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Inhalt
Erstes Heft.
Originalien.
Psychologisch-phonetische Untersuchungen. Von M. Isserlin- München.. 1
Hirnschwellung. Von Martin Reichardt-Wüizbnrg . 34
Weiteres zur Alkoholfrage. Von .FiwcÄÄ-Osterode (Ostpr.). 104
Kleinere Mitteilungen.
Personalnachrichten.... 122
Zweites Heft.
Originalien.
Die Schizophrenie im Lichte der Assoziations- und in dem der Aktions-
Psychologie. Von Doz. Dr. Josef Uerze-Klosterneuburg. 123-
Lustmord eines moralisch defekten Sadisten (mit seltenen, mit der Tat
in keinem Zusammenhänge stehenden epileptischen Anfällen). Prof.
Dr. Heinrich Obersteiner- Wien und Prof. Dr. Ertoin Stransky- Wien 165)
Fieber und Psychosen. Von Dr. Harald Ste&erf-Liebau. 214
Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken. Von Dr. Georg BartA-Zschadraß 227
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
16. Jahresversammlung (2. Kriegstagung) des Vereins Nordwestdeutscher
Psychiater und Neurologen in Rostock-Gehlsheim am 27. Juli 1918 240
Winterstein-Rostock: Der Stoffwechsel der nervösen Zentralorgane 241
Berichte über endogene Verblödungen.
I. JHewt-Rostock-Gehlsheim. Klinischer Teil (mit Krankenvorst.) . 242
II. TFofter-Rostock-Gehlsheim. Pathologisch-anatomischer Teil.... 245
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IV
Inhalt.
III. .EtcaW-Rostock-Gehlsheim: Serologischer Teil. 246
IV. Kratwe-Rostock-Gehlsheim: Kriegsärztlicher Teil. 248
Wattenberg- Lübeck: Zum Ersuchen des Reichskanzlers vom 4. Juni
1918 betr. Aufnahme usw. von Geisteskranken in Irrenanstalten 260
JTa/fca-Hamburg-Friedrichsberg: Blutforschung und Jugendirresein.. 264
Hamburg-Friedrichsberg: Über Hydrozephalie. 267
Curschmann-Rostock: Zur Diagnose und Therapie Menürescher Zu¬
stande . 260
Peters-Rostock: Krankenvorstellungen. 262
Kleinere Mitteilungen.
Die Dr. Edelsche Heilanstalt für Gemüts- und Nervenkranke zu Char¬
lottenburg . 264
Die Heilanstalt Schweizerhof. 264
Personalnachrichten. 264
Drittes Heft.
Originalien.
Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit der Schädel-Hirn-
verletzten mit Kraepelina Methode der fortlaufenden Additionen.
Von Dr. Q. Fo/f-Düsseldorf.265
Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesklter. Von Dr. Oehring-
Leipzig. 281
Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. Von
‘Dr. Colla- Bethel. 303
Beitrag zu den »Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung und zur Psycho¬
logie des hysterischen Dämmerzustandes. Von . Dr. Oskar Bein-
Landsberg. 329
Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. Von
Dr. August He^ar-Wiesloch i. B. 340
Über induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. Von
Wilhelm Afa^er-Tübingen-München. 361
Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. Von Ober¬
arzt Dr. .En^e-Strecknitz-Lübeck... 373
/
Kleinere Mitteilungen.
Zu Dr. K. E. Mayers Aufsatz: „Blücher in kranken Tagen“. Von
Dr. Baller- Owinsk. ... 388
Erwiderung. Von Dr. E. May er-Ulm .. 391
Deutsche Psychiater Elsaß-Lothringens und Posens. 393
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Inhalt. V
Die Heinrich Laehr-Stiftung.... 393
Personalnachrichten.. 394
Viertes and fünftes Heft.
Originalien.
Carl Moeli zom 70. Geburtstag. 395
Über die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch während des
Krieges 1914/18 und deren Folgen. Von Geh. Sanitätsrat Dr. A. Richter-
Buch.. 407
Das Lumina! bei der Behandlung der Epilepsie. Von Direktor Dr. Otto
Hebold -Wuhlgarten. 424
Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände, ins¬
besondere nach § 81 der Strafprozeßordnung. Von Sanitätsrat
Dr. Drofc-Dalldorf.432
Korreferat zu vorstehendem Aufsatze des Herrn Sanitätsrats, Dr. Brate.
Von Landgerichtsrat Dr. Emst &mfag-Berlin. 451
Der Aufbau der Psychose. Ein klinischer Versuch. Von Karl Bimbatun-
Berlin-Buch.455
Über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen bei der
progressiven Paralyse. Von F. JaAnel-Frankfurt a. M. 503
Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene und allgemeinen
Wohlfahrtspflege. Von Direktor Dr. Max FwcAer-Wiesloch.. 629
Über unnötige Satzungen. Von Professor Würzburg.. 649
Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. Von Dr. Hans Laehr 563
Kleinere Mitteilungen.
Deutscher Verein für Psychiatrie, E. V. 634
Sechstes Heft.
Originalien.
Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland wäh¬
rend der Jahre 1903—1917. Von Dr. Albert DeAr-Stackeln. 635
Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung für die Dienst¬
beschädigungsfrage. 'Von Stabsarzt Dr. Max Rohde in Erfurt.664
Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen und Normalen.
Von San.-Rat Dr. Rudolf Ganter, Wormditt (Ostpr.).. 689
Über psychische Störungen bei Tabes. Von Kasimir Brodnieuncz . 701
Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. Von Dr. E. Rittershaus,
Hamburg-Friedrichsberg. 720
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VI
Inhalt.
Gin Fall von posttraumatischer Demenz nach Schrapnellschaß Verletzung
des Schädels. Von Medizinalrat Dr. Heinicke . 750
Kleinere Mitteilungen.
Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen. 755
Die Heil- und Pflegeanstalt Schöneberg. 755
Abhandlungen zum Ewigen Frieden. 755
Personalnachrichten. 755
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
(Erste Mitteilung.)
Von
M. Isserlin.
Mit 52 Abbildungen.
Ich berichte im folgenden über einiges ans den Eigebnissen
von Untersuchungen, welche bereits seit mehreren Jahren angestellt
werden. Ich muß umfassendere und eingehende Darlegungen,
welche der Gegenstand verlangt, auf einen Zeitpunkt verschieben,
in welchem es die allgemeine Lage erlauben wird, und nehme
zunächst nur Gelegenheit, über einige mir wichtig erscheinende
Punkte vorläufig kurz zu berichten 1 ).
Es handelt sich um eine genauere Untersuchung der
klanglichen und musikalischenEigenschaften der mensch¬
lichen Sprache. Dabei wird die Arbeit besonders von psycho¬
logischen Interessen geleitet. Es kommt darauf an, festzustellen,
inwieweit die klanglichen und musikalischen Eigenschaften der
menschlichen Sprache von psychologischen Gesetzmäßig¬
keiten beherrscht sind, bezw. solchen dienen. Treten wir der
Sprache als einer Folge von Klangphänomenen gegenüber, so
dürfen wir wohl grob unterscheiden zwischen konstanten und
wechselnden Erscheinungen in den klanglichen Geschehnissen.
Die Psychologie und insbesondere die Psychopathologie der Sprache
hat sich bisher vor allem dem Studium der konstanten Er¬
scheinungen gewidmet. Zu erkennen, inwieweit feststehende
Klangerscheinungen (Worte) Träger von Bedeutungen
werden, sich als solche wandeln und verschwinden, ihre Aufgabe,
Träger des Sinnes zu sein, unter normalen und abnormen Be¬
dingungen erfüllen oder nicht erfüllen, war besonders das Ziel
solcher Untersuchungen. Die Studien, von denen hier berichtet
*) Die Untersuchungen werden mit besonderer Unterstützung durch
die Heinrich Laehr-Stiftung ausgeführt. Auch die Psychäatr. Klinik Mün¬
chen macht besondere Aufwendungen für sie.
ZeitMhrift für Psychiatrie. LXXV. 1. 1
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wird, widmen sich im Gegensatz hierzu vor allem den wechselnden
Erscheinungen klanglicher Art. Neben der Klangfarbe
sind es hier insbesondere die Tonhöhenbewegungen, die Ton¬
stärke und der Wechselder Zeitmaße, welche zur Untersuchung
herausfordem. Inwieweit diese Momente Träger des Aus¬
drucks seelischer Geschehnisse, aber auch Träger des Sinnes
in der sprachlichen Äußerung sind und sein können, ist bisher
auf normal-psychologischem Gebiet nur in sehr geringem Umfang,
und auf psycho-pathologischem fast gar nicht festzustellen versucht
worden. Grund für diesen Mangel war nicht nur die fehlende
Einstellung auf die hier angedeutete Aufgabe, sondern auch und
nicht zum wenigsten das Fehlen technischer Hilfsmittel, welche
die Physiologie der Sprache erst allmählich geschaffen hat. Die
von mir angestellten Untersuchungen benutzten das Verfahren von
Otto Frank zur Registrierung der Sprach-Schall-Phänomene. Ich
verweise auf die Veröffentlichungen dieses Autors 1 ), möchte es
aber nicht unterlassen, Herrn Geheimrat Frank, der mir mit großer
Bereitwilligkeit sein neues Verfahren noch vor seiner Veröffent¬
lichung zur Verfügung stellte, auch an dieser Stelle zu danken.
Es handelt sich um photographische Aufnahmen der durch
die Sprache erzeugten Schallbewegungen mit Hilfe von dünnen
Membranen bezw. Platten (Gummi, Glimmer), welche ein kleines
Spiegelchen tragen; der Lichtstrahl wird dabei auf einen rollenden
Film fortlaufend aufgenommen. Uber die genauere Versuchsanord¬
nung wird in den ausführlichen späteren Mitteilungen Eingehenderes
vorgebracht werden. Wir erhalten Schallbewegungsbilder, wie sie
folgende Figuren zeigen:
Fig. 1 (a—>j): Vokale a, e, i mit Glimmerplatte aufgenommen.
Die oberen Schwingungslinien in diesen Figuren geben die Schall¬
bewegung wieder, während die untere einfache Schlangenlinie die
Bewegung einer zur Zeitmessung dienenden Stimmgabel wiedergibt,
wodurch es ermöglicht wird, die Tonhöhe (Schwingungszahl und
x ) Frank, O., Münch, med. Wschr. 1904, Nr. 22. — Derselbe, Ztschr,
f. Biol. 50, 341. — Seemann, J., Ztschr. f. biol. Tcchn. 1, 110.'— Frank, O..
Ztschr. f. Biol. 59, 526; 60, 359. — Frank und Sommerfeld, Ztschr. f. Biol.
61, 264. — Frank, 0., Ztschr. f. Biol. 64, 125. — Brömser und Frank,
Sitzungsber. d. Ges. f. Morphol. u. Biol. in München 28, 45.
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
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-zeit) der Sprach-Schall-Bewegung auszurechnen, ebenso wie die
Ges&mtdaner gesprochener Laute und die Dauer der Sprechpausen
festzustellen 1 ). Das Verfahren ermöglicht es aber auch, neben
den Höhen- und Zeitverhältnissen der Tonbewegung auch die
Sprachstärke (Intensität) zu bestimmen. Berechnen wir die Tonhöhe
ans dem Verhältnis der Wellenlänge der Sprach-Schall-Bewegung
zu der der uns bekannten Stimmgabelschwingung (im allgemeinen
Vioo Sekunde), so stellen wir die Sprachstärke aus der Weite
des Ausschlages (Amplitude) der Schallbewegung fest 2 ). Wir sind
mit Hilfe solcher Berechnungen imstande, Tonhöhenkurven und
Tonstärkekurven der menschlichen Sprache herzustellen. Die
hier berichteten Untersuchungen beschäftigen sich zunächst mit
solchen, während sie das Problem der Klangfarbe vorerst bei¬
seite lassen.
Ich verweise zunächst nochmals auf die Figuren, welche uns
die direkten Bilder der Schallbewegungen geben. Ich werde weitere
Darlegungen und Abbildungen der durch das FranJcache Verfahren
gewonnenen Lautbilder, in den späteren ausführlichen Mitteilungen
geben. Ich zeige hier nur die Aufnahme einiger einfacher Worte,
Buchstaben und Silben. (Diese Schallbilder sind von rechts nach
links zu betrachten.) Fig. 2 zeigt die Silbe *bab“ (Glimmerplatte).
Man sieht die Kurve eines lautklingenden „a“; vor demselben das
merklich stimmhaft anklingende „b“. Ebenso nach dem ausklin¬
genden „a“ ein mäßig klingender Laut, bis die ziemlich harte Ex¬
plosion des „b“ „(p)“'durch die starke Ausbuchtung des schreiben¬
den Spiegels (Sprechkurve bis unter die Stimmgabelkurve hinunter¬
geschleudert) sichtbar wird.
Fig. 3—10 bei geringerer Aufnahmegeschwindigkeit des
rollenden Films und mit dem älteren FVawßschen Verfahren
x ) Die Tonhöhen für die Vokale Fig. 1 sind: 1 a = Vokal a Tonhöhe
ca. 110 p. s.; Fig. 1 ß = Vokal a Tonhöhe ca. 176 p. s.; Fig. 1 y Vok. e
ca. 114 p. s.; Fig. 1 8 Vok. e Ca. 175 p. s.; Fig. 1 e: Vok. i ca. 114 p. s.;
Fig. 1 C = Vok. i ca. 170 p. s.
*) Diese Art der Feststellung erscheint für unsere Zwecke genügend
und erlaubt. Als psychologisch wichtig sind vor allem die Stärkeverhält¬
nisse (Amplituden) derV okale zu berücksichtigen. Für die Intensitäten der
Konsonanten sind mehr rein ph ysiolo gisch-phonetisch e Gesetzmäßig¬
keiten maßgebend. Genaueres zu dieser Frage in späteren Ausführungen.
1 *
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(Gummimembran) aufgenommen, zeigen eine Reihe von charakteristi¬
schen Klangbildern. Zunächst die Silbe „er“ (Fig. 3). Und zwar all¬
mählich an- und abklingend, den tönenden Vokal e; dann durch den
Amplitudenwechsel deutlich gekennzeichnet die Erschütterungen
des „r“.
Bei Fig. 4 tritt zu „r“ durch eine Pause, die bis zur Bildung
des Explosivlautes verfließt (ca. «, Sek.) getrennt ein „t“. Auch
hier wird wieder der schwingende Spiegel durch einen starken
Luftstrom (Hauchlaut beim t) stark auswärts bewegt, so daß die
Sprechkurve die Stimmgabelkurve kreuzt. Der „t“-Laut ist wenig
stimmhaft wie aus den wenigen eigentlichen Schall-Schwingungen,
welche die Membran wiedergegeben hat, ersichtlich ist. Bei dem
nächsten Bild, Fig. 5, ist vor „ert“ noch ein reibendes „d“ getreten.
Das „t“ ist wiederum durch eine lange Pause von dem „r“ getrennt
(ca. 18 / 100 S.). Fig. 6 zeigt ein stärker stimmhaftes „t“ (i). Durch
die großen Amplituden wird der stimmhafte „i“-Laut gekennzeichnet,
während Fig. 7 ein möglichst stimmlos gesprochenes „t“ darstellt.
Fig. 8 zeigt die Silbe „hu“; das die Membran stark bewegende
hauchende „h“ (grober Luftstrom) vor dem „u“-Laut ist sehr
deutlich. Es folgt Fig. 9 „hun“, wobei das klingende „n“ nach
dem „u“-Laut gut sichtbar wird; während Fig. 10 endlich das
Wort „hundert“ (in einem Zuge gesprochen) in einer Aufnahme zeigt.
Aus solchen Klangbildern, wie sie hier wiedergegeben sind,
heraus, errechnen wir dann nach den angedeuteten Grundsätzen
Tonhöhe- und Tonstärke-Kurven und stellen die zeitlichen Ver¬
hältnisse fest. Mit solchen Kurven beschäftigen wir uns an Hand
unserer nächsten Bilder.
Wenn wir Sprachmelodiekurven 1 ) betrachten, so finden wir
überall kleinere feinere Schwankungen, welche der all¬
gemeinen Tonhöhenbewegung (nach auf- oder abwärts) auf¬
gesetzt sind. Diese kleineren Schwankungen haben im all¬
gemeinen mit psychologischen Gesetzmäßigkeiten nichts
zu tun. Sie entstehen durch das Zusammentreten der Laute
(Vokale und Konsonanten) und sind allein durch physiologisch¬
phonetische Gesetzmäßigkeiten bedingt. Die Zusammen-
j *) Ich verzichte in dieser Mitteilung auf ein Eingehen auf die Literatur
und verweise nur auf Wundt, Völkerpsychologie 1, Bd. 1 u. 2 Die Sprache,
3 . Auf!., 1912, passim.
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
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fügung der Konsonanten und Vokale bewirkt an sich Tonhöhen-
schwankungen, welche von einer gewissen Konstanz sind und von
psychischen Momenten unabhängig.
Bei Artikulationsstörungen werden gerade diese Ver¬
hältnisse berührt, wie spätere Beispiele dartun werden. Über¬
all aber werden wir auf die Scheidung zwischen rein phonetisch
.ER“ rn^S
Fig. 11.
und psychologisch (durch seelische Gesetzmäßigkeiten) bedingten
Schwankungen achthaben müssen.
Ich zeige nun zunächst einige rein phonetisch bedingte Ton¬
höhenbewegungen.
Fig. 11 „er“: Tonhöhe um 180 herum schwankend, mit dem
„r“ zum Schluß stark ansteigend. Bei dieser und allen folgenden
Kurven ist die Tonhöhenbewegung von 3 zu 3 Schwingungen fort
laufend angegeben. Es bezeichnen somit die Punkte auf der Ab-
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szisse die ersten drei, zweiten, dritten drei usw.-Schwingungen
der Sprach-Schallbewegung; die Punkte auf der Ordinate die durch¬
schnittliche Schwingungszahl (Tonhöhe) der ersten drei, zweiten
drei usw.-Schwingungen in absoluten Werten; die ausgeführte Linie
gibt die Tonhöhenbewegung (Melodie) wieder; während bei den
„ DEET 7/1 ^S.
tii.it.
336 .
35 «.
Fig. 13.
später zu zeigenden Kurven die punktierte Linie den Durchschnitt
der Amplituden wiedergibt und somit eine Kurve der dynamischen
Verhältnisse (Schall-Intensitäten) darstellt.
Fig. 12 „ert“: Anfang ähnlich wie bei 11; nicht so stark
schwankend; Absinken vor dem Verschlußlaut „t“, starkes Ansteigen
mit dem hochklingenden i (ti).
Fig. 13. dert: „d“ in der Melodie deutlich.
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
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Fig. 14. „ti“ isoliert in etwas anderer Form ab- und ansteigend.
Bei 15, 16 u. ff. ist die Dauer der Schallbewegung unter
der Abszisse von 10 zu 10 Punkten dieser (oft aus Gründen der Raum¬
ersparnis auch in großem Abständen) in Sekunden angegeben;
außerdem am Schlüsse jeder einzelnen Silbe, bezw. Silben¬
verbindung, die Gesamtdauer unterstrichen. Die Dauer der Pausen
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Fig. 14.
ist durch ein „P“ gekennzeichnet. (Also bei „unvorsichtig“: Ge¬
samtdauer „un“ 0,16 Sek., P. 0,13. Gesamtdauer für „vorsich“
0,40 , P. 0,20. Gesamtdauer für „tig“ 0,12 Sek. Auf eine graphische
Gestaltung der Kurve nach dem Zeitverlauf wurde verzichtet.)
In den folgenden Kurven tritt die psychologische
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Isserlin,
Bedeutung der einzelnen musikalischen Elemente (Ton¬
höhenbewegung, Tonstärke, zeitliche Verhältnisse) deutlicher hervor.
Fig. 15 „unvorsichtig“. Das sinngemäß wichtige „un“
wird durch die Tonhöhe scharf markiert. Im übrigen
fallende Melodie der Affirmation wie in dem folgenden Beispiel.
Fig. 16 gibt das Wort „neunzehnhundertdreizehn“ wieder.
Psychologisch wichtig ist die nach anfänglichem Auf und Ab ab sin¬
kende Tonhöhenbewegung, die für alles einfach Affir¬
mative kennzeichnend ist. Das durch den Sinn wich¬
tige „drei“ in der abfallenden Tonlinie wird durch die
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VN- VORSKH- T1U
Fig. 16.
Intensität (punkt. Linie) stark herausgehoben. Hier wird
also deutlich, wie die verschiedenen musikalischen Ele¬
mente einander ergänzen, um den Sinn entsprechend
zum Ausdruck zu bringen. Da die Melodie auf die fallen¬
de Richtung gebunden ist — im Sinne der Affirmation —, über¬
nimmt es die Intensität, Einzelheiten in der sinkenden
Tonhöhenbewegung sinngemäß heranszuheben.
Wie sehr diese Beweglichkeit der einzelnen musi¬
kalischen Elemente und ihre Verwertbarkeit bald für diese,
bald für jene Aufgabe im Dienste der Sprache T ''Wen und
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
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Ausdruck verleiht, wird besonders offenkundig bei der Analyse
einer Sprache, der diese Möglichkeiten naturgemäß fehlen müssen.
Es ist die Sprache der Taubstummen 1 ), welche der der
Normalen gegenüber gänzlich veränderte Verhältnisse darbietet
und ihrerseits die Wichtigkeit der vorher in normalen Kurven
aufgezeichneten psychologischen Gesetzmäßigkeiten eindrucksvoll
demonstriert.
Zunächst zeigt Fig. 17 noch einen einfachen affirma¬
tiven Satz, von einem Normalen gesprochen: „Aller
j9/3. 51 . 10 . 19 .
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Fig. 16.
Anfang ist schwer.“ Typische Melodie des affirma¬
tiven Satzes. In ihr übernimmt wieder die Intensität (punkt.
Linie) die Heraushebung der logisch wichtigen Einzel¬
heiten („aller“, „schwer“), welche durch die sinkende affir-
mierende Tonhöhenbewegung allein nicht gekennzeichnet werden
können.
Demgegenüber zeigt Fig. 18 denselben Satz von einem Taub¬
stummen gesprochen. Bei dem Taubstummen fallen
l ) Die Möglichkeit, Taubstumme zu untersuchen, verdanke ich der
Freundlichkeit des Herrn Direktor A. Hojbauer von der Landes-Taub-
stummenanstalt München.
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Isserlin,
einfach Tonhöhen- und Tonstärkenbewegungen im
wesentlichen zusammen, die für die Ausdrucks¬
fähigkeit sehr wichtige Differenzierung zwischen
Melodie und Intensität (melodischer und dynamischer
Akzent) ist dem Taubstummen nicht möglich. Von
einer eigentlichen Melodiebewegung ist nichts fest¬
zustellen. Außerdem ist auch die lange Dauer der Wort -
Schall-Bewegung bemerkenswert, die die Grobheit und
Plumpheit dieser Sprache nur vermehrt. Bemerkenswert
sind auch die starken phonetischen Schwankungen der
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Fig. 17.
Tonhöhenbewegung, welche auf Schwierigkeiten des Artikulierens
zurückzuführen sind. (Melodie in dieser Figur punktierte Linie.;
Als Gegensatz wieder: Fig. 19 „Lerne leiden ohne zu klagen“
von einem Gesunden. Typische Melodie des affirmativen Satzes.
Tonhöhenanstieg bei „leiden“, „Lerne“ und „klagen“ durch Inten¬
sität merklich gemacht.
Eine Reihe von weiteren Versuchen, für deren Ergebnisse ich
hier einzelne Beispiele wiedergebe, suchen festzustellen, in welcher
Weise die musikalischen Eigenschaften der Sprache,
abgesehen von den feststehenden klanglichen Eigen¬
schaften der Worte und Wortzusammensetzungen allein
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Isserlin,
für sich, Träger des Sinnes des Satzes sein können, oder
doch jedenfalls in entscheidenderWeise denSinndesSatzes
beeinflussen. Nicht gerade sehr häufig hat man in der Patho¬
logie auf die Bedeutung der musikalischen Eigenschaften der
Sprache auch als Träger des Sinnes hingewiesen. Nichtsdesto¬
weniger ist diese Bedeutung sehr erheblich, und es ist ein besonderes
Verdienst Pick s, diese Rolle der musikalischen Eigenschaften
energisch betont zu haben. In der Tat ist es ja schon in der
gemeinen Erfahrung des Lehens geläufig, daß genau der
gleiche Wortlaut einen verschiedenen Sinn geben
kann, je nach der Art der Betonung.
LERNE LEIDEN OHNE ZV KLUGEN.
Die nächsten Beispiele 20 und 21 zeigen den Wortlaut „ich
habe keine Zeit, müde zu sein“, in der Weise, daß in dem ersten
Satz (20) das Wort „Zeit“ sinngemäß herausgehoben (betont ist),
und indem Satz 21 das Wort „müde“. „Ich habe keine Zeit»
müde zu sein“ und „ich habe keine Zeit, müde zu sein“. Wie
die Analyse zeigt, trifft das Wort „Betonung“ tatsächlich
das Richtige insofern, als der Tonhöhenbewegung
hauptsächlich die Heraushebung des sinngemäß entscheidend
wichtigen Elementes „Zeit“ bezw. „müde“ zufällt. Die Ton¬
stärke hat auch hier wieder die Aufgabe, in der ab¬
fallenden Tonhöhenbewegung Wesentliches nicht
verschwinden zu lassen („sein“). In diesem Beispiel
wird auch die Rolle, welche den zeitlichen Verhältnissen, der
Rhythmisierung, zukommt, deutlich. So beträgt z. B. die Pause
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
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vor dem betonten „Zeit“ 0,27 Sek. gegen 0,18 Sek. vor dem
unbetonten. Das betonte „müde“ währt 0,30 Sek. gegen
0,19 Sek. des unbetonten, welches mit dem ohne Pause an¬
gehängten „zu“ zusammen 0,37 Sek. dauert. Auch die zeit-
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Fig. 21.
liehen Verhältnisse sind Hilfsmittel im Dienste der
Sinngebung.
Die folgenden Analysen verdeutlichen weiter, wie die musi¬
kalischen Elemente bestimmten Richtungen des Sinnes
zu dienen haben.
Fig. 22 „Ist das denn wirklich so?“. Die Analyse zeigt die
Melodie des Fragesatzes, wie er in vielen Beispielen in
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fsserlin,
gesetzmäßiger Weise deutlich wird. Vor dem eigentlich
Fragenden erfolgt ein starker Abfall der Tonhöhen¬
bewegung (bis zu „wirklich“). Das eigentlich fragende „wirk-
rST-DXS'DENN WIRKLfCHSO? zs.ff.*.
290.
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DENK WIRK.
Fig. 22.
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Fig. 23.
lieh“ steigt in der Tonhöhe stark an; das für sich fragende
„so“ steigt eigens auf und ab.
Demgegenüber zeigt uns das antwortende (bejahende)
(Fig. 23) „ja das ist wirklich so“ die uns schon bekannte Melodie
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
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des affirmativen Satzes. Das Wort „ist“ wird, nm es in seiner
Bedeutung herauszuheben, durch Tonhöhe markiert. „Wirk“ ist
an- und absteigend, „lieh“ stark abfallend; „so“ — entsprechend
ISTORSDENN WIRKLICH- WAHR *
IA w IST WIRK UCH WAHR.
Fig. 25.
dem Abfall des affirmativen Satzes in der Melodie ganz ver¬
schwindend — wird durch den Stärke-Akzent (Intensität) eigens
herausgehoben.
Auch die nächsten Sätze (24 und 25) verdeutlichen das
Widerspiel von Frage und Antwort in der Melodie.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
16
Isserlin,
Fig. 24 „Ist das denn wirklich wahr?“ In der typischen
Melodie des Fragesatzes; das ansteigende „wahr“ wird durch
das vor ihm befindliche stark fallende „lieh“ noch besonders
herausgehoben. Demgegenüber in „Ja, das ist wirklich wahr“,
Nr. 25, wiederum die affirmative Melodie, „wahr“ fällt stark gegen
das hochmarkierte „ist wirklich“ ab. Besonders instruktiv ist
der Vergleich der Tonhöhe der Silbe „lieh“ in beiden Beispielen,
sie sinkt im Fragesatz (24) vor dem fragenden „wahr“ stark ab,
während sie vor dem affirmierten (25) hoch gehalten ist.
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Fig. 26.
In ganz extremer Weise stellen die Beispiele 26 und 27 die
musikalischen Gesetzmäßigkeiten des Fragens und Antwortens dar
Diese werden hier besonders deutlich, weil das gleiche einfache
Wort „neunzehnhundertdreizehn“ verwendet wurde.
Fig. 26 „neunzehnhundertdreizehn?“ (fragend). Der Unter¬
schied gegen das frühere, einfach aussagende (Fig. 16) ist sehr
einleuchtend: die Silbe „drei“ sinkt in der Tonhöhe, während die
Silbe „zehn“ durch extrem plötzlichen Anstieg der Tonhöhe
die Fragemelodie kraß herstellt.
Fig. 27 gibt die Analyse des auf die Frage in stark affir¬
mativer Weise bejahend antwortend ehnhundert-
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
: Orkrif^l frcni
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Orrgir.al frcm.
UNIVERSrfr OF MICHfGAN
Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
17
dreizehn“. Die Melodie steigt im Gegensatz zn der des
vorigen Beispiels bis zur Silbe „drei“ stark an, um dann bei
„zehn“ extrem abzufallen. In diesem Beispiel sind auch die
zeitlichen Verhältnisse besonders bemerkenswert. Der
Silbe (Teilwort) „drei“ kommt sinngemäß in beiden Beispielen
eine besondere Bedeutung zu, nämlich die, daß es sich um das
Jahr dreizehn handle, entgegen vierzehn usw.; da in dem Beispiel
Nr. 26 die Silbe „drei“ in dem extremen Frageanstieg der Melodie
(„dreizehn“) erheblich abfallen muß, wirkt hier neben der In¬
tensität die Dauer stark heraushebend; „drei“ im Fragesatz
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SUL 5 11
Fig. 27.
dauert nämlich 0,42 Sek. während die Pause vorher 0,14 Sek.
beträgt. Im affirmativen Satz (neunzehnhundertdreizehn) dauert
„drei“ nur 0,24 Sek., während die Pause nur 0,07 'Sek. beträgt.
Dabei wird in diesem affirmativen „neunzehnhundertdreizehn“
das Teilwort „drei“ durch die ansteigende Tonhöhenbewegung
genügend vor dem extrem abfallenden „zehn“ herausgehoben.
Angemerkt sei hier auch, daß die Rolle der Regelung der
musikalisch-zeitlichen Verhältnisse im Dienst der Sinn¬
gebung so weit geht, daß das phonetische Bild des gesprochenen..
Satzes sich nach dieser Richtung häufig sehr wesentlich vom
geschriebenen unterscheidet.
ZeitMtutft «t PcyohUtte. LXXV. 1. 2
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
lasöHin
Phonetisch werden Silben oft zeit lieh zusammen-
geklebt, die ganz verschiedenen
Worte?? gehören;, wenn es die muclkalisch-phoiietiscbeu
Gr^ye)znxiiß!g^^ite;tt .^rforfer«; z, B. 1*%.' 22 und 23 „denn wirk“
.V v. ä.': $£■ Anderseits '^irtleti-'ancii häufig im Schriftbild
in ..<i a.cögebörige Silben ane dun gleichen Gründen
m$ ■ !•: -der gerissen irgl. Fig. 16 neuu*zehtihtmder-t-ete. u. a.).
if.rm*..
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Fig, ü8.
- r.;, bJer vorgebrachien Tatsachen dtiffiett' goiiögem uni an-
wie sehr, die Sprache durch ihre mnsikaUac^^ Eigen-
. - •=.• ••- -Ion verschiedenste«' iht • gestellte« Aufgaben unter je-
völliger v^np<ossit»}g an die vorhandenen BcuHngungen in sehr
c. e< : : ■ . •üer Weise «ad. in seht wm treibendem Maße genügen
kumiOF -Wmm irgeudwd, |so mit Bezug atd disjäö Eipii schäften
ho-jeh-m die analogisiere:«den Glßiclrsotzuitgei'? der Sprache mit
lotnndöö Organismus zu Recht.
Ju wöHeren Beispiele« zeige ich nun SthtdPgiui det musi-
kfiJüdfetn Qualitäten der Sprache durch Erkrnokvpigeu. : Die
uä-.-bMvo Figuren geben Analysen der Sprafchie-Tstungön von
' ; 5 ,-:?kranken. E» handelt sich zunächst um einen Para-
iytifedi imsFrühstadiuni, der eine dem bloßen Ohr kaum
m» l, fMnhc Aiijkulationsstdnmg bot, Paradigma; „Ich habe keine
:GflgreTfro]i'j
Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
19
Zeit, mfide zu sein“ (Fig. 28) und „Ich habe keine Zeit, mflde
zn sein“ (Fig. 29). Die Analyse zeigt ein deutliches Abgleiten
der Melodie vor der Silbe „de“ in dem Wort „mflde“ in beiden
JIHMOBEXEINEZEITMUDEZU SEIST:
RLLER RKFMG TST SCHWER .
****** P .* R /<-8
RLLBR RNFHN6 tST JCHhMR
Fig. 30.
Beispielen. Im zweiten Beispiel ist das Wort »zu“ ziemlich ver¬
schluckt, nur angedeutet; die Melodie ist sonst in beiden Beispielen
noch ziemlich erhalten.
2*
° ' GO. glC UNIVERSITYOF MICHIGAN
20
Isserlin,
Die Störung ist im wesentlichen phonetisch (Artiku-
lationsstörung).
Ein durchaus anderes Bild bietet die nächste Analyse „Aller
Anfang ist schwer“ (Fig. 30) von einem Dementia praecox-Fall.
Der Kranke zeigte klinisch eine schwere affektive Verblödung
(Brudermörder) bei gut erhaltener Intelligenz. Auffallend ist
in der Sprechfolge der Mangel der zeitlichen Gliederung;
„aller Anfang ist“ wird in einem Zuge gesprochen, gegenüber
mehreren Pausen bei normalen Vergleichsobjekten. Die Zeiten
LERNE~£EWEN : 0HNE'2IJKUIGEN *.
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Zt 6.1
Fig. 31.
sind sehr stark verkürzt; die Gesamtdauer von „aller Anfang“
beträgt bei dem Dementia praecox-Kranken 0,39 Sek. gegenüber
0,77 Sek. Textdauer von Beispiel Nr. 17 (wozu bei dem Gesunden
noch 0,28 Sek. Pause kommen). Auch die Pause vor dem Wort
„schwer“ und die Dauer dieses Wortes selbst ist gegenüber dem
Normalen sehr stark verkürzt. Die Melodie ist im wesentlichen
ungestört. Ganz Ähnliches zeigt das nächste Beispiel von
demselben Kranken „Lerne leiden ohne zu klagen“ (Fig. 31).
Auch hier ist die Melodie im allgemeinen Entwurf erhalten,
die Dauer stark verkürzt; z. B. „lerne leiden“, vom Dementia
praecox-Kranken 0,60 Sek., bei dem Gesunden 1,20 Sek.
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
21
Ich stelle, nm die Tatsachen im Gegensatz eindrucksvoll
hervortreten zn lassen, wieder die Sprachanalysen eines Taub¬
stummen hierher (Beispiel Nr. 32). Auch hier wieder völliger
Verlust der Melodie, soweit diese höheren und umfangreicheren
psychischen Synthesen (Satzprägung) dienen soll. Die Ver¬
längerung der Dauer ist eine außerordentlich großo. Der
Parallelismus von Tonhöhe und Tonstärke (punktierte und
ansgezogene Linie) ist wiederum sehr deutlich.
W I^RWB-LEIPEW«AHWB«glMCTigl«EM
UH- MB- LBMM- OH- MB- SO- KU- GEN.
Fig. 32.
ALLER AM TANQ fJT SCHWER
Fig. 33.
Während somit die Sprache des Dementia praecox-Kranken
durch den Mangel der zeitlichen Gliederung den Charakter des
Nachlässigen, Uninteressierten, Formelhaften erhält, gelangt die
des Taubstummen, welche in einer Art mühseligen Skandierens
stecken bleibt, überhaupt nicht zu der Stufe eines höheren Aus-
drucksmittels.
Sehr sonderbare Abweichungen von der Norm zeigt uns das
nächste Paradigma: „Aller Anfang ist schwer“ (Fig. 33), von einem
Kriegshyateriker gesprochen. Die Melodie bewegt sich in
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22
Tseerlia,
großer Tonhöhe (300—öOOS.p. 5), zeigt regellose, .zum Teil sehr
plötzliche phocetischoScbwankungen: die Satz nt elo die ist je¬
doch oieht völlig aufgelöst, vielmehr im affirmative« Abfall deut¬
lich; die Zetten sind verlängert Die Intensität ist sehr gering und
kaum schwankend.
Demgegenüber teigen die nächsten Bilder einer psycho¬
genen, döltraoteo: Kriegspsychose mit i^grammntismus
and Ansätzen zam Stottern ein wesentlich anderes Gepräge.
Die Melodiebewegting ist sehr erheblich eingeschränkt;
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Fig.Stv
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irrt „19.13* (Fig. 84) besteht in der Melodie bis zur Silbe
rdi - |hgeaehea von geringen phonetisch;;;! Schwankungon, fast:
eio Plateau der Höhenbewegnng: dann / fällt die Tonhöhen-
b< :; ,vvg:ja'r in der typischen Wtfiso des Satzes ab.
A uch >•:;v. Kurven A er 1 nteneität., welch letztem anisieh gering
i^t, verläuft piateanförmig. Die Däner ist verlängert. Fig;
Hb zeigt die Sprache des gleichen Kranken nach weit-
f'.'nc.Ovi:;r Besserung. Die Melodiehewognng oöheit »»eh.
I
e
Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
23
dem Normalen an. Anch die Intensität zeigt eine lebhaftere
Bewegung.
Neben die Analyse des Kranken mit psychogen agrammati-
1913 .
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DAUER ttfJS’EHO
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Fig. 36.
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Fig. 37.
sehen Störungen stelle ich die Ergebnisse der Sprachuntersuchung
an einem durch Kopfschuß aphasischen Krieger mit
echtem Agrammatismus. Die Analyse des Wortes „neunzehn¬
hundertdreizehn“ (Fig. 36) zeigt uns wohl einige phonetische
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Original from
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24
Isserlin,
Auffälligkeiten (besonders erheblich sind die phonetischen
Schwankungen in der Silbe „drei“), jedoch zeigt sich die Melodie
des affirmativen Satzes im wesentlichen erhalten. Auch
die Zeiten sind gegenüber der Norm nicht verlängert.
Ähnliches zeigen uns die nächsten Beispiele: „Ist das denn wirklich
so?“ und „Ja, das ist wirklich so“ (Fig. 37 und 38). Wohl be¬
stehen auch hier einige Auffälligkeiten innerhalb der
Melodiebewegung einzelner Silben wie „so“ (Analyse 37) und
„das“ (Analyse 38). Jedoch die Melodie des Fragens und
Affirmierens erscheint ohne wesentliche Störung.
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Fig. 38.
Es bedarf wohl keiner ausführlichen Darlegung, daß es für
das Verständnis der Art einer aphasisch-agrammatischen
Störung nicht ohne Belang ist, ob von dem Sprechenden
sprachmelodische Bewegungen, wie sie der Satzformation
entsprechen, geleistet werden oder nicht. Auch ohne daß
an dieser Stelle auf diese Frage näher eingegangen werden soll,
dürfte wohl angedeutet werden können, daß die Satzmelodie
eine wichtige Station auf dem Wege, den man als den
Weg vom Denken zum Sprechen bezeichnet hat, darstellt.
Und es ist gewiß nicht bedeutungslos, daß uns die Möglichkeit
gegeben ist, festzustellen, ob ein Kranker mit einer agrammatischen
Störung Satzmelodie hat, ob sie andeutungsweise zutage tritt, oder
ob er sie überhaupt nicht hat. Ist die Melodie, welche einer
bestimmten Art, gedanklich zu gliedern, entspricht, gegeben, so
dürfen wir wohl die Annahme machen, daß die entsprechende
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
25
gedankliche Gliederung auch gegeben ist 1 ), und daß nicht das
Fehlen dieser für Abweichungen der sprachlichen Formierung
verantwortlich gemacht werden kann. Wir dürfen dann die
Störung in die Station der sprachlichen Formulierung
selbst verlegen. Bei unserem Kranken, Fig. 36—38, der die
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JJ/IS IST WIRK LICH SO.
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Fig. 40.
Sprachmelodie hat, trotz einer starken agrammatischen Störung,
*) Dafür, daß das Gegenteil dieser Annahme möglich ist, sprechen
keinerlei Beobachtungen und keine Wahrscheinlichkeit. Es leuchtet ein,
daß im negativen Falle (wenn die Sprachmelodie nicht gelingt) nicht etwa
die der oben angegebenen entgegengesetzte Annahme gemacht werden
darf (daß die gedankliche Gliederung nicht vorhanden war), da ja peri¬
pherer gelegene Störungen diesen Ausfall bewirken können. Vgl.
die nächsten Beispiele.
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26
Isserlin,
dürfen wir auch diesen Schluß machen; es entspricht dies auch
durchaus den Beobachtungen, die auf anderem Wege an diesem
Kranken gemacht werden konnten.
Der Motorisch-Aphasische (Kopfschuß), von welchem die
nächsten Analysen stammen (Fig. 39 ff.), zeigt stärkere Ab¬
weichungen der Sprachmelodie. Auffällig sind zunächst
erhebliche phonetische Störungen, die sich als weit¬
gehende und plötzliche Tonhöhenschwankungen besonders
im Beginn und Abschluß von Worten darstellen, so z. B. in Fig. 39
am Beginn und Schluß der Worte „das“, „wirk“, „wirklich“,
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VJtVERfnSEKD: *16 *2$ *U * »4+ *20.
W5 ? 0 .7* 7>*o97>o.7&
Fig. 41.
Fig. 40 „ist“, „wirk“, „lieh“ usw. Die zeitlichen Verhältnisse
sind regellos, in keinem sinngemäßen Zusammenhang mit dem
Text; die Sprechdauer des Textes im allgemeinen durch¬
schnittlichverdreifacht; die Pausenlänge 4- bis 40fach
verlängert; einzelne Silben auch wieder an Dauer unter
der Norm. Die Sprachmelodie ist, wie schon bemerkt, ge¬
stört; insbesondere tritt die Fragemelodie nicht deutlich
heraus. Der Abfall im affirmativen Satz tritt hervor.
Es handelt sich hier um einen Motorisch-Aphasischen, bei welchem
die Störungen des musikalischen Ausdrucks ziemlich peripher
(kortikal bezw. subkortikal) sitzen. Dem entspricht auch die
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
27
Analyse der musikalischen Verhältnisse, welche zeigt, daß An¬
sätze znm sinnentsprechenden Ausdruck vorhanden sind,
aber nicht zur Geltung gebracht werden können. Für diese
Auffassung sprechen in dem musikalischen Bilde vor allem auch
die lange Sprechdauer und besonders Pausendauer, die bei der
gegebenen Sachlage auf Hinderungen in der sprachlichen
Entäußerung bezogen werden dürfen.
Ganz schwere Störungen der musikalischen Ver¬
hältnisse finden wir bei dem nächsten Motorisch-Aphasi-
schen (Fig. 41 ff.) Das Paradigma „neunzehnhundertdreizehn“,
Fig. 41, erscheint völlig monoton, fast ohne Tonhöhen-
<(*
J*UTTWÖCH
AJ*1.
DAUERim&EHD .
4«
£
_ 7*466.
Mm ~ ’WOCH.
Fig. 42.
bewegung, abgesehen von den allerdings sehr groben plötz¬
lichen und kurz dauernden phonetischen Schwankungen.
Hingegen tritt in Fig. 42 „Mittwoch“ von demselben Kranken eine
Tonhöhenverschiebung oder Tonhöhenbewegung („Mitt“ durch Ton¬
höhe herausgehoben) hervor. In beiden Beispielen sind die zeit¬
lichen Verhältnisse abnorm, insbesondere die Pausen.
Fig. 42a „guten Morgen“, exzessiv lang, zeigt jedoch wiederum
fast nur phonetische Schwankungen. Ganz ähnlich steht es mit
Fig. 43 „Elektrizität“.
Im ganzen offenbaren die Analysen der Sprache dieses
Kranken analoge Ergebnisse wie die des vorhergehenden, nur daß
die Störungen der sprachlichen Entäußerung noch wesentlich weit¬
gehender sind als in jenen.
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28
1 sserlin,
Den Einfluß einer noch weiter peripher gelegenen
Störung der sprachlichen Entäußerung auf den musi¬
kalischen Charakter der Sprache zeigt uns endlich die
GUTEN-AIORßEN 2 b. 1 Q. 16 .
AJ*1.
• 1 •
6 ! o
DAUER«. STEKD :
au- TEH-
t o V
MOR- OEN-
Fig. 42a.
Analyse der Sprache eines Kranken mit ziemlich fort¬
geschrittener Bulbär-Paralyse. Ich gehe für dieses Mal nicht
auf die Veränderungen, welche das direkte Klangbild der Sprache
durch die Erschwerung bezw. das Ausfallen der Bildung von
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
29
Konsonaten zeigt, ein, sondern beschäftige mich hier nur mit den
musikalischen Bewegungen. In dem Beispiel „guten Morgen“
GUTEN-MORGEN *i.ö. 16 .
J.H.
Fig. 44.
UWORS1CHTIG. öai.17.
qavbr msekd .°*5 «sa -tu *+e i*8 i.7a
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Fig. 46,
Fig. 44. fällt zunächst auf, daß alle Silben pausenlos an¬
einandergereiht sind. Diese Eigenschaften werden wir bei
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30
Isserlin,
fast allen gebrachten Beispielen dieses Kranken wiederfinden. Es
beruht das auf der Unmöglichkeit, die einzelnen Silben
artikulatorisch exakt zu trennen. Deutlich ist ferner, daß
bei »guten Morgen“ der affirmative Abfall zwar vorhanden, aber
nicht sehr ausgeprägt ist. Ähnlich ist es bei dem Beispiel „un¬
vorsichtig“ Fig. 45. Auch hier zeigt außerdem das sprachliche
IA - DAS*IST-WIRKLICH-SO.
HO. $ 0 + 17 .
Erzeugnis den Charakter schwerer Abnormität durch die Ver¬
wischung aller Pausen. Daß die Frage-Melodie infolge der
Sprechbehinderung nicht gelingt, zeigt uns das Beispiel „Ist das
denn wirklich so?“ Fig. 46. Im übrigen sind hier Ansätze zur
\JRSDER'RKUERTf£!TKENNTFR[SSTER’MT -
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,0 4T:0 ZO JtO 60 I D 10)0 90 JfO 60
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122 .
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MR BAUER
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Fig. 48.
FROST £R NET.
melodischen Heraushebung nicht zu verkennen („ist“, „wirk“).
Doch besteht auch hier die Unmöglichkeit, die einzelnen Silben
durch Pausen abzutrennen. In dem antwortenden Satz: „Ja, das
ist wirklich so“, Fig. 47, sehen wir gleichfalls Ansätze zur Melodie-
heraushebung: „ist“, „wirk“, im übrigen ist die schwere
Anomalie der Unmöglichkeit, abzugliedem, hier gleichfalls er¬
sichtlich. Wie sehr der Kranke sich bemüht hat, melodisch zu
bv Google
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
31
gliedern, zeigt uns das Beispiel „Was der Bauer net kennt, frißt
er net“ (Fig. 48), das im Dialekt gesprochen wurde und aus einer
Zeit noch nicht so weit fortgeschrittener Sprechlähmung stammt;
hier sind „kennt“ und „frißt“ melodisch fast karikatur¬
haft herausgehoben.
Ich führe nun hier zum Vergleich wiederum einige Sprach-
erzeugnisse eines Kriegshysterischen (hyst. Sprachstörung)
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Jsr /WT/W /MS KS0C AM//
Fig. 60.
1*
an. Das Beispiel „Aller Anfang ist schwer“, Fig. 49, zeigt starke
Annäherung an Plateauform; die Zeiten und die Pausen
sind erheblich verlängert. Die Melodie des affirmativen
Satzes wird jedoch trotz allem angedeutet, und das „al-“, „ist“
und „schwer“ durch Tonhebung bzw. Senkung markiert. Auffallend
sind die starken Pausen, die ziemlich gleichmäßig hinter
die einzelnen Silben verteilt sind. In dem Frage- und
Antwortsatz „Ist das denn wirklich’wahr?“, Fig. 60, und „Ja, das
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32
Isserlin,
ist wirklich wahr“, Fig. 51, von dem gleichen Kranken ist
wiederum die Neigung zur Monotonie sehr stark; ebenso
die Zeitverlängerung und das Auftreten verlängerter
Pausen hinter den einzelnen Silben. Die Fragemelodie
kommt nicht heraus; im bejahenden Satz ist die affirmative
Melodie nicht verdeckt. Auch besondere Heraushebungen
des Sinnes sind nicht zu verkennen („wirk“).
Als Unterschiedszeichen gegenüber den früher vor¬
gebrachten echten aphasischen Sprachveränderungen
'*> OHD/lSJSr WRXtlCHWMfL
SCHW. 7.41WC.
IST WIRK UCH W*HR
Fig. 61.
JÜER-MBGIERIG&HDMDl //Mnajaaäfty
1
^ ^ A •' a_ n L A C-t>.
Fig. 62.
lassen sich wohl bei diesen hysterischen Sprachanomalien neben
der gleichmäßigen Art der Monotonie und Pausen¬
bildung das Fehlen der abrupten und großen phoneti-
schen Sch wankungen 1 ) festhalten. Solche großen, plötzlichen
1 ) Das Beispiel Fig. 33 spricht nicht gegen diese Ansicht. Hier ist
von dem Hysteriker eine abnorme Höhenlage gewählt, die an sich phoneti¬
sche Schwankungen begünstigt. Gleichwohl sind diese Schwankungen,
da entsprechend den Schwingungszahlen der Tonleiter Relationen der
Tonhöhen verglichen werden müssen, keineswegs so hoch zu bewerten wie
die phonetischen Tonhöhenschwankungen der in natürlicher tiefer Lage
sprechenden Aphasiker, Fig. 39 ff.
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Psychologisch-phonetische Untersuchungen.
33
phonetischen Tonhöhenschwanknngen zeigt besonders die letzte
Fig. 52. Dieses Beispiel stammt von einem freien Rede¬
produkt des Kranken Fig. 41 ff. (motor. Aphasie) und zeigt
eine wirklich auffallende Einförmigkeit der Tonhöhen¬
bewegung, bei sehr starkem phonetischem Abgleiten;
nur zum Schlüsse bricht doch eine sehr heraushebende
und affirmativ abschließende melodische Bewegung
durch.
Ich schließe damit diese vorläufige Mitteilung. Vielleicht ist
es auch schon durch das bisher Vorgebrachte gelungen, zu zeigen,
daß die Untersuchung der akustischen und musikalischen Eigen¬
schaften der menschlichen Sprache auch ffir Psychologie und
Psychiatrie von einigem Interesse ist.
Zeitftchxlft für Psychiatrie. LXXV 1.
3
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Hirnschwellnng.
(Aus der Psychiatrischen Klinik zu Würzburg.)
Von
Professor Martin Betehardt.
Referat, erstattet auf der 2. Kriegstagung des Deutschen Vereins für
Psychiatrie am 25. April 1918 in Würzburg.
I. Allgemeines über die Hirnschwellungen. 35
1. Die individuellen Verschiedenheiten in der Größe des Schädel-
innenrau ms und der Nachweis der Hirnschwellungen. 35
Das Hirnödem. 41
2. Definition und Wesen der Hirnschwellungen. 44
3. Zur Histologie der Hirnschwellungen. 47
4. Die Ursachen der Hirnschwellungen. 54
5. Die klinischen Erscheinungen und die Lokalisation der Hirn¬
schwellungen . 55
Die innere Schwellung. 57
6. Hirnschwellung und Hirndruck. 59
II. Die Hirnschwellungen bei Hirnverletzungen und
traumatischen Hirnerkrankungen. 53
1. Die Hirnschwellungen durch Infektion, Intoxikation, Hirn¬
kontusion usw. 64
2. Die Hirnerschütterung. 66
3. Der Chok . 70
III. Konstitutionelle Faktoren bei den Hirnschwellungen 72
Das Lebensalter. 72
1. Die relative Mikrozephalie. 73
Die Berechnung derselben. 75
Die makroskopische Diagnose auf Hirnatrophie. 77
2. Die Osteosklerose des Schädeldaches. 78
3. Die chronische Neigung des Hirnes zur Schwellung, erkennbar
aus dem inneren Windungsrelief des Schädeldaches. 80
IV. Die Methodik der physikalischen Hirnuntersuchung 85
Die Ategerschen Tabellen..-. 92
V. Schluß. 96
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Original from
UNIVERS1TY OF MICHIGAN
Hirns chwelltmg.
35
Es wird vielleicht überrascht haben, daß bei den Erörterungen
über die Folgen der Hirnverletzungen auch die Hirnschwellung
mit als Referatthema auf die Tagesordnung gesetzt worden ist.
In Wirklichkeit aber können auch Himschwellungsvorgänge zu
den traumatischen Folgeerscheinungen im Gehirn gehören. Dies
gilt zunächst vom Hirndruck. Hirndruckerscheinungen spielen
bei den Folgen von Gehirnverletzungen eine sehr wesentliche
Rolle, auch abgesehen von Schädelimpressionen, großen intra¬
kraniellen Blutungen usw.; und es ist anzunehmen, daß an diesen
Himdruckerscheinungen auch Hirnschwellungsvorgänge in be¬
sonderem Maße beteiligt sind. Es wird weiterhin zu untersuchen
sein: ob nicht auch unabhängig von dem eigentlichen Hirndruck
Hirnschwellungsvorgänge bei den Hirnverletzungen Vorkommen
können. Die Schwierigkeit meiner gegenwärtigen Berichterstattung
liegt, soweit die Folgen von Hirnverletzungen selbst in Betracht
kommen, darin, daß exakte Untersuchungen über Hirngewicht
und Schädelinnenraum an der Leiche, unter genauer Berück¬
sichtigung der Symptome im Leben, bei Hirnverletzten, Hirn¬
geschädigten, Hirnerschütterten, im Chok Gestorbenen usw. noch
nicht vorgenommen worden sind. Meine Umfrage in den Zeit¬
schriften ist ergebnislos geblieben. Die Methode der konsequenten
Sohädelinnenraumsbestimmung an der Leiche, ohne welche die
Anwesenheit von Hirnschwellung — sehr wenige Fälle aus¬
genommen — nach dem Tode nicht festgestellt werden kann, hat
sich bis jetzt meines Wissens noch nicht einmal in den psychi¬
atrischen Kliniken einbürgem können; und um so weniger konnte
man da erwarten, daß sie im Felde oder in den Kriegslazaretten 1
usw. angewendet werden würde. Ich beschränke mich daher j
jetzt darauf, das Himschwellungsthema von etwas allgemeineren (j
Gesichtspunkten zu behandeln, wenn auch unter möglichster t
Berücksichtigung der Folgen von Hirnverletzungen.
L Allgemeines über die Hirnschwellnngen.
1. Die individuellen Verschiedenheiten inderGröße
des Schädelinnenraums und derNachweis derHirn-
schwellungen. ■
Die Erörterungen über die Hirnschwellungen gehen zweck¬
mäßigerweise von der Tatsache aus, daß die Schädelinnen'
3*
" €oogl 6"
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
36
Reichardt,
räume der einzelnen Menschen aus individuellen
Gründen, auch unabhängig von Körpergröße und sogenannter
Intelligenz, außerordentlich verschieden groß sind, ohne
daß man zurzeit die Ursachen und die Bedeutung dieser indivi¬
duellen Verschiedenheiten kennt. Wir müssen annehmen, daß es
sich hier (wie sich Professor Rieger ausdrückt) um Wachs-
\ tumseigentümlichkeiten des Gehirnes handelt.
* Ein körperlich und geistig vollkommen gesunder und robuster
Mann von 178 cm Körpergröße, der nach der Wiedersehen Tabelle
einen Schädelinnenraum von 1760 ccm und ein Hirn von 1585 g
haben sollte, hat den lächerlich geringen Schädelinnenraum von
1830 ccm, was einem Hirngewicht aus gesunden Zeiten, d. h.
ohne Schwund und Schwellung, von 1200 g entspricht. Er ist
an progressiver Paralyse gestorben, infolge welcher das Him-
gewicht noch auf fast 1000 g sank. Wäre er nicht an Paralyse
erkrankt, sondern zufällig an Pneumonie mit zerebralen Symptomen
gestorben, dann hätte er bei der Sektion statt 1200 g vielleicht
1400 g Hirn haben können. Und dann hätte man ohne Kenntnis
des zugehörigen Schädelinnenraums ebensowohl die Mikrozephalie
wie auch die terminale infektiöse Hirnschwellung übersehen.
Solche starke individuelle Schwankungen des Schädelinnen-
raumes und somit auch des Himgewichtes (ohne daß ein Schwund
oder eine Schwellung des Hirnes vorliegt) sind, namentlich in der
Richtung der relativen Mikrozephalie, häufig.
Im Heft 4 der Arbeiten aus der Psychiatrischen Klinik zu Würzburg
S. 46 fl. (Tabelle 11 und 12) habe ich eine Anzahl solcher verschieden
großer Schädelinnenräume, zusammen mit der Körpergröße der betreffen¬
den Kranken, veröffentlicht. Weitere Zahlen lassen sich aus den Tabellen
1—14 des Heftes 8 derselben Arbeiten (S. 782 ff.) ableiten. Ein Gehirn
von 1100 oder sogar von 1000 g kann völlig normal groß sein (wenn der
zugehörige Schädelinnenraum selbst nur um etwa 10% größer ist und
wenn die betreffende Person sehr klein war). Ein Gehirn von 1200 g
kann bereits stark geschwollen sein (wenn der zugehörige Schädelinnen¬
raum überhaupt nur 1200 ccm oder sogar noch weniger faßt). Ein Gehirn
von 1400 g kann schon stark verkleinert sein (zugehöriger Schädelinnen¬
raum 1800 ccm oder mehr). Das gleiche Hirngewicht von 1300 g bedeutet
bei dem einen Sezierten ein normal großes bzw. normal schweres Hirn
(Schädelinnenraum 1430 ccm), bei dem nächsten Kranken ein stark ge¬
schwundenes Gehirn (Schädelinnenraum 1700 ccm), bei dem dritten
Kranken ein stark geschwollenes Gehirn. Angesichts dieser Tatsachen ist
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Hirnschwellung.
37
es schwer verständlich, wenn immer wieder die alten Unrichtigkeiten
über das Hirngewicht veröffentlicht werden, und wenn der eine Autor von
dem andern immer die gleichen, der Vergangenheit angehörenden Un¬
genauigkeiten und Fehler ohne weitere Prüfung übernimmt.
Wer die wirklich staunenswerte Tatsache der häufigen und
manchmal ungemein beträchtlichen individuellen Verschiedenheiten
der Schädelinnenräume in sich aufgenommen hat, und wer ferner
die Tatsache der häufigen Volumensveränderungen des Hirnes
(z. B. infolge von terminalen infektiösen Hirnschwellungen, auch
bei nicht chronisch Himkranken) berücksichtigt, der wird mir
ohne weiteres recht geben, wenn ich sage: Die Hirnwägung
ohne Kenntnis des zugehörigen Schädelinnenraums
und das Operieren mit Durchschnittszahlen von
Hirngewichten lassen bei allen Fragen der Hirn¬
pathologie völlig im Stich.
Von seiten hochangesehener Pathologen wird auch jetzt noch die
bloße Hirngewichtsbestimmung ohne Schädelinnenraumbestimmung emp¬
fohlen und verteidigt. Es mag sein, daß in der allgemeinen Pathologie,
wo es sich meist nicht speziell um hirnkranke Menschen und nicht um
eigentliche hirnpathologische Fragen handelt, die Bedürfnisse und Frage¬
stellungen überhaupt anderesind. Aber ich kann mir trotzdem nicht
denken, daß man aus einer Hirngewichtszahl für sich allein (wenige extreme
Fälle ausgenommen) überhaupt irgendwelche wesentlichen Schlußfolge¬
rungen ziehen kann, in Anbetracht der großen Unsicherheit (s. o.), ob das
bei der Sektion bestimmte Hirngewicht auch wirklich annähernd dem
Hirngewicht dieser Person aus gesunden Zeiten entspricht. Da man ferner
bei meiner Methode der Schädelinnenraumbestimmung stets auch das
Gewicht des gesamten Gehirns feststellt, kann man ohne weiteres auch die
einzelnen Teilgewichte des Gehirns in Beziehung zu diesem Hirngewicht
bringen (wie ich auf einen entsprechenden Einwand antworten möchte).
Jedenfalls aber behaupte ich wohl nicht zu viel, wenn ich sage: I n allen
Fragen der Hirnpathologie, Neurologie und Psychiatrie
nützt die Hirnwägung ohne Messung des zugehörigen Schä-
delinnenraumes gar nichts. Eine solche Hirngewichtszahl ist unter
Umständen sogar geeignet, zu falschen Anschauungen zu führen. Wenn
sie z. B. nicht hoch ist, denkt man an Hirnschwund, während lediglich
eine Kleinheit der gesamten Körperanlage oder aber eine relative Mikro¬
zephalie vorliegt. Tatsächlich sind solche Fehler nicht selten vorgekommen.
Keinesfalls aber kann man die Hirnschwellungen aus den
bloßen Hirngewichten diagnostizieren. Ich muß es ferner bestreiten,
daß man sie bei der Sektion — sehr wenige besonders hoch-
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38
Reiehardt,
gradige Fälle (wie sie z. B. bei Kindern mit Infektionskrankheiten
Vorkommen können) ausgenommen — ans dem bloßen Augenschein
diagnostizieren kann. Auch das Verstrichensein der Windungen
fehlt bei den Himschwellungen sehr oft. Immer wieder haben
wir uns bei unseren Sektionen Himkranker bemüht, vor Aus¬
rechnung der DLSerenzzahl, lediglich aus dem Augenschein, die
Diagnose auf Himschwellung zu stellen. Es ist aber fast stets
unmöglich gewesen. Nur die auffallend geringen Liquormengen,
die während der Sektion und nach Eröffnung der Ventrikel auf¬
gefangen wurden, sowie das sehr vollkommene Ausgefülltsein, der
Kalotte durch das Hirn legten die Vermutung nahe, daß eine
Himschwellung vorliegen könnte. Und selbst wenn man sie durch
den bloßen Augenschein diagnostizieren könnte, möchte man doch
immer wissen: wie hochgradig sie ist. Es bleibt also zum
Nachweis der Hirnschwellung an derLeiche nurdie
Messung des Schädelinnenraums. Die Beschreibung meiner
hiefür in Betracht kommenden Methode findet sich in der 5. Auf-
läge der Sektionstechnik von Nauwerck (Jena, Fischer 1912,
S. 69 ff.).
Wir müssen also diese individuellen Verschiedenheiten der
Schädelinnenräume (gleichgültig ob und inwieweit sie abhängig
sind von der Körpergröße oder nicht) eingehend berücksichtigen
und müssen sie auch, um die Resultate unmittelbar miteinander
vergleichen zu können, ausschalten, d. h. auf eine einheitliche
rechnerische Basis bringen. Dies geschieht in sehr einfacher
Weise dadurch, daß man den Schädelinnenraum = 100 setzt und
sich fragt: wie groß im Verhältnis hierzu das Hirngewicht ist?
Die Gleichung lautet also
Schädelinnenraum ohne Dura (ccm) _ 100
Himgewicht (g) — x
__ Himgewicht (g) ♦ 100
Schädelinnenraum ohne Dura (ccm).
Normalerweise ist x etwa =90; d. h. normalerweise verhält
sich die Zahl des zugehörigen Schädelinnenraums ohne Dura zur
Zahl des Hiragewichts wie 100 zu 90. Die Differenz zwischen
beiden Zahlen 100 — x (normalerweise also etwa 10) wird allen
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Hirnsohwelhmg.
39
Hlrngewichtserörterungen zagrunde gelegt. Nur hierdurch
lassen sich die großen individuellen Verschiedenheiten der Schädel-
innenräume ausschalten und die jeweiligen Resultate unmittelbar
vergleichen.
Bei dieser Berechnung werden also die Zahlen des Hirngewichtes
und des Schädelinnenraumes ohne Dura miteinander in Beziehung ge¬
bracht. Dies geschieht aus Gründen der Einfachheit, gegenüber dem
andern Verfahren (wie es z. B. neuerdings Rudolph angewendet hat):
die Zahlen des Hirnvolumens und des Schädelinnenraumes mit Dura
zu verwenden. In Wirklichkeit verhält sich die Zahl des Hirngewichtes zu
der des Hirn Volumens durchaus ähnlich wie die Zahl des Schädelinnen¬
raumes ohne Dura zur Zahl des Schädelinnenraumes mit Dura (vgl. auch
die untenstehende Tabelle). Die Prozentzahl der Differenz zwischen
Schädel und Hirn bleibt im allgemeinen dieselbe, auch wenn man Schädel-
innenraum mit Dura und Hirnvolumen in Beziehung bringt.
Das Gewicht der gesamten Dura (aus Kalotte und Basis) einschlie߬
lich der sonstigen Weichteile innerhalb der Schädelbasis wird nach meiner
Methode gesondert bestimmt und ihr Volumen mit Hilfe des ein- für allemal
angenommenen spezifischen Gewichtes von 1,1 berechnet.
Es erscheint nämlich notwendig, alles, was sich zur Zeit der Sektion
im Schädelinnenraum an festen und flüssigen Substanzen befindet, bezüg¬
lich seines Volumens zu bestimmen, um feststellen zu können, ob ein
(z. B. ganz akuter) Hirndruck oder ein Liquorüberdruck vorhanden ge¬
wesen ist. Ein solcher Hirndruck oder Liquorüberdruck kann erst terminal
entstanden sein und dann die unmittelbare Todesursache gebildet haben;
oder er kann wenigstens ein Ausdruck für die starken Hirnveränderungen
sein, welche zum Tode geführt haben.
Man kennt einerseits den verfügbaren Schädelinnenraum ohne Dura
(z. B.1500 ccm), andererseits
, , /Hirngewicht in Grammen\ .
1. das Hirnvolumen I-(einschließlich einer
\ 1,040 )
eventuellen Geschwulst;
. „ . (Duragewicht in Grammen\
2. das Duravolumen I-1;
V 1,100 /
3. Liquor plus Blut, während der Sektion aufgefangen;
4. „ „ „ , bis zur ersten Hirnwägung aufgefangen.
Die Summe des Volumens dieser 4 Posten vergleicht man mit dem
verfügbaren Schädelinnenraum ohne Dura und kann dann unmittelbar
ersehen: ob zur Zeit der Sektion ein krankhafter Überdruck in der Schädel¬
rückgrathöhle geherrscht hat (näheres siehe meine unter Nr. 6 und 9 im
Literaturverzeichnis angegebenen Abhandlungen).
Rudolph (Nr. 33) spricht auf Seite 57 von Fehlerquellen, die meiner
Untersuchungsmethodik anhafteten; es sei z. B. von mir das Volumen der
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40
Reichardt,
Dura nicht in Rechnung gezogen worden. Da diese Rudolphsche Angabe
yon anderen Autoren bereits übernommen worden ist, sei gestattet, darauf
hinzuweisen, daß der Irrtum bei Rudolph selbst liegt. Wie meine Ver¬
öffentlichungen schon lange vor dem Rudolphschea Aufsatze beweisen,
habe ich das Volumen der Dura stets mit in Rechnung gezogen. Wenn ich
den Schadelinnenraum an der Leiche ohne Dura, und das Volumen der
letzteren gesondert bestimme, so hat dies drei gewichtige Gründe:
1. Man kann die so gewonnenen Schädelinnenraumszahlen unmittel¬
bar mit den Zahlen der mazerierten Schädel vergleichen. Es ist nicht
richtig, was Rudolph sagt, daß der mazerierte Schadelinnenraum noch
größer sei als der Schädelinnenraum ohne Dura (und ohne sonstige Weich¬
teile) bei der Sektion. Ich habe dies sehr genau festgestellt. Man muß
nur dem mazerierten Schädel die Porosität des Knochens nehmen (z. B.
mit Wachs), falls man mit Wasser mißt.
2. Das Hirngewicht verhalt sich zum Schadelinnenraum ohne Dura
ganz ähnlich wie das Hirnvolumen zum Schädelinnenraum mit Dura-
auskleidung (s. o.). Meine Differenzzahl zwischen Schädelinnenraum ohne
Dura und Hirngewicht paßt also ebenso für den Schädelinnenraum mit
Dura und Hirnvolumen (vgl. das Heft 8 unserer Arbeiten aus der Klinik
Seite 295 unten sowie S. 296 oben und Anmerkung).
3. Die Dura selbst hat ein verschiedenes Volumen. Bei der Pachy-
meningitis haemorrhagica interna kann das Duravolumen das Doppelte
einer normalen Dura betragen. Würde man alles dies vernachlässigen und
den Schädelinnenraum ohne weiteres ohne Entfernen der Duraauskleidung
bestimmen, dann würde man unter Umständen falsche Anschauungen über
die Größe des Schädelinnenraumes bekommen können.
Im einzelnen maß aber vorläufig alles noch als „normal“
bezeichnet werden, was zwischen 15% uod 9% Differenz zwischen
Schädelinnenraum und Hirn liegt. Man kann zurzeit nicht sagen,
ob 12% oder 14% Differenz schon als krankhafte Hirnver¬
kleinerung aufzufassen ist. Solche Unterschiede der Hirnvolumens-
zahl zwischen 9% und 15% Differenz bedeuten aber schon einen
Hirngewichtsunterschied bis zu 100 g, — und zwar ohne nach¬
weisbare Hyperämie und ohne nachweisbares sogenanntes Hirn¬
ödem. Es ist möglich, daß diese verschiedenen Differenzzahlen
mit der jeweiligen Todesart in Beziehung stehen, also erst terminal
entstandene Erscheinungen sind. Es ist ferner möglich, daß die
einzelnen Menschen überhaupt eine individuell verschiedene
Differenzzahl zwischen Schädelinnenraum und Hirn haben (s. auch
den HI. Teil dieses Referates, 3. Unterabteilung). Es ist aber
endlich auch möglich, daß diese verschiedenen Differenzzahlen
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Hirnschwelhmg.
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innerhalb der Spielbreite des vorläufig noch als normal zn Be¬
trachtenden Folge von selbständigen Volumensänderungen
des Gehirnes, unabhängig von einer Erkrankung oder Todes¬
art, sind. Und ich habe daher schon früher die Frage aufgeworfen:
ob nicht das Gehirn schon normalerweise Volumens¬
änderungen eingehen kann, welche keine unmittelbare
Folge verschiedener Gefäßfüllung und wechselnder freier Flüssig¬
keit in der Hirnsubstanz sind?
Um an dieser Stelle auch die Frage des sogenannten Hirnödems zu
berühren, so ist, wenigstens in der Psychiatrie, das Hirnödem bezüglich
seiner Häufigkeit und Wichtigkeit sowie als Erklärung von krankhaften
Hirnsymptomen offenbar recht überschätzt worden. So häufig bei psychi¬
atrischen Sektionen — und vielleicht auch außerhalb derselben — Hirn¬
schwellungen sind, so selten ist ein Zustand, den man mit wirklicher Be¬
rechtigung Hirnödem nennen darf.
Bezüglich der Definition des Himödembegriffes verweise ich auf
meine früheren Abhandlungen (Sammelreferat 1911, S. 8 ff.; Heft 8,
1914, S. 416 ff.). Hirnödem ist ein (fast stets als Folgeerscheinung bei
sehr verschiedenartigen Krankheiten des Hirnes oder Organismus auf¬
tretender) Zustand von Vermehrung des freien Organwassers
(oder eines ähnlichen, meist eiweißreicheren Transsudates oder Exsudates)
in der Hirnsubstanz selbst unter entsprechender Gewichtszu¬
nahme des Gehirns. Von dem Hirnödem (ödem der Hirnsubstanz)
ist zu trennen das sogenannte Piaödem (Hydrops meningeus) sowie der
Hydrocephalus internus oder externus, welche sämtlich ohne Hirnödem
Vorkommen können und zum Teil vorzukommen pflegen. Namentlich
kann auch ein Hydrops meningeus sich mit einer recht
trockenen Beschaffenheit der Hirnsubstanz selbst kom¬
binieren. Die Gewichtszunahme des Gehirns beim Hirnödem wird eben¬
falls aus dem Vergleich des Hirngewichtes mit dem zugehörigen Schädel-
innenraum festgestellt. Hatte ein Hirn in normalen Zeiten beispielsweise
10% Differenz zwischen Schädelinnenraum und Hirn, so kann es (bei
1500 ccm Schädelinnenraum) durch 30 gÖdemflüssigkeit auf 8%, durch
60 g auf 6% Differenz gebracht werden. Läßt man die (ihrer Pia beraubten
und ihrer Ventrikel entleerten) Hirnteile einige Minuten auf dem Sek-
tionst ; sche liegen, so läßt sich das teilweise Wiederabfließen der ödem*
flüssigke : t aus der Hirnsubstanz mittels der Wage ohne weiteres feststellen,
während bei den nichtödematösen, z. B. geschwollenen, Gehirnen durch
die gleiche Behandlung ein nennenswerter Gewichtsverlust nicht eintritt.
Freilich hat der Nachwe ; s der Gewichtszunahme des Gehirns durch
die Ödemflüssigkeit seine Grenzen (Heft 8, S. 427). Wenn ein Gehirn in
gesunden Zeiten 14% Differenz zwischen Schädelinnenraum und Hirn
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42
Reichardt,
hatte, dann kann es bei 10% Differenz schon mäßig ödematös sein ohne
nachweisbare Gewichtszunahme. Man sieht aber hieraus auch: wie
schwierig die wirklich exakte Diagnose auf Hirnödem, d. h. auf ödem der
Hirnsübstanz, ist, sofern nicht der Obduzent eine sehr große pathologisch¬
anatomische Erfahrung besitzt und aus der Konsistenz des Gehirnes, aus
dem feuchten Glanz der Schnittfläche, dem raschen Zerfließen der Blut¬
punkte usw. allein die Diagnose stellen kann. Da, wo das Gehirn aus irgend¬
welchen besonderen Gründen vor der Härtung nicht zerteilt und auch
nicht wiederholt gewogen werden kann, darf dementsprechend auch nicht
die Diagnose auf ödem der Hirnsubstanz gestellt oder ausgeschlossen
werden. Jedenfalls ist in der Psychiatrie die Diagnose auf Hirnödem
offenbar zu häufig gestellt worden (Verwechslung mit Hydrops meningeus
einerseits, mit Hirnschwellung andererseits). Das sogenannte Oedema
(Hydrops) ex vacuo hat mit dem wirklichen Hirnödem nichts zu tun.
Dem echten Hirnödem, d. h. der Vermehrung freien Organwassers
durch vermehrte Transsudation, Exsudation, verminderten Lymphabfluß
usw. steht eine andere Art der Hirndurchfeuchtung gegenüber, bei welcher
die Konsistenz des Gehirns als solche weicher ist (sogenannte Verflüssi¬
gung des Gehirns im Gegensätze zur Gerinnung) und das Gewebswasser
frei wird oder werden kann. Meines Erachtens darf ein solcher nur äußerlich
ähnlicher, aber grundverschiedener Zustand nicht als „Hirnödem“ be¬
zeichnet werden. Auch fehlt hier die Gewichtszunahme des ganzen Organs.
Es handelt sich bei dieser meiner Anschauung um mehr als eine durch
nichts gestützte Hypothese, wie ich Hauptmann gegenüber betonen möchte
(Nr. 21, S. 5). Das Vorkommen einer solchen besonders weichen Kon¬
sistenz des Gehirnes ohne Ödem ist Tatsache, ebenso wie das Vorkommen
einer besonders festen Konsistenz (ohneGliose usw.) Tatsache ist (s. auch
später). Und auch eine Erklärung für die abnorm weiche Konsistenz
des Gehirns läßt sich finden: Wir kennen schon aus der Pflanzenphysiologie
den Begriff der Plasmolyse. Wir müssen berücksichtigen — was ja auch
Hauptmann tut —, daß die graue Substanz ungemein wasserreich ist (bis
85% Wasser). Schon das Phänomen der Hirnschwellung lehrt uns, daß
wahrscheinlich Turgorveränderungen des Gehirns, vermehrte Wasserauf¬
nahme und wohl auch Wasserabstoßung wichtige krankhafte Hirnverände-
rungensind. So scheint es auch eine Verflüssigung der Hirnsubstanz
oder eine Neigung hierzu, ohne primäre Vermehrung des freien Organ¬
wassers, zu geben. Das von Hauptmann eingewendete Zugrundegehen
nervösen Gewebes, wodurch eine Gewichtszunahme des Gehirns infolge
‘Ödems wieder kompensiert würde, müßte selbst erst nachgewiesen sein.
Meine Beispiele von dem Pseudoödem stammen von akuten Infektions¬
krankheiten; und es fehlen hier b’s auf weiteres alle Anhaltspunkte dafür,
daß bei diesen akuten infektiösen Hirnkrankheiten von Personen des
mittleren Lebensalters ein derartiger Untergang nervösen Gewebes statt¬
findet, daß er in dem Hirngewicht zum Ausdruck kommt. Daß mir selbst
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Hinuchwelhmg.
43
der Oedanke einer Kombination von Hirnschwund- und Hirnschwellungs-
vorgängen (wobei letztere physikalisch dem Nachweis entgehen können)
ganz geläufig ist, dies beweisen z. B. meine Ausführungen über die relative
innere Schwellung (Heft 8, S. 601). Ob es ferner überhaupt möglich ist,
durch die histologische Untersuchung allein, ohne Zuhilfenahme der
physikalischen Hirnuntersuchung, ein echtes ödem der Hirnsubstanz stets
mit genügender Sicherheit zu diagnostizieren und von anderen Verände¬
rungen im Sinne meiner Plasmolyse auseinanderzuhalten, dies ist eine
Frage für sich, deren definitive Beantwortung wohl auch erst noch abge¬
wartet werden muß.
Daß. ein ödem der Hirnsubstanz für sich allein echte Hirndruck¬
erscheinungen hervorrufen könne, dafür hat sich bis jetzt noch kein An¬
haltspunkt ergeben. Wahrscheinlich handelt es sich bei derartigen Fällen
um Kombination mit Hirnschwellung (bzw. starkem Hydrocephalus in¬
ternus oder externus). Auch das Gebiet des Hirnödems bedarf noch der
weiteren Untersuchung mit Hilfe der Wage.
Je größer also das Hirnvolumen wird, um so kleiner wird
die Differenz zwischen Hirn und Schädel. Die krankhafte
Hirnschwellung lassen wir bis auf weiteres bei 8% beginnen.
Im einzelnen kann aber die Hirnschwellung so stark werden,
daß sie — sofern das Hirn sich nicht selbst komprimiert — alle
Flüssigkeit einschließlich des Blutes aus dem Schädelinnenraum
auspreßt. Und ein solcher Zustand muß — namentlich wenn er
ganz akut eintritt — tödlich sein. In der Tat findet man nicht
selten, namentlich auch bei plötzlichen und unerklärten Todes¬
fällen — starke, offenbar akute, Himschwellnngen, während man
ohne Messung des Schädelinnenraumes eine Todesursache über¬
haupt nicht gefunden haben würde und die ganze Sektion vielleicht
sogar vollkommen negativ gewesen wäre. Bei langsamer Volumens-
zunahme des Gehirnes, auch bis zu 0% und negativ, treten da¬
gegen wahrscheinlich die bekannten Kompensationsvorgänge, wie
beim chronischen Hirndruck überhaupt, auf, so daß dann infolge
des Mißverhältnisses der Tod nicht einzutreten braucht.
Zur Veranschaulichung des Gesagten diene die folgende,
bereits in früheren Abhandlungen (Vortrag über die Hiramaterib
1908 S. 297) veröffentlichte Tabelle, bei welcher besonders zu
beachten ist, daß die erste Kolumne das Hirngewicht bringt
(welches in Beziehung zum Schädelinnenraum ohne Dura gesetzt
wird), die dritte Kolumne das Hirnvolumen, und daß der
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Reichardt,
Flttssigkeitsmenge in der vierten Kolumne noch die 50 ccm Dura-
volumen hinzuzuzählen sind, sofern man die Schädelinnenraums-
zahl ohne Dura verwendet.
Bei einer Schädelkapazität von 1500 ccm (ohne Dura), einem Vo¬
lumen der blutleeren Dura von 50 ccm und einem spezifischen Gewicht
des Gehirns von 1,040 betragen (abgerundet):
Hirngewicht
in Grammen
Differenz in %
zwischen Schädelkap.
u. Hirngew.
Himvolumen
in ccm
Blut n. Liquor
in ccm
1260
ie •
1215
235
1290
14
1240
210
1320
12
1270
180
1350
10
1300
150
1380
8
1330
120
1410
6
1355
95
1440
4
1385
65
1470
2
1415
35
1500
0
1445
5
noch größer
negativ
noch größer
—
2. Definition und Wesen der Hirnschwellungen.
Als Hirnschwellungeu bezeichnet man Volumens Vergrößerungen
des Gehirnes, welche nicht Folge sind von Hyperämie oder von
Anwesenheit vermehrter freier Flüssigkeit (Hirnödem, Hydrops
meningeus, Hydrozephalus) und auch nicht Folge von histologischen
Veränderungen im Sinne einer Geschwulst oder geschwulst¬
ähnlichen Bildung, oder von sogenannten Entzündungen (Eiterung,
Abszeß usw.), wodurch die Volumensvergrößerung des Gehirnes
an und für sich restlos und unmittelbar erklärt werden kann.
So gibt es z. B. eine karzinomatöse, sarkomatöse oder gliomatöse
Erkrankung des Gehirnes, welche nur histologisch nachweisbar,
aber doch so intensiv und diffus ist, daß es falsch wäre, ohne
ganz zwingende Gründe auch noch spezifische Hirnschwellungs¬
vorgänge anzunehmen.
Die obige Definition schließt aber nicht aus, daß sich nicht
eine echte Hirnschwellung auch finden kann neben, bezw. zu¬
sammen mit einer Hirnhyperämie, einem sogenannten Himödem,
einem pialen, serösen oder eitrigen, Exsudat, einem Hydrozephalus,
einer makroskopisch oder nur mikroskopisch sichtbaren Geschwulst
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Himschwellnng.
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and dergl. Ich habe frfiher, in dem Bestreben, die Himschwellang
möglichst abzngrenzen und herauszuheben, angegeben: bei der
Hirnschwellung dürfe namentlich ein sogenanntes Hirnödem oder
eine sonstige Liquorvermehrnng irgendwelcher Art überhaupt nicht
vorhanden sein. Diese meine frühere Auffassung ist wahrscheinlich
nicht richtig. Es gibt eben Hirnschwellungen mit gleich¬
zeitiger Vermehrung — oder wenigstens ohne Verminderung
— des freien Liquors; und es gibt Himschwellungen mit
Liquorarmut. Die Ursache dieses so verschiedenartigen
Liquorverhaltens liegt in erster Linie in der Verschiedenheit der
zugrunde liegenden Hirnkrankheit und ihrer Ursache. Bei exo¬
genen Himkrankheiten (namentlich infektiösen) treffen wir eine
Liquorvermehrung viel häufiger neben Hiraschwellungsvorgängen
als bei den endogenen Himschwellungskrankheiten (Epilepsie,
Katatonie). Überhaupt scheint die Himschwellnng ohne Liquor¬
vermehrung, ja mit absoluter Liquorarmut (auch ohne piales ödem)
der schwerere Krankheitszustand zu sein; und dementsprechend
findet man die liquorarme Himschwellnng auch bei besonders
intensiver infektiöser und toxischer Hiraerkrankung. So habe ich
Zt B. eine schwere, nach drei Stunden tödlich endende Lysol¬
vergiftung seziert (4 Stunden post mortem) mit 3% Differenz
zwischen Schädelinnenraum und Hiragewicht, d. h. mit starker
Himschwellnng, aber völlig trockener Pia und trockener klebriger
Himsubstanz. Freier Liquor war anscheinend in der Schädel¬
höhle überhaupt nicht vorhanden, sondern nur Blut.
Der Begriff der Hiraschwellung ist ferner ein bedeutend
weiterer Begriff als derjenige des Pseudotumor cerebri im
Sinne Nonne s, auf dessen Monographie in der Neuen Deutschen
Chirurgie ich ausdrücklich verweise (Nr. 25). Während Nonne
mit Recht z. B. die Diagnose auf Pseudotumor cerebri ablehnt,
wenn eine gutartige, stationär werdende oder in klinische Heilung
ausgehende Himgeschwulst mit nur vorübergehenden Hirndruck¬
symptomen vorliegt, können echte Himschwellungsvorgänge gerade
bei solchen, an sich gutartigen, nicht progressiven, oft kleinen
Himgeschwülsten vorübergehend oder längere Zeit hindurch auf-
treten und den ganzen Symptomenkomplex des Himdruckes
hervorrufen. Ebenso kann auch durch irgendwelche Infektion
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46
Reichardt,
vorübergehend oder längere Zeit das klinische Bild des Himdrnckes
und das anatomische Bild der Himschwellung entstehen, ohne
daß man auch hier etwa von Fseudotumor cerebri zu sprechen
berechtigt wäre. Abgesehen von solchen, in der Natur der Sache
liegenden, Ausnahmen paßt aber die Nonne sehe Definition des
Pseudotumor cerebri (Nr. 25 S. 108 und 109) großenteils auch
auf die Hirnschwellung.
Die Hirnschwellung ist endlich auch keine gewöhnliche tote
Quellung der Himmaterie. Dies beweist u. a. das spezifische
Gewicht der Himsubstanz, welches wenigstens bei einigen Hirn-
Schwellungen auffallend hoch sein kann, höher als es normaler¬
weise zu sein pflegt. Hieraus geht auch hervor, daß die Him¬
schwellung nicht lediglich als postmortaler Quellungsvorgang
aufgefaßt werden darf. Auch sonst fehlen bis jetzt alle Beweise
für das Vorkommen einer echten postmortalen Himschwellung
im physikalischen Sinne.
Wenn also auch unter Umstanden eine Himschwellung und eine
aktive Liquorvermehrung bei demselben Gehirn als Folge der gleichen
exogenen Schädigung zusammen Vorkommen können, so darf doch anderer¬
seits die Hirnschwellung gewissermaßen auch als das Gegenstück zur
aktiven Liquorvermehrung betrachtet werden! Die vermehrte Liquor¬
produktion oder überhaupt die vermehrte seröse Trans- oder Exsudation
ist die eine Art der Hirnreaktion auf exogene Schädigungen, die Hirn¬
schwellung die andere. Daneben gibt es freilich auch Hirnschwellungen
(namentlich ohne Liquorvermehrung, ja mit Liquorarmut), welche nicht
als Reaktion auf eine exogene Schädigung auftreten, sondern als Symptom
endogener Krankheiten (Epilepsie, Katatonie), ja unter Umständen als
anscheinende Krankheiten sui generis (Pseudotumor cerebri).
Dementsprechend umfaßt die Hirnschwellung das ganze Gebiet der
Hirnpathologie. Vieles von dem, was man früher als Liquorvermehrung
irgendwelcher Art, Hirnödem, Meningitis serosa (s. u.), Enzephalitis, reine
Vasomotorentätigkeit auffaßte, gehört in das Gebiet der Hirn¬
schwellung oder kann wenigstens mit Hirnschwellung einhergehen.
Das Wesen der Hirnschwellung ist nach wie vor dunkel Wahr¬
scheinlich handelt es sich im einzelnen überhaupt um verschiedenartige
Hirnvorgänge (verschiedenes Verhalten des Liquors, der Konsistenz;
s. auch unten), denen nur die Volumensvergrößerung des Gehirns ge¬
meinsam ist. Wie letztere zustande kommt, darüber können gleichfalls
nur Vermutungen geäußert werden. Sofern nicht histologisch neue Ge-
websteile auftreten (amöboide Glia; s. u.) und Volumens Vergrößerungen
bewirken, denkt man vor allem an eine Flüssigkeitsaufnahme des
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Himschwellung.
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Gehirns. Es ist möglich, daß der ursprünglich freie Liquor ganz oder
teilweise in die Hirnsubstanz eintritt und hier besonders fest gebunden
wird (große Trockenheit mancher geschwollener Gehirne). Bei andern ge¬
schwollenen Gehirnen, bei denen auch Liquor in genügender, ja reichlicher
Menge vorhanden ist, wird wahrscheinlich die zur Volumensvermehrung
nötige Flüssigkeitsmenge aus den Blutgefäßen stammen. Angesichts
dieser zahlreichen Verschiedenheiten ist es vielleicht überhaupt zweck¬
mäßig, nicht von „der Hirnschwellung“ zu sprechen, sondern von „Hirn¬
schwellung“ oder von „den Hirnschwellungen“ oder von den einzelnen
Gruppen der Hirnschwellung. Jedenfalls sei man sich dessen bewußt,
daß „die Hirnschwellung“ nach dem gegenwärtigen Stande der Kenntnisse
keine pathogeüetische Einheit darstellt.
. Mit Rücksicht auf die Möglichkeit näherer Beziehungen zwischen
Hirnschwellung und vitalen Quellungsvorgängen in der Hirnmaterie liegt
die Frage nahe, ob sich das geschwollene Gehirn nach dem Tode bezüglich
seiner Quellungsfähigkeit anders verhält als das nicht geschwollene?
Untersucht wurde in der Würzburger Klinik bis jetzt das Quellungsver¬
mögen der Hirne und Hirnteile (Kleinhirn, Rest) in lOproz. Formollösung
unter möglichst gleichen äußeren Bedingungen. Hier verhielten sich nun
die geschwollenen Gehirne nicht einheitlich. Ein Teil nahm über 20%-zu
(d. b. also viel; das Mittel des QuellungsVermögens unserer Hirne liegt
für das Großhirn bei 15—18%); andere dagegen blieben unter 20%. Auch
einige Hirne von Kranken ohne erkennbare Hirnschwellung hatten
über 20%-Gewichtszunahme in der lOproz. Formollösung (bei gleicher oder
ähnlicher Zeit der Sektion p. m.). Etwas Bestimmtes läßt sich also in
dieser Beziehung vorläufig nicht sagen. Andrerseits war das Quellungs-
vermögen der Hirnteile in der Formollösung oft ein so eigenartiges, daß es
nur durch Verschiedenheiten in der Hirnmaterie selbst erklärt werden
kann. Jedoch fehlt hierzu vorläufig noch der Schlüssel für das Verständnis.
Tierhirne zeigten durchschnittlich eine viel größere Quellungsfähig¬
keit des Hirnes in Formollösung als gleichgroße Stücke Menschenhirn.
Auch untereinander waren die Tierhirne sehr verschieden, auch unab¬
hängig von ihrer Größe. So hatten Igel und Maulwürfe mit 50—80%
eine viel bedeutendere Quellungsfähigkeit ihrer Hirne als Hühner, Gänse,
Enten oder Raben mit 30—50%; Katzen und Hunde hatten 25—40%
Gewichtszunahme in Formollösung. Die Zeit der Sektion p. m. hatte
hierbei wenig Einfluß. Selbst nach 36stündigem Verweilenlassen des toten
Hirns im Schädel war die Zunahme des Gehirns in Formol noch keine
wesentlich geringere. Junge Tiere hatten eine noch größere Quellungs¬
fähigkeit ihrer Hirne als erwachsene Tiere.
3. Zur Histologie der Hirnschwellnngen.
Über die Histologie der HirnschweUung habe ich mich bereits in
meinem Sammelreferat 1911 (Nr. 5, S. 29 ff.) geäußert. Da inzwischen
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48
Reichardt,
mehrere wichtige Arbeiten auf diesem Gebiete veröffentlicht worden sind,
erscheint eine erneute kurze Stellungnahme zweckmäßig.
In einem Punkte scheine ich von zahlreichen Autoren mißverstanden
worden zu sein. Ich verhalte mich der histologischen Forschung gegen¬
über nicht im geringsten ablehnend, wie dies erst neuerdings noch A. Jakob
in seinem sehr verdienstvollen Übersichtsreferat (Nr. 22, S. 37) zum Aus¬
druck gebracht hat. Es wäre tatsächlich unverständlich, die absolute Not¬
wendigkeit der exakten histologischen Durchforschung des Zentralnerven¬
systems für die Psychiatrie im allgemeinen und für die Lehre von der
Hirnschwellung im speziellen auch nur im geringsten in Zweifel ziehen zu
wollen — und dieses um so mehr, als ja auch die Lehre von der Hirn¬
schwellung sich noch in der ersten Entwicklung befindet. Und es darf
gewiß von vornherein die Hoffnung ausgesprochen werden, daß auch bei
den Abgrenzungen der einzelnen Hirnschwellungsformen die histolog ; sche
Untersuchung sehr wertvolle Dienste leisten wird. Vielleicht wird sie auch
imstande sein, diese oder jene mit Volumensvergrößerung einhergehende
krankhafte Hirnveränderung, welche man jetzt mit zur Hirnschwellung
rechnet, von ihr abzutrennen. Ich habe auch niemals behauptet (wie dies
andere Autoren gemeint haben), daß die histologische Untersuchung einer
Hirnschwellung stets negativ ausfallen müsse. Im Gegenteil habe ich mich
stets sehr vorsichtig ausgedrückt; bezüglich des negativen histologischen
Befundes bei der Hirnschwellung konnte ich mich außerdem seinerzeit
auf eine Anzahl erfahrener Neurologen und Hirnpathologen stützen (Nonne,
Spielmeyer usw.). Es muß weiterhin berücksichtigt werden, daß meine
ersten Veröffentlichungen über die Hirnschwellung in die Jahre 1905 bis
1908 fallen — also vor die Alzheimerschen Mitteilungen, welche auf die
späteren Autoren einen so großen Eindruck gemacht haben. In der ersten
Arbeit 1905 (Nr. 1, S. 343) habe ich lediglich festgestellt, daß die mikro¬
skopische Untersuchung auch beiden anderen damals beschriebenen Hirn¬
schwellungen „bezüglich der Erklärung und Entstehung der Hirnschwellung
versagt“ hat. 1906 (Nr. 2, S. 86) habe ich nur darauf hingewiesen, daß
sich „eine charakteristische histologische Eigentümlichkeit dieser Hirn¬
schwellungen vorläufig nicht hat feststellen lassen“. Und in meinem Vor¬
trage über die Hirnmaterie 1908 (Nr. 3, S. 300/301) endlich habe ich auch
nur gesagt, daß sich „histologisch bis jetzt nichts irgendwie Charakteristi¬
sches ergeben hat“. Ich habe damals lediglich die Anschauung ausge¬
sprochen: Wenn sichbei Volumensvergrößerungen des Gehirns histologische
Gewebsveränderungen (z. B. im Sinne einer von mir bei Hirngeschwulst
beschriebenen hochgradigen frischen Gliose) in solcher Intensität finden,
daß sie zur Erklärung für die Volumensvergrößerung in Betracht kommen,
dann muß man mit der Annahme reiner Hirnschwellungen entsprechend
vorsichtig sein oder sie ab lehnen. Selbstverständlich war andererseits der
negative histologische Befund bei diesen Hirnschwellun¬
gen im höchsten Maße auffallend und wahrscheinlich
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Hirnschwell ang.
49
wissenschaftlich von größter Bedeutung. Deshalb habe ich auch
in diesem Vortrage über die Hiramaterie die Fragestellu ng so scharf heraus¬
gehoben. Ich glaubte hier ein Problem von größter Wicht ekeit zu er¬
blicken: das Verhältnis von Lebenserscheinungen, welche auch zu physi¬
kalisch-chemischen Veränderungen führen können, zu h stolog'sch nach-
we sbaren Veränderungen. Denn für unmittelbare Lebenserscheinungen
hielt ich (und halte sie auch noch) wen : gstens einen Teil der als Hirn-
echwellung zutage tretenden materiellen H rnVeränderungen.
