimmen. Mit der Umgestaltung der Vorstellung ändert sich auch 
der Gedanke. Eine gewisse Verwandtschaft mit den begleitenden und den einordnen¬ 
den Vorstellungen zeigen die Schemata, die fast ausschließlich in der Philosophie 
und beim reproduktiven Denken als Stützen des Denkens Vorkommen, indem sie 
Gleichheiten, Ähnlichkeiten, Gegensätze, Gedankensysteme und dergl. repräsen¬ 
tieren und zum Ausdruck bringen. Sie drängen sich dem Denken als ein Mittelding 
zwischen Gedanken und Anschauungen auf: z. B. eine gerade Linie oder ein Kreis, 
die gewisse Begriffsschemata versinnbildlichen. Das historisch-geographische 
Schema bildet den Übergang vom eigentlichen Schema zur Lokalisation, d. h. zur 
räumlich-zeitlichen Einordnung, durch die Zeitepochen ausgefüllt oder charak¬ 
terisiert werden. Vorstellungen, besonders schwache optische Raumvorstellunngen, 
spielen dabei oft eine Rolle. Die Lokalisation kommt nur beim reproduktiven 
Denken als Stütze vor (Stiften räumlich-zeitlicher Lok. als mnemotechnische 
Hilfe!), hat also ihr Hauptgebiet beim geschichtlichen Reproduzieren. — Vor 
Stellungen, Schemata, Lokalisationen bilden die anschaulichen Elemente im Denk¬ 
prozeß. Ihnen stehen als unanschauliches Element die Gedanken gegenüber. Ihr 
Auftreten, ihre Entwicklung und ihre Gestaltung werden beeinflußt von der Auf¬ 
gabe, vom Willen und vom Gefühl, während sie hinwiederum Vorstellungen und 
Schemata in sich aufnehmen. Der unanschauliche Gedanke oder Gedankenkreis 
wird durch eine Vorstellung oder ein Schema, ein Wort anschaulich — aber unvoll¬ 
kommen — repräsentiert. Der ganze Gedanke kann wegen der Enge des Bewußt¬ 
seins nicht auf einmal erfaßt werden. Aber es gibt auch völlig unanschauliche 
Repräsentationen von Gedankenkomplexen — „Gedanken, die als Teil des ge¬ 
samten Komplexes erscheinen und gleichzeitig Repräsentanten des ganzen Korn- 


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Hirt, Psychologie und Psychophysik. 


221* 


plexes sind“. Solche Gedanken verkünden eine reproduktive Bereitschaft oder 
regen einen weiteren Gedankenkreis an. Auch ein „allgemeines, nicht näher ana¬ 
lysiertes Wissen“ kann dem Denken zugrunde liegen. Diese Formen unanschau¬ 
licher Repräsentation lassen Klarheits- oder Deutlichkeitsstufen beobachten bzw. 
gehen solche Stufen ineinander über, z. B. das „Wissen implicite“ in klares Wissen 
der Einzelheiten. Die Gedanken machen eine Entwicklung durch, die im wissen¬ 
schaftlichen Denken längere Zeit zu erfordern pflegt als im reproduktiven Denken, 
das sich auf ein Schon vertrautes Wissensgebiet erstreckt, die aber auch dort plötzlich 
zum Auftreten des richtigen Gedankens führen kann (Intuition). Von dieser Ge¬ 
dankenentwicklung verschieden ist die Anbahnung der Gedanken im Denkprozeß, 
z. B. durch die Aufgabe, durch Konstatierung von Beziehungen oder Zusammen¬ 
hängen, also verhältnismäßig passiv im Vergleich zur mehr aktiven Gedanken¬ 
entwicklung. Den elementaren Inhalten gegenüber bedeutet das Denken selbst 
eine wählende und dirigierende Kraft. Durch sie werden die durch die Aufgabe, 
das besondere Wissensgebiet und das bereitliegende Wissen erregten anschaulichen 
elementaren Inhalte ausgesucht und in unanschauliche (Gedanken) übergeführt, 
Gedanken modifiziert und kombiniert; und das Ergebnis ist nicht nur durch ob¬ 
jektive, sondern auch durch subjektive Momente (Willensakte, Gefühle, ästhetische 
Regungen) bestimmt. Das Gedankliche ist das Wesentliche im Denkprozeß, doch 
darf darüber die Bedeutung des Anschaulichen nicht übersehen werden. Hier 
gewinnt die Ökonomie des Denkens praktische Bedeutung für die Ökonomie des 
Unterrichts und des Lernens Die Erkenntnis der Rolle, die Schemata, Lokalisa¬ 
tionen und Gedankenkomplexe spielen, zeigt sich in der Erkenntnistheorie. 
Schemata (Raumgestalten) und Lokalisation (Zeitgestalten) sind in uns, und 
wir „sehen sie in die Dinge hinein 1- . 

Geht Rangette auf experimentellem Wege auf eine Analyse der Denkvorgänge 
aus, so trägt Grünbaums ( 2, 23) Arbeit über die Funktion des Denkens und des Ge¬ 
dächtnisses den Charakter einer vorexperimenteilen Orientierung. Die bisherigen 
experimentellen Untersuchungen über das Gedächtnis bedienten sich vorwiegend 
des Assoziationsschemas und übertrugen seine theoretischen Voraussetzungen aus 
dem Gebiete der sinnlosen Silben — auf dem es zuerst von Ebbinghaus angewendet 
worden war — ohne weiteres in das Bereich der von Michotle und Banst/ als logisches 
Gedächtnis benannten Erscheinungen, indem sie intellektuelle Elemente wie as¬ 
soziative Zwischenglieder behandelten. Die Resultate werden durch ein solches 
Verfahren gewissermaßen antizipiert. Es muß daher eine vorhergehende prin¬ 
zipielle Klärung der Frage verlangt werden, „inwiefern das Beziehungsbewußtsein 
als ein Inhalt aufzufassen ist“, und die Beantwortung dieser Frage erfordert eine 
Klarstellung der Formen des Beziehungsbewußtseins und eine Feststellung 
über das psychische Wesen des Inhalts. Beziehungserlebnisse kommen in 
vierfacher Form vor: 1. als konkrete Stiftung, 2. als kategoriaie Stiftung, 3. als 
konkretes Meinen, 4. als kategoriales Meinen. Dabei sollen nicht nur die ent¬ 
sprechenden Gegenstände, sondern auch die fraglichen Akte selbst „eigentümlich 
konkret und kategorial angefüllt“ sein. Die konkrete Stiftung bleibt auf der Stufe 
des Ergreifens der Beziehung; Formung und Vergegenständlichung des Beziehungs- 

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222* 


(Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


erlebnisses sind dabei ausgeschlossen. Dadurch, daß neben dem Ergreifen der Be¬ 
ziehung eine unmittelbare kategoriale Formung stattfindet und eine Vergegen- 
ständlichung durch einen ausdrücklich gewollten Akt stattfinden kann, kennzeichnet 
sich die kategoriale Stiftung. Beim konkreten Meinen besteht der Beziehungsakt 
„letzten Endes in der Vergegenständlichung des Konkreten an dem Meinen“. Das 
kategoriale Meinen wird in seinem Aktcharakter durch den schon unabhängigen 
und kategorial gefaßten Gegenstand bestimmt. — Das psychische Wesen eines 
Inhalts findet Gr. überall dort, „wo ein unmittelbarer Hinweis auf eine Gegen¬ 
ständlichkeit vorhanden ist, welche von dem Inhalt als solchem verschieden distan¬ 
ziert werden kann“. Beziehungserlebnisse dürfen deshalb nur in jenen Fällen zu 
den Inhalten unseres Bewußtseins gestellt werden, „wo der Gegenstand unmittelbar 
durch den Akt konstituiert wird.“ Das trifft insbesondere beim kategorialen Meinen 
zu, wo das Beziehungserlebnis „als ein fest umrissener Inhalt, als eine Intention auf 
einen bestimmten Gedanken“ erlebt wird. Im konkreten Meinen ist die Beziehung 
und die konkrete Bestimmung der Fundamente ein unlösbares Ganzes, also ein 
fundierter Inhalt, und erscheint als solcher auch in dom Bewußtseinszusammenhang. 
Die kategoriale Stiftung dagegen wird in diesem Zusammenhang als Funktion 
erlebt und erscheint nur mittelbar als Inhalt, wenn sich auf ihr eine spezielle Ver¬ 
gegenständlichung und ein kategoriales Meinen bildet. Die konkrete Stiftung 
endlich weist niemals auf einen Gegenstand hin und wird daher niemals Inhalt. 
Sie ist nur Tätigkeit. Die Gegenstände, die diese Tätigkeit, in Beziehung setzt, 
sind, jeder für sich betrachtet, natürliche Inhalte. Die Tätigkeit selbst kann nur 
in der rückschauenden Betrachtung des Erlebten — ,.in Gedanken an die Be¬ 
ziehung“ — zum Inhalt gemacht werden. Von Klarheitsgraden kann gegenüber 
dem Beziehungsbewußtsein nach Gr. überliaupt nicht, gesprochen werden, da seine 
Auffassung nicht graduell abgestuft und inhaltlich doch identisch bleiben kann. 
Denn jede Veränderung des Beziehungsbewußtseins bringt zugleich eine Änderung 
des ganzen momentanen Erlebnisses mit sich. Ganz anders als das Verhältnis der 
Beziehungserlebnisse zu den Klarheitsgraden des Bewußtseins ist das zu den von 
E. Westphal aufgestellten Bewußtseinsstufen. Sie werden von Gr. gekennzeichnet 
als Unterschiede in der Art, wie uns determinierte Erlebnisse gegenwärtig sind. 
Demnach ist das schlichte Gegebensein keine Bewußtseinsstufe im Sinne Gr. s, es 
steht ja noch außerhalb jeder bewußten Beziehung zur Aufgabe. Auch das potentielle 
Wissen, „der inhaltliche Abschluß des Erkenntnisprozesses“, „die eigentliche Existenz¬ 
weise des Inhalts“ oder, wo das potentielle Wissen unanschaulich bleibt, der Buhler - 
sehe Gedanke, ist weit davon entfernt, die Gegebenheitsarteines Inhaltes zu sein 
und kann deshalb auch nie t als Bewußtseinsstufe betrachtet werden. Gegebensein 
und potentielles Wissen sind vielmehr „Arten der Gegenstandsbildung“, und zwar 
ist das Gegebensein das Das, das potentielle Wissen das differenzierte Was des 
Inhalts. Die eigentlichen Bewußtseinsstufen dagegen — Bemerken und Kon¬ 
statieren — sind durch ein immanentes Tätigkeitsbewußtsein ausgezeichnet, das 
der Differenzierung des Inhalts durch die Tätigkeit des Ichs entspricht. Bemerken 
und Konstatieren heben natürlich das Gegebensein als solches nicht auf, sondern 
bedeuten bestimmte Arten des Bezogenseins auf den Inhalt, sind „Stofen der Gegen- 


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Hirt, Psychologie und Psychophysik. 223* 

Standsformung“ unter dem Gesichtspunkte der Aufgabe. Und zwar entspricht das 
Bemerken der inneren Frage im formulierten Denkprozeß, die Konstatierung der 
Bejahung. Im Gebiete der Funktionen entspricht nun dem schlichten Gegebensein 
die Tatsache des Bewußtseins, daß wir eine Funktion vollzogen haben. Schon 
auf dieser ersten Stufe erreicht die Funktion — im Gegensätze zu den Inhalten — 
„ihren höchsten W'irklichkeitsakzent“. und zwar, wie Gr. ausdrücklich bemerkt, 
nicht durch ein thetisch-anerkennendes Urteil über die Existenz der Funktion, 
sondern durch die Evidenz des Erlebnisses. Es ist das ein unmittelbares 
Bewußtsein im Vergleich zu dem mittelbaren repräsentativen der Inhalte, das 
auf ein präsentatives sich stützt. Funktionsbewußtsein und Inhaltsbewußtsein sind 
also essentiell verschieden. Auf das Gegebensein der Funktion folgt die noch 
schlichte Differenzierung des Erlebnisses — ungefähr dem potentiellen Wissen 
entsprechend —, sodann die Konstatierung, durch die die urteilsmäßige Bestätigung 
des differenzierten Erlebnisses erfolgt. Als. Analogon zum Bemerken unter dem 
Gesichtspunkte der Aufgabe führt Gr. die Bichtungsorientierung über ein ver¬ 
gangenes Erlebnis an, das zu wenig differenziert war, als daß man es mit der Stufe 
des potentiellen Wissens vergleichen dürfte. Man kann aber nachher ungefähr die 
„Richtung des Erlebnisses“ angeben. — Funktionen werden nie zur Vorlage der 
Aufgaben gemacht, und darauf beruht nach Gr. letzten Endes die Verschiedenheit 
der Inhalte und der Funktionen. Darauf aber, daß in der psychologischen Analyse 
der Funktionen von ihnen Analoges verlangt wird, wie von den Inhalten — „daß 
sie auf irgendeine "Weise als Vorlage für die analytische Orientierung einer Be¬ 
schreibung dienen sollen“ —, ist es zurückzuführen, daß trotzdem alle Stufen der 
Funktion Analogien der entsprechenden Bewußtseinsstufen der Inhalte sind. Je 
mehr ein Beziehungserlebnis sich der inhaltlichen Verselbständigung nähert, vor 
allem also die zwei Formen des Meinens. desto klarer weist es Bewußtseinsstufen 
auf und umgekehrt. 

Noch manche andere experimentelle Arbeit aus dem Berichtsjahre zeitigte 
interessante Resultate. M. Antonie Gerrirj (19) faßt die gefundenen Ergebnisse 
selbst folgendermaßen zusammen: 1. Die Schätzung von Armbewegungen hängt 
nicht unmittelbar von der Zeitauffassung ab. 2. Nicht nur bei kleinen, sondern 
auch bei großen Strecken ist der Einfluß der Zeitdauer sehr gering, mit wachsender 
Übung nimmt er ab. 3. Bei großen Bewegungen tritt im allgemeinen eine Über¬ 
schätzung der Strecke auf, die bei stärkerer Muskelkontraktion durchfahren wird. 
Nach ungewöhnlich guter Einübung in die Versuche fällt diese Erscheinung weg. 
Lmduorsky (43) wies in der geordneten Rede eine Perseverationstendenz der Vokale 
nach, die bei der Mehrzahl der Vpn. einen stark betonten Vokal eher wiederkehren 
läßt als einen schwach betonten, die Wortzahl beeinflußt und damit zu Vokal- 
sperrungen bzw. Vokalhäufungen führt. E. Zimmemiann (73) zeigte, daß jedes 
Moment, das die Konturen schärfer, deutlicher hervortreten läßt und den Eindruck 
der Körperlichkeit verstärkt, den Tiefeneindruck steigert. 