Dann kamen die Veröffentlichungen der Alzheimerschen Untersuchun¬
gen 1910 (Arbeiten über die Großh : rnrinde, herausgegeben von Xissl und
Alzheimer, Jena, F scher, Bd. 3, S. 401 ff.). Allerd ngs ist bei den von
Alzheimer untersuchten Geh : rnen noch nicht derNachwe s erbracht worden,
daß d e Geh : rne auch im physikal'sehen Sinne geschwollen waren; ferner
ist wohl der Einwand noch nicht definitiv widerlegt worden: ob nicht der
histolog sch nachweisbaren Vergrößerung des einen Gewebsteiles eine V er-
kleinerung anderer Gewebsteile entspricht, so daß das Gesamt¬
volumen des Gehirns oder Gehirnabschnittes auch durch die amöboide
Glia nicht vermehrt zu werden braucht. Es hat überhaupt zurzeit den
Anschein, als ob die amöboide Glia auch in nicht geschwollenen Gehirnen
und ohne wesentlichen Untergang von anderem nervösen Gewebe Vor¬
kommen könnte. Wenn wir uns aber bis auf we teres auf den Standpunkt
Stellen wollen, daß in denjenigen Fällen, bei denen die amöboide Glia in
voller Entwicklung vorhanden und bei denen auch das Gehirn im physi¬
kalischen Sinne geschwollen ist, in der amöboiden Glia der histologische
Ausdruck für die Volumensvergrößerung erblickt werden darf, so ist
trotzdem das Problem der Histologie der Hirnschwellung noch nicht
gelöst.
Ich möchte hier zunächst auf die zeitlichen Verhältnisse hin-
weisen. Die amöboide Glia braucht nach den bisherigen Erfahrungen
beim Menschen mehrere (6—12) Stunden, um zur Entwicklung zu ge¬
langen. Und auch bei den Tierexperimenten Rosentals (Nr. 28, S. 118)
waren wenigstens 2—3 Stunden erforderlich, bis sich die amöboide Glia
zeigte. Alzheimer erwähnt (S. 460) einen Kranken mit Status epilepticus,
der nach 6 Stunden starb und wo die amöboide Glia noch ganz fehlte (nur
Karyokinesen waren in großer Anzahl zu sehen). Eine Hirnschwellung
kann aber momentan entstehen, zusammen mit dem ersten Beginn
eines Anfalles. Wir müssen uns vor allem die Frage vorlegen; Ist die
histolog : sche Untersuchung bei diesen akuten, zweifellosen und hoch¬
gradigen Hirnschwellungen in der Lage, die Volumensvergrößerung des
Gehirns restlos zu erklären, bevor die amöboide Glia Zeit hatte,
sich auszubilden? Ein Epileptischer kann auch in oder an einem
einzelnen rudimentären Anfall sterben; und auch dann hat sich in den
bis jetzt untersuchten Fällen eine hochgradige Hirnschwellung feststellen
lassen. Die amöboide Glia würde hierbei aber, nach den Alzheimerschen
Zeitschrift für Payohictrie. LXXV. Iß. 4
Co gle
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Reichardt,
Mitteilungen, noch nicht zu erwarten sein. Ich hatte in meinem Vortrage
Ober die Hirnmaterie 1908 u. a. auch gesagt, daß die bei Epilepsie und
Katatonie (zuweilen auch bei progressiver Paralyse) den Anfällen zugrunde
liegenden Veränderungen momentan entstehen und momentan spurlos,
restlos verschwinden können. Ich hatte hieraus geschlossen, daß in solchen
Gehirnen zwar physikalisch-chemische Veränderungen vorgehen (z. B.
nach Art der Hirnschwellung usw.), die aber nicht histologisch darstellbar
seien. Alzheimer hat mir auch nur scheinbar hierin widersprochen (S. 547),
wenn er sagt, daß solche Anfälle „keineswegs immer“ blitzartig kommen
und spurlos vorübergehen. Mir genügt vorläufig die Feststellung, daß sie
zwar nicht regelmäßig, aber doch nicht allzu selten tatsächlich augen¬
blicklich auf treten und ebenso rasch wieder verschwinden können. Wenn
sie also mit Hirnschwellungen einhergehen, dann würden auch diese
Fälle von Hirnschwellung ohne Bildung einer amöboiden
Glia verlaufen. Die Hirnschwellung ist demnach in solchen Fällen
das Primäre, während die sich eventuell einstellenden histologischen Ver¬
änderungen im Sinne der amöboiden Glia erst späterer Entstehung sind.
Daß eine Hirnschwellung momentan entstehen kann, dies beweisen
u. a. die Erfahrungen bei Hirngeschwülsten (plötzlicher Tod) und auch
die Erfahrungen bei der perakuten Verblutung (bzw. bei der hiermit
gewöhnlich kombinierten reflektorischen Chokwirkung). Wenn die Apeit¬
schen Zahlen richtig sind, dann kann z. B. durch einen Schuß in die Brust
mit perakuter Verblutung die Differenzzahl zwischen Schädelinnenraum
und Hirngewicht sogar negativ werden. Daß man solche akute Hirn¬
schwellungen bei und nach akuter Verblutung, vielleicht auch Enthauptung
(und ferner bei reflektorischer Chokwirkung, z. B. durch Schuß in das
Herz, mit plötzlichem-Tode) durch die histologische Untersuchung fest¬
stellen, erkennen und erklären könnte, davon ist zurzeit jedenfalls noch
nichts bekannt.
Die amöboide Glia braucht also einige Stunden, um sich zu ent¬
wickeln. Aber es erscheint zweifelhaft, ob sie überhaupt stets — auch
bei längerem Andauern mancher Hirnschwellungen — vorhanden ist.
Die amöboide Glia ist eine sehr verbreitete Begleiterscheinung akuter
Erkrankungszustände des Nervengewebes (Alzheimer 1. c. 421; näheres
S. 459). Man wird nun aber auch die Frage aufwerfen müssen: Tritt die
amöboide Glia z. B. auch bei den akuten und chronischen Hirnschwellungen
im Gefolge einer Hirngeschwulst regelmäßig auf? Mit andern Worten:
Gehört die amöboide Glia überhaupt grundsätzlich zum Hirnschwellungs¬
prozeß? Oder gehört sie nicht vielmehr grundsätzlich zu den von Alz¬
heimer genannten akuten Krankheiten und akuten Krankheitsepisoden
im Gefolge zahlreicher Hirnkrankheiten, bei denen, teils regelmäßig, teils
ausnahmsweise, nebenher auch echte Hirnschwellungen Vorkommen
können?
Ich habe endlich auch darauf hingewiesen, daß gerade die Tabespara-
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Him8chwellnng.
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lysen und die katatonischen Paralysen oft einen stärkeren Hirnschwund ver¬
missen lassen, ja zur Hirnschwellung disponieren können. Trifft man in
diesen relativ oder absolut geschwollenen paralytischen Gehirnen auch
regelmäßig die amöboide Glia (auch ohne heftige terminale Anfälle, welche
bemerkenswerterweise gerade bei diesen Paralysen besonders häufig sind)?,
und warum ist dann die amöboide Glia, bei regelmäßigem Vorhandensein,
so oft an die Hinterstrangerkrankung gebunden? Ich hatte schon 1911
die Frage aufgeworfen (Arbeiten Heft 6, S. 12): Ob, namentlich bei be¬
stimmten Krankheitsfällen mit systematischem Krankheitsverlauf, jede
einzelne Gliazelle — bildlich gesprochen — tun kann, was sie will, oder
ob nicht doch die histologischen Veränderungen Folge sein können von
bestimmten unbekannten vorangegangenen bzw. übergeordneten einheit¬
lichen — wenn auch jeweils bei den einzelnen Kranken mit der gleichen
Hirnkrankheit verschiedenen —Vorgängen (z. B. im Sinne einer Hirn¬
schwellung)? Und warum findet sich eine solche Neigung zur Hirn-
Schwellung und zu eventueller späterer Ausbildung von amöboider Glia
vor allem bei progressiver Paralyse zusammen mit reiner Hinterstrang¬
erkrankung? Es ist meines Erachtens möglich, daß"auch die besondere
Lokalisation des paralytischen Krankheitsprozesses an der Hirnbasis und
im Rautenhirn zu Hirnschwellungsvorgängen in besonderem Maße dis¬
poniert und daß diese Hirnschwellungen dann mit den katatonischen oder
paranoiden Symptomen dieser Paralytiker in Beziehung stehen. In
solchem Falle würde auch das eventuelle Auftreten der amöboiden Glia
an bestimmte Bedingungen der Krankheitslokalisation oder des Krank¬
heitsverlaufes usw. gebunden sein. Daß eine solche ausnahmsweise Lo¬
kalisation des paralytischen Krankheitsprozesses möglich ist (gerade zu¬
sammen mit schizophrenen Symptomen), dies ist ausdrücklich von Wil~
manns und Ranke festgestellt worden („Ein Fall von Paralyse mit dem
klinischen Verlauf einer Dementia praecox.“ Beiträge, herausgegeben von
Nissl. Berlin, Springer, 1915, Heft 3, Fall Dahl). Man sieht, wie zahl¬
reiche Fragen hier noch der Beantwortung harren.
Daß eine vorhandene Hirnschwellung nicht stets durch die — wenn
auch noch so eingehende — histologische Untersuchung erklärt werden
kann, dies beweist in positiver Hinsicht die Veröffentlichung von Rosental
(Fall Wähler,Nr. 29). Obwohl Rosental einen Teil meiner wissenschaft¬
lichen Anschauungen bekämpft hat, und obwohl er ein Interesse daran
gehabt hätte, nachzuweisen, daß einer Hirnschwellung stets entsprechende
und sogpar charakteristische histologische Veränderungen zugrunde liegen,
mußte er selbst zugeben, daß in seinem Falle Wähler (außer dem Tode
des Kranken) weder die Hirnschwellung noch die Konsistenzvermehrung
durch die histologische Untersuchung aufgeklärt worden ist — d. h. zwei
sehr wesentliche und wichtige, makroskopisch unverkennbare physikalische
bzw. physikalisch-chemische Zustandsänderungen des Gehirns.
Wir müssen also scharf unterscheiden:
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Reichardt,
1. ob bei den geschwollenen Gehirnen überhaupt histologische Ver¬
änderungen irgendwelcher Art auftreten (nicht einmal dieses scheint stets
der Fall zu sein), und w-s
2. ob durch die histologische Veränderung die Vo¬
lumensvergrößerung des Gehirns als solche einigermaßen er¬
klärt werden kann. Ich sage „einigermaßen". Denn über ein nur
ungefähres und subjektives Abschätzen wird man in den meisten Fällen
wohl nicht hinauskommen. Wenn aber wirklich ein neuer Gewebsteil wie
die amöboide Glia sich gebildet hat, ohne daß sich eine Volumensver¬
minderung anderer Gewebsteile nachweisen läßt, auf deren Kosten die
Bildung oder Volumensvergrößerung des neuen Gewebsteiles gegangen
ist (Austausch von Gewebsflüssigkeit ohne Zunahme des Volumens des
gesamten Organs), dann wird man die histologischen Veränderungen und
die Volumensvergrößerung miteinander in Beziehung bringen dürfen.
Nur lassen sich eben zurzeit solche gewebliche Veränderungen — speziell
die amöboide Glia — bei einem großen Teil der Hirnschwellungen nicht
nachweisen — aus Gründen (zeitliche Verhältnisse usw.), wie sie soeben
kurz besprochen oder angedeutet wurden. Ich habe also niemals — wie
ich auch Rosental gegenüber feststellen muß — behauptet, daß bei der
Hirnschwellung stets histologische Veränderungen fehlen würden. Sondern
ich habe nur auf den Nachweis bzw. auf die Beantwortung der Frage ge¬
drungen: ob durch die histologischen Veränderungen die Vo¬
lumensvermehrung des ganzen Organs als solche in allen
Fällen restlos erklärt wird.
Das Wesentliche ist also dieses: daß das Mikroskop zurzeit nicht in
der Lage ist, starke Volumensvergrößerungen des Gehirns im Sinne der
Hirnschwellung stets genügend zu erklären. Man darf nicht einmal ohne
weiteres aus der Anwesenheit der amöboiden Glia oder einer ähnlichen
Bildung auf eine Volumensvergrößerung des ganzen Gehirns schließen,
wie dies Rosental getan hat (Nr. 27, S. 177), als er den Nachweis einer post¬
mortalen Hirnschwellüng erbracht zu haben glaubte. Rosental hat die
Gehirne normaler Tiere bei Zimmertemperatur im Schädel gelassen und
hierbei histologisch schon innerhalb von 12 Stunden nach dem Tode
gliöse Veränderungen festgestellt, welche mit gewissen Formen der amö¬
boiden Glia vollkommen übereinstimmen; ferner eine ausgesprochene
Quellung der Achsenzylinder und Verflüssigung der Nervenzellen. Er
spricht von postmortalen Schwellungszuständen und glaubte hierbei meine
ganze Auffassung von der Hirnschwellung anzweifeln zu können. Er
mußte mir aber die Berechtigung des Einwandes zugeben: daß es sich
bei diesen Quellungserscheinungen auch nur um einen Flüssigkeitsaus¬
tausch mit andern (sich verkleinernden) Gewebsbestandteilen gehandelt
haben könnte. Ferner fehlen bis jetzt Paralleluntersuchungen, ob solche
histologisch feststellbare kadaveröse Quellungserscheinungen am Tierhirn
nicht auch auftreten, wenn die Tierhirne aus dem Schädel herausgenommen
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Hirnschwellung.
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worden sind und auch sonst keine Gelegenheit haben, Flüssigkeit aufzu¬
saugen und sich im physikalischen Sinne zu vergrößern. Drittens sind die
Tierhirne schon an sich viel „geschwollener“ als die Menschenhirne. Ob es
bei ihnen noch zu einer postmortalen Hirnquellung im physikalischen
Sinne kommt bzw. überhaupt kommen kann, ist gleichfalls noch nicht
erwiesen. Und viertens endlich findet man die intravital entstandene Hirn¬
schwellung auch schon, wenn man unmittelbar nach dem Tode seziert
(bevor also eventuelle postmortale Quellungsvorgänge Gelegenheit haben,
sich zu entwickeln). Man sieht, wie sehr allzu rasche und einseitige Schlu߬
folgerungen aus histologischen Befunden Irrtümern unterworfen sind.
Ich habe oft genug darauf hingewiesen, daß die physikalische Hirn¬
untersuchung ihre Grenzen der Leistungsfähigkeit hat, und daß man zahl-,
reichen krankhaften Hirnzuständen durch diese Untersuchungsmethode
vorläufig noch nicht beikommen kann (wenn auch z. B. das Studium der
Frontalschnitte [innere Schwellung, umschriebene einseitige Schwellung
oder ebensolcher Schwund] inzwischen wieder mancherlei gelehrt hat).
Andrerseits darf man aber auch nicht, wie dies immer wieder geschehen
ist, in der histologischen Hirnuntersuchung die einzige und unfehlbare,
nie versagende Untersuchungsmethode für das Gehirn erblicken. Die
Losung lautet auch nicht: entweder physikalische oder histologische
Hirnuntersuchung, sondern sie lautet — wie ich stets betont habe —
selbstverständlich: beide Untersuchungsmethoden nebenein¬
ander. Zum mindesten sollte die exakte Schädelinnenraums- und Hirn¬
gewichtsbestimmung bei jeder Sektion eines Hirnkranken oder auf Hirn¬
krankheit bzw. zerebrale Todesart Verdächtigen ausgeführt werden,
zumal da sie sehr wenig Zeit beansprucht. Auch insofern hat die physi¬
kalische Hirnuntersuchung Vorteile, als sie in Instituten und Landes¬
anstalten angewendet werden kann, die aus irgendwelchem Grunde der
ganz eingehenden, nach modernen Grundsätzen vorgenommenen histo¬
logischen Hirnuntersuchung nicht viel Zeit zuwenden können. Hier leistet
die physikalische Hirnuntersuchung, richtig durchgeführt, für das Ver¬
ständnis der krankhaften Hirnvorgänge nicht wenig.
Am 25. April 1908 habe ich im Deutschen Verein für Psychiatrie
meinen Vortrag über die Hirnmaterie (Nr. 3) gehalten, der so viel Wider¬
spruch hervorgerufen hat; am gleichen Tage, 10 Jahre später, im gleichen
Verein das Referat über die Hirnschwellung erstattet, dessen schriftliche
Ausarbeitung hier vorliegt. Die Fragestellung bezüglich der Hirnschwellung
ist grundsätzlich die gleiche wie vor 10 Jahren. Mag auch durch den Nach¬
weis der amöboiden Glia AhJieimers vielleicht in einigen Fällen für die
Hirnschwellung der histologische Ausdruck gefunden sein, so steht doch
für die Mehrzahl der bei den Sektionen geschwollenen Gehirne eine solche
histologische Erklärung noch völlig aus. Und es ist nicht einmal wahr¬
scheinlich, daß in absehbarer Zeit für die Mehrzahl der Hirnschwellungen
histologische Veränderungen gefunden werden, welche vom Standpunkte
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54
Reichardt,
der Histopathologie aus die physikalische Volumens Vermehrung des Gehirns
als solche wirklich restlos erklären. Ich habe von meinen vor 10 Jahren
vorgetragenen Anschauungen heute nichts Prinzipielles zurückzunehmen.
Die wissenschaftliche Psychiatrie und die Hirnforschung überhaupt wird
nicht umhin können, das Problem der Hirnvorgänge auch vom physi¬
kalisch-chemischen Standpunkt aus in Angriff zu nehmen; und hierzu
wird sie sich in erster Linie auch der physikalischen Hirnuntersuchungs¬
methoden bedienen und sie weiter auszubauen sich bestreben müssen.
Das Phänomen der Hirnschwellung beweist, daß es sehr starke Hirnver¬
änderungen gibt, welche sogar unmittelbar mit dem Tode einhergehen
können, ohne daß das Mikroskop bis jetzt über das Zustandekommen und
das Wesen der Hirnschwellungen und einiger anderer Veränderungen der
Hirnmaterie stets etwas Befriedigendes hat aussagen können. Auch die
Leistungsfähigkeit der histologischen Hirnuntersuchung ist, namentlich
gewissen Lebenserscheinungen gegenüber, eine begrenzte. Man darf nicht
einfach von der Voraussetzung ausgehen, daß die mikroskopische Unter¬
suchung alle physikalischen Hirnveränderungen ohne weiteres restlos
erklären könne.
4. Die Ursachen der Hirnschwellnngen.
Himschwellungsvorgänge können, soweit zurzeit geurteilt
werden kann, bei den meisten exogenen und endogenen Hirn¬
krankheiten auftreten. Sie sind bis jetzt besonders beobachtet
worden bei den akuten Infektionskrankheiten und Intoxikationen
mit zerebralen Erscheinungen, bei Himgeschwölsten und endlich
bei Epilepsie und Katatonie. Durch weitere Forschung wird
festgestellt werden müssen, ob und inwieweit diese verschiedenen
Arten der Himschwellung sich untereinander unterscheiden, und
ob vielleicht diese oder jene der zurzeit zur Hirnschwellung
gerechneten Volumensvergrößerungen nicht mehr in das Gebiet
der Hirnschwellung im engeren Sinne gehört.
Jedenfalls sind, soweit zurzeit geurteilt werden kann, Hirn-
schwelluhgen nicht für eine besondere Hirnkrankheit
charakteristisch. Sie treten bald als Reaktion eines (an¬
scheinend) an sich gesunden Gehirnes auf, im Gefolge einer
exogenen Schädigung, — bald aber auch (wie bei Epilepsie und
Katatonie) ohne erkennbare äußere Ursache und scheinen hier
unmittelbar zum Wesen der Himkrankheit zu gehören. Dem¬
entsprechend ist auch eine Hirnschwellung durchaus anders zu
bewerten, je nachdem sie bei einem seiner Anlage nach ganz
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Hirnschwel] ang.
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oder vorwiegend gesunden Gehirn als reine Reaktion anftritt oder
aus endogenen, vielleicht sogar im Gehirn selbst liegenden
(andere Hirnmaterie?) Gründen entsteht. Wir müssen infolgedessen
auch, soviel als möglich, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen
den exogenen und den endogenen Hirnschwellungen machen.
5. Die klinischen Erscheinungen und die Lokalisation
der Hirnschwellungen.
Die klinischen Erscheinungen der Hirnschwellungen sind in
erster Linie oder gehen einher mit
Hirndruckerscheinungen; oder
Bewußtseinsstörungen; oder
epileptischen (epileptiformen) Erscheinungen;
oder
katatonischen (katatonif ormen) Sympt omenkomplexen (zum
Teil auch verbunden mit endogener Abmagerung und Nahrungs¬
verweigerung; das Hirn ist dann stark geschwollen, der Körper
stark abgemagert; sogenannter Antagonismus zwischen Himgewicht
und Körpergewicht); oder
dem (unter Umständen ganz plötzlich eintretenden) Tod aus
zerebraler Ursache (namentlich auch bei basalen Prozessen,
Erkrankungen des Rautenhimes, der Oblongata, des obersten
Halsmarkes [s. auch später]). Früher hat man einen solchen Tod
gewöhnlich als „Herz- und Atmungslähmung“ Hirnkranker be¬
zeichnet. Die Sektion konnte dann, vor Anwendung der Messung
des Schädelinnenraumes, überhaupt keine greifbare Todesursache
aufdecken. Jetzt sieht man aber: wie häufig ein Tod aus zere¬
braler Ursache, mit Himschwellung einhergehend, ist, und zwar
auch bei inneren und chirurgischen Krankheiten.
Solche klinische Verschiedenheiten können entstehen durch
das verschiedene Verhalten
des Liquors (Liquorvermehrung oder
Liquorarmut),
der Konsistenz des Gehirnes,
des spezifischen Gewichtes des
Gehirnes,
der verschiedenen Krankheitsursache
d. h. also von inneren,
zurzeit noch unbe¬
kannten Vorgängen in
der Hirnmaterie;
und des verschiedenen
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66
Reichardt,
zugrunde liegenden Krankheitsprozesses einschließlich der
verschiedenen histologisch nachweisbaren Veränderungen,
der Verlaufsart (plötzlich oder langsam entstehend, sehr in¬
tensiv oder sehr wenig intensiv),
der Lokalisation.
Die Konsistenzvermehrung des Gehirnes (welche von
der einfachen Trockenheit vieler geschwollener Gehirne zu unter¬
scheiden ist) muß nicht stets bei jeder Hirnschwellung vorhanden
sein, wie ich schon in meinem Vortrage über die Hirnmaterie
(Nr. 3 S. 304) ausdrücklich hervorhob und Rosental gegenüber
(Nr. 30 S. 742) nochmals betonen möchte. Ich fand die Konsi¬
stenzvermehrung besonders bei katatonischem (katatoniformem)
Stupor und verwandten katatonischen Erscheinungen. Solche
Beobachtungen liegen jetzt in ziemlich großer Zahl vor (vgl. Heft 8
unserer Arbeiten S. 365). Neuerdings ist besonders auch der Fall
Wähler von Rosental hier zu nennen, bei welchem die auffallend
harte Konsistenz des Gehirnes ausdrücklich hervorgehoben (Nr. 29
S. 18) und gleichzeitig auch die genaue histologische Untersuchung
vorgenommen wurde, ohne daß hierdurch die Konsistenzvermehrung
eine Aufklärung (etwa im Sinne einer Gliose) gefunden hätte.
Es liegt hier tatsächlich ganz besonders nahe, an physikalisch¬
chemische Veränderungen im Sinne einer Art von Gerinnung der
Hirnsubstanz zu denken; und es ist die ungewöhnlich scharfe
Ablehnung dieses meines Erklärungsversuches durch H. Berger
(Untersuchungen über die Temperatur des Gehirnes, Jena, Fischer
1910 S. 6) schlechterdings nicht zu verstehen. Die feste Konsi¬
stenz des Gehirnes solcher Kranker ist keine „unbegründete An¬
nahme“ von mir, sondern einfach Tatsache. Und je weniger hier
bis auf weiteres das Mikroskop helfen und erklären kann, um so
mehr muß man versuchen, im Sinne der physikalischen Chemie
weiterzukommen. Gewiß sind die Versuche Bergers mit Kokain
an Stuporkranken sehr interessant. Es ist auch möglich, daß das
Kokain vorübergehend (vielleicht auf dem Umwege durch die
Gefäße) die Hirnmaterie und speziell die Himschwellung oder den
Gerinnungszustand solcher Kranker günstig beeinflußt. Aber die
iterperschen Versuche widersprechen ganz und gar nicht meinen
Anschauungen und Schlußfolgerungen.
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Hünschwelhmg.
67
Das spezifische Gewicht des geschwollenen Gehirnes
kann normal sein. Manchmal ist es auch auffallend hoch. Ein
hohes spezifisches Gewicht des Hirnes oder einzelner Hirnteile
(z. 6. des Kleinhirnes) kann auch an die Stelle einer (nach den
Symptomen vermuteten) Hirn-(bezw. Kleinhirn-)schwellung treten.
Ein niedriges spezifisches Gewicht bei Hirnschwellung habe ich
nie beobachtet (öfters bei Hirnschwund). Im allgemeinen zeigt
aber das spezifische Gewicht auch des kranken Gehirnes eine
auffallend große Konstanz, — eine Tatsache, auf welche Professor
Rieger schon vor längerer Zeit aufmerksam gemacht hat.
Die Lokalisation der Hirnschwellung kann vorwiegend den
Hirnmantel betreffen oder den Hirnstamm; vorwiegend das ganze
Gehirn oder nur einzelne Teile desselben.
Eine besondere Art stellt ferner die sogenannte innere Schwellung
dar, d. h. die Verkleinerung des Ventrikellumens, besonders Ober dem
Thalamus (Seitenventrikel und dritter Ventrikel), bis zum völligen Ver¬
schwinden des Ventrikellumens. Diese innere Schwellung scheint, soweit
sie durch eine Schwellung des Thalamus selbst hervorgerufen wird, ein
besonders lebensgefährlicher Zustand zu sein 1 ). Sie wird vor allem
gefunden bei katatonischen Symptomenkomplexen (auch schwerer kata¬
tonischer Erregung) und bei tödlichen epileptischen bzw. epileptiformen
Anfällen oder andern akuten epileptischen (epileptiformen) Zuständen.
Erkannt wird die innere Schwellung an den Frontalschnitten. Die Gehirne
müssen hierbei (wie dies in der Würzburger Klinik auch seit vielen Jahren
geschieht) in einer ganz gleichmäßigen und einheitlichen Weise vorbe¬
handelt sein (Aufhängung des Gehirns an der Arteria basilaris in der
fixierenden Formolflüssigkeit).
Um eine innere Schwellung festzustellen, dazu muß man wissen,
welche Weite der Ventrikel die normale ist. Diese Frage zu beantworten,
l ) Ich habe mir schon seit langem die Vorstellung gebildet: daß der
„äußeren“ Hirnrinde (Cortex cerebri) die „innere“ Hirnrinde gegenüber¬
steht, wobei ich unter letzterer das zentrale Höhlengrau verstehe,
welches offenbar viel lebenswichtiger ist als die äußere Hirnrinde, wie
überhaupt der Hirnstamm die eigentlichen lebenswichtigen vegetativen
Apparate enthält. Vielleicht gehört auch ein Ein- und Austritt von Liquor
in das zentrale Höhlengrau und aus demselben mit zu diesen zentralen
Lebensvorgängen. Auch für das psychische Leben sind wahrscheinlich
das zentrale Höhlengrau und die den 3. und 4. Ventrikel umgrenzenden
Hirnteile in hohem Maße wichtig (Näheres siehe Heft 8 unserer Arbeiten
8. 680 ff. und S. 745 ff. sowie meinen Vortrag über die Psyche, Nr. 12).
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58
Reichardt,
ist oft nicht leicht, da auch bei hirngesunden Personen durch eine terminale
Infektionskrankheit mit infektiöser Hirnschwellung eine innere Schwellung
hervorgerufen worden sein kann. So zeigen denn auch zahlreiche Ab¬
bildungen von Frontalschnitten in der Literatur das Phänomen der inneren
Schwellung, ohne daß etwa die betreffenden Autoren beabsichtigt hätten,
eine solche Verengerung darzustellen. Im einzelnen ist es oft sehr schwer,
die Grenze zwischen normaler Weite der Ventrikel und beginnender innerer
Schwellung zu ziehen, da möglicherweise die Ventrikel auch aus indivi¬
duellen (konstitutionellen) Gründen manchmal etwas enger sein können
(angeborene Disposition zu innerer Schwellung bzw. zu katatonischen
Symptomenkomplexen?). Um eine normale Weite der Ventrikel in dem
Gehirn annehmen zu können, dazu muß man ausschließen
1. eine akute oder chronische Hirnkrankheit und
2. eine Todesart mit zerebralen Symptomen.
Solche Kranke mit diesen Bedingungen sind natürlich in psychiatri¬
schen Instituten ganz besonders selten. Immerhin stehen mir auch einzelne
solche Fälle zur Verfügung; und derartige Ventrikel darf man als normal
weit bezeichnen.
Man könnte daran denken, daß der Hirndruck als solcher auch eine
Verengerung des Ventrikellumens herbeiführe. Dies trifft aber im allge¬
meinen offenbar nicht zu. Bei drei Hirnen mit großen Hirngeschwülsten,
Hirndruck und Stauungspapille waren die Ventrikel nicht zugeschwollen
oder zugedrückt; sie waren im Gegenteil sogar weit. Wir werden in solchen
Fällen (und ebenso bei Urämie usw.) eine auffallende Weite der Ventrikel
(sofern kein angeborener Hydrocephalus internus vorliegt) in Beziehung
bringen dürfen zur vermehrten Liquorproduktion oder Liquortranssuda¬
tion in die Ventrikel hinein. Auch das Ventrikellumen stellt somit nichts
Unveränderliches dar, sondern ist, ähnlich wie das Hirnvolumen, unter
Umständen weitgehenden, manchmal wohl auch rasch eintretenden Ver¬
änderungen unterworfen. Ebenso gibt es allgemeine starke Hirnschwellun¬
gen mit normal weiten oder sogar erweiterten Ventrikeln. Der Hirndruck
an sich schafft also keine innere Schwellung oder überhaupt stets eine
Verengerung des Ventrikellumens. Andererseits braucht bei vorhandener
starker innerer Schwellung das Gehirn im allgemeinen nicht stark ge¬
schwollen zu sein (auch wenn man einen angeborenenjHydrocephalus ex-
ternus ausschießen kann).
Es gibt somit
einen allgemeinen Hirndruck mit innerer Schwellung,
ohne innere Schwellung,
eine innere Schwellung mit starker allgemeiner Hirnschwellung,
oh ne hochgradige allgemeine Hirnschwellung(7 %).
Als relative innere Schwellung bezeichnet man eine Schwellung,
welche sich in vorher (angeboren oder später entstandenen) erweiterten
Ventrikeln abspielt. Die Diagnose auf eine solche relative innere Schwel¬
lung ist vorläufig meist nur vermutungsweise zu stellen.
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HinudnreUimg.
B9
Besonders weit können die Ventrikel sein
a) infolge eines angeborenen oder in frühester Jugend entstandenen
aktiven Hydrocephalus internus,
b) infolge Schwundes des Hirnmantels,
c) infolge Schwundes des Hirnstammes,
d) infolge Schwundes von Hirnmantel und Hirnstamm,
e) infolge aktiver Erweiterung durch Liquorüberdruck in den Ven¬
trikeln (Hirngeschwulst Urämie, chronische oder akute Krankheiten in
der Umgebung des 3. und 4. Ventrikels mit sogenannten entzündlichen
Veränderungen usw.). Man nennt auch diese Ventrikelerweiterungen
Hydrocephalus internus (acquisitus). Jedoch unterscheidet sich diese Art
der Ventrikelerweiterung grundsätzlich von derjenigen durch Hirnschwund
(auch wenn sie sich mit Hirnschwund kombinieren kann). Jedenfalls sind
die weiten Ventrikel nicht immer ein Zeichen von Hirnschwund.
Nähere Angaben über die innere Schwellung siehe Heft 8 unserer
Arbeiten S. 593 fl.
6. Hirnschwellung and Hirndruck.
Besonders zu beachten ist nun der (oft nicht berücksichtigte)
Unterschied von Hirnschwellung und Hirndruck. Die Hirn¬
schwellung ist zwar sehr häufig eine wesentliche Teilursache des
Hirndruckes. Aber Hirnschwellung ist an sich nicht
gleichbedeutend mit Hirndruck. Der allgemeine Hira-
druck ist zu definieren als der klinische Ausdruck eines krank¬
haften Mißverhältnisses zwischen Schädelinnenraum und dem, was
er zu beherbergen hat. Hirndruck kann auch bei normalem Hirn¬
volumen entstehen, wenn z. B. zu viel Flüssigkeit sich im Schädel
befindet. Ein Mißverhältnis — d. h. also Hirndruck — tritt
aber nicht ein, wenn sich zwar das Hirnvolumen
ständig vergrößert, aber die Flüssigkeit, speziell der
Liquor, entsprechend verringert (s. d. Tabelle auf S. 44).
Dann entspricht die Summe von beiden immer der Größe des
Schädelinnenraumes. Es kommt somit nicht zum krankhaften
Hirndruck. Und dies ist auch ein Grund, weshalb die reine,
echte Hirnschwellung ohne krankhaften Hirndruck im Leben bei
uneröffnetem Schädel, z. B. bei Katatonie, vorläufig nicht un¬
mittelbar nachgewiesen werden kann (im Gegensatz z. B. zum
Hirndruck mit Stauungspapille). Man, kann die Hirnschwellung,
z. B. bei katatonischen Symptomenkomplexen, nur vermuten. Es
gibt also Hirnschwellungen ohne Hirndruck, ebenso
wie es Hirndruck ohnfe Hirnschwellung gibt.
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60
Reiohardt,
Es erscheint nicht überflüssig, noch einige Bemerkungen über den
Begriff und das Wesen des Hirndruckes selbst anzufügen. Hlrndraek
ist also der klinische Ausdruck eines Mißverhältnisses zwischen dem verfüg¬
baren Schädelinnenraum und dem, was er beherbergen muß, — in dem
Sinne, daß der Schädelinnenraum (die Hirn-Rückgratshöhle) zu viel
beherbergen muß. Diese Definition zeigt ohne weiteres, daß man zum
Studium des Wesens vom Hirndruck vor allem auch die
Kenntnis von der Größe des zugehörigen Schädelinnen-
raumes braucht. Bis jetzt ist eine solche Schlußfolgerung aber außer¬
halb der Würzburger Psychiatrischen Klinik meines Wissens nicht gezogen
worden. Und hieraus mögen sich auch die großen Verschiedenheiten der
Anschauungen in der Lehre vom Hirndruck erklären. Man hat vor allem
an Tieren experimentiert. Aber das Tierhirn (Hunde, Katzen, Kaninchen)
ist, wie weiter unten gezeigt werden soll, schon normalerweise offenbar
viel mehr „geschwollen“ als das Menschenhirn. Es lebt unter ganz andern
Verhältnissen, ist viel mehr in den Schädel eingepreßt, hat infolgedessen
vielleicht überhaupt eine andere Hirnmaterie. So ist es z. B. auch noch
nicht gelungen, eine echte Stauungspapille experimentell beim Tiere
hervorzurufen. Die sorgfältige, konsequente und systematische Anwen¬
dung der physikal : schen Hirnuntersuchung am Menschen scheint mir am
mesten geeignet zu sein, die noch offenen Fragen in der Lehre vom Hirn¬
druck zu beantworten. Die in den Veröffentlichungen immer wieder von
neuem erfolgende Wiedergabe früherer Anschauungen über den Hirndruck
scheint mir nicht viel Aussicht zu versprechen, die Lehre vom Hirndruck
weiter wesentlich zu fördern.
Früher haben einzelne Hirndrucktheoretiker das Hirnvolumen und
die Liquormenge als unveränderliche Größen bei ihren Ausführungen über
den Hirndruck in Rechnung gestellt. Demgegenüber zeigt aber die physi¬
kalische Hirnuntersuchung, daß ebensowohl das Hirnvolumen als auch
die Liquormenge beim Menschen an sich schon großen Schwankungen
unterworfen sein kann. Speziell bei der Hirngeschwulst — der häufigsten
Ursache des chronischen intensiven Hirndruckes — kann das Hirn ebenso¬
wohl mit Volumensvermehrung (Hirnschwellung) als auch mit Liquor¬
vermehrung (z. B. aktiver Erweiterung der Ventrikel, hirndruckerzeugen¬
dem oder hirndrucksteigerndem Hydrocephalus internus) reagieren; meist
reagiert es mit diesen beiden Irrndruckerzeugenden oder -verstärkenden
Veränderungen. Die Geschwulst bildet eben einen Reizzustand für das
Gehirn, einen — wie ich mich schon 1905 ausdrückte (Nr. 1, S. 310) —
lebenden Fremdkörper (im Gegensätze zu toten Fremdkörpern, z. B. einem
Projektil, dessen Anwesenheit innerhalb der Schädelhöhle das Gehirn oft
viel reaktionsloser erträgt, jedenfalls im allgemeinen nicht mit langdauern¬
dem Hirndruck nach Art der Hirngeschwulst beantwortet). Indes tritt
die Hirnreaktion infolge von Hirngeschwulst bei den einzelnen Menschen
zeitlich ganz verschieden ein. Hier mögen ebenfalls gewisse konstitutio-
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Hmudnreihmg.
61
Delle Momente eine Rolle spielen, welche man aber nur zum geringen Teile
kennt; und sodann auch der Sitz der Geschwulst, indem eine Erkrankung
bestimmter (basaler, Rautenhirn) Hirngegenden besonders zur Hirn¬
schwellung disponieren kann (s. u.), eine Erkrankung in der Nahe des zen¬
tralen Höhlengraus besonders zur aktiven Liquorvermehrung (hirndruck¬
erzeugender Hydrocephalus internus). Die Liquorvermehrung beim Hirn¬
druck durch Hirngeschwulst ist sehr oft nicht erst eine Folge von Stauung
(Stauungstranssudat), sondern offenbar in sehr vielen Fallen eine Folge
von irritativen Vorgängen in der Hirnmaterie. Denn letztere ist ungemein
empfindlich und beantwortet viele Reize u. a. mit vermehrter Liquor¬
produktion und Liquorströmung. Je spater das Hirn mit Hirnschwellung
und Liquorvermehrung reagiert, um so länger kann die Geschwulst ohne
allgemeine Symptome im Gehirn herumgetragen werden (höchstens kommt
es zu einzelnen vorübergehenden Hirndruckepisoden infolge von vorüber¬
gehender Hirnschwellung oder vorübergehender aktiver Liquorvermeh¬
rung); um 60 größer kann gegebenenfalls die Hirngeschwulst wachsen,
bis sie schließlich durch ihre Größe selbst, rein mechanisch, zum dauernden
Mißverhältnis führt.
Im höheren Lebensalter, ferner bei sehr langsam wachsenden Ge¬
schwülsten — Endotheliomen der Dura —■ entsteht oft ein dem Wachstum
der Geschwulst parallel gehender lokaler oder allgemeiner Hirnschwund,
so daß also in solchen Fällen niemals ein Mißverhältnis (oder wenigstens
ein hochgradiges Mißverhältnis) zwischen Schädelinnenraum und dem,
was er beherbergen muß, sich ausbildet Eine eventuell auftretende
Geistesstörung könnte dann auch in erster Linie durch den universellen
Hirnschwund verursacht worden sein. Wir haben also Hirndruck¬
psychosen, Hirnschwellungspsychosen und Hirnschwund-'
psychosen zu unterscheiden, abgesehen von den lokalen Ausfalls- und
Reizerscheinungen auf psychischem Gebiete infolge des Sitzes der Ge¬
schwulst.
Hirndruck ist vorhanden, sobald ein Mißverhältnis vorhanden ist —
also auch wenn die sogenannten Kompensationsvorgänge noch ausreichen
(latenter Hirndruck). Zur Hirnkompression braucht es somit auch bei
Vorhandensein von Hirndruck nicht zu kommen. Die eigentlichen klini¬
schen Hirndrucksymptome sind von A. Hauptmann (Nr. 20, S. 494) neuer¬
dings durch mechanische Schädigung der Hirnsubstanz (infolge Zusammen¬
gedrücktwerdens) erklärt worden. Daß das Gehirn im Schädelinnenraum
kompressibel ist, dies konnte ich schon 1905 aus meinen Zahlen wahr¬
scheinlich machen. Nur möchte ich die Ansicht vertreten, daß auch ma¬
terielle Hirn Veränderungen anderer Art an dem Zustandekommen der allge¬
meinen sogenannten Hirndrucksymptome teilhaben (Hirnschwellung,
vermehrte Liquorproduktion, hohes spezifisches Gewicht der Hirnsubstanz
auch nach Aufhören des Hirndruckes, allgemeine histologische Veränderun¬
gen, welche ich wiederholt, ebenso wie später Redlich, nachweisen konnte).
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Reichardt,
Die menschliche Hirnmaterie ist eine viel zu empfindliche Substanz, als
daß sie sich ohne reaktive Veränderungen längere Zeit hindurch stark
komprimieren ließe. Auch die außerordentlich große elastische Expansions¬
kraft des gesunden und rüstigen menschlichen Hirnes bei intensivem
chronischen Hirndruck und das Sich-wehren eines solchen Gehirns gegen
die Kompression ist offenbar von hoher Bedeutung für die Entstehung des
Hirndruckes. Es muß also davor gewarnt werden, eine gar zu „mechani¬
sche“ Erklärung des Hirndruckes vorzunehmen.
Die Anwesenheit von Liquor ist beim Zustandekommen des Hirn¬
druckes zweifellos von sehr großer Wichtigkeit. Aber es ist auch nicht an¬
gängig, in allen Fällen der Liquorvermehrung allein die Schuld an dem
Zustandekommen des Hirndruckes zuzuschreiben. Meist ist, wenn es
beim erwachsenen Menschen zum chronischen Hirndruck kommt, auch die
feste Substanz im Schädel vermehrt (entweder durch das Wachstum der
Geschwulst selbst oder aber durch Hirnschwellung). Ebenso entsteht der
sogenannte Hydrocephalus internus bei Hirngeschwülsten häufig nicht
auf „mechanischem“ Wege, z. B. durch Kompression oder Verlegung des
Aquäduktes oder einer großen Vene, sondern sehr oft als unmittelbare
aktive Reiz- oder Reaktionsveränderung des Gehirns und anscheinend
besonders des zentralen Höhlengraus. Weitere Ausführungen über den
Hirndruck s. Heft 8 unserer Arbeiten S. 444 ff.
i Vom chronischen Hirndruck ist der akute Hirndruck bzw. die akute
Steigerung eines schon vorhandenen chronischen Hirndruckes zu unter¬
scheiden. Der akute Hirndruck (die akute Steigerung) ist in vielen Fällen
die unmittelbare Todesursache. Er kann auch bei Hirngeschwülsten ganz
akut zum Tode führen, ohne daß ein deutlicher chronischer Hirndruck
vorausgegangen ist. Erst die regelmäßige Bestimmung des Schädelinnen-
raumes an der Leiche hat den akuten Hirndruck als Todesursache, seine
Häufigkeit und Wichtigkeit kennen gelehrt. -j
v Endlich noch ein Wort zur Namengebung. Mit Recht wird vom
allgemeinen Hirndruck der lokale Druck unterschieden. Aber auch der
letztere wird von manchen Autoren schlechtweg „Hirndruck“ genannt.
Es ist sogar vorgekommen, daß ein Autor in dem gleichen Abschnitt seines
Aufsatzes ohne Unterschied oder Zusatz das Wort „Hirndruck“ gebraucht,
wobei er bald den allgemeinen Hirndruck und bald den lokalen Druck
meint. Daß hierdurch Irrtümern und Mißverständnissen Tür und Tor
geöffnet wird, liegt auf der Hand. Auch die JTocAersche Auffassung der
Hirnerschütterung im Sinne der akuten Hirnpressung hat offenbar mit
Hirndruck im Sinne eines Mißverhältnisses nichts zu tun. Ich möchte daher
die Bitte aussprechen: das Wort „Hirndruck“ nur im Sinne von „allge¬
meinem Hirndruck“ bzw. im Sinne der obigen Definition (Mißverhältnis
zwischen verfügbarem Schädelinnenraum und dem, was er beherbergen
muß [Hirngeschwulst, Hirnschwellung, Liquor, Blut, Zysteninhalt usw.J)
zu gebrauchen und das Wort Hirndruck in jeder andern Bedeutung oder
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Hirns chwellung.
63
sprachlichen Verwendung („lokaler Hirndruck“) zu vermeiden. Man
kann die letztere Bezeichnung durch „lokalen Druck“, „lokale Hirnkom¬
pression“ usw. ersetzen.
Vom Hirndruck ist die Expansionstendenz des Gehirnes (z. B. auch
beim Auftreten einer Hirnschwellung) bei breit eröffnetem (trepaniertem)
Schädel zu unterscheiden. Bei sehr breiter Eröffnung des Schädels ver¬
schwindet der Hirndruck. Die Vergrößerungstendenz des Gehirns kann
dagegen bleiben und z. B. zum Hirnprolaps führen, welcher sich dann
wieder infolge des Verschwundenseins des Hirndruckes und infolge der
Besserung der Lebensbedingungen in der Hirnmaterie hierdurch langsam
zurückbilden kann. Bei ungenügend eröffnetem Schädel kann aber auch,
trotz der Schädeleröffnung, noch echter Hirndruck im Schädelinnern
herrschen.
II. Die Himsehwellnngen bei Hirnverletzungen and trau¬
matischen Hirnerkrankungen.
Himschwellung ist also von Hirn druck grundsätzlich zu
trennen. Sehr häufig ist es allerdings so, daß die gleiche exogene
Hirnschädigung, welche zur Volumensvergrößerung des Gehirnes
im Sinne der Hirnschwellung fährt, auch die Liquorproduktion
vermehrt. Die einer solchen Hirnschwellung parallel gehende
Vermehrung der Liquorproduktion (oder das Erscheinen eines
eiweißreicheren serösen Exsudates) kann bis zu einem gewissen
Grade als charakteristisch für den exogenen Charakter der Him¬
schwellung betrachtet werden. Oder umgekehrt: Kommt es zur
aktiven Liquorvermehrung (durch Infektion, Intoxikation,
Himgeschwulst usw.), so pflegt aus der gleichen Ursache auch
eine Hirnschwellung aufzutreten, sofern Hirndruck entsteht.
Die Fälle, bei welchen beim Erwachsenen durch Liquorvermehrung
allein, ohne gleichzeitige Vermehrung fester Substanz im Schädel,
ein langdauerader hochgradiger Hiradruck mit Stauungspapille
hervorgerufen wird, sind, wie gesagt, selten. Entwickelt sich ein
starker und längerdauernder Hiradruck, dann ist, außer dem
Liquor, meist auch die feste Substanz im Schädelinnenraum ver¬
mehrt. Beim chronischen Hiradruck liegt häufiger eine Ver¬
mehrung fester Substanz im Schädelinnenraum vor, als bisher
angenommen wurde. Wenn also keine entsprechend große Him¬
geschwulst vorhanden ist, dann ist es die Hirnschwellung,
welche zusammen mit dem Liquor den Hiradruck verursacht.
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64
Reichardt,
So ist es denn auch überwiegend wahrscheinlich, daß bei der
Meningitisserosa, der nicht-eitrigen Enzephalitis,
bei vielen Fällen von sogenanntem Hirnödem —
gerade auch im Gefolge von Hirnverletzungen — neben der
Liquorvermehrung auch Hirnschwellungsvorgänge
auftreten, sofern eben der klinische Symptomenkomplex des
Himdruckes sich entwickelt. Wir müssen uns nur mit dem
Gedanken vertraut machen, daß die Himmaterie selbst nicht nur
eine äußerst empfindliche, labile, reizbare Substanz ist, sondern
daß sie auch irgendwelche krankhafte Reize sofort — außer mit
vermehrter Liquorproduktion — auch mit, zum Teil recht be¬
trächtlichen, Volumensvergrößerungen beantworten kann.
1. Die Hirnschwellungen durch Infektion, Intoxikation,
Hirnkontusion usw.
Jedenfalls sind Himdruckerscheinungen bei Hirnverletzungen
aller Art sehr häufige Vorkommnisse, wie die Kriegserfahrungen
bewiesen haben. Und es ist nach dem bisher Gesagten sehr
wahrscheinlich, daß auch Hirnschwellungen bei Himverletzten
häufig Vorkommen. Genauere Untersuchungen über Schädelinnen-
raum und Himgewicht an der Leiche sind hier dringend wünschens¬
wert. Vor allem wird man infektiöse Himschwellungen zu er¬
warten haben, ferner Hirnschwellungen bei der sogenannten
aseptischen Meningitis serosa (Payr). Auch Stauungspapille findet
sich in mehr als der Hälfte der Fälle und gilt als ernstes Symptom
(Best). Einzelne Autoren (De Quervain, Anton) sprechen ferner
unmittelbar von einer traumatischen Hirnschwellung, welche also
ohne Infektion, auf rein mechanischem Wege, zustande kommen
soll; und es ist bemerkenswert, daß gerade bei diesen exogenen
infektiösen oder traumatischen, mit Liquorvermehrung einher¬
gehenden, Hirnschwellungen oder Himdruckerscheinungen druck¬
entlastende Operationen, vom Balkenstich an, sehr günstig
wirken. Andererseits kann ohne Operation der Himdruck die
unmittelbare Todesursache bilden.
Die Symptomatologie der Hirnschwellungen bei Hirnver¬
letzungen wird, abgesehen von der Himinfektion selbst und ihren
Folgen, in einem Teil der Fälle vom Himdruck beherrscht. Bei
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Hirnschwellung.
65
anderen Kranken fehlen eigentliche bezw. deutliche Himdruck-
symptome. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die inter¬
essante Schilderung von Alters (Nr. 35 S. 154 ff.) über das von
ihm so genannte apathische Syndrom verweisen. Viele
Hirnverletzte, auch solche ohne ausgedehntere und tiefgreifende
Hirnstörungen, zeigten im akuten Stadium und bis zur Operation
ein eigentümliches Bild von Erschwerung der Auffassung, Interesse¬
losigkeit, Apathie, Mangel an geistiger Spannkraft, hochgradige
geistige Ermüdbarkeit und Trägheit, Verlangsamung der Denk¬
vorgänge sowie der sprachlichen und motorischen Reaktionen.
Stärkere Kommotionssymptome haben gefehlt. Die Operation
brachte in den günstig verlaufenden Fällen einen durchgreifenden
Umschwung. Das Syndrom verschwand. Alters zieht zum Ver¬
gleich direkt die Schilderung Redlich s über die psychischen
Störungen bei HirngeschWülsten herbei. Vielleicht haben wir es
auch bei solchen Hirnverletzten mit dem apathischen Syndrom
im Sinne von Alters mit den klinischen Äußerungen mäßig starker,
großenteils vielleicht ohne eigentlichen Himdruck einhergehender
Hirnschwellungsvorgänge zu tun, welche durch die Operation
gleichfalls günstig beeinflußt werden. Jedoch wird von anderen
Autoren das Allersache Syndrom mehr im Sinne eines Mangels
an Antrieb aufgefaßt, d. h. einer Störung, wie sie bei Stimhirn-
schädigungen beobachtet werden kann.
Auch die traumatisch hervorgerufenen Himschwellungen
können anscheinend nur lokal auftreten. Dies ist von Bedeutung
für die Lokalisationslehre. So wird z. B. einerseits berichtet:
daß bei Stirnhimverletzungen, auch schweren, ausgesprochene
Ausfallerscheinungen auf geistigem Gebiete durchaus fehlen können
(Berger Nr. 36 S. 304; Brodmann 1 )), während andererseits z. B.
Rosenfeld seine bekannte Beobachtung mit Durchschuß durch
beide Frontallappen veröffentlicht hat (Nr. 49), wobei außer
leichtem Himdruck während der ersten drei Tage eine fast
zwei Monate anhaltende geistige Störung nach Art des katatonischen
Stupors auftrat. Rosenfeld erörtert selbst die Möglichkeit einer
>) Wie inzwischen das Referat von Kleist gezeigt hat, sind auch bei
Stirnhirnverletzungen erhebliche Reiz- oder Ausfallerscheinungen zu beob¬
acht*!,, vor allem auf dem Gebiete der Affektivität und Psychomotilität.
2 jitachrift für PiyohUtrie. LUV. 1. 6
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Reichardt,
Hirnschweilung. Diese kann sich im wesentlichen auf die Stirn¬
lappen beschränkt haben, so daß dem psychischen Symptomen-
komplex immer noch der Wert eines Lokalsymptoms zukommen
würde. Sie kann aber auch die basalen Ganglien mit ergriffen
haben; und dann würde man in diesem katatonischen Symptomen-
komplex kein ausschließliches Stimhimsymptom mehr erblicken
dürfen. In ähnlicher Weise vermögen gewiß auch sonst lokale
Schwellungsvorgänge in der Nähe einer Herderkrankung die
Symptomatologie zu komplizieren. Man hat hier auch von lokalem
Chok gesprochen. Vielleicht gehören auch einige Fälle von
Diaschisis-Wirkung im Sinne Monakow zur lokalen Hirnschweilung,
während bei Kranken mit stationärer Herdkrankheit (Erweichung
usw.) in den späteren Krankheitsstadien oft genug ein über die
Größe des Herdes hinausgehender und manchmal — auch bei
nur kleinem Herde — recht diffuser Schwund des betreffenden
Himteiles erkennbar ist (nachzuweisen an den exakt angelegten
Frontalschnitten).
2. Die Hirnerschütterung.
Himschwellungsvorgänge können, z. B. bei einer Hirage-
schwulst und wohl auch bei einer Hirnverletzung, offenbar von
jeder Himstelle apsgelöst werden. Es ist aber von besonderer
Wichtigkeit: daß die Erkrankung einzelner Hirnstellen
in besonderem Maße geeignet ist, Hirnschwellungen
hervorzurufen. Es sind dies die Himstellen an der Hirnbasis
und die Rautenhimgegend. Man darf vorläufig den Satz aufstellen:
Eine lokalisierte Schädigung des Gehirnes wird um so eher zu
Himschwellungsvorgängen führen können, je lebenswichtiger die
Himstelle mit dem Sitze der Erkrankung ist. Dies ist namentlich
auch beim Bautenhirn der Fall. Von Erkrankungen des Rauten-
hiraes und obersten Halsmarkes aus werden besonders häufig
diffuse und hochgradige Himschwellungen hervorgerufen, welche
allerdings in einem großen Teil der Fälle akute tödliche Hhm-
schwellungen sind, in Anbetracht der Lebenswichtigkeit dieser
Himgegend. Was man früher bei dem Tode Himkranker Herz-
und Atmungslähmung nannte, dies hat sich in einzelnen Fällen,
bei Erkrankungen des Rautenhiraes und obersten Halsmarkes, als
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Original from
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Hirnschwellung.
67
hochgradige akute terminale Hirnschwellnng herausgestellt; oder
die Atmungslähmung ist wenigstens mit einer ganz akuten Hirn¬
schwellung kurz vor dem Tode einhergegangen. Jedenfalls ver¬
mag eine Lokalerkrankung des Rautenhirnes und obersten Hals¬
markes akut zu universellen Hirnschwellnngen, d. h. zu starken
Veränderungen des Gesamthimes zu führen. Eine Lokaler¬
krankung des Rautenhirnes kann somit auch für die
gesamten Großhirnfunktionen von Bedeutung werden.
Ich habe schon seit vielen Jahren auf dieses Phänomen hin-
gewiesen. Aber es scheint, daß man sich ganz allgemein noch
gar nicht dieser Erscheinung bewußt geworden ist und was sie
für die Hirnphysiologie, Hirnpathologie und Psychologie bedeutet.
Für mich war dieses Phänomen einer von den Gründen, welche
mich zu meiner Auffassung über das Wesen des Psychischen
geführt haben (Nr. 12 und Nr. 13 S. 10 ff.).
Ich habe diese Ausführungen hier gebracht im Hinblick auf
die Frage nach dem Wesen der Hirnerschütterung. Direkte
Verletzungen der Medulla oblongata pflegen unmittelbar tödlich
zu sein. Aber bei Verletzungen des obersten Halsmarkes bleiben
die Kranken unter Umständen noch einige Zeit am Leben. Und
es ist von unseren hier erörterten Gesichtspunkten aus sehr
wichtig, daß bei Verletzungen des obersten Halsmarkes
sehr oft von Somnolenz oder Bewußtlosigkeit die Rede
ist. Berger (Nr. 36 S. 299 ff.) und Rosenfeld (Nr. 48) haben
über solche Fälle berichtet. Die Schlußfolgerungen, welche Berger
auf Seite 300 bezüglich des Schlafes aus diesen seinen Beob¬
achtungen zieht, habe ich selbst schon früher gezogen und ver¬
öffentlicht (Nr. 8 S. 263 und 275 ff.; Nr. 9 S. 702 ff.). Auch für
die Theorie der Hirnerschütterung sind diese Beobachtungen von
Bedeutung. Ich hatte gleichfalls schon 1912 (Nr. 8 S. 396), von
meinen Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Hirnstamm
und Hirnrinde und über die Wichtigkeit des Hirnstammes für das
psychische Leben ausgehend, die Vermutung ausgesprochen: daß
die Bewußtlosigkeit bei der Himerschütterung irgendwie ein
Rautenhirnsymptom sei und vielleicht zustande komme durch eine
akute Änderung des dynamischen Gleichgewichtszustandes zwischen
Rautenhirn und Großhirn. Ich hatte schon damals darauf auf-
6 *
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68
Reichardt,
merksam gemacht, daß bei Schußverletzungen des Großhirnes
selbst die eigentlichen Himerschütterangssymptome sehr oft fehlen
oder nur gering ausgeprägt sind, jedenfalls in keinem Ver¬
hältnisse zur Schwere der Hirnverletzung stehen, trotzdem es auch
hier zur intensiven „Erschütterung“ des Großhirnes und zur akuten
Hirapressung durch die Schußwirkung kommt. Dieses häufige
Fehlen stärkerer Hirnerschütterungssymptome bei den Schu߬
verletzungen des Großhirnes ist im Kriege bestätigt worden (Allers
hat dies z. B. hervorgehoben, S. 148 ff.). Und nun sind neuerdings
von Breslauer, offenbar ohne jede Kenntnis meiner Arbeiten, aus
der Berliner Chirurgischen Klinik für die Oblongat&theorie der
Bewußtlosigkeit bei der Hiraerschütterung so starke experimentelle
Beweise beigebracht worden, daß man wohl sagen kann: Die
Bewußtlosigkeit bei der Hirnerschütterung ist irgend¬
wie ein Oblongatasymptom, — ein Lokalsymptom des ver¬
längerten Markes. Die histopathologischen Veränderungen in der
Hirnrinde bei der Hiraerschütterung (die kleinen Blutungen, Ne¬
krosen usw.) genügen offenbar nicht, um die Bewußtlosigkeit selbst
zu erklären. Wir müssen auch hier auf dynamische Erklärungs¬
versuche zurückgreifen. Der klinische Symptomenkomplex der
Hiraerschütterung tritt nur ein, wenn das Rautenhira selbst, bezw.
die Oblongata erschüttert oder gezerrt, gequetscht, gedrückt, durch
den vorübergehend komprimierten Liquor beschädigt worden ist 1 ).
Dann würde auch die Kochersche Theorie der Hiraerschütterung
als einer umschriebenen Kompression des Großhirnes, gegen
welohe Theorie ja auch von chirurgischer Seite Einwendungen
erhoben worden sind, nicht zu Recht bestehen.
Jedenfalls wäre es theoretisch außerordentlich interessant,
wenn man bei solchen an Hiraerschütterung oder Haismark¬
verletzung Gestorbenen den Schädelinnenraum genau bestimmen
würde und dann eine Hiraschwellung oder überhaupt ein all¬
gemeines Mißverhältnis zwischen Schädelinnenraum und Hirn plus
Liquor feststellen könnte. So hat Borihoeffer von einem Falle
*) VgL auch die histologischen Befunde, welche A. Jacob bei experi¬
mentellen Hirntraumen an Tieren vor allem in der Medulla oblongata er¬
hoben hat. HistoL u. histopathoL Arbeiten von Nissl u. Alzheimer Bd. 5,
1913. Z. B. S. 227 fl., 324.
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Hirnschwelltug.
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ausgesprochener Himschwellnng nach Hirnkontnsion berichtet;
indes war die Ätiologie dieses Falles nicht ganz eindeutig, da
ebensowohl ein Tod im Chok als auch eine Gasphlegmone
konkurrierten. — Daß etwa, wie man früher annahm , eine reflek¬
torische Rindenanämie die Bewußtlosigkeit bei der Himer-
schütterung hervorrufe, dafür haben sich experimentell keine
Anhaltspunkte ergeben, wie überhaupt vieles von dem, was man
früher der Vasomotorentätigkeit im Gehirn zuschrieb, in Wirklich¬
keit Vorgänge in der Himmaterie sind und zum Teil unmittelbar
in das Gebiet der Hirnschwellung gehören.
Wenn ich sage: die Bewußtlosigkeit bei Hirnerschütterung ist ein Ob*
longatasymptom, so sage ich hiermit selbstverständlich nicht, daß das
Bewußtsein selbst in der Oblongata „lokalisiert“ sei. Als Organ des Be¬
wußtseins gilt allgemein die Hirnrinde. Irgendwie bewiesen ist diese An¬
sicht jedoch ebenfalls nicht. Und es fragt sich, ob nicht auch hier dem
Hirnstamm eine viel größere Aufgabe, in Beziehung zu unserem psychischen
Leben, zufällt, als man bisher annahm (s. hierzu Heft 8 unserer Arbeiten
S. 680 (T.). Aber auch wenn man die Hirnrinde als Organ des Bewußtseins
betrachtet, so kann doch durch eine Hirnstamm- (Raute nhirn-, Oblongata-)
erkrankung und infolge einer sekundären Störung des dynamischen Gleich¬
gewichtes zwischen Hirnstamm und Hirnmantel auch eine Bewußtlosigkeit
eintreten. Der Beweis für eine solche sekundäre Veränderung des Gesamt-
hirnes würde eben die vorhandene Hirnschwellung sein.
Wenn im Gefolge von lokalen Hirnstamm-, Oblongata- und Hals¬
markverletzungen universelle Hirnschwellungen gleichfalls auftreten
können, dann müssen wir wohl auch bezüglich des Zustandekommens der
traumatischen Hirnschwellung zwei Arten unterscheiden: die durch di¬
rekte Großhirnkontusion und die indirekt, auf dem Umwege einer
Störung des dynamischen Gleichgewichtes zwischen Hirnmantel und Hirn¬
stamm zustande kommenden Hirnschwellungen. Dementsprechend werden
auch die klinischen Symptome ganz verschieden sein können.
Man sieht gleichzeitig hieraus: wie kompliziert auch bezüglich der
Hirnerschütterung und ihrer Symptome die Verhältnisse liegen:
1 . Die Bewußtlosigkeit ist, ebenso wie Erbrechen und Pulsanomalie,
ein Oblongatasymptom.
2 . Der eventuell vorhandene, länger dauernde amnestische Sym-
tomenkomplex ist ein kortikales Symptom (Parietookzipitalgegend beider¬
seits), welches allerdings möglicherweise auch auf indirektem Wege, durch
eine primäre Hirnstammerkrankung, hervorgerufen werden kann.
3. Aber auch allgemeiner Hirndruck im Gefolge einer Hirnerschütte-
rung kann auftreten. Sofern er nicht durch eine komplizierende größere
intrakranielle Blutung hervorgerufen wurde, wird man ihn auf eine uni*
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70
Reichardt,
verseile Hirnschwellung, verbunden vielleicht mit einer vermehrten Liquor¬
produktion, beziehen dürfen.
E. Förster ist der Ansicht, daß der amnestische Symptomenkomplex
nicht abhängig sei von einer Lokalerkrankung der Parietookzipitalrinde,
sondern nur eine besondere Reaktionsart des Gehirns gegenüber dem allge¬
meinen Hirndruck darstelle. Ich möchte demgegenüber doch auf folgendes
hinweisen: Es bestehen zunächst eine zweifellose innere Verwandtschaft
sowie auch allerhand Übergänge zwischen dem amnestischen und dem von
mir seit 1907 in mehreren Abhandlungen beschriebenen optisch-räumlichen
Symptomenkomplex (s. die zusammenfassende Schilderung des letzteren
in meinem Lehrbuch der Psychiatrie 1918, S. 40 ff.). Es sind wahrscheinlich
überhaupt viele Störungen optisch-räumlicher Natur (oder wenigstens mit
ihnen untermischt), welche man jetzt als AorsaÄow'Schen Symptomen¬
komplex bezeichnet, weil man speziell auf die optisch-räumliehen Ausfalls¬
erscheinungen (z. B. im Erkennen zusammengesetzter Bilder) noch zu
wenig Aufmerksamkeit verwendet hat. Ferner tritt der amnestische
Symptomenkomplex auch bei Hirnerschütterung besonders durch Fall
auf den Hinterkopf auf, wobei gerade die beiderseitigen lateralen Parieto-
okzipitalgegenden infolge des Beharrungsvermögens gegen das Innere des
Schädeldaches geschleudert und kontundiert werden. Drittens können bei
Hirnerschütterungen echte optisch-räumliche Störungen, untermischt
mit dem amnestischen Symptomenkomplex, auftreten. Und wenn z. B.
beim allgemeinen chronischen Hirndruck der amnestische Symptomen¬
komplex sich besonders oft zeigt, so finden wir ihn namentlich dann, wenn
die Hirngeschwulst in der hinteren Schädelhälfte sitzt. Oder die Mechanik
des Hirndruckes ist derart, daß die Parieto-Okzipitalgegend beiderseits
durch denselben besonders intensiv geschädigt wird (drucksteigernder
Hydrocephalus internus besonders in den Hinterhörnern usw.). Schwierig¬
keiten der lokalisatorischen Erklärung bieten lediglich die alkoholistische
und infektiöse amnestische Störung. Hier wird man, z. B. auch an Frontal¬
schnitten, zu untersuchen haben: ob nicht auch bei solchen Kranken die
Hinterhörner besonders weit und die Parieto-Okzipitalgegenden in besonde¬
rem Maße geschrumpft oder sonst irgendwie geschädigt sind. Auch an eine
elektive Giftwirkung könnte man denken. Ich glaube daher bis auf weite¬
res nicht, daß sich der Lokalisation des amnestischen Symptomenkom-
plexesunüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstellen, wenn ich auch ohne
weiteres zugebe, daß oft genug die zugrunde liegende Schädigung oder Er¬
krankung des Gehirns so diffus ist, daß das Lokalsymptom durch andere
Erscheinungen kompliziert wird, und daß hierdurch mehr oder weniger
der Charakter einer universellen organischen Hirnrindenerkrankung
entsteht.
3. Der Chok.
Vielleicht werden wir mit der Möglichkeit zu rechnen haben,
daß auch der Chok mit Hirnschwellungsvorgängen in Beziehung
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Hirnschwellung.
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stehen kann. So sehr mit der Diagnose „Nervenchok“ Unfng
getrieben wird, so gibt es doch zweifellos auch eine echte Chok-
wirkung. Man darf sie definieren als eine sehr intensive, plötzlich
eintretende, mehr oder weniger rasch vorübergehende, unter Um¬
ständen aber auch zum Tode führende Hemmung oder Lähmung
der lebenswichtigen Zentren in der Oblongata. Im einzelnen
kommt die Chokwirkung auf verschiedenste Weise zustande:
reflektorisch vom Ausbreitungsgebiet des Vagus und Splanch-
nikus aus; als sogenannter psychischer Chok (hier handelt es sich
wohl nur um leichte Chokformen oder sogar um Pseudochok im
Sinne pathologischer Reaktionen bei Psychopathie); man spricht
vom apoplektischen Chok (plötzliche Einwirkung des Schlag¬
anfalles auf die Oblongata); vom lokalen Chok im Sinne der
Monakowschen Diaschisislehre; vom chirurgischen Chok, wobei
der Kranke nach einer schweren peripheren Verletzung rasch
unter Kräfteverfall zugrunde gehen soll, ohne daß man eine
eigentliche pathologisch-anatomische Todesursache findet (auch
der Frühtod bei ausgedehnter Verbrennung gehört vielleicht hier¬
her). Chokkranke gleichen in hohem Maße den Ausgebluteten.
Aber ebenso wie bei der perakuten Verblutung intensive Him-
schwellungen Vorkommen können, ebenso muß man fragen: Ob
nicht auch bei der akuten — namentlich der tödlichen — Chok¬
wirkung universelle Hirnschwellungen möglich sind? Dann hätten
wir auch hier wieder von der Oblongata aus eine plötzliche, als
Volumensvergrößerung sich zeigende Alteration des ganzen Ge¬
hirnes. Und wir könnten auch die mannigfachen psychischen
Symptome im Gefolge einer echten Chokwirkung, die Bewußt¬
seinstrübung, die Delirien oder die epileptiformen Krämpfe mit
einer Hirnschwellung in Beziehung bringen und sie uns durch
dieselbe eher verständlich machen, v. Monakow (Nr. 43 S. 20)
sagt mit Recht, daß die Lehre vom Chok einer völligen Um¬
arbeitung und vor allem auch einer Vertiefung bedürfe. Bis jetzt
gilt die anatomische Grundlage des tödlichen Chokes als gänzlioh
unkl ar, wie dies auch Oaupp bezüglich des tödlichen Chokes in¬
folge des enormen Luftdruckes nahe vorbeisausender Granaten
(Nr. 42 S. 279) betont hat. Wenn wir künftighin bei der echten
tödlichen Chokwirkung auch Hirnschwellungen finden, dann würden
bv Google
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Reichardt,
wir uns vielleicht klarere Vorstellungen von dem Wesen des
Chokes bilden können, wie überhaupt der Nachweis einer akuten
tödlichen Hirnschwellung in ganz anderer Weise die Intensität
der zum Tode führenden Himvorgänge demonstriert, als dies
früher möglich war.
III. Konstitutionelle Faktoren bei den Hirnschwellungen.
Das Konstitutionsproblem hat gerade in neuerer Zeit wieder die
Forscher beschäftigt; ich verweise auf die Monographien von Martius
(Springer, 1914) und Julius Bauer (Springer, 1917) sowie auf die aka¬
demischen Vorträge der Pathologen M. B. Schmidt (Eektoratsrede, Würz¬
burg, 1917) und Lubarsch (Deutsche med. Wschr. 1917, Nr. 44). Vielleicht
lassen sich nun auch an der Hand der Erfahrungen bei den HirnschWellun¬
gen für das Gehirn gewisse konstitutionelle Momente finden, welche wahr¬
scheinlich auch für die Psychiatrie von Bedeutung sind.
Unter den Bedingungen, welche für das Vorhandensein, Zustande¬
kommen oder Fehlen einer Hirnschwellung wichtig sind, ist zunächst ganz
allgemein das Lebensalter zu nennen. Während im Säuglings- und
frühesten Kindesalter eine erhöhte Neigung des Gehirns zur Bildung eines
Hydrozephalus zu bestehen scheint (besonders hoher Wassergehalt der
Hirnsubstanz in diesem Lebensalter), ist — vielleicht schon vom 5. Lebens-
jahrean—eine erhöhte Disposition des kindlichen und jugend¬
lichen Gehirns zur Hirnschwellung erkennbar. Vielleicht ist ferner
das kindliche Gehirn dauernd etwas mehr „geschwollen“ als das erwachsene
(s. hierzu Heft 1 unserer Arbeiten S. 40, ferner dieses Referat S. 81 ff.);
vielleicht ist ein gewisses ständiges Geschwollensein des kindlichen Ge¬
hirnes nichts anderes als der Ausdruck einer normalen Wachstumstendenz
des Gehirns. Differenzzahlen zwischen Schädelinnenraum und Hirn¬
gewicht, welche beim Erwachsenen schon als abnorm oder als krankhaft
anzusehen wären, sind beim Kinde vielleicht noch ganz normal. Indes ist
hierüber etwas Näheres noch nicht bekannt. Und es wäre vom hirnwissen¬
schaftlichen Standpunkt aus sehr wichtig und sehr zu begrüßen, wenn in
zuverlässiger Weise über das Verhalten des Hirngewichtes im Vergleich
zum zugehörigen Schädelinnenraum, unter Berücksichtigung der terminalen
Krankheitserscheinungen, der Todesursache usw. bei Kindern Unter¬
suchungen vorgenommen würden. Bis jetzt fehlen derartige Untersuchun¬
gen noch völlig. Jedenfalls würde die erhöhte Neigung des kindlichen Ge¬
hirnes zur Hirnschwellung (namentlich zur infektiösen und toxischen) sehr
gut zur Eigenart des kindlichen Gehirns passen, schon auf harmlose In¬
fektionen mit Delirien oder epileptiformen Erscheinungen zu reagieren.
Im höheren Lebensalter überwiegt demgegenüber im allgemeinen die
Neigung zur Hirnverkleinerung, zum Hirnschwund. Die gleiche Ursache
(Hirngeschwulst, aber auch vielleicht eine infektiöse Hirnerkrankung),
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Hirnschwellung.
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welche im jugendlichen Lebensalter mit Hirnschwellung einhergeht, fOhrt
im Oreisenalter unter Umständen eine Hirnverkleinerung herbei, woraus
dann selbstverständlich auch ganz andere klinische Symptome sich er¬
geben können (S. 61).
Aber das verschiedene Lebensalter genügt nicht, um die Verschieden¬
heiten im Verhalten der Gehirne bei den einzelnen Krankheiten und Krank¬
heitsveranlassungen zu erklären. Immer wieder fragt man sich: warum der
eine Mensch auf eine äußere Schädlichkeit so anders reagieren kann als
der andere, und warum der eine an einer endogenen Krankheit erkrankt
und der andere nicht? Wir müssen hier noch mit besonderen konstitutio¬
nellen Faktoren rechnen. Außerdem müssen wir aber auch bei diesen
Gedankengängen möglichst zwischen den exogen und endogen entstehen¬
den Hirnschwellungen unterscheiden. An einer exogen, z. B. infektiös oder
toxisch, entstehenden Hirnschwellung kann unter Umständen jeder gesunde
Mensch, anscheinend auch ohne konstitutionelle Faktoren erkranken,
wenn auch naturgemäß die sogleich zu besprechenden konstitutionellen
Momente die Entstehung auch einer exogenen Hirnschwellung und Hirn¬
schwellungspsychose erleichtern werden. Je stärker d ; e causa externa ist,
um so mehr kann ein Gehirn auch ohne konstitutionelle Veranlagung
erkranken. Je geringfügiger die causa externa ist, um so mehr muß man
innere, endogene Faktoren annehmen und auch zu finden suchen. Man
kann dementsprechend die jetzt zu besprechenden konstitutionellen Fak¬
toren in erster Linie bei den Hirnschwellungen im Zusammenhang mit
endogenen Hirnkrankheiten feststellen, und hier in erster Linie bei
Epilepsie und Katatonie.
1. Die relative Mikrozephalie.
Der erste konstitutionelle Faktor, den ich hier erwähnen
möchte, ist die relative Mikrozephalie.
Man versteht hierunter eine Kleinheit des Schädelinnenraumes (bzw.
des Gehirns ohne Schwund und Schwellung), infolge welcher der Schädel-
innenraum (das Gehirn) für das betreffende Individuum zu gering, für ein
kleineres Individuum jedoch noch ausreichend ist, während absolut mikro¬
zephal nur diejenigen Personen sind, welche Schädelinnenräume (Hirne
ohne Schwund und Schwellung) aufweisen, die bei gesunden erwachsenen
Personen überhaupt nicht Vorkommen. Um eine relative Mikrozephalie
nachweisen zu können, dazu braucht man somit
1. d ; e Kenntnis des Schädelinnenraumes (denn man kann nicht die
Hirngewichtszahl bei der Sektion unmittelbar verwenden, muß vielmehr
feststellen, daß das bei der Sektion gefundene Gehirn nicht durch Schwund
oder Schwellung verändert ist) und
2 . die Kenntn : s der Körpergröße der betreffenden Person (denn die re¬
lative Mikrozephalie beruht eben auf einer Relation des [durch Schwund
und Schwellung nicht veränderten] Gehirns zum zugehörigen Körper).
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74
Reichardt,
Früher hatte man, sofern man sich überhaupt mit diesem Probleme
beschäftigte, das Hirngewicht bei der Sektion ohne Kenntnis des Schädel-
innenraumes und das Körpergewicht bei der Sektion verwendet, um das
„relative Hirngewicht“ festzustellen. Auf wie unsicherem Boden man
sich hier aber bewegt, dies habe ich gleichfalls schon 1909 (Nr. 4, S. 60)
an zwei Beispielen gezeigt. Ich habe dementsprechend damals als erster
(ebenda S. 61 ff.) Schädelinnenraum und Körpergröße in Ver¬
bindung gebracht und hiermit alle Krankheitseinwirkungen auf das
Hirngewicht und das Körpergewicht ausgeschaltet. Jedoch habe ich noch
den Bruch des relativen Hirngewichtes von früher beibehalten und eine
bestimmte Grenze gegen die relative Mikrozephalie festzusetzen gesucht
(s. Heft 8 unserer Arbeiten S. 283).
Am Lebenden ist es sehr oft nicht möglich, eine relative Mikrozephalie
mit genügender Sicherheit zu diagnostizieren, wie ich gleichfalls schon
1909 zeigte (Nr. 4, S. 94 ff.). Guter Ernährungszustand, dichtes Haupt¬
haar, große Schädelbas s, dicke Schädeldachknochen täuschen oft genug
einen viel größeren Schädelinnenraum vor, als tatsächlich vorhanden ist.
Die Messung des Kopfumfanges am Lebenden ist trügerisch.
Es gibt viel mehr relative Mikrozephalien, als man nach der Größe des
Kopfumfanges am Lebenden annehmen könnte.
Bei der Frage der Bedeutung der relativen Mikrozephalie in
der Hirnpathologie bin ich von der progressiven Paralyse aus¬
gegangen und hatte schon 1909 ausgerechnet: daß bei ihr in
30—40% unserer Kranken eine relative Mikrozephalie festgestellt
werden kann. Legt man die Riegersche Tabelle als einheitlichen
Maßstab zugrunde, und läßt man die relative Mikrozephalie von
einem Schädelinnenraum an beginnen, der wenigstens 10% unter
dem Durchschnitte liegt, so sind sogar 50% unserer Paralytiker
relativ mikrozephal gewesen.
Ich glaubte, in dieser relativen Mikrozephalie ein konstitu¬
tionelles Moment für diese an sich exogene Himkrankheit er¬
blicken zu dürfen. Professor Rieger hat seinerseits die Ansicht
ausgesprochen: daß die relative Mikrozephalie überhaupt
als Zeichen einer gewissen erhöhten Disposition zu
Hirnkrankheiten, also nicht nur zur progressiven Para¬
lyse zu betrachten sei. Man findet in der Tat gerade auch
bei Himschwellungskranken die relative Mikrozephalie sehr häufig.
Nun ist hier allerdings selbstverständlich der folgende Einwand
zu erheben — und ich habe ihn mir gemacht —: Ist die rela¬
tive Kleinheit des Schädelinnenraums, welche wir als relative
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Hirnschwellung.
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Mikrozephalie bezeichnen, nicht überhaupt, auch bei danemd Hirn-
und Geistesgesunden ein sehr häufiger Zustand, — ein so
häufiger Zustand in der Bevölkerung, daß ihm eine Bedeutung
für die Hirnpathologie überhaupt nicht zukommt? Hierüber sind
noch sehr ausgedehnte weitere Untersuchungen an völlig und
dauernd Geistesgesunden notwendig, unter Berücksichtigung der
Todesart und der terminalen zerebralen Symptome. Bevor solche
ausgedehnte Untersuchungen noch nicht vorliegen, wird man auch
in den Schlußfolgerungen bezüglich der konstitutionellen Wichtig¬
keit der relativen Mikrozephalie zurückhaltend sein müssen.
über die Berechnung der relativen Mikrozephalie ist folgendes zu
sagen: Meine bis 1914 gebrauchte Methode war nicht einfach und auch
nicht anschaulich genug. Namentlich ließen sich die Werte nicht unmittel¬
bar miteinander vergleichen. Alle diese Nachteile werden durch die
Ätegerschen Tabellen (s. unten; vgl. auch Heft 8, S. 354 ff.) beseitigt.
Wenn als ein Haupterfordernis wissenschaftlicher Methoden die möglichste
Einfachheit und Übersichtlichkeit gilt, so wird durch die Äi'egerschen
Tabellen diese Forderung im weitgehendsten Maße erfüllt. Freilich ist
jahrelange intensive Arbeit nötig gewesen, bis diese Einfachheit erreicht
war. Denn die einfachste Lösung eines Problems ist oft genug auch die
schwierigste.
Wir betrachten somit die Körpergröße des Kranken als
maßgebenden Faktor bei der Berechnung der relativen
Mikrozephalie. Die Körpergröße des Kranken ist demnach nicht nur in
der Pathologie des Körpergewichtes und des Stoffwechsels bei Hirnkranken
eine ganz unentbehrliche Zahl, wie ich in meinen beiden Arbeiten 1911 und
1912 über das Verhalten des Körpers bei Hirnkrankheiten dargetan habe
(Heft 6 und 7 unserer Arbeiten). Sondern die Körpergröße des Kranken
ist auch unentbehrlich, um über das Hirngewicht (ohne Schwund und
Schwellung) bzw. über den Schädelinnenraum des Hirnkranken etwas
auszusagen. Wenn man die Größe des Schädelinnenraumes unbedingt
braucht, um über die Größe des Gehirns bei der Sektion (Schwund oder
Schwellung?) Gewißheit zu erlangen, so braucht man nunmehr auch die
Körpergröße des Kranken, um an die Größe des Schädelinnenraumes
(Mikrozephalie?, Makrozephalie?, Hydrozephalie?) einen geeigneten und
einheitlichen Maßstab anlegen zu können. Wie die Körpergröße in wissen¬
schaftlicher und exakter Weise bestimmt werden soll, dies hat Professor
Rieger neuerdings selbst ausgeführt (Heft 9 unserer Arbeiten).
Man legt also die Körpergröße des Kranken der gesam¬
ten physikalischen Hirnuntersuchung und besonders auch
der Untersuchung Über die Größe des Schädelinnenraumes
zugrunde. Früher galt allgemein der Satz — und auch ich habe ihn
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Reichardt,
vertreten —: daß bestimmte Beziehungen zwischen Körpergröße und
Schädelinnenraum nicht ersichtlich sind (so groß sind also die individuellen
Verschiedenheiten der Schädelinnenräume!). Jetzt sagen wir gerade um¬
gekehrt: Die Körpergröße des Kranken ist für die Unter¬
suchung in erster Linie maßgebend. Die Rechnung selbst ist
höchst einfach und beruht auf ähnlichen Grundsätzen wie die Berechnung
der Differenz in Prozenten zwischen Schädelinnenraum und Hirngewicht
(S. 38). Die Gleichung lautet:
Schädelinnenraum bei der Sektion. 100
y =-
durchschnittlicher Schädelinnenraum.
Relative Mikrozephalie ist vorhanden, wenn y =* DO
oder noch weniger ist, d. h. wenn der Schädelinnenraum um wenig¬
stens 10 % kleiner ist als der durchschnittliche Schädelinnenraum für die
betreffende Körpergröße. Ein Mann von 170 cm Größe z. B. sollte einen
Schädelinnenraum von 1630 ccm haben. Hat er bei der Sektion 1550 ccm,
dann ergibt die Berechnung y = 95, d. h. der Schädelinnenraum ist nur
um 5% unter dem Durchschnitt. Eine relative Mikrozephalie ist in diesem
Falle noch nicht anzunehmen. Ist der Schädelinnenraum bei 170 cm
Körpergröße aber nur 1400 ccm groß, dann ist y = 86; der Schädelinnen¬
raum ist um 14% zu klein; eine relative Mikrozephalie ist hier schon vor¬
handen. Derartige Mikrozephalien (bis 25% unter dem DurchschnittI)
finden sich nun auch auffallend häufig zusammen mit endogenen Hirn¬
schwellungen.
Ob die relative Mikrozephalie — namentlich auch in ihren stärkeren
Graden (20% oder mehr unter dem durchschnittlichen Schädelinnenraum
für die Körpergröße) — als ein konstitutioneller Faktor für die Hirnkrank¬
heiten zu betrachten ist, dies bedarf also noch weiterer Untersuchungen.
Jedenfalls ist aber die relative Mikrozephalie, sogar in stärkerer Ausbil¬
dung — wenigstens bei den Kranken der psychiatrischen Institute — nach
den Erfahrungen der Würzburger psychiatrischen Klinik ein sehr häufiger
Befund. Mit Sicherheit erkannt wird sie nur durch die Bestimmung des
Schädelinnenraumes bei der Sektion, unter Berücksichtigung der Körper¬
größe und des durchschnittlichen Schädelinnenraumes. Ohne Kenntnis
der Schädelinnenraumszahl wird, wie schon die einleitenden Bemerkungen
und das Beispiel auf S. 36 darlegten, eine niedrige Hirngewichtszahl zur
Fehldiagnose auf „Hirnatrophie“ führen. Mikrozephalie und Hirnschwund
können sich kombinieren, gewissermaßen addieren und eine viel stärkere
Hirnatrophie Vortäuschen, als tatsächlich vorliegt. Andrerseits heben sich
Mikrozephalie und Hirnschwellung auf, wenn man nur das Hirngewicht
allein berücksichtigt; dann bleiben bei der bloßen Hirnwägung ebensowohl
die Mikrozephalie wie die Hirnschwellung unentdeckt (wie dies ja bisher
auch außerhalb der Würzburger Klinik im allgemeinen stets der Fall war).
Daß man angesichts aller dieser Möglichkeiten und Schwierigkeiten,
und besonders auch angesichts der Häufigkeit einer relativen Mikrozephalie,
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Himschwellung.
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mit durchschnittlichen Zahlen von Hirngewichten, ohne Kenntnis der zu¬
gehörigen Schadelinnenräume, in der Hirnpathologie nichts anfangen kann,
dies liegt so sehr auf der Hand, daß es völlig unverständlich bleibt, wie
immer wieder gerade bei Paralytikern (dann aber auch bei Hirngeschwül¬
sten, Katatonien usw.) mit bloßen Hirngewichtszahlen oder sogar mit
Durchschnittszahlen gearbeitet wird. Ein hochangesehener Autor, der
das Krankheitsbild der „Kriegsparalyse“ aufstellen wollte, hat noch im
Jahre 1916 mit Durchschnittszahlen von Hirngewichten Paralytischer
gearbeitet, ohne im geringsten das ungemein häufige Vorkommen der
relativen Mikrozephalie gerade bei progressiver Paralyse zu berücksichtigen.
Er setzte einfach: niedriges Hirngewicht = Hirnatrophie. Ein anderer
Autor (dessen Arbeit über Hirngewicht und Schädelinnenraum bei psychi¬
schen Krankheiten auch sonst ein Musterbeispiel dafür darstellt, wie eine
solche Arbeit nicht sein soll) meint sogar: die relative Mikrozephalie
meiner Paralytiker sei überhaupt nicht bewiesen.
Ich habe schon seit vielen Jahren darauf aufmerksam gemacht,
daß die makroskopische Diagnose auf Hirnatrophie ohne
Bestimmung des zugehörigen Schädelinnenraumes überhaupt
viel zu unsicher und oft direkt falsch ist. Noch neuerdings
(Heft 8 unserer Arbeiten S. 639) konnte ich nachweisen, daß eine makro¬
skopische Stirnhirnatrophie bei der progressiven Paralyse meist gar nicht
bewiesen ist. Es war mir eine große Genugtuung, daß nunmehr auch von
anderer Seite ähnliche Anschauungen ausgesprochen worden sind. Wil-
manns und Ranke schreiben bezüglich der makroskopischen Diagnose auf
Hirnatrophie wörtlich (Fall Dahl, Beiträge von Nissl Band I, Heft 3. Berlin,
Springer, 1915, S. 36):
„Zur Frage des makroskopischen Nachweises einer Großhirn¬
rindenatrophie ist folgendes zu bemerken: Wenn dieselbe nicht auf den
ersten Blick als solche zu erkennen ist (Verschmälerung der. Rinde etwa
um die Hälfte, hochgradiger Hydrocephalus externus und internus), oder
wenn das Hirngewicht nicht stark reduziert ist (Vergleich zwischen dem
Hirngewichte der Hemisphären und der anderen Hirnpartien), so glauben
wir nach unseren Erfahrungen mit dem Urteil einer Atrophie sehr vor¬
sichtig sein zu sollen. Denn es hat sich wiederholt gezeigt, daß bei einer
makroskopisch angenommenen Atrophie die histologischen Charaktere
einer solchen nicht gefunden wurden. Besondere Berücksichtigung ver¬
dient die Tatsache, daß normalerweise Windungs- und Furchenbreite
an den einzelnen Stellen des Großhirns sehr verschieden sind. Speziell
sind manche medialen und basalen Teile des Kortex ausgezeichnet durch
relativ schmale Rindenbreite und weite Furchen. Dazu kommt noch, daß
die makroskopische Abgrenzung der Rinde gegen das Mark oft große
Schwierigkeiten bereitet (verschiedene Blutfüllung der Gefäße, Wasser¬
gehalt von Rinde und Mark).“
Aber selbst die einschränkenden Bedingungen dieser Autoren bei
der Diagnose auf Hirnatrophie sind nicht ganz zutreffend: Ein hochgradiger
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Reichardt,
Hydrocephalus externus oder internus kann angeboren sein (auch ohne
charakteristische Kopfform), oder es kann ein aktiver (Hirndruck erzeugen¬
der) Hydrozephalus ohne Hirnschwund vorliegen; die starke Reduktion
des Hirngewichtes kann nur eine scheinbare und Folge von relativer Mi¬
krozephalie sein; der Vergleich des Gewichtes der Hemisphären mit dem¬
jenigen der andern Hirnpartien täuscht, da ein Hirnschwund bald ganz
harmonisch in allen Hirnteilen vor sich geht, bald aber auch z. B. das Klein¬
hirn stärker oder weniger stark, auch isoliert oder überhaupt nicht befällt,
wie ich dies alles schon früher bewiesen habe. Es bleibt gar nichts ande¬
res übrig als entweder auf die makroskopische Diagnose auf Hirn¬
atrophie im wesentlichen zu verzichten oder aber den Schädelinnen-
raum zu messen.
2. Die Osteosklerose des Schädeldaches.
Das zweite, möglicherweise konstitutionelle Moment, welches
sich ans der physikalischen Hirnnntersuchung ergibt, ist das auf¬
fallend hohe spezifische Gewicht des Schädel¬
daches bei zahlreichen Himschwellungen. Ich bezeichne diesen
Zustand des hohen spezifischen Gewichtes vorläufig kurz als
„Osteosklerose“, möchte aber betonen, daß ein derartiges hohes
spezifisches Gewicht des Knochens auf zweierlei Weise zustande
kommen kann: 1. durch ein besonders hohes Gewicht der Knochen¬
substanz als solcher, bei normalen Hohlräumen des Knochens
(Eburnisation); und 2. durch Verengerung der Knoohenhohlräume
selbst und Verminderung der organischen Substanz (Sklerosierung
im engeren Sinne). Es handelt sich also hier nicht stets um
einheitliche Zustände oder Vorgänge, so daß noch weitere Unter¬
suchungen, auch histologischer Art, über die Beschaffenheit des
Knochens notwendig sind. Man findet das auffallend hohe spezi¬
fische Gewicht des Schädeldachknochens, außer beiHimschwellungen,
sehr oft auch bei akuten katatonischen Symptomenkomplexen
(welche zu den Himschwellungen eine innere Verwandtschaft
haben können), während im weiteren Verlauf der Katatonie oder
Dementia praecox das spezifische Gewicht des Schädeldaches
außerordentlich niedrig werden, d. h. eine Osteoporose eintreten
kann.
Normalerweise beträgt das spezifische Gewicht des Schädel¬
daches in frischem Zustande (von allen anhängenden'Weichteilen,
befreit) gegen 1700. Bei zahlreichen Himschwellungen haben wir
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HimachweUung.
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aber Zahlen Aber 1800, ja bis 1940 (auch bei katatonischer
Paralyse) gefunden. Die osteosklerotischen Schädeldächer sind
ferner oft auffallend dünn und erscheinen daher als absolut leicht,
so daß das hohe spezifische Gewicht des Knochens erst bei der
systematischen Untersuchung mit Hilfe der Wage zutage tritt.
Im Gegensatz hierzu sind die eigentlichen voluminösen Schädel¬
dächer spezifisch nicht schwer, sogar spezifisch leicht; sie er¬
scheinen nur infolge ihrer Dicke absolut schwer.
Auch bei dem hohen spezifischen Gewicht des Schädeldaches
kann es sich um eine reine individuelle (konstitutionelle) Anomalie
handeln, welche möglicherweise nicht ohne Bedeutung für die
Himfunktionen ist. Jedoch sind auch noch andere Erklärungs¬
versuche für diese Osteosklerose möglich. Vertreter der inner¬
sekretorischen Richtung in der Psychiatrie werden vielleicht
geneigt sein, in der Osteosklerose das Resultat einer Störung der
inneren Sekretion zu erblicken. Die Resultate der physikalischen
Himuntersuchung haben also auch für die Lehre der inneren
Sekretion Interesse. Auch die Möglichkeit trophischer Beein¬
flussung des Schädelknochens im Sinne einer Sklerosierung er¬
scheint nicht ganz ausgeschlossen (ähnlich wie bei der Tabes ihr
Gegenstück, eine Osteoporose des Schädeldaches, eintreten kann).
Man könnte endlich sogar daran denken, daß ein chronisch
geschwollenes Gehirn einen dauernden Reiz auf das Schädeldach
ausübt, infolge wovon es sklerosiert. Dann würde die Ursache
der Osteosklerose in der Hirn Schwellung selbst liegen. Wie dem
auch sei, so besteht zweifellos bis auf weiteres der Eindruck,
daß die Beschaffenheit der Schädeldachknochen nicht ganz ohne
innere Beziehung zu bestimmten Hirnkrankheiten ist.
Das eine Schädeldach hat also vielleicht aus angeborener Anlage ein
sehr hohes spezifisches Gewicht bzw. ist sklerotisch. Das andere ist
vielleicht erst so geworden.
Ferner habe ich oben ausdrücklich nur von akuten katatonischen
Symptomenkomplexen gesprochen. Bei länger dauernder Dementia
praecox kann im Gegenteil eine hochgradige Osteoporose auch des
Schädeldaches auftreten. Man hat vor allem diese meist universelle Osteo¬
porose oder Osteomalazie als Beweis für den innersekretorischen Ursprung
der Dementia praecox verwendet, muß jedoch hierbei berücksichtigen,
daß die gleiche Osteoporose auch bei reiner Tabes oder bei Syringomyelie,
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Reichsrdt,
d. h. bei primären Erkrankungen des Zentralnervensystems, Vorkommen
kann.
Wenn ein Schädeldach sich also im Verlaufe einer Hirnkrankheit
tatsächlich von der Osteosklerose zur Osteoporose umwandeln kann, dann
wird man auch in bestimmten Krankheitsstadien ein normales spezifisches
Gewicht des Knochens zu erwarten haben, lediglich als Produkt der Um¬
wandlung. Ein normales spezifisches Gewicht des Knochens würde somit
nicht stets die Unversehrtheit des Knochens oder das Fehlen eines Krank¬
heitsprozesses daselbst beweisen.
Die Nähte der sklerotischen Schädeldächer sind meist offen — wenig¬
stens zum großen Teil (Lambdanaht) — und stark gezackt. Die Naht¬
verknöcherungen finden sich demgegenüber vor allem zusammen mit einer
Neigung des Schädeldaches zur Osteoporose. Doch kommen hier Aus¬
nahmen vor. Auch das abnorm feste Verwachsensein der Dura mit dem
Schädeldach findet sich besonders bei spezifisch leichten Schädeldächern,
während bei osteosklerotischen Schädeln die Dura sich meist auffallend
leicht ablösen läßt.
Wenn man neuerdings am Lebenden der Untersuchung des Schädel¬
daches (mittels Röntgenstrahlen) ein erhöhtes Interesse entgegengebracht
hat, so glaube ich, daß die von mir beschriebene Untersuchung des Schädel¬
daches an der Leiche (Volumen, spezifisches Gewicht) gleichfalls wichtige
Ergebnisse bringen wird. Jedenfalls ist diese Untersuchung des Schädel¬
daches an der Leiche mit sehr geringem Zeitverlust durchzuführen. Näheres
hierüber siehe u. a. Heft 8 unserer Arbeiten S. 70 ff. Die hierzu notwendige
Wage ist abgebildet Heft 1, S. 29 und 30 sowie Heft 4, S. 5 und 6.
3. Die chronische Neigung des Hirnes znr Schwellang,
erkennbar ans dem inneren Windongsrelief des Schädel¬
daches.
Endlich ist oft genug innen, am Schädeldach selbst, eine
chronische Neigung des Gehirnes zur Schwellung erkennbar, auch
bei Personen, welche an akuter Hirnschwellung gestorben zu sein
scheinen. Dies zeigt sich am besten am Gip sausguß des
Schädeldaches. Ich spreche hier von einem inneren Windungs¬
relief des Schädels. Je mehr das Hirn in längerdauernder
Weise eine gewisse Vergrößerungs- oder Schwellungstendenz
besitzt, je mehr es längere Zeit hindurch gegen das Schädeldach
drückt, um so mehr werden sich auch die Hirnwindungen am
Schädelinnem einprägen, gewissermaßen abbilden. Je weniger
das Hirn zur Schwellung neigt, je mehr es — z. B. auch durch
eine Hirnschwundkrankheit oder im höheren Lebensalter — zur
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Hirnschweilang.
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Rnhe kommt oder sich verkleinert, oder auch wenn zwischen
Schädel und Hirn ein angeborener (in früher Jugend entstandener)
Hydrocephalus externus eingeschaltet ist, um so weniger werden
sich an der Innenfläche des Schädeldaches die Windungseindrücke
des Gehirnes vorfinden.
Das innere Windungsrelief findet sich zunächst besonders stark bei
erwachsenen Tieren. Es ist hier so stark, daß man statt des Gips¬
ausgusses des Schädels ein versteinertes Gehirn vor sich zu haben glaubt
und daß man annehmen muß: das Gehirn dieser Tiere ist beson¬
ders stark in dem Schädel eingepreßt; die Differenz zwischen
Schädelinnenraum und Hirnvolumen ist beim erwachsenen Tier eine
bedeutend geringere als beim Menschen (wie dies ja auch die sonstigen
Messungen und Hirnwägungen beim Tier ergeben haben); das Tier hat
offenbar schon unter normalen Verhältnissen ein dauernd stark,,geschwolle¬
nes“ Gehirn (was bei Tierversuchen besonders zu beachten ist). Andrerseits
beweisen diese Erfahrungen am Tiere, daß auch ein erhebliches Ein¬
gepreßtsein des Gehirns im Schädel mit „Gesundheit“ wohl verträglich
sei n kann. Wahrscheinlich hat aber das Säugetier eine andere Hirnmaterie
als der Mensch (größere Quellungsfähigkeit in Formollösung, s. obenS. 47;
weniger Liquor), so daß man nicht unmittelbar vom Tierhirn auf das
menschliche Hirn schließen darf. Auch die Tatsache, daß es meines Wissens
beim Tiere noch nicht gelungen ist, experimentell eine echte Stauungs¬
papille zu erzeugen (S. 60), ist in diesem Zusammenhänge zu erwähnen.
Das Verfahren, Schädel mit Gips auszugießen, wurde von Professor
Rieger zuerst an Tieren durchgeführt, um durch Bestimmen des Volumens
des Gipsblockes in möglichst genauer Weise die Größe des Schädelinnen-
raumes beim Tier messen zu können. Dieses Verfahren hat sich nicht be¬
währt. Der Gips füllt die kleinen Hohlräume nicht völlig aus; er ist zum
Teil schwer aus dem Schädel herauszulösen und zeigt manchmal eine
Neigung zum Abbröckeln, so daß sich für derartige Versuche ein anderes
Material (z. B. Glaserkitt) mehr eignen dürfte. Das Ausgießen der Tier¬
schädel mit Gips hatte aber den großen Erfolg, daß man hierdurch auf das
Vorhandensein eines starken Windungsreliefs im Innern des Tierschädel¬
daches aufmerksam wurde. Professor Rieger hat daraufhin auch mensch¬
liche Schädel mit Gips ausgießen lassen.
Bei den Gipsausgüssen menschlicher Schädel mfissen wir zunächst
das Lebensalter berücksichtigen. Es ist überwiegend wahrscheinlich,
daß das kindliche Gehirn nicht nur quellungsfähiger ist als das erwachsene,
sondern daß es auch, schon normalerweise, ständig etwas geschwollen ist,
wie ich dies schon 1906 vermutet habe (Heft 1 , S. 40; s. auch oben S. 72).
In der Klinik stehen mir jedoch sehr wenige Gipsausgüsse von kindlichen
Schädeln zur Verfügung, wie überhaupt Kinder in den psychiatrischen
Instituten sehr seltene Gäste sind. Es wäre eine sehr dankenswerte Auf-
ZaitMhrilt ttr PayaUatri* LXXV. 1, 6
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Reichardt,
gäbe für hirnwissenschaftlich interessierte Kinderärzte, das Verhalten von
Schädelinnenraum, Hirnvolumen, innerem Block, Windungsrelief an einem
größeren Material zu studieren. Denn bis jetzt weiß man über diese, das
Hirnwachstum betreffenden, hirnphysiologischen Fragen noch gar nichts.
Wenn man z. B.' gern von dem „psychischen Infantilismus“ Erwachsener
spricht, so liegt es nahe, sich zu fragen: ob nicht auch am Gehirn selbst
infantile Erscheinungen oder leichte Entwicklungs- oder Wachstums¬
hemmungen, ein Stehenbleiben der Hirnentwicklung auf kindlicher oder
jugendlicher Stufe bei solchen Personen erkennbar sind?
Das Maximum "von Windungsrelief eines Schädels beim Menschen,
welches wir überhaupt beobachtet haben, stammt von einem 7jährigen
Mädchen, welches an akuter infektiöser Chorea gestorben ist und außerdem
die Eigentümlichkeit eines um etwa 20% zu großen Schädelinnenraumes
ohne, Hydrozephalus hatte (also Makrozephalie und Makroenzephalie).
Das Hirn war außerdem geschwollen (nur 4% Differenz). Das spezifische
Gewicht des Schädeldaches dieses Kindes entspricht mit 1708 der Durch¬
schnittszahl des spezifischen Gewichtes Erwachsener 1 ). Das Vorhandensein
eines starken inneren Reliefs legt die Annahme nahe, daß dieses Gehirn
in dauernder Weise stark geschwollen gewesen ist. Ein anderes, 2%-
jähriges idiotisches Kind hatte demgegenüber keine Spur von Windungs¬
relief.
Jedenfalls wird es eine der nächsten und wichtigsten Aufgaben sein
müssen, über das Wachstum des kindlichen Gehirns, über seine Quellungs¬
fähigkeit und ob es schon normalerweise im Schädel dauernd etwas ge¬
schwollen ist, Untersuchungen anzustellen. Hierzu eignet sich gerade auch
das Studium des „inneren Blockes“ (d. h. des Gipsausgusses des Schädel¬
daches), während die zu geringe Differenz zwischen Schädelinnenraum und
Hirngewicht nur die Hirnschwcllung anzeigt, welche auch terminal erst ent¬
standen sein kann. Offenbar liegen die Gründe für das verschiedene Hirn¬
wachstum, wenn keine schwere exogene Schädigung hinzutritt, im Hirn
selbst. Immer wieder liest man Anschauungen, daß die Mikrozephalie
Folge vorzeitiger Nahtverknöcherung sei, die Makrozephalie Folge zu
nachgiebiger Schädelknochen. Diese Annahmen sind aber wohl sicher
unzutreffend. Der kindliche Schädel ist, wie auch Anton (Nr. 16, S. 180)
hervorhebt, sehr erweiterungsfähig. Bleibt der Schädelinnenraum trotz¬
dem klein (Mikrozephalie), so ist die Ursache davon im Gehirn zu suchen;
infolge des mehr oder weniger fehlenden Hirn Wachstums hat die Ver¬
anlassung für den Schädel gefehlt, sich zu vergrößern. Andererseits kommt
es nur ausnahmsweise zur echten Makrozephalie und Makroenzephalie,
trotzdem der kindliche Schädel an sich sehr erweiterungsfähig ist. Das
x ) Auch über das spezifische Gewicht der Schädeldächer von Kindern
ist noch gar nichts bekannt. Bedeutet die obige Zahl von 1708 bei einem
7jährigen Kinde bereits eine relative Osteosklerose?
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UNIVERSITY OF MICHiGAN
Himschwellung.
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wirklich gesunde Gehirn hält zur rechten Zeit im Wachstum inne und
gibt hierdurch auch dem Schädel keine Veranlassung mehr, sich weiter zu
vergrößern.
Beim erwachsenen Menschen fehlt ein stärkeres Windungs-
relief, wie gesagt, um so mehr, je weniger vom Gehirn aus ein
Druck gegen den Schädel ausgeübt wird oder je mehr ein Hydro-
cephalus extemus zwischen Hirn und Dura eingelagert ist (Demon¬
stration von Gipsausgüssen einzelner Schädel Paralytischer, Seniler
usw., welche ein Windungsrelief mehr oder weniger vermissen
lassen; ein Paralytikerschädel wies lediglich dem Stimhirn ent¬
sprechend etwas Windungsrelief auf, so daß man hieraus gleich¬
falls schließen konnte, daß dieser Paralytiker keine stärkere Stirn¬
hirnatrophie hatte, s. oben S. 77). Bemerkenswert ist bei den
Schädeln ohne chronische Hirnschwellung die häufige starke Aus¬
bildung der Pacchionischen Gruben, welche wohl auf eine Ver¬
mehrung der Liquorzirkulation zu beziehen ist.
Dieser Gruppe von Schädeln ohne deutliches bezw. starkes
Windungsrelief stehen nun Schädel gegenüber, welche ein recht
ausgeprägtes inneres Windungsrelief aufweisen. Und
das sind vor allem die Schädel, deren Besitzer an Hirn-
schwellung gestorben sind. Zum Teil mag, wie bei länger
dauernden katatonischen Zuständen, die Hirnschwellung selbst
längere Zeit bestanden und das Windungsrelief am Schädel erst
geschaffen haben. Zum Teil aber findet sich das Windungsrelief
auch innen am Schädel bei Personen, welche an ganz akuter
Hirnschwellung gestorben zu sein scheinen; und dann darf man
die Vermutung aussprechen, daß solche Personen vielleicht
dauernd etwas geschwollene Gehirne haben. Während
beim ganz gesunden Menschen die Differenz zwischen Schädel-
innenraum und Hirn etwa 10% beträgt (s. oben S. 38 ff.), wobei
das Gehirn genügend Spielraum zur Ausdehnung hat, würden
diese Personen vielleicht dauernd eine Differenzzahl von 8 %, ja
möglicherweise von 6% nnd noch weniger haben. Ihr Gehirn
würde dann dauernd etwas „geschwollen“ sein; und vielleicht dürfte
man sogar einen solchen Zustand von dauernder relativer
Schwellung (wie er beim Kinde noch normal ist) gewissermaßen
als infantiles Symptom auffassen.
6 *
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Reichardt,
Man kann wahrscheinlich auch bei 6% (und noch weniger?)
Differenz zwischen Schädelinnenraum und Hirn noch gut leben.
Vielleicht aber sind diese ständig etwas geschwollenen Gehirne
mehr gefährdet. Vielleicht bewirkt die ständige Hirnschwellung
weitere Hirnveränderungen, sowie eine Neigung zu allerhand krank¬
haften Hirnvorgängen. Habituelles Kopfweh, Migräne, Disposition
zu Epilepsie und Katatonie, bezw. zu epileptiformen und katatoni-
formen Zuständen, dann aber auch erhöhte Neigung zu Infektions¬
delirien usw. könnten die Folge der chronischen Himschwellung
oder der Neigung hiezu sein, wie überhaupt eine exogene
Schädlichkeit oder endogene Krankheitsursache gerade solchen
Gehirnen, die schon verhältnismäßig dauernd etwas geschwollen
sind, bedeutend mehr schaden würde als Personen mit einem
dauernd normalen Verhältnis zwischen Schädelinnenraum und
Hirnvolumen. Ein gewisses inneres Relief ist möglicherweise auch
beim Erwachsenen noch physiologisch. Aber dann kommt eine
Grenze, von wo an es zum mindesten auffallend wird. Das
dauernd etwas geschwollene Gehirn ist wahrscheinlich in erhöhtem
Maße gefährdet oder zur Erkrankung disponiert, ohne daß man
hiermit die Ansicht auszusprechen braucht, daß solche Himanlagen
unter allen Umständen auch zur endogenen Geisteskrankheit führen
müßten. Oft findet sich die Neigung zur chronischen Him¬
schwellung zusammen mit der relativen Mikrozephalie und der
Osteosklerose des Schädeldaches.
Auffallend war endlich bei diesen Gipsausgüssen von Schädeln mit
starkem inneren Relief (Neigung zur chronischen Hirnschwellung) das
geringe Ausgeprägtsein der Pacchionischen Gruben. Wir haben schon
oben gesehen, daß Hirnschwellungen oft mit Liquorarmut einher gehen,
und dürfen uns vielleicht vorstellen, daß auch bei der chronischen N eigung
zur Hirnschwellung die Liquorströmung eine geringere zu sein pflegt als
bei den Hirnen mit Neigung zur Hirnverkleinerung. Liquorströmung und
Hirnvolumen stehen also nicht selten in alternierendem Verhalten, d. h.
im Gegensatz. Eine Ausnahme bilden nur gewisse exogene Krankheiten,
wie die Urämie, welche ebensowohl zur Hirnschwellung als auch zur ver¬
mehrten Liquorströmung disponieren, und bei welchen sich dann ebenso
ein inneres Relief wie auch starke Pacchionische Gruben und (durch ver¬
mehrten Liquordruck) erweiterte Ventrikel finden können.
Auch das Rätsel der Nahtverknöcherungen wird hierdurch vielleicht
einem Verständnis nähergebracht (s. auch Hugo Herbert, Über die Ur-
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HirnschweUung.
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Sachen der Naht Verknöcherung, Inaug.-Diss., Würzburg 1914). Es wurde
bereits oben erwähnt, daß bei hohem spezifischen Gewicht des Knochens
die Nähte oft noch auffallend offen sind. Das hohe spezifische Gewicht des
Knochens findet sich oft bei der Neigung zur chronischen Hirnschwellung.
Vielleicht dürfen wir, wenigstens für einen Teil der Nahtverhältnisse am
Schädel, annehmen, daß die Nähte offen bleiben, wenn von innen her
dauernd gegen den Schädel ein Druck stattfindet, — sich aber schließen,
wenn kein Druck mehr stattfindet, bzw. da schließen, wo er nicht mehr
stat'tfindet ( Rieger ). Dieser Druck kann durch eine chronische Hirn¬
schwellung verursacht worden sein, aber auch durch sonstige, und zwar
rein mechanische, Momente. Eine offene Naht braucht also nicht immer
ein Beweis dafür zu sein, daß ein krankhafter Druck im Schädelinnern
an dieser Stelle stattgefunden hat.
Diese drei endogenen Faktoren der relativen Mikrozephalie,
Osteosklerose und chronischen Neigung zur HirnschweUung können
bei dem gleichen Kranken zusammen Vorkommen; oder es ist der
eine oder der andere Faktor besonders ausgeprägt.
Ich sage also nicht, daß Personen mit diesen konstitutioneUen
Erscheinungen der relativen Mikrozephalie, der Osteosklerose und
der chronischen Neigung zur HirnschweUung nun unter aUen Um¬
ständen hirnkrank werden müßten. Aber diese Faktoren bilden
vieUeicht Dispositionen zu Erkrankungen, namentUch zu solchen,
die in das Gebiet der HirnschweUungen gehören oder mit Him-
schweUung einhergehen. ZweifeUos zeigen aber die obigen Er¬
örterungen, daß eine eingehende Untersuchung auch des Schädels,
namentUch mit der physikalischen Untersuchungsmethode, sehr
interessante Tatsachen feststeUen kann, welche vieUeicht auch für
die Hirnpathologie von Bedeutung sind.
IT. Die Methodik der physikalischen Hirnuntersuchung.
Eine zusammenfassende DarsteUung der physikalischen Him-
untersuchung, wie sie in der Würzburger Psychiatrischen Klinik
im Laufe der letzten 15 Jahre ausgearbeitet und ausgebaut worden
ist, soU später erfolgen, wenn hiefür ein Bedürfnis vorUegt. Die
Einzelheiten dieser Untersuchungsmethoden sind aber bereits in
den bisher' veröffentUchten Abhandlungen aus der Klinik (Nr. 1—13,
26) in genügender Ausführlichkeit beschrieben worden, so daß
jeder, der sich hiemit näher beschäftigen wiU, hinreichenden Auf¬
schluß findet. Ich begnüge mich an dieser SteUe mit einer kurzen
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Reichardt,
Aufzählung. Die physikalische Himuntersuchung besteht zurzeit
aus den folgenden Hauptbestandteilen:
1. Die Bestimmung der Körpergröße (vgl. Abhandlung von
Professor Rieger, Arbeiten aus der Würzburger Klinik Heft 9).
2. Die wöchentliche, wenn nötig tägliche Bestimmung des
Körpergewichtes, nach den im Heft 6—9 (namentlich Heft 7
S. 438 ff.) angegebenen Anleitungen und Gesichtspunkten. Nur
wird man stets statt der früher angewendeten sogenannten Drey-
/wsschen Tabelle die i&e^ersche Tabelle zugrunde legen. Die
exakte tägliche Wägung kann mit einer Bestimmung der Menge
und Kalorienanzahl der genossenen Speisen und Getränke, mit einer
Bestimmung der Menge der Ausscheidungen (Urinuntersuchung,
spezifisches Gewicht desselben usw.) verbunden werden und ersetzt
daün in sehr guter Weise den komplizierteren Stoffwechselversuch.
3. Die genaue Beobachtung der terminalen klinischen Er¬
scheinungen und der Todesart, ebensowohl auf körperlichem
(tägliche Körpergewichtsbestimmung bei akuten Krankheitszu¬
ständen, Körpertemperatur) wie auf neurologischem und psychi¬
schem Gebiete. Diese terminalen Erscheinungen (Heft 6 unserer
Arbeiten) werden vom wissenschaftlichen Standpunkte aus sehr
oft noch viel zu wenig beobachtet und studiert. Man muß sie
aber auf das eingehendste berücksichtigen, da zusammen mit ihnen
auch das Gehirn noch kurz vor dem Tode sehr erhebliche und
wichtige Veränderungen eingehen kann.
4. Die Bestimmung des Schädelinnenraums an der Leiche,
nach meiner Schilderung in NauwercTca Sektionstechnik (Nr. 6).
Die Zahl des Schädelinnenraums (ohne Dura) wird in Be¬
ziehung gebraoht
a) mit der Körpergröße des Kranken und dem durch¬
schnittlichen Schädelinnenraum hierzu nach der Wiedersehen Tabelle
(liegt Mikrozephalie vor? Makrozephalie oder Hydrozephalie?);
b) mit dem Hirngewicht bei der Sektion (Hirnschwellung?
Hirnschwund?);
c) mit Hirnvolumen, Duravolumen und der bei der
Sektion, sowie bis zur ersten Hirnwägung aufgefangenen Flüssig¬
keit (Liquor bezw. seröses Exsudat oder Transsudat plus Blut).
Hieraus ergibt sich u. a. die Beantwortung der Frage: liegt Hirn-
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Hirnschwellung.
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druck vor? durch vorwiegend feste Substanz (große Geschwulst,
Hirnschwellung)? durch Liquorüberdruck (Unterschied von raum¬
ausfüllendem und hirndruckerzeugendem oder himdrucksteigerndem
Liquor)? Untersuchung des spezifischen Gewichtes der auf¬
gefangenen Flüssigkeit (viel Blut — hohes spezifisches Gewicht,
1030 oder mehr; viel Liquor — niedriges spezifisches Gewicht bis
herab zu 1005). Die Bestimmung des spezifischen Gewichtes der
aufgefangenen Flüssigkeit ist aber für die meisten Fälle entbehrlich.
5. Die Wägung des in seinen Schenkeln abgetrennten Klein¬
hirnes und das Ausrechnen der Beziehungen des gefundenen
Kleinhirngewichtes zum zugehörigen Großhirngewicht, sowie zu
dem, aus der Schädelinnenraumszahl berechneten Großhirngewicht
(Heft 8 S. 268 ff.); Vergleich der bei der Sektion gefundenen
Kleinhirngewichtszahl mit der durchschnittlichen Kleinhimgewichts-
zahl für die Körpergröße des Kranken nach der Wiedersehen
Tabelle (Kleinhirnschwund? Kleinhirnschwellung? bezw. von jeher
zu kleine oder zu große Kleinhirnanlage?).
6. Die Bestimmung des Volumens und des spezifischen Ge¬
wichtes des von allen Weichteilen sorgfältig befreiten und (vor
der Gewichtsbestimmung in der Luft abgetrockneten) Schädel¬
daches in frischem Zustand (Abbildung der Wage im Heft 1 S. 29
und 30). Man kann das Schädeldach auch für eingehendere
Untersuchungen zurückbehalten (d. h: vor der Beerdigung durch ein
anderes ersetzen), mazerieren lassen, mit Gips ausgießen lassen
und sonstige Untersuchungen an ihm anstellen.
7. Die Bestimmung des spezifischen Gewichtes von Großhim-
und Kleinhirnstücken (eventuell graue und weiße Substanz getrennt)
in besonders konstruierten, mit Aräometer und Glyzerinlösung
von bestimmtem spezifischem Gewicht versehenen Gefäßen.
8. Aufhängen des in Formol zu konservierenden Gehirnes
an der Arteria basilaris. Die 10% Formollösung muß anfangs
täglich gewechselt werden. Nach 2—3 Tagen können die ersten
2—3 Frontalschnitte angelegt werden. Bestimmen der Gewichts¬
zunahme der konservierten Hirnteile in der 10% Formollösung
(von ihnen muß das Anfangsgewicht in frischem Zustande, d. h.
vor Verbringung in die Formollösung, nochmals bestimmt worden
sein, falls Stücke für die histologische Untersuchung dem Gehirn
entnommen worden sind).
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Reichardt,
9. Anlegen der Frontalschnitte.
Diese Unterabteilungen der physikalischen Hirnuntersuchung
können einerseits noch sehr vermehrt und erweitert werden
(vgl. z. B. die Beschreibung unserer gegenwärtigen Sektionsmethode
des Gehirnes zu topographischen und ähnlichen Zwecken, welche
ich in der Dissertation von Frl. Dr. Gertrud Wolz, Würzburg 1918,
kurz habe veröffentlichen lassen); andererseits sind auch die
einzelnen Bestandteile derselben recht unabhängig voneinander.
Wer sich z. B. mit dem spezifischen Gewicht des Gehirnes und
seiner Teile, oder der Liquorflüssigkeit, mit der Formolquellung
nicht abzugeben wünscht, der kann diese Unterabteilungen ohne
weiteres weglassen.
Notwendig sind vor allem für die Hirnsektion die soeben
unter Nr. 1, 3, 4, 6 aufgezählten Bestandteile. Der Anfänger tut
gut daran, sich zunächst mit dem Aufsatze von Professor Bieger
über die Meßstange im Heft 9 unserer Arbeiten aus der Klinik
und mit meiner Methode der Schädelinnenraumsbestimmung in
der NauwerckBchen Sektionstechnik (Nr. 6) vertraut zu machen.
Alles weitere ergibt sich aus der praktischen Anwendung der
Methode eigentlich von selbst (weitere Einzelheiten siehe u. a.
Heft 8 unserer Arbeiten S. 259 ff.). Die physikalische Hirnunter¬
suchung ist nicht kompliziert; sie erscheint es nur demjenigen,
der sie nicht selbst praktisch versucht.
Wird aber die Methode angewendet, dann muß sie mit äußerster
Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit angewendet werden. Ist
z. B. die Schädelinnenraumszahl bei der Sektion falsch, dann ist der Fehler
nie mehr gut zu machen, sobald die Leiche beerdigt ist. Und alle Schlu߬
folgerungen, welche sich aus diesem Grundpfeiler der physikalischen Hirn¬
untersuchung ergeben, sind gleichfalls falsch. Wie Fehler möglichst ver¬
mieden werden, dies habe ich schon früher eingehend besprochen (Heft 8,
S. 275 fl.). Auch ist auf völlige Einheitlichkeit in der Befolgung der einzel¬
nen Vorschriften Wert zu legen (ähnlich wie bei der histologischen Unter¬
suchung), damit die Resultate vergleichbar sind. Es soll nicht jeder junge
Kollege, der eben erst angefangen hat, sich mit dieser Methode zu be¬
schäftigen, sofort auch Verbesserungen einführen wollen. Gewiß mag die
Methode noch sehr verbesserungsfähig sein. Aber wir haben hier selbst
schon vielerlei durchprobiert und sind der Überzeugung, daß Vorschläge
für vermeintliche Verbesserungen, sofern letztere die unmittelbare Ver¬
gleichbarkeit der Resultate beeinträchtigen, erst eingehend geprüft und
allgemein anerkannt werden müssen, bevor sie eingeführt werden dürfen.
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Himschweilung.
89
Über die Notwendigkeit der konsequenten Bestimmung der Körper¬
größe und des Schadelinnenraumes bei Hirnkranken oder auf Hirnkrank¬
heit und zerebrale Todesart Verdächtigen, ferner bei allen plötzlichen und
unerklärlichen Todesfällen (gerichtliche Sektionen!) herrscht bei dem¬
jenigen, der sich überhaupt mit diesem Gegenstände eingehender befaßt
hat und die Fragestellung beherrscht, kein Zweifel. Relative Mikro- und
Makrozephalie, viele Fälle von Hydrozephalie, das Vorhandensein von
Hirnschwellung, Hirnhypertrophie (wahrscheinlich bestehen Übergänge
zwischen gewissen Arten der Hirnschwellung und der Hirnhypertrophie,
wenn man auch im allgemeinen beide Hirnabnormitäten möglichst trennen
muß), Hirndruck, Hirnschwund, Liquorüberdruck können ohne physi¬
kalische Hirnuntersuchung überhaupt nicht nachgewiesen werden. Wie
sehr sich auch der pathologische Anatom ohne physikalische Hirnunter¬
suchung bei bestimmten Fragen in Ungewißheit und Verlegenheit befinden
kann, dies zeigt z. B. die Dissertation Max Jüngster, Würzburg 1912 (Über
die Bedeutung des Mißverhältnisses von Schädelkapazität und Hirn¬
volumen). Vieles von dem, was in dieser Dissertation als Frage aufge¬
worfen oder was bezweifelt worden ist, ist außerdem mit Hilfe der physi¬
kalischen Hirnuntersuchung tatsächlich schon beantwortet und sicher¬
gestellt worden, und wir wären in der Erkenntnis schon ein gutes Stück
weiter, wenn die Methode in allgemeinerer Weise Anwendung gefunden
hätte. Auch viele der Hirnlokalisation gewidmeten Fragen sind bei ihrer
Beantwortung auf die physikalische Hirnuntersuchung angewiesen. Wie
oft stellt es sich heraus, daß bei einer Lokalerkrankung nebenher eine allge*
meine Hirnveränderung vor lag (Hirnschwellung, Hirnschwund) oder wenig*
stens eine viel diffusere Schwellung oder Atrophie des betreffenden, den
Herd beherbergenden Hirnteiles, als man dies zunächst angenommen hatte,
überhaupt gewinnt man an der Hand der Tatsachen, welche die physi¬
kalische Hirnuntersuchung liefert, zahlreiche neue Anschauungen über
das Gehirn im gesunden und kranken Zustande. Die Bestimmung der
Körpergröße am Lebenden und des Schädelinnenraumes an
der Leiche ist eine unerläßliche Grundlage der Hirnforschung.
Ohne diese beiden Zahlen ist eine vollständige wissenschaftliche Hirn¬
untersuchung nicht durchführbar (Nr. 13, S. 573). Entweder man muß
diese Untersuchungen gleichfalls vornehmen oder man muß auf zahlreiche
und vielleicht sehr wichtige hirnphysiologische und hirnpathologische Fest¬
stellungen (relative Mikrozephalie, Hirnschwellung usw.) verzichten. Die
physikalische Hirnuntersuchung will keine andere Hirnuntersuchung
(namentlich auch nicht die mikroskopische) ersetzen oder verdrängen,
sondern sie will die andern Untersuchungsmethoden lediglich ergänzen
und beansprucht nur, neben ihnen angewendet zu werden.
Also keine Durchschnittszahlen von Hirngewichten mehr! Keine
Hirngewichtszahlen ohne Schädelinnenraumszahl (sie sirtd nicht nur
nutzlos, sondern oft irreführend)! Kein fortgesetztes übernehmen früherer
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90
Reiehardt,
Anschauungen, Hypothesen und Theorien (z. B. über den Hirndruck, über
Hirngewicht und Intelligenz) aus der Literatur früherer Jahrzehnte! Viel
zweckmäßiger als alles dieses sind neue Untersuchungen nach einheitlichen
Methoden und Gesichtspunkten. Kein fortgesetztes Wiederholen der Ge¬
wichtszahlen von auffallend schweren Hirnen einiger besonders begabter
Menschen! Die einen dieser Personen waren vielleicht körperlich sehr groß
gewesen; sie hatten normal schwere Gehirne. Die andern sind vielleicht
an terminaler Hirnschwellung gestorben. Die dritten litten vielleicht an
echter Hirnhypertrophie. Bei den vierten wurde vielleicht falsch gewogen,
oder die ausländischen Gewichtszahlen wurden falsch umgerechnet. Die
Hirne der fünften Gruppe hatten vor der Wägung schon mehr oder weniger
lange Zeit in Konservierungsflüssigkeiten gelegen und waren hierdurch
viel zu schwer geworden. — Zweifellos gibt es auch eine echte Hirnhyper¬
trophie und Makrozephalie, zum Teil wohl auch im Zusammenhang mit
Störungen im Gebiete der Drüsen mit innerer Sekretion. Aber dieses
alles muß in wirklich exakter Weise erst eingehend unter¬
sucht und zahlenmäßig festgelegt werden. Auch darf man,
z. B. beim Hirndruck, nicht alle Aufklärung vom Tierexperiment erwarten.
Wir haben gesehen, daß das Tierhirn sich in wesentlichen Punkten anders
verhält als das Menschenhirn.
Fragt man sich endlich, wie es gekommen ist, daß die physikalische
Hirnuntersuchung bis jetzt nur so langsam hat Boden gewinnen können,
so sind hierfür mehrere Gründe zu nennen: Erstens ist die Entwicklung
der physikalischen Hirnuntersuchung der letzten 15 Jahre gerade in eine
Zeit gefallen, in welcher sich die wissenschaftliche Psychiatrie — abgesehen
von der histologischen Untersuchung — in besonderem Maße vom Studium
des Hirnes selbst abgewendet hatte: Psychopathologie einerseits, Serum -
forschung, Bakteriologie (Spirochäten) andererseits nahmen das allge¬
meine Interesse völlig in Anspruch; die Untersuchungen nach Wassermann
und Abderhalden beherrschten Laboratorium und Literatur. Zweitens
entspricht die physikalische Hirnuntersuchung mit ihren einfachen, aber
exakten naturwissenschaftlichen Methoden (Messung, Wägung, spezifisches
Gewicht usw.) und mit der hohen Einschätzung der Zahl nicht sehr dem
medizinischen Denken und dem medizinischen Geschmack. Demgegenüber
Lt aber folgendes zu bedenken: Es liegen bezüglich des Gehirns ganz be¬
sondere Verhältnisse vor. Kein Körperorgan ist, wie das Gehirn, von einer
festen Schale umgeben. Von keinem Körperorgan können wir mit einer
auch nur annähernd so großen Genauigkeit sagen, wie groß dieses Organ
sein darf bzw. sein muß. Dieser Vorteil beim Gehirn muß selbstverständlich
ausgenutzt werden. Und drittens endlich war die Berichterstattung
über meine Untersuchungen und deren Ergebnisse in den referierenden
Zeitschriften zu ungenügend, teilweise fehlte sie überhaupt; manchmal war
sie unrichtig, ja sogar entstellend und irreführend. Die wenigen Autoren,
welche auf diesem Gebiete bis jetzt gearbeitet hatten, haben zum Teil
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HirnBchweDong.
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Einwande vorgebracht, die eigentlich völlig sinnlos waren und sich von
selbst widerlegten, aber bei dem mit der Fragestellung nicht naher Ver¬
trauten Zweifel erweckten und so der ganzen Forschungsrichtung schaden
mußten. Der eine Autor meinte, die Hirnschwellung und die relative
Mikrozephalie seien überhaupt nicht bewiesen, der andere, die intravitale
Hirnschwellung sei nicht bewiesen. Mit meinen eigenen Gedanken suchte
man mich zu bekämpfen und zu widerlegen. Sogar die tägliche An¬
wendung der Körperwage wurde bemängelt und als „Pseudoexaktität“
hingestellt; und was dergleichen Beispiele mehr sind.
Es ist auch nicht richtig, daß meine Methode zu kompliziert sei, um
sich einbürgern zu können. Gewiß wird es nicht möglich sein, in großen
pathologischen Instituten, mit vielen Leichenöffnungen täglich, stets den
Schädelinnenraum zu bestimmen. Aber bei Hirnkranken und auf Him-
krankheit Verdächtigen (s. o.), namentlich in psychiatrischen und neuro¬
logischen Instituten selbst, sollte bei Sektionen die physikalische Hirn¬
untersuchung konsequent durchgeführt werden. Die Schädelinnenraum-
bestimmung an der Leiche nimmt für den Geübten, samt den notwendigen
Berechnungen, kaum 15 Minuten Zeit in Anspruch; auch die übrigen, oben
genannten Bestandteile der physikalischen Hirnuntersuchung sind sehr
rasch zu erledigen. Wenn man bedenkt, wie unendlich viel zeitraubender
und komplizierter zahlreiche andere (z. B. chenrsche oder bakteriologische)
Untersuchungen sind, dann wird man die physikalische Hirnuntersuchung
nicht als kompliziert, zeitraubend und undurchführbar bezeichnen dürfen.
Denn andrerseits bleiben ohne Schädelinnenraumszahl viele Fragen der
Hirnpathologie überhaupt unbeantwortet. Ein gewisses Opfer an Zeit
und Arbeitsleistung muß aber gefordert werden können, wenn der Wissen¬
schaft hierdurch Vorteile entstehen. Es ist zweifellos, daß zahlreiche ab¬
norme Zustände des Gehirns und Schädels ohne konsequente Anwendung
der physikalischen Hirnuntersuchung übersehen werden.
Der Vollständigkeit halber bringe ich auch an dieser Stelle
die Wiedersehen Tabellen, bemerke jedoch ausdrücklich, daß ich
hier die Schädelinnenraumszahlen selbst verwende. Man kann
außerdem die aus der Schädelinnenraumszahl berechnete (um 10%
geringere) Hirngewichtszahl („aus gesunden Zeiten“ des
Kranken, „ohne Schwund und Schwellung“) gebrauchen (vgl. Heft
8 S. 355) oder aber die, ebenfalls aus der Schädelinnenraumszahl
berechnete Zahl des Großhirnes allein (ohne Kleinhirn und
ohne Hirnrest). Letztere Zahl hat Professor Rieger im Heft 9
unserer Arbeiten bevorzugt. Es handelt sich also bei diesen 3
Zahlen des Schädelinnenraums, der Zahl des gesamten Hirn¬
gewichtes und der Zahl des Großhirngewichtes allein, in den
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
92
Reichardt
Riegerachen Tabellen, stets um die gleiche Größe, nur um ver¬
schiedene Berechnungsarten. Die Verwendung der Schädelinnen-
raumszahl selbst in der Tabelle ist insofern von Vorteil, als man
sie unmittelbar mit der bei der Sektion gefundenen Schädel -
innenraumszahl vergleichen kann.
Die Riegerschen Tabellen.
Durchschnittswerte des Körpergewichtes, Schädelinne n -
raumes, Kleinhirngewichtes für die einzelnen Körpergrößen
bei Erwachsenen.
Körper¬
größe
cm
Körper¬
gewicht
kg
Sohädel-
innenr&am
com
Kleinhirn¬
gewicht
g
Körper¬
größe
cm
Körper¬
gewicht
kg
Sohftdel-
innenraam <
ccm |
Kleinhirn-
gewioht
g
130
30
1045
110
158
55
1485
145
131
31
1070
115
159
57
1510
145
132
31
1100
120
160
58
1530
150
133
31
1100
120
161
60
1550
150
134
32
1110
125
162
60
1550
150
135
33
1120
125
163
61
1560
150
136
33
1150
125
164
62
1570
150
137
34
1180
125
165
63
1585
150
138
34
1190
125
166
63
1585
155
139
35
1200
125
167
64
1600
155
140
35
1210
125
168
64
1610
155
141
36
1220
125
169
65
1620
' 155
142
36
1230
130
170
66
1630
160
143
37
1250
130
171
66
1640
160
144
38
1265
130
172
66
1660
160
145
39
1275
130
173
67
1670
160
146
40
1290
135
174
68
1690
160
147
41
1310
135
175
69
1715
170
148
42
1320
135
176
70
1730
170
149
43
1340
135
177
71
1740
170
150
44
1365
135
178
72
1760
170
151
45
1375
135
179
73
1780
170
152
46
1385
135
180
75
1810
180
153
46
1385
140
181
76
1840
180
154
49
1410
140
182
77
1870
180
155
51
1420
140
183
79
1925
190
156
52
1440
140
184
81
1980
190
157
54
1460
i
145
185
83
2000
200
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Hi rasch welltmg.
93
Durchschnittswe^e der Körpergröße, des Körpergewichtes,
Schädelinnenraumes, Kleinhirngewichtes für die einzelnen
Lebensalter beim Kinde.
Jahre
Körper¬
größe
em
Körper¬
gewicht
kg
Sch&del-
innen-
ra um
eem
Kleinhirn -
gewioht
g
Jahre
Körper»
grüße
om
Körper¬
gewicht
kg
Soh&del-
innen-
ranm
ccm
Kleinhirn-
ge wicht
g
0
50
3
330
25
9
125
24
1120
130
i
70
8
880
90
10
130
25
1150
130
2
80
11
935
100
11
135
26
1320
130
3
85
12
960
100
12
140
27
1375
130
4
90
14
980
110
13
150
34
1430
140
5
100
16
1000
120
14
150
34
1430
140
6
105
18
1010
120
15
155
40
1450
140
7
110
20
1045
120
16
164
44
1485
150
8
115
22
1100
130
17
165
50
1500
150
Im folgendem gebe ich ans Gründen der Übersichtlichkeit
noch einige kurze zusammenfassende Definitionen wieder:
Relative Mikrozephalie: Der Schädelinnenraum bei der
Sektion ist nm wenigstens 10% kleiner als der, der Körpergröße
des Kranken zugehörige durchschnittliche Schädelinnenraum nach
der Wiedersehen Tabelle (Berechnung auf S. 76).
Relative Mikroenzephalie: Das Hirn ist um wenigstens
10% kleiner als das, der Körpergröße des Kranken zugehörige
durchschnittliche Hirngewicht nach der Wiedersehen Tabelle. Hier¬
bei muß jedoch ein Hirnschwund ausgeschlossen sein. Anderer¬
seits kommen Kombinationen von angeborener (in frühester Jugend
entstandener) Hydrozephalie mit Mikroenzephalie vor; d. h. der
Schädelinnenraum selbst ist annähernd normal groß. Infolge des
Hydrozephalus ist aber verhältnismäßig zu wenig Hirn vorhanden.
Es besteht zwar nicht Mikrozephalie, wohl aber Hydrozephalie
und Mikroenzephalie.
Relative Makrozephalie: Der Schädelinnenraum bei der
Sektion ist erheblich größer als der, der Körpergröße des Kranken
zugehörige durchschnittliche Schädelinnenraum nach der Bieger-
schen Tabelle, ohne daß eine angeborene oder in frühester Jugend
entstandene Hydrozephalie vorliegt. Berechnung wie oben auf
S. 76 angegeben; y wird größer als 100.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
94
Reichardt,
Relative Makroenzephalie: Das Hirn ist bedeutend
schwerer, als dem Durchschnittsgewicht des Hirnes für die Körper¬
größe nach der l&e^erschen Tabelle entspricht. Es muß jedoch
ein noch nicht entleerter Hydrocephalus internus einerseits und
Hirnschwellung andererseits ausgeschlossen werden. Bei Makro¬
enzephalie besteht auch Makrozephalie. Nur geht nicht umgekehrt
jede Makrozephalie auch mit Makroenzephalie einher (s. o.).
Denn auch die angeborene (in früher Jugend entstandene) Hydro¬
zephalie pflegt zur Makrozephalie, wenn auch meist mit charakte¬
ristischer hydrozephalischer Kopfform zu führen. Ferner darf bei
Makroenzephalie, streng genommen, keine Himschwellung, d. h.
kein Mißverhältnis zwischen Schädelinnenraum und Hirngewicht
vorliegen. In Wirklichkeit werden aber wohl die Zustände von
Makroenzephalie mit einigen Arten der Himschwellung eine nähere
Verwandtschaft haben, bezw. Übergänge aufweisen.
Hydrozephalie und Hydroenzephalie als angeborener
oder in frühester Jugend entstandener Zustand: Er ist leicht zu
erkennen bei charakteristischer Kopfform oder bei Vorhandensein
eines Hydrocephalus internus ohne Himschwundkrankheit. Cha¬
rakteristische Kopfform und Hydrocephalus internus können jedoch
bei der angeborenen Hydrozephalie fehlen. Es gibt in nicht
unerheblicher Zahl angeborene oder in frühester Jugend entstandene
Hydrozephalien, ohne charakteristische Kopfform und ohne daß
man den Hydrozephalus äußerlich (namentlich ohne genaue Kepha-
lometrie) überhaupt erkennen und diagnostizieren kann. Auch
braucht der Hydrozephalus selbst kein internus zu sein, sondern
kann ein externus sein. Meist ist bei der Hydrozephalie der
Schädelinnenraum absolut zu groß, im Vergleich mit dem duroh-
schnittlichen Schädelinnenraum nach der Körpergröße des Kranken
(y mehr als 100). Aber auch dies braucht nicht stets der Fall
zu sein. Angeborene (in frühester Jugend entstandene) Hydro¬
zephalie kann sich mit relativer Mikroenzephalie kombinieren (s. o.).
Der Schädelinnenraum eines solchen Kranken bei der Sektion
entspricht dann etwa dem Durchschnitt. Weil aber außerdem
angeborener (in früher Jugend entstandener) Hydrozephalus vor¬
liegt, ist das tatsächlich vorhandene Hirn zu klein, — wie gesagt,
trotz normalen Schädelinnenraums und ohne Himschwundkrankheit.
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' Hirnschwellung.
95
Es besteht also Hydrozephalie (auch ohne charakteristische
Kopfform) .plus Mikroenzephalie. Auch bei einzelnen Kranken
mit progressiver Paralyse ist der Schädelinnenraum bei der Sektion
normal groß gefunden worden, während der vorhandene Hydro-
cephalus internus kein paralytischer (d. h. erst gewordener),
sondern ein angeborener oder schon in früher Jugend entstandener
gewesen ist. Durch genaue Kephalometrie und unter Berück¬
sichtigung gewisser sonstiger Tatsachen läßt sich auch bei Fehlen
einer hydrozephalischen Kopfform die Diagnose auf angeborene
Hydrozephalie oft mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit
stellen. Zweifellos ist auch in der Literatur nicht selten eine
erst gewordene Hirnschwundkrankheit zu Unrecht angenommen
worden, während in Wirklichkeit Hydrozephalie oder Hydroen-
zephalie vorlag.
Hirnschwellung: Das Hirn ist im Verhältnis zum zu¬
gehörigen Schädelinnenraum zu groß (Definition S. 44). Hira-
drnck braucht nicht zu bestehen (S. 59).
Hirndruck: Es liegt ein Mißverhältnis vor zwischen ver¬
fügbarem Schädelinnenraum und dem, was darin vorhanden ist.
Dieses Mißverhältnis kann in erster Linie durch eine große Hira-
geschwulst verursacht worden sein, dann aber auch durch eine
Himschwellung (ohne gleichzeitige Abnahme des Liquors). Jedoch
kann Hirndruck auch ohne alle Volumensvergrößerung des Ge¬
hirnes auftreten, lediglich durch Vermehrung von Liquor oder
von sonstiger Flüssigkeit im Schädelinnem. Sogar bei Hirn¬
verkleinerung (Hirnschwund) kann echter Hirndruck vorhanden
sein. Der Hirndruck kann ferner ein chronischer oder auch ein
akuter, auch terminaler, tödlicher sein (akute Hirnschwellung,
akuter terminaler Liquorüberdruck).
Hydrozephalus: Diese Bezeichnung umfaßt zwei ganz ge¬
trennte und auch zu trennende Vorgänge bezw. Zustände:
1. den lediglich raumausfüllenden Hydrozephalus (ex-
ternus, internus, kombiniert), infolge relativ zu geringen
Himvolumens (angeborene oder in früher Jugend entstandene
Hydrozephalie; durch Hirnschwundkrankheit entstandene
Himverkleinerung);
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
96
Reichardt,
2. den himdmckerzengenden oder himdracksteigernden
Hydrozephalus (extemus, internus, kombiniert), der bei jeder
Hirnkrankheit, bei jedem Hirnvolumen (Hirnvergrößerung
irgendwelcher Art, Hirnschwellung, Hirnschwund) Vorkommen
kann. Er wird an der Leiche nur dann erkannt, wenn man
nicht nur Schädelinnenraum, Hirn- und Duravolumen be¬
stimmt, sondern auch den während der Sektion bis zur
ersten Himwägung abfließenden Liquor möglichst vollständig
auffängt und die gesamten gefundenen Volumina in Beziehung
zum verfügbaren Schädelinnenraum bringt.
Hirn Schwund: Das Hirn ist im Vergleich zum zugehörigen
Schädelinnenraum zu klein (mehr als 16% Differenz), und zwar
durch eine erst später entstandene Hirnkrankheit (Ausschluß einer
Hydrozephalie und Hydroenzephalie aus der Kindheit, welche
meistens die Folge von hirndruckerzeugendem Hydrozephalus
gewesen sind). Der Hirnschwund kann ein solcher von außen
nach innen sein; die Ventrikel können dann z. B. noch bei 20%
Differenz normale Weite haben. Oder er ist ein Schwund von
innen nach außen, unter besonderer Beteiligung des Hirnmantels
oder der basalen Ganglien oder beider, wobei dann die Ventrikel
sich stark erweitern. Er kann endlich ein mehr oder weniger
lokalisierter sein und vor allem z. B. das Stirnhim oder das
Parieto-Okzipitalhirn betreffen (isolierte Erweiterung der Hinter¬
hörner). Dementsprechend werden auch die Krankheitserschei¬
nungen verschieden sein. Die makroskopische Diagnose auf
Hirnschwund ist nur unter Berücksichtigung der Zahl des zu¬
gehörigen Schädelinnenraums zu stellen. Andernfalls besteht
die große Gefahr einer Verwechslung mit Mikrozephalie oder
Hydroenzephalie.
V. Schluß.
Die physikalische Himuntersuchung hat zur Aufgabe: die
Lebenserscheinungen im Gehirn, ihr Wesen und ihre Eigen¬
art feststellen zu helfen. Während z. B. die Lehre von der Hirn¬
lokalisation und von dem Zellenbau der Großhirnrinde (Zyto-
arcbitektonik) sich — wie man dies auch ausdrücken kann —
mit einzelnen Hirnapparaten, ihrem Sitz und Bau beschäftigt, will
man nun auch wissen: welche Kräfte diese Apparate in
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Himschwellung.
97
Bewegung setzen; von wo ans der Impnls geht; welcher
Art die Lebensvorgänge und Veränderungen sind, die sich
in den Gehirnen unter normalen und krankhaften Verhältnissen
abspielen. Eine schwere traumatische Himschädigung, eine Menin¬
gitis, eine progressive Paralyse und eine Katatonie sind gewiß,
ihrer Entstehung und ihrem Krankheitsprozeß nach, sehr ver¬
schiedene Himkrankheiten. Ein katatonischer (katatoniformer)
Symptomenkomplex kann aber bei allen diesen Himkrankheiten
Vorkommen und trotz des verschiedenen Krankheitsprozesses derart
ähnliche klinische Bilder darbieten, daß die Diagnose der zugrunde
liegenden Himkrankheit aus den psychischen Symptomen allein
oft genug nicht möglich ist. Ähnliches gilt von den Delirien,
Dämmerzuständen, Sinnestäuschungen und Wahnideen, epilepti-
formen Zuständen. Trotz des verschiedenen Krankheitsprozesses
ist die Störung der Himfunktionen, der Hiramechanik oder der
Himdynamik eine so ähnliche, daß klinisch die gleichen Er¬
scheinungen sich ergeben. Hier heißt es nun: sich ein Schema
bilden, eine sogenannte Arbeitshypothese, welche — wenn auch
zunächst nur in groben Umrissen — das Zustandekommen der
gleichen klinischen Symptome bei verschiedenen Himprozessen
erklärt. Ein solches Schema ist die Lehre vom Gleichgewichts¬
zustand unter den einzelnen Himteilen (Hirnstamm und Hira-
mantel, Rautenhirn und Großhirn, Großhirn und Kleinhirn), dessen
krankhafte Störungen auch zu psychischen Störungen führen
können (Heft 8 unserer Arbeiten S. 665, 677 usw.). Wir werden
schon bei dieser Annahme eines dynamischen Gleichgewichts¬
zustandes mit der Möglichkeit einer mangelhaften Anlage in dieser
oder jener Richtung rechnen müssen, indem bald der Himstamm
(oder einzelne Teile desselben), bald der Hiramantel nicht ge¬
nügend stark entwickelt ist und deshalb eher erkrankt oder ver¬
sagt als bei einem ganz gesunden Gehirn 1 ).
i) So kann auch die relative Mikrozephalie ebensowohl die Folge einer
Kleinheit des gesamten Gehirnes sein, als anch die Folge einer Kleinheit
besonders des Hirnmantels oder des Hirnstammes (partielle Mikroen*
zephalie). Auch der Begriff der relativen Mikrozephalie ist somit zunächst nur ein
Sammelbegriff. Es besteht aber Aussicht, daß durch die physikalische Hira-
untersuchung z. B. auch eine Messung der basalen Ganglien nach Größe und
Ausdehnung durchföhrbar ist.
ZcitMkrttt Nr PryohUtri«. LXXV. 1. 7
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
98
Reichardt,
Zu den Ergebnissen der physikalischen Hirnnntersuchung
gehört auch die Entdeckung der Hirnschwellung und die Um¬
grenzung des Hirnschwellungsbegriffes. Nur befinden wir uns hier
— dies sei ausdrücklich hervorgehoben — noch im ersten Beginn
der Erkenntnis. Vorläufig kann ich nur sagen: Was man gegen¬
wärtig Himschwellung nennt, dies ist wahrscheinlich nur ein
Sammelbegriff, — eine besondere Erkrankungs- oder Reaktions-
form des Gehirnes, ein in die allgemeine Himpathologie ge¬
hörender Vorgang; eine Gruppe von anatomischen Veränderungen,
welche durch verschiedene Krankheiten und Krankheitsursachen
hervorgerufen werden. Es empfiehlt sich bis auf weiteres, die
einzelnen Unterarten der Hirnschwellung nach Möglichkeit näher
zu bezeichnen, zunächst ätiologisch: infektiöse, toxische, traumati"
sehe, epileptische, katatonische Hirnschwellung, Hirnschwellung
bei Hirngeschwulst usw. Dieser ätiologischen Einteilung kann
man die pathologisch-anatomische gegenüberstellen (verschiedenes
Verhalten des Liquors, der Konsistenz usw.; siehe oben S. 55ff).
Die Beziehungen zwischen Himschwellung und Enzephalitis müssen
geklärt werden. Vielleicht scheidet, gerade bei den exogenen Hirn¬
krankheiten, noch manches aus dem Gebiete der Himschwellung
aus, was vorläufig in demselben untergebracht ist. Die.Him-
schwellungen durch entsprechende exogene Ursachen sind patho¬
genetisch wahrscheinlich ganz anders zu beurteilen als die Hiro-
schwellungen bei endogenen Krankheiten und als scheinbar selb¬
ständige Krankheitsbilder (Pseudotumor cerebri). Man kann auch
eine Katatonie — wenigstens vorläufig — durch eine Him¬
schwellung nicht „erklären“. Aber vielleicht erhalten wir durch
die Tatsache des Auftretens solcher Hiraschwellungen bei be¬
stimmten Himkrankheiten gewisse Fingerzeige bezüglich der zu¬
grunde liegenden Himveränderungen.
Das Himschwellungsphänomen hat eine praktisch-diagno¬
stische, ferner eine therapeutische Bedeutung (günstige Einwirkung
druckentlastender Operationen bei manchen exogenen Formen).
Namentlich aber scheint die theoretische Bedeutung des Him-
schwellungsphänomens groß zu sein. Wir erkennen in ganz be¬
sonderem Maße die ungemein große Labilität, Reizbarkeit, Reagier¬
fähigkeit, Veränderlichkeit der Gehirasubstanz (Volumensver-
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Hirnschweilang.
99
änderung, außer den Veränderungen der Liquorströmnng). Das
Hirn ist möglicherweise schon unter normalen Verhältnissen ein
bewegliches Organ, auch unabhängig von den Bewegungen infolge
der arteriellen Systole und Diastole. Jedenfalls aber scheint er¬
wiesen zu sein, daß es unter krankhaften Verhältnissen sein Vo¬
lumen ganz akut ändern kann (rein dynamische Form der Hirn¬
schwellung, z. B. bei einer Alteration des Rautenhirnes). Auch
die Auffassung des Himdruckproblemes darf, in Anbetracht dieser
außerordentlich großen Labilität und Reizbarkeit der menschlichen
Himmaterie, keine allzu „mechanische“ sein.
Es liegt mir fern, alle möglichen Krankheitserscheinungen
nunmehr auf Hirnschwellungen zurückführen zu wollen. Aber es
muß andererseits berücksichtigt werden: wie primitiv noch bis
vor kurzem unsere Anschauungen über zahlreiche Hirnvorgänge
waren, und wie häufig man mancherlei klinische Erscheinungen
ausschließlich auf die Vasomotorentätigkeit des Gehirnes, auf ver¬
schiedene GefäßföUung, Zirkulationsstörungen, „Rindenanämie“
und auf das sogenannte Hirnödem hat zurückführen wollen.
Durch das Phänomen der Hirnschwellung werden
wir wieder mehr auf die Hirnmaterie selbst hin¬
gewiesen. Wir kommen etwas von den Hirngefäßen und vom
Vasomotorenapparat, sowie von der vermeintlichen ausschließlichen
Bedeutung derselben los, ohne damit in das Gegenteil der zu
großen Unterschätzung oder Nichtbeachtung der Himgefäße und
der Vasomotorentätigkeit zu verfallen.
Überhaupt weist die physikalische Himuntersuchung wieder
viel mehr auf die Notwendigkeit genauer Hirn Untersuchungen
hin. Der „innersekretorischen Richtung“ in der Psychiatrie möchte
ich die „zerebrale“ Forschungsrichtung gegenüberstellen. Die
Äbderhaldenache Serumdiagnostik hat der Psychiatrie und dem
Verständnis der Psychosen bis jetzt nicht viel genützt. Daß im Ge¬
folge von_Hirnkrankheiten — zu denen auch die Geisteskrank¬
heiten gehören — auch der Körperzustand und somit auch die
Drüsen der inneren Sekretion leiden können, dies wußte man
schon vor der Abderhaldenschen Serumreaktion. Die Hauptfrage
aber, ob die Körperdrüsen bei den Psychosen primär erkranken
oder erst sekundär (auf irgendwelchem Umwege, z. B. vom
7*
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100
R eieh&rdt
t*i.
Zentralnervensystem aus), wird durch die Serum di agnostik nicht
beantwortet, Wir dürfen in der Psychiatrie über dem Studium
der inneren Sekretion nicht zu sehr tke Gehirustudium außer
.acht lassen.
Wenn wir auch vorläufig, d£m l v ?iöb1|m der Hirnvorgäng#
g.bgmttiber, kam'« am Anfang- der ßrlsernttids stehen, so ist
doch daß diu Einsicht in dm uormaien und
ist dai Prohlem auch gar nicht fttlzn stdiwitalgyfv fls f#hlt nur der
Bckhlirvsel zuä Verätliidisis« Jedenfalls aber tat eine gemeinsame
Aik-k vieler .Institute notwendig. Ein einxeUm Institut kann,
nufnindlh h weun esaus: über eineu kieineTi Krankenbestand und
bdo»> besonderen ilÜfsmittd verfügt, di# Meng« ! ||^^|^igebendßn
Ei a;.: .}! gar nicht be^tdwarrteu. Und eiullielt ist awclv die An-
wemlngfe RiüghöUßt a 1 le r Untersuch ungsmetbod&n des GeMmns
notwendig,, nicht nur einzelner Methoden, z. B. der histologischen,
oder i*"Vvchopathölogisobea.-
, ; : L üdratur ü bereich k
190C Ousiftv Fifcdtsr).
s Hirmuat^ri*'. MtsCnr. i. kyvh, u. fveurok 24, 1908,. S. 28o.
i. B&jtAdel üüdöehhrn. Jj&0jiQ-w& decp^hiatri«
■scheu Klinik *u Würrfnug 4> 19Q9.
•>, f'ia’r M |ihnschwellung‘> Sämmelreferai, Zt^chrvfi d gcs-Neurol u.
Payoid» Abt. Referate, 3, 1911,8. t (d«^LWl>w^tkr^'-Hk %
r», $jNt;di# ■ Ctowicbts - und V r QlümensbestltrnU'nng den Hirns; •Sekiions-
yv‘‘:y;g'teidinlk von JVauwerck. 5. Aufl-> 1912+ S >*£ (Jena, Gustav
'Plseh#rji ' . : ,/'■ ' \'
X UtdrjüiuiJbung'cn über das Gehirn. I. TeibUber l jf > odMarten«fAd1 l o’dns-
':y : >V.5 üröachon. Aibeilte/i aus der psychiatrischen KÜnik zu Würz*
■ bürg Ü.lÖil (Jfeua, Güstar FtHhwV
9, . n^sersuchongonübe? dasÖebiru II Teil: IRrniind Kürpsf. Ebenda
?, 1912.
Go gle
UNL
Öri gißäl frönt/ \
SITYOV^IOHI
Hirnschwell ung.
101
9. Untersuchungen über das Gehirn. II. Teil: Hirn und Körper (Fort¬
setzung). III. Teil: Die physikalischen Eigenschaften und Zu¬
standsänderungen des Gehirns und die Flüssigkeitsverhältnisse
in der Schädelhöhle. IV. Teil: Über normale und krankhafte
Vorgänge in der Hirnsubstanz. Ebenda 8, 1914 (daselbst
weitere Literatur).
10. Intravitale und postmortale Hirnschwellung. Neurol. Ztlbl. 88, 1914,
S. 1078.
11. Intravitale und postmortale Hirnschwellung. Ebenda 84,1915, S. 55.
12. Theoretisches über die Psyche. Sitzungsberichte der Physikalisch¬
medizinischen Gesellschaft zu Würzburg, 3. Mai 1917.
13. Allgemeine,und spezielle Psychiatrie. II. Aufl., 1918 (Jena, Gustav
Fischer).
Von früheren Aufsätzen aus der Literatur, welche bisher von mir
noch nicht berücksichtigt wurden, ist noch nachzutragen:
14. Marchand, Zur Kenntnis der Embolie und Thrombose der Gehirn¬
arterien. Berl. klin. Wschr. 1894, Nr. 2, S. 37.
Von neueren Abhandlungen seit 1913, welche sich mit Hirnschwellung
oder Hirndruck beschäftigen oder sonst in dieser Richtung wichtig sind,
seien genannt:
15. Anton, Der Balkenstich. Neue deutsche Chirurgie 12, 1914, S. 177 ff.
(daselbst weitere Literatur).
16. Derselbe, Über neuere Methoden operativer Druckentlastung des
Gehirns. Jahresber. f. Neurol. u. Psych. 20, 1916, XXXIII
(daselbst weitere Literatur).
17. Anton und Schmieden, Der Subokzipitalstich; eine neue, druckent¬
lastende Hirnoperationsmethode. Arch. f. Psych. 68,1917, S. 1.
18. Barbieri und Carbone, Biochemische Studien über die Gehirnschwellung.
Biochem. Ztschr. 49 , 1913, S. 293.
19. Bruns, Klinik der Hirngeschwülste. Neue deutsche Chirurgie 12,
1914, S. 18.
20. A. Hauptmann, Der Hirndruck. 'Ebenda 11, 1914, S. 427 (daselbst
weitere Literatur).
21. Derselbe, Hirnödem. Ebenda 12,1914, S. 1 (daselbst weitere Lit.).
22. A. Jakob, Zum gegenwärtigen Stande der Histopathologie der Geistes¬
krankheiten. Jahreskurse für ärztliche Fortbildung. 1918.
Maiheft S. 25 ff.
23. Liesegang und E. Mayr. Die Physik und Chemie der Hirnschwellung.
Ergebnisse der Neurologie und Psychiatrie ( Vogt u. Bing) 2,
1912, S. 157.
24. Nissl, Diskussionsbemerkung. Allg. Ztschr. f. Psych. 70,1913, S. 165.
25. Nonne, Der Pseudotumor cerebri. Neue Deutsche Chirurgie 12,1914,
S. 105 (daselbst weitere Literatur).
26. Rieger, Die Meßstange. Arb. a. d. psych. Klin. zu Würzburg 9 , 1918.
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102
Reichardt,
27. Rosenthal, Histologische Befunde beim sog. Pseudotumor cerebri.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Originalien 7, 1911, S. 163.
28. Derselbe, Experimentelle Studien über amöboide Umwandlung der
Neuroglia. Histol. u. histopathol. Arb. von Nissl und Alz¬
heimer 6, 1913, S. 89.
29. Derselbe, Fall Wähler. Beiträge von Nissl 1, Heft 2 1914, S. 7
(Berlin, Julius Springer).
30. Derselbe, Zur Methodik der Schädelkapazitätsbestimmung mit
Hinsicht auf einen Fall von Hirnschwellung bei Katatonie.
Neurol. Ztlbl. 88; 1914, S. 738 und Nachtrag S. 809.
31. Derselbe, Intravitale und postmortale Hirnschwellung. Ebenda
S. 1085.
32. Derselbe, Über einen schizophrenen Prozeß im Gefolge einer hirn¬
drucksteigernden Erkrankung. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u
Psych. Originalien 25, 1914, S. 300.
33. Rudolph, Untersuchungen über Hirngewicht, Hirnvolumen und
Schädelkapazität. Zieglers Beitr. 58, 1914, S. 48.
34. Volhard, Urämie. Im Handbuch der inneren Medizin von Mohr und
Staehelin. 8. Zweiter TeiL 1918. S. 1348 u. 1359 {Zangemeister:
Eclampsia gravidarum).
Von Abhandlungen, welche sich besonders mit Hirndruck¬
erscheinungen (und andern in meinem Referat erwähnten Hirnver¬
änderungen) bei chirurgischen Affektionen beschäftigen und somit
auch für die Frage des Vorkommens einer Hirnschwellung hierbei (Teil II
meines Referates) in Betracht kommen, seien genannt:
35. Alters, Über Schädelschüsse. 1916. Berlin, Julius Springer. -
36. Berger, Neurologische Untersuchungen bei frischen Gehirn- und
Rückenmarksverletzungen. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych.,
Originalien 85, 1917, S. 293.
37. Bonhoeffer, Granatfernwirkung und Kriegshysterie. Mtschr. f. Psych.
u. Neurol. 42, 1917, S. 53.
38. Borchard, Hirnausfluß und Gehirnprolaps. N. Deutsche Chir. 18,
1916, S. 3.
39. Breslauer, Hirndruck und Schädeltrauma. Mitteilungen aus den
Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 29, 1917, S. 715.
40. Bresler, Sammelreferat. Psych.-neurol. Wschr. 1917, Nr. 5 bis 50.
41. Brodmann, Zur Neurologie der Stirnhirnschüsse. Ebenda 1915/16,
Nr. 33/34, S. 193.
42. Gaupp, Die Granatkontusion. Beiträge zur klin. Chir. 96,1915, S. 277.
43. v. Monakow, Die Lokalisation im Großhirn. 1914. Wiesbaden, Berg¬
mann. S. 13 u. 20 ff. (Chok).
44. Payr, Erfahrungen über Schädelschüsse. Jahreskurse für ärztliche
Fortbildung. Dezember 1915.
45. Derselbe,' Diskussionsbemerkung. Berl. Klin. Wschr. 1916, S. 675.
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Hirnschwellung.
108
46. Derselbe, Meningitis serosa bei und nach Schädelverletzungen
(traumatica). Med. Klin. 1916, S. 841.
47. De Quervain. Spezielle chirurgische Diagnostik. 1915. Leipzig,
Vogel. S. 13.
48. Rosenfeld , Über Chokwirkungen bei Schußverletzungen des Rücken¬
marks. Beiträge zur klin. Chir. 101, 1916, S. 372.
49. Derselbe, Über psychische Störungen bei Schußverletzung beider
Frontallappen. Arch. f. Psych. 67, 1917, S. 84.
50. Sauerbruch, Beitrag zur Pathologie der Commotio und Compressio
cerebri nach Schädel träum a. Mtschr. f. Psych. 2«, Ergänzungs¬
heft, 1909, S. 140.
51. Schrottenbach, Studien überden Hirnprolaps. 1917. Berlin, Julius
Springer.
52. Verhandlungen der Kriegschirurgentagung, Brüssel, April 1915.
Referat über Schädelschüsse und Diskussion hierzu. Beiträge zur
klin. Chir. 96, 1915, S. 454 ff. (Best, Burckhardt, Enderlen, Til-
mann u. a.).
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I
Weiteres zur Alkoholfrage.
Von
Kreisarzt Dr. Finckh, Osterode (Ostpreußen).
Die in der letzten Nummer dieser Zeitschrift veröffentlichte
Untersuchung über die Ätiologie der Trunksucht lief auf das Er¬
gebnis einer angeborenen spezifischen Anlage hinaus, die ihren
Träger unrettbar zum Trinker mache, sobald er mit dem Alkohol
in Berührung komme. Diese Darlegung wollte sich in Gegensatz
zu der landläufigen Auffassung setzen, daß man sich das Trinken
allmählich angewöhnen, daß man unterstützt durch Trinksitten
und Verführung Trinker werden könne.
Wenn es uns nun auch nicht vergönnt ist, diese spezifische
Anlage klinisch so zu umschreiben, daß es uns gelingt, ihren
Träger von vornherein mit Bestimmtheit als Gezeichneten zu er¬
kennen, so ist es doch berechtigt und erforderlich, uns Gedanken
darüber zu machen, worin sie möglicherweise besteht, und wie sie
zustande kommen kann. Bei den folgenden Ausführungen bin ich
mir der tastenden Unsicherheit voll und ganz bewußt, in der wir
uns bei unseren Vorstellungen befinden, sobald sich diese aus dem
Gebiet des grobsinnlich Wahrnehmbaren entfernen. Ich weiß,
daß ich im Begriffe bin, eine Hypothese aufzustellen, die sich der
Wahrheit um einen Schritt nähern, die aber auch falsch sein
kann.
Die erste Arbeit unterschied, dank der Aufstellung des Be¬
griffes der spezifischen Anlage, zwei Klassen von Menschen, die
Alkohol genießenden Nichttrinker und Trinker, leztere von den
ersten unterschieden durch die Zeichen der Trunksucht, die ihrer¬
seits wieder klinisch gekennzeichnet ist durch den Begriff der so¬
genannten alkoholischen Degeneration, den allmählichen oder
schnellen Niedergang der geistigen und sittlichen Fähigkeiten
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Weiteres zur Alkoholfreie.
105
(wobei die rein körperlichen Folgeerscheinungen der Alkoholwir¬
kung ganz aus der Betrachtung ausscheiden mögen). Es tritt
also eine Veränderung des Wesens unter dem Einfluß des Alkohols
auf, die wir getrost als Giftwirkung in Anspruch nehmen dürfen
und zwar als Giftwirkung auf die nervöse Substanz. Da nun der
Nichttrinker ebenso der Giftwirkung des Alkohols unterliegen kann,
so muß also beim Trinker eine dauernde, beim Nichttrinker eine
vorübergehende Vergiftung eintreten. Denn, klinisch betrachtet
erholt sich der Nichttrinker über kurz oder lang wieder völlig
von ihren Erscheinungen und ist und bleibt der Alte, der Trinker
aber weist in zunehmendem Maße die zerstörenden Wirkungen
des Giftes auf. Und nun erhebt sich die Frage: woher dieser
weitgehende Unterschied? — Als physische Unterlagen unserer see¬
lischen Kräfte sind, darüber wird Einigkeit herrschen, die Lebens¬
äußerungen des Gehirns, die sogenannten Gehimfnnktionen anzu¬
sehen. Bei dieser ihrer Tätigkeit unterliegen die funktionstragen¬
den Elemente des Gehirns fortwährenden Wandlungen, sie nehmen
Stoffe auf zur Erhaltung ihrer Lebenstätigkeit und geben Stoffe
ab, Stoffwechselprodukte, die bei ungestörtem Gang abgeführt und
unschädlich gemacht werden. Unterbleibt diese letzte Tätigkeit,
so erweist sich, daß diese Abbauprodukte giftig auf die Gehirn¬
elemente einwirken. Wir haben ein Recht anzunehmen, daß diese
Unschädlichmachung zu den Aufgaben der sogenannten inneren
Sekretion gehört, und daß mit dieser Aufgabe in erster Linie
die Schilddrüse betraut ist. Versagt diese aus irgendeinem Grunde,
so ist allemal die Folge eine Zerstörung von Gehimsnbstanz oder
klinisch ausgesprochen eine thyreogene Geistesstörung. Gelingt
es rechtzeitig, die Tätigkeit der Schilddrüse zu ersetzen, so tritt
ein Stillstand der Zerstörung ein, solange als der Ersatz wirksam
ist. Es ist sehr wohl möglich, daß es noch andere Vergiftungs¬
psychosen gibt, die ihr Erscheinen dem Versagen einer anderen
Drüse verdanken. Darauf ist hier aber nicht einzugehen.
Das Wichtigste bei allen diesen normalen und krankhaften
Erscheinungen ist, daß es in letzter Linie auf die Betrachtung
der chemischen Vorgänge im Gehirn ankommt, deren Ablauf
richtunggebend auf die Funktion der Gehimelemente einwirkt.
Im Alkohol haben wir nun auoh so ein Gift vor uns, das mit den
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106
Finckh,
oben erwähnten die besonders schädliche Einwirkung auf das Ge¬
hirn gemeinsam hat, von ihnen sich aber dadurch unterscheidet,
daß es von außen eingeffihrt und nicht im menschlichen Organis¬
mus selbst erzeugt wird. Daß er anders als andere Gifte auf
das Gehirn, also spezifisch, einwirkt, ergibt sich ohne weiteres
aus dem klinischen Bild. Daß er aber auch zerstörenden Einfluß
auf die Elemente des Gehirns hat, erkennen wir nicht nur durch
die Klinik, sondern können es auch unter dem Mikroskop fest¬
stellen. Also erzeugt der Alkohol auch Vergiftungspsychosen,
und die Trunksucht gehört zu ihnen.
Betrachten wir nun den Einfluß des Alkohols auf Nichttrinker
und Trinker unter dem Gesichtspunkt der biochemischen Erschei¬
nungen als der lezten physikalisch vorstellbaren Voraussetzung
der seelischen Tätigkeit, so muß man notwendig einen tiefgreifen¬
den Unterschied in der Einwirkung des Alkohols auf das Gehirn
des Nichttrinkers und des Trinkers erkennen. Auch das Gehirn
des ersten wird von dem Gift überschwemmt und unterliegt seinen
Einwirkungen. Aber allem Anschein nach wird es nach einiger
Zeit auch wieder hinweggeschwemmt, zerzetzt, das Organ entgiftet
sich also wieder. Es tritt beim Nichttrinker, so viel wir sehen
können, die volle restitutio ad integrum ein, das Gehirn arbeitet
nachdem nicht schlechter wie vordem, es hat den Angriff unbe¬
schädigt überstehen können und ist nicht krank geworden. Der
Nichttrinker ist Nichttrinker geblieben und wird diesen Reinigungs¬
oder Entgiftungsprozeß jedesmal wieder von neuem durchmachen
können, er wird also nicht zum Trinker werden. Wie steht es
nun bei den Menschen, deren spezifische Anlage sie unweigerlich
zur Trunksucht disponiert? Hier sehen wir diesen Prozeß der
Ver- und der Entgiftung sich nicht gleich harmlos und prompt
abspielen. Hier bleibt von der Vergiftung etwas zurück im Ge¬
hirn, vielleicht erst wenig, bald aber mehr und mehr, und es ent¬
wickelt sich zunehmend das Bild der „alkoholischen Entartung“.
Dieser Begriff ist aber zum mindesten schief, wenn wir, was un¬
willkürlich geschieht, ihn in Parallele zur angeborenen Entartung
setzen. Er drückt das Wesentliche bei der Trunksucht nicht ge¬
nügend aus, nämlich den Prozeß der Zerstörung, klinisch aus¬
gedrückt: die seelische Verödung und Verblödung. Man würde
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Weiteres zur Alkoholfrage.
107
also besser von alkoholischem Zerfall reden. Woher nun dieser
Zerfall? Man wird fast mit Notwendigkeit zu der Annahme ge¬
drängt, — und das Mikroskop berechtigt uns auch zu dieser An¬
schauung —, daß hier der Alkohol keine vorübergehenden Er¬
scheinungen mehr hervorruft, sondern daß er dauernd zerstört bis
zur Außerdienststellung weiter Gebiete des nervösen Organs. Also
wäre der Unterschied zwischen dem Nichttrinker und dem Trinker
der, daß der Alkohol bei dem einen funktionstragendes Gewebe
nicht dauernd zu verändern vermag und bei dem anderen diese
Wirkung ausübt. Und woher kommt dieser Unterschied? Hier
setze ich nun den früher gewonnenen Begriff der spezifischen
Anlage ein und stelle die Vermutung auf, daß das Wesen der
„spezifischen Anlage zum Trinken“ in der Zerfallbarkeit der ner¬
vösen Elemente gegenüber dem Alkohol besteht. Weiter: Wie
kann das Gehirn zu dieser verminderten Giftfestigkeit gelangen?
Es ist von mir früher behauptet worden, durch erbliche Anlage.
Diese Annahme erscheint denkbar, wenn man sich erinnert, daß
nicht so selten die Trinker gerade die Nachkommen von Trinkern
sind. Wir kennen die schädigende, ja tötende Wirkung des Al¬
kohols auf die Keimsubstanz als eine bis dahin unbestrittene
Tatsache und als ihre Folge die Entwicklungshemmung des im
Aufbau begriffenen Organismus, im seelischen Gebiete also vor¬
nehmlich Schwachsinns- und Verblödungszustände, mit anderen
Worten die Folgen von Zerstörungen im Gehirn. Liegt es nun
nicht in derselben Richtung der Einwirkungen des Alkohols auf
das Gehirn, wenn diese Zerstörungen sich auch einmal abschwächen
bis zu einer Zerstörbarkeit der Gehirnsubstanz, die sich auswirkt,
sobald der Alkohol dieses minderwertig angelegte Organ anfängt
zu überschwemmen? Es ist damit nicht gesagt, daß bei jedem
einzelnen befruchteten Keime diese Zerstörbarkeit eine integrierende
Eigenschaft bei dem Trinkerkind sein muß. Sie kann auch
Ausbleiben, nicht alle Nachkommen von Trinkern müssen wieder
Trinker werden, ohne daß wir uns vermessen dürfen, die Gründe
dafür zu erschöpfen. Aber unser Nichtwissen berechtigt uns —
dafür ist die allgemeine Erfahrung Beweis genug — noch lange
nicht, zu leugnen, daß die Anlage zum Trinken vom Vater auf
den Sohn übergehen könne. Wir dürfen also diesen Gedanken-
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Finckh,
gang wohl gelten lassen, mflssen aber weiter gehen und fragen:
Ist diese spezifische alkoholische Belastung wirklich die einzige
Möglichkeit zum Erwerb dieser spezifischen Anlage nnd noch weiter
gefaßt: ist die erbliche Anlage in der Tat der einzige Weg da¬
hin? Von hier ab müssen wir jede genaue Antwort ablehnen.
Gelengnet soll nnd kann zunächst nicht werden, daß es theoretisch
gedacht möglich ist, diese Zerfallbarkeit des Gehirns auch auf
andere erbliche Ursachen znrfickznföhren, denkbar wäre eine solche
auch unter dem Einfluß der Syphilis oder durch schwere Kopf¬
verletzungen, körperliche Krankheiten, die das Gehirn mit in Leiden¬
schaft ziehen können, z. B. Unterleibstyphus. Aber das sind alles
Möglichkeiten, die solange nicht zur Wahrscheinlichkeit werden,
solange wir die Eigenart dieser alkoholischen Zerfallbarkeit der
Gehirnsubstanz nicht wenigstens einigermaßen kennen. Denn eines
dürfen wir bei diesen Erwägungen doch nicht vergessen: Der
Alkohol ist ein spezifisches Gift, d. h. er wirkt in einer ganz be¬
sonderen, charakteristischen Weise auf das Gehirn ein, womit so¬
wohl gesagt sein soll, daß das durch ihn erzeugte Krankheitsbild
durch eine andere Ursache nicht hervorgerufen werden kann, als
auch, daß er durch ein anderes Gift, z. B. Nikotin, Morphium,
Kokain nicht ersetzt werden kann. Er nimmt also fraglos eine
Sonderstellung in seiner Einwirkung auf die nervöse Substanz ein,
und auch die Zerfallbarkeit der nervösen Substanz bei dem mit .
der spezifischen Anlage Behafteten scheint mir wieder spezifischer
Art zu sein, weil ihr Träger lediglich auf Alkohol anspricht und
keinen Ersatz, Nikotin, Morphium, Kokain etc. wählen kann;
sondern immer und immer nur wieder den Alkohol. Es würde
sich daraus der Schluß aufdrängen, daß diese spezifische alkoho¬
lische Zerfallbarkeit der nervösen Substanz lediglich erzeugt
werden kann durch eine einzige spezifische Ursache, nämlich den
Alkohol. Das würde mit dürren Worten heißen, die Disposition
zum Trinken kann nur vererbt werden durch Einwirkung des
Alkohols auf die Keimsubstanz. Für viele, allerdings längst nicht
alle Fälle würde es darauf hinauskommen, daß der Trinker er¬
zeugt wird wieder durch einen Trinker. Man muß aber einschränkend
zugeben, daß grundsätzlich auch die Zeugung im Rausche (auch
beim Nichttrinker) diese Schädigung der Keimsubstanz hervorzu-
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Weiteres zur Alkoholfrage.
109
rufen vermag. Dieser überragende Einfluß des Alkohols auf die
Schaffung der spezifischen Anlage berechtigt weiter zu der Frage,
ob denn der fortgesetzte Genuß von Alkohol schließlich nicht doch
auch einen Nichttrinker zum Trinker machen könnte, ob also eine
ursprünglich giftfeste, normale Gehirnsubstanz zuletzt zerfallbar
im Sinne der spezifischen Anlage werden könnte. Diese Frage
ist theoretisch unbedingt zu bejahen, sofern wir nur das Labora-
toriumsexperiment am Versuchstier auf den Menschen übertragen
könnten. Allerdings wird gerade diese Voraussetzung nicht zu¬
treffen, weil die Eigenart des Nichttrinkers eben gerade darin be¬
steht, daß sein Gehirn die ständige Zufuhr des Alkohols ablehnt.
Aus „freiem Willen“ wird er also nicht solange und soviel trinken,
bis der genossene Alkohol sein Gehirn bis zur Zerfallbarkeit der
nervösen Elemente geschädigt hat. Wir kommen wieder auf den
alten Satz hinaus, daß Trunksucht künstlich beim Menschen auf
keine Art zu erzeugen ist.
Wenn man diesen Gedankengang für annehmbar halten will,
so verbietet sich allerdings ein anderer sehr naheliegender, den
ich kurz noch streifen möchte. Geistige Gesundheit und Krank¬
heit sind bekanntlich keine natürlichen, sondern von uns künst¬
lich geschaffene Begriffe, Kategorien, die wir uns als Stützpunkte
aufgerichtet haben, um in den Wirrwarr der Lebenserscheinungen
Ordnung und die Logik hineinzubringen, deren wir, auf unsere
Sinnesorgane angewiesene Menschen, eben fähig sind. Es sind
starre Grenzpfeiler, die in der Natur nicht Vorkommen. In der
Natur finden wir im schroffen Gegensatz dazu eine Welt von fließen¬
den Übergängen, die uns, um den Tatsachen nicht allzu große Ge¬
walt anzutun, zu der Schaffung eines dritten Begriffes, der Grenz¬
zustände zwischen Gesundheit und Krankheit, nötigen. Dieses
Grenzgebiet ist so groß, daß es recht bedenklich in den Raum
der Gesundheitsbreite hineinragt. Angesichts dieses Vergleiches
und der Tatsache, daß wir auch in der Trunksucht eine geistige
Störung sehen müssen, liegt die Frage ja recht nahe, ob es nicht
auch hier ein solches Grenzland gibt, das in fließenden Übergän¬
gen allmählich vom Nichttrinker zum Trinker hinüberführt. Wenn
man nämlich wieder von der Zerfallbarkeit der nervösen Substanz
als dem Spezifikum des zum Trinker Disponierten ausgeht, so
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Finckh,
könnte man sich als nächsten Grenznachbam des Trinkers z. B.
einen Menschen vorstellen, dessen Nervensubstanz in hohem Grade
reizbar gegen Alkohol ist, so daß er sich, klinisch angesehen, in
seiner Alkoholreaktion eigentlich weiter vom völlig normalen Nicht¬
trinker zu entfernen scheint, als vom Trinker, dessen Gehirnsub¬
stanz also s. z. s. sich scharf auf der Kante zwischen Zerfallbarkeit
und Nicht-Zerfallbarkeit befindet, und dessen Träger z. B. im Sinne
einer hochgradigen Intoleranz gegen Alkohol reagiert, ohne daß
er indes die Merkmale des Trunksüchtigen an sich aufwiese.
Diese Intoleranz könnte mit Recht als Ausdruck derjenigen Ge¬
hirnbeschaffenheit gelten, die wir mit der Bezeichnung erbliche
Belastung, Minderwertigkeit zu belegen pflegen. Damit wäre zu¬
gleich angedeutet und zugegeben, daß auch noch andere Träger
einer derartigen angeborenen Minderwertigkeit schließlich die Aus¬
sicht auf Verfall in Trunksucht hätten. Damit aber wären wir
wieder auf einem der Ausgangspunkte dieser ganzen Erwägungen
angelangt, nämlich bei der Frage, ob und welchen Einfluß die
landläufige „erbliche Belastung“ auf das Zustandekommen der
Trunksucht hat. Die Ausführungen in dieser und der vorigen
Arbeit müssen dargetan haben, ob der Beweis dafür gelungen ist,
daß diese bisherigen Glaubenssätze nicht zu Recht bestehen. Es
kann meines Erachtens nur eines von beiden richtig sein, entweder
die bisherige Auffassung vom Wesen und Werden der Trunksucht
oder die hier vorgetragene, die sich vollkommen von der breiten
Bahn der bis heute gültigen entfernt. Übergänge und Vermitt¬
lungen zwischen beiden kann ich mir nicht denken. Zur Beleuch¬
tung des Gegensatzes zwischen beiden Anschauungen weise «ich
nur noch einmal kurz auf das Schlagwort der Zerfallbarkeit der
nervösen Substanz als des Kerns und Wesens der spezifischen An¬
lage hin; diese ist erzeugt durch den Alkohol und zwar durch
ihn allein, sie ist spezifisch und wirkt spezifisch insofern, als ihr
Träger nur wieder Trinker werden kann, aber nicht etwa Morphinist
und dergleichen. Diese Lehre schließt Grenzzustände, Übergänge
und allmähliche Entwicklungen aus anderen nervösen Verfassun¬
gen also als vollkommen unmöglich aus.
Ob nun dieser Standpunkt der Wahrheit näher kommt, als
der bisher gültige, ist eine andere Frage, die sich deckt mit der
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Weiteres zur Alkoholfrage.
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weiteren, ob die Voraussetzungen für meine Behauptungen richtig
sind. Diese wieder ergeben sich aus bestimmten Vorstellungen
über die biochemischen Vorgänge im Gehirn. Ob diese endlich
richtig sind, entzieht sich der genauen Beurteilung, man kann sie
höchstens annehmbar oder wahrscheinlich nennen. Die Hilfslinien
der Konstruktion sind neben logischen Schlüssen klinische Beob¬
achtungen, die sich auf ihren Wirklichkeitswert prüfen lassen.
Erweisen sie sich als richtig und die Gedankengänge über Bioche¬
mie und Zerfallbarkeit des Trinkerhirnes als annehmbar, so wäre
damit ein neuer Weg zum tieferen Verständnis der Trunksucht
gewonnen. Allerdings liegt er anscheinend weit ab von der Heer¬
straße der heutigen Lehre, aber man darf sich doch fragen, ob
nicht doch irgendwo klinische Erfahrungen sich finden, die in der
gleichen Richtung weisen.
Wir wollen einmal an Vergiftungserscheinungen denken, die
sich vorwiegend in anderen Organen als dem Gehirn abspielen.
Ich denke an die durch kleinste Lebewesen hervorgerufenen an¬
steckenden Krankheiten, die ja alle vermöge der von ihnen er¬
zeugten Gifte sich auswirken. Alle miteinander haben sie die eine
Eigenschaft gemeinsam, daß sie spezifisch wirken, sie verursachen
Krankheitsprozesse im Körper, die nur durch sie erzeugt werden
können. Jeder dieser Krankheitsprozesse stellt also einen ganz
charakteristischen Vorgang vermöge des Giftes dar, das seinen
Ausgangspunkt bildet. Wenn wir uns nun daran gewöhnt haben,
daß jedes dieser Gifte seine ganz besonderen Veränderungen im
Körper erzeugt, so können wir dies beim Alkohol, der doch auch
weiter nichts als ein Gift, wenn auch kein bazilläres, ist, nicht
verwunderlich finden, also unschwer verstehen, daß auch er ein
besonderes Krankheitsbild schafft, dessen Voraussetzungen auch
wieder ganz besondere, ihm eigene Unterlagen, Gehirnveränderun¬
gen sind. Wir haben sie spezifische Zerfallbarkeit der nervösen
Substanz genannt. Die Vergiftung fügt sich somit restlos in den
Rahmen der übrigen Vergiftungskrankheiten ein, und die hier vor¬
getragenen Anschauungen erweisen sich gar nicht mehr als so
fremdartig, denn sie stellen nur eine folgerichtige Übertragung
längst bekannter Erfahrungen im körperlichen Gebiet auf einen
vornehmlich im Seelischen sich abspielenden Vergiftungsprozeß
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Pinckh,
dar. Wir finden also auch hier nnr die Tatsache wieder bestätigt,
daß spezifische Gifte im Körper spezifische Veränderungen und
nach außen hin spezifische Krankheitsbilder erzeugen. Es bleibt
dann nnr noch zn erwägen, daß wir zwar Alkohol in den Körper
einführen, aber hinsichtlich der Wirkung unterscheiden zwischen
Menschen, bei denen er Zerfall erzeugt nnd denen, bei denen er
ansbleibt. Aber auch hier stimmt der Vergleich mit den anderen
Vergiftnngskrankheiten, indem wir uns erinnern, daß ein Körper
um so sicherer gegen bazilläre Erkrankung gefeit ist, je gesünder
er ist, je mehr er seine natürlichen Schutzstoffe entwickelt hat,
je giftfester er ist.
Es mag allerdings nicht ganz leicht fallen, sich in derartige
Gedankengänge hineinzuleben, weil man so leicht nicht mit der
alten Vorstellung fertig wird, daß der Alkoholismus eine selbst¬
verschuldete Krankheit sei: Erst wenn man 'sich daran gewöhnt
hat, ihn unter der Gruppe der Vergiftungskrankheiten zu suchen
und unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, wird es in das
Bewußtsein eingehen, daß hier wie dort eigentlich genau dieselben
Gesetze sich abspielen.
Die bisherigen Untersuchungen haben sich vornehmlich mit
der Einwirkung des Alkohols auf den Trinker befaßt. Wie wirkt
er nun auf die früher schon aufgestellte Kategorie der Nichttrinker?
Wenn man meinen würde, daß diese zweite große Gruppe
von Menschen sich in ihrer Reaktion auf den Alkohol völlig gleich
verhalte, so würde man sich sicher in einem großen Irrtum be¬
finden. Die Forschung sieht sich hier allerdings nicht un¬
erheblichen Schwierigkeiten gegenüber. loh bezweifle, ob auf
diesem Gebiete schon systematische Untersuchungen vorgenommen
sind; es ist mir daher nicht möglich, mich auf anerkannte Er¬
fahrungen zu stützen. Es sind also, wie bei den früheren Be¬
trachtungen, tastende Versuche, die ich mit allen Fehlem eines
sich auf Neuland Bewegenden unternommen habe, und die sich
eine Kritik gefallen lassen müssen. Sie werden zudem wahr¬
scheinlich recht lückenhaft sein, vielleicht aber regt diese Ver¬
öffentlichung zur Nachprüfung und Ergänzung an, womit ihr Zweck
durchaus erreicht wäre. Eine weitere Schwierigkeit ist die Be¬
schaffung des Beobaohtungsmaterials. Da, wie früher ausgeführt
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Weiteres zur Alkoholfrage.
113
wurde, es nns vorläufig auf keine Art gelingt, die spezifische An¬
lage zum Trinken klinisch so zu umschreiben, daß ihr Träger als
solcher von vornherein zu erkennen ist, muß man eben durch
jahrelange Beobachtung den Trinker vom Nichttrinker unterscheiden,
was ja schließlich durch den Nachweis oder das Fehlen der Zeichen
der Trunksucht gelingen muß.
Den Einfluß des Alkohols auf die geistige und körperliche
Leistungsfähigkeit, über den zahlreiche und genaue Laboratorium¬
untersuchungen vorliegen, darf ich als bekannt voraussetzen.
Meine heutige Arbeit trägt rein klinischen Charakter, da sie sich
lediglich auf Beobachtungen stützt, mit dem Versuch also nichts
zu tun hat. Sie befaßt sich zunächt mit der verschiedenartigen
Wirkung des Alkohols beim Nichttrinker. Diese ist so außer¬
ordentlich groß, daß man wohl behaupten darf, es habe jeder
seine persönliche Note hinsichtlich seiner Alkoholreaktion. Diese
Mannigfaltigkeit ist auffällig und erinnert an die andere Tatsache,
daß in bezug auf seine Wesenseigenart eigentlich kein Mensch
dem anderen gleicht. Diese beiden Beobachtungsreihen kann man
dreist in innere Beziehungen zueinander setzen. Man weiß, daß
der Alkohol eine spezifische Affinität zur Nervensubstanz hat und
ferner, daß jeder Mensch das Produkt seiner Nerven ist. Es
hindert also nichts, anzunehmen, daß der Mensch in seiner Reaktion
auf den Alkohol von seiner nervösen Eigenart abhängig ist, wor¬
aus sich zwanglos die Mannigfaltigkeit seiner Wirkung erklärt.
Folgerichtig muß dieser Satz seine Richtigkeit behalten nicht nur
für die allgemeine, sondern auch für die augenblickliche nervöse
Verfassung bezw. alkoholische Reaktion.
Die Volkserfahrung unterscheidet schon von jeher Leute, die
viel und die „nichts“ vertragen können. Damit ist zweifellos die
Alkoholmenge und die Zeitdauer bis zum Eintritt der berauschenden
Wirkung des Alkohols gemeint. Es ist längst erwiesen, daß das
Gift aber viel eher wirkt, als man Betrunkenheit feststellen kann,
woraus sich die Ungenauigkeit jeder klinischen Beobachtung er¬
gibt. Darum ist, soweit möglich, eine exakte Nachprüfung und
Korrektur durch den Versuch erforderlich. Bis sie erfolgt ist,
muß man sich auf das klinisch Beobachtete stützen. Der Begriff
Betrunkenheit ist ein ganz roher, der sich für klinische Unter-
'Zaittthiift fOr P«y«hJ*tri». LXXV. 1. 8
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Finckh,
suchtmgen nicht eignet, da er sich damit begnügt, den sinnen-
fälligen Wegfall motorischer und psychischer Hemmungen und den
Eintritt von Reiz- und Lähmungserscheinungen erheblichen Grades
festzustellen. Der geschultere Beobachter ist natürlich auch auf die
Wahrnehmung dieser Kategorien von Vergiftungszeichen angewiesen,
nur wird er seine Schlüsse nicht aus dem Eintritt des offen¬
kundigen Rausches ziehen, sondern schon viel früher über ihre
Heftigkeit, Dauer, Entwicklung und den Zeitpunkt ihres Auftretens
unterrichtet sein. Wenn er nun auch zuverlässiger beobachtet,
so geschieht es aber trotzdem nicht exakt, darüber muß man sich
immer klar sein. Man kann aber, wie sich zeigen wird, bei den
nachfolgenden Betrachtungen auf diesen Begriff des Rausches
eigentlich ganz verzichten.
Lassen wir den Lebensgang des menschlichen Organismus
vom Zeitpunkt seiner Erzeugung bis zu seiner völlig abge¬
schlossenen Entwicklung an uns vorüberziehen, so erkennen wir,
daß das Alkoholgift auf ihn verschiedenartige Wirkungen je nach
dem Grade seiner Entwicklung ausübt. Sie lassen sich in großen
Umrissen auf den Satz bringen, daß der zerstörende Einfluß des
Giftes in gerader Linie mit der fortschreitenden Ausbildung des
Gehirnes abnimmt derart, daß er am zerstörendsten auf die Keim¬
substanz und die frühen Stadien der Gehimentwicklung in der
ersten Kindheit einwirkt, und um so weniger verhängnisvoll und
nachhaltig, je mehr der Organismus sich seiner endgültigen Reife
nähert. Ist diese erreicht, so kann man von der Fähigkeit zu
einer gewissen Giftfestigkeit oder Toleranz gegenüber dem Alkohol
reden, deren Höhe der persönlichen Widerstandskraft entspricht.
Vorübergehend herabgesetzt kann sie sein durch Zustände größerer
körperlicher Schwäche, Ermüdung oder bei Krankheit. Beim
erwachsenen Menschen erhöht sich, vermutlich unter dem Einfluß
des Alkohols, bis zu einer individuell verschiedenen Höhe sehr
häufig diese Toleranz, es tritt eine Gewöhnung ein, die die Ver¬
giftung erst relativ spät klinisch erkennen läßt. Gerade hier nun
setzen aber die außerordentlichen Verschiedenheiten ein. Es gibt
Leute, bei denen die Toleranz nie einsetzt, sie können „nichts“
vertragen. Ihr Verhalten entspricht aber nicht der Norm, da es
nicht dasjenige der Mehrheit ist. Es ist also abnorm und bedingt
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dadurch eine dauernde Senkung der Reizschwelle derNervenelemente
gegenüber dem Alkohol. Dieser erhöhten Reizbarkeit in bezug
auf Alkohol entspricht eine solche auch auf anderen Gebieten,
die wir mit dem Namen reizbare Schwäche zu belegen pflegen,
und die nervösen Zuständen, z. B. der Neurasthenie, zugrunde
liegt. Vermutlich aber verbergen sich unter der Bezeichnung Neu¬
rasthenie verschiedene nervöse Verfassungen, jede mit besonderem
Reaktionstypus, und außerdem dürfte für den Grad der Toleranz
oder Intoleranz auch die Stärke der Nervosität von Bedeutung sein.
Denn gewiß ist es nicht richtig, daß jeder, der nervös ist, des¬
wegen alkoholintolerant ist und jeder Intolerante nervös. Das
letztere Beispiel sehen wir im allgemeinen bei dem weiblichen
Geschlecht verwirklicht. Es dürfte der Wahrheit entsprechen,
daß die Frau im ganzen wesentlich geringere Mengen Alkohol
erträgt, als der Mann. Der Grund ist einleuchtend. Er besteht
in den Trinksitten, die für die Frau eine sehr weitgehende Zu¬
rückhaltung vom Alkohol vorschreiben. Es bleibt die durch Ge¬
wöhnung eintretende Toleranz bei ihr aus, weil sie sich eben
nicht gewöhnt. Sie bleibt also gewissermaßen in dieser Hinsicht
auf der Kindheitsstufe stehen, was aber an sich noch längst nicht
eine Minderwertigkeit des weiblichen Gehirnes bedeutet, sondern
nur ein durch die Sitte bedingtes Stehenbleiben auf einer Stufe,
die der Mann auch einmal durchschritten hat. So kann es richtig
sein, daß Alkoholintoleranz noch kein Beweis für nervöse Minder¬
wertigkeit ist. Tritt aber diese relative Gewöhnung an den Alko¬
hol, die erhöhte Toleranz beim Nichttrinker ein, so ist sie noch
nicht der Ausdruck oder Beweis für eine dauernde Giftwirkung
im Sinn einer beginnenden. Abstumpfung, da diese, wenn sie vor¬
handen wäre, sich doch auch sonst irgendwie auf dem Gebiet des
Seelenlebens geltend machen müßte, was aber nicht der Fall ist.