Von philosophischen Arbeiten, soweit solche für den Psychologen von be¬ 
sonderem Interesse sind, bringt das Jahr 1917 zunächst den Schloß von Karl Groos' 
(21) „Untersuchungen Über den Aufbau der Systeme“, und zwar die Erörterung 


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224* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

der monistischen Lösungen. Mit Recht betont der Verf. einleitend, „daß derselbe 
Philosoph, der in einer Hinsicht ein Anhänger des Monismus ist, andersartigen 
monistischen Tendenzen verneinend, ja feindlich gegenüberstehen kann“, daß also 
„mit dem Bekenntnis, „ich bin Monist“, nicht viel gesagt ist“. Groos unterscheidet 
zunächst,,antipluralistischen und antidualistischen M.“, je nachdem eine 
bloße Vielheit oder eine nach zwei entgegengesetzten Begriffen gesonderte Mehrheit 
dem Gedanken der Vereinheitlichung unterworfen wird. Vereinigt sind beide Ziel¬ 
richtungen z. B. bei Spinoza, der lehrt, daß es nur eine einzige Substanz gebe 
und sowohl den Dualismus von Gott und Welt wie auch den von ausgedehnten und 
denkenden Substanzen leugnet; bei Parmenides und Schopenhauer überwiegt die 
antipluralistische Richtung, während Haeclcel und der Deutsche Monistenbund, 
in deren Lehren der Gegensatz „Gott — Welt“ und „Leib — Seele“ im Vordergrund® 
steht, in der Hauptsache antidualistisch sind. Der M. kann ferner quantitativer 
Art sein, indem er die Prinzipien des Seins der Zahl nach auf ein einziges beschränkt 
(Singularismus nach Külpe, Einigkeitslehre nach Eisler) und qualitativ durch die 
Lehre, daß das Sein nur von einer Art sei Weiterhin lassen sich ein M. der Sub¬ 
stanz und ein M. des Geschehens unterscheiden, ein M. des Ursprungs 
und ein M. des Endzieles. 

Descarks , der an dem Unterschied von Gott und Welt und dem Gegensatz 
materieller und spiritueller Substanzen festhält, ist in diesem Sinne Dualist, er ist 
aber Monist im Hinblick auf die Weltursache und auf das Ganze des bestehenden 
Seins, über dessen Gegensätzen Gott als „höhere Einheit“ steht. Ähnlich 
Plotin: Unter der höchsten Einheit der Dualismus des Nus und der von ihm ge¬ 
dachten Ideen. Ähnlich mch'Leibniz: Gott—Reich der Natur und Reich der Gnade. 

* 

In der höchsten Einheit (Gott) vermögen alle Gegensätze ineinanderzufallen (co- 
incidentia oppositorum), aber stets befinden sich die Gegensätze nach den 
entsprechenden Anschauungen hier außerhalb der Einheit, diese steht über den 
Gegensätzen. Erst die Zweiseitenlehre löst den Gegensatz, indem sie die 
Doppelseitigkeit Eines Wesens diesem immanent sein läßt Dabei können die 
beiden Seiten des einen Wesens real oder nur Erscheinungen für uns sein. Ist dieser 
Monismus nicht als solcher der Substanz, sondern als einer des Geschehens gedacht, 
so wird die Zweiseitenlehre nur Zweireihenlehre. Dabei kann dann entweder 
die materielle oder die psychische Seite als das an sich Reale vorgesteüt weiden. 

Gegenüber dem pluralistischen Eindruck der unmittelbaren Erfahrung bedarf 
das monistische Denken besonderer Motive. Groos erinnert hierbei zunächst an 
den Doppelcharakter des Psychischen — „unser Bewußtsein weist ... neben der 
wechselnden Mannigfaltigkeit seines Inhalte das Moment der Einheit auf*. „Von 
dem allgemeinen Begriff der Bewußtseinseinheit aus** will Groos „die Motive der 
monistischen Denkens mehr ins einzelne verfolgen** und erinnert dabei daran: 
„Schon der einzelne Begriff hat eine monistische Zielrichtung, indem er eine Viel - 
heit von Erscheinungen auf Grund von ähnlichen Zügen in seiner Einheit zusammen - 
faßt“, Über- und Unterordnung der Begriffe zielt wiederum auf Einheit, ,,wie daa 
Suchen nach einer Spitze der Begriffspyramide zeigt**, das bejahende Urteilen ist 
ein „Verbinden und Einheitstiften“, auch das Schließen stiftet Einheiten, „dabei 

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Hirt, Psychologie and Psychophysik. 


225* 

ist eine allbeherrschende Wahrheit für die Induktion Zielpunkt, für die Deduktion 
Ausgangspunkt“. In der Begründung mancher .Systeme zeigt sich insofern ein 
Monismus, „als die ganze gedankliche Konstruktion auf einem einzigen Funda 
mentalsatz aufgebaut ist“, z. B. bei Reinhold und Fichte. So überzeugend durch 
diese Erinnerungen gezeigt wird, „daß die monistische Denkweise dem inneren 
Wesen unserer allgemeinsten Erkenntnismittel entgegenkommt“, so muß mau sich 
doch fragen, w'as diese Tatsachen mit der Bewußtseinseinheit zu tun haben, von 
der aus Groos diese Tatsachen entwickelt zu haben meint. Offenbar handelt es 
sich doch bei diesem und bei jenem um ganz Verschiedenes. Letzteres ist eine nicht 
weiter erklärbare Erlebnistatsache, erstere sind durch die Tätigkeit des Geistes 
gestiftete Einheiten. Und nur sie sind gekennzeichnet durch jenes „Streben nach 
Vereinheitlichung der gegebenen Mannigfaltigkeiten“, aus dem auch die monisti¬ 
schen Anschauungen und Systeme hervorgehen. Zu den genannten Tendenzen 
unserer Erkenntnistätigkeit treten sodann weiter, wie Gr. nachdrücklich betont, 
die „Bedürfnisse des Gemüts“ als monistische Motive hinzu. „Wendungen wie 
„Ein Gott“, „Ein Gesetz“, „Ein Reich des Guten“ usw. „klingen, als ob sie die 
Befriedigung“ einer tiefen Sehnsucht mit sich führten“. Gr. hätte hier vielleicht 
noch besonders auf den metaphysisch-erkenntnistheoretischen Ausdiuck „Der 
All-Eine“ verweisen können. Die „Einheit des Mannigfaltigen“ bildet eine wichtige 
Vorbedingung der ästhetischen Befriedigung, und „so wird wohl auch das mo¬ 
nistisch durchgeführte Weltbild als ein Gebilde . aus einem Guß“ eine dem ästheti¬ 
schen Genuß“ verwandte Stimmung hervorrufen können“. „Die Einheit besitzt 
das Pathos der Ruhe, des Friedens dts Abschlusses“ und erzeugt leicht die Stirn - 
mung des Feierlichen und Majestätischen. 

Es folgt nun eine kritische Würdigung der verschiedenen monistischen Ge¬ 
dankengänge, wie sie seit Spinoza in den historischen philosophischen Systemen 
zum Ausdruck gekommen sind. Es liegt in der Natur der Aufgabe, die sich Groos 
hier stellt, daß seine Ausführungen hierüber in der Hauptsache philosophisches 
Interesse haben. An dieser Stelle soll daher nur das für den Psychologen besonders 
Wichtige wiedergegeben werden. 

Spinozas Lehre ist sowohl ein M. des Seins, als auch ein M. des Geschehens 
und trägt an manchen Stellen mehr realistischen, an andern wieder vorwiegend 
phänomenalistischen Charakter. Aber die beiden Reihen (Denken und Ausdehnung) 
erscheinen in seinem System kaum als völlig gleichwertig, die Ideen sind vielmehr 
nur eine passive Begleiterscheinung des physischen Geschehens. „Das Psychische 
ist die Spiegelung der modi extensionis im Bewußtsein.“ Diese materialistische 
Tendenz Spinozas tritt klar in seiner Stellung gegenüber den Gegensätzen von 
Kausalität und Finalität, Determinismus und Indeterminismus hervor. 

Wichtiger für die Psychologie ist die parallelistische Denkweise da, wo es 
sich, wie bei Mach oder Wundt, um die methodologische Unterscheidung physi¬ 
kalischer oder psychologischer Forschung handelt. 

Babdk (2) diskutiert in seiner zusammenfassenden Arbeit die psycho- 
monistische, philosophische Anschauung (Heymans, Strong , Paulsen Fechnet ); 
hauptsächlich beschäftigt er sich mit der Kritik der gegebenen Erklärung des Zu- 


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226* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917, 


standekommens telephatischer und mediumistischer Erscheinungen, wobei dieselbe 
als plausibel und diskutabel, wohl aber weiter Forschung bedürftig erscheinen läßt. 

Jar. Sluchiik (Rot-Kostelec). 

Mehr unmittelbar psychologisches Interesse bietet Sterns (62) schöne Arbeit 
„Die Psychologie und der Personalismus“. Sie geht geradezu darauf aus, darzutun, 
daß die wissenschaftliche Psychologie einer philosophischen Weltanschauung, im 
besonderen einer] personalistischen Philosophie nicht entbehren könne. Der 
Zentralbegriff des Psychischen muß zurücktreten hinter dem Begriff der Per¬ 
sönlichkeit. Stern führt uns in seiner Arbeit „einen aufsteigenden Weg“ „von der 
Mannigfaltigkeit der psychischen Tatbestände zur Einheit der Persönlichkeit“ 
und stellt dabei „vier psychologische Grundkategorieu: Phänomene, Akte. 
Dispositionen, Ich“ auf. „Der Mensch ist unitas multiplex.“ Die Merkmale dieser 
Einheit sind physische und psychische. Bisher wurde die Wissenschaft fast aus¬ 
schließlich vom Gegensatz dos Physischen zum Psychischen beherrscht, Stern 
sicht im Verhältnis der unitas multiplex den Schlüssel der Erkenntnis. Es gibt 
für dasselbe drei Deutungen: den volkstümlichen Seelenglauben (naiven Personalis¬ 
mus), die Auffassung, für die das Individuum „physisch eine Summe von Atomen, 
psychisch ein Bündel von Vorstellungen ist (Impersonalismus)“, endlich die Lehre, 
die im Individuum trotz und über seinen Teilen eine eigenartige und eigenwertige 
Einheit sieht (kritischer Personalismus). Diese letzte Auffassung „soll aus den 
Ergebnissen, Strebungen und Verlegenheiten der heutigen Psychologie heraus 
erarbeitet werden“. 

Im Physischen wie im Psychischen führen „ganz analoge Stufenleitern von 
den Elementen bis hin zum Individuum“. Dieses ist der notwendige, „über Psyche 
und Physis erhäbenc“ Abschluß. Die Beachtung dieser „Viel-Einheit“ muß bei 
der neuen Grundlegung der Psychologie von vornherein maßgebend sein; die 
Mannigfaltigeit muß durch Einheitsprinzip verstanden, dieses Prinzip als realer 
Wirkungsfaktor gegenüber dem Mannigfaltigen dargetan, das Verhältnis der 
Vielheit zur Einheit als ein Schichtensystem erkannt werden, in dem „jede Schicht 
zugleich eine völlig andersartige logische Kategorie“ bedeutet, und keine Schicht 
auf eine andere zurückgeführt, keine auch verselbständigt werden darf. 

Die unterste Schicht ist die der „psychischen Phänomene“ oder „Erleb¬ 
nisse“, um die ich weiß, die also bewußt, und die mir gegeben, also passiv sind. 
Beim Studium ihrer Zusammenhänge hat sich die Psychologie zumeist gescheut, 
auf die Persönlichkeitseinheit zurückzugehen, sondern versucht, durch Konsta¬ 
tierung abstrakter Gesetzmäßigkeiten, der Assoziation und Reproduktion, ihrer 
Aufgabe gerecht zu werden. Aber sie hat das nicht vermocht, denn sie mußte den 
Phänomenen plötzlich Aktivität zusprechen, derzufolge eine Vorstellung eine 
andere „nach sich zieht“, „hemmt“, „verstärkt“, ,nachwirkt“ u. dgl. m., sie mußte 
zwischen den bewußten Phänomenen hypothetische Brücken schlagen, indem sie 
unbewußte seelische Vorgänge annahm, und sie kann nicht leugnen, daß die „Ge¬ 
gebenheiten“ einen „Jemand“ fordern, dem sie gegeben sind und der durch ein Tun 
das Gegebene ergreift. Die Psychologie erst hinter diesem Tun beginnen zu lassen, 
geht bei den mannigfachen und unlösbaren Beziehungen dar „Akte“ zu den Phfino- 


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Hirt, Psychologie und Psychophysik. 