Ebenso verkehrt wäre es, einen Menschen, der „nichts“ verträgt,
für trunksüchtig zu halten. Denn, wie zu Eingang erwähnt, sind
die Vorbedingungen der Trunksucht andere. Auch wäre es von
vornherein eigentlich wahrscheinlicher, daß ein Intoleranter mehr
auf der Hut vor den unangenehmen Wirkungen des Giftes ist
als der Tolerante, der nach der bisherigen Anschauung durch
allmähliche Gewöhnung an größere Alkoholmengen schon eher ans
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Trinken kommen könnte. Ausschlaggebend ist aber in klinischer
Hinsicht, daß die Alkoholintoleranz keineswegs ein integrierender
Bestandteil des Bildes des Alkoholismus istj vielmehr die Zer¬
störung und Verödung, beginnend bei den feineren seelischen
Regungen, die beim Intoleranten aber durchaus vermißt wird.
Die nervösen strukturellen Grundlagen der Intoleranz und der
Trunksucht sind eben grundsätzlich verschieden voneinander. So¬
mit hat die beim vorgeschrittenen Trinker einsetzende Intoleranz
mit der „genuinen“ des Nervösen nichts zu tun.
Das Bild der akuten Alkoholvergiftung ist, wie bekannt, das¬
jenige der Erregung mit darauf folgender Lähmung bei jedem
Menschen. Die Verschiedenheiten der Wirkung ergeben sich hin¬
sichtlich der Menge des erforderlichen Alkohols zur Erzeugung
der deutlich erkennbaren Giftwirkung und aus der Zeitdauer bis
zu ihrem Eintritt, dazu kommen aber auch noch Unterschiede in
der Zeitdauer und Ausbildung der einzelnen Phasen der Vergiftung.
Beim Toleranten überwiegt lange Zeit die Erregung, sie steigt
langsam an und erreicht spät ihre Höhe, beim Intoleranten geht
alles viel schneller, aber hinsichtlich der einzelnen Abschnitte
läßt er ein verschiedenartiges Verhalten erkennen. Die einen,
die man meistens meint, wenn man von Leuten spricht, die nichts
vertragen können, werden sehr bald laut und lärmend und ver¬
lieren ihre Hemmungen. Es gibt aber noch andere Intolerante,
bei denen die Erregung fast unmerklich vorübergehen kann, die
aber sehr schnell müde nach Alkoholgenuß werden, also seine
lähmende Wirkung besonders früh und deutlich an sich wahr¬
nehmen, auch an dem früh eintretenden Stadium von Xusfall-
und motorischen Lähmungerscheinungen, wenn sie noch mehr
Alkohol zu sich nehmen. Sie werden indes nicht schwer be¬
trunken, weil infolge der Ermüdung der genügende Anreiz zum
weiteren Genuß, die anregende Wirkung fehlt. Gewiß gehören
beide Arten von Intoleranz zu den höheren Graden von Nervosität.
Aber wie es bei Nervösen solche gibt, die sich leicht und heftig
erregen (z. B. mit Neigung zum Jähzorn), darnach aber stark ab-
fallen und ungewöhnlich erschöpft sind, während andere stark
Nervöse diese hochgradige gemütliche Erregbarkeit nicht zeigen,
so wird es sich vielleicht auch hinsichtlich ihrer Alkoholreaktion
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verhalten. Daß nervöse Einflüsse bei der Alkoholintoleranz in
hohem Grade mitwirken, sieht man auch daran, daß bei starker
seelischer Erregung schon geringe Mengen Alkohol die Erregung
steigern und ebenso bei Schwächung der nervösen Widerstands¬
kraft infolge schwerer körperlicher Anstrengung, bei Krankheiten, -
im Greisenalter usw. Man hat noch andere Beobachtungen, die
die innige Abhängigkeit der Alkoholwirkung von der nervösen
Verfassung anzeigen. Es gibt Leute, die von Zeit zu Zeit ent¬
schieden ein Bedürfnis nach Alkohol haben. Zustände körperlicher
Ermüdung, seelische Abspannung, besonders aber gemütliche Ver¬
stimmungen verlangen bei ihnen zum Ausgleich und zur schnelleren
Überwindung dieser Hemmungen den Genuß von Alkohol. Wahr¬
scheinlich werden es solche Menschen sein, bei denen der Alkohol
mehr anregt als ermüdet, also werden zu diesem Reaktionstypus
vielleicht vornehmlich die Leute gehören, deren Nervosität in
endogenen Stimmungsschwankungen oder in der Neigung zu Ver¬
stimmungen besteht, also Psychastheniker. Ich glaube aber gewiß,
diese Leute werden zu Unrecht zu der Klasse der Trinker gerechnet,
nur weil bei ihnen ab und an das Bedürfnis nach Alkohol be¬
steht, der ihnen einen gewissen gemütlichen Tiefstand überwinden
helfen soll. Man hält dem wohl gegenüber, daß auch beim Trunk¬
süchtigen ein Bedürfnis nach Alkohol besteht. Während wir es
aber bei diesem mehr als organisch, durch die alkoholischen Aus¬
fallerscheinungen in dem ewigen Kreislauf zwischen Potus,
Abstinenzerscheinungen, neuem Drang nach Alkohol bedingt an-
sehen müssen, hängt dort der Drang nach Alkohol lediglich von
einem augenblicklichen Tiefstand der seelischen Verfassung ab.
Ist er überwunden, so fällt sozusagen automatisch auch der Wunsch
nach Alkohol fort. Daß bei ihnen die Zeichen der Trunksucht
auf körperlichem und seelischem Gebiet vermißt werden, das ist
der schlagendste Beweis für die Richtigkeit dieser Anschauung und
so recht die Probe auf das Exempel. Von ihnen unterscheiden
sich andere Leute, die dieses Anreizes durch den Alkohol nicht
bedürfen, und die daher sehr gut auf jeden Alkoholgenuß über¬
haupt verzichten können, ohne ein besonders großes Opfer zu
bringen. Es ist nun keineswegs gesagt, daß sie gerade besonders
nervenstarke Individuen seien. Im Gegenteil meine ich unter
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ihnen recht stark nervöse Leute gefunden zu haben, ja sogar
solche, die gar keine besonders große Widerstandskraft gegen
Alkohol haben. Nur liegt ihre Nervosität anscheinend nicht in
der Richtung einer vorwiegenden seelischen Verstimmbarkeit,
sondern mehr auf der neurasthenischen Linie. Sie brauchen
den Alkohol nicht, wenn sie ihn aber genießen, so geschieht es
vornehmlich der sensiblen, Geschmacks- und Geruchsreize wegen.
Derartige sinnliche Reize mögen auch bis zu einem gewissen Grade
bestimmend für die Wahl der jeweils genossenen Alkoholsorte
sein, indem z. B. bei Gewöhnung an schärfere Reize (z. B. beim
Essen) auch stärker schmeckende, riechende, brennende Alkohole
bevorzugt werden, während andererseits, um die Geschmacksnerven
nicht zu lähmen oder abzustumpfen, bei Tisch gerne leichtere
Weine gewählt werden.
Es gibt aber noch andere Beziehungen zum Alkohol, bei
denen ich nervöse Grundlagen zu sehen geneigt bin. Das ist die
Bekömmlichkeit und Toleranz gegenüber dem Alkohol je nach der
Tageszeit. Es ist nicht zu verkennen, daß die verschiedenen
Füllungszustände des Magens und im Zusammenhang damit die
Schnelligkeit der Aufnahme des Alkohols in den Kreislauf eine
nicht geringe Rolle spielen. Sie reichen aber sicher nicht zur
Erklärung aus. Es gibt nämlich Leute, die selbst nach einer
reichlichen und guten Mittagsmahlzeit außerstande sind, Alkohol
in dem Maße und mit demselben Genüsse zu sich zu nehmen,
wie nach dem Abendbrot, trotzdem jenes allgemeiner Übung zu¬
folge ausgiebiger gestaltet wird, wie dieses. Ich weiß hier nur
eine Parallele zu ziehen, die mir brauchbar scheint. Viele
Menschen, die nervös sind, unterliegen hinsichtlich ihres all¬
gemeinen und seelisch-nervösen Befindens deutlichen Tages¬
schwankungen derart, daß sie ihre besten Stunden, die Zeit völligen
Wohlbehagens, gemütlichen Gleichgewichtes oder sogar eine leichte
Steigerung der Stimmung in den Abendstunden haben. Da sie
andererseits am wenigsten gesammelt unmittelbar nach der Nacht¬
ruhe zu sein pflegen, kann man sie mit Kindern vergleichen, die
nicht recht ausgeschlafen haben, sie sind empfindlich, reizbar, un¬
lustig und in ihrer Stimmung sehr schwankend. Das Gehirn wird
bei ihnen wohl in einem Zustand geringerer Widerstandsfähigkeit
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Weiteres zur Alkoholfrage.
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und erhöhter Reizbarkeit sich befinden. In derselben Linie ver¬
minderter Widerstandskraft sehen wir den Menschen, dessen Ge¬
hirn tagfiber stärker auf den Alkohol reagiert wie abends, und
ich wüßte nicht, welches ernsthafte Bedenken der Annahme ent¬
gegenstünde, daß der Grund für die Tagesschwankungen in der
Toleranz gegen den Alkohol eben auch in den verschiedenen
nervösen Verfassungen im Laufe des Tages liegt. Eine hierher
passende Erscheinung ähnlicher Art scheint mir die Beobachtung
zu sein, daß es Menschen gibt, die den richtigen Appetit zum
Essen erst abends haben. Das sind keineswegs Gründe der Ge¬
wöhnung und Übung, da ich diese Zustände bei demselben Menschen
mehrfach habe kommen und gehen sehen. Vielmehr beruht diese
Erscheinung auf der nervösen Unruhe und Hast, die manche Leute
zeitweise bei der Abwickelung ihrer Berufsgeschäfte erfaßt, sie
sind dadurch derartig abgehetzt und psychisch abgelenkt, daß sie
Sinn und Ruhe für das Essen verlieren. Dieser Zustand verliert
sich bei ihnen dann erst, wenn der Abend ihrer Tätigkeit ein Ziel
setzt und ein größeres seelisches Gleichgewicht eintritt. Ich weiß
auch keinen anderen Grund als die Annahme nervöser Faktoren,
wenn man sich einmal zum Trinken absolut nicht aufgelegt fühlt
und das anderemal Lust dazu verspürt; wahrscheinlich sind es,
abgesehen von zufälligem körperlichem Unwohlsein, in der Regel die¬
selben Ursachen nervöser Reizbarkeit oder wie man das nennen
will, wenn einem der Alkohol nicht schmeckt und direkt nicht
bekommt, so ähnlich wie es einem Raucher einmal passieren kann,
daß er von seiner Zigarre nichts wissen will. Und wenn man
sich an einem Abend besonders trinkfest fühlt und in der Tat die
vergiftende Wirkung des Alkohols auch viel später wie gewöhnlich
eintritt, so pflegt dies in Zeiten und Stunden zu sein, in denen
man innerlich besonders aufgeräumt ist. Da nun aber alles, was
wir Stimmung, Wohlbehagen, Lust- und Unlustgefühle nennen,
ganz fraglos mit den physikalisch-chemischen Veränderungen
unseres nervösen Zentralorgans zusammenhängt, so liegt es nahe,
zu glauben, daß auch dieses ganze so außerordentlich wechselvolle
Verhalten gegenüber dem Alkohol mit der Aufnahme und Ver¬
arbeitung desselben durch die nervösen Elemente zusammenhängt
je nach den biochemischen augenblicklichen Verhältnissen desselben.
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Finckh,
Es ist mir sodann schon oft auffällig gewesen, daß die schlaf¬
bringende Wirkung geistiger Getränke zuweilen ausbleibt, und
zwar bei kleineren wie bei großen Mengen. Insbesondere, bei den
letzten sah ich Zustände, die sehr lebhaft an den durch schwere
Arbeit eingetretenen Zustand von Übermüdung erinnerten, also
schwere Müdigkeit und Schlafbedürfnis neben motorischen Aus¬
fallerscheinungen, und trotzdem Eintritt des Schlafes erst nach
langer Zeit, wenn völlige Ernüchterung eingetreten war. Es ist
möglich, das hier wie dort eine nervöse Überreizung vorhanden
war, die den Eintritt des Schlafes so lange hinauszögerte, bis
durch eine längere Pause völligen Ausruhens die Überreizung der
Nerven sich gelegt hatte. Auch der Alkohol könnte eine derartige
Überreizung erzeugen, die sich erst legen muß, ehe der Schlaf ein-
tritt. Beide Arten von Übermüdung oder Überreizung sind sich
nach meiner Beobachtung auch darin verwandt, daß die Schlaf¬
periode, die auf sie folgt, auffällig kurz und recht unruhig, traum¬
reich ist, wie wenn die starke Erregung der Nerven noch stunden¬
lange Schwingungen verursachte. Und nun war mir merkwürdig,
daß große Alkoholmengen zu verschiedenen Zeiten nicht immer
das gleiche Bild der Übermüdung erzeugten. Vielmehr meinte ich,
in Perioden besseren nervösen Befindens regelmäßig das Ausbleiben
der Überreizung, dagegen baldiges Einschlafen und erquickenden
festen Schlaf von normaler, aber nicht übermäßiger Dauer gesehen
zu haben. Diese Erscheinung, die mir zu häufig entgegen getreten
ist, als daß ich von Zufall oder Irrtum sprechen möchte, weist
doch auch wieder fast zwingend auf die verschiedenartige nervöse
Grundlage hin, auf der sich die Alkoholwirkung auf baut. Diese
Übermüdung macht sich ihrem Träger schon während der Alkohol¬
sitzung bemerkbar und kann überwunden werden durch längere
völlige Ruhe und Enthaltung von weiterem Alkoholgenuß; die
gleichzeitig vorhandenen motorischen Ausfälle verschwinden
während der Karenz- und Ruhezeit, und es tritt ein Zustand
größerer Alkoholtoleranz wieder ein, auf den normaler, erquickender
Nachtschlaf folgt.
Wie ungleichartig die Wirkung des Alkohols ist, geht auch
daraus hervor, daß es Leute gibt, bei denen die übliche Steigerung
der sexuellen Erregbarkeit durchaus anszubleiben scheint, ohne daß
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Weiteres zur Alkoholfrage.
121
es sich etwa um sexuell Unempfindliche handelt. Er scheint bei
seiner Einwirkung bei dem einen eben die eine und bei dem
anderen jene nervöse Gruppe besonders zu erfassen, wie wir ja
oben erfahren haben, daß die psychische Erregung nicht stets und
durchaus die Szene beherrscht, da andere sehr viel stärker seine
lähmende Wirkung an sich erfahren; endlich überwiegt bei ein
und demselben Menschen bald diese, bald jene Erscheinungsreihe,
so- daß man von verschiedenen Dispositionen oder Affinitäten zum
Alkohol innerhalb desselben Nervensystems sprechen könnte.
So wird jeder, der andere und sich selbst auf diese merk¬
würdigen Bilder hin beobachtet hat, ähnliche und wahrscheinlich
noch sehr viel andere Erscheinungen feststellen können, vielleicht
auch Gegenteiliges zu dem heute Vorgeführten. Ich glaube, es
handelt sich hier um recht komplizierte Verhältnisse, einander
ausschließende oder ergänzende Kräfte, so daß schon daraus sich
die mannigfaltigen und so sehr wechselvollen Folgen verstehen
lassen. Sie alle erklären zu wollen, dürfte aussichtslos sein, da
wir den letzten Ursachen doch nirgends nachspüren können. Wir
müssen uns wahrscheinlich genügen lassen, wenn wir sie einiger¬
maßen in das Gefüge ähnlicher oder verwandter Beobachtungen
einzureihen vermögen, über die wir uns bereits bestimmte Vor¬
stellungen gemacht haben, die unserem Erkenntnisvermögen
einigermaßen genügen.
Das Gemeinsame der hier vorgeführten, so bunten und ein¬
ander oft scheinbar widersprechenden Bilder scheint mir zu sein,
daß, da der Alkohol im wesentlichen derselbe bleibt, es doch in
der Hauptsache auf das Nervensystem ankommt, auf das er ein-
wfckt, sowie auf die Veränderungen in demselben, und der ver¬
schiedenartigen Verfassungen, denen es unterliegt. Und da er in
erster Linie gerade in die feinsten Ansstrahlungen des seelisch¬
nervösen Gefüges eingreift, die wir mit Recht die Kennzeichen
der persönlichen' Eigenart nennen dürfen, so wird es vielleicht
richtig sein, daß der Alkohol dazu hilft, die seelische Struktur des
einzelnen und seine Reaktionen besonders deutlich erkennen
zu lassen.
Ztitaehrilt für Paydiiatrit. LXXV. 1.
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Personalnachrichten,
Dr. Rudolf Camerer, Obermed.-Rat, Ref. d. Med.-Kollegiums, wurde zum
Direktor der Heilanstalt Winnental,
Dr. Julius Daiber, Oberarztin Weinsberg, zum Direktorin Zwiefalten,
Dr. Friedrich Kälber Iah, Nervenarzt in Frankfurt a. M., zum ärztlichen
Leiter der städtischen Kuranstalt Hohe Mark,
Dr. Walter Schulze, Anstaltsarzt in Potsdam, zum Oberarzt in Görden
ernannt,
Dr. Hans Römer, Oberarzt, von Illenau nach der Landesanstalt bei
Konstanz versetzt und
Dr. Ernst O. Böttcher, Med.-Rat, Oberarzt, von Colditz nach Waldheim
vorübergehend abgeordnet.
Dr. Alfred Hauptmann, Priv.-Doz. in Freiburg i. B., ist zum ao. Pro¬
fessor,
Dr. Hugo Liepmann, Prof., Dir. d. städt. Heilanstalt Herzberge, und
Dr. Oswald Bumke, Prof, in Breslau, sind zu Geh. Med.-Räten,
Dr. Max Laehr, Prof., Leiter der Heilstätte Haus Schönow,
Dr. Albert Oliven, Dir. des Berolinum in Lankwitz, und
Dr. Richard Henneberg in Charlottenburg zu Geh. Sanitätsräten,
Dr. Paul Edel in Charlottenburg,
Dr. Siegfried Kahlbaum, Leiter der Privatheilanstalt in Görlitz,
Dr. Richard Lehmann, Oberarzt in Lublinitz,
Dr. Johann Wende, Oberarzt in Kreuzburg,
Dr. Friedrich Borchers und
Dr. Ludwig Schmidt, Abteilungsärzte in Hildesheim, und
Dr. Wilhclm Schlodtmann, Oberarzt in Roderbirken, zu Sanität6räten
ernannt worden.
Dr. Otto Binswanger, Prof, und Geh. Med.-Rat in Jena, hat das Komtur¬
kreuz 1. Kl. d. Anhaitinischen Hausordens Albrecht des
Bären und das Komturkreuz mit Stern des Sachsen-Ernestini-
schen Hauses, sowie das Weimarische Ehrenkreuz für
Heimatverdienst,
Dr. Wilhelm Strohmayer, ao. Prof, in Jena, das Ritterkreuz 1. KL d. An-
haltinischen Hausordens Albrechts des Bären erhalten.
Dr. Paul Dubois, ao. Prof, in Bern, ist am 4. Nov.,
Dr. Hans Schröder, San.-Rat, Dir. d. Prov.-Anstalt Hildesheim, am
3. Dez. an Grippe mit Pleuritis,
Dr. Eduard Kerris, Oberarzt in Johannistal bei Süchteln,
Dr. A. Erler in Kortau,
Dr. Ludwig Scholz , Nervenarzt in Bremen, und
Dr. Kurt Halbey, Kreisarzt in Kattowitz, sind gestorben.
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Die Schizophrenie
im Lichte der Assoziation»- und in dem der Aktions-
Psychologie.
Von
Doz. Dr. Josef Bene,
k. k. Regierungsrat, Direktor der n. ö. Landesirrenanstalt Klosterneuburg.
Die Versuche, das schwere Rätsel der Schizophrenie zu lösen,
müssen selbstverständlich verschieden ausfallen, je nach der Richtung
der Psychologie, auf deren Standpunkt die Autoren stehen. Besonders
groß werden die Differenzen sein müssen, wenn ein Autor Anhänger
des reinsten Assoziationismus ist, der andere dagegen von der Richtig¬
keit der aktionspsychologischen Auffassung, gleichviel in welcher spe¬
ziellen Form, überzeugt ist.
Dem Assoziationspsychologen bleibt, da er das Denken wie alle
„höheren“ geistigen Vorgänge überhaupt einzig und allein auf Assozia¬
tionen zurückführt und die psychische Aktivität im Sinne der aktions¬
psychologischen Richtung in Abrede stellt, nachgerade nichts anderes
übrig, als eine Störung im Bereiche der Assoziationen als Grundstörung
der Schizophrenien hinzustellen.
So findet denn auch Bleuler l ) in seiner neuesten Arbeit über die
Schizophrenie folgendes: „Ein dynamisches Etwas, die Assoziations¬
spannung, hält die durch Erfahrung gebildeten Assoziationen in ihren
Bahnen. Im Schlafe und in der Zerstreutheit läßt diese Funktion
nach; außerdem lockern sich die Assoziationen in für unsere Kennt¬
nisse ganz gleicher Weise auch bei den Schizophrenien. Es ist deshalb
wahrscheinlich, daß der schizophrene Prozeß die Assoziationsspannung
irgendwie schwächt, und — weil sich aus dieser Anomalie fast alle der
*) E. Bleuler , Störung der Assoziationsspannung ein Elementar¬
symptom der Schizophrenien (Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 74, S. 1 fT.).
S. „Zusammenfassung“ am Schlüsse dieser Arbeit.
Zeitschrift für Psychiatrie.
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LXXV. 2.
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Berze,
bekannten schizophrenen Symptome ableiten lassen — können wir
vermuten, daß die Schw&che der Schaltspannung die Grundlage der
spezifisch schizophrenen Erscheinungen sei. Damit soll aber nichts
mehr als eine Arbeitshypothese aulgestellt sein/'
Gegen die Behauptung, daß die für die Schizophrenie charak¬
teristischen psychischen Erscheinungen denen des Schlafes und auch
der Zerstreutheit durchaus analog seien, wird von keiner Seite ein
Ein wand erhoben werden; diese Analogie hat sich ja vielmehr allen
Beobachtern geradezu aufgedrängt und ist auch von den meisten
Autoren als wichtigste Grundlage für die Betrachtung der Grund¬
störung der Schizophrenien angesehen worden. Auch dagegen wird
nichts einzuwenden sein, wenn aus der Gleichheit der Erscheinungen
in den erwähnten Zuständen auf eine Gleichheit des ihnen letzten
Endes zugrunde liegenden Mechanismus geschlossen wird, obwohl
andrerseits nicht vergessen werden darf, daß mit dieser These das
Gebiet der vergleichenden Beobachtung bereits verlassen und das der
Annahmen betreten ist.
Durchaus hypothetisch aber ist Bleulers Aufstellung, daß es sich
im Schlafe, in der Zerstreutheit und ebenso auch bei den Schizophrenien
um eine „Lockerung der Assoziationen“ handle. Bleuler spricht zwar
(1. c. S. 13) von der „Lockerung der Erfahrungsassoziationen bei der
Schizophrenie“ als einer „Bcobachtungstatsache“; er wird aber
doch selbst zugeben müssen, 'daß er dazu im Grunde nicht berechtigt
ist, da er niemals die behauptete Lockerung der Assoziationen selbst
beobachtet haben kann, sondern immer nur Erscheinungen, die er
sich als durch eine solche Lockerung bedingt auslegt.
Welcher Art sind nun diese Erscheinungen?
Bleuler führt aus, daß „von allen chronischen Psychosen nur die
Schizophrenie andauernd die festen Begriffe auflösen und anders zu-
sammensetzen kann“, und fragt im unmittelbaren Anschluß daran:
„Was ist nun diese Lockerung der Assoziationen ?“ Daraus geht hervor,
daß es u. a. die erwähnte Störung im Gebiete der Begriffe ist, die
Bleuler meint, wenn er von einer Lockerung der Assoziationen
spricht. Ebenso spricht Bleuler an anderer Stelle davon, daß die Er-
fahrungsassoziationen im Traume gelockert seien, so daß „da fast
alles an alles assoziiert werden“ könne; die Folge davon sei, daß „die
festesten Konglomerate, wie z. B. Begriffe l ), in ihre Bestandteile
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*) Im Originale nicht gesperrt!
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Die Schizophrenie osw.
125
zerrissen und zu neuen, phantastischen Gebilden zusammengesetzt
werden können“, desgleichen Vorstellungen bzw. Halluzinationen,
daß „dar ganze Gedankengang des Traumes die Geleise der Logik
verläßt“ U8w. Außer der Auflösung und der von der Erfahrung ab¬
weichenden neuen Zusammensetzung der Begriffe sind es also gleiche
Erscheinungen an verschiedenen andern psychischen Gebilden, die
Bleuiler auf die „Lockerung der Assoziationen“ bezieht.
Es eigibt sich demnach, daß Bleuler an eine „Lockerung der As¬
soziationen“ deshalb denkt, weil er in den Begriffen und in den Vorstel¬
lungen nichts anderes sieht als „Konglomerate“ (d. h. Assoziationskom¬
plexe), ja selbst die Einhaltung der Logik ganz und gar als eine Wirkung
festgefügter Assoziationen betrachtet und daher die Auflösung der
Begriffe usw. sowie das Verlassen der „Geleise der Logik“, geradezu
auf eine Störung im Bereiche der Assoziationen zurückführen muß,
auf eine Störung, die sich ihm begreiflicherweise als Lockerung der
Assoziationen darstellt.
Begriffe sind Zusammenfassungen (sc. von Merkmalen); der As¬
soziationspsychologe setzt für Zusammenfassung einfach Assoziation
und schreibt den Assoziationen, als welche sich ihm also die Begriffe
darstellen, das gleiche Wesen sowie die gleichen Entstehungs- und
Existenzbedingungen und die gleiche Bedeutung zu wie den Assozia
tionen im geläufigen Sinne, d. i. den simultanen und sukzessiven einer¬
seits, den Berührungs- und Gleichheitsassoziationen andererseits.
Nun liegt es aber doch auf der Hand, daß das bloße (passive)
Erleben wohl Assoziationen, z. B. simultane Assoziationen, erzeugen
bzw. hervorrufen kann, niemals aber Begriffe. Die Entstehung der
Begriffe hat vielmehr außerdem das Wirken der Idee zur Voraus¬
setzung, durch welche der Gesichtspunkt zur Geltung kommt, von
welchem aus die Erlebnisse zum Zwecke der begrifflichen Zusammen¬
fassung jeweils betrachtet werden; dies geht u. a. auch daraus hervor,
daß ein und dasselbe Erlebnismaterial, niedergelegt in ein und dem¬
selben Assoziationsmaterial, nach den verschiedensten Gesichts¬
punkten begrifflich geordnet werden kann. Die Begriffe sind mit
andern Worten nicht unmittelbar mit dem Anschaulichen gegeben
und können auch niemals durch bloße Assoziationen von Anschaulichem
entstehen; sie sind vielmehr „Produkte der denkenden Verarbei¬
tung“ des Inhaltes der Erlebnisse. So ist zunächst einmal das Ent-
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Berze,
stehen der Begriffe von dem Gegebensein der Fähigkeit zu geistiger
Tätigkeit abhängig. Aber nicht nur das Entstehen! Zwar entspricht
dem einmal gebildeten Begriff ein Komplex von Assoziationen, welcher
beim Individualbegriff die Eigenschaften eines Individuums, beim
AUgemeinbegriff seine konkreten Repräsentanten — in beiden Fällen,
soweit sie (Eigenschaften, Repräsentanten) einzeln erfaßt und sodann
zum Begriffe zusammengefaßt worden sind — betrifft. Aber die den
einzelnen Begriffen entsprechenden Assoziationskomplexe sind keines¬
wegs sozusagen gegeneinander scharf abgegrenzte Entitäten, sind
vielmehr in allen ihren Komponenten auch untereinander, wenn auch
weniger solid, assoziiert, so daß buchstäblich — schon unter normalen
Verhältnissen — alles mit allem verknüpft ist und somit ein beständiges
Ineinanderfließen der die verschiedenen Begriffe repräsentierenden
Vorstellungen möglich ist, soweit es nur auf die Assoziationen an¬
käme. Auch die Wiedererweckung der Begriffe und das Hantieren
mit ihnen hat also die Wirksamkeit eines Faktors zur Voraussetzung,
welcher den im Einzelfalle in Betracht kommenden Assoziations¬
komplex aus der Gesamtheit des Assoziierten heraus- und vom übrigen
abhebt. Ist das Schaffen der Begriffe mit andern Worten ein Denken,
so das Wiedererwecken der Begriffe ein Nachdenken (Nach-Denken),
also wieder geistige Tätigkeit, die sich allerdings infolge des Zuhilfe¬
kommens des reproduzierten Komplexes repräsentativer Assoziationen
weit leichter und rascher abspielt. Das Wesentliche an diesem Vor¬
gänge des Nachdenkens ist aber zweifellos wieder die Wirksamkeit der
Idee, der „gedanklichen Einheit“, welche dem einzelnen Begriffe zu¬
grunde liegt.
Nicht also auf dem mehr oder weniger festen Gefüge bestimmter
„Assoziationskomplexe“ beruht die mehr oder weniger ausgesprochene
Solidität und Umgrenztheit der Begriffe, sondern auf der mehr oder
weniger intensiven Wirksamkeit der das eigentliche Wesen der Begriffe
ausmachenden Ideen (gedanklichen Einheiten).
Die sensualistische Assoziationspsychologie hat für Ideen in
diesem Sinne keinen Platz. Es gibt für sie keine Gegenüberstellung
von Assoziationsmaterial als Produkt der Sinnesfunktionen einerseits,
Ideen als die weiteren geistigen Gestaltungen schaffende Faktoren
andererseits. Da der Assoziationismus alles Psychische auf die Emp¬
findungen und nur auf sie zurückführt und auch für die Ideen keine
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Die Schizophrenie usw.
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Ausnahme gelten läßt, begibt er sich der Möglichkeit, diese als Motoren
und Regulatoren der unter Verwendung (Verarbeitung) des in den
sensugenen Assoziationen niedergelegten Materials erfolgenden und
zur Entstehung höherer geistiger Ergebnisse führenden psychischen
Tätigkeit zu betrachten. Es wäre ja ein Circulus vitiosus, wollte man
Abkömmlinge des Assoziationsgetriebes andererseits wieder als treibende
und ordnende Faktoren bei der Hervorrufung von Assoziationskom¬
plexen hinstellen. Man kann sich nicht ä la Münchhausen mit eigener
Hand an seinem Zopfe aus dem Sumpfe, in den man geraten, ziehen*
Das „logische Denken“ ist nach Bleuler, im Sinne des strengsten
Assoziationismus, „entweder eine genaue Reproduktion früher erlebter
oder eine Bildung analoger Verbindungen“.
Eine solche Fassung ist schon deshalb nicht akzeptabel, weil das
Denken keineswegs immer ein Schaffen, geschweige denn ein Re¬
produzieren von „Verbindungen“ ist. Der synthetischen Denk¬
tätigkeit, die man ja vielleicht als ein Bilden von Verbindungen um¬
schreiben könnte, steht als zumindest ebenbürtige und gleich wichtige
„Handlungsweise des Verstandes“ das analytische Denken gegenüber,
dem jene Definition nicht gerecht wird, abgesehen davon, daß auch
die vergleichend-beziehende, auswählende, bevorzugende, hemmende
Denktätigkeit nicht einfach als ein Bilden von Verbindungen hinge¬
stellt werden kann — und vor allem ganz allgemein davon, daß mit der
Betonung der sich aus dem Denken, welcher Art immer es sein mag,
etwa ergebenden Verbindungen immer nur das Ergebnis des Den¬
kens, keineswegs aber das Wesen dieser Tätigkeit selbst berührt wird.
Auf das letztere kommt es aber gerade an, schon dem Psychologen,
ganz besonders aber dem Psychopathologen; denn die Geistesstörungen
sind im Grunde genommen durchweg pathologische Veränderungen
der geistigen Tätigkeit, und es kann nur von einzelnen Formen der
Geistesstörung mehr oder weniger sicher behauptet werden, daß die
pathologische Veränderung der Geistestätigkeit eine sekundäre sei,
abhängig von einer primären Störung im Bereiche der eine Voraus¬
setzung des Denkens bildenden Assoziationen („Verbindungen“).
Ganz besonders aber ist die „Schizophrenie“ eine Störung der
Geistestätigkeit. Dies muß auch der Assoziationspsychologe, wenn
er gut beobachtet, also auch Bleuler, konstatieren. Er muß auch vor
allem dieser Tatsache gerecht zu werden suchen, wenn er daran geht.
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128
Berte,
eine „Hypothese“ für das „Elementarsymptom der Schizophrenien“
aufzustellen. Wie tut dies nun Bleuler ?
Eine psychische Aktivität im eigentlichen Sinne stellt Bleuler
in Abrede. Demgemäß verwirft er auch die Theorien der Schizophrenie,
nach welchen die primäre Störung in einer Insuffizienz der psychischen
Aktivität zu suchen wäre 1 ).
Als besonderen Grund für diese Ablehnung führt Bleuler an, daß
„die Schizophrenen in Aufregung, bei einer Unternehmung, die sie
interessiert, z. B. einem Fluchtversuch, und unter Umständen an¬
dauernd (schizophrene Weltverbesserer) eine sehr große Energie ent¬
wickeln können“. „Es kann also bei den Schizophrenen nicht prin¬
zipiell die allgemeine Energie herabgesetzt sein.“
Dieser Einwand macht zunächst den Eindruck der Unabwehrbar-
keit; bei näherer Betrachtung zeigt sich aber alsbald seine Hinfälligkeit.
Zunächst ist ein großer Unterschied zwischen Schizophrenen und
Schizophrenen darin gelegen, daß die einen zurzeit als Kranke im
eigentlichen Sinne zu betrachten sind, weil der eigentliche Krankheits¬
prozeß, welcher der Geistesstörung zugrunde liegt, noch besteht bzw.
noch im Gange ist, die andern aber bereits als geistig Sieche oder
noch besser als geistig Krüppelhafte, weil bei ihnen der eigentliche
Krankheitsprozeß wohl nicht mehr besteht, sei es, daß er temporär
äusgesetzt hat, sei es, daß er endgültig abgelaufen ist, andrerseits aber
als Besiduen der durchgemachten eigentlichen Krankheit „schizo¬
phrene“ Veränderungen zurückgeblieben sind. Freilich leidet diese
Betrachtungsweise einstweilen noch daran, daß wir noch keine sicheren
Anhaltspunkte für die Unterscheidung zwischen der eigentlichen
Krankheit und dem schizophrenen Siechtum haben und in diesem
Punkte fast ganz auf den allgemeinen Eindruck angewiesen sind.
Soviel läßt sich aber doch schon heute mit einiger Bestimmtheit sagen,
daß die eigentliche Krankheit in vielen Fällen akut oder subakut, in
andern Fällen mehr chronisch mit oder ohne eigentliche Progredienz,
oft „in Schüben“ mit dazwischenliegenden Remissionen oder auch
Intennissionen, verläuft und daß nach ihrem Ablaufe eben in der
1 ) Darunter die meinige. Vgl. Berze, Die primäre Insuffizienz der
psychischen Aktivität; ihr Wesen, ihre Erscheinungen und ihre Bedeutung
als Grundstörung der Dementia praecox und der Hypophrenien überhaupt.
(Leipzig und Wien, 1914 .)
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Die Schizophrenie ubw.
129
Regel ein seinem Wesen nach im allgemeinen stationär bleibender
schizophrener „Residualzustand“ zurückbleibt. Der weitaus größte
Teil der Schizophrenen, wie wir sie in den Irrenanstalten "viele Jahre,
ja Dezennien lang beobachten können, und auch die große Zahl der
Schizophrenen, die Bleuler im Auge hat, wenn er z. B. auf die „schizo¬
phrenen Weltverbesserer“ hinweist, sind nicht mehr Kranke, sondern
Sieche, Krüppel im oben bezeichneten Sinne, bei denen allerdings auch
zu jeder Zeit, auch nach viele Jahre währendem Stillstände, noch
neuerliche Krankheitsschübe von kurzer oder auch längerer Dauer
einsetzen können. — Mit andern Worten: Was wir an der großen Menge
der Schizophrenen in den und außerhalb der Anstalten beobachten,
sind nicht Erscheinungen der bestehenden Krankheit — diese sind
mit dem Ablaufe der Krankheit verschwunden —, sondern Folgen der
abgelaufenen Krankheit, Verwüstungen, die die Krankheit ange¬
richtet hat.
Wenn also Bleuler anführt, daß die Schizophrenen unter bestimm¬
ten Umständen „eine sehr große Energie entwickeln können“, so sagt
er damit nichts aus, was gegen die Annahme einer Insuffizienz der
psychischen Aktivität als Grundstörung der Krankheit Schizophrenie
spräche, so lange er nicht den Beweis geliefert hat, daß eg sich in den
Fällen, auf die er sich bezieht, um noch (Schizophrenie-) Kranke und
nicht um bereits „sekundäre“ x ) Fälle handelt. Denn — und damit
wird ein Gesichtspunkt berührt, der für die Beurteilung des Wesens
der Schizophrenie von allerwesentlichster Bedeutung ist — es spricht
durchaus nichts gegen die Annahme, daß die Grundstörung der
Krankheit Schizophrenie in einer gewissen Gruppe von Fällen, eine
reparable sei, & h. daß in diesen Fällen die Insuffizienz der psychi¬
schen Aktivität auf einer ausgleichbaren Störung im psychozerebralen
Apparate beruhe und mit deren Behebung daher auch wieder restlog
verschwinden könne. Daß auch die vollkommene Wiederherstellung
der psychischen Aktivität in einer großen Zahl dieser Fälle nicht zu¬
gleich eine völlige Wiederherstellung des Geisteslebens herbeizuführen
vermag, liegt, wie bereits angedeutet, daran, daß die psychische Ak¬
tivität nach Ablauf der Krankheit sozusagen in einem verdorbenen
Mechanismus spielt. Wie der Imbezille auch bei größter psychischer
x ) Die Bezeichnung sekundär paßt m. E. ganz gut für die Zustände
des schizophrenen Siechtums.
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Berze,
Aktivität mangelhafte, im Sinne des gewöhnlichen Schwachsinns
unterwertige Geistesprodukte liefert, so sind auch die, welche der
Schizophrene im sekundären Stadium zuwege bringt, auch dann,
wenn die psychische Aktivität an sich für ein normales Geistesleben
ausreichend wäre, in so und so vielen Fällen mangelhaft, und zwar
in schizophrenem Sinne defekt — infolge der Inhaltsverfälschung,
welche sich während der Dauer der krankhaften Aktivitätschwäche im
Gebiete der Ideen, Ideenverbindungen, Strebungen, Strebungskomplexe
ausgebildet hat, und infolge der Veränderung der Konstitution der
Persönlichkeit, welche sich zugleich mit diesen und mit den Störungen
im Gebiete der Affektivität während dieser Zeit eingestellt hat.
Aber auch bezogen auf die Zeit, in welcher die Aktivitätsschwäche
tatsächlich vorherrscht, also auf die Zeit der eigentlichen Krankheit,
trifft Bleulers Einwand nicht zu. Es ist ja selbstverständlich keinem
der Autoren, welche die Grundstörung der Schizophrenien in'einer
Aktivitätsinsuffizienz sehen — und auch mir nicht — eingefallen, im
allgemeinen eine so weitgehende, an Vernichtung grenzende Ab¬
schwächung der „psychischen Energie“ anzunehmen, wie sie Voraus¬
setzung einer völligen Aufhebung des Willens wäre. Die Aktivitäts¬
schwäche geht in einem großen Teile der Fälle nur so weit, daß die
psychische Tätigkeit, wenn es an einem besonderen Sukkurs, also
namentlich an einem zureichenden Affekte oder an einer zureichend
intensiven Strebungserregung, fehlt, das Denken, Wollen, Handeln
leicht direktionslos, zerfahren wird, oder daß ein Hindernis, das eine
normale psychische Aktivität noch ohne Schwierigkeit zu überwinden
vermag, eine ungünstige „Konstellation“ etwa, leicht zu Versagern
führt oder doch dem betreffenden Akte größere, unter Umständen zu
den verschiedensten psychopathologischen Konsequenzen (Wahn¬
bildung, Negativismus usf.) führende Schwierigkeiten bereitet. Die
Aktivitätsschwäche geht aber andererseits — im allgemeinen — nicht
so weit, daß nicht unter dem Einflüsse „stimulierender“ Affekte,
Eindrücke, Einfälle ausgesprochene Willenshandlungen jeder Art zu¬
stande kommen könnten.
Wenn Bleuler aber besonders betont, daß Schizophrene unter
Umständen „eine sehr große Energie entwickeln können“, so muß
ihm entgegengehalten werden, daß hinter der Entfaltung großer
Energie nicht immer große psychische Aktivität stecken muß.
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Die Schizophrenie usw.
131
Es gehört z. B. keine sonderlich große psychische Aktivität dazu,
eine Affekthandlung zu begehen, oder gar dazu, unter dem Einflüsse
eines Affektes zu explodieren; im Gegenteil aber gehört ein größeres
Maß davon gerade dazu, den Affekt zu beherrschen. Es spricht keines¬
wegs eindeutig für zureichende psychische Aktivität, wenn ein Schizo¬
phrener bei einer Unternehmung, die ihn interessiert, z.B. einem
Fluchtversuch, „eine sehr große Energie entwickelt“. Gerade so wie
eine dem Gegner im ganzen nicht gewachsene, also zu schwache Armee
einen lokalen Erfolg erringen kann, so kann auch der Schizophrene,
obwohl seine verminderte psychische Aktivität zu einer hinreichend
intensiven und nachhaltigen Willensbetätigung im allgemeinen nicht
genügt, gelegentlich eine als Ergebnis eines kräftigen Wollens im¬
ponierende Handlung setzen; in beiden Fällen handelt es sich um Her¬
vorbringung einer kräftigeren Wirkung durch Konzentration der
Kraft auf die betreffende Handlung, im Falle der Schizophrenie herbei¬
geführt durch die „Affektbetonung“ der Intention 1 ). Den schizophrenen
Weltverbesserern und dergleichen endlich, die ein Leben lang ein und
denselben Komplex von mehr oder weniger armseligen Ideen stets
von neuem Wiederkäuen, dabei in der Regel bestimmte Ausdrücke
und Phrasen „zu Tode hetzend“, ob der Hartnäckigkeit, mit der sie
dabei zu Werke zu gehen scheinen, eine besonders große Energie zuzu¬
schreiben, geht erst recht nicht an; denn diese Hartnäckigkeit ist kein
positives Ergebnis willensmäßiger Beschränkung, sondern das negative
Ergebnis der Unfähigkeit zur Ablösung der einmal festgelegten, per¬
sistierenden alten Ideen durch erst zu konzipierende neue, ist also wie
die Kritiklosigkeit, welche der Hauptsache nach auf das Fehlen jener
„Breite des Bewußtseinsstromes“ zurückzuführen ist, die unter nor¬
malen Verhältnissen auch „Nebenassoziationen“, wie sie zur Betrach¬
tung der Dinge von verschiedenen Seiten notwendig sind, aufkommen
läßt, gerade ein Zeichen der verminderten psychischen Aktivität.
Endlich muß Bleuler entgegengehalten werden, daß selbst daraus,
*) Affektivität ist nicht (psychische) Aktivität; Fühlen ist
nicht Streben. Affektivität schafft auch nicht Aktivität, sondern lenkt
bzw. konzentriert nur die vorhandene Aktivität auf die („affektbetonte“)
Idee, bzw. Strebung (Bewußtseinseinengung durch den Affekt), wodurch
allerdings der Anschein eines Anwachsens der Aktivität als solcher
hervorgerufen wird.
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B erz e,
daß eine gewisse Art von Schizophrenen zuzeiten in der Tat fähig
ist, „gute, ja hervorragende Verstandesleistungen aufzuweisen“, durch¬
aus nicht gegen die Annahme einer Schwächung der psychischen
Tätigkeit (abaissement du niveau mental, incapacitö de reffort mental,
oder dergleichen) als solche, sondern nur gegen eine bestimmte Fassung
dieser Annahme sprechen kann. Unmöglich ist es nämlich, für diese
Gruppe von Fällen anzunehmen, daß der Krankheitsprozeß eine
Störung setze, durch welche das niveau mental auf einen Tiefstand
herabgesetzt werde, aus welchem es sich nunmehr während der Dauer
dieser Störung nicht mehr, auch nicht vorübergehend, erheben könne.
Ganz mit Recht sagt ja Bleuler , in Beziehung namentlich auf die Fälle
mit ausgesprochen „launenhafter Inkonstanz der Symptome“, es sei
ausgeschlossen, zu denken, „daß die schlechte Leistung der einen
Minute jeweilen Zeichen eines vorgeschrittenen Krankheitsprozesses,
die gute des folgenden Momentes Beweis einer Besserung sei“. Aber
Bleulers Einwand hat keine Berechtigung mehr gegen die Annahme,
daß der Krankheitsprozeß einen Faktor schädigt, dessen Intaktheit
unbedingte Voraussetzung ist für die konstante Festhaltung des
niveau mental auf jener Höhe, deren Einhaltung unter normalen Ver¬
hältnissen für die ganze Dauer des physiologischen Wachzustandes
ein normales Geistesleben gewährleistet; denn die Schädigung dieses
Faktors muß zur Folge haben, daß an Stelle der Konstanz eine In¬
konstanz des niveau mental — oder, wie ich mich (1. c. und an
andern Orten 1 )) ausgedrückt habe, an Stelle der Stabilität eine gewisse
Labilität des Bewußtseinstonus (psychischen Tonus) — tritt,
daß also ein Zustand eintritt, der dem von Bleuler mit Recht aulge¬
stellten Postulate: „Die Störung, soweit sie sich in den Symptomen
ausdrückt, muß also eine reversible sein“, in geradezu exakter Weise
entspricht.
Bleuler lehnt aber, wie gesagt, eine psychische Aktivität im
eigentlichen Sinne und folgerichtig auch eine Insuffizienz der psychi¬
schen Aktivität als Grundstörung der Schizophrenien ab. Wie steht
es nun aber um seine eigene Hypothese?
Bleuler unterscheidet zwischen dem Zustande, in welchem (psychi-
*) Berze, Bewußtseinstonus (Wiener med. Wschr. 1911); derselbe.
Zur Psychologie und Pathologie der intentionalen Sphäre (Psych.-neurol.
Wschr. 1913).
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Die Schizophrenie usw.
133
sehe) „Energie“ in zureichendem Maße ,,aufgewendet“ wird; in diesem
Zustande „werden die Assoziationen in ihren Erfahrungsgeleisen ge¬
halten“, — und Zuständen, weiche „nach unseren geläufigen und un¬
widersprochenen Vorstellungen das Gemeinsame haben, daß die auf¬
gewendete Energie vermindert ist“, nämlich „Schlaf, Sich-gehen-lassen
und Tätigkeit neben der Aufmerksamkeit, Zerstreutheit“; in diesen
Zuständen „bewegen sich“ die Assoziationen „freier“.
Wie kommt dies? Nach Bleuler hält in ersterem Zustande „ein
dynamisches Etwas, die Assoziationsspannung, die durch Erfahrung
gebildeten Assoziationen in ihren Bahnen“. Im Schlafe und in der
Zerstreutheit dagegen „läßt diese Funktion nach“; und damit „lockern
sich“ in diesen Zuständen die Assoziationen.
Was ist nun unter „Assoziationsspannung“ zu verstehen? Bleuler
bemüht sich, den Begriff, den er mit diesem Worte verbindet, durch
eine „Parallele des psychischen Geschehens mit den Vorgängen in
einer mit vielen Schaltern versehenen elektrischen Anlage“ klarzu¬
machen, verwahrt sich aber zugleich dagegen, daß diese Parallele als
mehr angesehen werde denn „als ein Bild, das uns ermöglicht, einer¬
seits mit konkreten und geläufigen Vorstellungen zu operieren, andrer¬
seits aber — und darin liegt die Notwendigkeit solcher Bilder — mit
verständlichen Ausdrücken die Vorstellungen Andern zu bezeichnen“.
Es ist im Grunde ganz gleichgültig, ob man Bleulers „Bild der
elektrischen Schaltanlage“ für die „Assoziationsvorgänge“ akzeptiert
oder nicht; denn, bei Licht betrachtet, ist die zureichende „Assozia¬
tionsspannung“ im Sinne Bleulers nichts anderes als eine Umschreibung
des Zustandes, in dem nach Bleuler die Assoziationen „straff“ sind
und daher das Denken in der richtigen Weise vor sich geht, die „Ver¬
minderung“ bzw. „Schwächung“ der „Assoziationsspannung“ aber eine
Umschreibung des Zustandes, in dem nach Bleuler die Assoziationen
,»gelockert“ sind und das Denken daher in der Art gestört ist, wie es
im Schlafe, in der Zerstreutheit und dann auch bei der Schizophrenie
eben der Fall ist—nichts als eine Umschreibung, der eine recht vage Vor¬
stellung eines Momentes zugrunde liegt, über dessen Natur sich der
Autor nur mit Zuhilfenahme eines Bildes höchst beiläufig verständlich
machen kann, und von dem man sich „anatomische Vorstellungen am
besten nicht macht“. Wer Bleuler recht gibt, wenn er behauptet, daß
•s sich bei der Schizophrenie um eine „Lockerung der Assoziationen“
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134
Berze,
handle, kann ihm sohin auch ruhig zustimmen, wenn er die erwähnte
„Störung der Assoziationsspannung* 1 als „Elementarsymptom der
Schizophrenien“ hinstellt.
Der Kern der Sache aber ist ein ganz anderer. Die Erscheinungen,
um die es sich handelt, treten zutage, wenn „die Energie, die auf das
Denken gewendet wird“, zur Erhaltung der Ordnung im Denken un¬
zureichend ist; so im Schlaf, beim „Sich-gehen-lassen“, bei der
„Tätigkeit neben der Aufmerksamkeit“, in der Zerstreutheit und so
auch bei der Schizophrenie. Die „Verminderung der Energie“ ist die
einzige durch die Beobachtung unmittelbar feststellbare Tatsache;
alles andere ist mehr oder weniger problematische Spekulation.
Spekulation, und zwar eng der assoziationspsychologischen Auffassung
angepaßte Spekulation, ist es zunächst schon, wenn Bleuler behauptet,
daß die in Bede stehenden psychischen Erscheinungen auf einer
„Lockerung der Assoziationen“ beruhen. Und erst recht Spekulation
ist es, wenn Bleuler diese „Lockerung der Assoziationen“ auf dem Wege
der von ihm ad actum konstruierten „Assoziationsspannung** („Schalt¬
spannung der Assoziationen**) hervorgehen läßt.
Unser ganzes Interesse muß sich also auf das Moment konzen¬
trieren, welches Bleuler meint, wenn er von „Entfaltung von Energie“
spricht. Davon eine Vorstellung zu gewinnen, die im Einklänge steht
mit allen Beobachtungstatsachen, ist das eigentliche Problem.
Ihm aber geht Bleuler vorsätzlich aus dem Wege x ). Er erklärt zur
Begründung: „Allerdings besitzen wir von einer „psychischen Energie“
noch gar keine objektive Vorstellung; wir haben auch keine Möglich¬
keit, sie abzuschätzen oder gar zu messen, obschon die Begriffe der
Energie und Kraft eigentlich subjektive sind und erst später auf
physikalische Verhältnisse übertragen wurden.“ Richtig! Aber es
handelt sich gar nicht um das Was, sondern um das Wie, nicht um das
Wesen der psychischen Energie, von der wir vielleicht niemals eine
„objektive Vorstellung“ gewinnen werden, sondern um den Vorgang
der Entfaltung der psychischen Energie, um die Faktoren, Momente,
Bedingungen, auf die es dabei ankommt. Und die kann man studieren,
*) Man muß also auch sagen, daß Bleuler gerade dort aufhört, wo das
Problem, dessen — wenn auch bloß vorläufige — Erledigung eine Voraus¬
setzung einer Hypothese der Grundstörung der Schizophrenien ist, erst
beginnt.
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Die Schizophrenie asw.
1B5
auch ohne eine objektive Vorstellung vom Wesen der psychischen
Energie zu haben, so wie man die Elektrizität studieren kann, ohne
eine objektive Vorstellung von dem eigentlichen Wesen der Elektrizität
zu haben.
Die streng sensualistisch gerichtete Assoziationspsychologie ist nun
freilich auch gar nicht imstande, eine annehmbare erklärende Dar¬
stellung der „Entfaltung der psychischen Energie“ bzw. dessen, was
hinter diesem Ausdrucke Bleulers steckt, zu geben. Sie muß in
diesem Punkte versagen, weil die Entfaltung der psychischen
Energie im Grunde völlig identisch ist mit der psychischen Aktivi¬
tät, eine psychische Aktivität von ihr aber eben von vornherein ab¬
gelehnt wird.
Für den Aktionspsychologen steht dagegen die „aktive Seite des
geistigen Lebens“, d. h. die „Entfaltung der psychischen Energie“ im
Sinne Bleulers , der passiven Seite des geistigen Lebens, d. i. der Summe
der aus den Sinneseindrücken hervorgehenden „Assoziationen“, die
für den Assoziationspsychologen das einzige Prinzip aller seelischen
Vorgänge darstellen, von vornherein als zumindest in gleichem Maße
zu berücksichtigendes Moment gegenüber. Die aktive verhält sich
zur passiven Seite des geistigen Lebens wie die Motilität
zur Sensibilität. Die „Aktionstheorie“ Münsterbergs verlangt 1 ),
„daß jeder Bewußtseinsinhalt Begleiterscheinung eines nicht nur sen¬
sorischen, sondern sensorisch-motorischen Vorganges ist und somit
von den vorhandenen Dispositionen zur Handlung ebensosehr abhängt
wie von peripheren und assoziativen Zuführungen“.
Daß sich der Psychologie treibende Mediziner fast ausnahnüos
für eine mehr oder weniger ausgesprochen sensualistische Assoziations¬
psychologie und nur ganz vereinzelt für eine richtige Aktionspsycho¬
logie entscheidet, hat offenbar seinen letzten Grund darin, daß die
Ergebnisse der anatomischen und physiologischen Hirnforschung, die
ihm seinem Bildungsgänge zufolge am nächsten liegen, keinen andern
Schluß zuzulassen scheinen als den, daß die Hirnrinde als oberstes
nervöses Zentralorgan anzusehen sei, woraus weiter hervorzugehen
scheint, daß als motorische Funktion der Hirnrinde einzig und allein
die motorische Innervation in den motorischen Rindengebieten an-
l ) Münsterberg, Prinzipien der Psychologie (zit. von Eisler, Wörterb.
d. psych. Begr.).
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Berze,
gesehen werden dürfe, wogegen eine Beteiligung der motorischen
Funktion an den Rindenvorgängen, welche den psychischen Vorgängen
selbst zugrunde liegen, abzulehnen sei — dies, obwohl doch niemand
zu leugnen wagen wird, daß gleich so wie der Charakter der Empfindun¬
gen ein, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorwiegend sensori¬
scher, der Charakter der Strebungen ein vorwiegend motori¬
scher ist.
Es ist aber nicht richtig, daß die bisherigen Forschungen den
unumstößlichen Beweis dafür erbracht haben, daß die Kinde als ober-
tes nervöses Zentralorgan zu betrachten sei. Sie lassen vielmehr auch
folgende. Annahme zu: Das oberste Nervenzentrum liegt in demselben
Organe bzw. Organkomplex, in welchem es bei den Tieren liegt, die
noch keine Hirnrinde besitzen. Die Entwicklung einer Hirnrinde in
der Tierreihe brachte keine Wanderung der obersten zentralen, d. h.
Sensibilität in Motilität umsetzenden Funktion in die Kinde mit sich;
sie diente vielmehr ausschließlich dem Ausbau der Sensibilität einer¬
seits, der Motilität andererseits, indem sie zu den kleinen Rezeptions¬
und Emissionszentren der nunmehr „subkortikalen“ Gebiete die großen
Projektionsflächen der Rinde mit ihrer großen Retentions- und As¬
soziationsleistung hinzufügte. Wenn nun aber die eigentliche Zentral¬
funktion in subkortikalen Gebieten l ) sitzt, so ist es auch möglich, daß
') Für den Gang der vorliegenden Untersuchung ist es nicht von
Belang, welche subkortikalen Gebiete dabei in Betracht kommen. Höchst
wahrscheinlich wirken sie alle von der Medulla oblongata aufwärts in
diesem Sinne mit. In meinen zitierten Arbeiten, namentlich in der über
„Insuffizienz der psych. Aktivität“, habe ich die Ansicht vertreten, daß
dem Thalamus opticus dabei eine wichtige Rolle zufällt. Vor allem möchte
ich betonen, daß der Thalamus (inkl. Pulvinar) als kortexnächstes „Schalt¬
organ“ für alle sensiblen und sensorischen Bahnen als geradezu dafür
geschaffen erscheint, dem Kortex jene Psychomotilitätsimpulse zugehen
zu lassen, welche die Grundlage für die sinnliche Aufmerksamkeit abzu¬
geben geeignet sind. Reichardt, der — was bei dem Umstande, daß er
auf einem ganz andern Wege vorgegangen ist als ich, besonders ins Gewicht
fällt — zu einer mit der meinigen in allen wesentlichen Punkten geradezu
frappant übereinstimmenden Ansicht über den Hirnplan gekommen ist,
erklärt — wir folgen seiner neuesten Darstellung in „Allgemeine und
spezielle Psychiatrie“ (Jena 1918): „Es ist mir wahrscheinlich, daß die
Zentralstelle sich im Hirnstamm befindet, vielleicht überhaunt
der gesamte Hirnstamm mit seinen lebenswichtigen Zentralapparaten ist.
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Die Schizophrenie usw.
137
die motorische Funktion oder richtiger gesagt: die emissorische oder
effektorisohe Funktion von diesen Gebieten her außer direkt auf den
Bewegungsapparat auch auf die Rinde wirkt, d. h. also, daß der Rinde
nicht nur Sinneseindrücke (Impressionen), als Material der Empfindun¬
gen, sondern auch effektorische Impulse als Material für Strebungen
(Intentionen), für „Dispositionen zur Handlung“, wobei unter
„Handlung“ auch das innere Handeln, das Denken, zu verstehen ist,
zufließen. Es l&ßt sich mit andern Worten aus dem Plane der Hirn¬
anlage ableiten, daß der Kortex nicht nur eine sensorische Speisung
als Grundlage der Psycho Sensibilität, sondern auch eine motori¬
sche Speisung als Grundlage der Psychomotilität erfährt.
Es ist nun nicht nur durchaus nicht ausgemacht, sondern es
spricht geradezu alles dagegen, daß die Projektion dieser effektori-
schen Impulse auf die Rinde in der gleichen Weise, nach denselben
Gesetzen, erfolge wie die der Sinnesreize. Während den einzelnen
Sinnesgebieten ebensoviele voneinander verschiedene Sinneswelten
(eine Sehwelt, eine Hörwelt, eine Riech weit usw.) entsprechen, haben
die Antriebe der Psychomotilität ein unter allen Umständen qualitativ
gleichbleibendes Ergebnis, nämlich die, wie immer geartet ihre Objekte
auch jeweils sein mögen, stets ihrem Wesen nach dieselbe bleibende
psychische Aktivität. Es ist immer ein und dieselbe psychische Ak¬
tivität, die im Spiele ist, mag es sich nun um Wahrnehmen oder um
Vorstellen auf einem beliebigen Sinnesgebiete oder um Denken oder
um Wollen im engeren Sinne handeln, d. h. mag nun gerade ein Wahr-
nehmungs- oder ein Vorstellungs- oder ein Denk- oder ein Willensakt
in Betracht kommen. Es setzt sich also die psychische Aktivität nicht
Man darf sich also unter dieser von mir angenommenen Zentralstelle keine
zu kleine und zu umschriebene Hirngegend vorstellen.“ In den „Arbeiten
aus der psychiatrischen Klinik zu Würzburg“ (8. Heft, Jena 1914) führt
Reichardt aus, daß der „Hirnstamm das eigentliche Lebenszentrum“ ist.
„Hier haben wir (nicht nur) die Wurzeln des Selbsterhaltungstriebes zu
suchen, welche dann in der Hirnrinde zum Bewußtsein kommen und in
Überlegungen und psychomotorische Leistungen umgesetzt werden.“
„In gewisser Hinsicht wurzelt die gesamte geistige Tätigkeit, vor allem,
soweit das Affektleben und die Triebe in Frage kommen, im Hirnstamm.“
Eine hervorragende Bedeutung in dieser Hinsicht schreibt Reichardt dem
Rautenhirn zu. An andern Stellen spricht er von der Wichtigkeit der
„basalen Ganglien“. Gelegentlich weist er auch auf den Thalamus (und
das Corpus Striatum) beiläufig hin.
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Berze,
aus verschiedenen „Vermögen“ zusammen, wie etwa die Gesamt-
erfahrung aus den verschiedenen Sinneswelten, sondern, was uns
beispielweise einmal als spezielles Willensvermögen, ein andermal als
spezielles Wahrnehmungsvermögen erscheint, ist nichts anderes als die
spezielle Verwendung der einheitlichen psychischen Aktivität im Sinne
der Willenstätigkeit katexochen, bzw. der Wahmehmungstätigkeit.
Darum ist auch schon von vornherein an eine Lokalisation, wie
sie für das Gebiet der Psychosensibilität Gesetz ist, für das Gebiet
der Psychomotilität auch im entferntesten nicht zu denken;
es kann keine speziellen Willens,,Zentren“ geben, ebensowenig aber
auch spezielle Denkzentren oder, was noch von so vielen geglaubt wird,
spezielle Wahrnehmungs- 1 ) und spezielle Vorstellungszentren (bzw.
Wahmehmung8- und Vorstellungszentren). Noch viel weniger sind
aber die Ergebnisse bzw. Residuen der psychischen Aktivität in ihren
verschiedenen Verwendungsformen, also die Ideen,, Gedanken, Vor¬
stellungen als psychische „Gebilde“ lokalisiert zu denken 2 ). Über¬
haupt hört dort, wo das Psychische (die Betätigung der Psycho¬
motilität) beginnt, jede Lokalisation auf. Das somatische Substrat
der Psychomotilitätsfunktion — oder, wie ich mich auszudrücken
pflege, der intentionalen Funktion; es wird nämlich in jedem psychi¬
schen Akte etwas „intendiert“ — muß ein überall homogenes, also
nicht etwa wie das der Psychosensibilität nach Regionen polymorphes
( Brodmann ), und ein über die ganze, den psychischen Leistungen
dienende Rinde hin ausgedehntes, also nicht etwa auf gewisse Gebiete
(„Assoziationszentren“ im Sinne Flechsige, Denkzentren und der¬
gleichen) beschränktes sein. Wenn Brodmann die Auffassung vertritt,
J ) Was lokalisierbar ist, ist nur das impressionale Material für
die Wahrnehmungen. Die Wahrnehmungen enthalten aber außer der
Wirkung der Impressionen noch einiges mehr, was die Assoziationspsycho¬
logen allerdings nicht einsehen wollen.
2 ) Bleuler erklärt (1. c.): „Wir glauben eben nicht an eng lokalisierte
Begriffe und Ideen, die von ihrem Sitz aus Erregungen an andere Hirn¬
stellen senden und dadurch andere Begriffe ekphorieren.“ Das glaubt
beileibe auch der Aktionspsychologe in meinem Sinne nicht; im Gegen¬
teil lehnt er nicht nur eine „enge“ Lokalisation, sondern jede Lokalisation
ab, und zwar nicht nur für „Begriffe und Ideen“, sondern auch für Wahr¬
nehmungen und Vorstellungen, kurz für alle psychischen Akte und ihre
Ergebnisse.
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Die Schizophrenie osw.
139
daß der Polymorphismus, die ungleichzeitige histogenetische Dif¬
ferenzierung, die strenge regionale Scheidung gewisser Zellformen und
das gesetzmäßige Vorkommen homologer Zelltypen an identischen
Stellen der Bindenoberfläche bei allen Säugetieren die Annahme recht-
fertigen, daß im Kortex zwischen den zellulären Elementen eine weit¬
gehende Sonderung der Funktionen stattgefunden hat 1 ), so muß zur
Verhütung schwerer Irrtümer besonders betont werden, daß sich diese
Arbeitsteilung nur auf die impressionale Sphäre — so möchte
ich die Gesamtheit der sensorischen und motorischen Rindenfelder
bezeichnen —, nicht aber auch auf die intentionale Sphäre, d. i.
die Sphäre der Psychomotilität (der intentionalen Funktion), er¬
streckt, daß vielmehr in dieser Sphäre keinem der nervösen Elemente
eine spezifische Leistung zukommt (vgl. Wundts Auffassung). Aber
nicht nur „von vornherein“, wie oben gesagt wurde, ist anzunehmen,
daß das Lokalisationsprinzip in der intentionalen Sphäre keine Geltung
hat. Nach unseren Erfahrungen auf dem Gebiete der Bindenerkrankun¬
gen ist eine Lokalisation im Bereiche der intentionalen Sphäre mit
voller Sicherheit auszuschließen. Niemals sehen wir bei zirkum¬
skripten Rindenläsionen die Fähigkeit zu bestimmten psychischen
Akten geschädigt oder getilgt. Wahrnehmungen auf einem bestimmten
Sinnesgebiete werden selbstverständlich beeinträchtigt oder un¬
möglich gemacht, wenn das betreffende Projektionsgebiet betroffen
ist, aber nur deswegen, weil die Läsion die originalen sensorischen
Zuführungen beeinträchtigt oder unmöglich macht. Daß aber auch
die Fähigkeit zu Vorstellungen eines Sinnesgebietes durch einen um¬
schriebenen Rindendefekt, daß z. B. das „optische Gedächtnis“ durch
einen örtlichen Herd im Hinterhauptlappen vernichtet werden könne,
war eine theoretische Konstruktion, die bereits als widerlegt angesehen
werden muß*); wenn trotzdem eine Reihe von Hirnforschem an jener
Annahme noch festhält, so ist dies außer auf die Macht der einmal
gefaßten und als Grundsatz genommenen Meinung wohl besonders
darauf zurückzuführen, daß es nach längerer Dauer eines Sinnesfeld-
x ) Zit. nach Rosenfeld, Die Psychologie des Großhirns ( Aschaffen-
turgs Handb. d. Psych.).
*) VgL namentlich v. Monakow, Die Lokalisation im Großhirn und
der Abbau der Funktion durch kortikale Herde. Wiesbaden 1914 (u. a.
S. 487).
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXY* 2. 11
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Berze,
defektes allmählich zu einem „Abblassen der betreffenden Vorstellun¬
gen“ bzw. Vorstellungskomponenten kommt — infolge des Aus¬
bleibens der unter normalen Umständen durch die immer wieder
erfolgende Wahrnehmungstätigkeit bewirkte Auffrischung des Ge¬
dächtnisses auf dem Gebiete des betreffenden Sinnes (z. B. des opti¬
schen Gedächtnisses), vielleicht auch darauf, daß für denjenigen, der
8 eit langer Zeit z. B. der optischen Wahrnehmungen entbehren muß,
auch die optischen Vorstellungen allmählich immer mehr an Orien¬
tierungswert verlieren und daher auch die Anregungen zum optischen
Vorstellen immer seltener werden und somit auch die Übung im opti¬
schen Vorstellungsakte immer mehr verloren gehen muß. — Auch die
agnostischen und verwandten Erscheinungen bei Herdläsionen sprechen
keineswegs für eine Lokalisation der Vorstellungen, wie so oft ganz
irrig angenommen wird. Zu einem richtigen Erkennen, das eine ex¬
quisit intentionale Leistung, das Ergebnis eines psychischen Aktes ist,
ist eine richtige Vorarbeit der impressionalen Sphäre erforderlich, und
zwar erstens eine tadellose Leistung des (absolut lokalisierten) engeren
Sinnesfeldes, d. i. eine vollkommene Rezeption der Impressionen,
zweitens eine nicht beeinträchtigte Leistung des (relativ lokalisierten)
weiteren kortikalen Sinnesgebietes, d. i. eine ungestörte Zusammen¬
ordnung (Assoziation) der Teilimpressionen zum Zwecke der Er¬
fassung von Gegenstandseindrücben. Sowohl aus Herderkrankungen
im Gebiete der engeren als auch der weiteren Sinnessphäre können
also Agnosien resultieren. Diesen — impressionalen, wie ich sagen
möchte — Agnosien, die sich aus der Lieferung eines mangelhaften
Materials für den Erkennungsakt erklären, stehen die apperzeptiven —
oder nach meiner Nomenklatur: die intentionalen — Agnosien
gegenüber, welche, als Störungen im Bereiche der eigentlichen psychi¬
schen Tätigkeit selbst, nur bei diffusen Rindenschädigungen bzw. bei
Herderkrankungen, die von solchen begleitet sind,- beobachtet werden.
Nur bei den intentionalen Fällen besteht nun aber neben den
agnostischen Störungen gleichzeitig auch eine Beeinträchtigung des
Vorstellens, während sie zum Symptomenbilde der impressionalen
Agnosien, von dem bereits erwähnten „Abblassen“ der Vorstellungen
infolge des Mangels der Auffrischung des betreffenden „Gedächtnis“-
materiales abgesehen, trotz gegenteiliger Behauptungen keineswegs
gehört.
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Die Schizophrenie asw.
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Das Prinzip der Lokalisation hat also für die Sphäre der Psycho«
motilität, für die intentionale Sphäre, keine Geltung. An dieser Fest¬
stellung dürfte es uns auch nicht irre machen, wenn es sich in der Tat
bewahrheiten sollte — die bisherigen Anhaltspunkte dafür sind aber
noch durchaus unsicher —, daß bei Herden im Stirnhirn Erscheinungen
zu beobachten seien, welche als Ausfälle im Gebiete der Psychomotilität
zu deuten wären.
Auf eine Lokalisation gewisser Einzelformen der Psychomotilitäts-
leistung im Stimhirn, wie sie den Theorien entspräche, welche dem
Stirnhim eine besondere Bedeutung als Stätte etwa der Intelligenz
oder des Willens oder des psychischen „Antriebes“ usw. zuschreiben,
wäre n ämli ch nur auf Grund von Beobachtungen zu schließen, welche
sich ohne die Annahme eines Beschränktseins der betreffenden Be-
tätigungsform selbst auf die in Betracht kommende Lokalität, z. B.
auf die Rinde des Stimhirns, nicht erklären ließen. Mit dem Nach¬
weise, daß eine bestimmte Betätigungsform durch Herde im Stirnhirn
in besonders auffälligem Maße geschädigt werde, wäre aber der Beweis
ihres Beschränktseins auf das Stimhirn, d. h. ihrer Lokalisation im
Stirnhim, noch keineswegs erbracht.
Bei der Beurteilung der Bedeutung der Beeinträchtigung bzw. des
Verlustes einer bestimmten psychischen Fähigkeit im Hinblick auf
die Lokalisationsfrage muß man sich immer vor Augen halten, daß ein
Unterschied zwischen den verschiedenen Formen der psychischen Vor¬
gänge in dem Sinne besteht, daß sie ein verschiedenes Maß von psychi¬
scher Aktivität, d. L von Leistungsfähigkeit und Funktionsbereitschaft
der intentionalen Sphäre zur Voraussetzung haben, und daß, von
diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, die geläufige Unterscheidung
zwischen „niederen“ und „höheren“ psychischen Leistungen den Sinn
erhält, daß eine Stufenleiter der psychischen Leistungen angenommen
werden kann, die von der bereits bei einem relativ geringen Maße von
psychischer Aktivität anstandlos vor sich gehenden Wahrnehmungs-
tätigkeit zu den ein höheres Maß erfordernden Leistungen, welche man
als Intelligenz zu bezeichnen pflegt, führt. Daraus geht nun aber klar
hervor, daß eine Schädigung der Intelligenz nur als Zeichen des Ab¬
sinkens der Gesamtleistung der intentionalen Sphäre auf eine tiefere
Stufe gewertet werden kann, nicht als Zeichen der Schädigung bzw.
des Ausfalles einer speziellen Fähigkeit, oder mit andern Worten: nur
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Berze,
als Quantität«-, nicht als Qualitätsdefekt. Selbstverständlich müßte
es sich, wenn diese Auffassung zu Recht besteht, zeigen, daß ein Rinden¬
defekt, gleichviel in welcher Region er sitzt, die Intelligenz stets in
gleichem, der Intensität und Extensität des Defektes entsprechendem
Maße schädige. Es ist nun durchaus nicht, wie von vielen geglaubt
wird, erwiesen, daß dies nicht der Fall sei, sondern ein Defekt der
Rinde des Stirnhirns einen weit beträchtlicheren Intelligenzverlust
bedinge als ein an irgendeiner andern Stelle sitzender gleichgroßer und
schwerer Rindendefekt Zu leugnen ist ja nicht, daß bei Stimhirn- .
Schädigungen, namentlich bei Stirntumoren, Intelligenzstörungen
häufiger und deutlicher in Erscheinung treten als bei gleichen Läsionen
in andern Gebieten. Beweist dies aber eine gegenüber der anderer
Himterritorien besondere Bedeutung der Rinde des Stimhirns für
die psychische Tätigkeit, insonderheit für die Intelligenz? Durchaus
nicht; der Zusammenhang ist vielmehr, aller Wahrscheinlichkeit nach,
ein ganz anderer.
Wie oben ausgeführt worden ist, denken wir uns die psychische
Aktivität nicht als selbständige Leistung der Hirnrinde, führen
sie vielmehr auf aus dem subkortikalen Zentralorgane kommende An¬
triebe zurück, die, in der Hirnrinde wirksam werdend, die Vorgänge
auslösen, welche eben die psychische Aktivität (präziser: deren somati¬
sches Korrelat) ausmachen. Die Zuführung dieser Antriebe hat
Leitungsfasern von den in Frage kommenden subkortikalen Gebieten
zur Rinde zur Voraussetzung. Aller Wahrscheinlichkeit nach streben
dieselben in allen ihren Regionen in die Rinde ein, aber da weniger
dicht, dort dichter, in der Stirnregion vielleicht am dichtesten, zumal,
wie u. a. auch Reichardt 1 ) betont, „gearde das Stimhirn in enger
anatomischer und wohl auch funktioneller Beziehung zum Hirnstamm
steht“. Dann ergibt sich aber ohne weiteres, daß ein Herd im Stimhirn
mehr als solche in andern Regionen geeignet ist, das Maß der verfüg¬
baren Psychomotilität und damit die Ergebnisse der psychischen Ak¬
tivität, also besonders auffällig die „höheren“ psychischen Leistungen,
die „Intelligenz“, herabzudrücken.. Es stimmt dies vortrefflich damit
überein, wenn z. B. Redlich a ) bei Besprechung der psychischen
*) Reichardt, Arbeiten aus der psych. Klinik zu Würzburg, 8. Heft
(Jena 1914).
*) Redlich, Die Psychosen bei Gehirnerkrankungen ( Aschaffenburg ,
Handb. d. Psych., 3. Abt., 2. Hälfte, 1. Teil; Leipzig u. Wien 1912).
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Die Schizophrenie osw.
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Störungen bei Stirnhirntumoren erwähnt: „Unter den zu beobachten¬
den Formen psychischer Abweichung steht in erster Linie, wie über¬
haupt bei Hirngeschwülsten, die Benommenheit des Sensoriums meist
mit Verlangsamung und Hemmung der psychischen Tätigkeiten über¬
haupt; auch Schlafsucht, Schädigung der intellektuellen Leistungen
sind nicht selten. 1 *
Nicht also der Defekt in der Rinde des Stirnhirns, sondern der
Defekt der zuleitenden Bahnen im Stirnhirn ist dafür verantwortlich
zu machen, wenn sich bei umfangreicheren Zerstörungen in dieser
Region Störungen der Intelligenz bzw. der „höheren Verstandesopera¬
tionen** oder dergleichen, besonders deutlich geltend machen. Und
es kann somit auch diese Erscheinung durchaus nicht etwa gegen die
Annahme sprechen, daß es innerhalb der Sphäre der Psycho^
motilität, innerhalb der intentionalen Sphäre, keine Lokalisation
gibt.
Wie steht es nun aber um das zweite Anlageprinzip der irapressio-
nalen Sphäre, um die Assoziation ?
Lokalisation und Assoziation stehen in einem intimen Zusammen¬
hänge. Die entere ergibt die Notwendigkeit der letzteren; denn die
Übertragung der Erregung von einem Punkte auf einen andern ent¬
fernt lokalisierten Punkt hat das Bestehen einer Verbindung, einer
Assoziation im anatomiseh-physiologischen Sinne zur Voraussetzung.
So sehen wir denn auch das Assoziationsprinzip in der impressio-
nalen Sphäre überall in Geltung: Assoziationsbahnen innerhalb der
einzelnen Sinnesgebiete, solche zwischen den verschiedenen Sinnes¬
gebieten, solche zwischen den Sinnes- und den motorischen Feldern.
Daß nun aber dieses Assoziationsprinzip — wohlgemerkt: Assoziation
im anatomischen Sinne — auch in der intentionalen Sphäre, in der
Sphäre der geistigen Tätigkeit Geltung habe, ist gänzlich unerwiesen.
Die Sicherheit, mit der von Assoziation auch in demjenigen Bereiche der
Rinde, in welchem man das somatische Korrelat der geistigen Vor¬
gänge sucht, die Sicherheit, mit der sogar z. B. von Ideenassoziationen
in deutlicher Anspielung auf supponierte anatomische Verhältnisse ge¬
sprochen wird, leitet sich nicht zuletzt von einer Verwechslung oder
doch Vermengung des anatomischen Assoziationsbegriffes mit dem
psychologischen Assoziationsbegriffe, d. i. mit der von der Assoziations¬
psychologie als Prinzip aller seelischen Verbindungen angesehenen
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Berze,
Assoziation, her. Vermeidet man aber den Fehler dieser unerlaubten
Verwechslung bzw. Vermengung, so wird man nicht bezweifeln können,
daß wir kein Recht haben, von Assoziation im anatomischen
Sinne für den Bereich der Psychomotilität zu sprechen.
Bleuler macht einen guten Anlauf, zieht die letzte Konsequenz
aber doch nicht, wenn er sagt: „Wir glauben eben nicht an eng lokali¬
sierte Begirffe und Ideen, die von ihrem Sitz aus Erregungen an andere
Himstellen senden und dadurch andere Begriffe ekphorieren, sondern
wir müssen uns heutzutage alle Rindenvorgänge unendlich viel diffuser
denken, und zwar so, daß einerseits jede Einzelfunktion alle andern
latenten und aktuellen Funktionen beeinflußt, d. h. bahnt oder hemmt,
andererseits irgendein dynamischer Faktor („Spannung“) die Assozia¬
tionen in den Erfahrungsbahnen hält.“ Wir dürfen nicht nur nicht an
„eng lokalisierte Begriffe und Ideen“ glauben — es glaubt auch, soviel
wir sehen können, kein ernst zu nehmender Forscher heute mehr
daran —, sondern wir haben auch gar kein Recht, an eine selbst „un¬
endlich viel diffuser“ gestaltete Lokalisation zu glauben. Damit ist
aber auch gesagt, daß Bleulers ganze Konstruktion der „Assoziations-
spannung“ in der Luft hängt. Wo keine Lokalisation, dort keine As¬
soziation (im anatomischen Sinne). Wo keine Assoziation, dort ist
aber auch kein Raum für „Assoziationsspannung“ und dergleichen.
Bleuler könnte nun vielleicht einwenden, er habe ausdrücklich
bemerkt: „Anatomische Vorstellungen von der Schaltung macht man
sich am besten nicht“; und so sei auch seine „Assoziationsspannung“
nicht eigentlich anatomisch zu nehmen. Da müßte man ihn aber,
zumal von einer Assoziationsspannung in psychologischer Deutung
überhaupt nicht gesprochen werden kann, fragen, ob denn dieses Wort
dann, genau betrachtet, mehr sei als eben nur ein Wort. Wenn Bleuler
aber darauf hinzuweisen für gut fände, er habe die Konzeption der
„Assoziationsspannung“ ausdrücklich als „nichts mehr als eine Arbeits¬
hypothese“ bezeichnet, müßte ihm entgegengehalten werden, daß
Arbeitshypothesen, denen die richtige Grundlage fehlt, schädlich sind,
da sie zu falschen Vorurteilen Anlaß geben. Ifii speziellen Falle handelt
es sich um das falsche Vorurteil, daß die „schizophrenen“ Erscheinun¬
gen sicher auf eine Störung im Bereiche der „Assoziationen“ zurück¬
zuführen seien; als hypothetisch sei dabei nur anzusehen, ob diese As¬
soziationsstörung gerade als pathologische Schwächung der Assozia-
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Die Schizophrenie usw.
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tionsspannung im Sinne Bleulers zu deuten Bei. Übrigens ist gar nicht
einzusehen, worin die Vorteile dieser Hypothese, selbst wenn sie richtig
wäre, eigentlich bestehen sollten; die Annahme des Assoziations¬
spannungsdefektes bringt uns dem Verständnisse der Schizophrenie
nicht um einen Schritt näher.
Nein, das einzige, was wir wissen, und was wir heute wissen
können, ist, daß den schizophrenen verwandte Erscheinungen und so
offenbar auch die der Schizophrenie selbst dann eintreten, wenn die
„aufgewendete psychische Energie“, wie Bleuler sagt, unter das Maß,
welches eine normale Geistestätigkeit verbürgt, herabgesetzt ist, d. h.
wenn eine Insuffizienz der psychischen Aktivität besteht, sei es wie
im Traumschlaf aus physiologischen Gründen, sei es wie in der Krank¬
heit Schizophrenie als „direkte Folge irgendeiner chemischen oder ana¬
tomischen oder molekularen Hirnveränderung“. Alles aber, was
darüber hinausgeht an Annahmen über die Veränderungen der Rin¬
denfunktion, durch deren Herbeiführung die Insuffizienz der psychi¬
schen Aktivität die schizophrenen Erscheinungen ergibt, kann nichts
sein als vage Vermutung, zumal wir bis nun nicht einmal von den Vor¬
gängen in der Rinde, wie sie einem normalen Geistesleben ent¬
sprechen, auch nur eine Ahnung haben.
Daraus geht aber unbestreitbar hervor, daß wir es zu vermeiden
haben, auf die Art der funktionellen Rindenveränderungen bei der
Schizophrenie anzuspielen, wie das Bleuler mit seiner Theorie tut, und
daß wir uns bei dem Unternehmen, die schizophrenen Erscheinungen
aus der Insuffizienz der psychischen Aktivität abzuleiten, strikt auf
den psychologischen Weg zu beschränken haben.
Diese Ableitung muß gelingen — freilich nicht unter Zugrunde¬
legung der Assoziationspsychologie, die der Schizophrenie gegenüber völ¬
lig versagt und dadurch ihre Unbrauchbarkeit von neuem erkennen läßt,
wohl aber unter Zugrundelegung einer die psychische Aktivität in ent¬
sprechender Weise berücksichtigenden (Aktions-) Psychologie, es
müßte sich denn herausstellen, daß hei der Schizophrenie außer der
Aktivitätsinsuffizienz noch eine andere Grundstörung im Spiele sei.
Dafür haben wir aber nicht den geringsten Anhaltspunkt.
In meiner zitierten Arbeit glaube ich den Nachweis erbracht zu
haben, daß in der Tat alle wesentlichen schizophrenen oder, wie ich
sage, hypophrenen psychischen Erscheinungen ohne besondere Schwie-
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rigkeit aus der Aktivitätsinsuffizienz abgeleitet werden können. Wenn
auch der Zusammenhang eines oder des andern schizophrenen Sym-
ptomes mit der Aktivitätsschwäche im einzelnen nicht genau der sein
sollte, den ich angenommen und in dieser Arbeit dargestellt habe,
unterliegt es m. E. doch andererseits keinem Zweifel mehr, daß uns die
richtige Analyse jedes beliebigen Schizophreniesymptomes stets un¬
mittelbar oder doch letzten Endes die sich aus der Aktivitätsschwäche
ergebende Unvollkommenheit der psychischen Akte als „psychotische
Wurzel“ erkennen läßt.
Das nächste, wenn ich so sagen darf, somatopathologische
Problem hinsichtlich der Schizophrenie aber ist nicht, wie Bleuler
meint, die Ergründung der Art der funktionellen Veränderungen in der
Binde, welche als Folge der Verminderung der „aufgewendeten Energie“
einsetzen, sondern die der Art des Zustandekommens dieser Verminde¬
rung der Energieaufwendung selbst, d. i. der somatopathologischen
Veränderung, welche der Insuffizienz der psychischen Aktivität selbst
zugrunde liegt. Und dieses Problem scheint mir auch, obwohl es un¬
streitig mit zu den schwierigsten Problemen der Hirnpathologie gehört,
doch einer Lösung weit eher zugänglich zu sein als das von Bleuler
aufgeworfene.
Wie immer man über die Provenienz der Energie denken mag,
welche, in der Sphäre der Psychomotilität (intentionalen Sphäre)
wirksam werdend, den Charakter der „psychischen Energie“ an¬
nimmt, auf jeden Fall wird man zugeben müssen, daß die Insuffizienz
der psychischen Aktivität als Ausdruck einer Hypofunktion jener
Sphäre angesehen werden muß.
Glaubt man die Ansicht vertreten zu müssen, daß die psychische
Energie sozusagen ein Eigenprodukt des Kortex (präziser: des
die Psychomotilitätssphäre ausmachenden Teiles des Kortex) ist, so
wird man die in Rede stehende Hypofunktion als Folge einer patho¬
logischen Veränderung im Kortex selbst ansehen müssen. Es isj nicht
zu leugnen, daß dieser Auffassung die pathologischen Veränderungen
des Nervengewebes der Hirnrinde, die bei einer Reihe von als De¬
mentia praecox charakterisierten „Schizophrenie“fällen konstatiert
sind, eine gewisse Stütze zu verleihen geeignet sind. Und andrerseits
bleibt für die Fälle, in denen ein pathologisch-anatomischer Befund
nicht vorliegt, die Möglichkeit der Annahme einer sozusagen auto-
hthonen funktionellen Störung in der Rinde zweifellos offen.
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Die Schizophrenie tuw.
147
Wer aber die derzeit u. a. namentlich von Reichardt und von mir
vertretene Annahme für richtig h<, daß die psychische Energie nicht
im Kortex selbst produzierte Kraft, sondern zunächst aus dem sub¬
kortikalen Zentralorgane stammende und in der Psychömotilitäts-
sphäre des Kortex bloß zur psychischen Energie sozusagen trans¬
formierte Triebenergie ist 1 ), wird sich sagen müssen, daß eine patho¬
logische Hypofunktion dieser Sphäre außer einer pathologischen Ver¬
änderung ihrer selbst, durch welche sie außerstand gesetzt ist, ihre
Funktion voll zu entfalten bzw. die ihr zugehende Energie voll aufzu¬
nehmen und zu verwerten, noch eine andere Ursache haben kann,
nämlich eine unzureichende Zufuhr von Energie zu ihr, ver¬
gleichbar der ungenügenden Feuerung einer Maschine.
Eine solche Verminderung der Energiezufuhr könnte allerdings
zunächst den Grund haben, daß überhaupt zu wenig Energie zur Ver¬
fügung steht, wie im allgemeinen, so auch für den speziellen Zweck der
Speisung der Psychomotilitätssphäre der Binde. Es wird nicht ge¬
leugnet werden können, daß die Fälle von Dementia praecox nicht
gerade ganz selten sind, in denen sich die Annahme einer Beeinträchti¬
gung des Stoffwechsels und einer mit dieser zusammenhängenden patho¬
logischen Alteration des Energiewechsels geradezu aufdrängt. Viel¬
leicht wird uns die fortschreitende Erforschung der körperlichen
Symptome der Dementia praecox einmal lehren können, daß in der Tat
in gewissen Fällen eine unzureichende Produktion von Energie, sei es
von Energie überhaupt, sei es speziell von als Nervenenergie verwert¬
barer Energie, die eigentliche Grundlage des Prozesses ist.
Für einen andern, und zwar, soweit sich bisher übersehen läßt,
weit größeren Teil der Fälle ist aber die Annahme einer unzureichenden
l ) Die Psychomotilitätssphäre ist nach dieser Auffassung nicht
eigentlich Zentralorgan, sondern Erfolgsorgan, und zwar Organ des
psychischen Erfolges, so wie der Muskel motorisches Erfolgsorgan, die
Drüse sekretorisches Erfolgsorgan ist, weil in jenem die Nervenenergie
kraft der ihm eigenen Funktionsart in Bewegungsenergie, in dieser in
Sekretionsenergie gleichsam umgesetzt wird. In Wirklichkeit ist die
Energie in allen Fallen immer dieselbe (Lebensenergie); sie erscheint uns
nur in verschiedenem Lichte, je nach der Tätigkeitsart des Organes, in
dem sie jeweils wirksam wird. Viele psychische Abläufe münden schließlich
in äußeres Handeln (Bewegungen); in diesem Falle ist die Psychomotilitäts¬
sphäre, genau genommen, Zwischenerfolgsorgan.
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Be rze,
Energieproduktion sicherlich nicht gerechtfertigt. In diesen Fällen
müßte die unzureichende Energiezufuhr zum Kortex auf eine unge¬
nügende Zuwendung der Energie x ) seitens des subkortikalen Zentral¬
organes, also auf eine ungenügende Funktion, eine Hypofunktion,
dieses Organes, und zwar auf eine allgemeine oder aber auf eine speziell
nur diese eine Leistung betreffende Hypofunktion dieses Organes,
bezogen werden. Ich habe diese Annahme in der zitierten Arbeit aus¬
führlich vertreten. Hier sei daher nur noch auf Reichardt verwiesen,
der in seinem jüngst erschienenen Lehrbuche (Allgemeine und spezielle
Psychiatrie, Jena 1918) im Kapitel Dementia praecox diesen Gegen¬
stand neuerlich in demselben Sinne, und zwar wie folgt, behandelt:
„Ich kann mich ferner nicht mit dem Gedanken befreunden, daß der
Sitz des Krankheitsprozesses stets primär in der Hirnrinde (z. B. in
der 2. und 3. Ganglienzellenschicht) sei, bin vielmehr der Ansicht, daß
die oben erwähnten physikalisch-chemischen Änderungen der Hirn¬
materie (Reichardt hat im Vorhergehenden ausgeführt, daß seiner An¬
sicht nach „der Dementia praecox tiefgreifende physikalisch-chemische
Veränderungen der kolloidalen Hiramaterie zugrunde liegen, welche
sich zum Teil als pathologische Gerinnungen oder als Ausfüllungen,
vielleicht gelegentlich abwechselnd mit partiellen Verflüssigungen,
sowie als Störungen der Liquorproduktion darstellen“) sich vor allem
auch in einzelnen besonders lebenswichtigen Stellen des
Hirnstammes (Zwischenhirn, Bautenhim) abzuspielen pflegen; von
einer solchen primären und einheitlichen Krankheitslokalisation aus
würden dann die gesamte Krankheit, ihre psychischen und körper¬
lichen Symptome und ihre Verlaufsart bestimmt.Namentlich
*) Wenn in diesem Zusammenhänge der Kürze halber von „Energie“-
zufuhr, „Energie“zuwendung usf. gesprochen wird, so dürfte einem Mi߬
verständnis wohl durch die früheren Ausführungen vorgebeugt sein.
Nicht einfach Energie wird dem Kortex vom subkortikalen Zentralorgan
zugewendet; was ihm von dort her zugeht, sind vielmehr mit einem ge¬
wissen Maße von Energie ausgestattete Antriebe zur Tätigkeit im Sinne
bestimmter Strebungen („gerichtetes Streben“). Das Erwachen be¬
deutet das Wachwerden aller Triebe — sie müssen nicht immer „gedacht“
bzw. überhaupt an.sich bewußt sein — im Kortex, vor allem des Triebes,
der allen andern dient, daher auch allen sozusagen vorangeht und das
wesentlichste Ingrediens des (Wach-) Bewußt seines ist, des Wahrnehmungs¬
triebes.
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Die Schizophrenie usw.
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auch vom psychologischen Standpunkte aus und in Anbetracht der
Tatsache des Parallelgehens psychischer und vegetativer Krankheits¬
erscheinungen scheint mir die Annahme einer einheitlichen zentralen
Lokalisation an einer für die Psyche und das vegetative Leben beson¬
ders wichtigen Stelle geboten. Daneben mögen aber auch Fälle Vor¬
kommen, bei denen der Himmantel — oder einzelne Teile desselben —
primär erkrankt, ohne wesentliche Mitbeteiligung des Hirnstammes. 1 ‘
Ganz neu ist, nebenbei bemerkt, die Annahme keineswegs, daß
an dem „psychischen Mechanismus 11 außer der Hirnrinde auch der
Hirnstamm in gewisser Beziehung beteiligt sei, und daß daher, wie
Retehardt gelegentlich sagt, „Psychosen zustande kommen können
auch durch krankhafte Funktionen solcher lebenswichtiger Teile des
Gehirns außerhalb der Hirnrinde und durch fehlerhafte Ein¬
wirkung dieser Ziele auf das übrige Hirn“. Namentlich Meynert war
von der großen Bedeutung des Himstammes für die psychologischen
Rindenvorgänge überzeugt. Und wenn auch manche von seinen ein¬
schlägigen speziellen Annahmen heute, zum Teil vielleicht mit Recht,
in da? Gebiet der „Hirnmythologie“ verwiesen werden, so wird doch
nicht zu bestreiten sein, daß gegen die ihnen gemeinsame Grundidee
der Abhängigkeit der Rinde vom Hirnstamme, auch hinsichtlich der
psychischen Tätigkeit, bisher noch nichts vorgebracht werden
konnte, was ihre restlose Verwerfung rechtfertigen würde. In Be¬
ziehung auf unser Thema ist es nun von besonderem Interesse, daß
Meynert von den Gehirnen seiner „Paranoiker“ — aus seinen Aus¬
führungen geht deutlich hervor, daß diese „Paranoia“fälle „mit Hal-
luzinationen und Hypochondrien“ zum weitaus größten Teile von der
Art waren, daß sie heute der Dementia praecox (namentlich Unter¬
form : Dementia paranoides) zuzuzählen wären — behauptet, daß die
Atrophie, welche diese Gehirne zweifellos erkennen ließen, den Hirn¬
mantel proportioneil nur sehr wenig, der Hauptsache nach aber das
Stamnihim und das Kleinhirn betroffen habe 1 ).
1 ) Der Hirnmantel wurde zum Zwecke der separaten Wägung nach
der Meynerfschen „Abtrennungsmethode mittels Durchschneidung der
Projektionssysteme“ vom Stammhirn geschieden. Daß diese Methode
selbst bei der Meisterschaft Meynerts nur ungenaue Ergebnisse liefern
konnte, steht fest; dieser Mangel ist zudem um so bedeutungvoller, als
es bei den Meynertschen Wägungen auf recht geringe Differenzen des Ver-
hältnisses zwischen Stammhirn und Hirnmantel gegenüber der Norm
ankommt.
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Berze,
An eine die in Bede stehende Hypofunktion bedingende organi¬
sche Veränderung des in Betracht kommenden subkortikalen Or¬
ganes bzw. Organkomplexes, also an Atrophie oder an einen die Funk¬
tion beeinträchtigenden Prozeß anderer Art zu denken, liegt indes für
die Hauptmasse der Dementia praecox durchaus nicht nahe. Einzelne
Beobachtungen sprechen ja allerdings dafür, daß eine Schädigung
dieser subkortikalen Region, z. B. durch einen in ihr selbst sitzenden
oder durch einen in ihrer nächsten Umgebung sitzenden und sie durch
Druck beeinträchtigenden Tumor „katatone Zustandsbilder“ hervor-
rufen kann. Redlich (1. c.) weist nach ausführlicher Schilderung dieser
nicht nur bei Tumoren, sondern bei verschiedenen andern organischen
Hirnaffektionen vorkommenden Psychosen besonders auf den von
Pötzl und Rai mann beschriebenen Fall 1 ) eines großen, beide
Thalami optici infiltrierenden Glioms hin, der „durch mehrere Monate
ausgesprochen katatone Züge zeigte: Unaufmerksamkeit, Abgleiten in
den Antworten, Hemmung ohne Benommenheit, vollkommene Affekt-
losigkeit, Vorbeireden, Katalepsie“. Pötzl 2 ) selbst erwähnt bei Be¬
sprechung dieses Falles, den er als „atypische katatone Dementia
praecox“ bezeichnet, daß derartige, vom gewöhnlichen Bilde der
Tumorenpsychosen abweichende Zustandsbilder von psychischer
Störung „nicht allzu selten bei Tumoren im Bereiche des 3. Ventrikels
Vorkommen“, wie auch die Durchsicht der Fälle in der Literatur (vgl.
z. B. die Zusammenstellung von Piazza) zeige. Pötzl meint, daß in
solchen Fällen vielleicht „bis zu einem gewissen Grade lokaldiagnostisch
zu betrachtende Momente in Frage kommen; so besonders der direkte
Druck auf den Hypothalamus und den Boden des 3. Ventrikels, auf
die Gegend von Zentren für die vegetativen Nervensysteme (Karplus
und Kreictt), vielleicht der Druck auf die Hypophyse oder Verände¬
rungen der Zirbeldrüse (vgl. v. Frankl-Hochwart und Marburg ), viel¬
leicht schließlich die Beteiligung der Sehhügel“ s ). Jedenfalls ist aber
*) Vgl. Bericht des Vereins f. Psych. u. Neurol., Sitzung vom 14. Juni
1910 (Jahrb. f. Psych. u. Neurol. Bd. 31, S. 459 usf.).
*) Pötzl, Zur Frage der Hirnschwellung und ihrer Beziehung zur
Katatonie (Jahrb. f. Psych. u. Neurol., 31. Bd., 2. u. 3. H.).
*) Im speziellen Falle von Pötzl und Raimann fand sich mikro¬
skopisch, wie ich einer freundlichen Mitteilung Pötzls entnehme, „beider¬
seits eine komplete Degeneration der fronto-pontinen Bahnen und der
vorderen Thalamusstiele, also eine Absperrung der Stirnlappen von Thala¬
mus und Kleinhirn“.
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nach Pötd außerdem noch die „vorhandene Disposition zur Psychose“
von wesentlicher Bedeutung in dem Sinne, daß „die organische Er¬
krankung entweder nur als Kombination oder höchstens als auslösendes
Moment auizufassen ist“. — Mit Recht weist ferner Reiehardt (L c.)
darauf hin, daß man, wenn es sich um Tumoren der Hypophysen¬
gegend handelt, „nicht die Erkrankung der Hypophyse allein für die
psychischen Störungen verantwortlich machen darf“, zumal wenn die
Geschwulst, wie dies bei sogenannten Hypophysentumoren so oft der
Fall ist, „tief in die Hirnsubstanz eindringt oder sogar das gesamte
basale Gehirn bis zum Balken durchsetzt hat“, sondern in diesen
Fällen (weiter kommen wohl auch die Fälle in Betracht, in denen das
Gehirn in der näheren Umgebung durch Druck geschädigt wird. Verl)
die psychischen Störungen „der komplizierenden Hirnerkrankung“
zuzuschreiben habe. Wenn daher bei Hypophysentumoren auffällig
oft an Dementia praecox zumindest erinnernde psychische Störungen
Vorkommen (vgl. Schuster *), Formanek 2 ), wird man gut tun, wenig¬
stens die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß auch diese Beobachtun¬
gen im Sinne unserer Annahme zu deuten seien.
Aber alle derartigen Fälle können, vorausgesetzt, daß der Zu¬
sammenhang zwischen organischer Veränderung und Psychose
wirklich der von uns angenommene ist, nur beweisen, daß es eine
symptomatische Katatonie (Hypophrenie nach meiner Bezeich¬
nung) bei Herderkrankungen der bezeichneten Region gibt. Nicht
aber wäre aus ihnen abzuleiten, daß wir für die Hauptmasse der De¬
mentia praecox oder auch nur für einen nennenswerten Teil der Fälle
dieser Krankheit eine organische Läsion im Bereiche des Hirns tammea
anzunehmen haben. Näher liegt schon die Annahme, daß bei einer
mehr oder weniger großen Zahl von Fällen eine Schädigung der Funk¬
tion. des subkortikalen Zentralorganes durch chemische Noxen,
wie sie sich etwa aus einer Störung der „chemischen Koordination des
Organismus“ ergeben, oder auch durch „Stoffwechsclgifte“ vorliege.
Selbstverständlich könnte daneben auch an eine besondere Über¬
empfindlich keit dieses Organes gegen gewisse Stoffwechselprodukte
*) Schuster , P., Psychologische Störungen bei Hirntumoren. Enke,
1902.
*) Formatier, F., Zur Kasuistik der Hypophysengangsgeschwülste.
Wiener klin. Wschr. 1909, Nr. 17.
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gedacht werden, welche es mit sich brächte, daß auch solche bereits
als Noxen aut dasselbe wirken, denen unter normalen Verhältnissen
eine derartige Wirkung nicht zukommt. Nehmen wir weiter an, daß
die sich in der erwähnten Überempfindlichkeit ausdrückende Minder¬
wertigkeit des Zentralorganes schon in der Anlage begründet sein
kann, so haben wir damit zugleich eine Vorstellung von der Art der
Grundlage der endogenen Natur, die der Hauptgruppe der Dementia
praecox sicherlich nicht abzusprechen ist, gewonnen 1 ).
Die pathologische Hypofunktion des Zentralorgans äußert sieh
bald in seiner Unfähigkeit, einen für ein geordnetes Geistesleben er¬
forderlichen Grad von psychischer Aktivität (psychischem Tonus,
Bewußtseinstonus) überhaupt herzustellen, bald in der, die psychische
Aktivität auf dieser Höhe dauernd zu erhalten. In ersterem Falle
resultieren Bilder von mehr konstanter Störung, im letzteren dagegen
Bilder, in denen der Zug der „Launenhaftigkeit“, die „launenhafte
Inkonstanz“ der krankhaften Erscheinungen, mehr oder weniger
deutlich hervortritt. Liegt in Fällen letzterer Art ein geringerer Grad
der Grundstörung vor, so können, in oft überraschend sprunghafter
Folge, Phasen normaler oder nahezu normaler mit solchen deutlich
schizophren gestörter Geistestätigkeit abwechseln. Man wird vielleicht
einwenden wollen, daß diese Annahme wohl nur die sozusagen spontan
eintretenden Tonusschwankungen erklären könne, gegenüber den, wie
oft zu beobachten, psychisch bedingten Elevationen der Geistestätig¬
keit auf ein höheres, zuweilen geradezu normal erscheinendes Niveau
aber durchaus versage. Demgegenüber kann aber darauf verwiesen
werden, daß Affekte — und solche sind in derartigen Fällen wohl
immer im Spiele — durch ihre die Aktivität, wie bereits erwähnt,
sozusagen konzentrierende Wirkung für die Zeit ihrer Dauer auch bei
ansonst unzureichender Aktivität einen Zustand herzustellen ver¬
mögen, der zu geordneten psychischen Leistungen befähigt. Außerdem
ist aber der Gedanke nicht strikt abzuweisen, daß Affekte auch eine
Hebung der psychischen Aktivität, eine Steigerung des psychischen
*) Durchaus stimme ich Bleuler bei, wenn er davon spricht, daß wir
guten Grund zur Annahme haben, daß es auch „konstitutionelle Zu¬
stände“ von Schaltschwäche, wie er sagt — von primärer Insuffizienz
der psychischen Aktivität, wie ich sage —, gebe.
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UMIVERSITY OFMICHIGAN
Die Schizophrenie uaw.
153
Tonus herbeizuführen imstande seien 1 ). Dies hätte nichts anderes
zur Voraussetzung, als daß vice versa auch eine Beeinflussung des
subkortikalen Zentralorganes vom Kortex (von der intentioralen
Sphäre des Kortex) her stattfinden könne. Dagegen spricht aber in
der Tat nichts, selbst gegen eine direkte Beeinflussung nicht, zumal,
abgesehen von Verbindungen der Binde mit andern subkortikalen
Gebieten, höchstwahrscheinlich sogar von allen Bindenbezirken, eine
doppelsinnige Verbindung mit dem Thalamus besteht.
Mit diesem Exkurs auf das somatische Glebiet sollte aber nur gezeigt
werden, zu welchen Überlegungen und Annahmen sich der Aktions-
psychologe angeregt sieht, wenn er daran geht, den Versuch einer Er¬
forschung des eigentlichen Wesens der Krankheit Schizophrenie, also
den Versuch einer Aufdeckung des somatischen Funktionsdefektes,
der hinter der Insuffizienz der psychischen Aktivität steckt, zu machen.
Der, wie gesagt, einzig möglichen psychologischen Ableitung
der schizophrenen Symptome aus der Aktivitätsinsuffizienz vermögen
selbstverständlich auch diese Annahmen keinen Vorschub zu leisten.
Dies ist aber auch gar nicht ihr Zweck; sie sind nicht als „Arbeits¬
hypothese“ gedacht, wie etwa Bleulers Hypothese der „Störung der
Assoziationsspannung“ als Elementarsymptom der Schizophrenien.
Sie bringen aber andererseits auch nicht die Gefahr mit sich, die psycho¬
logische Ableitung der schizophrenen Symptome aus der Aktivitäts-
insuffizienz in die Irre zu leiten, wie es bei der Bietderschen Arbeits-
hypothese, welche die psychologische Ableitung auf einen ganz be¬
stimmten Weg lenkt, der Fall sein muß, falls die in dieser Arbeit ver¬
tretene Meinung, daß sie irrig sei, richtig ist. Alle psychologischen Er¬
wägungen sind durchaus unabhängig davon, wie immer man sich den
somatischen Hintergrund der Insuffizienz der psychischen Aktivität
vorstellen mag.
Auf alle Einzelheiten der Darstellung Bleuler s, wie die schizo¬
phrenen Störungen mit der „Schwäche der Assoziationsspannung“ in
Beziehung stehen sollen, näher einzugehen, möchten wir, um nicht zu
weitläufig zu werden, lieber vermeiden. Nur einige wenige Punkte
seien noch kurz berührt.
Wenn Bleuier angibt, es handle sich bei der Schizophrenie um
eine „Lockerung der assoziativen Affinitäten“, so schwebt ihm dabei
1 ) Daß ich selbst nicht dazu neige, diesen Gedanken zu vertreten,
ist schon früher angedeutet worden.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
164
Berze,
die Vorstellung vor, daß Begriffe zunächst „aufgelöst“ werden,.um
dann „ineinander zu verschwimmen“. Als Beispiel führt er an: „Die
doch gewiß recht fest gefügte Assoziation des eigenen Namens, den
man als Unterschrift setzt, zeigt sich bei einer Schizophrenen zerrissen,
die schon die drei Buchstaben „Gra“ hingesetzt hat, um „Graf“ zu
schreiben, dann aber durch die beiden Anlaute an „groß“ erinnert
wird und nun das a ausstreicht und den Namen zu „Groß“ ergänzt.“
Wer wird denn wirklich für einen solchen Fall, wenn er nicht von vorn¬
herein dort hinaus will, wo eben Bleuler hinaus will, eine sq umständ¬
liche und bei alledem das wesentlichste Moment ganz vernachlässigende
Erklärung konstruieren ? Es liegt doch auf der Hand, daß die Kranke
zunächst „Gra“ schreibt, weil sie ihren Namen schreiben will, d. h.
weil die Intention, ihren Namen zu schreiben, in ihrem Bewußtsein
rege (aktiviert) ist, daß sie aber dann etwas anderes schreibt, weil die
Intention, ihren Namen zu schreiben, zu wirken auf gehört hat
und an ihrer Stelle eine andere Intention, nämlich „Groß“ zu schreiben,
wirksam geworden ist. Das ist das Wesentliche. Und dieses Wesent¬
liche erklärt sich völlig zwanglos aus der Insuffizienz der psychischen
Aktivität: ob ihrer Insuffizienz reichte die psychische Aktivität unter
den gerade gegebenen sonstigen Umständen nicht dazu aus, die In¬
tention, den eigenen Namen zu schreiben, so lange aktiviert zu erhalten,
bis der Namen ausgeschrieben war, die Intention „entfiel“ der Kranken
vorzeitig, so daß sich eine andere an ihre Stelle setzen konnte. Wie diese
andere Intention angeregt worden ist, ist im Grunde von nebensäch¬
licher Bedeutung. Wo die Kraft des Ich, Intentionen zu heben und
festzuhalten, unzureichend ist, treten immer die durch Impressionen
geweckten „Assoziationen“ als des Erfolges sichere Konkurrenten auf
den Plan. So war es auch hier der Fall. Die Intention, etwas zu
schreiben, konnte gerade noch festgehalten werden, aber die Spezial-
intention, den Namen zu schreiben, war entfallen. Das optische Bild
des bereits niedergeschriebenen „Gra“ regte nun infolge der gerade
gegebenen Konstellation das Wort „Groß“ an und aus der Intention,
etwas zu schreiben, wurde nunmehr die Intention, „Groß“ zu schreiben.
Dazu bedarf es aber selbstverständlich keiner „Lockerung der assozia¬
tiven Affinitäten“, sondern im Gegenteile bloß desGegebenseins und der
Wirksamkeit der in Frage kommenden Assoziationen.
Das Suchen nach einem Wort ist psychologisch das Wirken einer
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Die Schizophrenie usw.
155
inhaltlich durch den vorschwebenden Begriff oder Gegenstand, um
dessen Bezeichnung es sich handelt, genau bestimmten Intention. Ist
diese Intention, wie es die Insuffizienz der psychischen Aktivität mit
sich bringt, nicht intensiv genug rege oder nicht lange genug wirksam,
so können alle möglichen „Quertriebe“ außer ihr zur Geltung kommen
und zur Hebung eines unrichtigen Wortes führen. Zur Annahme einer
„Lockerung der assoziativen Affinitäten“ gibt auch diese Störung
keinen Anlaß.
Wenn ein Kranker erklärt, daß „Epaminondas die Akropolis mit
Kanonenbooten belagert hat“, so ist nicht, wie Bleuler meint, zu
schließen, daß „entweder Epaminondas aus Beinen assoziativen Ver¬
bindungen mit dem Altertum losgelöst und in die neue Zeit versetzt
worden, oder die Kanonenboote ihres modernen Charakters entkleidet“
seien. Solche Äußerungen zeigen vielmehr, daß der Schizophrene nicht
imstande ist, die ganze Situation, um die es sich jeweils handelt,
denkend zu umfassen und daher von irgendeinem Teilmotiv einseitig
geleitet wird. Im speziellen Falle drängt sich die „Belagerung“ vor,
alles andere tritt zurück. Assoziationen zu „Belagerung“, darunter
etwa prävalierend die Erinnerung an eine Zeitungsnotiz über eine Be¬
lagerung mit Kanonenbooten, werden rege — und die unsinnige Be¬
hauptung des Kranken ist fertig. So erklärt sich überhaupt die große
Menge der unsinnigen Äußerungen'Schizophrener: aus der pathologi¬
schen Dürftigkeit im Gegensätze zur normalen Breite des „Bewußt¬
seinsstromes“, d. h. aus der in der Insuffizienz der psychischen Aktivität
begründeten Unfähigkeit, in einer (Denk-) Intention alle wesentlichen
Momente einer Gesamtsituation zu erfassen.
Viel wäre über Bleulers Ansichten über die Genese der „Störungen
der Logik“ bei der Schizophrenie zu sagen.
Zunächst erhebt sich die Frage, ob wirklich für alles, was Bleuler
als Ausdruck einer Störung der Logik hinstellt, diese Deutung zutrifft.
Daß die Äußerung einer Schizophrenen, sie könne den Boden nicht
kehren, „weil -sie nicht Französisch kann“, unlogisch erscheint, sei
zugegeben. Daß aber der Gedankengang unlogisch war, der die
Kranke zu dieser Äußerung gebracht hat, steht keineswegs fest; wir
können dies nicht behaupten, weil wir gar nicht wissen, was sich die
Kranke dabei gedacht hat. Ein Bild aus eigener Erfahrung: Ich habe
soeben nach dem Schlüssel zu meiner Tischlade gegriffen, — weil es
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 1. 12
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Berze,
draußen regnet. Hätte es nicht geregnet, wäre ich ausgegangen. Da
es regnet, bleibe ich zu Hause; will mich daher beschäftigen und, da
ich mich an einen unerledigten Akt erinnere, der in der Tischlade liegt,
greife ich nach dem Schlüssel. Die zunächst unlogisch erscheinende
Gedankenverbindung stellt sich als logisch heraus bei Aufdeckung der
Zwischenglieder. So könnte es mm aber auch bei jener Äußerung der
Schizophrenen sein. Z. B.: Aufgefordert, den Boden zu kehren, emp¬
findet sie 'Widerwillen dagegen (vielleicht einfach Negativismus!);
zugleich mit dieser „Affektlage der Ablehnung“ taucht in ihrer Er¬
innerung die Methode auf, in der sie sich seinerzeit, als sie Französisch
lernen sollte, in derartigen Fällen aus der Affäre zog. Sie „kann den
Boden nicht kehren, weil sie nicht Französisch kann“, könnte also
heißen: Da sie nicht Französisch kann und es daher erst lernen muß,
hat sie keine Zeit, den Boden zu kehren, kann ihn, kurz gesagt, nicht
kehren.
Es muß nicht so sein; aber es Kann und wird in vielen Fällen so
sein. Das Absonderliche wäre dann eigentlich nicht an dem Gdanken-
gange, sondern an der darstellenden Äußerung gelegen. Der Schizo¬
phrene läßt sozusagen außer acht, daß die Sprache ein Verständi¬
gungsmittel ist, sprachliche Äußerungen daher darnach einzurichten
sind, daß sie verstanden werden können, was aber eben oft nicht der
Fall ist, wenn man nur die Endglieder einer längeren Gedankenreihe
zum Ausdruck bringt, besonders wenn (fiese Endglieder das Wesent¬
liche der z. B. im Kausalnexus stehenden Begriffe gar nicht enthalten.
Aus der Insuffizienz der psychischen Aktivität lassen sich mehrerlei
Ursachen für diesen Mangel ableiten. Zunächst ist schon daran zu
denken, daß auf Grund dieses Defektes die Intention, sich verständlich
zu machen, beim Schizophrenen nicht in zureichendem Maße rege ist.
Dann spielt auch hier wieder die aus der Grundstörung entspringende
Unfähigkeit, die Gesamtsituation zu überblicken, zweifellos eine Bolle.
Weiter führt die Intentionsschwäche leicht dazu, daß aus der Situation
nicht die wesentlichen, sondern irgendwelche unwesentliche Momente,
für welche konstellative Faktoren beliebiger Art begünstigend wirken,
herausgegrifferi werden, um den Inhalt der Äußerung abzugeben.
Damit soll aber, wie bereits ausgedrückt wurde, nur gesagt sein,
daß nicht jede unsinnige Äußerung der Kranken als auf einem Defekte
des logischen Denkens beruhend angesehen werden darf, dagegen
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Die Schizophrenie usw.
157
durchaus nicht geleugnet werden, daß ein solcher Defekt bei der
Schizophrenie besteht. Er steht ja außer Zweifel; hinsichtlich seiner
Beziehung zur Grundstörung müssen wir allerdings wieder ganz anderer
Meinung sein als Bleuler.
Nach Bleuler „ist das logische Denken (nun) entweder eine genaue
Reproduktion früher erlebter oder eine Bildung analoger Verbindun¬
gen“. Unter „früher erlebten Verbindungen“ sind jene „Verbindungen
unter den Engrammen“ gemeint, welche dadurch entstehen, „daß
zwei Erlebnisse, oder sagen wir beispielweise die Vorstellung zweier
Gegenstände, die nebeneinander oder nacheinander Vorkommen, as¬
soziativ miteinander Verbunden werden“ (z. B. das Wort „Apfel“ und
die Vorstellung „Apfel“, ,31itz“ und „Donner“). Bleuler stellt sich
also strikt auf den Standpunkt der Lehre, daß die Logik des Denkens
aus der Logik der Tatsachen (der „den Dingen immanenten vernünfti¬
gen Gesetzmäßigkeit“, vgl. Eisler, 1. c.) hervorgehe. Dagegen sei
nichts eingewendet, obwohl es bekanntlich auch andere Lehrmeinungen
über diesen Punkt gibt. Was aber einer Kritik u. E. nicht standhält,
st die Auffassung Bleulers im Punkte der Art des Hervorgehens der
Logik des Denkens aus der Logik der Tatsachen.
Schon die einfache Reproduktion „früher erlebter Verbindung»!“
ist nach Bleuler logisches Denken. Dies ist ein Irrtum. Durch das
Nacheinandererleben von Blitz und Donner wird, wie Bleuler richtig
sagt, „eine Assoziation gestiftet“, eine „Erfahrungsassoziation“, wie
es an andern Stellen heißt. Etwas, was die Bezeichnung Denken ver¬
diente, ist dabei nicht im Spiele. Und eine „einfache Reproduktion“
dieser Verbindung kann demnach auch noch kein logisches Denken,
wie überhaupt kein Denken, sein; sie ist nichts als eine Erinnerung an
zwei einander folgende Erlebnisse. Das Denken ist etwas der „ein¬
fachen Reproduktion“ derartiger Verbindung gegenüber durchaus
Neues, Wesensfremdes. Sein Ergebnis sind Urteile, Urteile, die sich
auf das in den „Erfahrungsassoziationen“ niedergelegte Nebeneinander
und Nacheinander der Gegenstände beziehen.
Es ist somit auch ganz unerlaubt, die „Geleise der Logik“ mit den
„Erfahrungsassoziationen“ zu identifizieren, wie dies Bleuler tut, wenn
er das Verlassen der Geleise der Logik im Traume usf. auf die Lockerung
der Erfahrungsassoziationen bezieht. Die sensualistische Assoziations¬
psychologie kann freilich keinen andern Ausweg finden.
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Berze,
Der richtige Überblick ergibt sich erst, wenn erkannt und festge¬
halten wird, daß die „Erfahrungsassoziationen“ ein Erlebnis der
Psychosensibilität, die „Geleise der Logik“ dagegen ein Ergebnis der
auf diese reagierenden Psychomoiilität sind. Wie uns die Verhältnisse
in der Außenwelt dazu zwingen, unsere Bewegungen, unsere Handlun¬
gen in einer bestimmten Art zu gestalten, so zwingen uns unsere in den
Erfahrungsassoziationen niedergelegten Erlebnisse unser inneres Han¬
deln, das Denken in einer bestimmten Art, nach bestimmten Hegeln
zu vollziehen. Und die Logik ist nichts anderes als die Gesamtheit
dieser Regeln, dieser „Gesetze des Denkens“. Psychologisch ent¬
sprechen diesen den Erfahrungsinhalten gleichsam entspringenden Be¬
stimmungen des Denkens Strebungen (Intentionen, Intentionsfolgen)
von bestimmter Richtung, die selbstverständlich im Wirkungsfalle
nicht als solche bewußt werden müssen 1 ).
Erst auf diesem Wege, auf dem Wege der Entstehung von Inten¬
tionsschemen auf Grundlage der Erfahrung (der „Erfahrungsassozia-
tionen“), erklärt sich die Tatsache, daß die aus speziellen Erleb¬
nissen ersichtliche Logik zu einem allgemeinen, bei der denkenden
Verarbeitung jedes beliebigen Bewußtseinsinhaltes verwertbaren Kanon
wird. An dieser wichtigen Tatsache geht Bleuler ohne weiteres vorüber.
Das logische Denken ist ihm zwar, wie bereits erwähnt, außer der „Re¬
produktion früher erlebter“ die „Bildung analoger Verbindungen“.
Wie aber dies geschehen soll, wie es die „Erfahrungsassoziation“,
die durch zwei ganz bestimmte spezielle Erlebnisse „gestiftet“ worden
ist, machen soll, daß zwei ganz andere Bewußtseineinhalte in eine ihr
„analoge Verbindung“ miteinander treten, sagt er uns nicht. Er kann
es uns wohl auch nicht sagen; denn die nackte Assoziationspsychologie
gewährt keine Handhabe dazu, wodurch sie übrigens abermals ihre
Unbrauchbarkeit dokumentiert.
Da die Wirksamkeit der Logik psychologisch als Wirksamkeit
bestimmter Intentionskomplexe, Intentionsfolgen erscheint, so ist es
klar, daß eine Insuffizienz der psychischen Aktivität auch einen Defekt
des logischen Denkens mit sich bringen muß. Die in Frage kommenden
Intentionen sind nicht kräftig genug, dem Denken die durch die Logik
x ) Intentionen können wirksam werden entweder „triebmäßig in
Gestalt einer gerichteten Erregung“ oder „bewußt“, d. h. in selbständigen
gegenständlichen Akten ( Mittenzwey, Ztschr. f. Pathopsychol. Bd. 2, S. 206).
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Die Schizophrenie asw.
159
geforderte Richtung aufzuzwingen; der Gedankengang verläßt daher
oft die „Geleise der Logik“.
Der Defekt der Schizophrenen im Bereiche der Logik ist also,
genau betrachtet, eine Teilerscheinung der schizophrenen „Direktions-
losigkeit“, des Defektes der Zielstrebigkeit, als Ausdruck der In¬
suffizienz der Intentionskraft.
Das Denken nach „Erfahrungsassoziationen“ und das Denken im
„Geleise der Logik“ muß streng auseinandergehalten werden. Das
Denken, welches über die Erfahrungsassoziationen hinausgeht, von
ihnen abgeht, ist nicht, wie Bleuler meint, unlogisches Denken. Der
Gegensatz ist ein ganz anderer: Während das Denken nach Erfahrungs¬
assoziationen das „konkrete Denken“ ist (es arbeitet mit Anschauun¬
gen und Erinnerungsbildern), ist das über diese Assoziationen hinaus¬
gehende Denken das „abstrakte Denken“ (dieses „arbeitet mit Be¬
griffen, die es zerlegt und verknüpft“). Logisch oder unlogisch kann
aber das eine wie das andere sein, logisch, wenn die im Sinne der Logik
wirkenden Intentionen entsprechend zur Geltung kommen, unlogisch,
wenn dies nicht der Fall ist.
Erschwert wird aber der Einblick in Bleulers Auffassung noch da¬
durch, daß ihm die „Erfahrungsassoziationen“ wohl einmal (S. 7)
die „Geleise der Logik“, ein andermal (S. 16) aber die „Denkgeleise“
bedeuten. Die Bezeichnung „Denkgeleise“ paßt aber doch nur auf
Spuren, die von Gedankengängen überhaupt Zurückbleiben, seien sie
nun logisch oder unlogisch. Der Gegensatz zum Denken mit Einhaltung
vorhandener „Denkgeleise“, mit andern Worten: zum Denken in bereits
früher einmal benutzten Bahnen, kann aber nur das neu schöpfende,
das schöpferische Denken sein. Auch dieses kann wieder logisch oder
unlogisch sein, je nachdem sich das die gewohnten Bahnen, die „Denk¬
geleise“, verlassende Denken in den „Geleisen der Logik“ hält oder
nicht. Die „Geleise der Logik“ dürfen also nicht mit den „Denk¬
geleisen“ zusammengeworfen werden. Bleuler begeht diesen Fehler,
obwohl er (S. 16) Ideen vorbringt, die ihn geradezu unmittelbar auf
den fundamentalen Unterschied zwischen „Denkgeleisen“ und „Ge¬
leisen der Logik“ stoßen lassen mußten. Er spricht dort von einem
Berührungspunkte zwischen „leichten Fällen von Schizophrenie“ und
genialen Leuten, die sich dadurch ergebe, daß bei beiden Gruppen die
Möglichkeit gegeben sei, daß sich das Denken „aus den eingeübten
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Berze,
Bahnen entferne“. Dies kann nur von gutem sein, wenn es sich um die
Bahnen handelt, welche die Bezeichnung „Denkgeleise“ verdienen,
nicht aber hinsichtlich der „Geleise der Logik 44 . Wenn ein Genie die
Geleise der Logik verläßt, dann fördert es nicht etwas brauchbares
Neues zutage, dann denkt es vielmehr Unsinn wie jeder andere Sterb¬
liche in solchem Falle.
Die gelegentliche Berührung zwischen Schizophrenie und Genie
ist übrigens in der Kegel x ) eine rein äußerliche. Sie liegt in der Ori¬
ginalität gewisser Geistesprodükte. Diese erschöpft aber nicht das
Wesen des Genies, bildet m. E. nicht einmal das wesentlichste Moment
an ihm, welches vielmehr in der ausnehmend großen Kraft der denken¬
den Gestaltung zu sulhen ist. Sie hat einen hohen Grad von psychischer
Aktivität zur Voraussetzung, welcher es ermöglicht, daß die besonders
große Breite des Bewußtseinsstromes den Überblick über ein weiteres
Tatsachengebiet, als der Durchschnittsmensch mit einem Schlage zu
erfassen vermag, gestattet, welcher ferner einen höheren Grad von
Geistesschärfe mit sich bringt, der Beziehungen („Ähnlichkeiten 44
sagt Bleuler nicht richtig) erschauen läßt, die dem Durchschnitts¬
menschen verborgen bleiben. Diese Kraft der Gestaltung fehlt aber
dem Schizophrenen; seine auf psychische Akte verwendbare Kraft
erreicht gemeinhin nicht einmal das Durchschnittsmaß, sondern steht
unter diesem nach Maßgabe der Insuffizienz der psychischen Aktivität.
Produziert also der Schizophrene unter so und so vielem Unbrauch¬
baren einmal etwas brauchbares Neues, Originelles, so ist dies gerade¬
so Zufall, wie wenn eine blinde Henne richtig einmal ein Korn findet.
Also, um kurz zusammenzufassen: Es ist genau zu unterscheiden
zwischen den „Denkgeleisen“ und den „Geleisen der Logik 44 (Bleuler).
Die ersteren sind durchaus vergleichbar den Erfahrungsassoziationen;
wie diese durch die Erfahrung „gestiftet“ werden, so die „Denkgeleise“
durch den Denkvorgang. Wie die Erfahrungsassoziationen, die Wah r -
*) Ich möchte nicht ausschließen, daß der eine oder der andere
Schizophrene dem Genie näher steht, als hier ausgeführt wird. Eine Abart,
wenn ich so sagen darf, der Schizophrenie beruht, wie bereits erwähnt,
auf der Labilität des Bewußtseinstonus. Mit dieser Labilität ist ganz
gut vereinbar, daß sich der Bewußtseinstonus zuzeiten auch über das
Durchschnittsmaß erhebt, und daß damit Zustände der „Inspiration“ oder,
wie sich Stransky einmal ausdrückte, des erhöhten „Arbeitsturgors“
herbeigeführt werden.
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Die Schizophrenie uaw.
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nehmungsassoziationen, sind auch die letzteren, die Denkassoziatio¬
nen, bald als simultane, bald als sukzessive charakterisiert. — Die
‘,Geleise der Logik u dagegen sind Intentionen, Intentionsreihen, In¬
tentionsformeln, und zwar offenbar erst aus der Erfahrung abge¬
leitete Intentionen, welche hinfort, wenn sie zur Geltung kommen —
und dies hat nichts anderes zur Voraussetzung als das Gegebensein
des dem normalen physiologischen Wachzustände entsprechenden
Mafies von psychischer Aktivität (Gegensatz: Traumzustand, Schizo¬
phrenie) und die Verfügbarkeit eines zureichenden Anteiles dieser
psychischen Aktivität für den gerade in Frage kommenden Denkakt
(Gegensatz: Bindung durch einen andern Akt, „Tätigkeit neben der
Aufmerksamkeit“ nach Bleuler) —, das Denken über jede beliebige
Materie im Sinne der Logik regeln. Die Logik ist psychologisch ver¬
gleichbar der Moral; auch diese ist ein Komplex von Intentionsformeln,
nämlich von solchen, welche das Denken und Handeln im Sinne der
Sittlichkeit regeln, von Intentionsformeln, auf Grund deren „die sitt¬
liche Gesinnung in der praktischen Betätigung wirksam“ (vgl. Kreibig)
wird. — Der schizophrene Prozeß nun ändert an sich an den Denk¬
assoziationen ebensowenig wie an den Wahmehmungsassoziationen.
Wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, daß der schizophrene Prozeß
die Assoziationen schädigt, etwa, wie Bleuler meint, im Sinne einer
„Schwächung der Assoziationsspannung“. Erst das Denken unter
den pathologischen Bedingungen, wie sie durch den schizophrenen
Prozeß gesetzt sind, das Denken bei unzureichender psychischer Ak¬
tivität, verdirbt sozusagen sekundär den Gehalt der Denkassoziatio¬
nen, indem nunmehr aus den gestörten Denkakten hervorgegangene
unlogische, unsinnige, unbrauchbare Assoziationen den vordem er¬
worbenen brauchbaren Assoziationen gegenüber immer mehr an Terrain
gewinnen.
Und mm noch einen wichtigen Punkt. Es war zu erwarten, daß
Bleuler , der Hauptvertreter der Schizophrenielehre, auch eingehend
zeigen werde, wie seine Hypothese auch die Erscheinung, daß „die
Persönlichkeit ihre Einheit verliert“, wenn die Krankheit
(sc. Schizophrenie) ausgesprochen ist, zu erklären geeignet sei.
Tragen wir nun zusammen, was Bleuler in der zitierten Arbeit zu
diesem Gegenstände sagt, so muß uns vor allem auffallen, daß er dort,
wo es sich um die Persönlichkeit handelt, bald von der „aktuellen Per-
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Berze,
8önlichkeit“ (S. 12) oder von der „Person“ (S. 17), bald von der „Psyche
in ihrer Totalität“ (S. 6) oder der „Gesamtheit der Psyche“ (S. 17)
spricht. Dies wäre statthaft, wenn die Begriffe „Gesamtheit der Psyche“
und „Persönlichkeit“ identisch wären. Davon kann aber keine Bede
sein; die Gesamtheit der Psyohe umfaßt außer der Persönlichkeit, dem
Ich als dem Subjekte der psychischen Akte, und den zurzeit latenten
Intentionen auch noch die Dinge, welche dem Ich als Objekte gegen¬
überstehen (außer der „Autopsyche“ noch die „Somato“- und die
„Allopsyche“ im Sinne Wernickes).
Nicht um die Gesamtheit der Psyche, sondern um die Persön¬
lichkeit handelt es sich, wenn von einer „Störung der Einheit der
Person“ die Bede ist. Man muß daher vor allem einen möglichst
klaren Einblick in das Wesen der „Person“ und ihrer Beziehung zur
Gesamtpsyche zu gewinnen trachten, wenn man darauf ausgeht, eine
Störung der Einheit der Person zu erklären. Dazu bietet nun aber die
Assoziationspsychologie keine Handhabe; die Schwächen der Assozia¬
tionspsychologiesind, wie H. Cornelius mit Becht betont, da auffällig,
wo es sich um die Erklärung derjenigen Tatsachen handelt, für deren Zu¬
standekommen „der Zusammenhang unserer Erlebnisse zur Einheit des
Bewußtseins maßgebend ist“ (Einl. in d. Phil., S. 192, zit. nach Eisler).
Bleuler macht daher auch gar keinen rechten Versuch einer Erklärung,
sondern konstatiert einfach: „Die Aufrechterhaltung der Einheit ist
(aber) auch schon eine Funktion der allgemeinen Schaltungen über¬
haupt.Damit ist unter normalen Umständen die Einheit der
Psyche gewährleistet; wir möchten geradezu sagen: die Einheit der
Psyche ist identisch mit der Einheit der Schaltung.“ Dies zu sagen,
steht Bleuler selbstverständlich frei, er kann der von ihm konstruierten
„Schaltung“ zuschreiben, was er will; aber erklärt oder bewiesen ist
damit nichts.
Die Gesamtpersönlichkeit ist nichts anderes als die Summe der
Intentionen bzw. Intentionsmöglichkeiten, des Ich. Sie ist der Inbegriff
„des tendances röunies et associöes cTapres quelques principes gen6-
raux“ (Paulhari). Die jeweils in Erscheinung tretende Persönlich¬
keit, die „Momentanpersönlichkeit“ (vgl. Lipps) ist sozusagen ein
Ausschnitt aus der Gesamtpersönlichkeit, d. h. ein Komplex von In¬
tentionen, der einen bestimmten Teil jener Gesamtheit von Intentionen
ausmacht. Die einander ablösenden „Momentanpersönlichkeiten“ sind
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Die Schizophrenie usw.
163
einander nicht gleich, sondern voneinander verschieden nach Maßgabe
der Verschiedenheit ihres jeweiligen Intentionsgehaltes. Die in der
Momentanpersönlichkeit gerade nicht enthaltenen Intentionen sind
zurzeit „latent 11 . Sie werden in der Latenz erhalten, ausgesperrt,
unterdrückt, indem die ganze verfügbare psychische Aktivität auf die
die Momentanpersönlichkeit zusammensetzenden Intentionen ver¬
wendet wird. Man mag die Funktion, die dies bewirkt, die „oberste
psychische Funktion“, die „Höchstfunktion“, die „Funktion (Inten¬
tion) der Ich-Erhaltung“ nennen; sicher ist, daß, was wir als das Er¬
gebnis ihrer Wirksamkeit ansehen, im normalen Wachzustände imm er
gegeben ist, und sicher ist ebenso, daß der Effekt mangelhaft wird,
wenn die psychische Aktivität unter das dem normalen Wachzustände
eigene Maß sinkt, woraus sich ergibt, daß sie eine Äußerungsform der
psychischen Aktivität selbst ist, welche diese aber nur dann zu ent¬
falten vermag, wenn sie ein bestimmtes Maß erreicht hat.
Außer zur Erhaltung der Momentanpersönlichkeit reicht die
psychische Aktivität im normalen Wachzustände noch zur Erzielung
eines besonders auffälligen weiteren Effektes hin, nämlich zur aktiven
Aufmerksamkeit. Geht die Momentanpersönlichkeit aus der Ge¬
samtpersönlichkeit dadurch hervor, daß ein bestimmter Teilkomplex
aus der Gesamtmasse der Intentionen herausgehoben und die übrigen
in die Latenz verwiesen werden, so geht der Zustand der aktiven Auf¬
merksamkeit aus der zunächst sozusagen breiter angelegten Momen¬
tanpersönlichkeit in der Weise hervor, daß eine in ihr vertretene spe¬
zielle Intention auf Kosten der übrigen in ihr enthaltenen herausge¬
hoben, die psychische Aktivität auf sie konzentriert wird. Die aktive
Aufmerksamkeit ist also eine höhere, ihre höchstmögliche Potenzierung
die höchste Leistung jener Funktion.
Ein Absinken der psychischen Aktivität, wie immer es begründet
sein mag, zeigt sich daher zuallemächst in einer Herabsetzung der
Fähigkeit zur aktiven Aufmerksamkeit, d. h. der Fähigkeit, aus der
breiteren Momentanpersönlichkeit in die engere, auf die spezielle In¬
tention eingeengte Momentanpersönlichkeit überzugehen und die
letztere zu erhalten. Hand in Hand damit geht eine Steigerung der
Ablenkbarkeit. Während unter normalen Umständen die Momentan¬
persönlichkeit allen Einflüssen, darunter besonders den Sinnesein¬
drücken, als ein mehr fester Block gegenübersteht, was zur Folge hat,
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daß auch die durch die Einflüsse (Sinneseindrücke, Einfälle usw.) an¬
geregten Intentionen in großer Zahl niedergehalten und nur diejenigen
von ihnen, welche das „Interesse“ zu erwecken imstande sind, in die
Momentanpersönlichkeit des unmittelbar folgenden psychologischen
Augenblicks aufgenommen werden, ist die Festigkeit der Momentan¬
persönlichkeit bei verminderter psychischer Aktivität in gleichem
Maße beeinträchtigt und daher in ihrer Zusammensetzung einem ent¬
sprechend häufigeren Wechsel unterworfen, indem sich die durch die
Einflüsse aller Art angeregten Intentionen weit leichter in sie gleichsam
eigenmächtig einzudrängen, andere Intentionen aus ihr zu verdrängen,
sie somit umzugestalten vermögen (vgl. „Hypermetamorphose“ nach
Wemicke, Grundriß der Psychiatrie, 1900, S. 212). Im Bereiche des
Denkens macht sich die gesteigerte Ablenkbarkeit, und zwar um so
mehr, als auch die Schwäche der jeweiligen speziellen (Denk-) Intention
(„idöe directrice“) in dem gleichen Sinne wirkt, in der Form des Ab¬
irrens vom eingeschlagenen Gedankengange geltend, indem sich irgend¬
wie angeregte andere Intentionen an die Stelle der jeweiligen Leitidee
setzen. Bei höheren Graden des Aktivitätsmankos kann diese Störung
den Charakter der „Direktionslosigkeit“ des Denkens annehmen.
Die bisher betrachteten Erscheinungen, die sich bekanntlich auch
beim geistig Normalen einstellen im Zustande der Ermüdung, der
Schläfrigkeit und dergleichen, haben das gemein, daß sie den eigent¬
lichen Kern der Momentanpersönlichkeit, das Selbstbewußtsein, das
Bewußtsein des einheitlichen, aktiven Ich und seiner Kontinuität,
nicht berühren. Die Störung betrifft nur das Denken (und Handeln)
des Ich, nicht das Ich selbst. Jener wesentliche Komplex von habitu¬
ellen Intentionen, welcher, aus einer Momentanpersönlichkeit in die
folgende usw. übergehend, die Kontinuität des Ich erhält, bleibt intakt.
Erst bei einem höheren Grade des Aktivitätsdefektes setzen dann,
zugleich mit einem entsprechenden Quantitätszuwachs der bisher er¬
wähnten Störungen, womit das Auftauchen qualitativ neuer Sym¬
ptome wie Halluzinationen, Wahnbildung, Katalepsie usw. einhergehen
kann, die spezifisch schizophrenen Alterationen der (Momentan-)
Persönlichkeit ein. Es verliert das Ich seine unter normalen Um¬
ständen ihm eigene (relative) Stabilität; dies, weil die psychisohe
Aktivität und damit jene „Höchstfunktion“ nun nicht mehr dazu
ausreicht, eine Gruppe von Intentionen als Momentanpersönlichkeit
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Die Schizophrenie usw.
165
in zureichendem Maße aus der Gesamtheit der die Gesamtpersönlich¬
keit bildenden Intentionen herauszuheben bzw. sie in der ihnen durch
die Heraushebung gegenüber den übrigen zuteil werdenden Ausnahme-
«tellung zu erhalten.
Den leichtesten Grad der schizophrenen Persönlichkeitsstörung
bekommt man, nach meiner Erfahrung zu urteilen, nur höchst selten
rein zu sehen; eine ganz geringe Zunahme des Defektes scheint bereits
dazu auszureichen, eine weitgehende Änderung der Erscheinungsweise
der Störung herbeizuführen. In diesen seltenen Fällen ist nun ganz
deutlich zu ersehen, daß die schizophrene Persönlichkeitsstörung in
* ihrer ursprünglichen Feinheit in der Tat das Ergebnis einer mangel¬
haften Abhebung der habituell aktiven Intentionen gegen die
habituell latenten Intentionen ist. Das Ich bzw. die Momentan¬
persönlichkeit fließt sozusagen auseinander, in das weite Gebiet der
Gesamtpersönlichkeit hinein. Ein Kranker dieser Art führte u. a.
folgendes aus: „Ich bin jetzt ganz anders als früher. Ich weiß jetzt
alles auf einmal, was ich früher in meinem ganzen Leben nacheinander
gewußt habe. Das ist ein großartiger Zustand! Man ist nicht ge¬
bunden, man ist ganz frei. Man muß nicht so oder so, man kann, wie
man will, man kann so oder auch das andere, das Gegenteil. Man hat
einen viel weiteren Gesichtskreis, einen weiteren geistigen Horizont.“
Was diesen Kranken dazu bestimmte, seinen Defekt, im Gegensätze zu
der großen Mehrheit der in einem ungefähr gleichen Stadium der
Krankheit befindlichen Schizophrenen, in so rosigem Lichte zu sehen,
war offenbar seine zurzeit (pseudomanische Episode) vorherrschende,
deutlich gehobene Stimmung. Den meisten Kranken wird der Defekt
dagegen mehr oder weniger unangenehm fühlbar, vor allem in der
Form der Unfähigkeit, den äußeren und inneren Einflüssen eine feste
Persönlichkeit gegenüberzustellen, und weiter der Unfähigkeit, die
Persönlichkeit als entscheidenden Faktor zwischen ja und nein,
zwischen Tendenz und Gegentendenz, wirksam werden zu lassen. In¬
telligente Kranke drücken dies etwa wie folgt aus: „Es ist mir nicht
möglich, die Persönlichkeit zu stellen, die notwendig ist“, oder: „Das
momentane Bewußtsein, wer bist du, wo bist du, was darfst du.
Ist unbedingt notwendig“ (wird vom Kranken vermißt), oder: „Ich
bin kein Mittelpunkt weder in affirmativer noch in negativer Be-
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166"
Berze,
Ziehung *).“ Die letztere Äußerung weist zugleich recht bezeichnend
auf ein Symptom hin, welches von Bleuler den Namen „Ambitendenz“
erhalten hat und nach diesem Autor als Teilerscheinung der „Neigung
der schizophrenen Psyche, die verschiedensten Psychismen zugleich
mit negativem und positivem Vorzeichen zu versehen (Ambivalenz)“,
anzusehen ist. In der Gesamtpersönlichkeit sind eben Triebe und
Gegentriebe, Tendenzen und Gegentendenzen, nebeneinander ver¬
treten, die Entscheidung in dem einen oder dem andern Sinne („af¬
firmativ“ oder „negativ“, wie jener Kranke sagte) kann nur von der
bestimmt zusammengesetzten Momentanpersönlichkeit ausgehen;
mangelt es an der Festigkeit der letzteren, so kommt es zur Ent¬
scheidung in vielen Fällen eben nicht bzw. auf Grund einer aktiven
Entschließung des Ich. Bleuler erklärt, nebenbei bemerkt, mit Recht,
daß die „Ambivalenz, namentlich in Form der Ambitendenz, auch alle
Übergänge zum Negativismus hat“. Es liegt auf der Hand, daß der
Negativismus, welchen wir zweifellos als das Ergebnis einer patho¬
logischen Intention (Abwehrtendenz, negativistischen Tendenz *)) an¬
zusehen haben, um so leichter in Erscheinung treten kann, wenn nicht
eine zu bestimmter Entscheidung veranlagte, sondern eine im Sinne
der Ambitendenz defekte Momentanpersönlichkeit gegeben ist.
Bei schwereren Graden des Defektes kommt es dann auch zu
schwereren Störungen der Momentanpersönlichkeit und ihrer Konti¬
nuität. Den Übergang zu diesen Störungen zeigen Äußerungen der
Kranken, die folgendermaßen lauten, an: „Ich habe kein Selbst¬
bewußtsein“, „ich habe mein eigenes Ich nicht“, „die eigene Per¬
sönlichkeit ist gestört“, „ich habe keine Stabilität“ (!), „ich habe keine
Persönlichkeitsgefühle“ usw. 8 ). Die Momentanpersönlichkeit ist einem
übergroßen Wechsel ihrer Zusammensetzung ausgesetzt („ich habe
keine Stabilität“, „es fehlt mir das seelische Gleichgewicht, die Ba¬
lance“). Schon dadurch ist eine richtige Kontinuität unmöglich ge¬
worden ; nur mehr Reste des habituellen Intentionskomplexes Ich sind es,
die eine solche andeutungweise noch erhalten. Zeitweise erscheint da»
Ich wohl noch in mehr konsolidierter Form, dazwischen aber gibt e«
x ) Vgl. Berze, Die primäre Insuffizienz der psychischen Aktivität.
S. 62 .
*) Bezüglich Ableitung dieser Tendenz vgl. Berze, 1 . c.
3 ) Vgl. Berze, 1. c.
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Oie Schizophrenie usw.
167
Phasen, in denen das Ich nicht mehr als einen Schemen darstellt. Hand
in Hand mit diesem Schwund der Momentanpersönlichkeit, mit diesem
„Ich-Verluste“, geht die Erscheinung des Vordrängens von Intentionen
oder Intentionskomplexen, die bisher unter den habituellen Ichkompo-
nenten keinen Platz gefunden haben, denen jetzt aber durch die
Schwäche des Zusammenhanges des Ich die Möglichkeit geboten ist,
sich in dieses einzudrängen; namentlich Intentionen, die in der Zeit
des suffizienten Ich nicht endgültig erledigt, sondern bloß „verdrängt“
wurden, haben jetzt dazu Aussicht. Dieses Eindrängen eigentlich
ichfremder Intentionen in die Momentanpersönlichkeit führt zu einer
wahnhaften Veränderung der Persönlichkeit, die bekanntlich mehr
oder weniger tiefgreifend Bein kann. Wo die Aktivitätsinsuffizienz
dauernd einen gewissen Grad einhält, ist auch die auf die angedeutete
Weise herbeigeführte Persönlichkeitsveränderung eine dauernde, wäh¬
rend in den Fällen, in welchen die Insuffizienz in der Form der Labilität
des psychischen Tonus erscheint, parallel mit dem Wechsel zwischen
Elevation und Depression des Tonus ein Wechsel zwischen normalem
bzw. nur abgeschwächtem und wahnhaft verändertem Ich geht. Weiter
führt die Unfähigkeit, eine Momentanpersönlichkeit zu erhalten, auch
zur Bildung von Intentionszusammenhängen neben der Momentan-
persönlichkeit. Gerade so wie ein leichteres Absinken der Aktivität
eine Neigung zum „Denken neben der Aufmerksamkeit“ zur Folge hat,
ergibt sich aus einem weiteren Absinken von einem gewissen Tiefstand
an eine Neigung zur Bildung von Persönlichkeiten neben der eigent¬
lichen (Momentan-) Persönlichkeit, von bald nur kurzlebigen, bald aber
dauerhafteren Nebenpersönlichkeiten. Der „Zerfall“ hat damit die
Persönlichkeit, das Ich, ergriffen.
Wenn wir sagen, daß es die psychische Aktivität ist, welche es
macht, daß es zu einer Differenzierung der in der Gesaratpersönlichkeit
enthaltenen Intentionen kommt, so daß, um mit Bleuler zu reden, jede
das richtige Vorzeichen erhält und die sozusagen ichreifen, weil der Er¬
fahrung und Erkenntnis des Individuums entsprechenden reellen In¬
tentionen von den übrigen geschieden werden, mit der Konsequenz,
daß jene in das aktive Ich (Momentanpersönlichkeit) eingchen, während
diese in die Latenz verwiesen bzw. vom Ich abgewiesen werden, be¬
wegen wir uns auf dem Boden der Tatsachen; denn die Beobachtung
lehrt uns, daß jede Verminderung der psychischen Aktivität jene Dif-
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Berze, Die Schizophrenie new.
ferenzierung in einem ihrem Grade entsprechenden Maße beeinträchtigt.
Darüber aber etwas aussagen zu wollen, wie es um das somatische
Korrelat dieser Vorgänge bestellt sei, wäre ein durchaus aussichts¬
loses Beginnen, das nur ein phantastisches ßesultat ergeben könnte.
Rein nur nach Analogien in der physischen Welt zu suchen, bleibt uns
freilich unbenommen; was aber darüber nur im geringsten hinaus¬
ginge, wäre vom Bösen, auch schon die Aufstellung einer „Arbeits¬
hypothese“ auf Grund der gewählten Analogie.
Eine richtige Analogie scheint uns nun weit eher als auf dem Ge¬
biete der Elektrizität (Bleuler) auf dem der Optik zu finden zu sein.
Bekanntlich ist zum möglichst deutlichen Sehen der Farben der
Gegenstände eine gewisse Intensität der Beleuchtung erforderlich;
nimmt die Helligkeit (Intensität der Beleuchtung) ab, so nähert sich
jede Farbe in ihrer Qualität dem Schwarz, d. h. die Differenzierung
der Farben gegeneinander bzw. der Gegenstände nach Farben wird
geringer, um schließlich ganz zu verschwinden. Ganz das gleiche ist
aber auch das Verhältnis zwischen Intensität der psychischen Ak¬
tivität und Differenzierung der Intentionen nach „Vorzeichen“ (posi¬
tiv-negativ, moralisch—unmoralisch, logisch—unlogisch, real—irreal,
icheigen—ichfremd usw.). Nur bei jenem Grade von psychischer Ak¬
tivität, welcher dem physiologischen Wachzustände entspricht, hält
die Differenzierung der Intentionen den zur Erhaltung eines normalen
Geisteslebens erforderlichen Grad ein. Das Absinken der psychischen
Aktivität führt zu einer Qualitätsnivellierung der Intentionen im Sinne
einer Verminderung der Wirkung ihrer „Vorzeichen“ — und damit
zu all* den Erscheinungen, wie sie dem Traumleben und auch dem
Geistesleben der Schizophrenen eigen sind.
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten
(mit seltenen» mit der Tat in keinem Zusammenhänge stehen¬
den epileptischen Anfällen).
Gutachten der Wiener medizinischen Fakultät vom 14. Juli 1911.
Ref.: Hofrat Prot Dr. Heinrich Obcratetner (Wien) und
Prot Dr. Erwin Stransky (Wien).
Aktenergebnis: Am 14. 8. 1910 vormittags wurde von einem
Arbeiter in einem Gebüsch in der sogenannten Binderau im Wiener Prater¬
viertel, Ecke Engerthstraße und Dürnkrutplatz, in der Nahe des dort
befindlichen Sportplatzes, die Leiche einer jungen Frauensperson gefunden,
die alsbald als die des 20jährigen, der geheimen Prostitution ergebenen
Dienstmädchens Josefine P. agnosziert wurde. Die Art, wie die Leiche
zugerichtet war, mußte sogleich den Verdacht aufsteigen lassen, daß hier
ein Lustmord vorlag. Es wurde sogleich die polizeiliche und sohin die
gerichtliche Beschau vorgenommen. Über das Resultat der letzteren
sei nachstehend berichtet: Die Leiche, auf dem Rücken liegend, war
bedeckt mit einem Haufen Kleider; Schultern und Schenkel lagen nackt;
der blutbefleckte Oberrock ringförmig um Brust und Rumpf geschlungen;
das Gesicht war stellenweise mit Blut bedeckt; in der Nähe des linken
Auges eine seichte, scharfrandige Hautwunde; der untere Teil der Nase
vom Gesicht durch eine Kontinuitätstrennung abgehoben; seitwärts von
der Leiche in einem Büschel Kräuter verfilzte Massen von Haaren, vom
Kolorit jener der Leiche; der Unterrock der Leiche, gleichfalls blutbefleckt,
zerschnitten, ein Schnitt zieht vorn der Länge nach von unten nach oben;
auch ein Teil der Bluse fehlt, der Rest zeigt gleichfalls eine kurze Zu¬
sammenhangstrennung; auf der Leiche zusammengeknüllt ein Hemd,
blutdurchtränkt, im unteren Teil feuchte, gelbe Flecken zeigend, innerhalb
deren verwaschene Blutflecken; außerdem anscheinend Kotspuren; auch
das Hemd zeigt verschiedene Zusammenhangstrennungen, darunter
eine große, longitudinale; nach dessen Entfernung fand sich an der Leiche
selbst eine tiefe, klaffende Wunde, schräg über die rechte Halsseite hin¬
ziehend; ferner an der Vorderseite der rechten Schulter drei senkrechte,
seichte Hautwunden; beide Mammae in doppelbogenförmigen Linien
vom Rumpfe fast abpräpariert; der so gebildete Lappen wieder von
drei scharfrandigen Kontinuitätstrennungen durchsetzt; am Bauche unter
der Unterbrust zahlreiche oberflächliche, sich vielfach kreuzende Haut-
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Obersteiner and Stransky,
Verletzungen; eine derselben aber geht oben bis in die Bauchhöhle tiefer
hinein und zieht senkrecht vom Oberbauch bis handbreit unter den Nabel;
unterhalb dieser eine neue, tiefe Wunde oben bis in die Bauchhöhle, unten
in die rechte Schamlippe hineinziehend; weitere lange Wunden am Peri¬
neum, um den After, an der rechten Gesäßbacke und den Oberschenkeln;
Blutaustritt ausschließlich an der Halswunde sowie an zwei Hautwunden
am Rücken. Dies der Leichenbefund. In dem Kassahäuschen des Sport¬
platzes schräg gegenüber der Fundstelle fanden sich Blutspuren am Fu߬
boden und an der Tür; einige solche auch an der Außenseite des Häuschens;
nächst diesen eine große Blutlache; in und vor der Hütte verstreut wurden
mehrere Haarnadeln und Kleiderfetzen gefunden.
Die gerichtsärztliche Obduktion der Leiche lieferte dann noch eine
viel genauere Ergänzung und Beschreibung der zahlreichen Verletzungen,
welche die Leiche aufwies, und erbrachte den Nachweis, daß auch innere
Organe (Herz, Niere, Lunge) verletzt waren. Das Gutachten der Gerichts¬
ärzte gipfelt in nachfolgenden Schlüssen; Der Tod der P. sei an Ver¬
blutung erfolgt; von den zahlreichen Wunden sind der übrigens offenbar
nicht in einem Zuge geführte tiefe Schnitt am Halse, der die Carotis com¬
munis und die Jugularis der rechten Seite eröffnet hatte, sowie eine an
der Brust Vorgefundene Stichwunde, die sich im weiteren Verfolge als
eine das Herz durchbohrende erwies, als unbedingt tödlich zu bezeichnen;
die Verblutung ist aus verschiedenen Wunden erfolgt, hauptsächlich aus
fünf, größtenteils nach außen; die Form der Wunden läßt auf ein scharfes,
messerartiges Werkzeug, etwa von der Beschaffenheit eines kräftigen
Taschenmessers, schließen; die Stiche müssen mit beträchtlicher Gewalt
geführt worden sein; weiter wiesen eine Reihe von blauen Flecken und Suf-
fusionen an der Vorderseite des Halses und ein Bruch des Zungenbeines
sowie Suffusionen und Blutaustritte im Gesicht auf einen Würgeakt hin,
ob noch bei Lebzeiten oder vielleicht etwa durch Einschnürung des Blusen¬
kragens bedingt und in welchem Zeitpunkt überhaupt erfolgt, war nicht
zu entscheiden; der Reihenfolge der Verletzungen nach dürften dem Be¬
funde gemäß zuerst Stichwunden am Rücken, dann solche an der Brust,
endlich der Schnitt am Halse erfolgt sein; eine große Anzahl von Wunden,
postmortal erzeugt (völliger Mangel einer Blutung), darunter der große,
die beiden Mammae abpräparierende Schnitt, jener, der die Bauchhöhle
eröffnet hat, jene im Genital- und im Beckengürtelbereiche überhaupt.
Zeichen eines Kampfes waren an der Leiche nicht zu finden. Endlich fand
sich in den Wäschestücken der Leiche bei mikroskopischer und spektro¬
skopischer Untersuchung Blut, biologisch als Menschenblut nachweisbar.
Samenfäden im Scheidenschleim der Leiche nachzuweisen gelang nicht.
Der Befünd ließ es so gut wie zweifellos erscheinen, daß es sich
um einen Mord, und zwar offenbar um einen Lustmord gehandelt haben
mußte; als Tatort kam das erwähnte Kassahäuschen oder dessen nächste
Umgebung nicht zuletzt auch darum in Betracht, weil sich dort, abgesehen
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Lnstmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
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von einigen weiblichen Bekleidungsgegenständen, einige auf die Anwesenheit
eines Täters hinweisende Sachen, als da sind: ein Bleistift, ein Zollstab
und eine Postkarte mit aufgedruckter Anschrift einerVersicherungsgesell-
schaft, fanden. Der Mörder mußte sein Opfer dann vom Tatorte zu dem
Gebüsch getragen und die Leiche dort verborgen haben.
Die behördlichen Erhebungen führten gleich vom Anbeginn auf eine
bestimmte Spur: ein in der Werkstätte der Donauregulierungskommission
beschäftigter und im XX. Bezirk wohnhafter Zimmermann stand nämlich
unter den Leuten dort im Gerüche, schon einmal in seiner Heimat, in
Deutschland, einen Lustmord begangen und sich eine Zeitlang darum in
Gewahrsam befunden zu haben; gemeint ist der am 22. 1. 1878 zu T. in
Bayern geborene und dahin zuständige Christian V., Zimmermann, evan¬
gelisch, verheiratet, eben der Inkulpat, ein Individuum mit einer recht
bewegten und ominösen Vergangenheit, deren Schauplatz, wie wir noch
sehen werden, schon früher einmal vorübergehend Wien gewesen ist. Er
ward denn auch am nächsten Tage zeitlich morgens in seiner Wohnung
festgenommen und zum Amte gestellt, und da Helen sogleich Blutflecken
an seiner Unterkleidung, an seiner Hose (die gerichtsärztliche Unter¬
suchung konstatierte, daß es sich um Menschenblut handelte) sowie frische
Kratzwunden an seiner rechten Hand auf. V. verlegte sich beim Polizei¬
verhör anfangs aufs Leugnen. Er wollte die Nacht vom 13. 8., einem
Samstag, bis zum nächsten Tage, allein und in Gesellschaft, in verschiede¬
nen Gastlokalen teils im XX. Bezirk und im Prater, teils im Stadtteile
Erdberg verbracht haben, gegen Morgen unter einem Baume nahe der
Schlachthausbrücke ein wenig geschlafen und gegen 5 Uhr früh durch die
Krieau und das Praterviertel, wo er sich kleine Kommissionen besorgt
habe, in seine Wohnung gegangen sein, um da nochmals mehrere Stunden
zu ruhen. Den Sonntagnachmittag habe er dann mit einer früheren
Konkubine namens B. verbracht. Von einem Bleistift oder einem Zollstab
wollte er nichts wissen. Sein Messer wollte er Samstag an seinem Arbeits¬
orte zurückgelassen haben. Einem Verbrechen erklärte er fernzustehen.
Nachdem ihm jedoch die verschiedenen Belastungsraomente vor¬
gehalten worden waren, die sich aus der Beziehung am Tatorte gefundener
Gegenstände zum Inkulpaten (Angabe eines Arbeitskollegen), aus an-
thropometrischen Befunden und dem positiven Ausfall der Polizeihund¬
reaktion zusammengesetzten, schritt Inkulpat am 17. 8. spät abends zu
einem Geständnis der Tat: er erzählte, daß er in der Nacht zum 14. 8.
auf dem Heimwege von Erdberg nahe der Schlachthausbrücke im
Prater von einer Frauensperson angesprochen worden sei; er habe sie los¬
werden wollen, doch sie sei nicht wegzubringen gewesen; dadurch sei in
ihm ein Abscheu vor ihr erwacht, zumal er gar kein geschlechtliches Be¬
dürfnis empfand; auf dem Sportplatz angelangt, habe er sich niederlegen
wollen, sie habe sich aber auch sogleich zu ihm gelegt; nun habe er fort-
gehen wollen, aber sie habe ihn nicht gelassen, ihn gewaltsam zurück?
Zeitschrift fUr Psjrchistrie. LXXV. 2 . 13
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Obersteiner und Stransky,
halten versucht; bei dieser Gelegenheit fühlte er in ihrer Rocktasche
einen harten Gegenstand, den das Mädchen, als er darnach fragte, als
eine Schere bezeichnete; als er ihn aber hervorzog, da war es ein offenes
Küchenmesser; angesichts dieser Waffe, erklärte nun V., „stellte ich mir
dieses Weib noch grausamer vor, als ich derlei Weiber sonst einschätzte.
Ich sah in ihr nicht nur allein die möglicherweise geschlechtskranke Frau,
die den Mann durch ihre Schmeicheleien materiell und physisch zugrunde
richten kann; ich sah in ihr auch das sogenannte Apachenweib“; in dem
Sinne habe er sich denn auch zu ihr geäußert und ihr auch gesagt, er
ersteche sie mit dem Messer; sie habe kein Wort gesprochen, sei ihm viel¬
mehr um den Hals gefallen, habe wie eine Dirne „ach geh“ gesprochen;
da seien seine Wut und sein Abscheu in ihm so mächtig angestiegen, daß
er, das Messer in der Rechten, es ihr von hinten in den Rücken gestoßen
habe; lautlos sei sie umgefallen, mit dem Körper in die Hütte hinein;
er habe sie aber herausgeworfen und ihr noch weitere Stiche versetzt;
der ganze Vorgang spielte sich blitzartig ab; eine halbe Stunde sei er noch
bei seinem Werke gestanden, ohne Reue zu empfinden, im Gegenteil,
mit dem äußersten Haß gegen das Scheusal; seine Wut sei bis zum Par-
oxysmus gestiegen gewesen, und in dem Zustande möge er wohl zuge¬
stoßen haben; er habe die Daliegende betrachtet und sich gedacht*, ob sie
denn auch wirklich tot sei, andernfalls hätte er ihr, wenn sie sich noch geregt
hätte, noch einen Stich versetzt, damit sie keinen Mann mehr beleidigen
könne; endlich habe er die Leiche wegtransportiert, eben in die Binderau;
dann habe er noch auf dem Tatorte die Fetzen aufgelesen und aufs Gerate¬
wohl weggeworfen; das Messer habe er eine Weile betrachtet, dann mit
sich genommen und im Fortgehen beim städtischen Bade weggeworfen;
Blutspuren oder Verletzungen habe er an sich nicht wahrgenommen;
er sei dann allmählich und gemächlich heimgegangen, habe sich da erst
gewaschen; er habe seine Tat im Vollbewußtsein derselben begangen,
aus unwiderstehlichem Haß gegen diese Sorte Weiber und ganz speziell
gegen die Ermordete; „denn das war gerade das richtige, das mit seiner
Katzenschmeichelei meinen Haß bis zum Paroxysmus gesteigert hat“.
Dem Wiener Landesgericht eingeliefert, hielt V. bei den dortigen
Verhören (ab 18. 8.) sein polizeiliches Geständnis aufrecht, lieferte nebstdem
noch eine Reihe Angaben zu seiner Anamnese und seinem Curriculum vitae,
von denen ohnehin später die Rede sein wird; von Einzelheiten, die für die
Tatgeschichte als solche in Betracht kommen, interessieren hier folgende;
V. gab an, er sei am 13. 8. bis 6 Uhr abends seiner Arbeit nachgegangen,
habe unterwegs nur 1—2 Flaschen Bier zu sich genommen; gegen %$ Uhr
abends habe er, nach Besorgung verschiedener Kommissionen, in einem
Gasthause gegenüber der Nordbahn ein Gulyas und ein Krügel Bier ge¬
nommen, sei dann zur Organisation seine Beiträge zahlen gegangen; gegen
10 Uhr habe er in einer Restauration auf der Wallensteinstraße 2 Krügel
Bier getrunken, worauf er in den Prater gegangen sei, wo er einen früheren
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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
173
Bekannten und zwei andere Männer traf, in deren Begleitung er nach
Erdberg hinüberging, wo in mehreren Gasthäusern mehrere Krügel Bier
getrunken wurden, in einem Kaffeehause auch schwarzer KaiTee. Gegen
3 Uhr morgens etwa habe er sich auf der Schlachthausbrücke von seinen
Begleitern getrennt und habe durch den Prater heimgehen wollen; unter¬
wegs habe ihn die P. angesprochen. V. schilderte dann, wie er das Mädchen
abgewiesen habe und, da sie nicht von ihm wich, aus Angst, sie habe
vielleicht einen Beschützer in der Nähe, aber auch, da er ob seiner Tripper¬
erkrankung (tatsächlich war V. wegen Gonorrhöe in Behandlung) geradezu
einen Abscheu gegen Prostituierte hege, förmlich geflüchtet sei, doch sei
das Mädchen nicht zu verscheuchen gewesen, wiewohl er ihr sogar ins
Gesicht spuckte. V. schilderte dann konform wie bei der Polizei die weiteren
Hergänge; das Zustandekommen der eigentümlichen Zusammenhangs¬
trennungen an den Kleidern wollte er nicht erklären können; er versicherte,
bei der Tat keinerlei sexuelle Erregung empfunden zu haben. Die Tat
selber hatte natürlich keine Zeugen. Passanten wollen gegen 3 Uhr früh
aus der Richtung des Sportplatzes laute Sch merze nsschreie gehört haben.
Bemerkt sei, daß V., wie festgestellt wurde, am 13. abends bis 8 Uhr in
Gesellschaft eines Mädchens und tatsächlich dann bei seiner Organisation
gewesen ist, von wo er sich gegen 10 Uhr entfernte; am Morgen um 9 Uhr,
also nach der Tat, kam er, etwas erhitzt und übernächtig aussehend, sonst
aber nicht auffällig, in die Putzerei der Frau Sch. im Praterviertel und
holte sich von dort seine Wäsche ab.
Ehe an die eigentliche Vorgeschichte des Inkulpaten herangegangen
wird, mögen hier noch die Angaben einer Reihe hiesiger Zeugen Erwähnung
finden, die sich auf Wahrnehmungen aus letzter Zeit beziehen. Ein Arbeits¬
genosse, des V., Josef G., nennt ihn einen eigentümlichen Menschen, der
ein „Gspräg“ zu haben scheine, z. B. habe er gerade am kritischen Samstag
einen Kollegen, als dieser den Arbeitsplatz dienstlich verlassen mußte, ange-
schrien; ähnliches sei öfters bei ihm vorgekommen; sonst sei er gutmütig,
gelegentlich sogar lustig gewesen. Ein anderer Kollege, Felix Sch., hat
nur das eine Auffällige bemerkt, daß V. sich in letzter Zeit von der Arbeit
wiederholt auf den Sportplatz zu begeben pflegte; er war im allgemeinen
ein guter Kamerad; einmal, im Mai 1910, hat er den Zeugen bei der Arbeit
angeblich grundlos überfallen und blutig geschlagen, eine Affäre, die ein
gerichtliches Nachspiel gehabt hät, wobei sich freilich herausstellte, daß
Sch., dem V. damals dienstlich unterstellt, von ihm wegen Trunkenheit
zur Rede gestellt worden und erst insultiert worden ist, nachdem er selber
eine drohende Haltung gegen ihn angenommen hatte. Die beiden haben
sich denn auch ausgesöhnt, und V. ward freigesprochen. Wieder ein anderer
Kollege, Scha..., nennt V. sehr intelligent, nur zuweilen grundlos heftig.
Ein weiterer Kollege, K., derselbe, .den V. einmal grob angefahren hat,
erzählt folgende Geschichte: V. habe im Juli einmal davon gesprochen,
er habe einem Mädchen begegnet, das die Röcke aufgetrennt hatte, sie
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Obersfeiner nnd Stransky,
habe ihn um Nadeln gebeten und er (V.) habe ihr die Röcke mit Zimmer¬
mannsnägeln zusammengenäht; sie seien dann miteinander in eine Aü
gegangen, doch habe er das Weib nicht geschlechtlich gebraucht, da sie
ihm zu alt war. Dieser Geschichte hat damals auch der Wächter R. zu¬
gehört. V. hat beim Verhör dazu gemeint, das sei eine Renommisterei
seinerseits, aber auch seitens der Zeugen. Der Platzmeister S. vom Sport¬
plätze kennt den V. als einen freundlichen, gefälligen Menschen. Gänzlich
anders aber lautet dagegen die Aussage eines gewissen Ke..., bei dem V.
im Winter 1910 über 6 Wochen gewohnt hat. Darnach war dieser der Frau
Ke... gegenüber sehr roh inseinen Reden (V. bestreitet dies entschieden),
auch pflegte er viel mit einem großen Schnappmesser zu hantieren. Daß V.
ein Messer besaß, ist auch unter seinen Kollegen bekannt.
V. war speziell im Kreise seiner Kameraden als Mädchenjäger be¬
kannt; man wußte, daß er mehrere Verhältnisse unterhielt, da und dort
wollte einer, 1. B. K.., gehört haben, daß er Mädchen an sich zu locken
versucht hätte. Einige Aussagen, die von Frauenspersonen direkt herrühren,
beanspruchen ein besonderes Interesse: Die Köchin Philomena L. hat
den Inkulpaten schon bei dessen später noch zu erörterndem ersten Wiener
Aufenthalt (im Mai 1906) kennen gelernt, und es hat sich zwischen ihnen
damals ein später intim werdendes Verhältnis entwickelt, in dessen Ver¬
folg V. andeutungsweise Heiratsabsichten äußerte. V. hat sich der Zeugin
gegenüber damals immer anständig und freundlich betragen und insbeson¬
dere im Geschlechtsverkehr mit ihr keine Anomalien gezeigt; die Beziehun¬
gen zwischen beiden erfuhren durch V.s damalige Anstaltseinbringung —
hierüber später das Nähere — eine jähe Unterbrechung; in späterer Zeit
jedoch erhielt die Zeugin von V. Zuschriften aus Nürnberg (V. war nämlich,
wie wir sehen werden, damals wieder im Besitze seiner Freiheit); es ent¬
wickelte sich dann zwischen beiden eine Korrespondenz, die bis Weih¬
nachten 1909 dauerte; die Briefe, die V. an die Zeugin richtete, tragen
zum Teil den Stempel sentimentaler Liebesepistel; er erzählt darin weiter
auch in Umrissen von seinen Schicksalen, den weiten Reisen bis in den
Orient, die er gemacht habe (es findet sich darin eine zeitliche Unstimmig¬
keit, da V. behauptet, im August 1906 schon wieder in Freiheit gewesen
zu sein, was falsch ist), und von denen er 1909 wieder in seine Heimat
zurückgekehrt sei, ohne je die Zeugin haben vergessen zu können, zu der er
gern wieder käme, wenn sie es nur wolle; mit diesen glühenden Liebes-
beteuerungen steht nun freilich sein weiteres Verhalten gegen die Zeugin,
wie wir gleich sehen werden, schlecht im Einklang; V. ist nach dem Be¬
richte derselben um Weihnachten 1909 in Wien wieder auf getaucht, hat sie
auf der Straße erwartet und ihr erklärt, er sei ihr zuliebe hergekommen,
worauf das frühere Verhältnis fortgesetzt wurde; doch fiel der Zeugin
seither auf, daß V. kälter gegen sie war als im Jahre 1906, nicht mehr
derselbe wie damals, was sie ihn auch wissen ließ, ohne daß er ihr wider¬
sprach, im Gegenteil meinte er, „das glaube ich“; in der Folge erwischte
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
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ihn die L. wiederholt mit andern Mädchen auf der Straße, so daß sie das
V erhältnis abzubrechen beschloß. V. wußte sich aber immer wieder bei ihr
Liebkind zu machen; noch am 12. 8 1910 ward zwischen beiden ein Stell¬
dichein für den folgenden, also den kritischen. Tag verabredet, doch blieb
die Zeugin aus; der letzte Geschlechtsverkehr zwischen beiden hat am
31. 7. 1910 stattgefunden; Anomalien hat Zeugin an V. auch im vorigen
Jahre keine bemerkt. Die Handarbeiterin Wilhelmine Sch. kennt den V.
daher, weil er sie um Weihnachten 1909 einmal angesprochen hat, er hat
mit ihr mehrmals sexuell verkehrt und sie dafür auch entlohnt; abnorm
hat er sich nicht benommen, war auch nicht sonderlich erregt. Die Köchin
Emilie K. ist von einem Manne, in dem sie bestimmt den K. erkennt,
am Morgen des 14. 8. 1910, also des Tages nach der Tat, um etwa Uhr
(wie wir aber wissen, ist V. um 9 Uhr in dem Wäscheladen der Frau Sch.
gewesen) im Prater angesprochen worden; er setzte sich, nachdem er sie
um Erlaubnis gefragt hatte, zu ihr auf die Bank, stellte sich als V. vor,
suchte die Zeugin in ein Gespräch zu ziehen, begleitete sie dann, als sie
Weggehen wollte, ein Stück weit, wollte, als sie ein weiteres Zusammen¬
gehen ablehnte, ein Stelldichein mit ihr verabreden, doch ging die K.
darauf nicht ein; sie hat übrigens an V.s einer Hand einen freilich nicht
frischen Kratzeffekt bemerkt. V. erklärte die Angaben der Zeugin, unter
Hinweis auf sein allerdings festgestelltes Alibi, für unmöglich.
Von besonderem Interesse könnten die Angaben einer Prostituierten
namens Rosa K. sein (sie hatte diese schon lange vor dem Morde zu der
Sch. und einer andern Prostituierten gemacht). Diese Zeugin agnosziert
den V. mit Bestimmtheit als einen Mann, der sie am 30. 4. (früher hatte
sie angegeben, am 7. 5., korrigierte sich aber später, wollte sich geirrt
haben) in einem Gasthause im Praterviertel angesprochen und unter Zu¬
sicherung einer Entlohnung von 20 Kronen aufgefordert habe, ihm in
seine Wohnung zu folgen; unterwegs schwenkte V. gegen die Holzplätze
zu ab, Zeugin widerstrebte dem, da packte sie V. am Arm und zog sie ge¬
waltsam durch eine Tür, die er dann wieder absperrte, auf den Arbeits¬
platz, in eine Werkzeughütte hinein, wo eine Art Lagerstatt vorbereitet
war; dann riß er der Zeugin die Kleider vom Leibe, würgte sie am Halse;
sie erwehrte sich, worauf er ihr in den Finger biß und ausrief: „Du ver¬
fluchte Katze, du hast mich ja ganz zerkratzt“; dreimal vollzog dann V.
den Beischlaf, wobei er einmal sagte: „Ich muß dich ermorden, wenn du
schreist.“ Nach dem Beischlaf beruhigte sich dann V., half der Zeugin
beim Einpacken ihrer zerrissenen Kleider, wusch sich selbst, benahm sich
ganz normal, begleitete die Zeugin ein Stück, versprach, wiederzukommen,
drohte ihr jedoch, falls sie um Hilfe rufe, mit dem Erstechen; dann ent¬
fernte er sich; gezahlt habe er der Zeugin nichts; ein Messer habe sie bei
ihm nicht gesehen. Diese Schilderung, die Zeugin am 29. 8. beim Gerichts¬
verhör gegeben hat, entspricht nun nicht in allen Details jener, die bei der
Polizei auf Grund ihrer Angaben 8 Tage früher protokolliert wurde, sofern
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Obersteiner und Stransky,
sie von V. während des Beischlafes gewürgt worden sei; auch vom Kleider¬
zerreißen ist dort nicht die Rede. Es hat sich nun herausgestellt,' daß die K.
eine psychisch nicht normale Person ist, deren Aussagen gegenüber Vor¬
sicht geboten scheint. Einer der gerichtsärztlichen Sachverständigen, die
den V. später zu untersuchen hatten, Priv.-Doz. Dr. Elzholz, hat sich in
dankenswerter Weise der Mühe unterzogen, mit der K., deren Aussagen
unter Umständen von größter Bedeutung waren, am 17. 12. 1910 eine
persönliche Information aufzunehmen; dabei machte nun die Zeugin zu¬
nächst den Eindruck einer Potatrix, bot Zittern der Finger und der Zunge,
ihre Aussagen klangen sehr unpräzis, sie konnte z. B. nicht angeben, warum
und in welchem Zeitpunkte ihr V. die Kleider vom Leibe gerissen hat,
wie oft er den Beischlaf vollzog (trotz Vorhalt ihrer bestimmteren Angaben
vor Gericht), sie sei von dem vielen Gebrauchtwerden ad genitalia ganz
blutig gewesen, Samenerguß, deutete sie an, habe sie also überhaupt nicht
verspürt; Herr Dr. Elzholz hatte den Eindruck, daß die Zeugin völlig un¬
zuverlässig sei, so daß sich die Möglichkeit zum mindesten nicht ganz
ausschließen ließ, als käme sie mit einer frei erfundenen Erzählung. V. selbst
will von der ganzen Sache nicht das Mindeste wissen. Im übrigen bekannte
er sich dazu, daß er auch in Wien mit mehreren Frauenspersonen Umgang
gehabt hat, mit der L., deren Aussagen er als richtig anerkennt, der Sch.,
auch mit Prostituierten; bei einer der letzteren infizierte ersieh im Frühjahr
1910 mit Tripper.
Bemerkt sei, daß V. ursprünglich, als er vor dem Richter sein Curricu¬
lum vitae erzählte, über seine gleich zu erörternden früheren Sexualdelikte
sich ausschwieg, sich ausdrücklich als geschlechtlich normal bezeichnete,
ja leugnete, je eine ähnliche Affäre wie jetzt gehabt zu haben; erst auf
Vorhalt der Strafkarte bequemte er sich, sich zu diesem Teile seiner Ver¬
gangenheit zu bekennen; er habe nicht gedacht, daß es darauf ankomme,
zumal ja doch die Strafliste kommen werde, entschuldigte er sich.
V. hat eine äußerst bewegte Vergangenheit hinter sich. Er blickt
ab 1891 auf eine ganze Reihe von Vorstrafen zurück, 6mal wegen Bettelei,
lmal wegen Landstreicherei, lmal wegen Ruhestörung, dann 1894 wegen
Betruges (6 Monate Gefängnis), ein andermal wegen Körperverletzung —
1897 — (9 Monate Gefängnis), ein andermal — 1899 — wegen des näm¬
lichen Deliktes und wegen Sachbeschädigung (1 Jahr Gefängnis); alles bei
den verschiedensten Gerichten in Deutschland; überdies wird er von zwei
reichsdeutschen Gerichten (Lindau und Nürnberg) wegen Sachbeschädi¬
gung bzw. Unterschlagung gesucht. Eine Leumundsnote der Münchner
Polizei nennt ihn einen rohen und unverträglichen Menschen. Von den
Strafvorakten im engeren Sinne — wir werden gleich Gelegenheit haben,
ein anderes, für unsere Zwecke w r eit schwerer ins Gewicht fallendes Vor¬
aktenmaterial kennen zu lernen — liegen zwei vor. Aus dem einen —
Landgericht München — ergibt sich, daß V. im Jahre 1897 in einer
Münchner Herberge mit einigen andern.Zimmerleuten, die dort wohnten.
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
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in eine angeblich von diesen provozierte Keilerei geraten ist, in deren Verlauf
er einen seiner Gegner mit dem Messer verletzte. V. hat damals behauptet,
in Notwehr gehandelt zu haben und von seinem Gegner vorher angegriffen
worden zu sein, doch ward erwiesen (wenigstens laut Urteilsbegründung),
daß die Streitigkeiten erst dadurch akut wurden, daß sich V., der mit
seinen Kameraden beim Biere saß, den Scherz machte, eine zufällig herein-
kommende Frauensperson, die kranke Arme hatte, durch Schläge auf die
Arme zu quälen; undals sich nachher darüber seine Kollegen abfällig äußer¬
ten, ging V. gleich auf einen derselben los; V. hat damals 9 Monate Gefängnis
erhalten. Im Jahre 1899 hatte V. eine Affäre beim Amtsgerichte Wildun¬
gen wegen nächtlichen Exzedierens und Mißhandlung eines Nachtwächters,
der ihn und seine Radaugenossen zur Ruhe gewiesen hatte; trunken in
Stärkerem Maße war er damals nicht; Strafe: 1 Jahr Gefängnis. Hier
interessiert besonders eine Aussage seines damaligen Dienstherrn, des
Zimmermeisters M. in Wildungen, laut welcher V. einmal den Versuch
gemacht hätte, dessen Frau zu notzüchtigen.
V.s Vater soll ein Trinker gewesen sein, ein Bruder ist Epileptiker,
ein Schwestersohn der Mutter war geisteskrank. Die Mutter V.s (die von
dem Arzte seines Heimatsortes, Dr. A., freilich als nicht normal bezeichnet
wird) hat über ihn selbst bei einer Einvernahme im Jahre 1902 angegeben,
er sei ein ordentlicher Bursche und früher normal gewesen, habe auch früher
nie epileptische Anfälle gehabt; im Alter von 20 Jahren sei er einmal in
seinem Heimatort bei einer Streiterei durch einen Steinwurf an der Stirn
verletzt worden, wonach er tagelang Krämpfe gehabt und vor Schmerzen
geradezu gebrüllt habe. V. will übrigens schon früher, in Landau, wo er
auf der Wanderschaft arbeitete, einmal vom 4. Stock herabgestürzt sein;
dazu kommen Stürze in Erfurt und Sonneberg, doch sind die Zeitdatierun¬
gen schwankend. Nach jenem Steinwurf in T. soll er nach Angabe seiner
Mutter im Geiste nicht mehr so wie früher gewesen sein; schon gleich nach
demselben fiel der Zeugin auf, daß er sie so starr ansah und im Zimmer
umhersprang; erst nach % Stunden schien er wieder normal; auch sonst
kam es in der Folge vor, daß er der Zeugin auf Fragen die Antwort schuldig
blieb, etwa, wenn sie ihm das Essen vorsetzte, fragte, was sie von ihm
wolle. Derlei habe sich fast allwöchentlich einmal wiederholt. Vierzehn
Tage nach dem Steinwurf sei er einmal in der Nacht ausgerissen, nach
% Stunde heimgekommen, wußte nicht, was er getan. Zeugin schilderte
den Inkulpaten als einen starken Trinker. Der ehemalige Volksschullehrer
des V. weiß zu erzählen, daß Inkulpat schon als Schuljunge renitent und
zu schlechten Streichen geneigt war, roh, rücksichtslos, allerdings ließ seine
Erziehung zu wünschen übrig. Auch sein ehemaliger Lehrmeister erzählt
von seiner Roheit und Renitenz, nennt ihn verlogen, ungleichmäßig im
Arbeiten, wenngleich intelligent und anstellig; er besuchte gern Wirts¬
häuser und gab sich viel mit Weibern ab.
Von besonderem Belang ist der Bericht des bereits erwähnten Arztes
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Obersteiner und Stransky,
Dr. A. über den Krampfanfall, den V., und zwar in der Nacht vom 4. zum
5. September 1898 (nach der oben erwähnten Kopfverletzung), gehabt haben
soll. Dr. A. erwähnt, daß V. zur Zeit, da er das Trauma erlitt, angetrunken
gewesen sei. Er erklärt dann, er habe an V. einen Anfall von Epilepsie
beobachtet; allerdings liefert er leider keine sonst irgendwie oder auch nur
zeitlich bestimmtere Beschreibung desselben; Simulation aber, meint er,
sei ausgeschlossen gewesen, da jede Schmerzempfindung und Pupillar-
reaktion nachgewiesenermaßen aufgehoben war; am folgenden Tage sei V.
noch benommen gewesen, ob infolge der Anfälle oder von Trunkenheit,
konnte Dr. A. nicht feststellen. Die angebliche Epilepsie des Inkulpaten
sollte nicht lange darnach eine große Rolle spielen. V. wurde nämlich im
Jahre 1898 zum Militär assentiert und rückie nach Wiesbaden ein; allein
am 2. 10. erleidet er — wie einem mitgeteilten Gutachtenauszuge des
Stabsarztes Dr. ff. zu entnehmen ist — auf der Straße einen sechsstündigen
Anfall von Bewußtlosigkeit, angeblich dabei auch Krämpfe, und am 18.10.
abends fiel er in der Kaserne, in Gegenwart zweier Chargen, ohne Ver¬
anlassung zu Boden, mit dem Kopf gegen einen Schrank, dabei Schaum
vor dem Munde, Krämpfe der Finger, schlug um sich, Atmung beschleunigt,
Bewußtsein geschwunden, darnach tiefer Schlaf bis zum nächsten Morgen,
erwacht mit Kopfweh, keine Verletzung, Amnesie. Kurz darauf ward
Inkulpat wegen festgestellter Epilepsie aus dem Militärverbande ent¬
lassen und in seine Heimat geschickt. < Dort soll er im Bekanntenkreise
renommiert haben, man brauche es nur geschickt anzustellen, um vom
Militär loszukommen. Wir werden bald hören, welche Bewandtnis es mit
dieser Behauptung V.s hat.
V. ist damals nicht lange in T. geblieben; er hatte in T., wo er zuletzt
gearbeitet hatte (sein Heimatort liegt in einem bayrisch-thüringischen
Grenzbezirke), ein Verhältnis mit einem Mädchen angeknüpft, das er
später (1901) heiratete, und mit der er zwei Kinder erzeugt hat; er wandte
sich also wieder nach S. (in Thüringen), wo er die folgenden Jahre ver¬
brachte. Im Jahre 1902 sollte er wegen einer Ehrenbeleidigungssache
daselbst begutachtet werden (Dr. IC.), benahm sich aber derart roh, daß
er aus dem Spital entlassen ward; Dr. K. hielt aber (Gründe?) einen post¬
epileptischen Dämmerzustand nicht für ausgeschlossen. Das Jahr 1902
bedeutet überhaupt einen entscheidenden Wendepunkt: Schon im Januar
jenes Jahres war Inkulpat in Verdacht geraten, mit einem Manne identisch
zu sein, der eines Abends ein Dienstmädchen namens G. überfallen und,
als sie sich zur Wehre setzte, in die Wange gebissen hatte und sie dann ins
Wasser werfen wollte. Am 2. 3. jenes Jahres nun ward V. bestimmt als
der Täter in einem ganz analogen Falle agnosziert; am Abend dieses Tages
war nämlich wieder ein Dienstmädchen namens Schi... von einem Manne
auf der Straße überfallen, zu Boden geworfen und dann gewürgt worden.
Dabei sprach derselbe keinWort. Als die Überfallene um Hilfe rief, ward
sie unter fortwährendem Würgen und Schlagen von dem Manne gegen
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
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einen Wald zu gezerrt, dann rief er ihr noch die Worte zu: „Du mußt noch
bis in den Waid, dann mache ich es dir schön, und wenn du jetzt nicht
ruhig bist, mache ich dich kalt.“ Dann entfernte er sich, da Passanten
nahten, rief diesen aber noch zu, die Sch. habe ihm Geld herauslocken
wollen. Das gegen V. eingeleitete Strafverfahren ward nun aber einge¬
stellt. V. soll die Nacht nach der Tat sehr unruhig geschlafen, am Tage
darnach sich im Walde umhergetrieben, erst am 4. 3. wieder zu seiner Frau
nach Hause gekommen sein und von nichts gewußt haben. Seine Frau
gab ferner an, er habe in den letzten Jahren epileptische Anfälle mit Amnesie
öfters gehabt (keine genauere Beschreibung), auch Anfälle, in denen er
bloß starr blickte und den Kopf hintenüber legte; in solchen Zeiten sei
er gewalttätig, mißhandle die Gattin. Vor dem 2. 3. kein Anfall. Am 4. 3.
ward er im Bette liegend vorgefunden, behauptete, nichts zu sehen, war
vom Nächtigen im Freien ganz steif, rutschte, auf den Bettrand gesetzt,
herab, fiel auf die Seite. Das Fallen sah indessen nicht recht natürlich
aus. Das Gesicht war dabei gerötet; auf Befragen konnte V. sich an die
Zeit bis kurz vor dem Attentate (befand sich da in nächster Nähe des
Tatortes) erinnern, wußte dann nur, daß er die folgende Nacht daheim
war, für die Zeit von 11 Uhr vormittags bis 5 Uhr nachmittags des folgen¬
den Tages amnestisch, war dann, wie er erzählte, bei diversen Ärzten,
für die folgende Zeit wieder erinnerunglos; sei am 4. 3. um 6 Uhr morgens
an der Straße liegend erwacht, ging heim, weckte seine Frau durch Stein¬
würfe ans Fenster. Auf Grund dieser Angaben ward V. mittels Ältestes
des Kreisphysikus (Dr. K.) zur Beobachtung der Landesirrenanstalt in H.
überwiesen. Dort klar, etwas zurückhaltend und nicht ganz konform
in seinen Angaben, behauptet, in der zweiten Nacht nach dem Attentate
Anfälle gehabt zu haben, sonst im ganzen die schon bekannte Darstellung;
u. a. behauptet er, auch seine Frau schon öfters gedrosselt zu haben.
Zungenbißnarben wurden nicht gefunden. Während seines Anstaltsauf¬
enthaltes mehrmals Kopfschmerzen, es wurden die Supraorbitales gelegent-
Uch druckschmerzhaft gefunden, auch vasomotorische Erscheinungen; im
übrigen bot er außer einigen äußerlich provozierten flüchtigen Affekt¬
zuständen keine erwähnenswerten Besonderheiten; unterm 10. 4. 1902
verzeichnet die Krankengeschichte folgenden Vorfall (aus später ersicht¬
lichen Gründen hier wörtlich wiedergegeben): „Pat. ist im Garten. Er
setzt sich zu Boden, dreht sich sitzend im Kreise herum und zupft den
Rasen ab. Nach etwa 5 Minuten steht er wieder auf. Schlagen mit den
Armen usw. nicht beobachtet. Er machte den Eindruck, als ob er etwas
benommen wäre, war aber jedenfalls, als er aufstand, wieder klar. Naoh *
einer Stunde gibt er mit verdrossenem Gesichtsausdruck an, er habe
mäßige Kopfschmerzen.“ Paar Tage später trifft Inkulpat wiederholt
ernste Anstalten zu einem Ausbruch aus der Anstalt (Rechenstiel, Nach¬
schlüssel, Dietrich), wird aber daran gehindert; am 28.4. erinnert er nach
einem neuerlichen Entweichungsversuche den Arzt an den oben beschriebe-
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Obersteiner und Stransky,
nen Anfall und fragt, ob man denn, wenn man wegen Geisteskrankheit
freigesprochen sei, auf Lebenszeit in einer Anstalt interniert bleibe.
Die letzte Bemerkung nahm wohl Bezug auf die bevorstehende
Einstellung des Verfahrens; diese war erst später erfolgt, auf einen Bericht
des Direktors der H.er Anstalt de dato 26. 6. 1902, wonach an V. während
seines bis zum 26. 5. währenden dortigen Aufenthaltes weder ein epilepti¬
scher Anfall noch eine an Epilepsie erinnernde Geistesstörung beobachtet
worden sei; er sei ein rohes, brutales Individuum, leide aber wohl zudem
auf traumatischer Basis (siehe oben) an Alkoholintoleranz und alkohol¬
epileptischen Anfällen mit entsprechenden Bewußtseinsveränderungen,
daher, wenn auch nicht mit Bestimmtheit, so doch als möglich anzunehmen
sei, daß er die ihm damals zur Last gelegte Handlung in einem den An¬
forderungen des § 51 reichsd. Str.-G.-B. entsprechenden Geisteszustände
begangen habe. Bestimmter glaubte dies Dr. P. in B. (Bayern) sagen zu
dürfen.
V. war nämlich inzwischen am 26. 5. 1901 von H. in seine heimats¬
zuständige Kreisirrenanstalt in B. transferiert worden; dort behauptet er,
er könne von epileptischen Anfällen gar nichts sagen, habe solche noch nie
gehabt, nur schwach und schwindlig werde ihm öfters, und im Vorjahre
habe er durch 11 Wochen an Mattigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Gemütsver¬
stimmung, Kopfschmerz und Trübwerden vor den Augen gelitten, arbeite
seither, da an Höhenschwindel laborierend, nicht mehr als Zimmermann;
von einem Notzuchtversuch weiß er nach wie vor nichts. Er benimmt
sich in der Anstalt geordnet, gefügig, hat nie Anfälle; eines Tages erhielt
er von seiner Frau (die sich früher von ihm hatte scheiden lassen wollen)
einen Brief des Inhaltes, sie würde sich erhängen, wenn es nicht bald
anders würde; nicht lange darnach, am 16. 6. 1902, gelingt es ihm, aus der
Anstalt zu entweichen.
Die verhängnisvollen Folgen dieses gelungenen Fluchtversuches,
der übrigens durch die formale Entlassung später sanktioniert wurde,
sollten nicht lange auf sich warten lassen. Am 4. 9. 1902 um 4 Uhr nach¬
mittags wurde zu L. in Thüringen, nicht weit von S., die Nichte des dortigen
Bahnhofsvorstandes, die 17jährige Ella P., die sich um 2 Uhr nachmittags
zum Beerenpflücken in den nahen Wald begeben hatte, daselbst ermordet
aufgefunden; die Umgebung der Fundstelle wies Zeichen eines voraus¬
gegangenen Kampfes auf; das Gewand, mit dem die Leiche bekleidet war,
zeigte an der Rückseite zwei Längsrisse, ebenso das Hemd deren mehrere;
am Halse rechterseits zeigte die Leiche zwei große, tiefe, klaffende, über-
• einanderliegende Wunden, auch den Kehlkopf mitbetreffend; Hymen
unversehrt; Spermatozoen wurden nicht vorgefunden; der Tod war nach
dem Gutachten der Gerichtsärzte durch Verblutung und Erstickung in¬
folge der Wunden am Halse erfolgt.
Dringende Indizien wiesen alsbald auf den V., der damals in L.
arbeitete, als Täter hin: Am Abend vor dem Morde hatte er sich an zwei
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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten nsw.