227* 


menen nicht an. So oft ich sage, „ich nehme wahr“, „ich denke“, „ich will“, 
„ich dichte“, „ich werte“, hebe ich „eine andere Seite des psychologischen Gesarnt- 
best&ndes heraus ..., die bei der bloßen Berücksichtigung der Phänomene 
zu kurz kommt (Tätigkeitsbewußtsein, Spannungsempfindungen, Strebebewußt¬ 
sein usw.) — wiederum Erlebnisse, die zunächst für die Existenz wirklicher Taten 
keinen Erkenntniswert haben. Sie bekommen ihn erst dort, „wo der Phänomen¬ 
psychologe die in den Phänomenen selbst liegenden Probleme nicht mehr lösen 
kann, d. h. beim Zusammenhang der Erlebnisse“. Dieser Zusammenhang ist 
sinnvoll, steht unter Zwecktendenzen und läßt sich nicht einfach als das Ergebnis 
von Assoziationen und Reproduktionen von Erlebnissen, sondern nur durch das 
Eingreifen zahlreicher Akte verstehen. Dabei ist festzuhalten, daß Akte und 
Phänomene zwei verschiedenen Dimensionen angehören. „Die Phänomene sind 
selbst nicht aktiv, die Akte sind nicht selber Bewußtseinsphänomene.“ Wenn 
„psychisch“ dasjenige ist, „was durch Selbstwahrnehmung erfaßbar“ ist, so sind 
die Akte nur in einem übertragbaren Sinne psychisch; denn sie sind aus ihren Be¬ 
wußtseinsniederschlägen (Tätigkeitsgefühlen, Spannungsempfindungen usw.) er¬ 
schlossen. Sie sind „psychophysisch neutrale Merkmale der Person“. Die zeitlich 
getrennten Akte gleicher oder ähnlicher Art werden zusammengehalten durch 
dauernde Wirkungsmöglichkeiten, die Dispositionen. So spröde sich die 
herrschende Psychologie gegen die Anerkennung derselben zeigt, sie arbeitet be¬ 
ständig mit ihnen, so oft sie in der Lehre vom Gedächtnis, der Übung, in Völker- 
und Kinderpsychologie tatsächlich dauernde psychische Beschaffenheiten feststellt 
Zu den Phänomenen stehen die Dispositionen nur mittelbar, durch die Akte, in 
Beziehung. Noch mehr wie diese sind sie also psychophysisch neutral, und wie 
die Akte sind sie selbst nicht bewußt, auch nicht unbewußt im gewöhnlichen 
Sinne, sondern „potentiell überbewußt“, in ihrer Einheit und Eigenart bestimmt 
„durch die Einheit des personalen Teilzieles“. Zusammengefaßt wird ihre Vielheit 
nach oben hin durch die Einheit der individuellen Wirkungsfähigkeit deslchs (Ich- 
Disposition): „Das Ich erlebt Phänomene, vielleicht Akte, besitzt Dispositionen“. 
Dieses Ich ist keine Bewußtseinstatsache, sondern Sein im Sinne der unitas 
multiplex, welche alles Psychische einschließt. Zugleich ist es ein psychisches 
Wesen und auch als dies physische Wesen in all seinen physischen Phänomenen, 
physischen Akten und Dispositionen als Organismus eine zielstrebende unitas 
multiplex. Wie verhalten sich das Ich als Träger der psychischen und der Organis¬ 
mus als Träger der physischen Zielstrebigkeit zueinander? Unzweifelhaft psychisch 
oder physisch fanden wir nur die Phänomene. Als psychophysisch neutral wurden 
Akt« und Dispositionen erkannt, ihre Scheidung in psychische oder physische ent¬ 
springt einer Abstraktion. Das Wesentliche am Ich sowohl wie am Organismus 
ist, daß sie eine Vielheit von Erscheinungen zu einer persönlichen Geschlossenheit 
zusammenfassen und der eigenen Zielstrebigkeit entsprechend lenken. Ich und 
Leib sind damit zusammenzufassen im Begriff „Person“. Das ist „eine solches 
Existierendes, das trotz der Vielheit der Teile eine reale eigenartige und eigen¬ 
wertige Einheit bildet und trotz der Vielheit der Teilfunktionen eine eigenartige 


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228* 


Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 


zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt“. Sie ist psychophysisch-neutral „... daß 
es reale Personen gibt, ist die Grundtatsache der Welt“. 

Aus dem Begriff der psychophysisch neutralen Persönlichkeit sind nun „in 
absteigender Untersuchung die besonderen Kategorien der Psychologie zu ent¬ 
wickeln“. Über der Psychologie steht die Lehre von der psychophysisch neutralen 
Persönlichkeit mit ihrem System der Zwecke der Selbsterhaltung und Selbst¬ 
entfaltung (Autotelie) und der aus dem Verhältnis zur Familie, Volk, Menscliheit 
und Gott entspringenden (Heterotelie). Für die Psychologie ist aus dieser Per¬ 
sönlichkeitslehre die Einsicht von Wichtigkeit, daß die entwickelten Persönlich¬ 
keitszwecke nicht psychische, sondern neutrale, nicht subjektive, sondern objek¬ 
tive sind, und daß die Bedeutung der Bewußtseinserlebnisse in ihren symbolischen 
Beziehungen zu den Zwecken der Persönlichkeit liegt. Der Grad der Bewußtheit 
dieser Beziehungen ist verschieden, größer bei der Selbstentfaltung als bei der 
Selbsterhaltung, am größten in den abstrakten Idealen. Die Verwirklichung der 
Zwecke zeigt uns die Dispositionen als Träger, die Akte als Mittel eines ..Tat¬ 
systems“. Dabei wirkt nicht nur die Person auf die Welt, sondern diese ist mit¬ 
bestimmend für das Sein und Tun jener (Konvergenz) und zwischen jedem einzelnen 
Weltvorgang und jedem einzelnen Personalvorgang — sowohl der „aktuellen“ = 
Aktionen, Reaktionen Handlungen, als auch der „chronischen Konvergenz“ = 
Dispositionen — steht bestimmend immer das ganze Zwecksystem der Persönlichkeit. 
Alle Tatsachen dieser Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Welt stehen 
an sich jenseits der Psychologie, aber jede psychologische Frage muß in die per- 
sonalistische Betrachtungsweise eingeordnet werden. Die Maßverhältnisse der 
Psychophysik gewinnen dann die Bedeutung von Verhältnissen zwischen Welt 
und Person, erhalten eine neue, teleologische Fassung. Das innere Maßsystem der 
Person bestimmt die quantitative Bedeutung eines Weltvorgangs, und hieraus ent¬ 
wickelt sich ein neuer Schwellenbegriff innerhalb eines psychophysisch neutralen 
„Projektionsgesetzes“, das an die Stelle des Fechner-W eiberschen Gesetzes tritt. 
Das Projektionsgesetz ist nicht nur auf die psychische, sondern ebenso auf die 
biologische, kulturelle, soziale und jede andere Zweckbeziehung anwendbar, die 
ein Umweltvorgang zur Person haben kann. Es ist aber nicht, wie e6 das F.-W. G. 
sein wollte, „der Ausdruck einer überall nachweisbaren empirischen Tatsächlichkeit, 
sondern nur ein heuristisches Prinzip der Beurteilung des quantitativen Person- 
Welt- Verhältnisses“. 

Die Anschauungen Sterns kann gerade der Psychiater nur freudig begrüßen. 
Ist doch die Geistesstörung — nach Schule s schon im Jahre 1896 gegebener De¬ 
finition — eine „Krankheit der Person“, als deren Erscheinungen nicht nur ab¬ 
normes Denken, Fühlen und Wollen, sondern auch krankhaft veränderte Abläufe, 
das sind „psychophysisch neutrale“ Vorgänge, zutage treten und die das Person- 
Welt-Verhältnis einschneidend und nachhaltig verändert. Es ist deshalb kein Zufall, 
daß M. Reichhardt (52 in seinem Vortrag „Theoretisches über die Psyche“ ähnliche 
Grundansichten entwickelt. „Erst der gesamte Organismus einschließlich Hirn und 
Psyche bildet eine in sich abgeschlossene funktionelle . . selbständige Einheit.“ 
Das Reich der Psyche ist abhängig von einer „vorpsychischen Zentralstelle“, die 


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Hirt. Psychologie und Psychophysik. 


229* 


über „unmittelbare, dem Leben selbst innewohnende“ Kräfte, über Aktivität, 
Spontaneität und zweckmäßige Selbstdirektion verfügt. Zwischen Psyche und 
Zentrum bestehen Wechselwirkungen. „Unmittelbar umlagert wird die Zentral¬ 
stelle von der individuellen Persönlichkeitsveranlagung.“ Die Psyche ist zwischen 
Zentralstelle und Außenwelt eingeschaltet, aber „die gemeinsame Triebkraft ... 
ist in der Zentralstelle zu suchen, d. h. in dem unmittelbaren zentralisierten Leben 
selbst. Das Reich der Psyche ist nicht Selbstherrscher im Organismus. Sondern 
das Leben ist der eigentliche Herrscher“, Mit Recht betont Reichardt . daß die 
meisten Geisteskrankheiten keine primären Krankheiten im Reiche der Psyche 
sind, sondern nur dorthin ausstrahlen. In all diesen Sätzen ist das, was Stern 
ausführt, sozusagen geahnt. Die lokalisatoiischen Anschauungen Reiehardts, so 
z. B. die, daß die Zentralstelle der Hirnstamm sei, werden allerdings, ehe sie all 
gemein anerkannt werden dürfen, noch eine ernstliche Prüfung zu bestehen haben, 
und manche seiner aus den Grundansichten abgeleiteten Sätze, z. B. der: „Je mehr 
die Außenwelt Einfluß hat, um so normaler ist der Geisteszustand“, sind sehr an - 
fechtbar. Sehen wir doch bei zahlreichen Kranken, daß dieser überwiegende 
Einfluß der Außenwelt sie zu keiner genügenden Geschlossenheit kommen läßt, 
ihre Persönlichkeit zerreißt und sie zum Spielball der Umstände macht. Doch 
sind das Bedenken, die den psychologischen Kern seiner Anschauungen nicht 
treffen und deshalb hier nicht weiter verfolgt werden sollen. — Eine verwandte 
Grundanschauung kommt in Goldscheiders kleiner Schrift (20) zum Ausdruck. 
Auch für ihn ist das Ich oder die Persönlichkeit die Einheit, welche Geist und 
Körper gleichmäßig umfaßt, und die wesentliche Eigenschaft dieser Einheit ist 
der Willensvorgang. 

Im Gegensatz zu den zuletzt referierten Ansichten bleibt das Ergebnis von 
R&visz (53)„ Geschichte des Seelenbegriffes und der Seelenlokalisation“ bemüht, für 
die Beziehungen der wesenverschiedenen Erscheinungen des Psychischen und des 
Physischen den treffenden Ausdruck zu finden, ohne doch entschlossen von der 
Grundtatsache der einheitlichen Persönlichkeit auszugehen. Darnach ist die Ge¬ 
samtheit der innerlichen Tatsachen die Seele. Diese ist weder eine Eigenschaft 
der Materie noch selbst eine Substanz, das Gehirn ist die Vorbedingung, aber 
nicht der Ort des psychischen Geschehens. 

Es ist schließlich noch kurz einiger psychopathologischer Arbeiten zu ge¬ 
denken, deren psycnologische Bedeutung in so verschiedenen Richtungen liegt, 
daß sie an einer früheren Stelle nicht untergebracht werden konnten. Horstmann 
findet in seinen Untersuchungen über den Negativismus (32) zunächst einmal 
eine ganze Reihe disponierender Momente (unentschiedene Wartungen bei ge¬ 
schwächter Urteilsfähigkeit, verschiedene Stellungnahme je nach der Stimmung, 
Ausgleich und Vereinheitlichung einander widersprechender, entgegengesetzter Be¬ 
wußtseinsvorgänge, Neigung der Gefühle von einem bestimmten Intensitätsgrade 
an umzuschlagen). Diesen mehr passiv wirkenden disponierenden Momenten Wird 
als aktiv wirksam der Kontrasthunger gegenübergestellt. Wie andere psycho- 
pathologische Erscheinungen hat auch der Negativismus seine Vorstufen im Physio¬ 
logischen, Normalen. Die krankhaften Grade sind der Ausdruck einer Störung der 


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230 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. 

(psychologischen) Selbstregulierung, einer Störung, die ihren Ursprung haupt¬ 
sächlich im Affektleben hat. 

Kohnstamw (41) beschreibt einen Soldaten, der durch Verschüttung und 
CO-Vergiftung bei wohlerhaltener Intelligenz eine schwere Schädigung dss Ge¬ 
dächtnisses erlitten hatte. „Das Gedächtnis ist wie mit einem Locheisen aus der 
Gesamtheit der Geistestätigkeit herausgeschlagen.“ Das spontane Merken war 
in höherem Grade beeinträchtigt als das erlernende. Es sind auch Fälle bekannt, 
in denen sich diese beiden Arten des Merkens gerade umgekehrt verhalten. Jeden¬ 
falls dürfen wir in den beiden voneinander verhältnismäßig unabhängigen Sym¬ 
ptomen „pathologische und auch physio-und psychologische Wesenseinheiten“ sehen. 

Endlich sei auf Ohf Klinbergs treffliche „Kritische Reflexionen über die 
psychoanalytischen Theorien“ (99) hingewiesen. Freuds Streben, die Ursachen 
der einzelnen psychischen Erscheinungen im normalen und die der einzelnen Sym¬ 
ptome im krankhaft veränderten Seelenleben aufzudecken, wird als eines seiner 
größten Verdienste anerkannt. Aber Freud verwechselt dabei bäußg Kausalität 
und Finalität. Die Annahme eines unbewußten Ichs und Willens hinter dem be¬ 
wußten steht damit in Zusammenhang, und da dieses Unbewußte einer weiteren 
Annahme zufolge in seiner unverkleideten Art bewußtseinsunfähig sein soll, hat 
Freud seine Symbollehre und seine Symboldeutung entwickelt. In der Erfahrung 
finden diese Annahmen keine Stütze. Dasselbe gilt von der allbeherrschenden 
Rolle, die er der Sexualität zuschreibt, und ebenso von der Einschätzung zahl¬ 
reicher Erscheinungen des Kindheitslebens als Äußerungen der — als polymorph 
pervers bezeichneten — kindlichen Sexualität. Die Mechanismen, die von den 
verschiedenen psychischen Instanzen benutzt werden, um die erträgliche seeb'sche 
Wirklichkeit zu erzielen'— Zensur, Verdrängung, Abreaktion u. dgl. m. —sind 
zum Teil ebenfalls hypothetisch, zum Teil im gesunden Seelenleben ebenso wirksam 
wie im neurotischen. Diese Tatsachen sind auch von einzelnen Psychoanalytikern, 
z. B. von Bleuler, anerkannt worden. Bleuler hat sich auch mit Energie gegen die 
exzeptionelle Bedeutung der sexuellen Traumen ausgesprochen und hat die gleich¬ 
artige Wertigkeit anderer affektbeladener Komplexe dargetan. 

SivchUk (t>3’> versucht in seiner experimentell-psychologischen Mitteilung 
zu demonstrieren, daß die Beschäftigung, der Beruf des Menschen in seiner £eele 
eine solche physische Konstellation schafft, die durch ihre Affektbeladung sich 
von dem seelischen Niveau erhebt, durch die Affektbetonung von andern psychi¬ 
schen Konstellationen bzw. Elementen unterscheidet. Nicht nur die affektiven 
Gründe der Wahl eines Berufes, die Ergebenheit zu demselben oder Unzufrieden¬ 
heit mit ihm, sondern auch tägliche diesbezügliche Ereignisse dürfen nicht spurlos 
in der Psyche vorübergegangen sein, sondern umgekehrt eine ständig existierende 
umschriebene, affektbetonte (oder in bezug auf den sonstigen Inhalt der Psyche 
aflektverschiedene) Vorstellungsgruppe bilden, die im Sinne des „Komplexes“ 
zürcherischer Psychiater wirken und infolgedessen sich auch nachweisen lassen 
müsse. Die ebenfalls nach den für das Assoziationsexperiment bestimmten Regeln 
der zürcherischen Schule zusammengestellten Reaktionsworte wiesen in den meisten 
Fällen, soweit sie den Beruf des Untersuchenden betroffen haben, verlängerte Re- 


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Hirt, Psychologie und Psycbophysik. 


231* 


aktionszeiten aal, d. L also präsentierten sich als zu einem ..Komplex“ zugehörig. 
In verschwindender Minderzahl der untersuchten Personen konnte auf diese Art 
und Weise der „Beschäftigungskomplex“ nicht nachgewiesen werden. Die dadurch 
offenkundig zugestandene Gleichgültigkeit zu dem Berufe bestätigt nur die sonst 
klar bewiesene obige Behauptung. Unter den Versuchspersonen befanden sich 
Lehrer, Ärzte, Studierende, Ingenieure, Kaufleute und Soldaten. 

Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec). 


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«Alphabetisches Inhaltsverzeichnis des Literator- 

berichtes. 

/ 

(Die Zahlen mit einem Sternchen (*) bedeuten die Seiten des Literatur¬ 
berichtes, die Zahlen ohne Stern die Nummern der angeführten Veröffent¬ 
lichungen.) 


1. Sachregister. 


Abderhaldensches Dialysier verfahren 
96* 22, 23. 97* 61,116, 116. 116* 119. 
Abmagerung 60* 166. 

Abort, siehe Schwangerschaftsunter- 
• brechung. 

Abwehrfermente 93* 1. 97* 49. 
Adrenalin 42* 71. 

Ärztliches Denken 46* 105. 
Agglutininbildung 96* 40. 
Agrammatismus 63* 213. 

Agraphie 143* 132. 164* 272. 
Akroasphvxie 150* 226. 

Akromegalie 73* 26. 187* 192. 192* 261. 
Akustikustumor 146* 167. 

Albumin: Globulin 113* 82. 
Albuminosen 47* 127. 

AJexie 143* 136. 

Alkaligehalt des Blutes 98* 66. 
Alkoholforschung 89* 26. 
Alkoholhalluzinose 89* 30. 90* 40. 
Alkoholismus 87* 2. 88* 6, 13, 14, 16, 

18. 89* 19, 21. 90* 36, 41, 43. 
Alkoholneuritis 88* 5, 10. 
Alkoholparanoia 88* 3. 109* 23. 
Alkohol und Tuberkulöse 88* 7. 89* 25. 
Alltagsleben 41* 53. 

Alopecie 41* 60. 

Alsterdorfer Anstalten 5*. 

Alzheim ersehe Krankheit 110* 43. 137* 
56. 

Amaurotische Idiotie 74* 34. 75* 43. 
47. 

Amentia 114* 88. 116* 102. 

Amnesie 109* 27. 140* 99. 214* 54. 
Amusie 140* 91. 


Amyotonia congenita 140* 98. 

Anämie 48* 138. 90* 44. 

Anarithmetik 140* 90. 

Anatomie der Gehirnarterien 134* 17. 
Anenzephalie 72* 2. 

Angstpsychose 114* 92. 

Anstaltsruhr 1* 2 b, 15. 
Antialkoholismus 90* 42. 
Antitryptischer Index 64* 225. 98* 64. 
Aphasie 137* 58, 59, 60. 140* 92, 93, 
94. 147* 186. 163* 268, 259. 
Arbeitsfähigkeit und Unfallentschädi¬ 
gung 28* 32. 

Arbeitstherapie 194* 289. 

Areflexie 153* 262. 

Armbewegungen 211* 19. 
Arteriosklerose 111* 52. 146* 168. 
Assoziationsversuche 216* 67. 

Athetose 176* 60. 186* 162, 163. 194* 
282. 196* 313. 

Aufbau der Systeme 212* 21. 
Aufmerksamkeit 211* 17. 215* 65. 
Augenzittern 187* 195, 196. 197. 

Balkenstich 38* 6, 7. 

Bamberg, St. Getreu 7*. 

Bangs Methode 94* 5. 

Bäränyscher Zeigeversuch 39* 26. 40* 
37. 52* 197. 134* 18. 

Basedowsche Krankheit 179* 80. 182* 
130. 183* 142, 146. 184* 158, 159. 
185* 170. 191* 244. 194* 291. 
Bayreuth 5*. 

Begehrungsvorstellime^n 186* 18. 194* 
285. 


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Inhaltsverzeichnis. 


233* 


Begriffsüberschiebungen 211* 12. 
Beinfasern in den Pyramidenbahnen 
134* 27. 

Beobachtungshaus 1* 3. 

Bergmannswohl 5*. 

Beriberi 88* 17. 89* 28. 

Berlin, Stadt. Irrenpflege 5*. 

Bernische kantonale Anstalten 5*. 
Berufsgeheimnis 28* 31. 
Besehäftigungskomplex 215* 62. 
Bevormundung 30* 59. 
Bewegungstherapie 192* 257. 

Bewußtlos Aufgefundene 31* 71. 
Bingelli 31* 75. 

Biochemie 44* 92. 62* 199. 

Blaue Sklerae 53* 209. 

Blitzschlag 45* 98. 112* 75. 
Blutantitrvpsine 94* 4. 108* 18. 
Blutdruck 49* 152. 54* 224. 119* 169. 
Blutdrüsenerkrankungen 74* 31. 183* 
137. 

Blut indi kan 94* 11. 

Blut- und Liquordiagnostik 95* 26. 

96* 27. 112* 65, 71. 
Blutuntersuchung 29* 53. 114* 100. 
Bonner Klinik 41* 48. 

Botulismus 88* 8. 89* 33. 90* 39. 
Brandstifter 31* 81. 

Breslau 5*. 

Briefe an Angehörige 39J 20. 
Brinkgreven 2* 12. 

Brocasche Stelle 139* 87. 

Bromtherapie 39* 24. 108* 12. 186* 
168. 

Brucksche Reaktion 94* 6, 7. 10, 13. 

95* 19, 20. 97 * 46, 48. 98* 55, 59, 62. 
Buchstabenkomplexe 211* 16. 
Buchstabieren 212* 34. 

Bulbärapoplexie 143* 135. 
Bulbusdruckphänomen 115* 111. 
Burghölzli 6*. 

Carnegie-Institut 88* 6. 

Cauda equina 154* 268. 

Cery 6*. 

Cholesteatom des Hirnanhangs 146*173. 
Chorea 14* 125. 111* 63. 115* 104. 
144* 151. 174* 18. 180* 106. 186* 
180. 191* 242. 

Coitus interruptus 182* 127. 

Darmkrankheiten 44* 94. 112* 72, 73. 
Degeneration der Maculagegend 61* 
188. 154* 275. 

Degenerationszeichen 44* 89. 


Dementia paralvtica 134* 23. 135* 39. 
151* 230. 

Dementia praecox 107* 9. 109* 21, 22, 
24. 29, 30. 110* 46. 111* 67, 69. 
112* 67. 114* 99. 116* 127. 
Demenz, angeborene und erworbene 
108* 10. 

Denkprozesse 214* 51. 216* 72. 
Depressionszustände 116* 118. 
Dercumsche Krankheit 174* 11. 
Dermographismus 50* 172. 

Diabetes insipidus 173* 6. 

Diagnostische und therapeutische Irr- 
tümer 47* 130. 114* 96. 136* 37. 
186* 182. 195* 2%. 
Dienstbeschädigung, D.B.-Frage 25* 9. 
29* 47, 48, 56. 31* 70, 83. 110* 48. 
114* 97, 98. 118* 158. 178* 66. 
Diensttauglichkeit 32* 86, 88. 119* 163. 
Dienstverweigerung 26* 17. 
Dissimulation 26* 8. 

Drama 213* 36. 

Durchbrochenes Bewußtsein 48* 142. 
Dyspepsie 173* 2. 

Dystrophia adiposo-genitalis 73* 12. 
75* 45. 176* 41, 47. 191* 260. 
192* 262. 195* 303. 


Echolalie 41* 55. 

Eglfing 6*. 

Ehe 25* 3. 38* 5. 

Eichberg 6*. 

Eifersuchtswahn 115* 107. 146* 172. 
Einteilung der Geisteskrankheiten 40* 
41. 

Elektrodiagnostik und -Therapie 42* 70. 
Ellen (Bremen) 6*. 

Ellikon 6*. 

Empfindungsstörungen 148* 202. 203. 
Encephalitis 136* 45, 46. 143* 131. 
145* 164. 148* 204. 162* 242. 156* 
292, 293. 

Endogene Krankheiten und Trauma 
44* 97. 

Endokrine Drüsen 179* 84. 188* 210. 
Entoptische Wahrnehmung 182* 129. 
Enuresis nocturna 182* 128. 

Eosinphilie 45* 103. 

Epilepsie 111* 55. 120* 170. 145* 165. 
149* 205. 175* 28, 33. 176* 42, 48. 
177* 52, 61. 178* 72. 179* 86, 88. 
180* 99. 181* 119. 182* 134. 184* 
152. 185* 164. 188* 204. 189* 218. 
191* 24fi 247 

Erblichkeit 42* 68. 49* 156. 


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Original fro-m 

UNIVERS1TY OF MICHIGAN 



2S4* 


Inhaltsverzeichnis. 


Ergogramme 214* 55. 
Erkenntniswertung 212* 24. 

Ermüdung 50* 168. 

Erregungszustände 110* 36. 118* 156. 
Ersatzwesen, Militär. Versorgung 37* 3. 
Erschöpfung 40* 32. 108* 19. 117* 
141. 175* 31. 

Ervsipel 117* 137. 

Eukodal 49* 155. 

Eunuchoidismus 73* 10, 14. 175* 35. 
Exogene Reaktionstypen 40* 31. 
Extremitätenlähmung 189* 223. 


Fahnenfluchtr30* 62. 31* 80. 115* 

112 . 

Fall Adler 29* 43. 

Familienpflege 2* 14. 18. 

Familienmord 31* 73. 32* 84, 85. 
Faradisation 180* 94. 
Farbstoffablagerungen 184* 161. 
Fermente der Zerebronalflüssigkeit 95* 
21. 96* 42, 43. 

Fettsucht 195* 304. 196* 306. 
Fliegerangriffe 43* 79. 111* 61, 62. 
Flechsig. Paul 48* 149. 51* 179. 
Forensisch-psychiatrische Beobachtun¬ 
gen im Felde 31* 78. 118* 145. 
Forschungsanstalt 43* 80. 48* 147. 
Forschung und Lehre 46* 122. 
Freisteigende Vorstellungen 40* 36. 
Freshmen 215* 70. 

Freud, Sigmund 214* 56. 215* 69. 
Freundschaft und Sexualität 48* 146. 
Friedmatt (Basel) 6*. 

Friedrich der Große 51* 185. 

Fugue 49* 162. 116* 121. 

Funktionelle Störungen 113* 85. 176* 
40. 182* 126. 186* 184. 196* 310. 
310 a. 

Furchenbildung 49* 160. 
Fußdaumenstreckung 46* 114. 

Gabersee 6*. 

Gaseinwirkung 188* 213. 

Gasödem 133* 4. 

Geburt 46* 112. 113* 86. 

Gedächtnis 212* 22, 23. 

Gehäufte kleine Anfälle 179* 82. 
Gehirnarteriosklerose 149* 211. 

Gehirn und Rückenmark 53* 208. 133* 
16. 150* 229. 

Gehirnventrikeleiterung 139* 80. 
Geisteskranke, männliche und weibliche 
107* 8. 


Geisteskrankheiten des Kindesalters 54* 
223. 119* 168. 

Geraeingefährlichkeit 28* 33. 
Gemeinheiten 39* 25. 

Genickstarre, epid. 154* 271. 
Geophvsische Erscheinungen 41* 45. 
43* 73. 

Geschlechtskrankheiten 48* 140. 
Geschlechtsleben 42* 61. 46* 100. 52* 
193. 

Geschwisterpsvchosen 50* 175. 116* 
129. 

Gesetz der abgelaufenen Bahnen 212 * 33. 
Gestaltsauffassung 214* 68. 

| Giftmord 51* 186. 

; Gleichstromwiderstand 40* 35. 

I Glioma cerebri 153* 265. 

I Globulinfällung 94* 10. 97* 53. 
Gordonsehes Phänomen 38* 8. 

Grab- und Leichenschändung 28* 42. 
29* 50. 113* 80. 

Granatexplosion 118* 144. 193* 267. 
196* 309. — Fernwirkung 190* 234, 
234 a. 

Grenzen der Erkenntnis 215* 66. 
Größenideen 53* 212. 

Großhirnrinde 133* 13. 

Gynäkologische Erkrankung 41* 44. 
110* 38. 

Hämolysinreaktion 93* 3. 96* 27 a. 

98* 54. 151* 231. 

Haftpflicht 2* 11. 30* 67. 
Haftpsychose 28* 41. 112* 76. 
Hautaffektionen 39* 17. 
Hauterkrankungen, artifizielle 178* 78. 
Hautreflexe 174* 21. 

Haut, Sinnesorgane usw. 47* 132. 
Hemian6sth6sie c6r6brale 133* 6. 
Hemichoreatische Rindenreizung 144* 
149. 

Hemicrania vestibularis 174* 20. 
Hemiplegia altcrans sup. 184* 151. 
Herborn 6*. 

Herisau 6*. 

Hermaphrodit ismus 47* 135. 52* 204. 
Herzkranke 118* 151. 

Herzstillstand 54* 220. 

Herzstörungen, nervöse 178* 67, 79. 
Hilfsschulkinder 72* 3. 

Hinken 177* 53. 186* 186. 

Hirnabszeß 146* 169. 
Hirnaneurysmenruptur 154* 276. 
Hirnerschütterung 63* 211. 195* 295. 
Hirnforschung 49* 159. 161* 234. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


235* 


Hirninvalidenfürsorge 141* 109. 
Hirnprolaps 152* 243. 

Hirnpunktion 49* 151. 
Himrindenkrampf 145* 168. 185* 171. 
Himschußverletzte 143* 140. 146* 163. 