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Mädchen, die auf dem Heimwege begriffen waren, herangemacht und
die eine davon nötigen wollen, sich geschlechtlich gebrauchen zu lassen,
doch gelang es ihr, von ihm loszukommen; mehrere Zeugen wußten anzu¬
geben, daß V. an den zwei Tagen vor dem Morde sowie am kritischen Tage
selbst in diversen Lokalen Schnaps und Bier getrunken, doch nicht trunken
geschienen habe, wie er überhaupt den Leuten, die da mit ihm zusammen¬
kamen, nicht verändert vorkam; nur am 4. 9., dem kritischen Tage, machte
er einzelnen, die mit ihm zusammenkamen, den Eindruck, als wäre er
übernächtig; auffällig war einigen, daß V. am 3. 9., wiewohl doch ver¬
heiratet, von Heiratsabsichten sprach; ein Mädchen wußte zu erzählen,
daß V., den sie vom Sehen kannte, sich ihr am Tage vor der Tat habe an¬
schließen wollen; kurz bevor der Mord geschah, hat V. einem gewissen P.
in einer Kantine erzählt, er habe während seiner Dienstzeit etwas ver¬
brochen, jedoch Geisteskrankheit zu simulieren verstanden, sei daher frei¬
gesprochen worden, die Leute vom Gericht seien eben noch viel zu dumm;
auch in S. soll er sich in einem Wirtslokal einmal ähnlich geäußert haben
(freilich wird von anderer Seite Prahlsucht als ein auffälliger Zug an V.
hervorgehoben). Etwa um die Zeit, da der Mord sich ereignete, war aber
vor allem von verschiedenen Leuten ein Mann, auf den das Signalement
des V. paßte, in der Nähe des Tatortes bzw. einem jungen Mädchen nach¬
schleichend gesehen worden; um 3 Uhr nachmittags des kritischen Tages
hatte ihn ein Bekannter getroffen, dem er erzählte, er gehe zu einem
Hüttenbau; auf seinem Arbeitsplätze war V. an jenem Tage nicht erschie¬
nen. V. ist am 6. 11. wieder in L. aufgetaucht bzw. von Bekannten ange¬
sprochen worden, man erzählte ihm auch von der schauerlichen Bluttat,
er schwieg aber seinerseits dazu; auffällig schien er da nicht.
V. schien nach alledem dringend verdächtig, der Mörder zu sein,
und es ward denn auch ein Haftbefehl wider ihn erlassen; am 6. 9. ward V.
in St. — nahe bei L. — festgenommen und dem dortigen Amtsgericht
eingeliefert. Er machte zu der Zeit keinen gestörten Eindruck. Seine
Verantwortung hier gipfelte darin, daß er erklärte, nicht zu wissen,
was mit ihm seit dem 1. 9., an welchem Tage er noch gearbeitet und zu
Mittag gegessen habe, geschehen sei; er wisse erst, daß er am Vernehmungs¬
tage — 6. 9. — früh in der St.schen Schneidemühle in L., wo allerdings
Spuren auf gewaltsamen Einbruch eines Eindringlings während jener
Nacht hinwiesen, erwacht sei, er habe da nichts als seine Hosen am Leibe
gehabt; er habe sich dann auf den Weg gemacht, sei nach St. gekommen,
orientierte sich nicht gleich, wo er war. Daß er dort nach Arbeit gefragt
hat, wie ein Zeuge erzählt hat, wollte er nicht wissen, auch nicht, daß er <
dort vollkommen bekleidet gesehen worden wäre; er behauptete, den
ganzen Tag in einem Dusel gewesen zu sein; er habe sich, da reinen Ge¬
wissens, auch ruhig festnehmen lassen; er habe jetzt das Gefühl, als hätte
er längere Zeit geschlafen; er wollte nicht sinnlich erregt gewesen sein,
auch nicht wissen, daß er Mädchen Anträge gemacht hat, die Ermordete
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Obersteiner und Stransky.
gar nicht gekannt haben; Schnaps wollte er vor der kritischen Zeit keinen
getrunken haben, nur Bier; er erklärte von seinen (schon bekannten)
Anfällen nie Vorboten zu merken, höchstens selten ein schlechteres Von¬
stattengehen der Arbeit. Eine Woche nachher, beim Landgericht M. zu
seinen Personalien vernommen, kommt Inkulpat mit unsinnigen Ant¬
worten: Die Geister der Unterwelt, die zu ihm sprächen, hätten ihm gesagt,
seine Frau sei gestorben, er solle zu ihr kommen; man habe ihm keine
Ruhe gelassen; beim Gericht in St habe man das schon gewußt (auf die
Frage, warum er es dort nicht zum besten gegeben habe): das habe er
deutlich gemerkt; vorher hatte V. angegeben, von einem Verhör in St.
überhaupt nichts zu wissen; auf Vorhalt: er wisse es auch nicht, es hätten
halt dort einige gesessen und mit ihm geredet. Von früheren Strafen
wollte er sich nur an jene in M. erinnern, die er im Strafhause zu A. ab¬
gebüßt habe. Wollte dann auch, trotzdem er es vorher angegeben hatte,
nicht sagen können, wo ihn überall seine Wanderschaft hingeführt habe.
Am 20. 9. abermals vernommen, will er entgegen früheren Angaben nicht
wissen, daß er je Geschlechtsverkehr hatte, seiner Gattin müßten Lumpen
beigewohnt haben, „die einem quer treiben“, der Richter müsse das
genau wissen, gehöre auch dazu, „das sind intime Sachen, diejziehen einem
den Magen aus und setzen Geschwüre ein“, erinnert sich, daß er aus B.
entsprungen, wollte aber nicht wissen, warum er in die dortige bzw. H.er
Anstalt gekommen sei. Beim Abgang erklärte er, nicht mehr weiter zum
Verhör zu kommen. Am 25. 9. gegen 2 Uhr nachmittags zertrümmert
er im Arrest ein Fenster und liegt !, Stunde später anscheinend in
Krämpfen, im Gesicht hat er zwei Blutstreifen, unterm Gesäß Nässe
(Urin?), Einrichtung der Zelle zum Teil demoliert; aufgerüttelt, schlägt
V. die Augen auf, setzt aber der Anrede Schweigen entgegen; um 4 Uhr
trifft ihn der Gefängnisinspektor in normalem Zustande; Zuckungen sind
nicht beobachtet worden, auch nicht vom Gefängnisarzt Dr. F., der ihn
10 Minuten nach 4 Uhr in der Zelle visitierte; Inkulpat lag da am Boden,
seine Pupillen waren gleichweit, reagierten prompt. Am 30. 9. zerschlägt
V. wieder eine Fensterscheibe, murmelt etwas von Gespenstern vor sich
hin, urinierte wie täglich (seit wann?) ins Bett; am 1. 10. liegt er darin,
stößt beständig die Worte „das, das“ aus, uriniert ins Nachtgeschirr,
defäziert aber auf den Fußboden (Bericht des Dr. F .); am 2. 10. trifft
ihn der Arzt auf dem Strohsack, in Decken gehüllt liegend; aufgefordert,
erhebt er sich, schwankt etwas; Matratze harndurchtränkt; Inkulpat
wiederholt, über den Vortag befragt, nur immer das Wort „gestern“;
(was gesehen, was gehört?) „Trauschein“; ward gegen einen Ober¬
aufseher obstinat; am nächsten Tage demoliert er wieder in seiner Zelle.
Mit Rücksicht auf diese Vorkommnisse wird er am 6. 10. der psychi tri-
schen Klinik in J. zur Beobachtung eingeliefert.
In J. verblieb V. bis Mitte November; über sein dortiges Verhalten
gibt das Gutachten, welches Prof. Dr. B. erstattet hat, Aufschluß. Darin
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
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wird V. zunächst als ein zweifellos degeneriertes und dem Trünke ergeben
gewesenes Individuum bezeichnet; Epilepsie wird als sicher vorliegend
angenommen; die Reizbarkeit und die insbesondere späterhin bei V-
zutage getretene Brutalität sowie die aus jüngster Zeit datierenden Sexual¬
delikte werden darauf bezogen; Angaben der Frau, wonach er, wenn
gereizt, in mächtigen Affekt gerate und sich nachher an nichts erinnere,
und die bekannten Angaben der Mutter werden zitiert, allerdings als
nicht direkt auf epileptische Zustände hinweisend gedeutet; vor allem
interessiert, daß in der Nacht vom 13. zum 14. 10., also an der Klinik,
an V. ein typischer epileptischer Anfall (allerdings nur von einem Wärter)
beobachtet worden ist (Beschreibung: kein Schrei, Zuckungen mit Armen
und Beinen nach vorausgegangenem Tonus. Dauer 3 Minuten. Unfrei¬
williger L^rinabgang; keine Verletzung); vom Morgen darauf bis zum
16. 10. müde, etwas benommen, mürrisch, Hypalgesien an verschiedenen
Ohedmaßen; für den Anfall erinnerunglos; am 29. 10. fällt laut Kranken¬
hausgeschichte Inkulpat beim Waschen plötzlich um, schlägt sich die
Nase blutig; kein Schrei, keine Zuckungen, eine Stunde benommen,
% Stunde Arme und Beine hypalgetisch; Pupillen reagieren, als nach etwa
% Stunde der Arzt untersucht (der also offenbar den Anfall selbst nicht
gesehen hat); dann noch 1 Stunde mürrisch; weitere Anfälle oder neue
Tatsachen wurden nicht beobachtet; die bisher mitgeteilten erscheinen
genügend, um die Epilepsie des V. für erwiesen zu erklären; wohl wird
nicht vergessen, V.s ethische Depravation und speziell Verlogenheit nach
Gebühr zu unterstreichen; allein es wird angenommen, 'aß seine Raffiniert¬
heit nicht so weit reichen könne, um echte epileptische Störungen und
Amnesien (zumal inkomplete mit Erinnerungsinseln) vortäuschen zu
können; auch für die kritische Zeit ward ein Dämmerzustand zum minde¬
sten als nicht ausschließbar bezeichnet, zumal V. vorher sich alkoholisiert
und bekanntlich Zeichen gesteigerter geschlechtlicher Springlustigkeit
gezeigt hatte; zumal auch bei ihm eine epileptische Charakterveränderung
angenommen wird, für die als ausschlaggebender Beweis schließlich auch
noch das Hervortreten von Gewalttätigkeitsdelikten in seiner Strafliste
seit dem ersten Auftreten der Epilepsie (vorher nur Vagabundagedelikte)
ins Treffen geführt wird, als wahrscheinlich auch die seit 1902 datierte
Häufung von Sexualexzessen; V., schließt das Gutachten, sei ein Mensch,
der im Laufe seiner Krankheit die Kraft verloren habe, seine wilden
Triebe zu bezwingen, sei im Affekt zu jeder Gewalttat fähig, und eine
solche Affekthandlung müßte auch bei der Mordtat angenommen werden,
wäre nicht ein Dämmerzustand wahrscheinlich; ergo seien die Voraus¬
setzungen des § 51 gegeben.
Auf Grund dieses Gutachtens ward V. außer Verfolgung gesetzt,
und die Irrenanstalt mußte ihm alsbald zum zweiten Male ihre Pforten
öffnen. Uber sein Verhalten daselbst sei hier das Wesentlichste kurz
mitgeteilt. Am Anfang produziert V. anscheinend Verfolgungsideen, als
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Obersteiner and Str&nsky,
sei eine Verschwörung gegen ihn im Gange, als würde er vergiftet, doch
klangen seine Angaben recht rückhaltig; nie Anhaltspunkte für Halluzina¬
tionen; er wurde dann in der Folge, wenn irgendwie gereizt, recht gewalt¬
tätig, aggressiv, unwirsch, besonders im Juni einmal fast tobsüchtig erregt,
demoliert, scheint es auf einen Fluchtversuch anzulegen; Pat. erhielt
übrigens allerlei Vergünstigungen, u. a. auch Bier (!); seit jener Szene
aber betrug sich V. stets durchaus ruhig und ordentlich; er arbeitete
fleißig, begann sich lebhaft für Politik zu interessieren, abonnierte auf
ein (sozialdemokratisches) Blatt und diverse Broschüren und Schriften,
äußerte, wie schon früher, öfters radikal-sozialistische Anschauungen,
schien in solchen ganz aufzugehen, übrigens zeigte er großen Lerneifer,
erlernte autodidaktisch das Französische; Stimmungsschwankungen
schienen nur auf äußere Anlässe hin sich einzustellen, reizbaren Mit¬
patienten trachtete er auszuweichen; Wahnideen äußerte er nicht mehr;
ward er einmal reizbarer, so wirkte schon die Androhung von Disziplinär -
mitteln; überhaupt zeigte er Selbstbeherrschung; nach und nach begann
er allerdings Unzufriedenheit mit seinem Aufenthalt in der Anstalt zu
bekunden, interessierte sich für die Modalitäten etwaiger Entlassung; er
begann im Herbst 1904 aus eigenem Antriebe ganz abstinent zu leben.
Mit der Zeit begann er ein gewisses Selbstgefühl zur Schau zu tragen,
gefiel sich in dem Gebrauch unnötiger, unpassender Fremdwörter und
fremdsprachiger Satzgefüge, suchte den Gebildeten hervorzukehren,
prunkte vor allem gern mit seinem Französisch; die Mitteilung, daß seine
Frau intime Beziehungen zu andern Männern begonnen (Herbst 1905),
nahm er in aller Ruhe entgegen; in der Folge kam er auch auf seine Tat,
sein Leiden zu sprechen, zeigte sich auffällig bemüht, Epilepsie zu be¬
streiten, ja einen Dämmerzustand tempore delicti, behauptete, nur ange¬
trunken gewesen zu sein und sich der Mordtat zu erinnern; er habe Epi¬
lepsie nur simuliert, um vom Militär loszukommen, und auch jetzt wieder
simuliert; so am 24. 3. 1906; und am 16. 4. nachts entweicht er!
Wir wissen bereits, daß V. damals nach Wien gekommen ist; hier
hat er sich, wie er im Laufe der jetzt schwebenden Untersuchung erzählte,
durch Arbeit fortgebracht, im Stadtbezirk Simmering und bei der Donau¬
regulierungskommission; auch das wissen wir, daß er bei seiner damaligen
Anwesenheit hier jenes Liebesverhältnis (mit der L.) angeknüpft hat,
welches er in der Folge wieder aufgenommen hat (bemerkt sei hier, daß V.
später wieder mit seiner Frau freundschaftlich korrespondierte). Lange
hat sich nun V. seiner Freiheit damals nicht erfreut: Am 18. 8. 1906 ward
er in Wien festgenommen, zunächst der niederösterreichischen Landes¬
irrenanstalt unterstellt, von wo ihn eine Woche später die B.er Anstalt
heimholte; am 25. 8. trifft er dortselbst wieder ein. Sehr bemerkenswert
ist, daß niemand anders als V. selbst das jähe Ende dieser kurzen Episode
provoziert hat. Er schrieb nämlich von Wien aus an einen der B.er
Anstaltsärzte, wie er später erklärte, aus Anhänglichkeit an ihn, eine
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Ansichtskarte und verriet so seinen Aufenthaltsort, was natürlich alsbald
zu seiner Ausforschung führte. Er hat sich auf dem Transporte von Wien
nach B. ruhig und gefügig betragen. Auch nach der erfolgten Einbringung
in die dortige Anstalt benahm er sich durchaus korrekt, begrüßte den Arzt
sogar mit einer gewissen Freude, erzählte mit Genugtuung, daß er sich
in Wien ordentlich durch Arbeit fortgebracht habe, wies ein hiesiges
Arbeitsbuch und ein Zeugnis vor zum Belege, daß er sich durchaus nicht
etwa falsch gemeldet habe (nur war sein Name darin angeblich ohne sein
Zutun verstümmelt), meinte, er habe durch seine tadellose Führung in
Wien bewiesen, daß er reif sei zum Genüsse seiner Freiheit. In der Folge
ließ er zwar gelegentlich Drohungen fallen, wieder etwas anzustellen, falls
er keinen Ausgang sehe, doch war seine Führung fortab eine durchaus
korrekte, wie in der Zeit vor der Flucht, er bekundete insbesondere keine
Gereiztheit. Nur war er gern ein wenig von oben herab, auch gegen die
Ärzte, schreibt z. B. einmal einem Arzt in J., der ihm als Gratifikation
für eine Übersetzung aus dem Französischen 10 Mark geschickt, einen
Dankbrief, darin es u. a. heißt, er (V.) sei am berufensten, Generosität
-zu würdigen. Immer mehr verrät er nun das Bestreben, irgendwie auf
legalem Wege, sei es auch um jeden Preis, seine Freiheit wiederzuerlangen
(nur einmal ein mißlungener Ausbruchsversuch); so richtet er am 27. 2.1907
eine Eingabe an das Generalkommando in Kassel, er habe sich 1898 durch
Simulation von Krankheit (seil. Epilepsie) gesetzwidrig dem Militär¬
dienst entzogen; er spricht in Briefen recht hochtrabend von der sozialen
Ungerechtigkeit, die seine Internierung involviere; später (1907) wandte
er sich an die Staatsanwaltschaft in M., erklärt, er habe seinerzeit simu¬
liert, kritisiert das J.er Gutachten, bittet, ihm irgendwie zur Erlangung der
Freiheit behilflich zu sein; auch kommt er wieder einmal den Pflegern
gegenüber mit der Angabe, er erinnere sich sehr gut, wie er die Ella P. mit
dem Messer umgebracht habe, er habe damals wohl einen Schnapsrausch
gehabt, die Amnesie aber nur simuliert; auch daß er die epileptischen
Anfälle immer nur simuliert habe, erzählt er wieder, gab an, in einer Ge¬
fängnishaft einmal bei einem Mithäftling solche gesehen zu haben, daher
seine Erfahrung; in einem Schreiben an die Mutter spricht er einmal
davon, daß er der Gefangene einer Eingenommenheit, einer Rache sei,
läßt sich aber nicht näher darüber aus. Am 11. 1. 1908 ist er nach langer
Zeit wieder einmal gewalttätig, d. h. schlägt einen Mitkranken, der ihn
durch Unruhe im Schlafe störte; in der Folge aber wieder ganz korrekt,
schreibt an seine Mutter wohlgesetzte Briefe. Ein epileptoider oder epi¬
leptischer Anfall ist an V. während der ganzen Jahre, die er in der B.e
Anstalt zugebracht hat, nie beobachtet worden.
Inzwischen war das Entmündigungsverfahren gegen V. eingeleitet
und durch Beschluß des Amtsgerichts B. tatsächlich die Kuratel über
ihn verhängt worden. Zugrunde lag ein Gutachten des Direktors
der B.er Anstalt Dr. K. Letzterer schildert das uns bereits bekannte
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Obersteiner und Stransky.
Curriculum vitae V.s, u. a. führt er den sonderlichen Einfall V.s, durch
Briefe seinen Wiener Aufenthalt, nach der Flucht iftf Jahre 1906, zu ver¬
raten, auf neuerliche Alkoholzufuhr nach langer Abstinenz zurück (V. be¬
streitet aber lebhaft, daß er damals mehr als höchstens 1 1 Wein pro Tag
getrunken hätte); hier interessiert vor allem, daß dieses Gutachten die
Friedfertigkeit V.s für gemacht hält, auf seine gelegentlich doch hervor¬
brechende Reizbarkeit hinweist, vor allem aber betont, daß er offenbar
dissimuliere, um nur ja seine Freiheit zu erlangen; und unter Berufung
auf die Weltgeschichte wird darauf verwiesen, daß es Epileptische gebe,
die ihr Lebelang gar keine Anfälle hätten, „sondern eine gewisse larvierte
Epilepsie zeigen, die sich mehr in der rücksichtslosen, ich {K.) möchte
sagen, fast dämonischen Natur des Betreffenden kundgibt“, eben jene
epileptische Charakterdegeneration, wie sie dem V. anhafte; als Grundlage
desselben gilt dem Experten bei V. der Alkohol, gegen den er überaus
intolerant sei (als Beweis für die Alkoholintoleranz wird der Verlust der
Selbstbeherrschung angenommen, den V. in dem leichtfertigen Verrat
seines Wiener Aufenthaltes bekundete).
V. nahm seine Entmündigung nicht ruhig hin, rekurrierte dagegen
und erreichte zunächst die Einholung eines Gutachtens von dem Oberarzt
derselben Anstalt Dr. W .; in diesem Gutachten wird V. mehr von der
charakterologischen Seite her beleuchtet; er sei ein von Haus aus psycho¬
pathisches Individuum; auffällig sei sein Hang zur Selbstüberhebung,
seine Freude am Prahlen und Imponieren; er sei da selbst oft geziert,
schrullenhaft, manieriert, geschraubt und schwülstig (Prunken mit Galli¬
zismen, selbst in amtlichen Eingaben); er habe ein gutes Gedächtnis,
verfüge über relativ umfangreiche Kenntnisse, ein gesundes Urteil; trotz¬
dem sieht der Experte in den Widersprüchen, die in den Auffassungen
des V. über seine Person zutage treten (er äußert bald tiefe Reue, nennt
sich einen Auswürfling, bald schreit er über soziales Unrecht, dessen Folge
sein Delikt sei, glaubt dieses durch ein paar Jahre Internierung genügend
gesühnt), sowie in den extrem sozialistischen Anschauungen, dieV. ent¬
wickelt hat, ein Zeichen mangelnder Kritik. Auf diese Züge wird der
Hauptnachdruck gelegt, indes jene der Epilepsie, die auch dieser Experte
als erwiesen annimmt, in den Hintergrund getreten seien. Nach diesem
Gutachten wäre V. damals (Herbst 1908) weder als geisteskrank noch
als geistesschwach anzusehen gewesen.
Angesichts dieser divergierenden Meinungen ward ein Obergutachten,
und zwar von der J.er psychiatrischen Klinik, eingeholt, der nun Inkulpat
zu dem Behuf für die Zeit vom 19. 12. 1908 bis 19. 1. 1909 überstellt
ward. Dort wurden zwar keine Anfälle beobachtet, doch blieb Prof. B.
im Wesen bei seinem früheren Gutachten und stellte sich in bezug auf die
aktuellen Schlußfolgerungen mit Rücksicht auf die Möglichkeit des Wieder¬
auftretens schwerer epileptischer Erscheinungen auf seiten K. s; insbe¬
sondere betonte er die mangelnde Einsicht V.s in die Schwere der Folgen
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seines Deliktes. V. glaubte, die Richter würden bei Wiederaufnahme des
Verfahrens angesichts der von ihm erworbenen Bildung milde sein. Be¬
merkt sei, daß V. in J. ein Curriculum vitae verfaßt hat. Abgesehen von
der schwülstigen, mit unpassenden Gallizismen und falsch verstandenen
Buchphrasen gespickten Einleitung interessiert hier vor allem der auf den
Mord an der Ella P. bezügliche Passus, wonach V. erklärt, am kritischen
Tage, was er vorher nicht gewohnt, Schnaps in reichem Maße getrunken
zu haben, dadurch arbeitsunfähig geworden zu sein, sich dann in einem
heißen Trockenraum vormittags zur Ruhe gelegt zu haben und erst wieder
zu sich gekommen zu sein, als er vor sich sein blutiges Opfer liegen sah;
dann sei er noch 2 Tage halb betäubt umhergegangen, doch immerhin
schon bei Bewußtsein. In der Haft habe er sich dann aus Verzweiflung
wahnsinnig gebärdet.
Das zuständige Gericht nun akzeptierte weder das Gutachten Di¬
rektor K.s noch das B.sche Obergutachten, sondern dasjenige des Ober¬
arztes W. (wir erfahren aus der bezüglichen Entscheidung unter anderem,
daß Direktor K. der Verwaltungsbehörde gegenüber wiederholt den Stand¬
punkt vertreten hat, V. sei zurechnungsfähig), und da das Strafverfahren
gegen V. eingestellt blieb — denn die Epilepsie temp. delicti ward ja nicht
angezweifelt —, andrerseits aber V. als gegenwärtig praktisch geistig gesund
und dispositionsfähig erklärt wurde, mußte er aus der Anstalt entlassen
werden und zwar als geheilt; so geschehen am 6. 11. 1909.
V. wendete sich zunächst nach Nürnberg und trat von dort die Reise
nach Wien an; er beabsichtigte anfangs, hier nur Transenalstation auf dem
Wege nach dem Orient, wo er Arbeit zu suchen gedachte, zu nehmen;
allein es fand sich, daß er wieder den Posten als Zimmermann bei der
Donauregulierungskommission bekam; so ist er also hier in Wien geblieben.
Wie er sich hier durch 8 Monate bis zu dem furchtbaren Morde an der
Josefine P. führte, wissen wir bereits.
V. ist natürlich auch anläßlich des jetzt anhängigen Strafverfahrens
Gegenstand gerichtspsychiatrischer Expertise geworden. Aus dem sorg¬
fältig gearbeiteten Befunde und dem äußerst kritisch wägenden Gutachten
seien hier nur die wesentlichen Ergebnisse mitgeteilt. Zunächst hat die
längere Beobachtung des Inkulpaten auf der Zelle bzw. durch die gerichts¬
ärztlichen Sachverständigen während der jetzigen Haft keinen Anhalts¬
punkt für epileptische Anfälle ergeben; überhaupt benahm sich V. während
der schwebenden Untersuchungshaft vollkommen korrekt; weder Gereizt¬
heitsausbrüche noch Verstimmungszustände wurden an ihm beobachtet;
auch den Ärzten gegenüber benahm er sich durchaus passend, nur einmal,
da ihm angesichts seines beharrlichen Ableugnens von Epilepsie der
Ernst seiner Situation im Falle, daß ihm diesbezüglich Glauben geschenkt
würde, vorgehalten ward, unterdrückte er mühsam eine Zornesaufwallung;
seine Intelligenz schien durchaus intakt; eine gewisse Neigung, durch
Gebrauch von Fremdwörtern und philosophasternden Redensarten zu
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXY. 3 . X4
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Obersteiner und Stransky,
imponieren, schien auch jetzt hervorzutreten. Wahnideen, Sinnestäuschun¬
gen, greifbare Gedächtnisstörungen bot er nicht. Er erzählte, wie schon
bei früheren Untersuchungen, daß er darum durch S : mulation sich dem
Militärdienst zu entziehen gestrebt habe, weil ihm durch eine frühere Ab¬
strafung (jene in München) Unrecht geschehen sei; er leugnete besonders
sexuelle Libido. Die Sache Schi... suchte er ganz harmlos darzustellen,
als habe das Mädchen eine phantastische Geschichte erzählt; er bestritt
alles, was über seine abnormen sexuellen Antezedentien bekannt war.
Bezüglich der früheren Mordaffäre Ella P. blieb er nicht bei der letzten
uns bekannten Schilderung; er erzählte nun von einer Bewußtseinsinsel
im Rahmen der behaupteten Erinnerungslücke, die kurze Zeit vor der
Mordtat disloziert erscheint, er will da mit Kopfschmerzen erwacht, auf
eine Wiese hinausgetreten sein, den Leuten haben mähen helfen wollen,
es ging aber nicht; dann wieder Abbrechen der Erinnerung; zu sich ge¬
kommen sei er dann im Freien bei finsterer Nacht, kam nach längerem
Umherirren in die Sägemühle, wo er damals gearbeitet hatte, legte sich
dort in ein Versteck, hörte dann die Leute von einem Morde reden, den er
(V.) begangen hätte, hielt sich angsterfüllt bis zur Nacht verborgen, sei
dann, auf einer Landstraße wandernd, verhaftet worden. Er behauptete
wieder Alkoholvergiftung zur Zeit jener Tat; mit einer gewissen Selbst¬
gefälligkeit posierte er den Wahrheitsapostel, erklärte, nicht als Lügner
gelten zu wollen, daher gestehe er, die Epilepsie immer nur vorgeschwindelt
zu haben. Die Vorgänge bei der jetzigen Mordtat schildert er mit manchen
beim Verhör nicht erwähnten Einzelheiten (die er auch den Referenten der
Fakultät erzählte, daher sie 'weiter unten berichtet werden sollen); er
wollte u. a. die Joseflne P. anfangs nur haben verletzen wollen, nur um sie
loszuwerden, doch drang der Stich zu tief ein; angesichts des Messers sei
er dann in eine solche Wut gekommen, daß er der Leiche noch 36 Stiche
beibrachte; die Risse an den Kleidern seien nur durch das Ringen ent¬
standen; Inkulpat schilderte dann die weiteren Vorgänge; er beharrte
darauf, daß er weder in einem krankhaften Zustande noch im Rausch ge¬
handelt habe. Das Gutachten der Wiener Gerichtssachverständigen
(Priv.-Doz. Dr. Elzholz und Prof. Dr. Raimann) betont die schon bezüglich
der anamnestischen Daten, insbesondere der zeitlichen Lokalisation der
Schädeltraumen, sich ergebenden Unstimmigkeiten; sie erachten trotz
des langjährigen Fehlens von Anfällen und des Leugnens solcher durch
den Inkulpaten den durch Dr. A. beobachteten Anfall für beweiskräftig
im Sinne von Epilepsie. Auch die Anfälle in J. und beim Militär müßten
als echt aufgefaßt werden (zeitlich begrenzte Verstimmung im Anschluß
an einen derselben), jener in H. als Vertigo epileptica; von einer dauernden
Geistesstörung oder Geistesschwäche sei bei ihm keine Rede; für die Be¬
urteilung des jetzigen Deliktes käme in Betracht, daß Inkulpat ein zweifel¬
los libidinöses Individuum sei (drei Verhältnisse zu gleicher Zeit); dann
die Züge von Sadismus, die man annehmen könnte, wären die Erzählungen
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der Rosa Ku. als zuverlässig zu werten, ferner angesichts der eigentüm¬
lichen Zerstörungen an den Kleidern seiner Opfer; daher manches für einen
Lustmord außerhalb eines Dämmerzustandes, event. durch Hervorbrechen
sadistischer Züge erst nach Alkoholgenuß, spreche; im konkreten Falle
sei freilich ein strikter Beweis dafür nicht erbracht; z. B. sei auch die
Wäsche V.s nicht auf Spermaspuren untersucht worden; viele Angaben
des V. zeigten, daß er Details bezüglich der Tat (Wegwerfen von Kleider¬
fetzen, Ortsschilderung, Ort des ersten Stiches) richtig reproduzierte,
andere sind sichtlich schlankweg erlogen; doch seien seine Erzählungen
so zusammenhängend, daß ein Dämmerzustand zur kritischen Zeit wenig
wahrscheinlich sei; andererseits wollten aber mit Rücksicht auf die Vor¬
geschichte des V. die Sachvständigen einen solchen auch nicht bestimmt
ausschließen, und beantragten bei der Schwierigkeit des Falles selber die
Einholung eines Fakultätsgutachtens (welches denn auch durch das Gericht
"von der Wiener medizinischen Fakultät eingefordert wurde).
Ergebnis der persönlichen Untersuchung.—V. wurde von
uns als Referenten der Fakultät an 5 verschiedenen Terminen in eingehender
Weise untersucht. Er erschien dabei stets vollkommen klar, geordnet,
orientiert, durchaus im reinen über seine Situation. Er legte ein ruhiges,
passendes, beinahe freundliches Benehmen an den Tag, ging durchaus
bereitwillig auf die Konversation ein, die Stimmung hielt sich stets ziemlich
in Mittellage; er war fast auffällig beherrscht, nur beim letzten Examen
brach da und dort etwas Ungeduld und Erregung hervor, zumal als ihm di«
Unstimmigkeit vieler seiner Aussagen nochmals eindringlich vorgehalten
ward. Er befleißigte sich einer ziemlich gewählten Ausdrucksweise, zeigte
auch jetzt eine gewisse Vorliebe, sich durch Gebrauch von Fremdwörtern
und gebildeten Redensarten ein wenig hervorzutun, doch konnte man
nicht sagen, daß er das in allzu aufdringlicher Weise getan hätte. Anhalts¬
punkte für das Vorhandensein von Wahnideen oder Sinnestäuschungen
ergaben sich nicht.
Im einzelnen bestritt Inkulpat zunächst wiederum, je wirkliche
epileptische Anfälle gehabt zu haben; er gibt darüber folgendes an; Der
erste sogenannte Anfall sei beim Militär gewesen, den habe er vorgeschwin¬
delt aus den von ihm schon früher auseinandergesetzten Motiven; Dr. A.
habe gar keinen Anfall gesehen gehabt, sondern die Sache sei die gewesen,
daß er — Inkulpat —, der selber um den Arzt geschickt hatte (allerdings
schon am Abend zuvor), damals im Wundfieber gelegen habe, doch nicht
etwa bewußtlos, er habe ja den Arzt deutlich vor sich stehen gesehen (wie
Dr. A. die Pupillen untersuchte, erinnere er sich nicht), überhaupt sei er
nie besinnungslos gewesen, abgesehen von jenem Rauschzustände, in dem
er die P. in L. ermordete, woran er sich auch nicht erinnere; in J. habe er
dann wieder Anfälle simuliert, habe es sich zunutze gemacht, daß er als
Epileptiker gelte. Als er im Gefängnis in M. auf den Fußboden defäzierte,
habe er das mit Bewußtsein getan, um die Leute zu ärgern.
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Aufgefordert, zu beschreiben, wie ein epileptischer Anfall aussehe,
meint Inkulpat, es gebe deren verschiedene: der eine redet vorher irre,
ein anderer schimpft, den dritten schüttelt es bloß, der vierte sitzt nur
so da; Leute wieder, die Umfallen, sind nachher matt, kraftlos, erholen
sich erst nach einiger Zeit; er habe eben vielerlei Anfälle gesehen.
Inkulpat erklärt, jetzt durchaus auf ein Todesurteil gefaßt zu sein,
und bestreitet, sich über die Inaussichtstellung eines solchen je alteriert
zu haben. Er habe diesmal aus reiner Wahrheitsliebe ein Geständnis ab¬
gelegt, ziehe Zuchthaus und Galgen dem Irrenhause immer noch vor.
Inkulpat gibt an, er habe sich vor Jahren einmal freiwillig zum
Militärdienst gemeldet, wollte damals Berufsunteroffizier werden, zu seinem
Ärger aber ward er wegen einer geringfügigen Vorstrafe abgewiesen;
später erfolgte dann die, wie er meint, ungerechte Münchener Strafe, bald
darauf die pflichtgemäße Einrückung zum Truppendienst; aus Scham,
weil man ihm da seine Vorstrafen vorhielt, habe er auf Grund seiner im
Strafhause (siehe früher) erworbenen Kenntnisse Epilepsie zu simulieren
beschlossen; es sei in der Putzstunde gewesen, er habe auf einem Schemel
gesessen, da ließ er sich von diesem herabfallen, ballte die Fäuste, brachte
Speichel hervor, schlug ein wenig nach auswärts; das möge 3 Sekunden
gedauert haben; dann sei er ruhig liegen geblieben, habe sich ins Bett
heben lassen, kein Zungenbiß, keine Inkontinenz; auf das hin sei er ins
Garnisonlazarett überstellt worden, von wo er nach vierwöchiger Beob¬
achtung zur Disposition gestellt ward. Ein Jahr darauf habe er bei der
Generalmusterung dem Militärärzte einfach gesagt, es gehe ihm wie früher,
worauf er glatt entlassen worden sei. Auf Vorhalt behauptet Inkulpat,
dem gerichtlichen Experten die nämliche Motivierung für seine Epilepsie¬
simulation gegeben zu haben (Nein. Er hat diesem erklärt, daß er aus
Erbitterung über die ungerechte Strafe allein simuliert bzw. vom Militär
weggestrebt habe). Bezüglich der Anfälle an der J.er Klinik bemerkt er,
er habe es dort bequem gehabt, er konnte den Anfall unterm Waschen
vormachen; er seifte sich das Gesicht ein, um dieses zu maskieren, ließ sich
dann einfach hinfallen; vorher habe er schon einmal absichtlich ins Bett
uriniert, das sei der erste sogenannte Anfall in der Klinik gewesen; beide¬
mal seien bloß Wärter Zeugen gewesen. Ein Arzt sei bei seinen Anfällen
nie dabei gewesen. Von dem in H. beobachteten kleinen Anfall will Inkulpat
gar nichts wissen, spottet darüber, daß er dabei Gras ausgerissen hätte,
im dortigen Anstaltsgarten gäbe es doch gar keinen Grashalm.
Seine Gereiztheit im Beginne des B.er Anstaltsaufenthaltes motiviert
er damit, daß er da unter lauter absonderliche Kranke gesteckt worden
sei, lauter Gewalttätige, da könne es schon sein, daß er sich selber absonder¬
lich benahm. Von Geistervisionen wisse er nichts, da müßten entweder
ungeschickte Äußerungen seinerseits oder falsche Wärterrapporte vor¬
liegen. Daß er im M.er Gefängnis gewalttätig war, gebe er zu, das war aber
aus Ärger.
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Über die Hergänge, die zu dem jetzigen Delikt führten, erzählt
Inkulpat folgendes: Er sei am 13. 8. gegen 6 Uhr abends vom Donauhafen
heim in die Dresdnerstraße (im XX. Bezirk) gekommen, habe sich umge¬
kleidet ; er habe an dem Tage bis dahin höchstens 11 Bier getrunken 'gehabt.
Er sei von zu Hause zunächst zur Organisation in die Wintergasse gegangen,
zahlte seinen Beitrag, trank 2 Krügel Bier; dann sollte er ein Stelldichein
mit der L. haben, die aber nicht kam. Er trank in einem Oasthause nahe
der Brigittabrücke dann noch 2 Krügel Bier. Nach 10 Uhr sei er langsam
in den Prater gegangen, um zu „gaffen“, ohne weitere Absichten. Er
traf dort einen Bekannten und zwei Freunde desselben, mit denen er
zuerst in einem Gartenrestaurant am Praterstern war, wo er 1 Krügel Bier
nahm; dann begab sich die Gesellschaft nach Erdberg, wo er in einem
Gasthause mindestens 2 Krügel Bier trank, dann Einkehr in einem Kaffee
nahe der Schlachthausbrücke. Dortselbst habe er nur 1 Kaffee getrunken;
sohin trennte sich Inkulpat von seiner Gesellschaft (deren Teilnehmer
später nicht eruierbar waren, wie hier bemerkt sei), ging in den Prater
hinein; er wollte dort, da die Nacht schön war, ein paar Stunden schlafen.
Auf der Wiese nahe der Brücke erblickte er da nun plötzlich die Umrisse
einer Gestalt; gegen seine Gewohnheit packte ihn Furcht an. Er eilte also
weiter gegen die Hauptallee zu, doch die Gestalt kam näher und näher,
und nahe der Hauptallee sprach sie ihn an; es war eine Frauensperson, die
ihm bis dahin unbekannte Josefine P.; sie apostrophierte ihn, bat ihn, da
sie unterstandslos sei, mit ihm gehen zu dürfen. Er sei in Furcht gewesen,
daß etwa ein Zuhälter in der Nähe lauere, zumal er damals kein Messer
bei sich trug, habe eilige Schritte genommen. Das Frauenzimmer heftete
sich aber an seine Fersen, jammerte ihm von ihrer Not, ihrem Spitals¬
aufenthalt (es ist richtig, daß die P. eine Zeit vorher wegen einer veneri¬
schen Krankheit im Spital gelegen hat) vor; er lehnte immer ab, sie mit¬
zunehmen, bei der Krieau sei er sogar schon gröber geworden, da schon
Behausungen in der Nähe waren und er daher mehr Mut gewann; nichts
nützte, sie wich nicht von seiner Seite; im bewohnten Viertel angelangt,
sei er, um sie radikal los zu werden, in ein Kaffee (Ecke Ennsgasse und
Vorgartenstraße) gegangen. Als er nach 15—20 Minuten herauskam,
wartete die P. etwa 150 Schritte weit; da er an ihr vorbei mußte, sprach
sie ihn wieder an. Das war gegen 3 Uhr morgens; um sie wieder los zu
werden — denn er hatte damals wegen seiner Gonorrhöe absolut keine
Lust zu koitieren, hätte auch die L. nicht koitiert, wenn sie gekommen
wäre —, griff er zu einer List, da er wegen seines Trippers nicht das ein¬
fachere Mittel des schnellen Heimgehens in seine noch etwa 10 Minuten
entfernte Wohnung vorzog. Er flüchtete auf den nahen Kricketerplatz;
die P. aber, eine kräftige Person, groß und stark (das Obduktionsprotokoll
nennt sie nur mäßig kräftig, mittelgroß), war gleich auch darinnen. Nun
wollte er hinaus; sie aber kam mit Lamentationen, redete vom Hinlegen,
verdrehte ihm den Kopf, ließ ihn nicht fort, also blieb er; geschlechtliche
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Obersteiner und Stransky,
!
Erregung verspürte er nicht. Sie legte sich alsdann hin. Er tat desgleichen
in der Hoffnung, sie werde einschlafen und er dann das Weite suchen
können; tatsächlich habe er nach etwa 10 Minuten Weggehen wollen, sie
sprang aber gleich in die Höhe, nahm ihn um den Hals mit beiden Händen,
sagte, er solle ihr das nicht antun; er hatte das Gefühl, daß das Mädchen
sehr stark war, denn er brachte sie nicht von seinem Leibe; während er sie
umarmte, tastete er an ihrer Seite eine Schere, er zog den Gegenstand
heraus und gewahrte da, daß es ein Messer war, ca. 12 cm lang und in einer
Holzschale; nun sagte er, er werde sie stechen, wenn sie nicht loslasse, und
um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, stach er sie von rückwärts;
lautlos fiel sie um, mit dem Oberkörper in das Kassahäuschen hinein. Wie
er nun so das Messer ansah und über das Erlebnis nachdachte, da überkam
ihn der Zorn, er stach blindlings auf die, wie er meinte, vielleicht noch
röchelnde P. ein, vielleicht durch paar Minuten. Daß er Körperteile ab¬
präpariert hätte oder vielleicht aufgetrennt, glaube er nicht, letzteres
könnte durch Stich oder Riß zustande gekommen sein. Da er sah, daß
die Situation so eine unmögliche sei, schaffte er die Leiche, sie am Boden
schleifend, da er sie nicht zu tragen vermocht habe, in die Binderau hinüber
etwa 10 Schritte weit; dabei mögen sich die Kleider an der Leiche gerollt
haben; da der Tag schon zu dämmern begann, sei er die Straße hinunter-,
sei aber dann noch etwa 1 Stunde umhergegangen; dann sei er zuletzt in
einen Brot- und Milchladen gegangen, blieb da einige Zeit, trank Milch,
dann ging er zur Wäscheputzerin; er sann über das Vorgefallene nach,
dachte, das Frauenzimmer habe es am Ende auf ihn abgesehen gehabt;
anfangs erwog er Selbststellung, meinte aber, dazu noch Zeit zu haben.
An ein Aufkommen der Sache habe er nicht gedacht. An das Herausfallen
der Karte, an den gewissen Zollstab erinnere er sich nicht. Inkulpat
erzählt diese ganzen Hergänge zwar lebhaft, doch ohne sichtbare Zeichen
von Reue, wiewohl er erklärt, die Sache sei ihm keineswegs gleichgültig;
er entschuldigt sich damit, daß er eben die Person für verdächtig gehalten
habe. Inkulpat versichert wieder ausdrücklich, nie geisteskrank gewesen
zu sein, nie einen Anfall gehabt zu habea Den L.er Mord anlangend,
kommt er mit der von früher bekannten Erklärung: Alkohol, Üblichkeiten,
Hitze, längerer Aufenthalt im Trockenraum, dadurch sei er nicht recht
bei sich gewesen, zumal er den Schnapsgenuß nicht gewöhnt gewesen sei.
Es sei ein momentaner Akt geistiger Derangierung gewesen, drückt er
sich aus, gibt wieder an, sich noch erinnern zu können, wie auf der Wiese
Leute mähten, er versuchte es auch, doch nahm ihm einer der Männer die
Sense wieder weg; er glaubt sich jetzt erinnern zu können, daß er die
damals Ermordete um Wasser angesprochen habe, nichts Näheres. Er
habe über die damalige Tat viel nachgedacht; ihre ganze Furchtbarkeit
zu erklären sei er außerstande.
Auf Vorhalt seiner angeblichen Erzählung, als habe er einmal einem
Frauenzimmer ein Kleid mit Nägeln zusammengesteckt: das Erlebnis
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habe nicht er, sondern ein anderer Arbeitsgenosse einmal im Kollegen¬
kreise erzählt, als obszöne Geschichten zum besten gegeben wurden;
ihm werde das nur in den Murtd gelegt. Von dem L.er Morde habe er nie
gesprochen. Daß er jetzt als der Täter ausfindig gemacht ward, sei wohl
nur dem zuzuschreiben, daß er Sonntags nicht zur Arbeit kam, das und der
Zollstabfund mögen den Verdacht auf ihn gelenkt haben. Gibt zu, daß
er vor der Polizei anfangs geleugnet habe. Er habe eben vor der Polizei
nichts reden wollen. Da ihn aber der Kommissär so bestürmte, habe er,
protzt Inkulpat, um ihm den Erfolg zu gönnen, schließlich gestanden.
über sein Sexualleben erzählt Inkulpat: Er habe nie Onanie ge¬
trieben. Im Alter von etwa 19—20 Jahren sei er von einem Arbeitskollegen
in Mannheim in ein Bordell mitgenommen worden; damals erster Ge¬
schlechtsverkehr, bis dahin keine Libido. Genuß bereitete ihm dieser
erste Koitus nicht; bestreitet entschieden perverse Gelüste, Sexuelle
Träume negiert; will von sadistischen oder masochistischen Gelüsten
absolut nichts wissen. Mit seiner zukünftigen Frau ward er kurz vor seiner
Einrückung zum Militär bekannt. Der intime Verkehr mit ihr bereitete
ihm Genuß. Er habe mit ihr 3 Kinder (falls sie von ihm seien, bemerkt
Inkulpat vorsichtig); besonders springlustig sei er übrigens auch da nicht
gewesen, so daß seine Frau eifersüchtig war; war er angetrunken, so war
seine Potenz geringer; da die Frau sich Seitensprünge erlaubte (nach
seiner Internierung hat sie tatsächlich anderweitige intime Beziehungen
angeknüpft), plante er schon vor der Bluttat in L., sie zu verlassen. Ge¬
schlagen habe er sie freilich, aber sie habe es doch auch verdient. Weil
seine Frau ihn betrog, habe er sie betrogen; daher seinerzeit sein zugegeben
ernster Annäherungsversuch an das Dienstmädchen Schi..., mit der er
schon früher verkehrt hätte. Wenn diese ihn nachher als fremd erklärt
hatte, sei das nur „Flauserei“ gegenüber ihrem Liebhaber und andern
Leuten gewesen; berauscht sei er bei der Szene mit der Schi... übrigens
keineswegs gewesen. In die L. erklärt Inkulpat wirklich verliebt gewesen
zu sein; daß er hier in Wien noch andere Verhältnisse unterhielt, will er
nicht gelten lassen. Die ihm zur Last gelegten Notzuchtsfakta G. und M.
leugnet er; die erstere kennt er gar nicht, da liege Suggestion vor; die M.,
eine frühere Meisterin, habe er nach einem Krach wegen schlechter Kost
und elenden Quartiers dort einfach hinausgeworfen, das war alles.
Inkulpat leugnet Zwangsvorstellungen, Zwangsimpulse, Wach-
träumerei auf geeignete Fragen. Die Ansichtskarte habe er seinerzeit
allerdings unüberlegt von Wien nach B. geschrieben, doch hoffte er immer¬
hin auf Legalisierung auch der damaligen Entweichung. Den Alkohol
anlangend gibt er an, er habe als Lehrjunge schon zu trinken begonnen,
je nach Geldstand getrunken, Bier, Wein, selten Schnaps; dipsomane
oder pseudodipsomane Episoden sind nicht zu ermitteln. Seit er über die
Schäden des Alkohols gelesen, sei ermäßig; durch Biersei er nie betrunken
geworden. Habe er einen Rausch, so sei er etwas heiterer, nie angeblich
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
194. Oberste me r imd
H<pck^» »»«■tidigaßgfetgübl- ^tB^To^Mas ist vaa
ihm laßt er .
j«t.Jt nur die. in T. bei eftuMö SiteiJte erJjiitÄÄ'Vats y«m «rnMltebeü jFßige* r
-damals 'habe er den. dortig,»* Arzt 0**. J ?»d«m. lassen.- ii.br geus «ei 'dufser
dAmate noch bin 4>bkkbr : -jg^#r4i«« ^fift.aiii)^-«fayB',:-e«:: (Inkulpat)
danials regTtlri|fIö« dagbJegäft hätte, wisse e r m öhl , er s^VVtetrnehr ganz klar
gewesesv» als der Arat kam ' X;rv : -V : .;-.- ; -V./ -. -'.:.. 3‘■[3^3''33 : 3 : r :-.--c'.f / •
Auf Vorhalt des »chletblan luwtmhnda. def®- ihm »ein ehemaliger
ScfeuUeUrer gal»? Der sei augb roh gewesen, xfi^i tu, sieh otfc Bettelei
habe» tusch uhten kommen lassen. ertCachdldigt sich da mit.Arbeits-
loaigfeaik Auf Verhalt ute« Gutachtens des T?p. ft 3 freut habe ier einfach
kairt» Antwort gegeben, versa Utbji, weil er kfeft von ihm {röher einmal
im Krankenhaus* sohle».- bt fc'-haudeli, glaubt»:. f>r, ft. habe ihn übrigens
mumpA mit »lern Revolver bedroht, w»?«l. UikoJjtai not desse«i Köchin pow-
s»erU-. Daß er ihm Angabe« über >;f»lepl : :seb« AnthUe .ii»»£titi-5, könnt* er
.sich, nicht t’ftriner/i. Zu der MynclöS^ So- h- • iv .,<.•! r ■:h?.daß damals
ein Omngcbweib in da* Zöcbiofcarkam, dpctVsei es frei orfnöden, tfaU ermiss
mißhamMt habe, die ftahwadori hinten 1h0 mit \b*'cht schwarz gemacht,
weil er damals einen Post*«. in Starnberg tii-chi gleich thoeu habe ver¬
fassen wollen. ; r. ; ;..... '■> ;••'■■ • ■; C • ' ,•' :> • .- .■ \'.V.-. - •
Auf Vorhaii. söirier inkonformenfrdrsMbmgu»
B, und J, : OA dicker aufgeteagenc um |aoiif die Wied^o ; >
■auf »ahme tu evnwmgeo-, der Jor Bericht . sbmdfai nicht', ganz, sei • icil‘' <:ht
»öt deduziert- Richtig- sei was er :dea Wioner Oejriftbtsax'phrien. » nd -den
Pakultatsreferenten rrzahlt habe. Bum/loTton uweTAlfcoftoljsteru&g zur Z-d.
. dpt Tat setea. ja oichf uuv-'T.'rHibyg. ßr hebe ;;»>.)f Vorhalt jiemo* 'Atelir* a«»v
einem sei her Brief«. w««r fort einem Racheakt spricht) aitUn j .rf<ug^gftglaHbl,
ein solcher .seifen« ^»ner Fr a»> soi ftcjb nid, an swbgr A nslAHsihfcriiicranig;
glaubt da» aber heute- hi I* i ‘u<*hr, glaube uber-ba«.^ n , hl, PVinde tii. bülmü.
Auf Vorh a lt der LeichtfcrligkeHv Olli* dori Iftkuiptu Ä<m zug*tfüi$i$<mr:
der. Folgen seiner Tate» gtfgmud.ern.tud und •.>(*•)<}. lehnt er Jod»? ^pekui»,-
ttftn «uif »ntdA. ’fiVdit/et' : Afe.. brl^i'i : .:|r4br- :; -^ti^fe gowärtig *0 eein, mufit
ohne s*c.h in |»soudiHot>»1 ist ; Ae 11 Dokitnnatiomn} f.ü ergehou
Y, prttfä«ntiert ipcli- -aH' nSft. :i»(ikk»ttitäg’-' Mbri^cfi'r’'''
düa tlihiurUAÜpt- »st auffalhg -'iSfÄftkon kaum
• ;! ; an jjm •fi'rn beidursrouiji biif»; g»olH iodolente. ( jK:ht akkr-eie
'M«t»i,>•»%f*-fw (Knoche« intakt11mk> m der S: h, -? noch z-wei Haut
• ‘ '* 5,, ‘ !5 fP-rnvouujHz »i-cUi a«-)g^ben').; -an der Z-tn^r k.n,... \a<!>-u ^ichtfeii
iÜit:.wöff von
Beru'A.!'.:chi*tL 8»hsl, bis ariS-g^rhigo/i Li-lfi'-mor k«’ue.hier irtleriws.,>v.*,*:
>uadorii».*itt-h,
ö ..uark 4 . sei issttiiifühch noob, du!) >». V,.-während der p*l'4'>o"<v Haft
^ihjp^scKedft^fÄllft iso^ irgrfiidwefrfio ^efei^heu AuffaUvgkeitt*«
JpH^tay.fsri wordo|^-Alh4*/'-' : \--' -'r c'-A?" '' -' V * ^ ■;.’' ' '
Go gle '.."- -':^tfg^SrSoiMiftN
Lastmord eines moralisch defekten Sadisten aaw.
195
Gutachten. Die Fragestellungen, die sich för die Begutachtung
im konkreten Falle ergeben, zielen nach drei Hauptrichtungen:
erstens, ist das Geschlechtsleben des Ch. V. ein normales, oder
wird es, sei es dauernd, sei es zeitweilig resp. unter bestimmten
Umständen, durch krankhafte, insonderheit sadistische Antriebe be¬
herrscht? zweitens, ist V. ein Epileptiker, oder ist er es nicht?
drittens, welches war der Geisteszustand des Y. zur Zeit, da er
die jetzt inkriminierte Mordtat begangen hat?
Die Beantwortung der beiden ersten Fragen macht es natürlich
erforderlich, die Yorgeschichte des Y. Revue passieren zu lassen;
wir haben dabei das Bene, daß wir uns angesichts der vielen
Gerichtsakten, Krankengeschichten und Yorgutachten, im all¬
gemeinen wenigstens, kurz fassen können, denn einzelne Daten
sind ja strittig und bedürfen daher kritischer Erörterung.
Möglich ist (die Richtigkeit der beigebrachten Angaben vor¬
ausgesetzt), daß Y. als familiär belastet angesehen werden kann.
Sein Yater war angeblich ein Trinker, die Mutter wird ärztlicher¬
seits als nicht normal bezeichnet, in der Seitenverwandtschaft
kamen angeblich Fälle von Geistesstörung bezw. Epilepsie vor.
Präziser lautet die Charakteristik des Y. seitens seines ehemaligen
Schullehrers und seines Lehrherrn: Bei guter Intelligenz Roheit,
Widersetzlichkeit, Ungleichmäßigkeit, Yerlogenheit, Rücksichts¬
losigkeit, Hang zum Wirtshausleben und Schürzenjägerei. Wir
können daraus immerhin soviel entnehmen, daß dem Ink. gewisse
Charaktereigentümlichkeiten, mögen sie in späterer Zeit immerhin
noch schärfer sich markiert haben, mindestens im Keime schon
vom Hause aus anhaften; es mag seine Richtigkeit haben, daß
sie dank der mangelnden Erziehung schon früh überwucherten;
wahrscheinlicher aber ist es wohl, an eine primäre Charakter-
defektuosität zu denken, denn Erziehungsmängel allein können
erfahrunggemäß für Eigentümlichkeiten von solcher Art und An-
daoer nicht verantwortlich gemacht werden. Insbesondere die
Ungleichmäßigkeit in puncto Arbeitslust haftete Y. anscheinend
in sehr nachhaltiger Weise an, denn wir hören, daß er ab 1891,
also etwa vom Strafmündigkeitsalter an — genauere Daten haben
wir leider hierüber nicht zur Verfügung — wegen verschiedentlicher
Vagabundagedelikte nicht wenig oft in Kollision mit den Gesetzen
tizes
bv Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
196
Obersteiner und Stransky,
geraten ist. Die Eigentumsdelikte, die ihm zur Last liegen resp.
liegen sollen (eine Sache ist noch in Schwebe), lassen ihn von einer
weiteren Seite her moralisch defekt erscheinen. Am wichtigsten
aber sind, zumal für die Zwecke unserer Betrachtung, die Roheits¬
delikte, deren erstes in das Jahr 1897 fällt: gemeint ist die
Münchener Angelegenheit.
Ehe wir darauf näher eingehen, sehen wir uns zu einem kleinen
Exkurs genötigt. Wir erinnern uns nämlich, daß in dem ersten
der beiden J.er klinischen Gutachten expressis verbis eine Art
Zäsur zwischen der Persönlichkeit des V. vor dem Herbst 1898
und jener seither gemacht wird. In den September jenes Jahres
fällt bekanntlich das Schädeltrauma, das V. in seinem Heimats¬
orte erlitt. Nun ist es mit den Schädeltraumen des V. eine eigene
Sache: Sicher ist nur, daß er mehrere solche erlitten hat, weil
erstlich die an seinem Kopfe sichtbaren Narben Zeugenschaft da- ,
für ablegen (eines derselben, eben jenes, das er anfangs September
1898 in T. erlitt, ist ärztlich verifiziert). Welche von den ernsteren
Kopfverletzungen aber war die der Zeit nach erste? Diese Frage
ist bis dato ungelöst; denn Y. hat gelegentlich erzählt, daß er in
Landau, in Erfurt und anderwärts schon vorher schwere Kopf¬
verletzungen erlitten habe, darunter eine durch Sturz aus 4 Stock
Höhe; er hat aber anderemal wieder, speziell den Referenten der
Fakultät gegenüber, diese seine Angaben insofern entkräftet, als
er erst die T.er Kopfverletzung und nur diese als ernstlich und
von beträchtlichen Erscheinungen gefolgt gelten lassen wollte; was
aber hier interessiert, ist, daß das erste J.er Gutachten wesent¬
lich eben auf Grund dieser Angaben und der Angaben von V.s
Mutter — sie werden durch den Bericht des Arztes Dr. A. er¬
gänzt — anscheinend in den September 1898 das erste Auftreten
epileptischer Manifestationen bei V. verlegte, und diese Mani¬
festationen sollen ja eben gerade an das bewußte Schädeltrauma
unmittelbar angeschlossen haben; das zitierte Gutachten geht aber
noch einen Schritt weiter und spricht auch noch von einer epi¬
leptischen Charakterveränderung, die um jene Zeit etwa in Er¬
scheinung getreten sei; unter anderem wird als Indiz für eine
solche das damit synchrone Hervortreten von Gewalttätigkeits¬
delikten bei dem vorher nur auf andere Art kriminell gewordenen
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Lustmord eines moralisch defekten Sadisten nsw.
197
Ink. angesprochen. Hierzu darf aber wohl bemerkt werden, daß
das Münchener Roheitsdelikt, auf das wir noch später zu sprechen
kommen, schon in das Jahr 1897 — das Jahr vor dem in T.
beobachteten posttraumatischen ersten Anfall V.s — zurückdatiert
und darüber hinaus der schon besagte Leumund, der dem V. von
Schullehrer und Lehrmeister ausgestellt wird, es mindestens wahr¬
scheinlich macht, daß es nicht erst der Epilepsie bedurfte, um V.’s
Roheit und Reizbarkeit offenbar werden zu lassen; daß er bis in
sein 19. Lebensjahr keine aus der Strafliste ersichtliche Exze߬
strafe erlitten hat, ist gewiß kein Gegenargument, pflegen doch
die Ausschreitungen Jugendlicher vielfach etwas glimpflicher be¬
urteilt zu werden und nicht gleich zu ernsteren Maßregelungen zu
führen; nicht zu vergessen der bahnenden Wirkung des Alkohols,
die sich doch erst voll zu entfalten vermag, wenn mit erlangter
körperlicher Reife und größerer Selbständigkeit das konventionelle
Bürgerrecht im Wirtshausleben gewonnen ist.
Wir können uns sonach nicht entschließen, in den Exze߬
delikten, speziell denen in München und Wildungen (1897 und 1898),
die dem V. aktenmäßig zur Last liegen, mehr zu sehen, als den
Ausfluß seiner genuinen Roheit und Reizbarkeit, Eigenschaften,
denen freilich die durch den früheren Hang zu Alkoholexzessen
erzeugte Depravation wesentlich Sukkurs geleistet hat.
Das Münchener Delikt fesselt aber durch einen speziellen, wenn¬
gleich zunächst vielleicht unscheinbaren und bisher anscheinend
nicht beachteten Zug, der ihm anhaftet, noch unsere Aufmerksam¬
keit: Der Urteilsbegründung zufolge soll nämlich die unmittelbare
Veranlassungsursache jenes Raufhandels die gewesen sein, daß V.
ein Hausierweib, das leidende Arme hatte, durch Mißhandlung
derselben quälte. Dieser Roheitsakt des V. zeigt uns nun aber,
daß eine gewisse Freude an grausamem Tun mit zu seinem Cha¬
rakter gehört. Allerdings würde dieses eine Faktum an sich zu¬
nächst nur ganz im allgemeinen darauf hinweisen und nicht aus-
• schließen lassen, daß solohe grausame Triebe bei ihm nur ge-
, legentlich in trunkener Laune — spielte sich ja doch die da¬
malige Szene bei einem Zechgelage ab — zutage treten. Im
Zusammenhalte aber mit dem, was an V.’s Persönlichkeit in der
Folge offenbar ward, gewinnt die in Rede stehende Episode ein
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Original fro-m
U N rV E R SI-P3-QW4IC HIG A N
198
Obersteiner und Str&nsky,
markanteres Gesicht und darf vielleicht zunächst als ein Indizium
für das Vorhandensein sadistischer Impulse schon zu damaliger
Zeit angesprochen werden. So sehr wir aber gerade diesem da¬
maligen Vorfall aus den oben erwähnten Gründen Beachtung
schenken möchten, so wenig beweiskräftig erscheint in der an¬
gezogenen Richtung die hier in Wien spielende Episode, auf welche
im Zuge des schwebenden Verfahrens anscheinend ein gewisses
Gewicht gelegt wurde: Angeblich grundlose Mißhandlung eines
hiesigen Arbeitskameraden; denn es ist erwiesen, daß V. eine
psychologisch begreifbare Veranlassung gehabt hat, gegen den
Mann, der ihn selbst beinahe insultiert hatte, tätlich zu werden.
Wenn endlich ein früherer Wiener Quartiergeber des V. über
seinen rohen Ton Klage führt, so mag man dies als einen weiteren
Beweis für V.s Roheit ansehen. Freilich kommt noch ein weiteres
hinzu, was V. nach allem, was vorliegt, von Haus aus kennzeichnet:
seine Freude an prahlerischen Reden, seien diese auch brutalen
Inhaltes; die an ihm konstatierte und konstatierbare Lügen¬
haftigkeit wurzelt gewiß zum Teil in dieser ihm anhaftenden
Charaktereigentümlichkeit. In engerem Konnex damit steht aber
wohl auch ein anderer Zug, der sich bei V. mit der Zeit entwickelt
hat und namentlich in B. und gelegentlich seines zweiten J.er
Aufenthaltes in Erscheinung trat, der auch jetzt nicht ganz zu
verkennen ist; das Renommieren mit autodidaktisch erworbenen
Kenntnissen nach der geschmacklosen Art des Parvenüs, insonderheit
das groteske Protzen mit Fremdausdrücken, mit pseudowissen¬
schaftlichen und pseudosozialistischen Phrasen an unpassendem
Orte, eine Manier, die eine Zeitlang fast bis zur Schrulle aus¬
zuarten schien; weiter aber auch die Steigerung des Selbstgefühls,
die V. lange Zeit zur Schau trug; wir sagen zur Schau trug, denn
wir lernen den V. auf einer anderen Seite als einen Menschen
kennen, dem opportunistisches Sichanpassen keineswegs fremd ist:
hat er sich doch hier in Wien seinen Kollegen gegenüber im
ganzen als ein guter Kamerad gezeigt und sich auch den hiesigen 1
Ärzten gegenüber eigentlich angemessen und passend benommen. ^
Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß die saloppe Art, I
in der V. mit den Folgen seiner furchtbaren Delikte spielt, stntzig 1
machen und an ein extrem, vielleicht krankhaft gesteigertes Selbst- J
gefühl denken lassen könnte. I
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J
UMIVERSITY OF MICHIGAN j
Lastmord eines moralisch defekten Sadisten nsw.
199
Diese letzten Betrachtungen leiten hinüber zn Y.s intellek¬
tuellem Verhalten, dem wir einen Blick znwerfen müssen; daß V.
von gnter Intelligenz ist, wird von vielen Seiten übereinstimmend
angegeben. In seinem Gewerbe erscheint er anch, soweit es ihm
gepaßt hat zu arbeiten, gut qualifiziert. Man darf aber auch wohl
sagen, daß seine Bildung über den Durchschnitt seiner Kreise
hinausreicht, und wenn man bedenkt, daß dieser Mensch sich die
Ellemente dieser Bildung, z. B. französische Sprachkenntnisse, auto-
didaktisch soweit angeeignet hat, daß er selbst einem Arzte eine
Übersetzung zu arbeiten vermochte, wenn man weiter berücksichtigt,
daß Ausdruck und Stil das in seinem Milieu übliche Maß weit hinter
sich lassen, muß man sagen, nicht ohne Bedauern sagen, daß V.
ein geistig entschieden begabtes Individuum ist; wenn er damit
zu protzen liebt und mangels geschulten ästhetischen Sinnes ins
Geschmacklose und Manirierte gerät, so ist das, wie schon erwähnt,
mehr eine charakterologische Angelegenheit und involviert keinen
Hinweis auf eine intellektuelle Störung sensu strictiore; daß die
Eigenart des Charakters das Urteilen geradeso wie das Streben
stark beeinflußt, bedarf ja keiner weiteren Erörterung. Ganz gewiß
kann anch bei V. von einer erworbenen geistigen Schwäche nicht
die Rede sein, hat er doch gerade in den letzten Jahren seine
Kenntnisse erheblich erweitert und tüchtig gearbeitet. Notieren wir
uns hier noch, daß wir bei V. derzeit weder Wahnideen, noch
Hinweise auf Sinnestäuschungen, noch auch greifbare Gedächtnis¬
defekte gefunden haben. Von den vorübergehenden Episoden an¬
geblicher Psychose wird später die Rede sein.
Wir wissen bereits, daß V. mehrfache Schädeltraumen erlitten
hat, nur deren Zeitpunkt und Schwere wird verschieden angegeben,
eines ausgenommen; wir wissen aber weiter auch, daß V. schon
frühzeitig dem Alkohol stark zugesprochen hat; leider wissen wir
über seine Reaktion auf Alkohol ebensowenig Zuverlässiges, wie
Über die Folgeerscheinungen, die dieses Gift bei ihm erzeugt hat,
denn wir sind da auf seine eigenen Angaben angewiesen, die zu
verschiedenen Zeiten verschieden lauten; derzeit behauptet Ink.,
gewohnheitsmäßig nur Bier getrunken zu haben, früher allerdings
in beträchtlichem Ausmaße — Ink. ist Bayer! —; seit mehreren
Jahren will er temperent, das heißt mäßig leben. Über Intoleranz
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
200
Obersteiner und Stranskj,
erfahren wir nichts Präzises. Immerhin würde die Tatsache, daß
V. Traumatiker ist und mindestens früher Potator strenuus war,
genügen, es verständlich erscheinen zu lassen, daß V. das wurde,
als was er gilt, ein Epileptiker.
Ist er wirklich ein solcher? Liegen zwingende Beweise für
Epilepsie bei ihm vor?
Überblicken wir, was an Tatsachen über ihn vorliegt, so stoßen
wir auf den Umstand, daß V. bislang nur ein einzigesmal in einem
Anfall von einem Arzt gesehen worden ist und das war nach jenem
schon mehrfach erwähnten Raufhandel in T., in dem er die bewußte
Blessur davontrug. Die Beschreibung dieses Anfalles, wie sie aus
den Akten zu entnehmen ist, enthält zwar keine ausdrücklichen
Angaben über Krämpfe, Zungenbiß usw., erwähnt aber immerhin
von typischen Charakteristizis eines epileptischen Anfalls: Pupillen¬
starre, Empfindungslosigkeit; leider aber büßt diese Beschreibung
etwas an Beweiskraft ein, aus dem Grunde, weil V. damals nach
einer frischen Kopfverletzung zur Untersuchung kam, die er noch
dazu in alkoholisiertem Zustande erlitten hat; er konnte also sehr
wohl die Erscheinungen einer Commotio cerebri dargeboten haben.
War er doch noch am folgenden Morgen benommen, wie Dr. A.
erzählte. Man kann daher nicht sagen, V. habe damals wirklich
einen veritablen epileptischen Anfall erlitten.
Auf schwankender Grundlage steht auch, was über die
sonstigen Anfälle des V. wenigstens auf Grund der Akten bekannt
geworden ist. Bezüglich der Anfälle beim Militär ist nirgends ein
Hinweis darauf zu finden, daß ärztlicherseits solche beobachtet
worden waren, vielmehr erfahren wir, daß nur Mitsoldaten Zeugen
derselben waren, gewiß keine verläßlichen Beurteiler in der Frage:
echt oder falsch.. Die beiden Anfälle in J. sind anscheinend auch
nur von Wärtern beobachtet worden. Dagegen bietet die Be¬
schreibung des in H. beobachteten Anfalles soviel Anhaltspunkte,
daß man ihn ohne Zwang als einen epileptoiden (petit mal) Anfall
auffassen kann. Was sonst noch über epileptische Anfälle V.s
erzählt worden ist, sind teils eigene Angaben des V., teils Angaben
Angehöriger, also zwar subjektiv interessierter Zeugen, die aber
doch viele der klinischen Erfahrung entsprechende Einzelheiten
enthalten. Diesen Angaben steht allerdings V.s wiederholtes und
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Original from
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten nsw.
201
entschiedenes Ableugnen von Anfällen, die er für Simulation erklärt,
gegenüber; es ist aber zu bemerken, daß bei seinem krampfhaften
Bemühen, der Irrenanstalt zu entgehen, sein Leugnen nur mit
Vorsicht entgegenzunehmen ist. Zu anderen Zeiten hat er selbst
über seine epileptischen Anfälle Angaben gemacht, die unter¬
einander nichts weniger denn übereinstimmend sind. Bemerkens¬
wert ist, daß weder die langen Jahre hindurch in B. (wo Ink.
anfangs keineswegs alkoholabstinent gehalten ward), noch in Wien
Anfälle an ihm beobachtet werden konnten. Daß die dem V.
schon vom Hause aus eigene Reizbarkeit nicht als Beweis für
Epilepsie angesehen werden kann, wurde schon früher ausgeführt.
Alles in allem muß man sagen, daß das Vorkommen von
epileptischen Anfällen in früheren Jahren bei V. zugegeben, als
wahrscheinlich zugegeben, mindestens nicht ausgeschlossen werden
kann. Die Fähigkeit der Simulation epileptischer Anfälle, deren
er sich beschuldigt, ist dem V. zwar zuzutrauen, es wäre ja wirklich
möglich, daß er solche einmal zu sehen Gelegenheit gehabt hat
(worauf es ankommt, weiß er im großen so ziemlich), und daß
er in unbequemer oder gar kritischer Situation diese seine Kennt¬
nisse auch fruktifiziert haben konnte, doch ist nicht wahrscheinlich,
daß V. die beschriebenen Anfälle etwa durcbgehends simuliert
hätte. Sicher ist, daß nach 1902 an V. keine wie immer ge¬
arteten epileptischen Anfälle beobachtet wurden. Die Epilepsie
V.s, wenn sie bestanden hat, ist also seither zurückgetreten, ein
Verlauf, wie er besonders bei Degenerierten nicht selten beob¬
achtet wird.
Wir gelangen nun zur Erörterung des Sexuallebens bei V.
Da haben wir zunächst festzustellen, daß V. geschlechtlicher Be¬
tätigung in normaler Richtung nicht nur fähig ist, sondern daß
ihm sogar eine ziemlich hohe Appetenz darnach eignet. Sonach
ist der Schluß gerechtfertigt, daß auch sein sexuales Fühlen durch¬
aus imstande ist, sich in normalen Wegen zu halten. Diese
Feststellung würde nun aber natürlich der Annahme keineswegs
hindernd im Wege stehen, daß neben den normalen Geschlechts-
impnlsen, sei es dauernd, sei es nur zuzeiten oder in bestimmten
Zuständen, abnorme Regungen oder Impulse auftauchen, jene zeit¬
weilig sogar in den Hintergrund drängen können. Die ganze Vor-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
202
Obersteiner und Stransky,
gesciliohte V.’s weist nun mit unverkennbarer Deutlichkeit in der
Richtung der Annahme, daß es sich bei V. um Impulse sadistischer
Natur handele. Daß eine gewisse Freude an Grausamkeit in ihm
wurzelt und daß sie, sonst vielleicht latent, gerade unter Alkohol¬
einfluß manifest werden könnte, lehrt die bisher wenig beachtete,
von uns bereits erwähnte Münchener Episode; mag nun zwar auch
nichts darüber bekannt sein, ob V. damals bei Mißhandlung des
Weibes sexuelle Wollust empfunden hat oder nicht, so ist doch
das jedenfalls sicher, daß Sadisten nicht nur in sexualibus grausame
Neigungen häufig nicht fremd sind, so daß der besagte Vorfall
* mindestens als Indiz — als mehr wollen wir ihn ja nicht werten
— bezeichnet werden darf. Während der Untersuchung der Sache
Schi, hat V. behauptet, seine Frau gewürgt zu haben. Schwer¬
wiegender sind die Überfälle auf Frauenspersonen, die bei V. später
vorkamen (Fälle G. und Schi.), die er unter argen Mißhandlungen
und Bedrohungen zum Koitus zwingen wollte; auch der Fall Ku.
gehört als ein bedeutsames Beweismoment hieher, vorausgesetzt,
daß diese nicht sehr verläßliche Zeugin sich bei der Agnoszierung
nicht geirrt hat. Am allerschwerwiegendsten freilich sind die beiden
Mordtaten, die V. auf dem Gewissen hat, der Fall Ella P. in L. und
der gegenwärtige Fall Josefine P. Die so sorgfältige Leichenbeschau,
wie sie insbesondere im letzten Falle von den hiesigen Gerichts¬
ärzten vorgenommen worden ist, bezeugt zur Genüge, daß ein Lust¬
mord, kein Affektmord vorlag und daß angesichts des zum Teil
förmlich präparatorischen Charakters der auch noch postmortal
gesetzten Verwundungen an der Leiche und der Läsionen an ihren
Kleidern — die Ähnlichkeit der Ausführung in gewissen Belangen
in den Fällen Ella P. und Josefine P. ist eine auffällige — die
Annahme eines anderweitigen Tötungsmotives an Bedeutung ver¬
liert. Alles konvergiert dahin, daß es sich um einen Lustmord
handelt, und es erscheint uns eigentlich kaum noch notwendig zu
bedauern, daß nicht auch nach Spermaspuren in V.s Leibwäsche
gefahndet worden ist.
Es ist also sicher, daß dem V. sadistische Regungen inne¬
wohnen. Nun aber tritt an uns die sehr entscheidende Frage heran:
gehören sie seinem geistigen Habitualzustande, eventuell vom Hause
aus, an oder treten sie — wie das ja bekanntlich vorkommt — nur
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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
203
ab und zu, sei es mehr minder periodisch ans endogener, sei es
ans exogener Ursache, in specie nnter Alkoholisierung in Er¬
scheinung? Und wenn letzteres der Fall ist, welcher Art sind
diese Seelenzustände, ist insonderheit das Bewußtsein des’ V. darin
getrübt und handelt es sich in letzterem Falle um Dämmerzustände
speziell epileptischen Charakters, in denen ja sexuelle Impulse
abnormer Art nicht so ganz selten auftauchen?
Eine präzise Beantwortung der Frage, ob in V.s Bewußtsein
sadistische Regungen stets parat liegen, ist wohl nicht möglich;
wohl leugnet es V., allein seine Angaben, soweit sie nicht durch
Tatsachen kontrollierbar sind, können angesichts seiner erweislichen
Unaufrichtigkeit nur mit Mißtrauen entgegengenommen werden.
Ein klarer Einblick in sein Innenleben ist also in dieser Richtung
nicht möglich, und wir müssen es uns mit der Konstatierung der
Tatsache genügen lassen, daß sadistische Impulse bei ihm wieder¬
holt zutage getreten sind.
Lassen wir die einzelnen bekannt gewordenen Fakta Revue
passieren, so stoßen wir zuerst auf den Münchener Fall, und damals
stand V. sicher unter Alkoholwirkung; dann den Fall G., bezüglich
dessen V. bekanntlich leugnet, und da er damals nicht erwischt,
erst späterhin als Täter agnosziert wurde, wissen wir nichts über
seinen damaligen Zustand; folgt der Fall Schi.: Hier hat sich V.
zuerst hinter Erinnerungslosigkeit geflüchtet, in der Folge aber
bekanntlich eine ganz andere, man möchte sagen natürliche Dar¬
stellung des Falles gegeben. Nun ist Y. gewiß der letzte, dessen
Angaben Glauben zu schenken ist, anderseits aber erscheint es,
soweit heute retrospektiv über diese, Jahre zurückliegende, Sache
ein Urteil abgegeben werden kann, jedenfalls gewagt, auf V.s
damalige Behauptung einer Erinnerungslosigkeit den Beweis für
das Bestandenhaben eines Dämmerzustandes zur Zeit des damaligen
Deliktes aufzubauen, selbst zugegeben, daß Y.s Erinnerungslosigkeit
mit ihrer weiten Begrenzung und ihren Inseln der Erfahrung nicht
vollkommen widerspricht. Fazit: Die Frage nach dem Geistes¬
zustände Y.s zur Zeit des Faktums Schi, kann ehrlicherweise nur
mit einem „Non liquet“ beantwortet werden.
Bald hernach ereignete sich der Fall Ella P.: Welches war
damals der Geisteszustand Y.s? Die reichsdeutschen Psychiater
Zeitschrift Ar Psychiatrie. LUV. 2. 16
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
204
Obersteiner and Stransky,
«
haben diese Frage nahezu einstimmig dahin beantwortet, daß V.
sich damals in einem epileptischen Dämmerzustände befunden habe
oder doch — welche Eventualität das J.er Gutachten als eine
mögliche Alternative gelten läßt — in einem krankhaften Affekt¬
zustande, in dem er seine wilden Triebe nicht zu bezwingen ver¬
mochte, und der damit einem epileptischen Dämmerzustände gleich¬
wertete. Mit jener Reserve, die durch den Umstand geboten ist,
daß der Fall Ella P. jetzt nur mehr nach den Akten beurteilt
werden kann, läßt sich sagen, daß ein epileptischer Dämmerzustand
zur Zeit des Verbrechens nicht auszuschließen ist, wenn sich auch
manche Bedenken gegen die Annahme eines solchen aufdrängen.
V. ist der Simulation fähig, hatte damals allen Grund dazu und
hat anscheinend im Gefängnis in M. wirklich Geistesstörung
simuliert.
Faßt man dies alles zusammen, so muß man sagen, daß man
nach der Vorgeschichte des V. an dem Vorhandensein sadistischer
Impulse nicht zweifeln kann, aber nicht mit Bestimmtheit sagen
kann, ob sie bei ihm dauernd bestehen, oder nur zeitweise auftreten
und ob in letzterem Falle exogene Momente, insonderheit der Alko¬
hol, die Rolle des agent provocateur spielen oder nicht; für die
Annahme einer Periodizität im strengen Sinne fehlt jeder Beleg.
Ein bloß periodisches Auftreten soloher Impulse müßte man sich
ja vor allem als allerdings dominierendes Symptom einer periodi¬
schen Geistesstörung denken, nach den psychiatrischen Erfahrungen
vor allem einer epileptischen; von einer anders gearteten Geistes¬
störung zu reden, gar von einer periodisch auftretenden, fehlt jeder
Anhaltspunkt, denn nur in der Zeit der Untersuchung in M. (und
in der kurz daran schließenden Zeit) hat V. Wahnbildungen, Sinnes¬
täuschungen, motorische und affektive Störungen von sensu strictiore
psychotischer Höhe gezeigt, die aber nach dem früher Gesagten
simuliert scheinen. Gleich in diesem Zusammenhang ist daran zu
erinnern, daß er auch in der Zeit der jetzigen Strafuntersuchung
hier in Wien keinerlei im engeren Sinne psychotische Züge dar¬
geboten hat, vielmehr bis auf die gewissen charakterologischen
Eigentümlichkeiten vollkommen frei erschienen ist. Es bleibt dem¬
nach nur noch die Annahme eines endogenen periodischen Auf¬
tretens sexueller krankhafter Impulse ohne weitere psychotische
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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
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Beimengung zu erörtern, speziell mit Rücksicht auf die in Ver¬
handlung stehende Straftat.
Es ist also nach allem trotz des großen Reichtums an Daten
eine hinsichtlich ihrer kritischen Verwertbarkeit großenteils sehr
schwanke anamnestische Grundlage, auf der fußend nun an die
Beantwortung der letzten und entscheidendsten Frage herangetreten
werden muß: Der Frage nach dem Geisteszustand V.s zur Zeit
des jetzigen Deliktes. Gleichwohl dürfte es bei präziser Frage¬
stellung gelingen, wenigstens einen Teil des schwierigen Komplexes
▼on Fragen zu lösen. Das Vorleben V.s wurde ja in erschöpfender
Weise diskutiert, und es ist kaum nötig, noch hinzuzufügen, daß
sich auch für die letzte Zeit vor dem Delikte nichts, was auf das
Bestehen einer veritablen, sei es dauernden, sei es vorübergehenden
psychotischen Störung hinwiese, ergeben hat; auch nichts, was
auf eine Periode abnorm hoher oder sonst abnormer geschlechtlicher
Erregung an ihm hingewiesen hätte. Ein Mädchenjäger war er
ja seinem Leumunde nach immer, und auch bis in die letzte Zeit
hatte er hier in Wien vielfache, aber ganz normale Sexual¬
beziehungen. Die Aussage der Ku. gestattet, wie bekannt, keine
völlig eindeutige Wertung; und mit der ihm in den Mund gelegten
Geschichte von dem mit Nägeln zusammengesteckten Weiberrock,
mit der V. angeblich im Kameradenkreis geprotzt haben soll, läßt
sich doch eigentlich gar nichts Rechtes anfangen. Man hätte dem¬
nach das Augenmerk so gut wie ausschließlich dem kritischen
Zeitabschnitte im engsten Sinne zuzuwenden.
V. hat am Nachmittage vor der kritischen Nacht wie gewöhnlich
gearbeitet; er ist am Abend zuletzt gegen 10 Uhr im Lokale
seiner Organisation, wo er sich pünktlich zwecks Leistung seines
Wochenbeitrages eingefunden hat, gesehen worden. Von irgend¬
einer Störung, die an ihm da oder dort bemerkt worden wäre,
hören wir nichts. Seine Angabe, daß er an dem Abend mit der
L., seiner Geliebten, ein von dieser nicht eingehaltenes Stelldichein
hätte haben sollen, ist ganz richtig, d. h. durch die Aussage des
Mädchens verifiziert; also ist, da V. sich dessen erinnert und dar¬
über spontan und in logischer Entwicklung erzählt hat, wohl nicht
anzunehmen, daß schon an jenem Abende sein Bewußtsein in
greifbarem Maße getrübt gewesen wäre. Er hat dann in vollkommen
16 *
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Obersteiner und Stransky,
kontinuierlicher Ordnung erzählt, was er weiter an jenem Abende
und in jener Nacht unternommen hat, daß er noch mehrere Schank¬
lokale besuchte, am Praterstern, im Prater, in Erdberg, fiberall
Alkoholika konsumierend, in Gesellschaft von Zechgenossen; leider
sind diese nicht eruiert worden, so daß Zeugenaussagen fiber sein
damaliges Verhalten nicht vorliegen; nur aus seinem eigenen Munde
wissen wir, daß er keineswegs berauscht war, als er in früher
Morgenstunde an der Schlachthausbrficke von seinen Gefährten sich
trennte. Immerhin dürfen wir wohl das eine feststellen, daß seine
Erzählungen über das, was bis dahin sich abspielte, noch keinen
absonderlichen oder unglaubwürdigen Charakter an sich tragen.
Weniger eindeutig liegen wohl die Dinge von dem Momente
an, wo seiner Schilderung nach, auf die wir für die Begebnisse
des wichtigsten Zeitabschnittes leider allein angewiesen sind, die
unglückliche Josefine P. in seinen Gesichtskreis trat: Es war auf
den Wiesengründen nächst der Schlachthausbrücke, wo auf V. die
gewisse Schattengestalt zukam, die sich bald als ein Schutz und
noch mehr suchendes Mädchen entpuppt haben soll; V. gibt weiter
an, daß er sich im Dunkel der Nacht vor dem gespenstischen
Schatten eine Weile gefürchtet habe; es ist fraglich, ob er, der
Hüne, Grund hatte, das schwächliche Mädchen ernstlich zu fürchten,
zumal die Angst vor einem in der Nähe lauernden Zuhälter doch
schon dadurch gegenstandslos werden konnte, daß ihm das Mädchen,
wie er erzählt, quer durch den ganzen unteren Prater mi t seinen
weiten, offenen Wiesengründen bis zum Handelskai (Donauufer)
gefolgt sein soll, ohne daß ein solcher geheimer Beschützer sicht¬
bar geworden ist. Doch folgen wir seiner Erzählung weiter: Das
Mädchen wird ihm gegenüber geradezu unerhört zudringlich, V.
jedoch, der keine Geschlechtslust verspürt haben will, weist sie
barsch ab; man müßte jetzt, da die P. zwar allerdings Prostituierte
war, doch als eine ruhige Person, nicht etwa als eine freche Dirne
beleumundet wird, meinen, daß ein energischer Laufpaß, den sie
von einem Manne von der Statur des V. erhalten hätte, reichlich
genügt haben müßte, sie in die Flucht zu jagen; indes will sich
V. ihrer förmlich nicht haben erwehren können; das kling t wieder
nicht so recht wahrscheinlich, zumal angesichts der Tatsache, daß
die P. nach Statur und Körperkraft an V. nicht entfernt herangereicht
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
207
hat. Ein Ähnliches gilt von der Geschichte bezfiglioh der schier
erdrückenden Umarmung durch das Mädchen und von dem Küchen-
messer in ihrer Rocktasche; schließlich darf aber auch gesagt
werden, daß die Art, wie V. seine Bluttat motivieren möchte —
nacheinander hätten drei verschiedene Affekte (Furcht, Ekel, Zorn)
sein Vorgehen determiniert, demnach ein recht kompliziertes Affekt¬
delikt vorläge —, daß diese ganz sonderbare Konstellation von
Motiven für eine so furchtbare Bluttat nicht eben plausibel sich
ausnimmt; denn wie ließen sich alle die so sehr, eindeutig auf
einen Lustmord hinweisenden Verletzungen an der Leiche und
Zusammenhangstrennungen an ihren Kleiderstücken — in vielen
Stücken dem Befunde an der Ella P. so sehr ähnlich — auf solche
Weise erklären, wie es V. glauben machen will?
Es liegt also auf der Hand, daß dieser Teil seiner Darstellung,
der sich mit der Exposition und der Ausführung der Tat befaßt,
nicht wenig an innerlicher Unwahrscheinlichkeit an sich trägt.
Nun stehen wir vor der Alternative: Liegt hier vielleicht eine
bewußt erlogene Darstellung seitens des V. vor? Oder handelt
es sich um Konfabulationen, durch die Erinnerungslücken ausgefüllt
werden? Welch letztere Eventualität ja die Annahme eines Zu¬
standes von Bewußtseinstrübung zur Zeit der Tat in sich schließen
würde.
Mangels des Vorhandenseins von Tatzeugen bleibt nichts übrig,
als der Weg der Rekonstruktion. Im allgemeinen müßte man gewiß
die Möglichkeit zulassen, daß jemand einen Dämmerzustand durch¬
macht und hinterher die durch ihn gesetzte Erinnerungseinbuße,
sei diese nun komplet oder nicht, durch Konfabulationen ausfüllt,
die sogar mehr oder minder den Tatsachen nahekommen können,
zumal wenn ihm etwa durch gemachte Vorhalte — und auch dem
V. sind solche bekanntlich beim Polizeiverhör gemacht worden,
ehe er gestand — Material dazu dargeboten wird; allein es fällt
auf, daß V.s Darstellung bezüglich der Vorgeschichte und der
\ Motive der Mordtat zwar in kleinen Details schwankend, im übrigen
\ aber in den Hauptzügen durchaus in sich geschlossen ist, nirgends
* eine Lücke aufweist und fließend von jenem Momente, wo er, in
keiner Weise auffällig, zuletzt gesehen worden ist (Organisations¬
lokal gegen 10 Uhr abends), bis zu jenem hinüberleitet, wo er
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Obersteiner und Stransky,
wieder mit ernierbaren Zeugen zusammentraf (um 7 Uhr morgens
in einem Wäscheladen) und nur erhitzt, aber sonst wieder nicht
auffällig aussah; schon das stimmte nicht ganz zu der Annahme
bloßer Konfabulation, die ja, zumal es sich um einen gewiß kom¬
plizierten Tatbestand handelte, doch viel schwankender und da
und dort zusammenhangloser erscheinen müßte. Weiter ist auf¬
fällig, daß V. vom Anbeginn zuerst mit ganz gewöhnlichem
Leugnen es versucht hat und zwar in einer Weise, die in nichts
auf eine damals etwa noch bestehende Bewußtseinstrübung hin-
weisen würde, dann aber über eindringliches Zureden seitens des
Polizeiorganes zu einem Geständnis der Tat als solcher kam und
dabei in der Hauptsache gleich die nämliche geschlossene Dar¬
stellung brachte, wie später beim Gerichtsverhör, vor den Gerichts-
psychiatem, endlich vor den Referenten der Fakultät; sehr fällt
aber schließlich, wie schon im Gerichtsgutachten ganz richtig hervor¬
gehoben wird, ins Gewicht, daß V. bei seiner Schilderung der
Hergänge Dinge reproduziert, die durchaus den Tatsachen ent¬
sprechen, die ihm jedoch wegen ihrer Belanglosigkeit, aber auch
aus zeitlichen Gründen wohl kaum von irgendwem vorgehalten
bezw. suggeriert worden sein konnten; so stimmt es zu der An¬
nahme der Gerichtsanatomen, daß er den ersten Stich in den
Rücken geführt hat, was er vom Polizeifunktionär, der es ja selbst
nicht wissen konnte, wohl nicht erfahren hat; so stimmt es weiter,
daß er die Leiche aus dem Kassahäuschen ins nahe Gebüsch ge¬
schafft haben muß, denn auf diesen Weg wiesen die Vorgefundenen
Blutspuren am Schauplatz der Tat, des Fundes der Leiche und
der Umgebung; endlich hat er entsprechend erzählt, daß er Kleider¬
fetzen der Leiche in der Umgebung weggeworfen hat, und solche
sind denn auch tatsächlich dort gefunden worden. Selbst wenn
man sich nun vor Augen hält, daß es auch im Rahmen von
Amnesien nach echten Dämmerepisoden Erinnerungsinseln gibt,
muß man doch sagen, daß ein so verschiedenartige und zeitlich
so sehr auseinanderliegende Momente betreffendes Detailgedächtnis
wie im konkreten Falle gegen die Annahme einer greifbaren
Bewußtseinstrübung und damit eines Dämmerzustandes zur kriti¬
schen Zeit sohwer in die Wagschale fällt. Umgekehrt aber fehlt
für die Annahme eines solchen jeglicher strikter Beweis. Denn
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
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so furchtbar und grauenhaft die Tat auch ist, so ist sie ja damit
noch nicht als Symptomhandlnng einer Dämmerepisode deter¬
miniert. Wenn es ja auch denkbar ist nnd hier zugegeben wird,
daß V. an Epilepsie gelitten haben mag, bewiesen ist damit noch
nicht, daß seine Lustmorde, in specie der jetzige gerade in
epileptischen Dämmerzuständen unternommen sind; daß V. in der
kritischen Nacht einen Krampfanfall erlitten hat, dafür fehlt jeder
Anhaltspunkt.
Zum Schluß noch eine kurze Erwägung: Da V. ein Lügner
ex professo ist, da er gezeigt hat, daß er auch imstande ist, ein
Risiko einzugehen, wenn er von einem für ihn subjektiv besonders
gefühlsmächtigen Ideenkreis beherrscht wird (wir erinnern daran,
daß er den Staatsanwalt zu Hilfe rief, um ja nur den ihm lästigen
Anstaltszwang loszuwerden), nnd da er vielleicht auch jetzt nichts
so sehr fürchtet, als eine unabsehbar lange Irrenanstaltsintemienmg:
wäre es da nicht möglich, daß er sich absichtlich belastet? Dar¬
auf ist zu antworten, daß V. bekanntlich über sein Geschlechts¬
leben nur wenig gern etwas preisgibt; und daß er speziell über
seine sadistischen Impulse nicht gern etwas spräche und, um sie
zu verschleiern, lieber zu unmöglichen Ausreden griffe, wäre durch¬
aus begreiflich. Auf andere, aus dem Kreise der rein psychiatrischen
Erwägungen herausfallende Erklärungsmöglichkeiten wollen wir uns
natürlich nicht einlassen. Überflüssig aber zu bemerken, daß für '
die Annahme einer melancholischen, hysterischen, katatonischen,
paranoischen oder sonstwie gearteten Geistesstörung, auf deren
Grundlage krankhafte Selbstanklagen erwachsen, kein Anhalts¬
punkt besteht. Denken könnte man ja angesichts des Umstandes,
daß gegen V. abgesehen von seinem Geständnisse ja nur ein In¬
dizienbeweis vorliegt, vorübergehend auch an solche Eventualitäten:
doch brachten die Tatsachen diesen Gedanken rasch wieder zu Falle.
Die gefertigte Fakultät faßt demnach ihr Gutachten völlig kon¬
form dem von uns erstatteten Referate wie folgt zusammen:
1. Christian V. ist ein von Hause aus degeneriertes,
vorwiegend ethisch defektes Individuum mit einer
besonderen Neigung zu Gewalttätigkeiten;
2. es ist sicher, daß bei ihm sadistische Impulse be¬
stehen; ob sie immer, oder ob sie nur zeitweise,
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Obersteiner und Stransky,
insbesondere unter dem Einflüsse des Alkohols vor¬
handen sind, läßt sich nicht sicher sagen;
3. es ist wahrscheinlich, daß V. an epileptischen An¬
fällen litt; in den letztep Jahren sind keine epilepti¬
schen Anfälle beobachtet worden, auch lassen sich
unzweifelhafte epileptische Charakterzüge an Y.
nicht feststellen;
4. überhaupt sind derzeit an Y. keinerlei Züge zutage
getreten, die auf eine über den Rahmen der Degene¬
ration hinausgehende psychische Anomalie oder
Krankheit hinweisen würden;
5. Ein Zustand greifbarer Trübung des Bewußtseins bei
Y. während derZeit, in welche der Mord an der Jose¬
fine P. fällt, ist nicht nachweislich;
6. Wenn als wahr angenommen wird, daß Y. zu jener
Zeit unter Alkoholwirkung stand, so konnte durch
diese, auch wenn es sich nur um eine leichte Alkoho¬
lisierung handelte, die geschlechtliche Erregbarkeit
und Affekterregbarkeit im allgemeinen gesteigert
worden sein.
Katamnese des Falles (an Hand des Strafaktes und der
Berichte aus der Strafanstalt). Am 20. und 21. Oktober 1911
fand vor dem Wiener Schwurgerichte gegen Christian V. (nach¬
träglich war noch daktyloskopisch ein Handabdruck von ihm auf
einem Schürzenteil der Ermordeten festgestellt worden) nach er¬
hobener Anklage wegen Mordes die Hauptverhandlung statt.
Bei dieser gab V. zu seiner Verantwortung nnter anderem
noch folgende Einzelheiten an: er habe seine epileptischen Anfälle,
wie er nunmehr ausführte, nicht simuliert(l); die in München
erlittene Strafe bezeichnete er als zu Unrecht verhängt; gegen die
Psychiater äußerte er lebhaftes Mißtrauen zu hegen, sie bauten,
meinte er, aus einer kleinen Sache ein großes Gebäude auf, ließen
z. B. jetzt den Sadismus auf marschieren; die Ermordete habe ein
„mannhaftes“ Auftreten gehabt, er habe sie darum für einen ver¬
kleideten Mann gehalten (I); er habe geglaubt, sie führe Böses im
Schilde; er habe, meinte er, nur einen Totschlag, keinen Mord
verübt; er habe nach dem ersten Stich aus Wut noch weiter auf
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Lastmord eines moralisch defekten Sadisten nsw.