149* 208. 150* 216. 154* 270. 
Hirnsyphilis 30* 60. 153* 252. 156* 
282 

Hirntumor 132* 1. 139* 89. 140* 101. 
144* 150. 149* 206. 150* 223. 162* 
260. 

Hirn- und Lumbaldruck 40* 38. 134* 
24. 

Hirnverletzte Krieger 136* 36, 38, 40. 

138* 71, 72, 73. 

Hirnzystizerken 146* 169. 
Hitzeempfindung, paradoxe 143* 133. 
Hitzschlag 116* 127. 

Höherwertigkeit 48* 143. 

Hördt 6*. 

Hör- und Sprachstörungen 37* 2. 181* 
111. 182* 124, 125. 

Homosexualität 25* 1, 7. 28* 35. 29* 
46, 57. 49* 164. 

Hydrocephalus 73* 16, 22. 133* 7. 
137* 61, 62. 144* 141. 166* 291. 
193* 271. 

Hyperthyreoidismus 174* 22. 175* 30. 
195* 299 

Hypnose 38* 11. 186* 185. 213* 37. 
Hypophysäre Dystrophie 187* 193. 
Hypophysenerscheinung, neue 41* 62. 
Hypophysentumor 142* 120, 121. 144* 
148. 148* 201. 152* 240. 
Hypophysis 177* 54. 

Hysterie 173* 4, 9. 177* 66. 179* 83, 
87, 90. 180* 95. 181* 117. 183* 
137 a, 141. 187* 191. 193* 276. 
194* 279. 195* 297, 298. 196* 308. 
Hysterische Amaurose 196* 301. 
Hysterische Paraplegien 146* 175. 

Idiosynkrasie 45* 109. 

Infantilismus 73* 19. 74* 32. 
Infektionskrankheiten 107* 1. 

Inhalt der Psychose 49* 150. 
Innervationsschock 48* 137. 186* 176. 
Inspiration 214* 48. 

Insufficientia vertebrae 194* 293. 
Institution Schuurman Stekhoven 1* 2 a« 
Intelligenzprüfung 49* 158. 73* 17, 25. 
74* 35. 

Intelligenz, Schädelgröße, Hirngewicht 
41* 67. 

Internierung in England 26* 13. 

Zeitschrift ftlr Psychiatrie. LXXV. Lit. 


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Intoxikation 109* 25. 

Introvokation 210* 3. 

Irrenrecht 27* 28. 

Irrenwesen und -Pflege 1* 1. 2* 10,13. 
39* 22. 

Ischias-Rheumatismus 188* 215. 

Jacksonsche Epilepsie 173* 7. 190* 230. 
Jenseits der Seele 211* 10. 

Jod, Schilddrüse und Arteriosklerose 
182* 135. 

Jugendgericht 25* 2. 

Jugendgesetz, Deutsches 26* 14. 
Jugendliche (Kriminalität, Zurech¬ 
nung) 28* 37. 29* 51. 30* 69. 
Jugendpflege 40* 42. 

Juvenile Paralyse 72* 4. 74* 28. 133* 
14. 134* 21. 141* 108. 143* 129. 

Kampfgasvergiftungen 89* 24. 
Karzinoraerkrankungen 108* 13. 
Katatonie 110* 44. 113* 81. 
Kaufbeuren 6*. 

Kaufmann-Methode 116* 115. 175* 26. 
177 * 57. 183* 147. 188* 205, 214, 
194* 287, 292. 

Kausales Denken 213* 44. 

Kind, das schwer erziehbare 72* 8. 
Kindsmord 30* 64. 

Kinematograph 212* 27. 

Klassifizierung 211* 14. 

Klassiker 42* 67. 

Kleinhirnagenesie 166* 280. 
Kleinhirnbrückenwinkeltumor 143* 

138. 

Kleinhirnstörungen, angeborene 133* 

12 . 

Kleinhirnverletzungen 149* 207. 
Kleinhirnzysten 136* 42. 

Knochen und Nerv 163* 256. 192* 254. 
Königsfelden 6*. 

Körperliche Erziehung 214* 60. 
Kommotionsneurosen und -psychosen 
46* 123. 108* 14. 174* 14. 
Komplemente 97* 44. 
Kompressionsmyelitis 116* 124. 
Konstitution 38* 14. 42* 69. 49* 153. 
Kontralaterale Behandlung 175* 36. 
193* 274. 

Kopfschußverletzungen 148* 197. 160* 
222. 161* 238. 163* 262. 
Kopfverletzungen 147* 192. 162* 241, 
246. 

Korsakowpsychosen 110* 45. 

Korteweg- Statistik 2* 8. ■ 

q 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



236* 


Inhaltsverzeichnis. 


Kortikales Sehzentrum 149* 216. 
Krampfleiden 176* 49. 
Krankheitsanlagen und -Ursachen 38* 
12, 13. 46* 116. 47* 129. 114* 95. 
Kretinismus 72* 6. 74* 29, 30. 76* 44. 
Kreuzburg, O.-Schlesien 6*. 
Kriegsbasedow 186* 167. 193* 276. 
Kriegsbeobachtungen 47* 128. 
Kriegsbeschädigungen des N. S. 48* 
146. 140* 96. 180* 96. 

Kriegsdienst und Konstitution 29* 64. 
Kriegsernährung 39* 21. 
Kriegsgefangene 31* 76. 61* 187. 117* 
138. 180* 100. 184* 166. 

Kriegsherz, nervöses 188* 209. 
Kriegshysterie 175* 26. 178* 69, 70, 
73, 76. 179* 89. 185* 166. 188* 
211. 193* 266, 281. 
Kriegsmedizinisches und -psychologi¬ 
sches 41* 64. 177* 68. 212* 30. 
Kriegsneurasthenie 179* 91. 
Kriegsneurosen und -psvchosen 26* 2. 
26* 11. 38* 4. 43* 74. 44* 86, 90. 
46* 121. 107* 3, 4, 7. 108* 16, 17. 

• 109* 35. 111* 66, 60. 112* 66, -70. 
115* 109. 116* 117. 117* 143. 119* 
160. 156* 289. 174* 13, 16. 176* 
38. 179* 92. 180* 103, 104,- 107. 
181* 109, 110, 115, 120, 121. 182* 
122, 123. 183* 139, 140, 148. 184* 
164. 186* 166, 172. 186* 177. 

188* 202, 212. 189* 2l9, 222, 228. 
191* 229, 235, 237, 239, 249. 193* 
270, 277. 194* 286, 290. 196* 294. 
196* 315. 

Kriegsneurologisch-ophthalmologisches 
194* 285. 

Kriegspsychiatrie 40* 34. 73* 18. 
Kriegsschädigungen 49* 157. 62* 194. 
Kriegswohlfahrtspflege 177* 66. 
Kriegszitterer 174* 12. 176* 51. 177* 
65, 62. 180* 97. 186* 187. 188* 
201. 193* 278. 

Kriminalpsvchologie 27* 23, 26. 29* 
52. 30* 66. 

Kristallisierende Substanzen in der 
Großhirnrinde 136* 62. 

Kropfherz 175* 29. 

Kümmelsche Krankheit 146* 178. 
Kurland 50* 176. 116* 130. 

Landrysche Paralyse 140* 103. 
Legasthenie, Arithmasthenie 74* 37. 
Leitungsaphasien 142* 128. 144* 145. 
Lenau und Byron 44* 93. 


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Lewenberg-Schwerin 6*. 
Lindenhaus-Lemgo 6*. 

Lingg, Hermann 44* 88. 
Liquorbehandlung 166* 287. 
Lokalisation im Großhirn 136* 47. 
Lues, kongenitale 74* 27, 147* 190. 
Luetinreaktion 96* 4L 143* 130. 
Lumbalpunktion 48* 148. 164* 294. 
166* 294. 

Lust und Unlust 210* 6. 

Luzern, Hilfsverein 6*. 
Lymphozytenemigration 134* 29. 
Lymphozytose 118* 164. 194* 280. 

Magnus de Kleinsche Reflexe 134* 26. 
Makuladegeneration 76* 42. 

Malaien 51* 184. 

Maloneysche Behandlung 196* 312. 
Malum perforans 162* 247. 

Mariaberg 7*. 

Massenerkrankungen in Regensburg 
191* 243. 

Mathematik 213* 47. 

Melancholie 116* 122. 

Mendelsches Gesetz 40* 43. 

Meningitis 134* 28. 138* 74 140* 97. 

146* 176. 160* 221. 163* 266. 
Meningoencephalitis 132* 2. 
Menstruation, Gravidität nsw. 47* 126, 
126. 114* 94. 117* 136. 
Merkblindheit 133* 15. 

Merkfähigkeit 113* 83. 143* 137. 
Mesniörescher Symptomenkomplex 137* 
66 . 

Metalues 137* 63. 

Mikrophotographie 48* 139. 146* 171. 
Milchinjektion 151* 236. 
Militär.-Sachverständigentätigkeit 26* 
10, 15, 16. 27* 18. 30* 68. 
Mißbildungen 42* 64. 

Mitbewegungen 46* 113. 183* 143. 
Mobilisierungsneurosen und -psychosen 
115* 108. 188* 203. 

Mongolismus 72* 7. 

Moral insanity 100* 41. 118* 163. 
Morbillipsvchosen 118* 150. 
Morphinismus 87* l. 88* 4 
Motilitätsstörungen 161* 239. 
Motorische Amnesie 145* 163. 
Motorische Paraplegien 145* 160. 
Motorisches System, kindliches 139* 86, 
Münster 28* 39. 

Münsterlingen 7*. 

Multipe Sklerose 135* 34. 138* 77. 
142* 124 143* 139. 144* 143. 146* 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


237* 


164, 166, 167. 146* 177. 147* 180, 
181, 182. 149* 209. 161* 236. 162* 
244. 164* 267. 

Muskelatrophie 133* 8, 10. 163* 260, 
261. 166* 286. 196* 301. 

Mutismus 177* 60. 186* 178, 179. 
Myasthenia gravis pseudoparalytica 
173* 10. 

Myotonia congenita 140* 96. 146* 170. 
160* 219. 162* 261. 180* 106. 186* 
183. 194* 288. 

Myotonische Dystrophie 137* 66. 
Myxödem 73* 11. 74* 36. 133* 3. 
173* 3. 


Nanosomie 189* 221. 

Narkolepsie 174* 19. 189* 216. 192* 
266. 

Natr. nucleinicum 111* 67. 179* 93. 
Negativismus 43* 84. 112* 64. 212* 
32. * 

Neosalvarsan 138* 76. 

Nephritis 60* 166. 61* 189. 116* 126. 
117* 139. 

Nervenlues 139* 84, 86. 142*117. 147* 
189. 

Nervenschußschmerz 161* 237. 191* 
240. 

Neurasthenie 189* 224. 
Neurofibromatosis 141* 104. 154* 273. 
Neurosen 180* 108. 196* 2% (siehe 
auch Kriegsneurosen). 

Neurosenfrage 176* 27. 181* 113. 
Neurotischer Persönlichkeitstypus 193* 
269. 

Neustadt (Holstein) 7*. 

Niedernhart in Linz 7*. 

Nietzsche 213* 46. 

Nonne-Apeltsche Reaktion 94* 14. 
Nystagmus 192* 266. 

A 

Objektivierung nervöser Zustände 176* 
44. 

ödem 176* 46. 184* 163. 192* 260. 
Okzipitaltumoren 134* 20. 

Onanie 43* 78. 192* 264. 
Optikusatrophie 156* 283, 284. 
Osteomalazie 46* 116. 47* 124. 
Otogene Störungen 63* 206, 206. 

Pandysche Reaktion 96* 16. 

Paralyse, progressive Paralyse 31* 82. 
74* 40. 134* 23. 135* 30. 136* 48, 
60, 61. 138* 78. 139* 81, 83, 84. 
141* 110. 142* 118, 119. 144* 142. 


Difitized by Gougle 


146* 162, 161. 147* 187. 148* 194, 
196, 196. 160* 226. 161* 232. 162* 
246. 156* 285. 

Paralysis agitans 107* 2. 173* 5. 196* 
307. 

Paralytikerfamilien 74* 38. 76* 41. 
160* 218. 

Paranoia 109* 30, 31, 34.' 111* 51, 63. 
113* 84. 116* 124. 118* 148. 119* 
164, 166. 

Pathologischer Rausch 27* 30. 29* 45. 
Pellagra 89* 31. 114* 91. 

Pelman 63* 214. 

Periodische Lähmung 196* 302. 
-Peripheres Nervensystem 147* 183,184, 
188, 191. 176* 43. 184* 166. 
Personalismus 216* 62. 

Petit mal 191* 246. 

Phänomenologie 216* 61. 
Phantasieprüfung 43* 76. 212* 26. 
Physiologische Chemie 37* 1. 
Pinealextrakte 43* 83. 180* 102. 
Pilzvergiftungen 90* 37. 

Politik 42* 68. 

Ponstumor 160* 228, 

Postapoplektische Bewegungsstörungen 
134* 19. 

Postparoxysmelle Verwirrtheit 191* 241. 
Potenzstörung 39* 29. 

Prostitution 44* 95. 
Proteinkörpertherapie 146* 166. 
Pseudodemenz 111* 60. 178* 73. 
Pseudohalluzination 42* 66. 

Pseudologia phantastica 26* 4. 107* 5. 

112* 70 a. 114* 90. 

Pseudoparalyse 89* 32. 164* 278. 
Pseudoprophet 116* 103. 
Pseudospastische Parese 136* 36. 175* 
37. 

Pseudotabes traumatica 149* 214. 
Psyche 4* 66. 214* 52. 

Psychiatrie 45* 99, 110. 60* 164 167. 
61* 178. 62* 196. 

Psychiatrisches Gutachten im Felde 
32* 87. 

Psychische Infektion 63* 210. 64* 218. 
119* 159. 

Psychischer Mißwuchs 73* 19. 
Psychischer Monismus 210* 2. 
Psychoanalyse 61* 183. 138* 76. 211* 
8. 212* 31. 213* 36, 39. 
Psychogenie 116* 120. 174* 16. 190* 
232. 196* 314. 210* 1. 

Psychologie 44* 96. 211* 9, 11, 13, 15, 
18. 214* 69. 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



238* 


Inhaltsverzeichnis. 


Psychomotorische Störungen 186* 220. 
Psychoneurosen 43* 77. 192* 265. 
Psychopathie 27* 29. 42* 69. 48* 144. 

64* 222. 107* 3, 4. 196* 317. 
Psychosen des Kindesalters 107* 6. 
110* 39. 