211
die P. losgestochen, wiewohl er sie da bereits für tot (!) gehalten
habe; V. betonte nochmals seinen körperlichen Erankheitsznstand
zur kritischen Zeit, daher er damals der Josefine P. gegenüber
physisch nicht so stark gewesen wäre.
Auch einige der mündlichen Zeugenaussagen bei der Haupt-
verhandlung bedürfen hier noch besonderer Erwähnung. So agnos¬
zierte die K. den Beschuldigten mit Bestimmtheit. Ein anderer
Zeuge, Kn., der Geliebte der ermordeten Josefine P., gab über
deren Charakter noch an, sie sei ein leichtsinniges, aber gutmütiges,
keineswegs gewalttätiges Mädchen gewesen und habe ein Messer
nicht besessen. Zeuge Ko.., ein Arbeitsgenosse des V., schilderte
ihn als sehr rabiat, sobald er in Zorn versetzt worden sei, bestätigte
aber auch, daß V. geschlechtskrank und derart matt war, daß er
sich gelegentlich während der Arbeit hinlegen mußte. Der Polizei¬
kommissär W. räumte ein, bei seinem Verhöre V. gegenüber die
Worte gebraucht zu haben: „Ich bin überzeugt, Sie sind der Täter.
Geben Sie mir die Genugtuung, daß Sie mir die Tat zuerst ein¬
gestanden haben/ Schließlich wiederholte eine vielberufene Zeugin,
die Prostituierte Kn.., im wesentlichen ihre früheren Angaben (siehe
oben); sie erzählte, daß sie am 19. 9. 1911 ans der Irrenanstalt
entlassen worden sei; der bei der Verhandlung anwesende Gerichts¬
psychiater Privat-Dozent Dr. Elzholz berichtete, er habe die Zeugin
etliche Monate nach ihrer Abgabe an die Irrenanstalt untersucht
und damals als intellektuell geschädigte Trinkerin befunden; der¬
malen finde er sie, dank der länger dauernden Abstinenz in der
Anstalt, gebessert, sie habe keine Tremores mehr, ihr Gedächtnis
scheine jetzt gut. V. beharrte dabei, die Kn. nicht zu kennen.
Das Urteil lautete auf schuldig, im Sinne der Anklage
auf gemeinen Mord; die Bejahung der Schuldfrage erfolgte ein¬
stimmig, die Ablehnung der Zusatzfrage auf Verübung der Tat
im Zustande abwechselnder Sinnenverrückung mit zehn (gegen
zwei) Stimmen. Demgemäß erfolgte die Verurteilung des V. zum
Tode, welcher späterhin dann die Begnadigung zur Strafe
des lebenslänglichen Kerkers, verschärft mit Dunkelhaft an
jedem Jahrestage der Tat, folgte.
Von Interesse ist noch das Verhalten des V. vor und nach
der Verurteilung. Nach Schluß des Beweisverfahrens erklärte V.
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0 bersteiner und Stransky,
gegenüber dem Gerichtshöfe: »Ich habe meinen Zweck erreicht.
Ich habe mich dem Irrenhanse entzogen. Ich gebe zu, daß ich
krank war. Ich bin mit dem Beweisverfahren zufrieden.“ Nach
der Urteilsverkündignng äußerte er sich wörtlich zum Gerichtshöfe:
»Ich bin mit dem Urteil zufrieden, wenn ich auch gestehen muß,
daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben (!). Besser im Strafhause,
als im Irrenhause!“ In einem Schreiben an den Vorsitzenden
de dato 8. XI. 1911 verlangt dann V. seine Habseligkeiten und
erkundigt sich, weswegen ihn eigentlich das Gericht in Lindau
verfolge.
V. ward nach Verwerfung der Nichtigkeitsbeschwerde des
Verteidigers und erfolgter Begnadigung am 2. HI. 1912 der k. k.
Strafanstalt zu Garsten (Ob.-Ö.) überstellt, wo er bis dato (Ostern
1918) seine Strafe verbüßt. Über sein Verhalten in der Strafanstalt
liegt ein vom dortigen Anstaltsarzte — dem wir hiefür freundlichst
danken — erstatteter, durch Vermittlung des medizinischen
Dekanates der k. k. Universität in Wien eingeholter Bericht de
dato 18. H. 1. J. vor. Derselbe lautet: „Der Sträfling V. Christian
ist körperlich gesund und geistig völlig normal und ist sich
seiner Handlungsweise vollkommen bewußt. Wahnideen, sowie
Sinnestäuschungen konnten an ihm nicht beobachtet werden, sowie
auch epileptische Anfälle bei ihm während der Strafzeit
niemals festgestellt werden konnten“ (von den Verfassern
gesperrt).
Laut Bericht der Strafanstaltsdirektion, für den wir gleichfalls
freundlichst danken (eingeholt auf dem nämlichen Wege) hat V.
aus der Anstalt an einen Schüler HaecJcete ein Schreiben gerichtet,
dessen abschriftlichen Inhalt wir im folgenden wörtlich wiedergeben:
„Im Gedenken des 16 . d. M. vor Allem meine Liebe und Verehrung
dem Meister und seinem bedeutendsten Schüler.
Verzeihen Sie hochgeehrter und nichtbekannter Herr, wenn ich
mich an Sie mit einer Bitte wende, aber sie entspriest einem aufrichtigem
Gefühle, dem Glauben an die Güte gewisser Menschenkreise, von denen
schon unvergängliche Zeit und Raum überwundene Wohltaten ausge¬
gangen sind.
Ich will Ihnen keine Biographie machen, mein Lebensweg hat nichts
Besonderes an sich.
Von Natur durch die Geburt mit gutem Rüstzeug ausgestattet,
aber arm und liebende Eltern nicht gekannt, nur Objekt des Egoismus
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Lustmord eines moralisch defekten Sadisten usw.
213
blieb mir das versagt, was mich zum wirklichen Menschen hatte machen *
können.
Erziehung und Bildung.
So bin ich als halbes Tier durch das Leben gegangen und schließlich
an diesem trostlosen Orte angelangt.
Meine Heimat ist nicht weit von Jena, dort am Rennstieg, auf
bayrisch-sachsen-meiningischer Grenze.
Ich bin 40 Jahre alt, bereits 8 Jahre hier und nach menschlichem
Machtspruche für dauernd.
Aber dieses Leben hat, so paradox es auch scheint, nicht blos Un¬
angenehmes, denn durch dieses Ausgestoßensein, diese Isoliertheit zum
Denken gezwungen, angeregt durch die wohltuende Bekanntschaft großer
Geister, welche auch für mich gelebt haben, erwachte ich allmählig aus
einem Traumzustande.
Der Gegenstand meiner Bitte ist, sehr geehrter Herr, mir des hoch¬
verehrten Meisters „Anthropogenie“ zu schenken.
Vielleicht haben Sie ein älteres Exemplar und dann kann ich mir
kaum denken, daß ein wenig Freude, wahres Glück vom Gelde abhängen
soll — Sie werden durch Ihre Güte einen großen Stein zu einem Rohbau
beitragen.
Mein kindliches Vertrauen auf das Motto: „Sei edel, hilfreich und
gut“ gibt meiner Hoffnung Nahrung
dankbaren Herzens bin ich Ihr
ergebenster
Christian V.“
Schlußwort. Den Fall V., der s. Z. in Wien viel Aufsehn
erregte, hat bereits Rechtsanwalt Türkei im Großschen Archiv
1913 besprochen nnd dabei anch Teile des vorstehenden Fakultäts-
gutachtens angeführt. Dessen vollständige Veröffentlichung ist
jedoch durch die Besonderheiten des in jeder Hinsicht bemerkens¬
werten Falles um so mehr gerechtfertigt, als ihn Türkei vorwiegend
vom kriminalistischen Gesichtspunkte aus betrachtet.
Was zur klinischen Epikrise zu sagen war, scheint aus dem
Referate der Gefertigten, welches von der Wiener medizinischen
Fakultät zu ihrem Gutachten erhoben worden ist, so klar und
eindeutig auf, daß es wohl eines weiteren Beisatzes nicht mehr
bedarf.
Daß die von den Gefertigten vertretene Auffassung des Falles
anch durch seine Katamnese erneut bestätigt worden ist, sei
hier nochmals hervorgehoben.
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Fieber und Psychosen.
Von
Dr. Harald Siebert,
Nervenarzt und leitender Arzt der psychiatrischen Abteilung des Stadt¬
krankenhauses in Libau.
Langjährige systematische Untersuchungen über den Einfluß
des Fiebers bezw. infektiöser Prozesse auf den Verlauf von
Psychosen gaben mir besondere Hinweise darauf, meine Auf¬
merksamkeit während epidemisch auftretender Ruhr- und Typhus¬
erkrankungen in der von mir geleiteten psychiatrischen Abteilung
auf die Reaktionsformen der Seelenstörungen gegenüber solchen
körperlichen Leiden zu richten. Der Frage, wie weit fieberhafte
Prozesse akuter infektiöser Krankheiten, sowie künstlich durch
Tuberkulin bezw. andere toxische Stoffe hervorgerufene Temperatur¬
steigerungen auf die progressive Paralyse einen kurativen Effekt
auszuüben in der Lage sind, bin ich bereits in einer Reihe von
ausführlichen Abhandlungen nähergetreten 1 ). Das Ergebnis der
letztgenannten, an einem beträchtlichen Material studierten Aus¬
führungen gipfelt in der Erkenntnis, daß immerhin nur ein kleiner
Teil von Paralysen — anscheinend wohl infolge einer endogenen
Veranlagung — durch Hyperpyrese und die eventuelle gleichzeitige
Verwendung antiluischer Mittel im Sinne der Heilung beeinflußt
werden kann: „Die Neigung zu Besserungsschüben schlummert
sicher in allen durch eine Fieberkur gut beeinflußten Fällen von
a ) H. Sieben, Heilbestrebungen in der modernen Psychiatrie. Prot,
des II. Kurl. Ärztetages. — Ders., Über den Einfluß des Fiebers auf den
Verlauf von Geistesstörungen. Ptbg. med. Wschr. 1911, H. 40. — Ders.,
Über progressive Paralyse. Ptbg. med. Ztschr. 1914, H. 2. — Ders., Über
die TuberkuÜnbehandlung der Paralyse Mtschr. f. Psych. u. NeuroL
1916, H. 4.
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Fieber and Psychosen.
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progressiver Paralyse, das Fieber aber gibt den Anstoß zur Re¬
mission.“ Es ist mir anch in der Tat nicht unverständlich, daß
solch eine Heilprozedur gerade in der Behandlung der progressiven
Paralyse — einem immerhin anatomisch begründeten Gehirn-
leiden — gute Erfolge zeitigen kann; ich stelle mir diese Um¬
wälzungen etwa derart vor, daß in den Fällen, in welchen eine
tiefe, der „Heilung“ gleichende Remission einsetzt, der krankhafte
Prozeß noch keine Zerstörung der Ganglienzellen verursacht hat,
vielleicht sogar, daß lediglich dort verankerte Spirochäten durch
vorläufige Nahwirkung eine Dysfunktion dieser Elemente hervor-
rufen; durch das Fieber bezw. den anaphylaktischen Zustand tritt
eine Veränderung der vasomotorischen Verhältnisse einerseits, der
Blut- und Lymphbeschaffenheit andererseits ein. Diese neuen
Bedingungen können auf die Trophik der Hirnzellen einen günstigen
Einfl uß ausüben, gleichzeitig wäre an die Möglichkeit zu denken,
daß sie wenigstens einen Teil der vorher therapeutisch nicht
erreichbaren Spirochäten mobilisieren und hierdurch der Behandlung
mit unseren antisyphilitischen Mitteln (Quecksilber, Jod, Arsenate)
zugänglich machen. Zu erwähnen wäre dabei auch noch die
direkte Einwirkung vieler fieberhafter Prozesse auf die syphi¬
litische Infektion überhaupt, auf welche von der Wiener Schule
hingewiesen wird 1 ).
Die hier niedergelegten und niederzulegenden An¬
schauungen sind jedenfalls nichts mehr als gänzlich Hypotheti¬
sche Reflexionen; ob sie tatsächlich auch dem pathologisch¬
biologischen Vorgang entsprechen, läßt sich nach dem heutigen
Stande unserer Kenntnisse nicht sagen, die psychiatrische Literatur,
welche diesen Fragen nähergetreten ist, hat keineswegs irgend
eindeutige Antworten erbringen können. Ich habe die dies¬
bezüglichen Arbeiten bereits in einer früheren Abhandlung erwähnt
und will daher bezüglich der Literatur nichts hinzufügen; die An¬
sichten über diese Fragen lassen sich so formulieren, daß neben
wenigen Versuchen, die Beeinflussung der Geistesstörungen durch
die fieberhaften Vorgänge auf rein psychologischem Wege zu er¬
klären, bald die Veränderung der Zirkulationsverhältnisse, bald
*) B. Müller, Psych.-neuroL Wschr. 4917/18, Heft 1 u. 2.
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216
Siebert,
die Phagozytose, bald das Fieber lediglich als solches zur Deutung
der Erscheinungen herangezogen worden sind. Abgesehen von
einzelnen, besonders in Irrenanstalten vorkommenden, fieberhaften
Infektionen, bin ich durch eine Reihe von Epidemien, welche
meine Abteilung im Laufe der Jahre heimgesucht, in die Lage
versetzt worden, den Einfluß des Fiebers auf den Verlauf von
Psychosen zu studieren. 1916 hatte ich eine Ruhrepidemie
in der Anstalt, Aber welche bereits eingehend berichtet worden
ist 1 ), unter 16 Erkrankungen an Dysenterie besserte sich lediglich
ein Paralytiker, anscheinend beeinflußt durch anhaltende holte
Temperaturen. Beachtenswert erscheint dabei jedenfalls, daß sechs
Monate vor dem Ruhranfall eine Tuberkulinkur bei ihm gänzlich
versagte, — sichtlich ein in dem Sinne zu bewertendes Moment,
daß hier anfänglich die zum Auslösen der Remission erforderlichen
Bedingungen nicht gegeben waren. Hingegen trat bei zwei weib¬
lichen melancholischen Kranken scheinbar unter dem Einfluß des
fieberhaften dysenteritischen Prozesses eine evidente Verschlimme¬
rung ein, zudem bei der einen Kranken in einem Zeitpunkt, wo
man eigentlich schon von einer Wiederherstellung der Gesundheit
im klinischen Sinne sprechen konnte. — 1917 trat im Spät¬
herbst eine Typhusepidemie in der Abteilung auf, an der, außer
einzelnen Gliedern des Pflegepersonals, wiederum sukzessive 10
Patienten erkrankten. Leider machte die Beschaffung des Typhus¬
schutzserums Schwierigkeiten und wurde die Impfung dadurch
um einige Tage verzögert, so daß dieser Umstand eigentlich die
großen Dimensionen mitbedingte, welche die Verbreitung annahm,
denn in der Tat schwanden mit dem Moment der Immunisierung
durch den Sohutzstoff alle weiteren Erkrankungen. Die an
Typhus erkrankten Paralytiker und an affektiven Störungen
leidenden Personen wurden durch die Infektion im Sinne der
Wiederherstellung ihrer geistigen Gesundheit Oberhaupt nicht be¬
einflußt, während in einem weiter unten zu beschreibenden Fall
schizophrener Psychose eine Oberaus beachtenswerte Ver¬
änderung festzustellen war. — 1918 im Juni traten ausschließlich
in der extrem überfüllten Frauenabteilung epidemisch 12 Fälle
*) Psych.-neurol Wschr. 1917/18. H. 3/4.
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Fieber und Psychosen.
217
einer influenzaähnlichen Erkrankung auf (bakteriologische
Untersuchung mußte leider aus ^äußeren Gründen unterbleiben).
Es dürfte sich dabei jedenfalls um die gleichzeitig in der Stadt
herrschende „spanische Grippe“ gehandelt haben. Von dieser
Epidemie sei gesagt, daß in keinem einzigen Fall eine Beeinflussung
der Psychosen durch dieselbe wahrgenommen werden konnte.
Tatsächlich war der Verlauf der Störung im Sinne der inneren
Medizin ohne wesentliche Komplikationen vor sich gegangen, doch
sprachen das hohe Fieber bis 40° und mehr, die relativ lange
Dauer der Grippe bis zu 12 Tagen und endlich das anhaltende
Gefühl von Erschöpfung nach Uberstehen der Attacke in dem
Sinne, daß jedenfalls eine heftige Toxineinwirkung im Spiele
sein müsse.
Die schizophrene Psychose, deren Verlauf durch den Typhus
abdominalis beeinflußt wurde, kann in folgendem in ihren all¬
gemeinen Umrissen geschildert werden.
Moses D., jüdischer Nationalität, wurde im Alter von 21 Jahren
im November 1913 erstmadig von mir untersucht. Die Familiengeschichte
ergab, daß Vater und Mutter Vetter und Kusine waren. Der Vater war
vor einigen Jahren in einer Anstalt an progressiver Paralyse gestorben,
die Mutter ist eine exzentrische, sehr erregbare, aber tüchtige und leistungs¬
fähige Frau. Zwei Brüder der Mutter desgleichen an progressiver Para¬
lyse gestorben. Die Mutter der Mutter wurde in vorgerückten Jahren
geisteskrank; welcher Art dieses Leiden war, kann nicht festgestellt
werden, jedenfalls ist sie davon nicht genesen und hat viele Jahre mit
dieser Störung in Familienpflege gelebt. Die sechs Geschwister des M. D.
sind gesund und erfüllen im Leben ihre Stellung.
Der Pat. entwickelte sich gut, hat in früherer Zeit keinerlei Stö¬
rungen des psychisch-nervösen Geschehens offenbart. Schulbesuch ohne
auffallende Eigenschaften, mittelmäßiger Schüler. Mit 16 Jahren wan-
derte er nach Amerika aus, teils weil er als Jude unter der damaligen
Oberherrschaft wenig Aussichten auf glattes Fortkommen hatte, teils
weil er dort durch Vermittlung Bekannter auf guten Erwerb rechnete.
Etwa vier Jahre hindurch hat er auch dort als Handarbeiter, später als
Bureauangestellter einen guten Verdienst gehabt und jedenfalls seinen
Lebensunterhalt gut bestreiten können. Die dort lebenden Verwandten
haben in der Zeit nichts Auffälliges an ihm wahrnehmen können, er war
fleißig, solide und sparsam.
1913 kehrte er unvermittelt zurück, um sich im November zum
Militärdienst zu stellen. Sein nachdenkliches Wesen, die Klagen über
Mattigkeit und allgemeine Schwäche veranlaßten die Mutter, sich an
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Siebert,
mich zu wenden. Die Untersuchung des M. D. ergab eine schwere Ver¬
stimmung und eine Reihe ausgesprochener somatopsychischer Beschwer¬
den. Er erklärte dabei, selbst nicht mehr zu wissen, was eigentlich mit
ihm vorgehe, zuweilen habe er das Gefühl, „seine Person habe sich ver¬
ändert, in seinem Körper sei ein anderer Mensch mit einer anderen Seele“.
Für Sinnestäuschungen sowohl optischer als auch akustischer Natur
gab es keine Anhaltspunkte. Ein ausgesprochener primärer Affekt ließ
sich nicht nachweisen, die Verstimmung faßte ich durchaus als ein
Produkt psycho-motorischer Hemmung auf und weniger als den
Ausdruck einer anhaltenden traurigen oder ängstlichen Gemütsbewegung;
die völlige Apathie, die Interessenlosigkeit sich selbst und seinen An¬
gehörigen gegenüber sprachen auch in diesem Sinne.
Nach eingehenden Untersuchungen nahm ich eine in der Entwick¬
lung begriffene Defektpsychose degenerativen Ursprunges an
und begründete alsdann, unter Zugrundelegung der schlechten Prognose,
seine militärische Untauglichkeit. Der Kranke wurde nun auf ein Jahr
zurückgestellt. Zur Anstaltsbehandlung, die ich sofort in Vorschlag
brachte, waren die Angehörigen unter keinen Umständen zu bewegen,
da sie sich von der Geistesstörung nicht überzeugen lassen wollten. Die
Orientierung, die Merkfähigkeit und das Gedächtnis waren tadellos; es
bestand ein schweres Krankheitsgefühl und ein Bewußtsein für die psy¬
chische Störung, wenn auch keine Einsicht in dieselbe. — Der Kranke
lebte nun im Kreise seiner Familie dahin, tat nichts außer Essen, Trinken
und Spazierengehen, war jedoch zu irgendeiner Tätigkeit auf keine Weise
anzuhalten. Dabei war er reizbar und grundlos ausfahrend, meist von
hypochondrischen Grübeleien erfüllt.
1914 im Herbst sollte er zum Kriegsdienst einberufen werden und
stellte dabei wiederum ein Zeugnis von mir vor. Dem Gesetz nach mußte
er jetzt zur Feststellung des Zustandes in eine Anstalt, — dort wurde er
anfangs für gesund erklärt und lediglich „Blutarmut“ — Pat. hatte einen
Hämoglobingehalt von 95 % nach Sahli (!) — angenommen. Erst als
ich eine eingehende Beschreibung der Krankheit einsandte, schloß sich
die Ärztekommission meinem Gutachten an und befreite ihn von der
Rekrutierung.
In einem weiteren halben Jahr trat jetzt die Psychose immer mehr
hervor, seine Apathie wurde eine vollkommene, er stand kaum mehr
vom Bett auf, konnte nur mit Mühe zum Essen bewogen werden, ließ
oft ganze Mahlzeiten aus. Spontan sprach er wenig, er antwortete
kaum auf Fragen; es war direkt so, als ob man ihn zur Antwort auf¬
rütteln müsse. Erfolgte eine Antwort, so konnte man ersehen, daß sein
Gedächtnis tadellos war und er die Vorgänge der Außenwelt gut erfaßte
und richtig beurteilte. Im August 1915 stürzte er sich plötzlich mit einem
Beil auf seine Mutter, dabei ausrufend: „Schlagt das Aas tot“ — und
drohte sie zu erschlagen. Am nächsten Tage insultierte er öffentlich und
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Fieber und Psychosen.
219
ohne Grand einen Soldaten, worauf er sofort in polizeilichen Gewahrsam
genommen wurde. Auf meine Vorstellung hin erfolgte nun die Über¬
fahrung in die psychiatrische Abteilung, wo ich über zwei Jahre den
Kranken ununterbrochen beobachtet habe. Ein Motiv für die Bedrohung
der Mutter konnte von ihm nicht in Erfahrung gebracht werden. Im
Institut stellten sich in ganz kurzer Zeit schwere katatone Erschei-
nu nge n ein: ein stundenlanges Verharren in bizarren und verschrobenen
Haltungen, gänzlicher Mutismus, dabei ein fortgesetztes Grimassieren
and blitzartiges Zucken in der Gesichtsmuskulatur. Im Sitzen näßte
er in die Kleider; oft kam es vor, daß ihm von Mitpatienten Rauchwerk
entwendet wurde und er sich in seiner Teilnahmlosigkeit überhaupt da¬
gegen nicht wehrte. Er sprach jetzt, auch reaktiv auf Fragen, selten und
dann nur einen anscheinend zusammenhanglosen Blödsinn, so daß man
neben den psycho-motorischen Phänomenen, welche auf eine weitgehende
geistige Störung schließen ließen, an einen Zustand tiefer Verblödung
denken mußte.
Nach dieser Schilderung dürften keine weiteren Zweifel bestehen,
daß es sich bei D. um eine sichtlich auf degenerativer Grundlage ent¬
standene psychische Erkrankung vom Charakter der Dementia prae-
cox-Gruppe, der Schizophrenie, handelte, und zwar hatte man
den Eindruck, daß anfangs mehr hebephrene, später mehr katatonische
Zöge im Spiele waren. Dabei schien der Prozeß bereits abgelaufen zu
sein, indem man eine schwere Demenz aus dem geistigen Verhalten an¬
nehmen durfte. Der Blut-Wassermann war negativ; im Liquor — in
Hinblick auf die progressive Paralyse des Katers — WaR negativ, Nonne
negativ, Pleozytose negativ.
1916 im August erkrankte der Patient an Ruhr und lag $twa 14 Tage
unter hohem Fieber bei schwerem Kräfteverfall zu Bett. Weder zur
Zeit der akuten Störung, noch im Anschluß an dieselbe trat eine Beein¬
flussung der Psychose zutage, der Kranke erholte sich langsam und offen¬
barte unverändert seine Stereotypien und Verschrobenheiten. f '
Oktober 1917 — Typhus abdominalis. Der Kranke wurde
in die Typhusabteilung des allgemeinen Krankenhauses übergeführt.
Widal +, Typhusbazillen im Stuhl +. In der vierten Krankheitswoche
Kollaps, äußerst bedrohliche Herzschwäche, darauf schwere Darmblutun¬
gen — langsame Besserung, sehr allmähliches Abklingen der Tempera¬
tur; dann Typhusrezidiv mit erneut hohem Fieberanstieg. D. war
jedenfalls Wochen hindurch einer Hyperpyrese von über 39,5 0 ausgesetzt.
Während der Zeit der schweren Erkrankung ließ sich feststellen, daß
das psychische Verhalten durchaus ein „typhöses“ war, er verhielt sich
gänzlich passiv, sprach weder spontan, noch beantwortete er Fragen,
nahm von der Mutter und den Angehörigen keine Notiz, mußte gefüttert
werden. Wieviel nun davon auf Kosten der Infektion zu beziehen war
und wieviel auf die Geistesstörung, ließ sich nicht feststellen. Mit ein-
Zeitschrift für Psychiatrie« LXXV« 1 16
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Siebert,
tretender Genesung vom Typhus kam eine auffallende Ver¬
änderung im psychischen Geschehen zutage: er wurde freier,
begann die Personen der Umgebung mit Blicken zu verfolgen, zeigte
Initiative, indem er selbständige Handlungen verrichtete. Er sprach
das Personal an, bat um Auskunft über die Zeit, wie lange und woran
er jetzt krank gewesen, warum er aus der psychiatrischen Abteilung in
diese verlegt worden sei Er war gegen die Mutter freundlich und zeigte
sich für jede Aufmerksamkeit dankbar. Die katatonen, rein somatischen
Projektionsformen der Geisteskrankheit ließen sich nicht mehr be¬
obachten. — Tatsächlich besserte sich der Pat. täglich und stündlich
und konnte, ohne erneut der psychiatrischen Abteilung überwiesen wor¬
den zu sein, im Februar 1918 von seiner Mutter nach Hause genommen
werden. Später kam er besuchweise in die psychiatrische Abteilung,
erkundigte sich nach einzelnen seiner Mitpatienten und brachte den¬
selben kleine Geschenke.
Auf meine Bitte schrieb er eine eingehende, umfassende Darlegung
seiner Krankheit nieder, aus welcher ich der Kürze halber lediglich ein¬
zelne Punkte herausgreife: Ersichtlich ist aus derselben, daß er schon vor
meiner ersten Konsultation — bald 6 Jahre sind darüber verstrichen —
das Gefühl einer sich einstellenden Geistesstörung hatte, auch spricht ein
lebhaftes Krankheitsbewußtsein daraus, während für die Zeit nach dem
Typhus durchaus von einer Einsicht in seine psychische Ab¬
normität die Rede sein kann. Für die Dauer der Typhuserkhankung und
die Zeit kurz vor Einsetzen dieser körperlichen Störung besteht völlige
Amnesie, während für den Verlauf des Anstaltsaufenthaltes das Gedächtnis
ein völlig lückenloses, ich möchte sagen ganz hervorragendes ist. Er
erwähnt einzelne Episoden aus dieser Zeit unter genauer Angabe des
Datums mit einer solchen Ausführlichkeit, wie man so etwas unter keinen
Umständen von ihm hätte erwarten können. Die Beschreibung seiner
Spannungszustände, des Mutismus, der Wutausbrüche gibt er eingehend —
ein Motiv dafür nennt er nicht (konnte es auch auf ausdrückliches Be¬
fragen meinerseits nicht geben).
Ich habe dann weitere 6 Monate den Kranken beobachtet und kann
behaupten, daß seine psychische Regsamkeit sich nicht verändert hat,
daß aber der Defekt jedenfalls in einem absoluten Fehlen der Initia¬
tive zu suchen ist. Er schmiedet große Pläne, was er tun wolle, ist aber
zu keiner Tätigkeit oder Arbeit zu bewegen. Ich glaube nun mit ziem¬
licher Sicherheit Voraussagen zu können, daß diese tiefe Remission in ab¬
sehbarer Zeit wieder ihrem Ende sich zuneigen wird und dann wohl ein
analog schwerer psychotischer Zustand eintreten muß.
Dürfen wir nun ans der zeitlichen Koinzidenz von Typhus
mit andauerndem hohen Fieber und weitgehender Remission
im Verlauf der Geistesstörung einen ursächlichen Zusammenhang
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Fieber und Psychosen.
221
zwischen exogener Noxe und Veränderung des psychischen Ge¬
schehens erschließen? Es ist das naturgemäß eine Frage, auf
welche eigentlich, wenn ich mich so ausdrficken darf, die ärztliche
Individualität des einzelnen eine Antwort geben wird: der thera¬
peutische Nihilist wird keinen Zusammenhang erblioken, der
hoffnungfreudige Symptomatiker wird einen solchen ohne Bedenken
annehmen. Bei dem Fehlen genauer Kenntnis über das Wesen
eines solchen Prozesses, wie ihn eine Gehirn- und Geisteskrankheit
der Dementia praecox-Gruppe darstellt, kann auch tatsächlich von
einer Beeinflussung im Sinne der pathologischen Anatomie keine
Rede sein, und es darf lediglich die klinische Beobachtung und
die Erfahrung in der Beurteilung psychotischer Zustände zu Worte
kommen. Eine solche läßt mich hier wohl einen kausalen Zu¬
sammenhang zwischen Fieber bezw. Infektion und Zurficktreten
evidenter psychotischer Erscheinungen annehmen. Es dürfte sich
der Vorgang etwa derart abgespielt haben, daß die rein körperlich
zu bewertende Infektion bezw. das Fieber durch Ergreifen
des Zerebrums eine weitgehende Harmonisierung der
durch die Psychose geschaffenen abnormen Geistes¬
funktionen bedingt hat, denn, daß gerade die schwere typhöse
Erkrankung nach 3 V 2 jähriger Dauer des Seelenleidens diese
Besserung hervorgernfen hat, muß aus dem rein Zeitlichen mit
Bestimmtheit vorausgesetzt werden. Die eventuellen Gegenbedenken
sind bereits oben hervorgehoben.
Gehen wir nochmals auf den Charakter dieser geschilderten
Seelenstörung ein, so finden sich einzelne durchaus zu beachtende
Momente: als am meisten hervorstechend erscheint mir auf alle
Fälle der Umstand, daß die ursprünglich angenommene schwere
Demenz eigentlich im Sinne einer Pseudodemenz ausgelegt
werden mußte, da sich späterhin das psychische Geschehen als
ungestört erwies, und das geistige Kapital des Kranken im großen
und ganzen intakt erscheint; wenn auch ein Defekt unverkennbar
war, so spielte er sich immerhin auf dem Gebiet der Willens¬
handlungen, der Initiative, ab. Dieses ist als Tatsache keines¬
wegs neu und deckt sich mit der Anschauung und den Beob¬
achtungen vieler Autoren; es kann jedenfalls diese Verlaufsart als •
weiterer Hinweis dienen, daß auch ein verschrobenes Gehirn *—
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Siebert,
wenigstens für eine gewisse Zeit — in ein normales Gefüge ge¬
bracht werden kann, zum mindesten als Mahnung zur Vorsicht
beim Operieren mit einer unbedingt schlechten Prognose der
Dementia praecox 1 ). Dann sei weiter auf die ungemein detaillierte
Erinnerungsfähigkeit des Kranken eingegangen, — wenn diese
Eigenschaft auch erfahrunggemäß vielen, an einfachen Verblödungs-
prozessen Krankenden erhalten bleibt, so läßt sich solches wohl
in den meisten Fällen nur vermuten, jedoch nicht so eklatant be¬
legen, wie bei Moses D. Ich will bei dieser Gelegenheit nur auf»
die von Rieger 2 ) neuerdings niedergelegte Ansicht aufmerksam
machen, daß für den katatonischen Anfall, im Gegensatz
zum epileptischen, wohl fast nie Amnesie vorhanden ist —
eine Tatsache die, glaube ich, vielleicht nur zu wenig Berück¬
sichtigung und Beachtung gefunden hat, und an der katatonen
Erkrankung des D. können wohl guterdings keine Zweifel bestehen.
Abgesehen von der Eindeutigkeit der Symptome und dem charakte¬
ristischen Verlauf können eine psychogen-hysterische Störung oder
gar eine affektive Psychose sicher ausgeschlossen werden. Nun
ist ja zu berücksichtigen, daß von Liepmann und Bonhöffer ®)
Schilderungen degenerativer psychotischer Affektionen entworfen
worden sind mit ausgesprochen stuporösem Charakter, welche
durchaus katatonieähnliche Erscheinungen darboten, indes eine
anscheinend günstige Verlaufsart nahmen. Diese Zustände sind
vornehmlich bei östlichen Juden beobachtet worden und zeigten
nach jeder Richtung hin psychogene Beeinflußbarkeit. In einer
demnächst erscheinenden Arbeit habe ich auch auf diese Fälle,
unter Zugrundelegung der Ausführungen obengenannter Autoren,
hingewiesen und selbst zwei Krankenbeschreibungen ähnlicher Art
gegeben 4 ). Ich glaube nun zwar wohl, daß vielfach auch nach
Jahren erst der weitere Verlauf des psychischen Geschehens uns
darüber Aufklärung geben kann, ob in der Tat eine psychogen
bedingte Störung oder eine Katatonie im Sinne allgemein psychi-
*) Vgl. Bleuler, Dementia praecox. 1911, S. 209 fl.
2 ) Heft IX der Arbeiten aus der psych. Klinik zu Würzburg, S. 5.
3 ) NeuroL Ztbl. 1917, S. 251. Vereinsberichte.
4 ) Studien über die Kriminalität Geisteskranker. Psych.-neurol.
Wschr.
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Fieber and Psychosen.
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atriseher Diagnostik vorliegt, doch ist in dem hier eingehend ge¬
schilderten Fall solch eine Möglichkeit kaum anzunehmen and
einstweilen durch nichts zu begrönden. —
Außer den oben angeführten Infektionen, welche meine An¬
stalt epidemisch heimsuchten, habe ich noch in großer Anzahl
sporadisch anftretende fieberhafte Prozesse beobachtet, wie solche
in psychiatrischen Instituten häufig vorzukommen pflegen, als
Furunkulose, Erysipelas, durch Traumen bedingte Vereiterungen,
Abszesse usw. Auch aus dieser reichen Kasuistik habe ich auf
einen ursächlichen Zusammenhang lediglich in einem einzelnen Fall
fahnden können, der im folgenden kurz beschrieben werden soll.
Cila H., 26 Jahre alt, Jüdin. Wurde im Mai 1913 in sehr erregtem
Zustande nach der Geburt ihres zweiten Kindes aus einer benachbarten
Kleinstadt eingeliefert. Die Vorgeschichte ergab, daß zwei altere Schwestern
im Älter von etwa 20 Jahren geisteskrank wurden und in kurzer Zeit
schwer verblödeten, eine starb bald an Tuberkulose, die andere wird zurzeit
in einer Pflegeanstalt gehalten. Die Mutter soll eine streitsüchtige, reiz¬
bare, aber nicht geisteskranke Person sein, sonstige belastende Momente
sind nicht gegeben. Entwicklung, Kindheit und Pubertät der H. ohne
Besonderheiten. In bezug auf Schulbesuch und Lernfähigkeit läßt sich
nichts Wesentliches sagen, da die Pat. den niedersten und ungebildetsten
Schichten der jüdischen Bevölkerung entstammt, sie hat jedenfalls sich
immer als fleißig und strebsam erwiesen. Mit 23 Jahren Heirat. Erste
Gravidität im 2. Jahre der Ehe. Niederkunft im April 1912. Bald nach
der Geburt wurde die H. weinerlich und ängstlich, sprach vom Sterben,
glaubte nicht mehr gesund werden zu können. Schon damals glaubte der
hinzugezogene Landarzt ein Gemütsleiden annehmen zu müssen und riet
zur spezialistischen Behandlung, doch trat nach etwa 14 tägiger Dauer
plötzlich eine fieberhafte Venenentzündung auf, welche einen Transport
unmöglich machte. Mit Zurückgehen der Phlebitis stellte sich auch eine
evidente Besserung der psychischen Alienation ein.
Im April 1913 zweite Geburt. Schon in den ersten Tagen nach
derselben fiel eine allgemeine Unruhe auf, die Kranke sprach verwirrt,
schien die Personen zu verkennen und konfabulierte. Die Erregung
steigerte sich zusehends, so daß ihre Überführung in die psychiatrische
Abteilung erforderlich erschien. Hierselbst präsentierte sich eine amentia-
ähnliche Geistesstörung; lebhafte Unruhe, Verwirrtheit, uncharak¬
teristische Ideenflucht, Neigung zu Klangassoziationen, Schlaflosigkeit.
Rein manische oder katatonische Züge waren nicht nachzuweisen. Die
Hyperkinese hielt unverändert etwa 4 Wochen an; es war Verabreichung
starker narkotischer Mitte! und Isolierung zeitweise erforderlich. Darauf
wurde die Patientin von einer Mitkranken so heftig zu Boden geschleudert.
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Siebert,
daß hinter dem rechten Ohr ein großer Defekt der Kopf schwarte
entstand. Nach 3 weiteren Tagen, innerhalb deren die schwere Erregung
fortbestand, stellten sich hohe Temperaturen infolge weitgehender Ver-
eiterung der Wunde ein, das Fieber sank dann in ungefähr 7 Tagen mit
der Reinigung der Wunde, und gleichzeitig trat in ganz kurzer Zeit eine
vollkommene Beruhigung ein, wobei die Psyche sich gänzlich ordnete.
Die Kranke erlangte ihre Orientierung wieder und bekundete nach ein¬
gehender Aussprache über die Zeit der psychischen Störung eine unver¬
kennbare Krankheitseinsicht. Für die Dauer von der Geburt bis zur Ge¬
nesung bestand totale Amnesie, sie konnte keine Vorstellungen über
diese Episode bilden und gab nur an, ein Gefühl allgemeinen Wohlbefindens
für dieselbe zu besitzen. Über irgendwelche Sinnestäuschungen war nichts
von ihr zu eruieren. Bald darauf erfolgte die Entlassung, ohne daß weiterhin
irgendwelche psychotische Erscheinungen gezeigt wurden.
Juni 1915 3. Entbindung, in deren Folge prompt eine schwere
Erregung einsetzte, und zwar wesentlich stärker als nach der 2. Geburt.
Die sprachlichen Äußerungen fehlten jetzt völlig, nur war die Hyperkinese
viel ausgeprägter, dabei bestand eine unverkennbare Neigung zu Gewalt¬
tätigkeiten gegen die Personen ihrer Umgebung. Die Verwirrtheit war
so hochgradig, daß die Kranke unter sich machte und mit Mühe zu ihren
Verrichtungen angehalten werden konnte, auch war es schwer, sie zu
füttern. Dieser Zustand hielt 8 Wochen unverändert an, darauf stellten
sich Rötung und Schwellung des linken Oberarmes ein, die sich bis über
die Schulter hinauszogen. Gleichzeitig entwickelte sich hohes Fieber
40°, und es deklarierte sich das typische Bild des Erysipels. Dauer der
Erkrankung 12 Tage, darauf Abszedierung oberhalb des Ellenbogen¬
gelenks, Inzision, langsame Heilung. Auf der Höhe des Erysipels schienen
sichtlich deliriöse Prozesse aufzutreten, sie schrie laut, hörte Kanonen¬
donner, griff um sich und gestikulierte wild. Mit Abklingen des Fiebers
umgehende Aufhellung des Sensoriums, Restitution der Orientierung und
überhaupt des psychischen Geschehens in seine normalen Bahnen, ohne
Hinterlassung eines nachweisbaren Defektes. Auch jetzt völlige Amnesie
für die Dauer der Psychose.
1916 im Juli 4. Geburt, im Anschluß daran eine der vorher¬
gehenden analoge psychische Erkrankung. In der 6. Krankheits¬
woche Dysenterie mit hohem remittierendem Fieber, ohne daß die Geistes¬
störung dadurch beeinflußt worden wäre. Genesung von derselben bei
Fortdauer der psychotischen Erscheinungen, nach feinem weiteren Monat
eine rechtsseitige Mastitis mit beträchtlicher Hyperpyrese, deren Aus¬
heilung wiederum von promptem Abklingen der Geisteskrankheit be¬
gleitet war. —
Hier haben wir eine Psychose vor uns, welche einerseits sich
unmittelbar im Anschluß an ein Puerperium entwickelte,
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Fieber und Psychosen.
225
andererseits eine unverkennbare Periodizität in sieh barg und
dann, jedenfalls was das rein Zeitliche anbetrifft, bei allen Attacken
mit dem Eintritt einer eitrigen, fieberhaften Erkrankung zum
Schwinden kam. Wiederum liegt die Frage vor: zufälliges oder
ursächliches Zusammentreffen? Dabei erscheint es auffallend, daß
bei der vierten letzten Attacke die Ruhr mit ihrem hohen Fieber
die Psychose unbeeinflußt ließ, und erst mit Auftreten der Mastitis
die Wiederherstellung erfolgte. Anscheinend ist die Geisteser¬
krankung noch nicht in einem Stadium gewesen, wo Fieber resp.
Toxinwirkung imstande waren die „latente Normalität“ hervor¬
zurufen 1 ), denn daran muß festgehalten werden, daß die äußeren
Bedingungen nur die Rolle fördernder Momente besitzen, nicht
jedoch die heilender, — Zeitpunkt des Fiebers, Schwere der In¬
fektion usw. sind Fragen, welche sichtlich den rein endogenen Fak¬
toren gegenüber von untergeordneter Bedeutung sind, und daher
glaube ich, daß sowohl bei affektiven als auch intellektuellen
Seelenstörungen es sich niemals mit Bestimmtheit sagen lassen
wird, ob und wann exogene Bedingungen in der Lage sind, den
Charakter und die Verlaufsart der Psychose zu beeinflussen. Ich
setze aus diesem Grund voraus, daß wir in der Erzeugung von
künstlichen gesteigerten Temperaturen mittels Tuberkulin, Pepton,
Natrium nucleinioum und anderer Mitteln selten bei dieser Art von
Geistesstörungen Besserungen hervorrufen werden, um so mehr,
als uns weder die Pathogenese der Geisteskrankheiten, noch die
Art der eventuell bessernden Prozesse selbst bekannt sind.
Während bei der progressiven Paralyse die Empirie sicher mehr
positive Erfolge gezeitigt hat, geben die Erfahrungen bei den ein¬
fachen Seelenstörungen wohl kaum genau kontrollierbare Anhalts¬
punkte. Nehmen wir die vielen Epidemien und die zahlreichen
Einzelerkrankungen mit hohen Temperaturen, so finden wir immer
nur seltene Fälle, wo man an eine direkte Heilwirkung glauben
möchte, am Gros geht das Fieber anscheinend spurlos vorüber.
Betrachten wir aber umgekehrt das Bild, so sehen wir, daß bei
Massenerkrankungen Geistesgesunder wiederum auch nur ein
kleiner Bruchteil im Anschluß an die Infektion psychisch erkrankt,
*) Rienecker. Allg. Ztsch. f. Psych. 1873.
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Siebert, Fieber and Psychosen.
•und daß dabei keineswegs Erschöpfung, Schwere der infektiösen
Erkrankung oder familiäre Belastung allein den Ausschlag geben 1 ).
So interessant diese Probleme sind, so unklar gestalten sie sich
auch und bedingen auf alle Fälle ein eingehendes, noch keines¬
wegs abgeschlossenes Studium, ehe man sie anerkennt oder ab¬
lehnt. Eine Verarbeitung des einschlägigen Materials kann daher
nur der weiteren Klärung dieser Probleme zunutze kommen.
*) Bonhöffer. Infektionspsychosen. 1912. U. Siebert, Zur Klinik
der Geschwisterpsychosen anscheinend exogenen Ursprunges.
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Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken 1 ).
Von
Dr. Georg Barth,
Arzt der Lungenheil- and Heimstätte an der Landesanstalt Zschadraß.
In gleicher Weise, wie in der freien Bevölkerung der alte
Volksfeind, die Tuberkulose, während des Krieges stetig an wachsend
eine erhebliche Ausdehnung angenommen hat, ist er auch in unseren
Irrenanstalten in einem Maße eingefallen, das den Anstaltsarzt
mit Besorgnis die verheerenden Wirkungen an den gelichteten
Reihen seiner Pfleglinge betrachten läßt. Falsch aber wäre es,
Fehlschläge in den Abwehrmaßregeln mit Gründen zu ent¬
schuldigen, die, durch die Kriegsverhältnisse bedingt, außerhalb
unseres Einflusses liegen, und eine gewisse resignierte Tatenlosigkeit
Platz greifen zu lassen. Uns steht genügend Rüstzeug zur Ver¬
fügung, der Tuberkulose auch in den Irrenhäusern wirksam eht-
gegenzutreten, der wichtigste Grundsatz der Tuberkulosebekämpfung
heißt auch hier „Vorbeugen“, und die Frühdiagnose hat die
allergrößte Bedeutung, sie kann über das Schicksal des
Kranken direkt entscheidend wirken.
Sicherlich dürfen die Schwierigkeiten nicht verkannt werden,
die sich einer frühzeitigen Feststellung der Lungentuberkulose ent¬
gegenstellen können, die oftmals erst durch wochenlange Beob¬
achtungen möglich ist. Eine einmalige Untersuchung vermag in
Frühfällen nur sehr selten etwas Positives auszusagen. Die
Hindernisse, die sich bereits bei der Früherkennung an Geistes¬
gesunden darbieten können, häufen sich gegenüber unsern Geistes¬
kranken in oft recht erheblichem Maße. Wer sich bemüht hat,
1 ) Aus der Landesanstalt Zschadraß bei Colditz, Sa. (Direktor
Obermedizinalrat Dr. Dehio).
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228
Barth, ,
bei Irren genauere klinische Lungenbefunde zn erheben, weiß wohl,
daß dies durch mannigfache Umstände sehr erschwert sein kann,
ja die Untersuchung wird bei Unruhe, Erregung oder Widerstreben
von seiten des Kranken oftmals überhaupt unausführbar bleiben.
Große Geduld und Ausdauer werden aber auch bei solchen Kranken
schließlich doch noch ans Ziel führen.
Jeder Lungenuntersuchnng hat die Besichtigung des ge¬
samten Menschern und dann vornehmlich der Brust vorauszugehen.
Hierbei ist zu achten auf- die Form des Brustkorbes, seine Breite
und Tiefe, auf Verbiegungen der Wirbelsäule, Einziehungen der
Weichteile, Vergleich beider Brusthälften beim Atmen. Schon
hieraus erhält man nicht selten wertvolle Fingerzeige über den
Sitz oder den Ausgangsort der Krankheit und das Maß etwaiger
Schrumpfungen. Nicht unwichtig 10 erscheint ferner die neuer¬
dings wieder von Gutstem betonte Prüfung der Algesie, die
namentlich bei akuteren, sich nicht zu weit von der Oberfläche
abspielenden Prozessen wertvolle Aufschlüsse gibt 9 .
Es gelingt oft, durch bloßes Betasten der Brustwand aus'dem
Zusammenzucken oder schmerzvollen Verzerren des Gesichtes des
Kranken überraschende Schlüsse über den Sitz des Krankheits¬
herdes zu ziehen; dasselbe geschieht mitunter beim Perkutieren
oder beim Aufsetzen des Hörrohrs. Hierbei bemerkt man nicht
selten, daß der Kranke namentlich bei kräftigerem Druck mit dem
Stethoskop husten muß; auch das läßt mit ziemlicher Sicherheit
auf einen unter der Aufsatzstelle befindlichen entzündlichen Lungen¬
herd schließen, (hitstein kommt auf Grund dieser Beobachtungen
zu dem Schluß, daß in den Brustmuskeln der Phthisiker myalgische
Veränderungen vorhanden sind, die mit dem benachbarten Lungen¬
herde in direktem ursächlichen Zusammenhang stehen. Auch
G. Rosenbach 10 führt die bei Lungenkranken häufig beob¬
achteten Myalgien der äußeren Brustmuskeln auf die bestehende
Tuberkulose zurück. Beim Perkutieren der Lungen wird oft der
Fehler begangen, daß die Klopfstärke zu kräftig gewählt wird.
Empfehlenswert ist möglichst leise Perkussion; freilich verführen
die oft abnormen Spannungsverhältnisse bei vielen unserer Kranken
zur lauten Beklopfung. Viele initiale Meine Herde entziehen sich
bei der zu starken Beklopfung unserer Beobachtung. Bei der
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Tuberkuloseerkenmmg bei Geisteskranken.
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Untersuchung der Lungenspitzen ist, wenn angängig, anf die Be¬
stimmung der ITrömgrschen Sehallfelder Wert zu legen, die sieh
wie zwei breite, hellen Lungenschall ergebende Bänder über die
Schulterwölbung hinwegziehen. Insbesondere muß ein Tieferstehen
der medialen Grenze als /verdächtig angesehen werden. * Beim
Beklopfen können zuweilen durch abnorme Muskelspannungen, die
manchen Krankheitsformeo eigentümlich sind, Schallverkürzungen
oder Dämpfungen vorgetäuscht werden dort, wo sicher keine sind;
andererseits kann aus derselben Ursache der Nachweis kranker
Herde an der Lunge unmöglich sein.
Die Feststellung des Atmungsgeräusches begegnet zu¬
weilen noch erheblicheren Schwierigkeiten; viele Geisteskranke
lassen sich zu regelmäßigem tiefem Atmen überhaupt nicht be¬
wegen. Pieselben Hindernisse treten bei der Prüfung des Stimm-
fremitus und der Flüsterstimme auf. Daß Eigengeräusche des
Hörrohrs, falsches Aufsetzen desselben, sowie abnorm starke Be¬
haarung des zu Untersuchenden namentlich dem Anfänger irrige
Schlüsse beizubringen vermögen, soll hier nicht unerwähnt bleiben,
auch daß bei Druck auf einen Muskel entstehende fibrilläre
Zuckungen imstande sind, schabende und knarrende Geräusche
an der Lunge vorzutäuschen.
Die Untersuchung des Auswurfes ist bei unsem Irren
wohl in den meisten Fällen ein unmögliches Ding, denn die Mehr¬
zahl der Kranken schluckt ihn hinunter. Wir wissen, daß eine
große Zahl Tuberkulöser, vornehmlich die Verblödeten, überhaupt
nie husten, selbst nicht bei fortgeschrittener Krankheit oder sogar
bei starker Beteiligung der Pleura oder des Kehlkopfes. Es folgt
hieraus, daß dieses landläufige Symptom einer Erkrankung der
Atmungswege bei Irren in der Bewertung gleich anderen, unter
normalen Verhältnissen wichtigen Krankheitszeichen niedrig steht.
Auch das sonst so wichtige diagnostische Hilfsmittel der
Röntgenuntersuchung vermag uns in der Erkennung der Tuber¬
kulose nicht zu fördern. Denn erstens wird wohl nur in wenigen
Anstalten ein Röntgenapparat zur Verfügung sein, und wenn er
es ist, so erhebt sich noch die Frage, ob gleichzeitig ein Arzt vor¬
handen ist, der hinreichend bewandert ist in der Deutung rönt¬
genologischer Lungenbefunde, die namentlich bei Initialfällen nicht
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230
Barth,
immer leicht ist. Außerdem dürften sich hier noch mehr als bei
den anderen einfacheren Untersuchnngsmethoden die Schwierig¬
keiten von seiten des Kranken in verstärktem Grade darbieten.
Wir sehen somit, daß uns die sonst geübten klinischen Unter-
snchnngsmethoden bei der Untersuchung Geisteskranker auf ihren
Lungenzustand nicht überall hin mit Verläßlichkeit folgen, ja die
Tuberkulose kann sich mangels jeglichen verdächtigen Merkmals
trotz weiteren Fortgeschrittenseins lange Zeit unserer Kenntnis
gänzlich entziehen, wie der von Geist 8 angeführte Fall dartut,
indem ein abweisender Paranoiker scheinbar aus bestem Wohl¬
befinden heraus an einer Lungenblutung urplötzlich zugrunde ging,
bei dem die Sektion eine große Kaverne eigab. Um so mehr gilt
es, auf jedes verdächtige Symptom peinlich zu achten.
Allmählich sich entwickelnde Blässe, müder Gesichtsausdruek,
schlaffes Verhalten bei sonst lebhaften Kränken, Appetitmangel,
der sich bis zur Nahrungsverweigerung steigern kann, vor allem
aber auch Abnahme des Körpergewichts, sollen den Irrenarzt ver¬
anlassen, den Kranken unter ganz besonderer Obhut zu behalten
und seine Lungen einer sorgfältigen Beobachtung zu unterziehen.
Hier ist der Beginn der Vorbeugungsmaßregeln bereits scharf ge¬
zeichnet. Bei solchen verdächtigen Fällen sind wöchentlich regelmäßige
Wägungen unerläßlich. Ist gar eine andere Infektionskrankheit vorauf¬
gegangen, so ist eine eingehende Beobachtung des Kranken besonders
angezeigt. Das gilt vor allem für Rekonvaleszenten nach Grippe und
Ruhr. Es muß bei der bisherigen Grippeepidemie auffallen, daß die
Tuberkulösen auch in den Irrenhäusern gar nicht oder nur wenig erstens
einmal zur Erkrankung an Grippe disponiert schienen, daß zweitens aber
der Einfluß derselben auf eine bestehende Tuberkulose weder im Sinne
einer Reaktivierung alter Herde noch einer Verschlimmerung eines mani¬
festen Prozesses erheblich war. Diese Feststellung befindet sich in scharfem
Gegensätze zu Beobachtungen bei früheren Epidemien, bei denen tuberku¬
löse Lungenerkrankungen nach Grippe sehr häufig und gefürchtet waren
(Rotty 15 ). Über die Zusammenhänge der Ruhr mit der Tuberkulose
läßt sich Bestimmtes nicht sagen, doch will es nach den neuesten Beob¬
achtungen (Dehio •) scheinen, daß die erstere der letzteren in erheblichem
Grade den Boden bereite. Dehio fand weiter eine wesentlich größere Be¬
teiligung der Frau an der Ruhrerkrankung gegenüber dem Manne. Es
liegt nicht fern, aus dieser und aus weiter noch zu erörternden Tatsachen
eine allgemeine größere Gefährdung der Frau herzuleiten und zu sagen,
daß weibliche Ruhrkranke besonders geneigt zu tuberkulösen Manifesta-
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Tuberkoloseerkennung bei Geisteskranken.
231
tionen sind, wie der obige Autor darlegt. Hier ist der Ort, wo an der Er¬
örterung der Frage der Ätiologie der Irrentuberkulose nicht vorüber-
gegangen werden kann. Liegt die Ursache für die Tuberkuloseerkrankung
in den Anstaltsverhältnissen begründet? Diese Frage ist von Loew 18
untersucht und für die von ihm beobachteten Verhältnisse verneint worden.
Wir können dies auf Grund unserer Erfahrungen bestätigen.
Die Tuberkulose manifestiert sich bald bei einem langjährigen
Insassen, bald tritt sie bei dem erst wenige Wochen oder Monate
in Anstaltspflege Befindlichen in die Erscheinung. Ein Faktor,
der für eine größere Zahl tuberkulös gewordener in Rechnung zu
stellen ist, mag die aus verschiedenen Gründen während des Krieges
notwendig gewordene engere Zusammenlegung der Kranken sein,
mit der daraus hervorgehenden größeren Möglichkeit der Über¬
tragung des Tuberkulosevirus, doch wird dies nur für verhältnis¬
mäßig wenige Fälle zutreffen. Die allergrößte Zahl unserer
Anstaltstuberkulosen sind alte Prozesse, die in das
Zeichen der Reaktivierung getreten sind. Durch das Zu¬
sammenwirken verschiedenartiger, teils innerhalb, mehr aber außer¬
halb des Kranken liegender Ursachen ist die Latenz des Leidens
durchbrochen worden. Wir werden weiterhin erkennen, daß die
Immunisierungsvorgänge, die der Körper der früher, meist schon
in der Kindheit erworbenen Tuberkuloseinfektion entgegensetzt,
unter dem Einfluß der Kriegsverhältnisse beeinträchtigt oder ganz
erloschen sind. Dafür, daß für die überwiegende Zahl der Fälle
der Zeitpunkt der Ansteckung im Kindesalter zu suchen ist,
fehlt es nicht an Beweisen (13). Bei einer nicht geringen Zahl
?on Geisteskranken werden wir mit einer primären Minder¬
wertigkeit des Gesamtorganismus zu rechnen haben. Wie schon
beim Geistesgesunden Nervensystem und Psyche eine erhebliche
Rolle im Zustandekommen einer Tuberkuloseerkrankung spielen,
besonders im Kriege, so ist das noch mehr der Fall bei den
Geisteskranken.
Hier kann die Psychose vielfach direkt als auslösendes
Moment erachtet werden. Letzteres kann in verschiedener Ge-
stalt zur Wirkung kommen.
Es ist klar ersichtlich, daß bei ohnehin nicht vollwertigen Menschen,
die im Kriege zudem noch unter ungünstige Lebensbedingungen gesetzt
sind, Erregungszustände aller Art die Kräftebilanz im Körper in
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Barth,
erheblichem Maße schädigen und schon ohne das Hinzutreten weiterer
ungünstiger Einflüsse den Organismus in den Zustand herabgesetzter
Widerstandsfähigkeit bringen müssen, so daß hier der Aktivierung der
Tuberkulose Tür und Tor geöffnet ist. Daß es oft Erregungszustände
sind, die einen schlummernden Herd erwecken, erhellt daraus, daß wir bei
vielen unserer Kranken, sobald sie in ein Erregungsstadium getreten waren,
alsbald die Kennzeichen der aktiven Tuberkulose bemerkten, die zurück¬
traten oder ganz verschwanden, wenn der Kranke sich nach einiger Zeit
beruhigte. Auch aus dieser schwankenden Kurve der Erscheinungen geht
der tiefgreifende Einfluß der Erregungszustände auf die Tuberkulose ein¬
deutig hervor und verleiht erneut dem Schluß Beweiskraft, daß die Lungen¬
tuberkulose der Geisteskranken meist schon sehr früh erworben wurde,
dann längere oder kürzere Zeit schlummerte und dann infolge psychischer
Erkrankung manifest wurde.
Eine zweite Grundlage für das Zustandekommen einer tuberkulösen
Erkrankung bietet der Stupor. Hier mögen Unreinlichkeit, stumpfes
Verhalten, Verkriechen des Kranken unter die Bettdecke, das ungenügende
Durchlüftung der Lungen bewirkt, sodann Schwierigkeiten in der Nah¬
rungsdarreichung, die sich bis zur Nahrungsverweigerung auswachsen
können, die Ursache abgeben, daß die Latenz des Leidens aufgehoben
wurde.
Hiermit kommen wir auf diejenige Ursache der Tuberkuloseerkran¬
kung zu sprechen, die wohl als das durch den Krieg unmittelbar bedingte
ätiologische Moment zu erachten und für die Entstehung der Irrentuberku¬
lose obenan zu setzen ist: die Unterernährung. Sie ist teils eine
quantitative, teils eine qualitative, wie wir alle am eigenen Leibe kennen¬
gelernt haben. Wen wir einerseits vor Augen haben, welche gewaltige
Mengen Nahrung zu üppigeren Zeiten viele unserer Kranken zu sich zu
führen vermochten, die jetzt aufzubringen wir nirgends und in keiner.Weise
in der Lage sind, wenn wir andererseits erwägen, daß der qualitative Wert
der Kost infolge der durch die Aushungerungspolitik unserer Feinde zu¬
tagegetretenen Kriegsverhältnisse niedrig ist, ein Umstand, der bei Kran¬
ken mit geringerer Eßlust noch mehr ins Gewicht fällt, so liegt die Ur¬
sache zu Bilanzstörungen im Körperhaushalt, die der Tuberkulose den
Boden bereiten, auf der Hand.
Nicht ganz einheitlich beurteilt wird der Zusammenhang zwischen
Krämpfen und Tuberkulose. Es will scheinen, als ob die Erkrankungs¬
möglichkeit an letzterer überschätzt wird.
Hatte die uns benachbarte Epileptikeranstalt Hochweitzschen schon
im Frieden eine geringe Tuberkulosesterblichkeit, so steht diese auch jetzt
im Kriege im Verhältnis zu derjenigen bei andern Geisteskrankheiten
niedrig. Immerhin dürfen wir nicht von der Hand weisen, daß bei einem
Latenttuberkulösen schwere und häufige epileptische Anfälle die Mani¬
festation tuberkulöser Erscheinungen beschleunigen können, so daß wir
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Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken.
233 ’
imstande sind, mit F&ri 11 zu sagen, daß Schwere und Häufigkeit der
Anfälle zum Ausbruch einer Tuberkulose disponieren.
Daß das Senium weit mehr zur Tuberkuloseerkrankung geneigt
macht, als früher angenommen, sehen wir an der Häufigkeit derselben
bei alten Personen im Kriege.
Schon Cornet * und F. Müller 14 haben auf diese Tatsache hinge¬
wiesen, und Geigel 1 betont erneut, daß der Marasmus in vorgerückten
Jahren eine wichtige, vorbereitende Rolle zu spielen imstande ist.
Wenn wir sahen, daß wir hinsichtlich der subjektiven Angaben,
nicht minder aber bei Ausfibung der gebräuchlichen Untersuchungs¬
methoden bei vielen unserer Geisteskranken zum Zwecke der früh¬
zeitigen Tuberkuloseerkennung oft wenig Positives fördern, so
wollen wir darzulegen versuchen, welche Hilfsmittel uns hierbei
mit größerer Verläßlichkeit unterstützend zu folgen vermögen.
Von größter Bedeutung ist die Temperaturmessung. Jede
fortschreitende Lungentuberkulose, auch im ersten Initialstadium,
geht mit einer Erhöhung der Temperatur einher. Charakteristisch
für die langsam sich entwickelnde Tuberkulose sind nicht hohe
Fiebergrade, sondern subfebrile Temperaturen, welche gewöhnlich
am Spätnachmittag aufzutreten pflegen. Da es sich bei der be¬
ginnenden Tuberkulose um geringe Abweichungen handelt, so sind
genaue Messungen erforderlich. Wo es sich durchführen läßt,
sollen rektale Messungen ausgeführt werden. Bei dieser gelangen
die verdächtigen subfebrilen Temperaturen, die bei den gewöhnlich
geübten Achselhöhlenmessungen nicht entdeckt werden, eindeutig
zur Darstellung 1 . Der Tuberkulose eigentümlich ist ferner die
große Labilität der Temperatur. Nach körperlichen Anstrengungen
geht diese gewöhnlich weiter in die Höhe und hält sich länger
auf dieser als beim Gesunden. Das ist bei der Messung unserer
Kranken wichtig insofern, als Temperaturbestimmungen nach Be¬
wegung bei Irren, besonders bei Erregten, keinen Wert besitzen.
Im allgemeinen ist nur dann mit Sicherheit auf ein richtiges Er¬
gebnis zu zählen, wenn man .die Temperatur nach halbstündiger
völliger Ruhe bestimmt. Nicht minder beachtenswert als die
abendlichen febrilen und subfebrilen Steigerungen ist das Verhalten
der Morgentemperaturen. Sind diese (im Darm gemessen) noch
über 37°, so besteht der Verdacht auf einen progressiven tuber¬
kulösen Lungenherd, auch wenn die im Laufe des Tages vor-
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Barth,
genommenen Messungen 37,6° nicht fiberschreiten. Das Herunter-
gehen der Morgentemperatnr bei der Lungentuberkulose ist ge¬
wöhnlich das erste Zeichen der eintretenden Besserung, dem
dann auch das Herabsinken der Abendtemperaturen folgt 2 . Daß
regelrecht durchgeffihrte Messungen der Temperatur bei Geistes¬
kranken oft sehr schwierig anzustellen sind und an Verständnis,
Geschicklichkeit und Ausdauer des Pflegepersonals sehr hohe An¬
forderungen stellen, soll nicht verkannt werden.
Von nicht geringer Bedeutung für die Frühdiagnose bei Frauen
sind die Temperatursteigerungen, die im Zusammenhang mit der
Menstruation auftreten.
Auf die einzelnen Typen des menstrualen Fiebers bei Tuber¬
kulösen einzugehen, ist hier nicht der Ort. Es sei hier gesagt,
daß genaue Messungen bei verdächtigen Fällen während der
Menses großen Wert besitzen und daß es mit ihrer Hilfe gelingt,
manchen initialen Fall zu entlarven. Auch die anderen klinischen
Symptome gewinnen während der Menses nicht selten an Deut¬
lichkeit, weshalb klinische Untersuchung gerade während der
Periode anzuraten ist. Turban 16 hat oft während derselben
Bazillen gefunden, während im Intervall keine festzustellen waren.
Mir selbst gelang es unlängst bei einer vorher unverdächtigen
Katatonika, die während der Menses subfebrile Temperaturen auf¬
wies, über dem rechten Oberlappen deutliche infiltrative Ver¬
änderungen (leichte Dämpfung und kleinblasige klingende Rassel¬
geräusche) nachzuweisen, die nach den Menses alsbald nahezu ver¬
schwanden, um bei den nächsten erneut verstärkt in die Erscheinung
zu treten. Ist an sich der Einfluß den Menses auf die Vasamotoren
ein gewaltiger, so macht sich dieser besonders da bemerkbar, wa
ein Locus minoris resistentiae vorhanden ist. Andererseits sind
die Tuberkulotoxine starke Vasamotorengifte. Es summieren sich
also hier zwei Schädlichkeiten, die in gleicher Richtung wirken.
Kongestion führt zu Giftresorption, zur Intoxikation. Es ist ferner
bekannt, daß die Tuberkuloopsonine sich unmittelbar vor den
Menses im Blute vermindern, woraus erhellt, daß ffir die Frau
die Menstruation eine kritische Phase bedeutet, vor allem, wenn
bei ihr Neigung vorhanden ist, ihre Latenz zu verlieren.
Ffir viele lungenkranke Frauen stellt die Menstruation
in der Tat eine Komplikation ihrer Krankheit dar.
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Taberknloseerkennong bei Geisteskranken. 235
Einen nicht geringen Wert messen wir weiterhin der bio¬
logischen, kutanen Tnberknlinreaktion nach von Pirquet
bei, und zwar in diagnostischer, prophylaktischer und prognostischer
Hinsicht. Sie unterrichtet nicht Aber den Sitz der Tuberkulose,
sie zeigt lediglich an, daß der Körper irgendwie, irgendwann mit
Tuberkelbazillen infiziert und die Haut durch die eingetretene
Toxinbildung seitens des Tuberkuloseherdes im Körper über¬
empfindlich geworden ist 8 . Es reagieren also außer den mani¬
festen Tuberkulosen auch die klinis ch nicht Tuberkulösen. Im
Zusammenhang mit dem klinischen Krankheitsbild gewinnt die
Kutanreaktion an Bedeutung. Ist sie stark positiv, so fordert sie
zu besonders eingehender Beobachtung des Kranken auf. Nega¬
tiver Ausfall spricht im allgemeinen für Freisein von Tuberkulose,
doch kann die Probe trotz klinisch nachweisbarer Zeichen negativ
bleiben, und zwar hat dies seinen Grund in gewissen allgemeinen
konstitutionellen Veränderungen des Organismus.
Regelmäßig versagt die Hautreaktion bei fortgeschrittenen
Fällen im dritten Stadium der Turban-Oerhardt sehen Einteilung.
Die Erklärung ist in der aufgehobenen Fähigkeit zu erblicken,
Immun- bezw. Abwehrstoffe zu bilden. Sieht man von diesen Aus¬
nahmefällen ab, so ist im übrigen der diagnostische Wert der
Kutanreaktion groß. Für die Impfung eines großen Krankenmate¬
rials ist die Methode nach von Pirquet, wie sie auch in anderen
Anstalten, so Altscherbitz, Kosten, bereits früher durchgeführt
worden ist, ganz besonders geeignet, denn sie kann auf alle Ver¬
hältnisse ausgedehnt werden und ist einfach anzustellen. Lege
artis ausgeführt, ist sie ein gänzlich ungefährlicher Eingriff, der
ohne alle Beschwerden, ohne Fieber, ohne lokale oder allgemeine
Störungen und ohne Komplikationen verläuft. Wir haben in
Zschadraß die Impfung bei 431 Anstaltsinsassen ausgeführt
nach der Vorschrift, die ich wohl als bekannt voraussetzen darf
und die in jedem Lehrbuch der inneren Medizin vorhanden ist.
Bei positiver Reaktion zeigen die mit Tuberkulin beschickten
Impfstellen nach einiger Zeit, die zwischen drei Stunden und
mehreren Tagen schwanken kann, eine entzündliche Reaktion
mit Schwellung und Hyperämie in Form einer Papel. Im posi¬
tiven Falle pflegt sie nach 48 Stunden ihr Optimum erreicht zu
Zeitsohriit für Psychiatrie, LXXY* 2. 17
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236
Barth,
haben. Nur bei ganz wenigen Patienten gelang es nicht, die
Impfung zu bewerkstelligen, weil sie sich sehr widerspenstig
zeigten. Bei genfigend rascher Handhabung, Ablenkung oder Zu¬
reden des Kranken war die Impfung fast stets möglich. Sehr
interessant sind nun unsere Ergebnisse, da sie uns einen hoch¬
wichtigen Einblick in den Zustand der immunisatorischen Vor¬
richtungen im Organismus unserer Kranken erlaubten und uns
den Stand der Abwehrvorrichtungen direkt anzeigten. Es ist
bekannt, daß der negative Ausfall der Ptr^ucf-Reaktion bei
manifester Tuberkulose prognostisch ungünstig ist, daß eine
Schnellreaktion für aktive, eine langsame Entwicklung einer
Spätreaktion für latente Tuberkulose spricht, daß positiver Aus¬
fall der Hautreaktion nach 24 bis 48 Stunden in der Mehrzahl
der Fälle ein Freisein von tuberkulöser Erkrankung (inaktive
Tuberkulose) anzeigt. ■
Es soll hier nicht unterlassen werden, zu betonen, daß
Tnberkuloseinfektion und Erkrankung streng auseinandergehalten
werden müssen. Die erstere kann weit zurückliegen und längst
in die Latenz übergeführt sein, während sich die letztere immer
durch aktive Erscheinungen manifestiert. Als positiv galten uns
Papeln mit über 5 mm Durchmesser. Die Ablesung nahmen
wir nach 24 und 48 Stunden vor. Geimpft wurden 226 Männer,
205 Frauen. Wir fanden positiven Ausfall nach 24 bis 48 Stunden
bei 147 Männern, 81 Frauen. Bei allen diesen Kranken bestand
klinisch keinerlei Verdacht auf Tuberkulosekrankheit, und die
Pirquet -Probe bestätigte dies. Positive starke Frühreaktion da¬
gegen ergaben 25 Männer, 32 Frauen, beutet hier schon die
biologische Prüfung auf eine Abweichung in den immunisatori¬
schen Verhältnissen, so wurde dies erhärtet durch die klinische
Betrachtung. Es waren dies Leute mit Gesichtsblässe; nicht
selten handelte es sich um erblich tuberkulös Belastete, die Ge¬
wichtsabnahmen aufwiesen, leichte Temperaturerhöhungen boten,
zuweilen hüstelten, manchmal über Mattigkeit klagten, nachts
schwitzten und bei denen der objektive Befund an den Lungen
zwar noch nichts sicher Nachweisbares ergab, bei denen indes
der dringende Verdacht auf eine initiale Störung der Latenz der
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Taberknloseerkennong bei Geisteskranken.
237
Tuberkulose augenfällig ist. Bei diesen Tnberkuloseverdächtigen
konnten wir in der Tat früher oder später den Übergang in das
manifeste Stadium sicher nachweisen. Positive Reaktion beob¬
achteten wir ferner bei 6 Männern und 8 Frauen, die sicher
manifest tuberkulös waren. Hier liegt die Tatsache vor, daß die
Abwehrkräfte noch hinreichend im Gange sind; wir würden hier
demnach die Prognose als nicht ungünstig zu stellen haben, falls
nicht später noch ein Versagen derselben eintritt.
Wir kommen nun zu den Fällen, die eine negative Pirquet-
Frohe darboten. Wir fanden sie bei einer Anzahl fortgeschrittener
Fälle (9 Männer, 7 Frauen) bei denen wir ein Erloschensein der
Immunität annahmen und die Prognose ungünstig stellen müssen.
Der nun folgende letzte Teil unseres Untersuchungsergebnisses
ist der bemerkenswerteste insofern, als er zu allen früheren Er¬
fahrungen im Widerspruch steht. Mußte uns bereits aus dem
Vorhergehenden die niedrige Ziffer der sicher Tuberkulosegesunden,
positiv Reagierenden auffallen, so muß dies demgegenüber um so
mehr die hohe Zahl derjenigen, die negativen Ausfall zeigten,
es waren dies 39 Männer und 77 Frauen. Bei näherer Beob¬
achtung erwies es sich, daß man bei diesen Kranken zwar irgend¬
welche manifeste Erscheinungen keineswegs nachweisen konnte,
indes waren die Kranken durchweg blasse, magere, schwächliche
Individuen, bei denen zu einem Teil schwächende Krankheiten,
so Ruhr, Grippe voraufgegangen waren, kurz, deren Konstitution
sich als sichtlich geschwächt kundtat. Wir haben hier im Laufe
der Monate manchen dieser Kranken tuberkulös werden sehen,
eine Tatsache, die uns wohl berechtigt, dieselben als gefährdet
zu bezeichnen. Daß das weibliche Geschlecht um das Doppelte
beteiligt ist, nimmt uns nach den sonstigen Kriegserfahrungen
aus der freien Bevölkerung mit dem absoluten- Vorwiegen der
Tuberkulose bei Frauen nicht wunder. Es ist unabweislich, im
Vergleich zu den im Frieden gefundenen Daten, die Ergebnisse
lediglich auf die Kriegsverhältnisse zu beziehen und hauptsächlich
durch den Ernährungsfaktor ätiologisch zu erklären. Die erheb¬
lich höhere Gefährdung der Frau im Kriege gegenüber der
Tuberkulose ist auch hier erwiesen. Nachstehende Übersicht
unserer Beobachtungen zeigt dies auch prozentual berechnet.
17*
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Bartk,
Von 226 beobachteten Männern waren:
tnberknlosegesnnd (-f- Pirquet) 147 = 65,4%
gefährdet (— „ ) 39 = 17,26%,
verdächtig (-{-Frühreaktion) 25 = 11,06%,
manifest (6 -{-, 9 —) 15 = 6,64%»
Von 205 beobachteten Franen waren:
tnberknlosegesnnd (-{- Pirquet) 81 = 39,52%,
gefährdet (— „ ) 77 = 37,56%
verdächtig (-{-Frühreaktion) 32 = 15,60%
manifest (8 -f-, 7 —) 15 = 7,32%.
Folgende sind nnr znsammengefaßt unsere Erfahrungen
nnd die Maßnahmen, die wir darauf gründeten:
1. Ätiologisch kommen für die Kriegstuberkulose in den
Irrenanstalten vornehmlich die herabgesetzten Ernährungsverhält-
nisse, erst in zweiter Reihe dnrch den Krieg bedingte anderweite
hygienische Verhältnisse in Betracht.
2. Es steht fest, daß die Anwendung der klinischen
Untersnchungsmethoden der Lungen bei Irren äußerst
erschwert sein kann; regelmäßige Wägungen, genaue Tempe¬
raturbeobachtungen, sowie die Kntanprobe nach von Pirquet,
geben besonders zuverlässige Anhaltspunkte für die Früherken¬
nung. Bei der Schwierigkeit derselben erwächst uns die Pflicht,
von verschiedenen Richtungen auf das Ziel loszu¬
steuern und alle diagnostischen Hilfsmittel in Anwen¬
dung zu bringen.
3. Die biologische kutane Tuberkulinreaktion, die wir bei
431 Pfleglingen durchführten, zeigte uns eine sehr hohe Zahl der
Tuberkulose gegenüber sicher empfänglichen, anfälligen Elementen,
namentlich bei den Frauen, die sich zu 37,55°/o als gefährdet
darstellen.
4. Durch die kombinierte Untersuchungsmethodik
gelang es uns, sowohl eine größere Anzahl Gefährdeter auszu-
sondem in hygienisch besonders günstig beschaffene Räume, so¬
wie in fachärztliche Beobachtung und Behandlung zu bringen,
Zugängliche zu Liegekuren im Freien oder auf Veranden zu be¬
stimmen, durch Gewährung von Zulagen zur Kost besonders in
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Tuberkuloseerkennung bei Geisteskranken.
239
Form von Milch and Butter den Ernährungszustand zu heben.
Auch die bereits Verdächtigen worden dieser Behandlung unter¬
worfen. Die Gewichtszunahmen, die Besserung des Allgemein¬
zustandes und des lokalen Befundes waren oft erstaunlich. Die
Erfolge gaben uns somit reoht. Bei den meisten der ge¬
fährdeten Kranken konnte ein Ausbruch der Tuberkulose abge¬
wendet oder bei beginnenden Prozessen die klinische Latenz her-
b eigeführt werden.
Literaturverzeichnis.
1. Baemeister, Lehrbuch der Lungenkrankheiten, 1915.
2. Baemeister, Die hausärztliche Behandlung der beginnenden Lungen¬
tuberkulose, 1918.
3. Bandelier und Roepke, Spezifische Diagnostik und Therapie der Tuber¬
kulose, 1915, 8. Aufl.
4. Binswanger und Siemerling , Lehrbuch der Psychiatrie, 4. Aufl., 1915.
5. Cornet, Die Tuberkulose in Nothnagels Handbuch der Pathologie und
Therapie.
6. Dehio, Betrachtungen über die Anstaltsruhr. Psych. u. Neurol. Wschr.
Nr. 49/50 und 51, 1918.
7. Geigel, Münch, med. Wschr. H. 24, 1918.
8. Geist, Tuberkulose in Irrenanstalten. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 61,
1904.
9. Gerhardt, Diagnostik und Therapie der Lungentuberkulose, 1913.
10. Gutstein, Brauers klinische Beiträge zur Tuberkulose Bd. 35, S. 3.
11. Kraepelin, Psychiatrie, Lehrbuch, 1. Bd., 8. Aufl., 1909.
12. Loew, Über Tuberkulose in Irrenanstalten. Allg. Ztschr. f. Psych.
Bd. 73, H. 5, S. 443.
13. Mach, Tuberkulose. Ergebnisse der Hyiene, Bakteriologie, Immuni¬
tätsforschung und experim. Therapie, Bd. II, 1917, S. 622 ff.
14. Müller, Krankheiten der Atmungsorgane. Mehring-Krehls Lehrbuch
der inneren Medizin, 6. Aufl., S. 257.
15. Rolly, Über Influenza. Jahreskurse für ärztliche Fortbildung, Ok¬
toberheft 1918.
16. Turban, Menstruation und Lungentuberkulose. Arbeiten aus Turbans
Sanatorium Davos.
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
16. Jahresversammlung (2. Eriegstagnng) des Vereins
Nord westdeutscher Psychiater und Neurologen inRostock-
Gehlsheim am 27. Juli 1918.
Anwesend: Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg, Rostock, Ahrens-
Rostock, Barf urtA-Rostock, Rostroem-Hamburg, RiscAoff-Hamburg-Langen-
horn, Gertrud Baden he uer-Gehlsdorf, Elfriede Bacigelupo- Bremen, Bremme-
Gehlsheim, Br ün ing-Rostock, C urschmann-Roslock, Christoffel- Zürich,
Delbrück- Bremen, UraeseAe-Hamburg, .DaAeZstem-Neustadt, Ewg.ld-Geh\s-
heim, Fraenkel-H&mbxiTg, Frieboes- Rostock, v. Grabe- Hamburg-Friedrichs¬
berg, Jacobsohn- Rostock, JTofeert-Rostock, Römer-ATa/Aa-Hamburg, Krause-
Gehlsheim, Oberstabsarzt Kobert- S. M. S. Friedrich der Große, Kleist-
Gehlsheim, L&genau-Neustadt, Martius-Rostock, MerAZin-Treptow, von
AfieZefzZi-Altona, M eyerso kn - Schwer i n, Malert- Waren, Matusch- Sachsen¬
berg, M uZeri-Gehlsdorf, Peters-Rostock, v. Pflug- Rostock, Vnger- Rostock»
RiedeZ-Lübeck, Runge-Kiel, Ro har dt- Gehlshei m, Re id-Lübeck, Repkewitz-
Schleswig, RtttersAous-Hamburg-Friedrichsberg, Röper- Hamburg, Riesen-
feld- Würzburg, RicAter-Rostock, .Staude-Rostock, .Star Ae-Alt-Strelitz,
Stcyerthal- Kleinen, Saenger- Hamburg, Schoenhals-Berlin, Schmist- Sachsen¬
berg, Schlüter-Rostock, »StarAe-Strelitz, RfoZzenAurg-Göttingen, Seyriny-
Rostock, Thömmer- Hamburg, £7tttz-Rostock, ForAastner-Greifswald, Winter¬
stein-Rostock., TFeinAerg-Rostock, v. WdsiefewsAi-Rostock, Villige- Kiel,
W attenfcerg-Lübeck, F. K. KFa/ter-Gehlsheim, Gr. TFaiter-Gehlsheim, Zappe-
Schleswig.
Am Vorabend Begrüßung im Rostocker Hof.
Sitzung am 27. Juli, vormittags 9—1 Uhr.
Vorsitzender: 2?Zeist-Rostock-Gehlsheim. Stellvertretender Vorsit¬
zender: Wattenberg- Lübeck. Schriftführer: Walter und Ewald-Rostock-
Gehlsheim.
Kleist begrüßt die Versammlung auch in seiner Eigenschaft als Dekan
der medizinischen Fakultät, im besonderen Seine Hoheit Herzog Adolf
Friedrich von Mecklenburg, sowie den Vertreter der Sanitätsdepartements
des k. p. Kriegsministeriums und den stellvertretenden Korpsarzt des
IX. Armeekorps Altona.
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
241
&au<fe-Rostock begrüßt die Versammlung als Rektor der Universität,
Marti us -Rostock als Vorstand des Rostocker Ärztevereins.
Nach geschäftlichen Mitteilungen folgen die Vorträge und Berichte.
Winterstem-Rostock: Der Stoffwechsel der nervösen Zentralorgane.
Untersuchungen am isolierten überlebenden Froschrückenmark erge¬
ben, daß die Nervenzentren der Sitz intensiver Stoffwechselvorgänge vorwie¬
gend oxydativer Natur sind, an denen Kohlehydrate, Fette, Lipoide und Ei¬
weißkörper teilnehmen. Die Tätigkeit, hervorgerufen durch elektrische Rei¬
zung, ruft eine außerordentliche Steigerung dieser Umsetzungen zum Teil bis
auf das 3 %fache des Ruhewerteshervor. Die einzelnen Stoffe sind inungleichem
Ausmaße an dem Ruhe- und an dem Reizstoffwechsel beteiligt. So werden
z. B. Trauben-und Fruchtzucker in der Ruhe ungefähr in gleichem Umfange,
bei der Tätigkeit dagegen der erstere in viel stärkerem Ausmaße verwertet.
Umgekehrt wird Galaktose besonders stark im Ruhestoffwechsel uro-
gesetzt. Dem entspricht vollkommen die Ersparnis an Fettsubstanzen,
welche durch die Zufuhr der einzelnen Zucker bewirkt wird. Bei Zufuhr
von Traubenzucker kann der ganze durch die Reizung bedingte Mehrver¬
brauch (Erregungsumsatz) vollständig durch den Zucker allein be¬
stritten werden, so daß ein Mehrverbrauch an Fettstoffen und N-haltigen
Substanzen dann überhaupt nicht stattfindet.
Aussprache. — Barfurt A-Rostock: Zu den interessanten Mitteilun¬
gen des Herrn Winterstein bemerke ich, daß schon der Physiologe E. Pflüger
in seiner Vorlesung die graue Substanz des Zentralnervensystems als die
am schnellsten zersetzbare im Organismus charakterisierte. Die Unter¬
suchungen, deren Ergebnis Herr Winterstein uns vorlegte, liefern nun den
Beweis für diese Anschauungen am Rückenmark des Frosches. Ich selber
habe in „vergleichend-histochemischen Untersuchungen über das Glyko¬
gen“ im Zentralnervensystem der Wirbeltiere vergeblich nach Glykogen
gesucht und daraus auf schnellen Verbrauch desselben geschlossen. Dem¬
entsprechend fand ich Spuren von Glykogen im Schlundganglion von
Schnecken, bei denen ein weniger schneller Stoffwechsel vermutet werden
kann. Vielleicht darf ich Herrn Winterstein fragen, ob aus neuerer Zeit
noch Beobachtungen über das Glykogen im Zentralnervensystem vorliegen.
■ÄioÄerf-Rostock: Wenn von den Biosen eine, nämlich die Laktose,
imstande ist, den Stoffwechsel des Rückenmarks zu unterhalten, so muß
dies wohl darauf bezogen werden, daß im Rückenmark ein Enzym vor¬
handen ist, welches das Molekül der Laktose in ein Molekül Dextrose und
ein Molekül Galaktose zerlegt. Die Richtigkeit dieser Annahme würde
sich leicht experimentell prüfen lassen, falls man das Rückenmark zerreibt
und mit Aq. dest. und etwas Glyzerin extrahiert. Falls dabei eine Flüssig¬
keit gewonnen wird, die an sich Laktose langsam spaltet, dann wäre die
Richtigkeit der Theorie bewiesen. Solche Versuche sind ohne Mühe an¬
stellbar. Ich zweifle keinen Augenblick, daß sie positiv ausfallen werden.
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242
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Wafter-Gehlsheim: Fettanhäufung findet sich normalerweise haupt¬
sächlich im Mark, unter pathologischen Verhältnissen auch in Nervenzellen
in stärkerem Maße. Wo findet im Versuch der Hauptfettstoffwechsel statt,
in Zelle oder Faser?'
Winterstein (Schlußwort): Über Glykogen liegen in neuerer'Zeit
einige histologische Untersuchungen an Würmern vor. — Wenn die Ver¬
wertung des Milchzuckers eine fermentative Spaltung desselben zur Voraus¬
setzung hat, so müßte diese nur in geringer Menge vorhanden sein, um die
geringe Größe des Milchzuckerersatzes zu erklären. — Eine Feststellung
des Anteils der grauen und weißen Substanz an den Stoffwechselvorgängen
war bisher nicht möglich. Vielleicht werden in Angriff genommene Unter¬
suchungen über den Stoffwechsel des peripheren Nervensystems gewisse
Aufschlüsse geben.
Berichte über endogene Verblödungen.
I. Kleist , Rostock-Gehlsheim. Klinischer Teil (mit Kranken¬
vorstellungen):
Ob die endogenen Verblödungen eine einzige Krankheit mit ver¬
schiedenen Zustandsbildern und Verlaufsformen darstellen, oder ob es
mehrere endogene Defektpsychosen gibt und welche Arten zu unterscheiden
sind, kann zwar auf rein klinischem Wege nicht endgültig entschieden
werden. Der Versuch einer klinischen Sonderung muß aber unternommen
werden, wenn überhaupt ernstliche Gründe dafür sprechen. Solche Gründe
sind die große symptomatologische Verschiedenheit der Fälle im Verein
mit der Beständigkeit gewisser Hauptmerkmale des klinischen Bildes, die
in der Mehrzahl der Fälle während der ganzen Dauer der Erkrankung
nachweisbar bleiben. Allerdings ist es notwendig, wirkliche Elementar¬
symptome der Unterscheidung zugrunde zu legen und nur solche Krank¬
heitsfälle zu besonderen Gruppen zusammenzufassen, die in ihrem ganzen
Verlauf durch eine bestimmte Art oder Vereinigung von Elementar¬
symptomen beherrscht werden, so wie z. B. für die Paralysis agitans
Zittern und Starre, für die Huntingtonsche Chorea choreatische Zuckungen
während des gesamten Krankheitsverlaufs kennzeichnend sind. Derartige
Untersuchungen können nur an Krankheitsfällen vorgenommen werden,
deren Verlauf man über eine lange Strecke von Beginn der Erkrankung an
überblickt. Ein solches Material stand dem Vortr. sowohl jetzt in Gehls-
heim als früher in Erlangen zur Verfügung. Vortr. befürwortet dringend,
auch in andern Anstalten und Kliniken geeignetes Krankenmaterial in
dieser Weise durchzuuntersuchen. Zur Bezeichnung der durch bestimmte
Symptome charakterisierten Psychosen mußten einige neue Benennungen
eingeführt werden, da die Verwendung der auch sonst gebräuchlichen
Namen unvermeidlich zu Mißverständnissen führen würde. Folgende
Arten von Defektpsychosen ließen sich unterscheiden: r r
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1. Psychomotorische Verblödungen („Katatonie"). Zu
dieser Gruppe rechnen alle die Verblödungen, die in ihrem Gesamtverlauf
durch psychomotorische Symptome beherrscht werden. Die Gruppe ist
vielleicht selbst eine Summe verschiedener Erkrankungen, denn die einzel¬
nen Falle unterscheiden sich zum Teil sehr, sowohl hinsichtlich der Art
der psychomotorischen Störungen als der Verlaufsform der Erkrankungen.
Wir unterscheiden stuporöse, erregte, parakinetische, manierierte Formen,
ferner periodisch erregte und zirkulare (erregt-stuporöse) Erkrankungen;
dazu kommen Unterarten, die durch stärkeres Hervortreten beglei¬
tender Symptome ihre Prägung erhalten; halluzinatorische, verworrene,
konfabulatorische Formen.
2. Affektive Verblödungen („Hebephrenie“). Eine kleinere,
vielleicht auch noch weiter auflösbare Gruppe. Störungen des AfTektlebens
stehen im Vordergründe. Vortragender trennt eine apathisch-unproduktive
Verblödung, zu der auch die sog. Dementia Simplex gehören dürfte, eine
lappische, manieartige Form (die Hebephrenie in engerem Sinne) und eine
depressive Verblödung. Der Krankheitsbeginn lag bei den Hebephreni-
achen wie bei den Katatonischen mit wenigen Ausnahmen vor dem
31. Lebensjahre.
3. Die inkohärente Verblödung umfaßt wenige Fälle, die in
ihrem Gesamtverlauf durch Inkohärenz des Gedankenablaufs und Para-
logien (d. h. Begriffsverwechslungen und Verquickungen, besonders bei
abstrakten und allgemeinen Begriffen) ausgezeichnet sind. Die Benennung
Schizophrenie würde für diese Gruppe sehr zweckmäßig sein, wenn sie
nicht von Bleuler schon für die Gesamtheit der endogenen Verblödungen
gebraucht würde. Zu Inkohärenz und Paralogien kommt meist eine leichte,
motorisch-sprachliche Erregung, die die Fälle der erregten Katatonie an-
nähert. Sprachliche Störungen (Wortverwechslungen, Paragrammatismen,
Wortneubildungen u. ä.) finden sich häufig. Die von Kraepeltn als Schizo-
phasie abgesonderten Fälle möchte Vortr. hierher rechnen oder sie doch
der inkohärenten Verblödung sehr nahe stellen. Es gibt eine akute und
eine chronische Verlaufsform, bei letzterer treten auch Wahnbildungen
und Sinnestäuschungen mehr hervor. Zwei Drittel der Fälle erkrankten
zwischen dem 24. und 29. Lebensjahr, ein Drittel zwischen dem 38. und
40. Jahr.
4. Die paranoide Demenz im Sinne des Vortr. betrifft die Fälle,
deren Kernsymptome unsinnige, auf Begriffsverwechslungen und -verquik-
klingen beruhende (paralogische) Fehlbeziehungen sind. Dadurch entstehen
angereimte Verfolgungs- und Größenvorstellungen, die bei gewissen Fällen
sehr zahlreich und wechselnd, bei andern dürftig und stereotyp sind. Be¬
sonders häufig kommen körperliche Beeinflussungsvorstellungen paralo¬
gischer Art vor. Regelmäßig sind Sinnestäuschungen, vornehmlich Ge-
hörstäuschungen und sprachliche Störungen (Wortfindungsfehler, stereotype
Worte, falsche Wortzusammensetzungen) vorhanden. Das Erkrankungsalter
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
— zwischen dem 29. und 40. Lebensjahr — liegt höher als bei den meisten
inkohärenten Verblödungen.
5. Als ideenflüchtig-paranoide Erkrankung wurden vom Vortr.
schon 1914 *) seltene Fälle bezeichnet, die durch Wahnbildung im Verein
mit Ideenflucht und einem gewissen Rede- und Bewegungsdrang ihre
Eigenart erhalten. Die Stimmung ist heiter, auch zornmütig, erotisch.
Die Wahnvorstellungen sind nicht so verworren wie bei der paranoiden
Demenz. Erkrankungsalter zwischen 34. und 41. Lebensjahr. Vielleicht
handelt es sich um dieselben Fälle, die Kraepelin Paraphrenia expansiva
nennt, da auch bei diesen Kranken manische Symptome beschrieben
werden. .
6. Die progressive Eigenbeziehungspsychose. Seltene
Fälle, deren falsche Begriffsbeziehungen ganz vorwiegend das Bewußtsein
der Persönlichkeit betreffen, also Eigenbeziehungen sind (Verfolgungs¬
und Größenvorstellungen hinsichtlich der Freiheit, Ehre, Tugend, Klugheit,
der Treue des Ehegatten u. ä.). Die Wahnvorstellungen bleiben größten¬
teils im Bereich des Möglichen, weitgehende Systematisierung derselben;
keine oder nur vereinzelte Sinnestäuschungen, zum Teil Erinnerungs¬
fälschungen. Nur leichte sprachliche Störungen und nur geringe Intelli¬
genzdefekte (Kombinationsdefekt). Auffällig sind die symbolischen Ab¬
sonderlichkeiten einzelner Kranker in Kleidung und Zimmereinrichtung.
Die Kranken bleiben aber tätig und affektiv rege. Erkrankungsalter um
das 40. Lebensjahr. Vortr. würde die Kraepelin sehe Paranoia hierher
rechnen; doch scheinen auch Fälle von Kraepelin?, Paraphrenia systematica
dazu zu gehören.
7. Die progressive Halluzinose ist vom Vortr. 1914 l ) unter
der Bezeichnung „endogene Halluzinose“ aufgestellt worden. Massenhafte
Sinnestäuschungen, besonders Phoneme. Die Erkrankungen erinnern,
besonders im Beginn, sehr an die Trinkerhalluzinose. Die Sinnestäuschun¬
gen werden anfangs oft als krankhaft empfunden. Verlauf teils allmählich
ansteigend, teils schubweise remittierend. Wahnvorstellungen, mehr der
Verfolgung, weit weniger der Größe, treten gegenüber den Halluzinationen
zurück. Es besteht keine dauernd mißtrauisch-feindselige Stimmung.
Große Teile der Psyche bleiben unberührt, die Kranken sind geordnet,
verlieren nur zum Teil an Regsamkeit; eine Kranke war bis zu ihrem Tode
in der Kriegsfürsorge tätig. Keine katatonischen Zeichen, nur vereinzelte
und nicht in allen Fällen nachweisbare Wortfehler und Technizismen.
Erkrankungsbeginn zwischen 30. und 45. Lebensjahr. Von Kraepelins
Paraphrenia systematica sind die Fälle durch das frühzeitige Auftreten
und die Massenhaftigkeit der Sinnestäuschungen unterschieden.
1 ) Kleist, Über paranoide Erkrankungen. Vortrag; Deutscher Verein
für Psychiatrie. Straßburg 1914. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 71, S. 764 ff.