Psychosen, posteklamptische 116* 126. 
Psychosen, postoperative 43* 72. 111* 
49, 64. 114* 93. 

Psychosexuelle Intuition 60* 173. 
Psychotherapie 39* 19. 41* 61. 47* 
134. 108* 11. 

Puerilismus 181* 118. 

Pupillenbahnen 46* 118. 
Pupillenreaktion 52* 196. 64* 226. 
Pupillenstarre 27* 24. 46* 119. 63* 
215. 

Querulantenwahn 29* 66. 30* 63. 110* 
40. 116* 106, 113. 116* 128. « 

Bassenhygiene 42* 63. 43* 81. 49* 161. 
60* 174. 61* 177. 

Rationelles Handeln des Kindes 215* 64. 
Raumsinn, Zeit, Zahlenbegriff 216* 71. 
Raynaudsche Krankheit 188* 208. 
Rechenkünstlerin 73* 16. 177* 63. 
Recklinghausensche Krankheit 163* 263. 
155* 288. 

Reflexe 39* 27, 28. 38* 9, 10. 40* 30. 
136* 43. 

Regeneration 163* 263. 

Residuen 212* 26. 

Retrograde Amnesie 46* 106. 213* 41. 
RVO. § 120. 90* 36. 

Rheinprovinz, Anstaltsberichte 7*. 
Richterliche Ansicht 1* 4. 
Rindenblindheit 138* 70. 
Rindenepilepsie 142* 127. 196* 300. 
Rindenverödung 136* 61. 

Riesenzellen in der Hypophyse 153* 264. 
Rockwinkel-Bremen 7*. 

Roda 4*. 

Röntgenuntersuchung 2* 16. 44* 86. 
61* 181. 

Rothmannsche Narkosenmethode 181* 
116. 

Rot- und Grünsehen 214* 67. 
Rückenmark 142* 123. 147* 185. 164* 
277. 

Salvarsanbehandlung 151* 233. 154* 
274. 155* 281. 

Salvarsannatrium 140* 102. 

Sarbysol 40* 33. 


Schädelasymmetrie 181* 112; -Wachs¬ 
tum 154* 279. 

Schädelverletzungen 136* 33. 
Schilddrüse, ödem, Diurese 184* 153. 
Schimpanse und Haushuhn 213* 40. 
Schizophrenie 108* 16. 110* 37. 
Schizothymie 108* 20. 
Schläfenlappentumoren 136* 32. 141* 
107. 144* 147. 

Schlafmittelvergiftungen 88* 15. 89* 
22, 34. 

Schleswig 7*. 

Schreckpsychosen 42* 60. 51* 182. 

113* 77, 78. 119* 162. 

Schrift 212* 28. 

Schüle, Heinrich 47* 133. 
Schülerselbstmorde 41* 46. 
Schüttelerkrankungen 174* 17. 
Schwangerschaftsunterbrechung 40* 40. 
61* 180. 62* 198. 64* 221. 109* 32. 
113* 87. 117* 133, 134, 136. 118* 
149. 119* 166. 190* 233. 196* 311. 
Sedobrol 177* 64. 

Seele, Seelenbegriff 212* 29. 214* 53. 
Seelenblindheit 133* 11. 

Seelisches Leid 110* 47. 

Sehen 190* 236. 210* 6. 

Sehorgan 134* 26. 139* 88. 187* 200. 
Sejunktionshysterie 46* 107. 182* 132. 
Selbstbeschädigung 62* 191. 117* 140. 
Selbstmord 26* 12. 28* 36. 31* 72. 
62* 190. 

Senile Demenz 118* 155, 143* 137. 
Senüität 30* 61. 116* 110. 133* 9. 
Sensibilität 137* 66. 138* 67. 138* 69. 

143* 134. 152* 248. 

Serologie 95* 24, 26. 96* 30. 
Serumeiweiß 94* 8. 109* 33. 
Serumkrankheit 41* 47. 
Sexualpsychoanalyse 60* 170. 
Sexualstörungen 148* 193. 184* 149. 
Sexuelle Delikte 31* 74. 46* 101. 
Simulation 25* 6. 27* 26, 27. 28* 38. 
40. 29* 49. 30* 68. 31* 77. 112* 

69. 190* 231. 

Sinnespsvchologische Untersuchungen 
214* 49. ' 

Sinnestäuschungen 30* 66. 

Sinusitis frontalis 160* 227. 
Sinusströme 40* 39. 42* 62. 183* 145. 
184* 149. 

Situationspsychosen 114* 89. 

Soziale Fürsorge, Hvgiene 41* 49. 50* 
171. 62* 200. 

Spastische Spinalanalyse 148* 212. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


239* 


Spieratrophie 119* 161. 
Spiröchaetenbefunde 14* 111. 141* 113, 
114, 115. 148* 199, 200. 153* 266, 
Sprachbehandlungsstation Friedrichs¬ 
berg 195* 305. 

Sprachgebrechliche Schäler 72* 6. 
Sprachkranke 184* 157. 189* 226, 226. 
227. 

Sprechstunde, nervenärztliche 118* 147. 
Steinmähle 7*. 

Stephansfeld 7*. 

Sterben, Augenblick des 39* 18. 
Sterilisierung 43* 82. 

St. Gallen, St. Pirminsberg 7*. 
Stimmbildungslehre 185* 174. 

Stimm- und Sprachstörungen 173* 8. 
176* 45. 179* 81. 182* 136. 191* 
251. 194* 284. 

Stimulation 210* 7. 

Stirnhirnabszeß 146* 174. 
Stirnhimschwund 149* 21,0. 
Stirnhirntumoren 136* 64. 

Stottern 177* 69. 192* 263. 193* 272, 
273. 

Strafrecht 32* 89. 

Strafrechtliche Begutachtung Heeres¬ 
angehöriger 28* 34. 

Strecknitz-Lübeck 7*. 

Streptococcemia 182* 131. 

Stupor- und Erregungszustände 111* 
58. 

Subokzipitalstich 133* 6. 

Suggestion, -behandlung 39* 15, 16. 
175* 34. 178* 71. 187* 188, 189, 
190. 

Sukzessive Vorstellungen 213* 46. 
Sulfosalizylsäure 96* 17. 112* 65. 141* 
106. 

Sydenhamsche Chorea 116* 123. 
Syphilis des Zentralnervensystems 137* 
64. 150* 220. 

Syringomyelie 144* 146. 

Tabakmißbrauch 90* 38. 191* 262. 
Tabes 115* 114, 134. 142* 122. 148* 
198; und Paraiyse 141* 112. 162* 
249. 

Taboparalyse 150* 224. 163* 264. 
Tannenhof 7*. 

Taubheit 119* 167. 180* 98. 188* 206. 
192* 258. 

Taubstummheit, hysterische 60* 169. 

175* 37. 176* 39. 190* 234 a, 234b, 
Tetaniepsychosen 110* 42. 174* 23, 24. 
Therapie 44* 87. 45* 102. 


Thomsensche Krankheit 144* 144. 153* 
257. 

Thymusdrüse 173* 1. 178* 77. 179* 

86 . 

Tiefeneindruck 216* 73. 
Torday-Wienersche Reaktion 94* 12. 
Totenschau, Zürich 1* 6. 
Transitivismus 118* 146. 

Transkortikale Aphasien 138* 68. 
Trauma und Arteriosklerose 136* 53. 
Trauma un‘d endogene Geisteskrankh. 
112* 74. 

Trauma und organische Geisteskrankh. 
136* 49. 

Traumatische Neurosen 180* 100. 185* 
169, 175. 196* 316. 

Traumatische Psychosen 114* 101. 

140* 100. 

Traumbilder 214* 60. 

Trinkerfürsorge 88* 9,12. 89* 27. 90* 
36.' 

Troponeurose 178* 68. 

Tuberkulin 64* 219. 119* 163. 
Tuberkulose 2* 9. 46* 104. 52* 203. 

113* 79. 118* 152. 

Turmschädel 75* 46. 

Turnen 187* 199. 

Typhus 62* 192. 117* 142. 

Unfallneurosen 186* 181, 182. 

Unfall- und Militärpsychosen 193* 270, 
Unstillbares Erbrechen 117* 132. 191* 
253. 

Unterwärme 47* 136. 

Unzulängliche 52* 202. 

Valeriusplein 8*. 

Vegetativer Tonus und Neurosen 182* 
133. 

Verblödung, traumatische 155* 290. 
Verhältnisblödsinn 44* 91. 
Verwahrlosung 27* 19, 20, 21, 22. 42* 
65. 73* 20, 21. 

Vestibularapparat 139* 79. 
Völkerpsychologie 43* 76. 46* 120. 

63* 216. 216* 68. 

Vokale 213* 43. 

Vorbeireden 188* 217. 

Vorgefühl 45* 108. 

Vorgeschichte 47* 131. 

Wachsuggestion 187* 194, 198. 191* 
248. 

Wachstumsstörungen 50* 163. 73* 24» 
Waldhaus (Chur) 8*. 


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Original from 

UNIVERSETY OF MICHIGAN 



240* 


Inhalts Verzeichnis. 


Wahnbildung 63* 207. 118* 167. 
Wahrnehmungsprozefl 210* 4. 
Wassermann-Reaktion 93* 2. 94* 9,16. 
96* 28, 28 a, 29. 97* 46,47,60. 98* 
56, 67, 68, 60, 61.137* 67. 142* 126. 
Wehnen 8*. 

Weichbrodtsche Reaktion 96* 18. 98* 
63. 

Weilmünster 8*. 

Wernigerode-Hasserode 8*. 

Westfalen, Anstaltsbericht 8*. 
Willem-Arntzhöve 2* 7. 

Willensvorgang 211* 20. 

Wilsonsche Krankheit 136* 44. 193* 
268. 


Wü (St. Gallen) 8*. 

Wortblindheit 39* 23. 73* 13, 23. 

Zeitsinn 213* 38. 

Zenuwziekten 183* 144. 

Zirbelforschung 180* 101. 
Zivildienstpflicht 2* 17. 52* 201. 
Zürich 8*. 

Zwangsneurosen, -Vorstellungen 48* 

141. 115* 106. 184* 160. 

Zweck- und Abwehrneurosen 176* 32. 
Zwergwuchs 72* 1. 

Zwischenhirn und Stoffwechsel 46* 117. 
Zystizerkose 136* 41. 146* 213. 


Abderhalden 37* 93*. 
Adam 37*. 

Adler, Alfred 26*. 

Adler, Leo 173*. 
Ahlswede 132*.. 

Albrecht 37*. 

Albu 173*. 

Alexander, A. 133* 173*. 
Alexander, G. 132*. 
Allers 107*. 

Alter 6* 21. 

Andernach 173*. 

Anders 133*. 

Andree 107* 173*. 

Andr6-Thomas et Ceiller 
133*. 

Anton 26* 38* 107*. 
Anton und Schmieden 
133*. 

Antoni 133*. 

Arnemann 1*. 
Aschaffenburg 26* 107*. 
Aschner 173*. 

Auerbach 38*. 

Baade 210*. 

Baake und Vofl 133*. 
Babäk 210*. 

Babinski 38*. 

Babinski et Froment 38*. 
Bäumler 38*. 

Baginski 107*. 

Balassa 173*. 

Baller 26* 107*. 

Barth 173*. 


2 . Autorenregister. 

Bauer, Joachim 173*. 
Bauer, Julius 38* 72*. 
133* 173*. 

Baxter, Jamada and 
Washbum 210*. 

Beck 39*. 

Becker (Herborn) 39* 
107* 108*. 

Behm 133*. 

Behr 174*. 

Benning 7* 28. 

Berger 210*. 

Berkhan 39*. 

Bemoulli 39* 108*. 

Best 133*. 

Beyer (Roderbirken) 
174*. 

Beyerman 133*. 

Biach 174*. 

Biberfeld 87*. 
Rielschowsky 133*. 

Biliki 108*. 

Billström 133*. 

Bing, Robert 133*. 
Binswanger, L. 10* 174*. 
Binswanger, O. und 
Schaxel 134*. 
Birnbaum, K. 26* 108* 
174*. 

Blank 93*. 

Blencke 174*. 

Bleuler 6* 7. 39* 108*. 
Bloch 72*. 

Blohmke und Reichmann 
134*. 


. Blume 108*. 

Boas, Kurt 26* 174*. 
Boas und Neve 98*. 

Bock 40*. 

Boecker 72*. 

Boehme 39*. 

Boenheim 26? 39* 174*. 
Boettiger 134* 174*. 
du Bo iS- Raymond 134*. 
Bolten (Haag) 94* 108* 
134* 174*. 

Bonhoeffer 26* 40* 87* 
108* 176*. 

Bonhoeffer, Gaupp ti. a. 
26*. 

Borberg 94*. 

Bornemann 40*. 
Bornstein 108*. 

Boström 26* 40*. 

Bott 7* 33. 

Bouman 8* 38. 134*. 
Bouten 134*. 

Boven 109*. 
van Braam-Houckgeest 
88* 109* 134*. 
Brandenburg 40* 88*. 
Breslau 134*. 

Bresler 40* 109* 175*. 
Briand 109*. 

Brodsky 109*. 

Brouwer 134*. 

Bruck 94*. 

Brückner 134*. 

Brümmer 8* 40. 
de Bruin 72*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


241* 


de Brun 109*. 
Brunner 40*. 
Brnnzema 88*. 
Btising 135*. 
Bumke 109*. 
Bungart 40*-136*. 
Bunnemann 175*. 
Burkarth 7* 23. 
Burnhara 210*. 
Busch 109*. 
Buschan 175*. 


Carol 211*. 

Carrie 72*. 

Cassel 72*. 

Cemy 72*. 

Christen 40*. 

Chvostek 176*. 

Cimbal 175*. 

Clark 176*. 
v. Cölln 136*. 

Coenen 72*. 

Cohen 176*. 

Cohn, Toby 40* 109*. 
Colmers 136*. 

Cornils 73* 176*. 

Cowlcs 211*. 

Cox 1*. 

de Crinis 94* 109*. 
Curschraann 136* 176* 
176*. 


Dabeistein 7* 26. 
Dedichen 40*. 

Dees 6* 13. 

Dehio 1*. 

Delbrück 6* 11 a. 
Denis 88*. 

Depenthal 136*. 
Dessoir 211*. 

Dieckert 136*. 
Dietrich 1*. 
Doernberger 40*. 
Doessecker 73*. 
Donath 176*. 
Dorendorff 88*. 
Dräsecke und Ilar.ns 
135*. 

Drccki 109*. 

Dresel 40* 88* 
Drossaers 136*. 

Dub 176*. 

Dück 135*. 

DüU 135*. 

Düring 136*. 


Dumesnil 109*. 
Dumolard, Rebierre et 
Quellien 136*. 

Duprö et Grimbert 110*. 
v. Dziembowski 73* 

136* 176*. 

v. Economo 136*. 

Edel u. Pietrowsky 94*. 
Edinger 136* 176*. 
Eichhorst 88*. 

Elmiger 110*. 

Enge 41* 110* 136*. 
Engel, Adolf 110*. 

Engel, Hermann 26*. 
Engelen 176*. 

Engelhardt 176*. 
Engelmann 110*. 

Engler 73*. 

Eppinger 176*. 

Erismann 210*. 

Erlich 73*. 

van Erp Taalm&n Kyp 
110 *. 

Ettinger 136*. 

Eulenburg 41* 88*. 

Evans and Thorne 136*. 
Ewald 41*. 


Fankhauser 136*. 
Fehlinger 26*. 

Feldkeller 211*. 
Feldkirchner 176*. 
Felisch 26*. 

Fernberger 211*. 
Finklenburg 41* 136*. 
Finsterer 176*. 

Fischer, Alfons 41*. 
Fischer, Gerh. Fr. A. 
136*. 

Fischer, Siegfried 110*. 
Fischl 41*. 

Fisher, Sara 211*. 

Flaig 88*. 

Flatau 41* 176*. 

Flath 176*. 

Fleischer 137*. 

Flesch 177*. 

Fließ 41* 177*. 

Forel 88*. 

Förster 1* 177*. 

Fretz 110* 137*. 

Freud 41*. 

Freudenberg 137* 177*. 
Frey 110*. ~ 


Friedländer 41* 177*. 
Frigerio 110*. 

Fröbes 211*. 

Frölich 6* 18. 

Fröschels 41* 137* 177*. 
Frus 88*. 

Fuchs, A. 110* 137* 177*. 
Fuchs, W. 41* 42*. 
.Fümrohr 177*, 

Gärtner 94*. 

Ganter 73* 177*. 
Gaumnitz 73*. 

Gaupp 26* 42* 110* 177* 
178*. 

Gehrcke 211*. 

Geigel 178*. 

Gennerich 137*. 

George 211*. 

Gerhardt 73*. 

Gerson 42*. 

Giese 211*. 

Gildemeister 42*. 

Göbell und Rünge 178*. 
Goedde 88*. 

Goerrig 211*. 

Goldmann 137*. ' 
Goldscheider 137* 138* 
211 *. 

Goldstein, Kurt 27* 138* 
178*. 

Goldstein, Manfred 178*. 
Good 73*. 

Gordon 42*. 

Graf 178*. 

Graudenz 42*. 

Gregor 27* 42* 73*. 
Gregory 88*. 
de Gtoot 88*. 

Groß 212*. 
Großebrockhoff 111* 

178*. 

Grünbaum 42* 178* 212*J 
Gruhle 27*. 

Gudden 42*. 

Gütermann 138*. 
Gummich 110* 178*. 
Gutsch 111*. 

Gutstein 110*. 

Gutzeit 178*. 


Haas 94*i 
v. Haberer 178*. 
Haberkant 6* 16. 
Habermann 178*: 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



242* 


Haeberlin 7* 34. 

Haecker 42*. 

Haering jun. 212*. 

Hahn (Breslan) 6* 6. 
Hahn, Friedr. 111* 138*. 
Hahn, R. 27*. 

Haike 139*. 

Halbey 94* 178*. 

Graf HaUer 73* 139*. 
Hammar 179*. 

Hammer 42*. 

Hampe imd Muck 179*. 
Hanhart 1*. 

Hansen (Ettelbrück) 
179*. 

Hansen (Kiel) 88* 89*. 
Harbers 179*. 

Hart 179*. 

Haäkovec 42*. 
van Hasselt 139*. 
Haßfeldt 139*. 

Haßleben 27*. 

Hatiegen 42*. 
Hauptmann 94* 139* 
179* 

Hautsch 43* 111*. 
Heidsieck 179*. 

Heilig 111* 139* 179*. 
Heine 73*. 

Heinze 179*. 

Heller 94*. 

Hellpach 43* 179*. 
Hellwig 212*. 

Helm 139*. 

Henkel 1*. 

Henneberg 27* 43* 111* 
139*. 

Henning 212*. 

Hens 43* 212*. 

Henschel 27*. 

Henschen 139*. 

Herfort 73*. 

Herman 111* 139* 179*. 
Hermkes 27*. 
Herrenschneider 96*. 
Herschmann 27* 180*. 
Hertz 212*. 

Herzig 111* 180*. 

Hesse 89*. 

Heuer 73*. 

Heveroch 140*. 

Heymann 140*. 

Hezel, Marburg, Vogt, 
Weygandt 140* 180*. 
Higier 73* 140*. 
Hinrichsen 43* 111* 140*. 


Inhaltsverzeichnis. 


Hirschfeld, Magnus 43*. 
Hirschfeld 180*. 

Hirt 212*. 

Hoche 28* 43* 111*. 
Hochheim 180*. 

Hock 6* 2. 

Hoeflmayr 43*. 

Hörmann 180*. 
v. Hoffmann 43*. 
Hoffmann, Erich 140*. 
Hofius 89*. 

Hofstätter 43* 140* 180*. 
Holmgreen 141*. 

Hoppe 212*. 
van der Hoop 212*. 
Horn, P. 28* 180*. 
Hornbostel 111* 180*. 
Horstmann 28* 43* 112* - 
212*. 

Hovorka 212*. 

Howell, Hopson and 
Washburn 212*. 
Hudowernig 96* 112* 
141*. 

v. Hueber 89*. 

Hübner, A. H. 28* 44* 
74* 112* 141* 181*. 
Huet 213*. 

Hummel 28*. 

Hunstein 141*. 

Hupe 96*. 

Hurst 180*. 

Hussels 74* 141*. 


Imboden 181*. 

Isserlin 44* 112* 141* 
181*. 

Jacobsohn 28*. 

Jahnel 141* 142*. 
Jamarillo 181*. 

Jansen 44*. 

Jansky 28* 112*. 

Jeliffe 44* 89* 213*. 
Jellinek 181*. 

Jendrassik 142* 181*. 
Jentsch 44*. 

Jörger 8* 39. 44* 112*, 
Jolly 181*. 

Jolovvicz 181*. 

Joseph und Mann 181*. 
Juchtschenko 44*. 


Kämmerer 96*. 
Kaeß 181*. 


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Kafka 96* 96* 112* 142* 
181*. 

Kahler 142*. 

Kalmus 181*. 
Kampschulte 28*. 
Kanngießer 44*. 

Kaplan 213*. 

Karczak 142*. 

Karl 142*. 

Kprlbaum 44* 112*. 
Karpas 44*. 

Kaspar and Cannadev 
142*. 

Kastan 142*. 

Kaufmann 181* 182*. 
KaUkeleit 142*. 

Kaup 96* 142*. 

Kehrer 182*. 

Keller 6* 16. 

Kellner 5* 1. 74*. 
Kemnitz 44* 182*. 
Kesseler 44* 112*. 
Kettelhoit 46* 112*. 
Kinberg 46*. 

Kirchberg 96*. 

Kirchhoff 7^ 30. 
Kürschner 142*. 

Kisch 46* 182*. 
Kißmeyer 96*. 

Kläsi 46* 182*. 

Klefberg 28*. 

Klein 28* 112*. 

Kleist 113* 142*. 
Klessens 143*. 

Klien 182* 213*. 

Klinberg 213*. 

Klinkert 46*. 

Klose 182*. 

Knack 89*. 

Knopf 46* 113* 182*. 
Koch 46*. 

Kodbudzinski 28* 113*. 
Köchlin 89*. 

Köhler, F. 29*. 

Koehler, Wolfgang 213% 
König 29* 96* 143% 
Kohnstamm 46* 182* 
213*. 

Kollarits 46*. 
van der Kolk 2*. 
Kopcynski 143*. 
Korczynski 182*. 
Kouwenaar 182*. 
Kraepelin 46*. 

Kraepelin und Weiler 
113% 


Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


243* 


Kramer 143*. 

.Kramer and Henneberg 
143*. 

Kraus 182*. 

Kraus und Rosenbusch 
74*. 

Krause 113*. 
Kretscnmann 182*. 
Kretschmer 74* 183*. 
Krieger 113* 143*. 

Krisch 183*. 

Krueger 113*. 
Krukenberg 89*. 

Kümmel 113*. 

Kuenen 89*. 

Köttner 143*. 

Kuhn 89*. 

Kuhn und Steiner 143*. 
Kuiper 183*. 

Kukula 143*. 

Kulcke 183*. 

Kummer 183*. 

Kwoczek 46* 113*. 

Lackmer 46* 183*. 
Landau 46*. 

Lang 144*. 

Langelaan 46* 183*. 
Lantzius-Benninga 8* 41. 
Laqueur 183*. 
Laubmeister 46*. 

Lautier 144*. 

Leidler 144*. 

Leja 113*. . 

Lensberg 114*. 

Lenz 183*. 

Leschke und Pincussohn 
96*. 

Leschke und Schneider 
46*. 

Levy, Robert 183*. 
Lewandowskv 144* 183* 
184*. 

Lewin, James 114*. 
Lewin, Kurt 213*. 
Lewinsohn 46*. 

Lewy, E. 184*. 

Licen 184*. 

Lichtwitz 184*. 

Liebenthal 114*. 
Liebermeister 184*. 
Liebermeister und Siege¬ 
rist 184*. 

Liebers 184*. 

Liebmann 184*. 

Liek 184*. 


Lindblom 184*. 

Lindig 96*. 

Lindner 2*. 

Lindworski 213*. 

Linke 6* 19. 

Linne 89*. 

Löhlein 213*. 

Löw 2*. 

Löwenfeld 46* 184*. 
Löwy 46*. 

'Lohmann 144*. 

Lohmeyer 144*. 

Lommel 74*. 

Lorenz 89* 114*. 
Lorenzen 29*. 

Lottmann 144*. 

Loy 114*. 

Lubarsch 46* 184*. 

Lux 144*. 

Maas 144* 185*. 

Mac Curdy 185*. 

Mc. Gregor 47*. 

Maeltzer 145*. 

Mahaim 6* 8. 

Mairet et Durand 46*. 
Mandelbaum 97*. 

Mann, L. 186*. 

Mann, Max 145*. 
Marburg 145*. 

Marcuse, Ludwig 213*. 
Marcuse, Max 29* 185*. 
Marek 47*. 

Markwaiden 185*. 
Martinek 185*. 
Maschmeyer 145*. 
Maßmann 89*. 

Matthaei 114*. 

Mayer, A. 47* 114*. 
Mayer, Wilh. 145*. 
Melchior 185*. 

Mandel 47* 145* 185*. 
Merkel 47*. 

Mezger 29* 114*. 

Meyer (Königsberg) 29* 
47* 114* 145*. 

Meyer, Max 185*. 

Mever, Walter 29*. 
Meyers, F. C. 185*. 
Michelititsch 145*. 

Mignot 145*. 

Möbius 185*. 

Moeli 47*. 

Möller 114* 185*. 
Mörchen 48* 186*. 

Mohr 47*. 


Möller 47*. 

Morse, St. 97*. 

Morse, Mary.E. 145*. 
Mott 146*. 

Much 146*. 

Müller, Elsbeth 115*. 
Müller, Gustav 145*. 
Müller, 0. 29*. 

Müller, Rainer 47*. 
Müller, Rudolf 97* 145*. 
Müller, Walter 213*. 
Müller, G. J. B. 213*. 
von Muralt 116*. 
Muskens 146*. 

Nachmannsohn 214*. 
Naef 115* 186*. 

Naegeli 48* 146* 186*. 
Nasher 146*. 

Nathan 97*. 

Nauwerk 146*. 

Naville 74*. 

Nebendahl 29* 115*. 
van Neergard 48* 146*. 
Nelson 48* 115*. 

Neisser 48*. 

Neu 186*. 

Neukirchner 74*. 
Neumann 29*. 

Neutra 186*. 

Niederländer 116* 146*. 
Niedermayer 146*. 
Niehörster 146*. 

Nießl von Mayendorf 
146 * 186 * 

Nonne 146*’ 187*. 
Nonnenbruch 89*. 

Numa Praetorius 29*. 

Oberndorf 187*. 
Oeconomakis 187*. 

Oehme 187*. 

Oehmen 187*. 

Ohm 187*. 

Ollendorf 2* 187*. 

Oloff 147* 187*. 

Olshausen 2*. 

Oppenheim, G. 188*. 
Oppenheim, Herrn. 30* 
48* 89* 147* 188*. 
Overbek und Buitendijk 
115* 188*. 

Papirnik 30*. 

Pappenheim 188*. 

Paschen 188*. 

Peretti 48* 115*. 


Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. 

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Gougle 


r 

Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



244* 


Inhaltsverzeichnis. 


Peritz 147* 

Perko 48* 

Pernet 147*« 

Perthes 147*. 

Pese 30* 147*. 

Petz 147*. 

Pfaundler 147*. 

Pfeiffer 147*. 

Pfersdorf 147*. 

Pflug 188*. 

Pick, A. 148* 188*. 

Pick, J. 188*. 

Pickler, 214*. 

Pierre-Marie, Chatelin et 
Pätrikios 148*. 
Pieszcek 30* 116*. 

Pilcz 116* 148*. 

Pitres et Marchand 148*. 
Placzek 48*. 

Plaut 48*. 

Plehn 188*. 

Pöhlmann 97*. 

Pönitz 30* 116*. 

Pötzl 214*. 

Poppelreuter 148*. 

Popper 48*. • 

Pnbram 188*. 

Prinzing 6* 17. 

Pr omers 188*. 

Pryll 30* 116*. 

Puppe 30*. 

Quensel 6* 3. 48* 188*. 

von Rad 116* 148*. 
Raecke 30* 49* 148* 
188*. 

Raether 116* 188*. 
Raimann 30*. 

Rangette 214*. 
Ranschburg 74*. 
Ransohoff 7* 36. 

Ranzi 148*. 

Rautenberg 97* 116*. 
Redlich 148* 149* 189*. 
Redlich und Karplus 
189*. 

Reichardt 214*. 

Reichel 30*. 

Reichmann 149*. 
Reinhardt 49*. 

Reiß, E. 49*. 

Reiß, H. 189*. 

Repkewitz 30*. 

Reuter 116*. 

R4v4cz 214*. 


Rhein 30*. 

Ribbert 49*. 

Richter, A. 189*. 

Richter, Hugo 149*. 
Riebold 149* 

Rieder und Leeser 189*. 
Rietschel 149*. 

Robert 90*. 

Roels 116*. 

Römer 149*. 

Römheld 149*. 

Rönne 149*. 

Röper 150*. 

Rößle 189*. 
v. Rohden 74* 150*. 
Rohleder 49*. 

Rohrer 160*. 

Rorschach 214*. 

Rosen 160*. 

Rosenfeld 31* 160* 189*. 
Rosenhagen and Bentley 
160*. 

Rosenthal 160*. 

• Roter 189*. 

Rothe 189*. 
Rothenhäusler 31*. 
Rothfeld 160* 189* 190*. 
Rothschild 49*. 
Rubensohn 160*. 
Rubenson 190*. 

Rudberg 160*. 

Rülf 160*. 
le Rütte 2*. 

Ruhemann 31* 190*. 
Runge 97* 116* 190*. 
Rust 6* 20. 

Ruttmann 49*. 

Sachs, EL 190*. 

Sachs, H. 97*. 

Saenger 160*. 

Sakobielski 161*. 

Salus 98* 151*. 
v. Sarbö 49* 190*. 

Sauer 190*. 

Sauerbrey 49* 74*. 
Schacher! 161*. 

Schüfer (Roda) 7* 29. 
Schaffer 49*. 

Schaffer und Richter 
161*. 

Schallmeyer 49*. 
van der Scheer 31*. 
Scheffer (Ermelo) 49*. 
Scheffer, C. W. 116*. 
Schellmann 90*. 


Schelminsky 190*. 
van Schelven 190*. 
Scherber 161*. 

Schiller 8* 44*. 

Schiötz 60* 190*. 
Schlayer 190*. 
Schlesinger 161*. 

Schlief 116*. 

Schlößmann 161* 191*. 
Schlomer 60*. 

Schlüter 191*. 

Schmidt 60*. 
Schmidt-Schwarzenberg 
116* 191*. 

Schmitz 98*. 

Schneemann 161*. 
Schneider, Fritz 116*. 
Schneider, J. Rudolf 164*. 
Schnopfhagen 7* 26. 
Schnyder 90*. 

Schöppler 191*. 
Schragenheim 191*. 
Schreat 162*. 

Schröder (Greifswald) 
60* 162* 191*. 
Schröder, Hans 116*. 
Schrottenbach 162*. 
Schüller 191*. 

Schürer v. Waldheim 90*. 
Schürmeyer 162*. 

Schütz 191*. 

Schütz und Wittmann 
214*. 

Schultz, J. H. S. 50* 
162* 214*. 

Schultz-Hencke 162*. 
Schultze (Bonn) 162*. 
Schultze (Göttingen) 
116*. 

Schultze, F. E. Otto 50*. 
Schulz 214*. 

Schulze 60*. 

Schuster 162*. 
Schuurmans-Stekhoveo 
2* 60*. 

Schwartz 60*. 

Sebald 74* 151*. 

Seelert 76* 116* 152* 

191*. 

Seeliger 31*. 

Seifert 214*. 

Seiffert 191*. 

Semerau und Noack 90*. 
Senf 60*. 

Severin 162*. 

Siebelt 191*. 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



Inhaltsverzeichnis. 


245* 


Sichert (Libau) 2* 50* 
98* 116* 163*. 

Siebert, Fr. 60*. 
Sieglbauer 163*. 

Siemens 51*. 

Siemerling 51* 117* 191*. 
Sighart 2* 51*. 

Simmonds 152*. 

Simons 163* 192*. 
Simons und Merkel 153*. 
Singer 153* 192*. 

Sittig 153*. 

Siwinski 51* 117*. 

Snell, R. 6* 14. 
Snoek-Henkemans 51*. 
Soesman 192* 214*. 
Sokolow 153*. 

Sokolowsky 61*. 

Sommer 51* 192* 214*. 
Sommerfeldt 153*. 
Sonntag 98*. 

Souques 153*. 
Spangenberg 117*. 

Specht 90*. 
von Speyr 31*. 
Spielmeyer 163*. 

Spinner 51*. 

Spliedt 31* 61* 117*. 
Spranger 192*. 

Stargardt 51* 76* 154*. 
Stark 61* 117*. 
Steckelberg 31*. 

Stehr 192*. 

Steiger 192*. 

Stein, Fr. W. 153*. 

Stein, Leopold 192*. 
Stein, Werner 163*. 
Steiner 163*. 

Steiner und Kuhn 154*. 
Steinigeweg 62* 117*. 
Steinmann 215*. 

Stekel 192*. 

Stelzner 117*. 

Stephan 154*. 

Stern, C. 164*. 

Stern, Erich 154* 192*. 
Stern, W. 215*. 

Sttrz 52* 117*. 
Steyerthal 193*. 

Stiefller 31* 117* 118* 
193*. 

Stier 154* 193*. 

Stockleb 154*. 

Storch 193*. 

Stilling 98*. 

Sträußler 193*. 


Strafella 31* 62*. 
Stransky 118*. 

Straßer 193*. 

Strümpell 62*. 

Stuchlik 52* 193* 216*. 
Stühmer 164*. 

Stümpke 98*. 

Stulz 193*. 

Stuurmans 118*. 

Suchy 52*. 

Sust 193*. 

Szasz und Podmanizky 
s 52* 118*. 

Szörody 118*. 
Sztanojewit8 164*. 
Szymanski 216*. 

Tallquist 90*. 

Tausk 31*. 

Taussig 62* 164*. . 

Teleky 52*. 

Thiessen 118*. 

Thoma 154*. 

Thomalla 2* 62*. 

Tiling 193*. 

Tintemann 52* 165*. 
Tischy 62* 118*. 

Tobias 193*. 

Többen 31* 196*. 
van der Torren 118* 194*. 
Travaglino 118*. 

Traut 118* 194*. 

Treupel 166*. 

Trier 90*. 

Trinchese 98*. 

Trömner 194*. 
Trotsenburg 2*. 

Trüb 216*. 

Trümbach 52*. 

Uhthoff 166* 194*. 
Ulrich 8* 46. 194*. 
Urbantschitsch 53* 118*. 

van Valkenburg 63* 118*. 
Viegener 31** 

Vilfiger 53*. 

Vocke 6* 9. 

Voorhoeve 63*. 

Voß 194* 216*. 

Yossius 166*. 

Wachsmuth 6* 10. 
Waehsner 194*. 

Wälle und Hotz 194*. 
Walke 194*. 


Wagner (Gießen) 31* 
118*. 

Wagner, A. 194*. 

Wagner v. Jauregg 194*. 
Warmbt 156*. 
Wassermann 98*. 
Wattenberg 7* 36. 
Weber, L. W. 32* 53* 
156* 194* 196*. 
Wedekind 63* 119*. 
Weichbrodt 63* 90* 98* 
195*. 

Weichsel 119*‘ 

Weiß und Sittig 53*. 
Werther 165*. 
Wertheimer 195*. 
Wertheim-Salomonson 
119* 165*. 

Westphal 53* 76* 156* 
195*. 

Wetzel 119*. 

Wexburg 166* 196*. 
Weygandt 32* 53* 76* 
119* 195* 196* 216*. 
White and Washburn 
216*. 

Wickel 119*. 

Wideroe 64*. 

Wiersma 64*. 

Wiesenack 64* 119*. 
v. Wiesner 166*. 

Wigert 119*. 

Wilde 196*. 

Williamson 196*. 

Willige 166*. 

Wilmanns 196*. 
Winderstein 64*. 

Winkler 76* 216*. 

Winter 196*. 
van Woerkom 216*. 
Wohlwill 196*. 

Wolf, H. F. 196*. 

Wolff (Friedmatt) 6* 12. 
Wolff, Gustav 216*. 
Wollenberg 64* 119* 
196*. 

Zadek 90*. 

Zappe 70* 31. 
Zeehandelaer 119*. • 
Zeller 32*. 

Ziehen 54* 119*. 
Zimmermann 54* 98* 
119* 216*. 

Ziveri 120*. 

Zsaskö 64*, 


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Anzeigen zurZeitschrift für Psychiatrie. 7o. Bd. Literaturbericht, Ky 


Dr. Hertz’sche 

Privat-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn 

Nervenheilanstalt mit 2 getrennten Abteilungen. 


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1. Offene Abteilung für Nervenkranke. 8 

2. Geschlossene Abteilung für Psychosen aller Art. 8 

i Nahe bei der Stadt in ruhiger Lage. Prospekte auf Verlangen. 8 

Sanitätsrat Dr. Wilhelmy Privatdozent Dr. König. 1 


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Eine physiognorrische Studie zu seinem 60. Geburtstage 

Herausgegeben von Walther Haeckel. - Mit einem Geleitwort von Wilhelm Bölfche 
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HEINRICH LAEHR, Die Literatur der Psychiatrie, Neurologie 
und Psychologie von 1459 bis 1799 

Mit Unterstützung der Kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin — 
Bd. I: Die Literatur von 1459 bis 1699. Bd. II: Die Literatur von 1700 
bis 1799. Band III: Register der Bände I/Il. 8°. 3 Bände. Geh.8oMk. 

In den stattlichen drei Händen liegt ein Werk vor uns, auf das stolz zu sein die deutsche 
Psychiatrie ei.i Anrecht hat. Ihr Nestor hat am Abende seines Lehens den Mut gehabt, 
ein solches Werk zu unternehmen, und das Glück, es zu vollenden, und was das be¬ 
sagen will, erhellt daraus, daß nicht weniger als 16396 Schriften von 8565 Autoren an¬ 
geführt sind, und hei 2778 eine Angabe des Inhaks beigefügl ist. Das Ziel, das ihm 
vorgesebwebt, eine quellenmäßige Geschichte der Psychiatrie der früheren ahrhunderte 
zu schreiben, bat er zwar nicht erreicht, wohl aber hat er die Bausteine zu diesem 
Riesenwerke herbeigetragen und damit jedem späteren Forscher seine Aufgabe wesent¬ 
lich leichter gemacht. Laehr wählte in seiner Arbeit den chronologischen Weg, um 
den jeweiligen Kulturzustand in einer gewissen Reihenfolge zur Kenntnis zu bringen 
und eile Möglichkeit eigener Ergänzung zu erleichtern. Die Ausstattung der drei Bände 
ist eine vorzügliche und, nach Art der englischen, über das bei uns Gewohnte 
hinausgehende. Zeitschrift für Psychologie 

HANS LAEHR, Die Heilung des Orest in Goethes Iphigenie 

8°. Geheftet 2 Mark 

Wer ein viclhetrctencs Gebiet von neuem durchforscht, hat nur dann ein Anrecht auf An¬ 
erkennung seiner Forschungen, wenn er neue Wege bahnt lind neue Ziele steckt Dies ist 
Laehr in seiner Auffassung der Heilung Orests in glänzender Weise gelungen. Er schildert 
die Entsühnung des Orest von seinen Gebrechen durch reine Menschlichkeit und stützt 
sich allenthalben auf den Goetheschen Text. Mag auch Laehr in seiner Verteidigung des 
Dichters und seines Mottos: »Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit« 
an einzelnen Stellen wohl etwas zu weit gegangen sein, so bietet doch die Arbeit in ihrer 
Gegensätzlichkeit zu den schon vorhandenen Studien viel Interessantes und kann des¬ 
halb wärmstens empfohlen werden. Beilage zur Allgemeinen Zeitung 

MAX LAEHR, Die nervösen Krankheitserscheinungen der 
Lepra mit besonderer Berücksichtigung ihrer Differential¬ 
diagnose nach eigenen auf einer Studienreise in Sarajewo 
und Konstantinopel gesammelten Erfahrungen. 

Mit 4 Lichtdrucktafeln und 1 Abbildung im Text. Gr. 8°. Geh. 4 Mark 

Tn dieser Arbeit sind nicht nur die in der Literatur iniigetcilten Beobachtungen auf 
das eingehendste berücksichtigt, sondern es hat auch der Verfasser selbst auf einer 
Studienreise durch die Balkanhalbinsel eine große Zahl Lepröser in derselben gründ¬ 
lichen und exakten Weise untersucht, w T ie wir dies von den früheren Arbeiten dieses 
Autors gewohnt sind. Daß durch diese genauen und mühevollen Untersuchungen 
jetzt viel diskutierte Fragen ihrer Lösung erheblich näher gebracht wurden, ist ein 
großes Verdienst des bekannten Autors. In dem Schlußkapitel ist die praktisch so un- 
gemein wichtige Differentialdiagnose zwischen Lepra und Syringomyelie und der Poly¬ 
neuritis syphilitica ausführlich erörtert, ;nd »ind die in Betracht kommenden Momente 
sehr übersichtlich angeordnet. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis ist der sehr 
le senswerten Arbeit beigegeben. Zentralbl. f. d. Grenzgebiete d. Medizin u. Chirurgie 

K. PANDY, Die Irrenfürsorge in Europa. Eine vergleichende 

Studie. Deutsche Ausgabe durchgesehen von Dr. H. ENGELKEN JUN. 
Mit 50 Abbildungen im Text. Gr. 8°. Geheftet 12 Mark 

Die Ausführungen zeichnen sich durch eine frische Lebhaftigkeit aus, die doch an 
keiner Stelle die Objektivität des Beobachters beeinträchtigt hat. Die einzelnen Ab¬ 
schnitte enthalten Übersichten über die geschichtliche Entwicklung des Irrenwesens in 
den einzelnen Ländern, die durch ihre Nebeneinanderstellung lehrreich wirken, anderer¬ 
seits aber auch erkennen lassen, daß noch in keinem Lande die Fürsorge für die 
Geisteskranken zu einem vorbildlichen Abschluß gekommen ist, sondern daß sowohl 
ira Anstaltswesen wie auch in der Gesetzgebung hier noch alles in der Entwicklung 
begriffen ist. Ein besonderer Vorzug des Buches liegt darin, daß der Verfasser sich 
von jeder Schönfärberei fernhält. Zeitschrift für soziale Medizin 


Zu obigen Preisen tritt vom Verleger ein Teuerungszuschlag von 75 % 


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