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8. Phantasiophrenie. Vortr. schlägt diese Bezeichnung für die
von ihm 1914 als phantastisch-paranoide Erkrankungen beschriebenen
Psychosen vor, die Kraepelins phantastischer und konfabulatorischer Para¬
phrenie entsprechen dürften. Die Elementarsymptome sind Einbildungen
und Erinnerungstäuschungen. Die Wahnbildung bewegt sich bei einigen
Fällen mehr auf autopsychischem Gebiet (Größenideen), bei andern mehr
auf somatopsychischem (phantastisch-körperliche Verwandlungsvorstellun¬
gen). Die Wahnvorstellungen widersprechen sich oft und lassen die wirk¬
liche Auffassung der Dinge neben sich bestehen. Der Affektwert der
Wahngebilde ist gering; vorübergehende Affektausbrüche, ohne daß die
Kranken aus ihrem Wahn die vollen Folgerungen zögen. Es gibt Fälle
mit von vornherein chronischem Verlauf und solche mit akutem Beginn
und späterer Besserung. In einzelnen Fällen bilden sich alle Krankheits¬
erscheinungen bis auf geringe Reste zurück. Erkrankungsalter 30. bis
40. Lebensjahr.
Ein Rückblick über diese Krankheitsformen läßt erkennen, daß die
ersten 3 — die psychomotorische, die affektive, die inkohärente Ver¬
blödung — näher aneinander stehen, da sie sämtlich zu erheblicher geistiger
Invalidität führen. Nach Kraepelin würden sie zur Dementia praecox
in der jetzigen, engeren Umgrenzung zu rechnen sein. Die Formen 4—8
sind paranoide Defektpsychosen, die aber untereinander so verschieden
sind, daß sie nicht wohl als Spielarten einer und derselben Erkrankung
aufgefaßt werden können. Die geringste geistige Einbuße findet sich bei
der progressiven Eigenbeziehungspsychose (6) und der progressiven Hal-
luzinose (7), während die paranoide Demenz (4), die ideenflüchtig-paranoide
Erkrankung (5) und die Phantasiophrenie (8) in dieser Hinsicht zwischen
den Formen 1—3 und 6—7 stehen.
II. Wa/ter-Rostock-Gehlsheim. Pathologisch-anatomischer
Teil:
Nach einleitenden Bemerkungen über die bisherigen histopatho-
logischen Befunde bei Dem. praecox berichtet Vortr. über seine eigenen
Untersuchungen.
W. hat mit einer neuen Gliafärbemethode, die eine elektive Darstel¬
lung vor allem der plasmatischen Gliazellen in alkoholfixierten und in
Paraffin eingebetteten Schnittpräparaten ermöglicht, in 13 untersuchten
Fällen von Dem. praecox ausgesprochene Veränderungen gefunden.
11 davon gehörten der Katatoniegruppe an, 1 der Hebephrenie und 1
der Dementia-paranoides-Gruppe.
Histopathologisch unterscheidet er vorläufig zwei Formen von Ver¬
änderungen. Bei der ersten handelt es sich um zirkumskripte Gliawuche¬
rungen im Bereich der Übergangszone von Mark und Rinde, seltener in
den untersten Rindenschichten. Die Lage dieser Gliawucherungen zeigte
in allen Fällen (3) untereinander eine außerordentliche Ähnlichkeit und
konnte bisher nur im Parietal-, Temporal- und Frontallappen festgestellt
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werden. Die Größe dieser Gliaplaques betrag bis etwa 1,2 mm im größten
Durchmesser. Sie waren so auffallend, daß sie auch in größeren Schnitten
mit schwacher Vergrößerung ohne weiteres gefunden werden konnten.
Entzündliche Erscheinungen fehlten völlig, ebenso ließen sich bisher keine
Gefäßwandveränderungen an diesen Stellen nachweisen.
Bei der zweiten Form (10 Fälle) handelte es sich um einen im Ver¬
hältnis zum ersten diffusen Prozeß, der, soweit die bisherigen Unter¬
suchungen einen Schluß zulassen, hauptsächlich das oberflächlichste Mark
betrifft, aber auch an fast allen untersuchten Stellen nachweisbar war.
Nach einem Stadium der Hypertrophie der plasmatischen Gliazellen
in den erwähnten Gebieten treten, scheinbar manchmal früher, manch¬
mal später, starke regressive Veränderungen vor allem im Sinne der
Klasmaktodendrosis (Cajal) ein, die allmählich zu einem Untergang der
ursprünglich hypertrophischen Gliazellen führt, so daß schließlich statt
ihrer Gliazellen mit gegen die Umgebung sehr unscharf abgrenzbarem und
stark gekörntem Plasmaleib zu finden sind, die mit der benutzten
Methode nur schwer darstellbar waren. Ob prinzipielle Unterschiede
bezüglich der verschiedenen Gehirnabschnitte vorhanden sind, worauf
manches hinweist, ist noch unsicher.
Daß die gefundenen Veränderungen mit der Psychose in Verbindung
stehen und nicht etwa die Folgen der zu Tode führenden interkurrenten
Erkrankung sind, schließt Vortr. daraus, daß erstens diese Veränderungen
in der angegebenen Form bisher an keinem andern Falle (Paralyse, senile
Demenz, Arteriosklerose, Idiotie (verschiedene Formen), Manie, Melan¬
cholie, verschiedene Formen von Hirntumor (Hirnabszeß) gefunden wurden,
zweitens, daß die Veränderungen keine Abhängigkeit von der Art und
der Dauer der körperlichen Erkrankung zeigten — z. B. fand sich bei
Tod infolge akuter Dysenterie ein weit fortgeschrittener Destruktionsprozeß
der Glia; bei lange bestehender Phthisis dagegen erst Beginn oder
Höhepunkt der regressiven Veränderungen —, drittens, daß bei gleicher
körperlicher Erkrankung (z. B. Phthisis pulmonum) Fälle gefunden wurden,
die teils zu der ersten, teils zu der zweiten Gruppe im oben erwähnten
Sinne gehören.
Wieweit ein Zusammenhang zwischen pathologischem Befund und
klinischem Bilde besteht, ließ sich vorläufig nicht entscheiden, ebenso¬
wenig, ob alle Fälle, die klinisch heute zur Dementia praecox-Gruppe
gerechnet werden, analoge Veränderungen zeigen. — Die Befunde wurden
durch Diapositive von Mikrophotographien und durch Originalpräparate
belegt.
Der Vortrag erscheint ausführlich an anderer Stelle.
III. Ewold-Rostock-Gehlsheim: Serologischer Teil.
Vortr. berichtet über seine Erfahrungen mit dem Abderhalden-
scheu Dialysierverfahren bei den endogenen Verblödungsprozessen. Nach
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einem kurzen Rückblick auf die in der Literatur bisher gesammelten
Ergebnisse geht er auf seine eigenen Untersuchungen über. Er stellt sich
auf den Standpunkt, daß es sich beim Studium der Abwehrfermente um
spezifische Fermentwirkung handelt, wie auch von den meisten Unter¬
suchern anerkannt wird. Bei den endoge en Verblödungen fand er in
ca. 80% der Fälle positive Reaktionen, etwa 20% waren negativ,
Zahlen, die mit den Angaben früherer Autoren sehr gut übereinstimmen.
Bezüglich der Verteilung der positiven Reaktionen auf die einzelnen
Untergruppen der Dementia praecox fand er ein Überwiegen positiver
Reaktionen besonders bei Katatonen und Hebephrenen, während sich bei
inkohärenten und paranoiden Verblödungen mehr negative Resultate er¬
geben. Die negativen Resultate lassen sich nicht allein durch Fälle
erklären, die bereits stationär geworden, auch nicht allein durch solche,
die noch nicht zu stärkeren Defekterscheinungen geführt haben; auch
bei fortschreitender Verblödung finden sich mitunter negative Reaktionen.
Bezüglich des Abbaues der einzelnen Organe und Organgruppen
ergab sich unter den positiven Reaktionen
Gehirnabbau in 60 %.
Genitalabbau in 73%,
Schilddrüsenabbau in 71%,
Leberabbau in 19%.
Auch diese Zahlen stimmen mit den Angaben anderer Autoren
überein, nur fand sich ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz von posi¬
tiven Schilddrüsenreaktionen; die Organgruppierung Gehirn und Genital
wurde in 51%, die Trias Gehirn-Genitale-Schilddrüse in 40% aller posi¬
tiven Reaktionen gefunden. Beobachtung einzelner Fälle über längere
Zeit ergaben keinen deutlichen Parallelismus zwischen klinischem Verlauf
und serologischem Befund, nur in einzelnen Fällen war ein solcher ziemlich
ausgesprochen. Um differentialdiagnostische Schlüsse ziehen zu können,
muß man diese Ergebnisse vergleichen mit denen bei Hysterikern und
Psychopathen einerseits und Manisch-Depressiven andererseits. Die Unter¬
suchungen bei Hysterikern und Psychopathen ergaben den überraschenden
Befund, daß bei diesen zwar weniger, aber immerhin doch 50% der Fälle
positive Reaktionen zeigten. Bezüglich der einzelnen abgebauten Organe
und Organgruppen ließ sich ein Unterschied zwischen Hysterikern und
endogenenVerblödungen nicht nachweisen. Auch bei Manisch-Depressiven
fand Vortr. die verhältnismäßig sehr hohe Zahl von 63% positiver Reak¬
tionen. Doch war bei Manisch-Depressiven Gehirn- und Genitalabbau
verhältnismäßig selten, bei Manien dagegen häufig isolierter Schilddrüsen¬
abbau, bei Melancholien im Gegensatz zu Manien recht oft positiver Leber¬
abbau. Die Trias Gehirn-Genitale-Schilddrüse wurde bei Manisch-
Depressiven außerordentlich selten beobachtet, so daß sich bis zu einem
gewissen Grade das manisch-depressive Irresein von der Dem. praecox
trennen läßt; jedoch darf auch hier niemals die serologische Diagnose
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die klinische an Wert überwiegen. Nach diesen Ergebnissen dürfte es
nicht angängig sein, so wie es von der Friedrichsberger Anstalt und Ham*
burger Klinikern geübt wurde, die Abderhaldensche Reaktion im forensi¬
schen Betriebe zu verwerten. Die Reaktion kann bei negativem Ausfall
dem Kliniker wohl eine willkommene Bestätigung der von ihm schon
vorher gefaßten Meinung sein, daß es sich wahrscheinlich nicht um einen
endogen Verblödeten, sondern um einen Psychopathen handelt. Weiter
darf man aber nicht gehen. Vortr. führt zur Illustration zwei Fälle an,
in denen die serologische Diagnose zu irrtümlicher Begutachtung geführt
haben würde. Die Reaktion war nämlich bei zwei Psychopathen zu ver¬
schiedenen Malen stark positiv. Auf methodologische Fragen kann sich
Vortr. nicht einlassen, er hebt nur hervor, daß ein negativer Ausfall der
Kontrollprobe (Serum allein) keineswegs ein besonders erstrebenswertes
Moment sei, da auf diese Weise zu leicht ein tatsächlich vorhandener
Abbau latent bleiben könnte. Es muß aber jeder Abbau, auch der ge¬
ringste, als positive Fermentwirkung gebucht werden, da sonst jede Möglich¬
keit schwindet, einen Vergleich zwischen Resultaten einzelner Autoren
anzustellen, da der eine schon positiven Fermentabbau aus seinen Resul¬
taten herauslesen würde, wenn der andere die Reaktion als negativ er¬
achtet, da ihm der Farbunterschied ein zu geringer erscheint. Zum Schluß
hebt Vortr. noch einmal hervor, daß es sich für ihn bei der Reaktion mit
Sicherheit um spezifische Fermentwirkung handelt. Daß sich so häufig
ein Abbau auch bei Hysterikern und Psychopathen findet, ist nicht so
verwunderlich, wenn man an die engen Beziehungen zwischen Hysterie,
manisch-depressivem Irresein und echten endokrinen Erkrankungen
(Basedow) denkt. Wir können mit der Abderhaldenschen Methode tief
hineinsehen in den komplizierten Mechanismus der fermentativen Vor¬
gänge im Organismus. Die Gesetze, nach denen dieser Mechanismus
arbeitet, haben wir einstweilen nur zum geringsten Teil erkannt. Ob die
weitere Aufklärung dieser Gesetze der Abderhaldenschen Methode oder
einer neuen Technik gelingen wird, bleibt abzuwarten. Wenn auch in der
Psychiatrie die Methode sich einstweilen praktisch nicht verwerten läßt,
so hat dies bezüglich der praktischen Verwertbarkeit der Methode bei
Graviditäts- und Karzinomdiagnosen nichts zu besagen. Daß bei diesen
Diagnosen die Resultate eindeutiger sind, liegt daran, daß nicht jeder
Mensch ein Karzinom oder eine Plazenta in seinem Organismus beherbergt,
und daß infolgedessen auf diese Organe eingestellte Fermente bei dem
Normalen naturgemäß fehlen müssen.
(Erscheint ausführlich a. a. 0.)
IV. Krause-Rostock-Gehlsheim: Kriegsärztlicher Teil
Beobachtet wurden 35 Angehörige des Heeres bzw. der Marine,
welche der Gruppe der endogenen Defektpsychosen angehörten. Das
sind 10% unter den Aufnahmen der geisteskranken Soldaten. Von diesen
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waren 20 schon vor der Einziehung zum Heeresdienst krank (60%). Es
wird über die Vorgeschichte dieser Kranken berichtet unter Berücksichti¬
gung seltener Erscheinungsformen. Zufällig während der Kriegsjahre
erkrankten, ohne besondere äußere Schädigung, 10 Kranke (25%). Die
Vorgeschichte von diesen bietet aber bei allen etwas von der Norm Ab¬
weichendes, so daß es manchmal schwer hält, festzustellen, bis wie weit
die Krankheitserscheinungen der Dementia praecox zurückgehen. Nach¬
dem kurz berührt sind die verschiedenen Momente, wodurch die erkrankten
Leute bei der Truppe aufgefallen sind, erörtert Vortragender ausführlich
die Frage der Bedeutung einer exogenen Schädigung, welche 5 (15%)
seiner Patienten erlitten hatten. Körperliche wie seelische Traumen
erkennt Vortr. in ihrer Bedeutung als auslösend an bei bestehender Krank¬
heitsanlage und weist besonders auf die körperlichen Wirkungen von Af¬
fekten hin, wie sie in der verschiedensten Weise beobachtet werden. An¬
schließend erfolgt die Mitteilung eines Falles von Katatonie, deren Aus¬
bruch ausgelöst war durch eine Schreckwirkung.
Als Krankheitsbilder wurden vorzugsweise Katatonien und Hebe-
phrenien beobachtet, nur vereinzelt kamen vor inkohärente Verblödungen
und paranoide Demenzen.
Von 35 Patienten kam es bei 34 zu deutlichen Defekten. Grund¬
sätzlich wurden alle Kranken dieser Gruppe als kr. u. bezeichnet.
Zur Differentialdiagnose zieht Vortr. außer psychopathischen und
hysterischen Konstitutionen auch Psychosen heran, die nach Kopfver¬
letzungen entstanden sind, wobei auch ausführlich die Krankheitsgeschichte
eines Patienten mitgeteilt wird, bei dem 2 Monate nach einer oberfläch¬
lichen Schußverletzung am Kopf eine Psychose von katatonem Charakter
auftrat, wahrscheinlich als Äußerung einer Meningitis serosa. Ganz
selten beobachtete Vortr., daß Beziehungsideen in der depressiven Phase
bei Zyklothymen Veranlassung zu diagnostischen Schwierigkeiten gaben.
Unter den Unterscheidungsmerkmalen (vasomotorische Störungen,
Flexibilitas cerea usw.) ist kein Merkmal als bindend zu erachten, gerade
die genannten Merkmale werden auch bei Psychosen außerhalb dieser
Krankheitsgruppe beobachtet.
Patienten dieser Krankheitsgruppe, die mit den militärischen Straf¬
gesetzen in Konflikt gekommen waren, wurden grundsätzlich als nicht
verantwortlich begutachtet.
Dienstbeschädigung wurde dann anerkannt, wenn die besonderen
Umstände des Falles nach Schwere der Schädigung und nach dem zeit¬
lichen Verhalten des Ausbruchs der Erscheinungen mit einem hohen Grade
von Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang sprachen.
Hierzu rechnet Vortr. auch* die Teilnahme an besonderen kriegerischen
Aktionen. Vortr. verkennt nicht, daß eine ganz scharfe Grenze sich nicht
ziehen läßt, daß vielmehr eine Gruppe von Patienten übrig bleibt, die in
bezug auf ihre D.B. -Frage individuell beurteilt werden muß.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
II. Sitzung, 2y 4 —4% Uhr.
Von Geheimrat Siemerling -Kiel liegt eine Einladung vor, die nächst¬
jährige Versammlung in Kiel abzuhalten, die dankend angenommen wird.
Vor Eintritt in die Aussprache über die endogenen Verblödungen
bittet Herr Wattenberg eine Mitteilung machen zu dürfen. Nach Zu¬
stimmung der Anwesenden wird ihm deshalb zuerst das Wort hierfür erteilt.
WaUenberg-Lübeck : Zum Ersuchen des Reichskanzlers vom 4. Juni
1918, II 3170 betr. Aufnahme usw. von Geisteskranken in Irrenanstalten.
Unter dem 4. Juni d. J. hat der Herr Reichskanzler ein Ersuchen
an sämtliche Bundesregierungen gerichtet, aus dem hervorgeht, daß im
Anschluß an eine unter dem 24. Mai 1902, I 3705 seitens des Reichs¬
kanzlers ergangene Rundfrage bereits ein großer Teil der Bundesregierun¬
gen eine einheitliche reichsgesetzliche Regelung des Irren¬
wesens rücksichtlich der Voraussetzungen, unter denen ein
Geisteskranker in eine Irrenanstalt gebracht, darin behalten
werden darf und aus ihr entlassen werden muß, als erwünscht
bezeichnet haben, und daß bereits die Vorbereitung eines bezüglichen
Gesetzentwurfes in die Wege geleitet worden ist. Dem Ersuchen war als
Anlage eine im Kaiserlichen Gesundheitsamte gefertigte Zusammenstellung
über die zurzeit in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Grundsätze
für die Aufnahme usw. von Geisteskranken in Irrenanstalten beigefügt,
und das Ersuchen ging dahin, von dem Inhalt der Zusammenstellung
Kenntnis nehmen und von etwaigen Ergänzungen oder Berichtigungen
den Herrn Reichskanzler baldgefl. benachrichtigen zu wollen.
Redner vertritt den Standpunkt, daß es zwar eine ganze Reihe von
sehr wichtigen psychiatrischen Aufgaben gebe, die einer Regelung durch
das Reich dringend bedürften, daß aber die angezogenen Fragen, zum
mindesten zurzeit und in diesem Umfange, nicht dazu gehörten. Er spricht
seine Überzeugung dahin aus, daß eine einheitliche reichsgesetzliche
Regelung der Grundsätze für die Aufnahme, Anzeigepflicht, Beaufsichti¬
gung und Entlassung von Geisteskranken aus Irrenanstalten im Umfange
der aufgeworfenen Fragen bei der Verschiedenheit der Verhältnisse in den
einzelnen Bundesstaaten und an den einzelnen Landesheilanstalten —
wie sie aus der beigefügten Zusammenstellung allein schon einwandfrei
hervorgehe — schwerste Bedenken, sowohl rücksichtlich des Wohles der
Kranken wie auch der Landesheilanstalten und Universitätskliniken er¬
wecken müsse, und daß eine gesunde Weiterentwicklung der Irrenfürsorge
und der Heilanstalten sich nicht durch äußere Maßnahmen, wie die in
Aussicht genommenen gesetzlichen Vorschriften, erreichen lasse, sondern
sich nur organisch von innen heraus, den verschiedenen Bedürfnissen
und Möglichkeiten entsprecnend, entwickeln könne.
Redner stellt den Antrag, daß der Verein Norddeutscher
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
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Psychiater und Neurologen sich mit Entschiedenheit gegen
das geplante Gesetz ausspricbt und bei dem Vorstande des
Deutschen Vereins für Psychiatrie anregt, Verwahrung gegen
eine reichsgesetzliche Regelung der in dem Ersuchen des
Reichskanzlers vom 4. Juni 1918 aufgeführten Fragen im
Sinne einer Uniformierung und in jetziger Zeit einzulegen.
Aussprache. — Matusch -Sachsenberg stimmt den Ausführungen
des Vorredners bei.
Wcygandt- Hamburg-Friedrichsberg: Es ist höchst dankenswert und
wichtig, daß Kollege Wattenberg die Angelegenheit einer vom Reich beab¬
sichtigten gleichmäßigen Regelung der Bedirgungen, unter denen ein
Geisteskranker in eine Irrenanstalt aufgenomme'n und dabehalten werden
darf und aus ihr entlassen werden muß, hier zur Sprache bringt. Die
Stellungnahme der deutschen Irrenärzte erfordert Vorsicht, da der Versuch
iweiteUos Gefahren birgt. Bei solchen Zusammenlegungen von mannig¬
fachen einzelstaatlichen Bestimmungen kommt vielfach ein unerfreulicher
Kompromiß heraus, vor allem werden die vorgeschrittenen Bestimmungen
vielfach zugunsten rückständigerer zurückgedrängt. Ein warnendes Bei¬
spiel gab ja bekanntlich die Bestimmung über verminderte Zurechnungs¬
fähigkeit, die vor 1867 in fast allen partikularen Strafgesetzbüchern
Deutschlands vorgesehen war, leider nicht im preußischen, worauf nach
der Schaffung eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund, das
später vom Deutschen Reich übernommen wurde, Preußen zuliebe auf
jene wertvolle Bestimmung verzichtet wurde, um deren Wiedereinführung
bei einem künftigen Strafgesetzbuch sich nunmehr die Psychiatrie seit
vielen Jahren bemüht
Die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen über Aufnahme, Festhaltung
und Entlassung ist an sich wenig empfehlenswert, auch sind im einzelnen
noch eine Reihe recht reformbedürftiger Bestimmungen darunter. Wenn
Kollege Wattenberg die Hamburger Bestimmungen als in mancher Hinsicht
vorbildlich bezechnet hat, so trifft dies im ganzen für die Aufnahme¬
bedingungen wohl zu, die in Hamburg hinreichend praktisch sind, so daß
ohne große Mühe eine rasche Aufnahme in die Anstalt möglich ist, wenn
auch hinterher noch ein oft langwieriges Bestätigungsverfahren durch
einen Physikus zu erfolgen hat. Anders steht es mit dem Festhalten und
der Entlassung.
In dieser Hinsicht hat Hamburg eine Reihe von Möglichkeiten, daß
ein Kranker gegen ärztlichen Rat die Anstalt verlassen kann, die man
andern Orts überhaupt nicht kennt. So besteht die Berufung an das Medi¬
zinalkollegium bzw. einen Beschwerdeausschuß, in dem auch Laien Sitz
und Stimme haben. Nur in Baden bestand eine daran erinnernde Instanz,
die die Entlassung herbeiführen konnte, der Bezirksrat. Eine gewisse
Beruhigung des Publikums hinsichtlich der unsinnigen Furcht vor Frei-
Zeitschrift für PsyehUtrie. LXXV. % 18
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heit&beraubung seitens der Irrenärzte läßt sich immerhin durch solche
gemischten Ausschüsse unter Laienmitwirkung annehmen.
Außerdem besteht in Hamburg die Möglichkeit, daß ein Insasse
Klage gegen den Staat auf Entlassung einreicht bei den ordentlichen
Gerichten. Daß dies gesetzlich zulässig ist, hat das Reichsgericht ent¬
schieden und aus der Polizeigesetzgebung Hamburgs erschließen zu müssen
geglaubt. Das Verfahren halte ich für äußerst unzweckmäßig. Ganz
abgesehen davon, daß die Form der Klageführung gegen den Staat wenig
geeignet ist, die Autorität des Staates zu schützen, bewegen sich auch die
Gerichte dabei auf einem ihnen ganz fremden Gebiet, während die sonst
zuständigen Verwaltungsbehörden immerhin mit dem Stoff wesentlich
vertrauter sind.
Persönlich halte ich in Fällen, die nach ärztlichem Rat noch nicht
entlassen werden sollen, die Form der Entlassung gegen Ausstellung eines
Reverses, in dem der Vertreter des Kranken erklärt, daß er gewarnt sei
und für die etwaigen ungünstigen Folgen die Verantwortung übernehme,
im allgemeinen für ganz zweckmäßig. Immerhin kommen gelegentlich
auch Beschwerden seitens solcher Angehöriger vor, die selber einen Revers
ausgestellt haben.
Nicht näher eingehen kann ich augenblicklich auf einzelne Bestim¬
mungen, die juristisch höchst anfechtbar erscheinen, so die, daß in dem
Verfahren der freiwilligen Aufnahme auch von dem wegen Geisteskrank¬
heit Entmündigten eine zustimmende Unterschrift gefordert wird, obwohl
nach dem BGB. jede Willenserklärung eines solchen null und nichtig ist.
Ebenso ist unhaltbar die Bestimmung über die Aufnahme eines
Hamburgers, der außerhalb des hamburgischen Staatsgebietes befindlich
in eine auswärtige Irrenanstalt aufgenommen werden mußte. Hierüber
Bestimmungen zu treffen, ist lediglich Aufgabe des betreffenden Einzel¬
staates, während der Umstand, daß der Aufzunehmende etwa Hamburger
Staatsangehöriger ist, auf jenes Hoheitsrecht des andern Staates keinen
Einfluß haben kann. '
Daß wir nun angesichts der Gefahr eines ungünstigen Kompromisses
uns dem Bestreben der Reichsregierung gegenüber prinzipiell ablehnend
verhalten, erscheint mir nicht angängig, um so weniger, als bereits Bayern.
Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen und andere Staaten eine für das
ganze Reich zu treffende Regelung als erwünscht bezeichnet haben. Aber
man wird gut tun, die Sache zweckmäßigerweise etwas dilatorisch zu
behandeln, auf die zu solchen inneren Reformen nicht besonders geeignete
Kriegszeit hinzuweisen und im internen Kreise der Irrenärzte eine geeignete
Form der Regelung um so eindringlicher vorzubereiten. Der Deutsche
Verein für Psychiatrie müßte sich ebenfalls mit der Angelegenheit be¬
fassen, wenn schon gefragt werden kann, ob von dieser Instanz ein reform¬
freudiges und energisches Vorgehen zu erhoffen ist. In unserem Kreise
des Vereins Norddeutscher Psychiater und Neurologen erscheint es am
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zweckmäßigsten, wenn ein Ausschuß diese Angelegenheit durchberat und
Thesen vorlegt, die möglichst die wichtigsten einschlägigen erstrebens¬
werten Reformpunkte einer Irrengesetzgebung und Organisation berück¬
sichtigen. Ich möchte mir erlauben, als besonders bedeutsame Gesichts¬
punkte in dieser Hinsicht die folgenden hervorzuheben:
1. Die gemeinsame Verpflegung von Nerven- und psychisch Kranken,
die sich an den preußischen Kliniken und anderwärts, wie in Lübeck,
bewährt haben, ist dringend empfehlenswert. *
2. Errichtung von Polikliniken für nervöse und psychische Krank¬
heiten im Anschluß an die Anstalten ist empfehlenswert.
3. Die Aufnahme in die geschlossene Abteilung ist möglichst zu er¬
leichtern.
4. Bei der Entlassung gegen ärztlichen Rat empfehlen sich Reverse,
in dem die zuständigen Angehörigen die Verantwortung übernehmen.
5. Aufsichtskommissionen mit Laien sind sachlich nicht berechtigt,
diesen jedoch zur Beruhigung der Vorurteile des Publikums.
6. Entscheidung über Entlassung ist Sache der Verwaltungsbehörden,
nicht der Gerichte.
7. Der Anstaltsname soll auf Krankheit, nicht auf Irrsinn hinweisen.
Riedel-Lübeck: Ich sehe die Frage nicht so schwarz an wie Kollege
Wattenberg, glaube aber, daß wir, wenn eine reichsgesetzliche Regelung
der Aufnahmebedingungen in Aussicht genommen wird, nicht prinzipiell
dagegen stimmen dürfen. Das würde die Irrenärzte wieder in ein falsches
Licht setzen. An sich ist eine reichsgesetzliche Regelung durchaus er¬
wünscht. Ein solches Gesetz kommt auch nicht so schnell zustande. Es
haben die Einzelstaaten Gelegenheit, sich dazu zu äußern, auf Grund der
Stellungnahme ihrer Sachverständigen, und das sind mit in erster Linie
die Anstaltsleiter. Ich empfehle daher, daß innerhalb der einzelnen Bundes¬
staaten die Herren Kollegen entsprechend Stellung nehmen, dann werden
die liberalen Bedingungen, die sich in den verschiedenen kleinen Staaten
schon bewährt haben und sich nicht zurückschrauben lassen, weitere Aner¬
kennung finden. In diesem Sinne befürworte ich die von Herrn Weygandt
entworfenen Grundsätze.
BiscAo^-Hamburg-Langenhorn: In Anbetracht der Wichtigkeit der
Frage scheint ein einfach ablehnender Standpunkt nicht der geeignetste.
Daß ein solches Gesetz in Aussicht genommen werden würde, war bekannt.
Nur der Augenblick war etwas überraschend. Es erscheint aber wohl besser,
darüber auch in unseren Kreisen erst zu beraten: deshalb scheint der Vor¬
schlag Weygandts der bessere. Die Wahrnehmung des Standpunktes der
einzelnen Bundesstaaten wird auch an andern Stellen als hier Verständnis
finden.
Kfewf-Rostock-Gehlsheim schlägt vor, einen Ausschuß bestehend
aus den Herren Wattenberg, Weygandt, Riedel zu wählen, der die Fragen
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254 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
beraten und über dieselben auf der nächstjährigen Tagung des Vereins¬
berichten soll.
Die Versammlung beschließt demgemäß; die genannten Herren¬
nehmen die Wahl an.
Äa/fca-Hamburg-Friedrichsberg: Blutforschung und Jugend¬
irresein. Vortr. berichtet über die Ergebnisse der Blutforschung beim
Jugendirresein (Bestimmung der Blutgerinnungszeit, Blutbild, Abwehr¬
fermente Antitrysin, Hormone und vegetatives Nervensystem) mit be¬
sonderer Berücksichtigung der im serologischen Laboratorium der Staats¬
krankenanstalt Friedrichsberg erhobenen Befunde und zieht die Schlu߬
folgerungen in bezug auf Diagnostik, Prognostik und Pathogenese. (Er¬
scheint ausführlich a. a. O.) '
Aussprache zu den Berichten und Vorträgen über endogene Ver¬
blödungen. — Runge begrüßt die Bestrebungen Kleists, die große Gruppe
der Dementia praecox, die noch größere der Schizophrenie in kleinere
Gruppen zu zerlegen. Es bestand bisher vielfach eine Neigung, in zweifel¬
haften Fällen eine Dementia praecox anzunehmen. Besonders bei den
reaktiven Situationspsychosen wird nicht selten eine Dem. pr. diagnosti¬
ziert. Unter 159 Soldaten mit derartigen reaktiven psychotischen Zu¬
ständen, die der Kieler Klinik während des Krieges zugeführt wurden,
war im Lazarett in 15% fälschlicherweise Dem. pr. angenommen, unter
24 Imbezillen mit psychogenen Störungen 9mal. R. findet, daß vielfach
zu wenig nach psychogenen Entstehungsmomenten in derartigen Fällen
geforscht wird. Die Diagnose ist auch bei Soldaten vielfach dadurch er¬
schwert, daß die reaktiven psychotischen Zustände nach Überführung ins
Lazarett gar nicht oder langsamer abklingen als derartige Zustände bei
Zivilkranken, speziell Zivilhäftlingen nach Überführung in die Anstalt
oder bei Soldaten nach Überführung in die Klinik. Aus dem Zustandsbild
allein ist nicht selten eine Differentialdiagnose nicht zu stellen. R. fragt,
ob Kleist in dieser Hirsicht bei seinen Untersuchungen bestimmte, für die
Differentialdiagnose wichtige Momente hat feststellen können. Hervor¬
zuheben wäre die außerordentliche Abhängigkeit der reaktiven psychoti¬
schen Zustände von äußeren Momenten, von der Situation und Umgebung,
die zwar bei Dem. pr. nicht ganz fehlt, aber doch seltener und weniger aus¬
gesprochen ist. In ganz vereinzelten Fällen, bei denen eine Situations¬
psychose sehr wahrscheinlich ist, die Möglichkeit einer Dem. pr. aber hoch
vorliegt, bringen therapeutische Maßnahmen, besonders Faradisieren,
durch promptes Weichen der psychotischen Störungen eine Bestätigung
der Diagnose Situationspsychose. Alle diese Unterscheidungsmerkmale
haben aber nur bedingten Wert. Die Warnungen vor Anwendung des
Abderhaldenschen Verfahrens zur Entscheidung in forensischen Fällen
waren berechtigt R. verweist auf einen kürzlich von anderer Seite aus
Württemberg veröffentlichten Fall und auf einen selbst begutachteten.
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie and Neurologie. 265
in denen hauptsächlich auf Grund des Abd. Verfahrens eine Dem. pr. an¬
genommen wurde und eine zweimalige Exkulpierung erfolgte, wahrend
es sich um zurechnungsfähige Psychopathen handelte.
Rittershaus: Mißerfolge dürfen uns nicht abschrecken. Bei vielen
Entdeckungen haben oft noch unentdeckte Fehlerquellen das ganze Re¬
sultat scheinbar in Frage gestellt. Negativer Ausfall der Abderhaldenschen
Methode bei Dem. pr. beweist nichts, wir müßten viel mehr Organe unter¬
suchen: Thymus, Nebenniere, Hypophyse usw.; vielleicht würde dann der
Prozentsatz der negativen Fälle sich sehr vermindern. — Positiver Ausfall
bei nicht Praecox-Kranken ist auch noch nicht geklärt, möglicherweise
handelt es sich um scheinbare Ähnlichkeiten im Ausfall der Reaktion.
Andererseits müssen wir, wie Ewald bereits begonnen, nur noch viel syste¬
matischer, Serumuntersuchungen machen, ob ein Zusammenhang des
positiven Ausfalls der Reaktion mit der Menstruation etwa nachweisbar
ist, und ob sich vielleicht auch bei Männern eine gewisse Periodizität durch
den Ausfall der Reaktion nachweisen läßt, ohne daß man dabei die Svoboda-
schen Theorien als richtig zu unterstellen brauchte. Die ganze Frage ist
noch nicht spruchreif, namentlich in forensischer Hinsicht, aber die Wider¬
sprüche beweisen nicht die Unbrauchbarkeit der Methode, sondern können
nur zu weiteren Untersuchungen anspornen.
CurscAmami-Rostock betont die Bedenken bezüglich der Bewertung
der Blutuntersuchung in der Psychiatrie, wie Herr Kafka sie darstellte.
Er erinnert an die durch Höslin u. a. festgestellte nicht spezifische Natur
der Lymphozytose, die sich bei vielen Neuropathien und Psychopathien
findet. Alsdann weist C. auf die von Reiß und Hamburger gefundene
Brregungsleukozytose hin, die in der Psychiatrie besondere Berücksichti¬
gung verdient, und die von Kjär-Petersen beschriebene normale Leuko¬
zytosenkurve im Laufe des Tages bei Frauen zwischen 5000 und 20 000,
die die diagnostische Bedeutung der Leukozytose sehr erschwert. Bezüglich
der Erytrozytose ist die Reihe der Fehlerquellen und deshalb die Un¬
wesentlichkeit geringer Schwankungen nach oben und unten zu bedenken.
Was die von Herrn Kafka angeführten pharmakologischen Methoden zur
Feststellung von Vagatonie und Sympathikotonie anbelangt, so gibt C.
zu bedenken, daß bei allem heuristischen Wert dieser Methoden die innere
Medizin dazu gekommen ist, die Spezifität dieser Methoden und der andern
Stigmata dieser Konstitutionen sehr vorsichtig zu betrachten. Häufiger
als reine Vago- oder Sympathikotonien sind „Heterotoniker“.
Bischof} betont, daß das Abderhaldensche Verfahren noch weiterer
Durchforschung bedürfe, später aber möglicherweise auch für die Psychia¬
trie größere praktische Bedeutung gewinnen könne.
Vorkastner fragt Hrn. Kleist , ob er die systematische Paraphrenie
Kraepelins mit seiner progressiven Halluzinose oder einer andern Gruppe
seiner Tabelle für identisch hält.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Kleist (Schlußwort): Zu den Bemerkungen von Herrn Runge bestätigt
K., daß auch ihm die Unterscheidung zwischen Hebephrenie und Katatonie
auf der einen, psychopathen und psychogenen Psychosen auf der andern
Seite oft große Schwierigkeiten bereitet hat. Für psychogene Erkrankung
sprechen die Entstehung im Anschluß an gemütserregende Erlebnisse, die
Wiederherstellung nach Verbringung ins Lazarett oder bei bevorstehender
oder nach erfolgter Entlassung, dieAbhängigkeit der Krankheitserscheinun¬
gen von Erlebnissen, Wünschen und Befürchtungen (Elektivität der
Symptome) und die häufigen hysterischen Zeichen. Sorgsame, länger
dauernde Beobachtung der Persönlichkeit nach allen Richtungen (bei der
Arbeit und Unterhaltung mit Kranken und Wärtern, wobei oft Dinge,
die die Kranken dem Arzt verbergen, verraten wurden), führten schließlich
immer zur Klärung der Diagnose. K. warnt davor, in diagnostisch un¬
sicheren Fällen das Kaufmann-V erfahren zur Klärung zu benutzen. Aktive
Behandlung darf nur bei sicheren funktionellen Erkrankungen angewandt
werden. Auf die Frage des Herrn Vorkastner erwidert K., daß die Para-
phrenia systematica Kraepelins mit keiner der von K. aufgestellten Krank¬
heitsgruppen genau übereinstimmt. Besonders ist die Paraphrenia syste¬
matica von der progressiven Halluzinose durch das frühzeitige Auftreten
und die Massenhaftigkeit der Sinnestäuschungen bei letzterer geschieden.
Am meisten Verwandtschaft besteht wohl zwischen der progressiven
Eigenbeziehungspsychose und der systematisierenden Paraphrenie. Doch
hält Vortr. es nicht für möglich, diese Fälle von Kraepelins Paranoia zu
trennen.
Ewald (Schlußwort): Herr Kafka hat meine Resultate als „er¬
schreckend“ bezeichnet, dies kann er tun, wenn er sich ungefähr aut Fauser-
schen Standpunkt stellt; stellt er sich auf den Pfautschen oder auf den
iSclWarzschen, so wird er sie noch immer als überraschend gut bezeichnen.
Das Urteil ist also wohl durchaus subjektiv. — Wenn er sich wundert,
daß ich trotz dieser Resultate mit solcher Entschiedenheit für die Spezifität
der Fermente eintrete, so möchte ich nur auf Reaktionen hinweisen, die
von 5 oder 6 verschiedenen Organen nur 2 oder 3 abbauten, während das
inaktive Serum keinen Abbau ergab, die Wiederholung des ganzen Ver¬
suches aber absolut den gleichen Ausfall wieder ergab. Dies sah ich nicht
einmal, sondern oft. Ich möchte wissen, wie das mit allgemeinen proteo¬
lytischen Fermenten zu vereinigen wäre. — Wenn Herr Kafka meint, man
tue gut, schwach positive Reaktionen als negativ zu rechnen, so muß ich
dem entgegenhalten, daß wir uns dann jeder Vergleichsmöglichkeit der
Resultate verschiedener Autoren begeben, der eine beurteilt dann das als
positiv, was der andere für negativ hält und umgekehrt. Ich war auf
diesen Einwand ebenfalls gefaßt und habe eine weitere Zusammenstellung
von Resultaten gemacht, bei denen ich alle schwach positiven Resultate
fortließ. Diese ergibt dann allerdings ein Herabgehen der positiven Resul¬
tate bei Hysterie ynd Psychopathie auf 25 %, gleichzeitig sinken aber die
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
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Resultate bei Dem. pr. auch auf 50%. Ich kann darin keinen Vorteil
sehen. — Wenn Herr K. jetzt nicht mehr zur forensischen Verwertbar¬
keit der Abd. Reaktion neigt, so begrüße ich das sehr, wir sind in dieser
Hinsicht dann gleicher Ansicht geworden. Sollte die Pritsche Methode
zu einheitlichen Resultaten führen, so würde das niemand mehr begrüßen
als ich. Man würde dann auch erheblich leichter Serienuntersuchungen
anstellen können, da die neue Mikromethode sehr wenig Blut braucht. —
Gegenüber Herrn Rittershaus sei betont, daß wohl oft auch andere Organe
angesetzt wurden, aber nicht immer, deshalb sind diese Versuche in meiner
vergleichenden Statistik nicht verwertet.' Es wäre natürlich denkbar,
daß die eine oder andere negative Reaktion mit andern Organen noch
einen Abbau gäbe. Ich denke nicht daran, die Abderhaldensche Forschung
abzulehnen, wende mich ja nur gegen die forensische Verwertung. — Herrn
Bisehoff gegenüber sei erwähnt, daß uns einzelne positive Untersuchungen
bei Normalen veranlaßten, auch auf geistige und körperliche Arbeit zu
achten, auch auf menstruelle Verhältnisse usw. Diese Untersuchungen
sind noch nicht abgeschlossen.
Kafka (Schlußwort): erwähnt gegenüber Herrn Curschmann, daß
ihm die Fehlerquellen der hämatologischen Untersuchung wohlbekannt
sind. Er hat auch selbst über die Lymphozytose der Neurotiker berichtet.
Es handelt sich aber hier meist um Zahlen, die außerhalb der Fehlergrenzen
liegen, und um Kombinationen verschiedener Besonderheiten; ferner
scheint, wie im Vortrage hervorgehoben, das Studium des Blutbildes
weniger die Diagnostik zu befruchten, als bei Serienuntersuchungen
wichtige Ausschlüsse über den Verlauf und prognostische Anhaltspunkte
zu geben. Gegenüber Herrn Bischoff hebt K. hervor, daß bei Gesunden die
A. R. in genügender Anzahl vorgenommen worden ist, zum Teil auch bei
Erschöpften (eigene Untersuchungen). In Hinsicht auf die Ausführungen
von Herrn Runge warnt K. davor, Grenzfälle als beweisend für die Fehler
der A. R. heranzuziehen, und ergänzt einen prägnanten Fall.
IFeygandt-Hamburg-Friedrichsberg: Über Hydrozephalie.
Das alte Problem, das Hippokrates bereits interessiert und zu Vor¬
schlägen über Ventrikelpunktion veranlaßt hatte, bietet immer noch neue
Aufgaben. Gratiolet stellt bekanntlich die Theorie auf, daß mäßige Hydro¬
zephalie günstige Wirkung auf die Psyche ausüben könne. Prinzipiell ist
dies durchaus nicht abzulehnen, sehen wir doch beispielweise bei Hypo¬
manie unter Umständen eine keineswegs wertlose Leistungssteigerung,
selbst bei Paralyse wurde es behauptet, wobei Möbius gelegentlich seiner
Nietzsche -Studien auf eine Kasuistik von Parant hinweisen konnte. Natür¬
lich handelt es sich um ein vielgestaltiges Leiden. Anscheinend liegt in
den meisten Fällen ein entzündlicher enzephalitischer Vorgang zugrunde,
der aber auch schon ante partum vorhanden gewesen sein kann. Hodenfeld
fand bei 0,09 % aller von ihm sezierten Kinder der ersten Lebenszeit Zeichen
von Hydrozephalie, Zuckerkandl bei 127 Schädeln in 27% hydrozephalen
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Typus. Meyn bezeichnete bei 1169 Hirnsektionen Geisteskranker die in
474 Fallen vorhandenen Verwachsungen der Hinterhörner als Andeutung
von Hydrozephalie. Mandl fand in 0,03 % der Geburten Hydrozephalus
als Geburtshindernis. Nach der Hamburger Medizinalstatistik war 1913
bei 0,12% der Geburten angeborener Hydrozephalus festzustellen.
Einen an leichten Hydrozephalus erinnernden Schädelbau findet man
tatsächlich bei nicht wenigen geistig hervorragenden Männern, manchmal
mit andern bemerkenswerten Symptomen. Edison hatte in seiner Jugend
ausgesprochenen Hydrozephalus, Edi .ger hatte das Bild, das ich ihm sandte,
als verblüffend bezeichnet Schopenhauer wäre zu nennen, von Musikern
Beethoven, Rubinstein, Wagner, R. Strauß, Reger. Bei Gottfried Keller
kommen anderweitige psychische Umstände hinzu. Helmholtz ist zu
erwähnen in Verbindung mit Epilepsie. Besonders zu beurteilen sind
Menzel und Windhorst wegen des Minderwuchses, der offenbar hypophysär
aufzufassen ist. Nicht näher eingehen kann ich auf das Problem des ersten
Napoleon, der zeitlebens doch öfter epileptische Zustände darbot und in
seinen letzten Jahren an Dystrophia adiposogenitalis litt, offenbar beide
unter dem Gesichtspunkt einer im frühen Leben entstandenen enzepha-
litischen Reizung mit hypophysärem Einfluß infolge Druckwirkung des
Liquor vom Infundibulum her.
Bourneville erwähnt einen 70 cm Umfang darbietenden Hydro¬
zephalusfall mit Lähmung, der über gute Intelligenz und Urteil verfügte.
Ein Kranker Christians mit 80 cm Umfang lernte Sprachen und hatte
schöpferisches musikalisches Temperament. In England untersuchte ich
einen 13jährigen mit 60,5 cm Umfang, der eifrig und geschickt als Tischler
arbeitete. Barr erwähnt einen Kardinal mit 3,5 1 Hirnflüssigkeit.
Eine wenig bekannte Form, die in der Monographie von Kalischer
in Lewandowskys Handbuch überhaupt nicht erwähnt ist, beruht auf
Chondrodystrophie, Achondroplasie oder Mikromelie. Murk Janson er¬
wähnt in seinem Buch über Achondroplasie beiläufig einen Neugeborenen
und ein 2jähriges Mädchen mit diesem Leiden und verkürzter Schädel¬
basis sowie Hydrozephalus. Auch Par rot, Marfan ,und Apert hatten
erwähnt, daß der Schädel bei Achondroplasie manchmal hydrozephal ver¬
größert ist.
Der sogenannte neugeborene Kretine von Virchow, der zweifellos
chondrodystrophisch war, ergab bei einer Nachuntersuchung einen durch
Schädelausguß festgestellten Schädelinhalt von 460 ccm gegenüber 385
bis 450 beim normalen Neugeborenen. In einem alten Werk .von Sömme-
ring 1791 ist ein extremer Fall eines neugeborenen Mikromelen mit hoch¬
gradigem Hydrozephalus abgebildet.
Geradezu singuläre Züge zeigt ein Fall, den mir v. Blomberg demon¬
strierte, der klinisch und makroskopisch darüber berichtet hat. Ein Kind
wurde 16 Jahre alt, hatte ganz auffallenden zylinderförmigen Hydro¬
zephalus mit höchst eigenartiger Vorwölbung der Schläfenschuppen
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 259
beiderseits in Gänseeigröße. Die Intelligenz war unter Durchschnitt, doch
laute das Kind Deutsch und Polnisch, sang, wußte Choräle, rechnetet bis 10,
schrieb nach Diktat kleine Buchstaben, strickte usw. Mehrfach traten
epileptiforme Anfälle auf. Die Körperlänge betrug 123 cm, das Hirngewicht
1250 g; es wurden 1150 ccm Liquor aufgefangen. Die Thymus war 50 g
schwer.
Als für Chondrodystrophie beweisend muß ich folgende Punkte
bezeichnen:
1. die Körperproportionen, insbesondere den Gegensatz des wohl-
ausgebildeten Rumpfes gegenüber den kurzen Oberextremitäten;
2. die Dreizackhand;
3. die durch Verdoppelung des 1. Metatarsus rechts angedeutete
Polydaktylie;
4. die gebogenen Diaphysen mit konkaven Enden;
5. die Brachyzephalie;
6. eine Bildung spongiöser Lamellen im Schädel, die oberhalb der
temporalen Ausbuchtung entstanden waren und an die sonst bei Chondro-
Dystrophie an der Grenze zwischen Epi- und Diaphyse, manchmal nur
histologisch, nachweisbaren Lamellen von Bindegewebe mit Neigung zur
Verknöcherung erinnern;
7. etwa früh entwickelte Sexualcharaktere;
8. das heitere, friedliche Temperament.
Das Vorderhirn war blasig aufgetrieben, die Schläfenlappen wie
zwei dünne Säcke, die Rinde hatte 1—3mm, das Markl,5—2,5 mm Durch¬
messer. Das Okzipitalhirn war weniger komprimiert. Trotzdem ergaben
Schläfenrindendurchschnitte aus Feld 20 nach Brodmann an einer Stelle,
wo Rinde und Mark zusammen 3—3,5 mm dick waren und davon */, auf
Rinde kam, noch ganz korrekte Zytoarchitektonik.
Durch Zufall konnte ich in den letzten Tagen ein Kind von 5 Monaten
untersuchen, das andeutungweise ein Seitenstück dazu darstellt. Es
war gut ausgetragen und schien wohl entwickelt, doch fiel mit 3 Monaten
der Kopf durch großen Umfang von 46,5 cm auf. In den letzten Wochen
nahm der Umfang um je 1 cm zu, so daß er mit 5 Monaten 51,3 cm maß.
Besonders bemerkenswert war nun dabei
1. ein auffallender Wulst in der linken Schläfengegend;
2. tiefer, schräger Sitz der Ohren, besonders des linken, das zur
Horizontale einen Winkel von etwa 35° bildet;
3. Brachyzephalie;
4. Hautwülste am Oberarm, besonders rechts;
5. Andeutung von Dreizackhand.
Durch Balkenstich, den es gut überstand, wurden 50—100 ccm mit
Blut gemischten Liquors entleert.
In unserer anatomischen Sammlung, die 28 Hydrozephaliepräparate
•enthält, findet sich kein Fall, der auf Chondrodystrophie hinweist.
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260
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Ein weiterer Fall, dessen Bruder 14 Tage alt mit Hydrozephalus und
hühnereigroßer Spina bifida starb, zeigte mit 6 Monaten Verdickung des
Kopfes, mit 10 Monaten einen Umfang von 53,3 cm, die Fontanelle 8:8 cm.
Es traten tetanieartige Zuckungen auf, die Reflexe waren sehr
lebhaft, Nackensteifigkeit, Puls 250, Temperatur 40,9°, Benommenheit,
Exitus vor der geplanten Punktion. Der Liquor war xanthochrom, zeigte
6—20 Zellen Globulin, Wassermann-Mastixreaktion ergab nach Kafka
Meningitistyp. '
Der Schädel war leicht asymmetrisch, das Hirn wog 1385 g und
enthielt 200—300 ccm Liquor. Auf dem Durchschnitt zeigte sich links
kugelförmiger Tumor von 7,3—8 cm Durchmesser, nach vorn in 3 Kugeln
gegliedert, nach hinten eine große Kugel, mit auffallenden schwarzen
Schichten.
Histologisch war es ein Papillom, wohl vom Plexus chorioideus
ausgehend.
Es fanden sich ausgesprochene epitheloide Zellen, mehrfach auch
Riesenzellen mit 2 oder mehr Kernen. Viele neu entwickelte, dünn¬
wandige Gefäße, Pigmentschollen, Reste von epitheloiden Zellen und
Erythrozyten, stäbchenförmige Zellkerne, dann wieder zellarme und blut¬
gefäßarme Stellen. Das Pigment ergab Eisenreaktion, die auf seine Her¬
kunft aus Blutfarbstoff hinwies.
In diesem Falle hätte die beabsichtigte Punktion wohl sofortigen
Exitus gebracht.
Es muß angesichts der relativen Häufigkeit des angeborenen oder
früh entstandenen Hydrozephalus, die sich keineswegs scharf scheiden läßt,
mehr auf Chondrodystrophie geachtet werden.
(Der Vortrag war veranschaulicht durch 35 Diapositive.)
Aussprache. — 'FPa&er-Rostock-Gehlsheim fragt, wie sich die Epi¬
physe in den beschriebenen Fällen von Hydrozephalie verhielt, da er
selbst in 2 Fällen Aplasie, einmal völlige Verkalkung dieses Organs bei
angeborenem Hydrozephalus fand.
Weygandt (Schlußwort): An der Epiphyse der Fälle wurde bis jetzt
nichts festgestellt.
CurscAmann-Rostock: Zur Diagnose und Therapie Meniire-
scher Zustände.
Der Meniiresche Symptomenkomplex wird diagnostisch auffallend
häufig verkannt. Zwei typische, beide auf alte Otitis media zurück¬
zuführende Fälle, beide trotz 6- bzw. 2jährigem Bestehen nicht diagnosti¬
ziert, erhellen die Gründe der zu wenig durchgedrungenen Diagnose dieser
Fälle, die beruhen 1. in der allgemeinen Neigung, M. -Komplex nur bei
schwersten apoplektischen Fällen des ursprünglichen Af.sehen Typus zu
diagnostizieren; 2. in der Tendenz der Otiater, den Af.sehen Komplex
nicht als Krankheit sui generis darzustellen, sondern nur als Symptom
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie and Nearologie. 261
der verschiedenen Erkrankungen des Labyrinths und des N. acusticus
den Darstellungen dieser einzuschachteln; 3. in der ungenügenden Kenntnis
des Af.schen Komplexes als dominierenden Symptoms einer Neurose oder
einer fast reinen „Organneurose“. Auch der Frankl-Hochvrartsche Begriff
des „Pseudo-Meniöre“ als Aura oder auch Akme eines hysterischen, epi¬
leptischen oder hemikranischen Anfalls engt den Af.schen Komplex viel
eu sehr ein. Besonders wichtig ist der Af.sche Komplex als Syndrom und
Produkt einer vasomotorischen Diathese (H. Oppenheim u. a.).
Die letztere Form ist unter den funktionellen Formen bei Kriegsteil¬
nehmern besonders häufig. Es bestehen hier Beziehungen zur Hyper-
aesthesia vestibularis, die infolge irgendwelcher intestinaler Reize (beson¬
ders bei bestehender Vagotonie) zum Schwindel führt.
Der mitgeteilte Fall eines Offiziers, Angina pectoris vasomotoria zu¬
sammen mit A/.schem Schwindel, kennzeichnet diese Fälle. Nur bestand
gesteigerter kalorischer Nystagmus. In zwei andern mitgeteilten Fällen
klimakterisch-vasomotorischer Neurosen mit Af.schem Komplex war der
kalorische Nystagmus ganz normal auslösbar. Dieselbe Divergenz findet
sich übrigens auch beim organ ; sch-bedingten Menigre: bald Steigerung
bald (häufiger) Herabsetzung des kalorischen Nystagmus interparoxsmal.
Dies Symptom ist diagnostisch ohne größere Bedeutung, der klinische
Symptomenkomplex ist wichtiger.
Besonders wichtig ist die Kombination von alten, latenten, otogenen
Labyrinth Veränderungen mit nervösen Erschöpfungszuständen ( H . Oppen¬
heim) und Präsklerose oder echter Arteriosklerose, aus dieser Kombination
heraus relativ häufige Entstehung Af.scher Symptome.
Besonders in diesen Fällen ist Dauerschwindel nicht selten und
besonders häufig verkannt. Letzterer kommt auch als rein funktioneller
M. scher Komplex vor, wenn auch selten. Hier bestehen Beziehungen zur
Vertigo permanens von H. Oppenheim.
Therapeutisch ist Vortr. unbedingt für die alte Menüre-Chareots che
Chininbehandlung, die zurzeit weit mehr Gegner hat (Frankl-Hocfuvart,
Strümpell, Barany, Voß, Penzoldl usw.) als Anhänger. Vortr. bespricht
die sehr reichhaltige Therapie, die sich unter Vermeidung des Chinins bis
zur Lumbalpunktion und operativen Maßnahmen gesteigert hat. Die
eigenen Fälle Curschmanns, 20 organische, 19 funktionelle MenMre-
fälle, zeigten auf Chinin ausgezeichneten Erfolg, nur 1 oder 2 organische
blieben ganz unbeeinflußt, desgleichen 3 funktionelle, alle andern wurden
teils geheilt, teils erheblich gebessert. Auch das (nicht verwertete) Kranken¬
hausmaterial C .s spricht in diesem Sinne also gegen die Frankl-Hochwart-
sche Ansicht. Vortr. hat auch bei vorsichtiger Dosierung und langsamem
Einschleichen des Chinins nie ausgesprochene Akustikusschädigungen
gesehen. Also ist die Auffassung von der Wirksamkeit des Chinins bei
Af.schen Komplexen durch toxische Schädigung bzw. Betäubung des
N. acusticus (ursprüngliche Charcot&che Ansicht, experimentell durch Witt-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
maaek begründet) wahrscheinlich nicht richtig. Die neueren experimen¬
tellen Arbeiten ( Lindt , Schröder und Hinsberg) machen ebenfalls die spe¬
zifische Neurotropie des Chinins bezüglich de&N. acusticus sehr zweifelhaft.
Nach Vortr. ist die Wirkung vielleicht zum größeren Teil in der
experimentell ja bekannten vasomotorischen Wirkung des Chinins zu
suchen, die bei vasomotorischer Ataxie (H. Herz) bewährt ist, auch zur
Dämpfung der Hyperkinese des Herzens neuerdings empfohlen wurde
(Winterbach). Alles das berechtigt zur energischen Befürwortung der
Chininbehandlung aller MeniörezuStände.
Aussprache. — Saenger- Hamburg kann voll und ganz die Aus¬
führungen des Vortragenden unterschreiben. Er wendet ebenfalls seit
langer Zeit Chinin in der Behandlung des Menidre mit sehr gutem Erfolg
an, wofür er einen einschlägigen Fall mitteilt.
H. Curschmann (Schlußwort) bemerkt Herrn Saenger, daß er auch
selbstverständlich neben dem Chinin als Hauptmittel ab und zu (aber
relativ selten) Sedativa (Brom) oder Schlafmittel oder gegebenenfalls
Togika verwendet. Das wesentliche Pharmakon sieht er aber, wi e f Saenger,
im Chinin. — Bezüglich der Dosierung geht C. ganz langsam einschleichend
vor: er gibt statt der ursprünglichen Chininpulver Charcots (0,25 g)
Pillen zu 0,1 g Chinin, sulfur., gibt die ersten 3 Tage 3mal eine Pille, die
weiteren 3 Tage 3mal 2 Pillen und nur, wenn diese vertragen werden,
4 mal 2 Pillen 3 Tage lang, alsdann Pause von 3 Tagen. Diese Serie wird
3—4mal wiederholt. Dann Pause von einigen Wochen und eventuell
Wiederholung dieser Serien, viele Monate, ja 1—2 Jahre lang, ohne bisher
je grobe Schädigungen gesehen zu haben. Rentenfälle hat C. in seine
Statistik nicht aufgenommen.
Peters-Rostock stellte folgende Patienten vor:
I. einen 22jährigen Matrosen, welcher bei vollkommener Beschrän¬
kung der Auswärtswendung des linken Auges eine deutliche Retraktions¬
bewegung des Augapfels beim Blick nach einwärts zeigte;
2. eine Patientin, welche das Bild der rezidivierenden Conjunctivitis
petrificans (Leber) zeigte. Wie in dem Falle Sidler-Huguenin, gelang es
auch in diesem Falle, den Nachweis zu führen, daß es sich um eine Selbst¬
beschädigung durch Einbringen von Kalk in den Bindehautsack handelte.
Es besteht beiderseits ein partielles Symblepharon des unteren Lides;
3. eine Patientin, welche im Alter von 3 Jahren das linke Auge
durch Verletzung und das andere durch eine sympathische Ophthalmie
verloren hatte. Bei der jetzt 18jährigen wurde vor kurzem auf dem rechten
Auge ein verkreideter Katarakt extrahiert, und es stellte sich ein gewisses
Sehvermögen wieder her, welches der Patientin z. B. das genaue Erkennen
von Farben ermöglichte, während das exzentrische Sehen außerordentlich
zu wünschen übrig läßt, so daß räumlich getrennte Gegenstände nicht
wahrgenommen werden können. 3 Wochen nach der Operation noch nimmt
die Patientin besonders den Tastsinn zur Hilfe, um sich über die Natur
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Torgehaltener Gegenstände, die sie an sich wahrnehmen kann, genauer
zu informieren. Es steht zu erwarten, daß die Patientin das wiedererlangte
Sehvermögen in der Folgezeit noch erheblich besser auszunutzen imstande
sein wird.
Walter-Ewald.
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Kleinere Mitteilungen.
Die Dr. EdeIsche Heilanstalt für Gentüts- und Nervenkranke zu
Gharlottenburg konnte am 24. Februar 1919 auf ihr 50jähriges Bestehen
zurückblicken. Gegründet von San.-Rat Dr. Karl Edel, steht sie jetzt
unter Leitung von San.-Rat Dr. Max Edel und Dr. Gustav Emanuel.
Die" Heilanstalt Schweizerhof geht afh 1. April 1919 in den Besitz
der Provinz Brandenburg über, welche die Verpflichtung übernimmt, die
Anstalt noch wenigstens 30 Jahre in der bisherigen Weise fortzuführen
und, falls dann eine Verlegung der Anstalt beschlossen wird, einen Teil
der durch den Verkauf gewonnenen Mittel einem Unternehmen zu widmen,
das Geistes- oder Nervenkranken über die dem Provinzialverband gesetzlich
obliegende Fürsorge hinaus zugute kommt.
JPeraonaM<io7irio7Uen.
Dr. Robert Wollenberg, Geh. Med.-Rat und o. Prof., bisher in Straßburg,
hat einen Ruf an die Universität Marburg angenommen.
Dr. Otto MönkemöUer, bisher Direktor der Prov.-Anst. Langenhagen, ist
zum Direktor der Prov.-Anst. Hildesheim,
Dr. Eduard Schütte, bisher Oberarzt in Lüneburg, zum Direktor der
Prov.-Anst. Langenhagen,
Dr. Willy Rizor, Abt-Arzt in Langenhagen, zum Oberarzt an dieser
Anstalt,
Dr. Franz Viedenz, Oberarzt in Eberswalde, zum Direktor der Heil¬
anstalt Schweizerhof,
Dr. Wilhelm Schott, vor 'dem Kriege Assistent in Haus Schönow, zum
Oberarzt in Schweizerhof ernannt.
Dr. Heinrich Rehr wurde als Oberarzt von Langenhagen nach Lüneburg,
Dr. Ludwig Loder als Oberarzt von Neuruppin nach Potsdam,
Dr. Erwin Hoffmann als Assistenzarzt von Potsdam nach Görden ver¬
setzt.
Dr. Kohrer in Breslau hat sich als Privatdozent für Psychiatrie und
Neurologie habilitiert
Dr. Kaufmann, Priv.-Doz. in Halle, ist der Titel Professor verliehen
worden.
Dr. Wilhelm Tintemann, Oberarzt in Osnabrück, ist am 19. Februar 1919,
Dr. H. F. Rubarth, Geh. San.-Rat, früherer Direktor der Prov.-Anst.
Niedermarsberg, und
Dr. Hermann Köberlin, Oberarzt an der Kreisanstalt Erlangen, sind
gestorben.
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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähig¬
keit der Schädel-Hirnrerletzten mit Kraepelins
Methode der fortlaufenden Additionen.
Von
Dr. 6. Voß,
fachärztlicher Beirat für Nervenkrankheiten im Bereiche des VII. A.-K.
Für die Inangriffnahme dieser Arbeit waren verschiedene Ge¬
sichtspunkte maßgebend. Vor allen Dingen handelte es sich um
den Versuch, die geistige Leistungsfähigkeit der Schädel-Hirn-'
'verletzten und ihre Arbeitsweise zu prüfen. Dann hatte ich den
Plan, durch Wiederholung der Versuche den Gang der Er¬
krankung in ihrer Einwirkung auf die geistige Leistungsfähigkeit
zu verfolgen.
Besonders geeignet schien mir Kraepelins Additions¬
methode, um an der Hand einer Gegenüberstellung der Arbeits¬
kurven Himverletzter mit mehr oder weniger groben organischen
Ausfallerscheinungen und der Arbeitskurven Schädelverletzter vom
Typus der traumatischen Neurose einen Vergleich dieser zwei
Gruppen durchzuführen.
Es sind von anderer Seite neue Vorschläge zur Messung der
geistigen Leistung Schädelverletzter gemacht worden. Mit guten
Gründen bin ich der alten Kraepelinschen Additionsmethode treu
geblieben. Erstens verfügen wir über ein, wenn auch nicht völlig
übereinstimmendes, aber doch reiches Material von früheren Unter¬
suchungen, zweitens setzt die Ausnutzung eines psychologischen
Versuches zu klinischen Zwecken nicht allein technische Fertig¬
keit und Vertrautheit mit der angewandten Methode voraus, sondern
auch eigene, klinische Erfahrung. Eine mehr als 20jährige
Benutzung der Methode des fortlaufenden Addierens bei den ver-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 3. 19
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266
Voß,
schiedensten Kranken, vor allem bei Tranmatikem, gibt mir die
Möglichkeit, ihre Ergebnisse kritisch zu verwenden.
Versuchsanordnung: Wir bedienten uns, wie früher, AerKraepe’
{irischen Rechenhefte. Die Vp. hatten die Aufgabe, 15 Minuten lang fort*
dauernd je zwei einstellige Zahlen zu addieren. Nach 15 Minuten folgte
eine 10 Minuten lange Erholungspause, dann wieder 15 Minuten Rechnen,
noch eine 10-Minuten-Pause und der dritte Schlußabschnitt von 15 Minuten
langem Addieren. Die 5-Minuten-Leistungen wurden durch ein Zeichen ab¬
gegrenzt.
Diese Anordnung hat sich sehr bewährt; sie läßt die Wirkung der
einzelnen Arbeitsfaktoren klar hervortreten. Zwar stellt sie erhebliche
Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Untersuchten, doch haben
nur wenige Vp. versagt. Der Kranke Delaf. (Stirnschuß) bekam, nachdem
er mit großem Antrieb die Arbeit begonnen hatte, im Verlaufe des zweiten
5-Minuten-Abschnittes einen schweren epileptischenAnfall. Als er nach
10 Monaten den Versuch wiederholte, mußte er ihn nach Ablauf der zweiten
Viertelstunde abbrechen, da leichte Schwindelerscheinungen das Wieder¬
auftreten eines Anfalls befürchten ließen. Ein zweiter Kranker, Stü.,
brach nach der ersten Viertelstunde den Versuch ab und gab an, nicht
imstande zu sein, weiter zu rechnen. Bei der Wiederholung des Versuches
nach 2 Monaten konnte er ihn, wenn auch unter sichtlicher Anstrengung/
zu Ende führen. Be. (Halbseitenlähmung mit Epilepsie) war nicht fähig,
zu rechnen; zweimal versuchte er vergeblich, über die ersten 5 Minuten
hinauszukommen.
Sehr viele Kranke zeigen während des Rechnens starke Rötung des
Kopfes; fast alle klagen über Kopfschmerz und Schwindel.
Im ganzen haben 75 von meinen Schädelverletzten den Rechen¬
versuch durchgeführt, darunter rechneten 53 lmal, 17 2mal, 4 3mal und 1
5mal. Die Wiederholung des Versuches wurde meist nach 4—6 Monaten
vorgenommen. Bei einzelnen Kranken lagen kürzere, bei andern längere
Zeitabschnitte dazwischen. Nur in einem Falle mußte aus äußeren Gründen
der zweite Versuch schon nach 4 Wochen stattfinden. Sein Ergebnis
zeigt, daß von einer Übungswirkung, die etwa vom ersten Versuch hätte
übrigbleiben können, nicht die Rede ist. Um so sicherer werden wir bei
den 2 und mehr Monate langen Unterbrechungen eine Beeinflussung des
2. Versuchs durch die im 1. erworbene Übung ausschließen dürfen.
Von den 22 Kranken, die wiederholt rechneten, wiesen 14 eine mehr
oder weniger deutliche Besserung auf; bei 6 Vp. blieb die Leistung unver¬
ändert, und bei 2 (Fi. und Weißfl.) schließlich trat eine deutliche Ver¬
schlechterung ein (s. Kurven Nr. 1 a und b). Das Verhalten dieser beiden
letzten Kranken in klinischer Beziehung entsprach völlig der Ver¬
minderung ihrer Rechenleistung. Fi. rechnete 3mal in Abständen von
6 und 2 Monaten. In die Zeit zwischen dem 1. und 2. Versuch fiel die
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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 267
wegen JacksonscheT Anfälle vorgenommene Operation, die leider nicht den
gewünschten Erfolg hatte.
Weißfl. hatte einen Stirn querschuß erlitten; bis auf eine erhebliche
Sprachstörung gemischter Form bot er anfänglich keine Abweichungen.
Er konnte zunächst als Architekt den Unterricht in der Kunstgewerbe¬
schule besuchen, wobei nur seine große Ermüdbarkeit störend wirkte.
Allmählich traten psychische Störungen, Neigung zu Depression mit -
Selbstmordgedanken, hinzu, die, allerdings in etwas schwächlicher Weise,
mit Zeiten besserer Stimmung abwechselten.
Unter den 6 Kranken, deren Leistung keinen deutlichen Fort¬
schritt erkennen ließ, möchte ich besonders auf die Kurven von
Fab. und Lön. aufmerksam machen (s. Kurven Nr. 2a und b). Wir sehen
hier, daß die Leistungen des 2. Versuches in fast photographi¬
scher Treue den 1, Versuch widerspiegeln. Die Viertelstunden¬
leistungen betragen bei Fab. im 1. Versuch 238, 322 und 334, im 2. 243,
339 und 328; die Gesamtleistung beträgt demnach für Versuch I 894,
für II 920 Nicht nur nähern sich die Leistungen einander auffällig, son¬
dern auch ihre Aufeinanderfolge in den einzelnen 5-Minuten-Abschnitten
ist sehr ähnlich. Allerdings hat Fab. beim 1. Versuch mit, beim 2. ohne
Antrieb gerechnet, dafür setzt mit der 2. Viertelstunde beide Male eine
erhebliche Besserung der Leistung ein, die zum Teil als Übungswirkung zu
erklären ist, zum andern Teil auf Anregungswirkungen mit Fortfall einer
anfänglich bestehenden Hemmung beruht. Auch bei Lön. differieren die
einzelnen5-Minuten-Leistungen nur um etwa 5 oder 10 Zahlen; in beiden
Versuchen zieht sich die Kurve wurmförmig hin, unter dem Einfluß
geringer Übungswirkung allmählich ansteigend.
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Die geschilderte ül>miu5‘v(n?u\!n^ io der Arbeitsweise bei wieder*
holten Versuchen tritt, auch hei 'Vp. ' hm»*. die entweder vme dcUtbeN
Steigerung uder aber eine yjjffßt\4 %Lüstlingen erketideb iiefew
is. Kurven ’vr 8 und 4h Zu de» Va tni*■ dcuMidi^r. Besserung gehört
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setuüüs «in Erhoiängs'&iisüvg. dtt un %. 'Vv-micii entsprach'-n.i -der £*>•*
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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 269
aber vermindert sich die Leistung langsam, die 2. Pause vermag sie nicht
mehr zu heben, und das Niveau des 3. Abschnittes liegt deutlich am tiefsten;
nur sehen wir als weitere Zeichen der vermehrten Leistungsfähigkeit am
Schlüsse des 2. Versuchs einen geringfügigen Schlußantrieb. Auch bei
Schna.(4) stimmen die stark gezackten Kurven beider Versuche im allge¬
meinen überein. Schna. beginnt beide Male unter dem Einfluß sichtlicher
Hemmung, zeigt weitgehende Erholung nach der 1. Pause; im 1. Versuch
tritt die starke Ermüdungswirkung in den zweiten 5 Minuten des 2. Ab¬
schnitts hervor, während im 2. Versuch der steile Abfall erst am Schlüsse
dieses Abschnittes erfolgte. Im 3.Abschnitt bleibt in beiden Versuchen die
Leistung weit unter dem vorhergehenden, sie erhebt sich in den zweiten
5 Minuten, um schließlich ziemlich steil abzufallen. DieVersuchsergebnisse
bei Schna. lassen sich kurz dahin kennzeichnen, daß beide Male starke
Übungs-, aber noch stärkere Ermüdungswirkungen vorliegen, wobei die,
auch klinisch, bei ihm sehr deutliche Besserung nicht nur in einer Erhöhung
der Leistung, sondern auch in einer Abnahme der Ermüdungswirkung
sich äußert. Auch die beiden Versuche von Weißfl., die oben als Typus
der Verschlechterung geschildert wurden, lassen in ihren Einzelheiten im
allgemeinen Übereinstimmung erkennen. Beide Male fehlt der Antrieb,
und die Leistung ist im zweiten 5-Minuten-Abschnitt am höchsten.
So können wir feststellen, daß unter den drei Gruppen von Vp. mit
gestiegener, mit unveränderter und mit verminderter Leistung
die wiederholten Versuche eine auffällige Übereinstimmung
in der Arbeitsweise, d. h. in der Form der Arbeitskurve, zeigen können.
Diese Feststellung ist von besonderem Wert für die Beurteilung der
Methode des fortlaufenden Addierens. Die Befürchtung, daß die
Versuchsergebnisst von den Kranken willkürlich gestaltet werden
könnten, also vonRentenanwärtern etwa absichtlich herabgedrückt werden
könnten, fällt damit fort. Es ist unmöglich, nach monatelanger Pause
bei der Wiederholung des Versuchs willkürlich eine derartige Überein¬
stimmung in Höhe und Art der Leistung herzustellen. Vielmehr gibt uns
die in der beschriebenen Weise gehandhabte Additionsprüfung einen
objektiven Maßstab für die Beurteilung der geistigen Leistungsfähigkeit.
Ich kehre zu den Kranken zurück, deren wiederholte Leistung
keinen deutlichen Ausschlag, weder nach oben noch nach unten, erkennen
ließ. Stie. hatte zwischen den beiden Versuchen die Meningolyse durch¬
gemacht ; trotz einer subjektiven Besserung sehen wir die geringe Leistung
des ersten Versuches sich kaum bessern. Auch die wurmförmige Kurve
ist bestehen geblieben; sie zeigt weder Antriebs- noch Übungswirkungen,
läßt keine Ermüdung hervortreten, was bei der geringen Leistung zu
erwarten ist. Ich komme auf die Eigentümlichkeiten dieser durch den
Mangel an ausgesprochenem Charakter typischen Kurven zurück; wir
kennen sie von der Arbeitsweise der traumatischen Neurotiker her
( Buddee ).
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270
Voß,
Auch die Kurve Ges. gehört in diese Gruppe; sie bildet jedoch schon
den Übergang zu den eine deutliche Besserung aufweisenden Kranken.
Das erste Mal war aus äußeren Gründen nicht in Viertelstunden mit
10-Minuten-Pausen gerechnet worden, sondern nur dreimal 10 Minuten
mit je zwei Pausen von je 5 Minuten. Dabei hatte sich im letzten Arbeits¬
abschnitt deutliche Ermüdung geltend gemacht. Im zweiten, unter den
gewöhnlichen Bedingungen durchgeführten Versuche sehen wir die Leistung
noch im vorletzten 5-Minuten-Abschnitt ansteigen, um nur zuletzt abzu¬
fallen. So darf man wohl bei Ges. von einer im Laufe von 4 Wochen einge¬
tretenen geringen Besserung sprechen, die sich weniger in einer Steigerung
der Additionszahlen als in verminderter Ermüdbarkeit äußert. Es ist
nicht anzunehmen, daß die kurze Pause diesen Einfluß gehabt hat; ihre
Wirkung wurde wohl durch die kurze Arbeitszeit ausgeglichen.
Besonderen Nachdruck möchte ich auf die Kurven von Krü. legen.
Es handelt sich um einen 19jährigen, intelligenten Menschen, der durch
rechtseitigen Schläfen-Scheitelhirnschuß eine schwere, linkseitige Halb-
sqitenlähmung davontrug. Bei der Aufnahme war er noch kaum fähig,
zu gehen, die Hand war völlig unbrauchbar; trotz eines großen, röntgeno¬
logisch nachweisbaren Fremdkörpers besserte sich der ^körperliche und —
scheinbar — auch der geistige Zustand sehr rasch. Bei Betrachtung der
Kurve fällt der Unterschied in der Anfangsleistung auf; man könnte
denken, der 2. Versuch sei wesentlich besser. Das 6timmt nicht, denn die
geringen Zahlen der ersten 15 Minuten des 1. Versuchs sind nur durch
Hemmung bedingt. Die eigentliche Leistung tritt erst im zweiten
Abschnitt hervor und deckt sich hier in beiden Versuchen fast
völlig. Der 2. Versuch zeigt eine typische Ermüdungskurve, mit
Höchstwerten in jedem ersten 5-Minuten-Abschnitt; ähnliche Ermüdungs-
Wirkungen finden wir auch im ersten Versuch, bei dem anscheinend die
fehlende Gewöhnung den Typus noch weniger deutlich hervortreten ließ.
Krü. bietet uns also einen beachtenswerten Hinweis, daß klinische
Besserung durchaus nicht mit Erhöhung der Leistungsfähig¬
keit auf dem Gebiete der geistigen Arbeit einherzugehen
braucht. Das ist bei Rentenbemessungen sehr zu beachten. i
Nur kurz noch möchte ich hinweisen auf die Kurve von Del., die
schon anfangs erwähnt wurde. Ein Vergleich seiner Leistungen ist kaum
möglich, da der erste Versuch durch einen epileptischen Anfall unter¬
brochen wurde. Auch das zweite Mal mußte er am Schluß des zweiten
5-Minuten-Abschnittes aufhören, da zunehmender Kopfschmerz und
Schwindelgefühl das Nahen eines Anfalles befürchten ließen. Wir sehen
hier, daß entsprechend starker körperlicher Anstrengung ( Aschaffenburg)
auch die geistige Anspannung das Auftreten des epileptischen
Anfalls begünstigt.
Man wird diese Erfahrung dahin bewerten dürfen, daß die Rente
eines traumatischen Epileptikers nicht der Ausnutzung seiner
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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw.
271
vollen Arbeitskraft angepaßt werden darf, sondern nur der Hälfte bis
höchstens zwei Dritteln. Diese Feststellung gilt für körperliche so gut
wie für geistige Arbeiter.
Unter den Vp., die bei wiederholtem Rechnen eine Besserung
ihrer Leistung zeigten, steht Gä. wohl an erster Stelle. Im Laufe von
5 Monaten hat er dreimal gerechnet; während der 1. Versuch unter An¬
triebswirkung beginnt und infolge von Ermüdung ziemlich Starke Schwan¬
kungen aufweist, ist die Kurve des 2. gleichmäßiger, sie hält sich ununter¬
brochen über der ersten. Im 3. Versuch machen sich Antriebs- und Er¬
müdungswirkungen wieder geltend, wenn auch weniger als zuerst. Die
Gesamtleistung erreicht annähernd die doppelte Höhe des 1. Versuchs.
Auf die Kurven von Lew. undSchna. wurde oben bereits hingewiesen;
sie zeigten neben der Erhöhung der Leistung ein auffälliges Festhalten
an ihrer Arbeitsweise, das wir auch bei Schmi. und Schab, finden. Die
Besserung zeigt sich also ifi diesen Fällen nur in der Erhöhung der Leistung,
während die Arbeitskurve unbeeinflußt bleibt.
Recht schwankend sind dagegen die Leistungen von Fl. (s. Kurve
Nr. 5): Er litt an den Folgen eines Stirndurchschusses. Bis auf geringe
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3?2
Itfesie vom. Sprue)!- und'Shhriftstömug konnte roan ihri-für -geheilt. halten.
UniV dpeb zeigte seiR Yi^lfäUftn bei t^g$tebder /&h^r.e.
Störungen auf abMalpngü; Vor altern
fiel seine Entschlußunfökigk/d. wf.ituuc Sütanuuur war schwaiikooä t.tvJ
■ •• .. li. Durchaus ahrd/dr seinem dtmgen Verhalten ist seine Ar¬
ie it - kurve.. Dem steif' vorhanden;!:' guten' W dkm ebt spricht der ity t*;
vfiüi t Yveswah«rt nai^VriO&hkm Änfaitgsahlileig^ fittr Köir\Y U
fvhb Y\,n Versuch t— IV feuUm wir ciut-zr Anstieg der LHsUmg. dk* zwar
i" Jti »lYeii Höhepunkt em/chi/abcr erst in IV eme gewisse Stetigkeit
•••• 1 etk-ennt'!« -Uißt< Dagegen fgUt thg iütfye V stark ab;
z/ad/Ak.;,aös iler jilrf ' Sa- der.
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i- >• < i - n ;i»u>)i'sonst ps^iiiDtii ein weniger günstige? Bild, sc. daß ö'-r
r; EhltUifi. .seiner niiiitüi'bclien Vcrwenduog deütöoh kervortral/
V:;. ivvfuic* Uii. Ji äu fuur BetiiuVitung der em?:eh»tn Arheit®kurvgij.
um. den Mnitüß der ,v£t$ddedtdiptt Arbeit**-';
nadi Mögliclikeit kjarzusleheu. Ghuch im Beginn der Arbeit
1 •••■ ••• ;• keinen glefoi.-niaßiger* Verlauf der Kurven : Autriebsvnr kujfe
gen treiiiVo bekantulidv die Leistung dw'ersten 5.Minüten beiatKbrfdalfSt i:
um A‘‘fcis^T, die !LdsUuig des '5-Äinbleft-Al>SA’5*hV^^:-h.»ög!itS»--;Üiv^;.
iiidegd Vp. tirb: sieb 20»n;ik ointj mehr oder minder douUhche AnW/lk-’
; ' A-sVätelheft'- / Bleibt hhvgtegen die Aiilaitgstel?biu)k jiirdvr'ktter
• ■ ■ • : ö. s gavv Um. /j-Mintuei>••Abschnitt es zurück,' so darf mau auf
>■ Kssviv'knxjg' it jmhl'ieüen. Bei 33 Yp. cvur Ytiesk Hemmung
. . )>*•' dem Reste der f.'nfersijvhtetJ «rar dk 'Höbt'- der beideQ
i.,5 nen .Leistungen fast gleich. Da, wir vorhin «eihon hervor-
•ier Afayiigsanlrieb beim Normalen jutliezii als die. Hegel ange-
• hu o)iiß ; eo ist es hereeMigt, auch, diese |fi‘Fäija.4bft«öehßh;t<hY
h# s^4kähjehvi,iWürde ihre Zahl 49* also fgkk ds£ iifr£.mU
»tri : ‘v u‘k li iigeu .'Arbeit ende ty, erreich«)». Hieraus dürfen wir 'daß
hon. daß der .Beginn dor Arbeit der Scbadelverletzten
i,0 -is ilor überwiegenden Zahl der Falle (V9 ■; 20) unter
B/iijime. : gsWirkung steht.
>. 'i>. n \vir Yox> • dgi 1 .-im ^ ihifvb ber4fViöhiY^'äi%fo^t’ai^orl^*;
ypii !' * .•'••■■iifortigkeit ah, so sutit «lie Hüite der LoiHvmg in. engster Ab/
h jügA% r ,U YM 1 tlur Die BeurtoihVrfg des Clnmg§-\
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W- Hf ■ : -■vsr.u.jiig, und ivtusht sichjitn S«;hhiß keine stärker^ ErmUdijttg
kann tuit.-r fjtn.-if.uut/u >un rrh, L,tirh( v Cbtt»gv?uwo. hs vor
• ■ ; Worden.; I.slt D iW vvgw'i der liijutigkett «i«'} HemmUngswiikun
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siefit. der Kurven zeigt, daß mir ; ausgeprägte Ij jbuogs^ii’kuiijgw
IwJStniidC'ö;. auf/üJlend gering war die tßvuagstuhigkdt wi ’isl Fallen, Bei
jciirbck., setbst weHR vöd stärkeren jift ttw'• Beginn .fetefei
die Knde siiiu konnte. Man vergleiche inertu die Kurven von Sehna.,
.sirie. uiid Ifoffin. (s. Kurven Nr. Ga, b «. cj.
Befrachte!!. wir die Li-fetangon der rait starker Obungswirkung
ftrBdleifden \ r p,« so faßt ^f^-idtajCr-ittire. Anfongsvverte meist unter der Höhe
des jrt^itefe 5-Mi«.Uten-Aii!jehrtiUe& steheii. Diese Hemmung finden wir
*-•»halten sieh die Beide mit ausgeprägt geringer CKimgsfähigfeeif,.
Ufer feinden ?/j.r Ötnal st-ake Aidridisv/irUnng mut tun '„mud ypurd> fe • '»•'
.Versuch«- :uii . in.-r IFnuming feegomun. V.;u den i. übriger. V]-. ?.eigten
4 wüßigeu Äntriefe feifel St' efeefeäbirfee Ujutmmngv Wir könnt»*»demnrtefe
augkft, da0 fine g«*wisse Afehan.gigk• |f| «wi|. V.• • n V feungsfäifiukr».
eiaerwifei und Antrieb titul Kl«*tifett» ü$. ;i>'• ,bfei; de.i
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begÄiin jMesjäwl mit Parker tteaijtn«i\g ; die Leistung 1»ob sich dann
wettilieh rasch, pm afevlr am Schlüsse Jeds* recht
•ffe|l' abzusinken. Hiervon bildet mir die erste Vi^tcMüüdh dos ‘i.Yer-
fchdms eine Ausmifoinp. Hier macht sieh di*- BrAiödhhf. : cio^'itbM'g^HeY(.d.<
vj.-Jniehr stetst dk Leistung bis über die <«rs.le P«u«*- zue» zwp.Heu
&-Miaö♦ öt* rAjbÄ<:l/f>ilt an,,««) dann allerdings sehr schroff ahzusinke«, JDie
tJuleradne«!.} des 2. gegenober dem 1. Versuch zeigen %m. sehr >chöh
den Foriscluitt in der psychischen Leist ungsrähigkciI, der sich »m
Laufe von 8 ' Monat ch eingestellt hat und auf allen Geh Wien, sowohl
khrpeilieh als auch geistig, nachweisbar war.'"’-: ; ;v
So- heg»hat ebenfalls mtt starker Hemmung; während der ersten
S Älinuterv f teigft \iie Lefetüüg, die lO Minüten Pause latU die Ghungs-
Wirkung gehr deutlich horynrlretänLln* ersten $-2|Ijn«tep-AbschnHi nach
der -ersten Pause em-kld die Kurv.j ilnyo Hdhiqmr'kf. Man kann daraus.
•\ ielle.h. hl *« idk-ßeh, dob dm »Sthluß det* ersten 5 Rfinutviv doch schon Er*
mtidongswirkungen bestanden, welche die Leistung der letzteit $ Minuten
vor der ersten Pause heiabdnKhtvjii. Jsach dem Höhepunkte sinkt, die
Leistung deuHUdi ah; nie swi.Ue Pause genügt imhi «.ehr, um dk- Er¬
müdung auszügluicheh; »hd biald sehen wir* nach einer sehr geringCEt
Lebfung Kähwml der visLn 5 Minuten nach der 2. Pause, den Kranken
voilig V!»•vage«. Bei Halier. finden wie .kn Höhepunkt der Leistung in
MiüMI stefc" in den ersten 8 Minuten- er hat offenbar
mit stuckern-Antrieb gerechnet, In seiner Kitry.itf von Ülwigswirkung
nhr wenig zu kenuukon. In den ersten 8 Min«len uuehderb Pausa wird
d< i Höhepunkt der Leistung erreicht.- Hier mAgvn Auint'bswrfcyn«: Und
'Dbung» aus dem L Teile des Versuches sysaitdacßgcwirkt haben.: •: H.anh
Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 275
folgt ein sehr steiler Abfall unter die Hälfte der Leistung des Höhepunktes
und eine ganz geringe Erhebung nach der 2. Pause, auf die ein weiterer
ununterbrochener Abfall folgt. Wir haben hier ein selten schönes Bild
der Ermüdungswirkung vor uns.
Wie verhält sich nun die Ermüdung zu den oben geschilderten
Arbeitsfaktoren, dem Antrieb, der Hemmung und der Übung?
Während wir oben feststellen konnten, daß Übungsfähigkeit und Hem¬
mung direkt, Übungsfähigkeit und Antrieb umgekehrt proportional sind,
läßt sich eine s'olche Abhängigkeit der Ermüdung YOn diesen beiden Fak¬
toren nicht feststellen: Unter den 17 Ermüdungsfällen finden wir 8mal
Antriebs- und 7mal Hemmungswirkung. Mitunter wechseln in einem und
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demselben Versuch Hemmung und Antrieb miteinander ab. Anders
dagegen verhält sich die Übung. Ausgeprägte Übungswirkungen finden
sich nicht weniger als 9mal unter den 17 hier in Rede stehenden Fällen,
nur 3mal fehlte der Einfluß der Übung völlig, und in den letzten 5 Fällen
war die Übungswirkung gering. Dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen
Übung und Ermüdung bei unseren Schädelverletzten stimmt durchaus
überein mit den Erfahrungen, die früher an gesunden Vp. gemacht wurden
(Kraepelin und Hylan).
Es könnte schwer verständlich erscheinen, warum unter unseren
Schädelverletzten ein verhältnismäßig nur geringer Prozentsatz, nämlich
17 von 75 Leuten, Ermüdung aufweisen. Es wird allgemein, und nach
unseren Erfahrungen mit Recht, die große Ermüdbarkeit der Schädel¬
verletzten hervorgehoben. Wie seinerzeit die Versuche von Buddee und
Specht lehrten, lassen sehr geringe Leistungen Ermüdungs¬
wirkungen nicht zum Vorschein kommen. Wir werden bald
sehen, daß die Leistungen unserer Schädelverletzten im Durchschnitt
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
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■•••• : - noc? nemkd-trt» nicbt i.if'bfhra- >vfPdt‘i
keim* sVu- if.tc Kurv« iler so brngsaixi rcthnt-tnJcju Vp. 'vrtdi An-
f>u!v i':- ki. *i'T. Versuchs -in einer nur rriiig gesellten Linie
v*>H-, :• ■ l- i •'•ii‘Hut? diese Art' der Kurve.. wii- ei« b>ü?pirEv,u’Eo Hart.,
erd wohl am stärksten Zk-tti. x*uhv'oiso.n. at*, >v»t-oi •
"f l ■'•■•■■ - • -.. Kurven Nr. '7 a u. b); sit enhuerf. gorodr xe ,.<t> Am
. i Zuckung bti il« EnUtrhiiig«n akliu?i uef- Muskels.
uss^n >r tuiae »ivürtf.fc:ssioinfVcir; y^4»i«S:^r : ls4iiikt. df r
|{< ru . Jii;Eioigcn Baffen ist die Hbniinurig: :iä^^Q^:^söpfe genug-,
■ üjn (’Wt verhindern jörä^r .eir-^Ewikcii „■
Ü ist« ■ : •■ n s ’vV/'Sin.Iis. I>jr Kurvt dar v.-..-suke Hciu.müag
anigf "ifti'u '. vuu AjifnoR des Vi'HE c ^ s .0?
dvi* utip uisivodeMtonde wird,
&»>»«•.. •>, ;-..i imd HolYm. (s. .Kurven Nr. 6;>, h uc) zeigen diesen Typus.
| • ■ ..rkuiigVu gi-itf-o t.lucn-uvn einer Ktn v*. gont aiuk.re GoslaJt,
ürsi« (üßgß^fc erfeebKeiie .SrOiüdüilgsV^irkuij'gp.ri, dawi^eUc'»/ 4" Wir
«t 1 1 . 1 1(. ■ ufe br prför .«finniger k<g^d»äÖigpE untOr gräÄir^ü odfer
i’* 'ti..;. • .:• • -. g.-r, v. r'rtvifcmlt' Zicl.jüuo.kkurvt. wt* sie beKpü-Jsvv. is.c
«. i'.in.. ii.t;. . .!•••• Zick. ,'<.'ufrfi. Groß»''ühungsfähigkeil'rrgi'bt whc--. sdi-
i -i: i ; .,;r... ; . ; j t . grrvtdvtüirl) jiuni fstJihiü, je nach <Ur. Wirkung 'Er
: . ■ t ?i.m . .: iiji.il i' mW- iaifgsmri abfutlumJv Kurvt.
;■ •; >fE' ; f)‘ ii' 1 tfiluug dor Vb^tuhSorg^brusöi'' jsf nüob die GfcSÄtrt t-
; H v'jt' .{ifiuressv:. ßt mjrdo» iin gauson ati 88 Vorsucbsf agou ;
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Goa gfe
Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw. 277
in Betracht, weil es sich dort ebenfalls um lauter junge, im militärpflichti¬
gen Alter stehende Leute handelt, deren Bildungsstand dem unserer
Soldaten völlig entspricht.
Bereits im Anfänge der Arbeit habe ich darauf hingewiesen, daß es
von Bedeutung wäre, die Arbeitskurven Hirnverletzter mit
mehr oder weniger groben, organischen Ausfallerscheinungen
den Arbeitskurven jener Schädelverletzten gegenüberzu¬
stellen, die dem Typus der traumatischen Neurose ange¬
hören. Zu diesem Zweck war es nötig, eine Gruppierung unserer
Fälle vorzunehmen. Ich betone von vornherein, daß die Unter¬
scheidung dieser Gruppen auf große Schwierigkeiten stößt. Wir
finden alle Übergänge von jenen mit Lähmungen, Epilepsie und
schweren psychischen Veränderungen behafteten Schädelverletzten bis zu
den Leuten, die auf organischem Gebiet keinerlei Ausfallerscheinungen
oder Reizerscheinungen und auch keine Reflexstörungen zeigen, deren
Schädel und Hirn bis auf geringe knöcherne Veränderungen keine
Spuren der Verletzung mehr erkennen läßt. Wie ich an anderer Stelle
ausgeführt habe (Nervenärztliche Erfahrungen an 100 Schädelverletzten,
Münch. Med. Wschr. 1917, Nr. 27, S. 881), steht die Häufigkeit und Er¬
heblichkeit der Beschwerden durchaus nicht in direktem Verhältnis zu
der Schwere der organischen Störungen. Wir finden vielmehr, daß gerade
die anscheinend leicht Verletzten ohne organische Ausfallerscheinungen
die meisten Klagen äußern und sich dem bekannten Bilde der traumati¬
schen Neurose nach Kopfverletzung, das wir aus der Friedensarbeit zur
Genüge kennen, nähern. Aus obigen Gründen wird die Trennung der
organischen von den mehr funktionellen Fällen stets einen etwas willkür¬
lichen Charakter tragen. Immerhin glaube ich, sie einigermaßen richtig
durchgeführt zu haben, indem ich ihr das Vorhandensein oder Nicht¬
vorhandensein organischer Störungen irgendwelcher Art und die Ergebnisse
längerer Beobachtung zugrunde legte. Es ergaben sich 39 organische und
36 funktionelle Fälle. Von den oben erwähnten 88 Versuchstagen ent¬
fielen 38 mit 20 406 Additionen auf die Neurosen, während die organischen
Schädelverletzten an 50 Versuchstagen 39 562 Additionen ausführten.
Das ergibt für die 1. Gruppe eine Durchschnittsleistung von 537 Zahlen
pro Versuch, 12 Zahlen pro Minute, während die Durchschnittsleistung
der zweiten Gruppe 791 und 18 betrug. Der Gesamtdurchschnitt betrug,
wie oben erwähnt, 681 und 15 Additionen; wir sehen also, daß die organi¬
schen Fälle in ihrer Leistung ganz erheblich, und zwar um etwa 30%,
die Neurosen übertreffen. Ich habe zum Vergleich 10 Fälle von nicht
durch Schädel Verletzung bedingter traumatischer Neurose den gleichen
Versuch anstellen lassen, wobei ich hervorheben möchte, daß sie nicht
ausgesucht, sondern der Reihe nach, wie es der Zufall brachte, geprüft
wurden. Diese 10 Leute führten im ganzen nur 4050 Additionen, im
Durchschnitt der Versuche also 405 Additionen aus, also addierten sie
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
278
Voß,
pro Minute nur 9 Zahlen. Wir ersehen daraus, daß die Rechen¬
fähigkeit der reinen traumatischen Neurotiker noch weit hinter den
Leistungen meiner als funktionell aufgefaßten Schädelverletzten zurück¬
bleibt. Diese außerordentlich geringe Leistung der träum atischen Neu¬
rotiker kommt einzig und allein durch psychische Hemmung zu¬
stande. Ich habe vorhin als Hemmungstypus die „wurmförmige“ Kurve
bezeichnet; sie findet sich am ausgesprochensten und häufigsten bei der
nicht organischen Gruppe. Als stärkste Ausprägung der Hemmung haben
wir die absteigende wurmförmige Kurve kennengelernt. Sie ließ sich durch
die Annahme einer während der Arbeit wachsenden Hemmung
erklären. Die 3 für dieses Verhalten als charakteristisch genannten Fälle
Strie., Scha. und HofTm. gehörten sämtlich den funktionellen Fällen an,
ja, sie waren auch klinisch als solche gekennzeichnet. So litt beispiels¬
weise Scha. an einer hysterischen Lähmung des linken Armes. Dieses
Ergebnis stimmt völlig überein mit den Erfahrungen, die wir bei Ad¬
ditionsversuchen mit traumatischen Neurotikern in der Greifswalder
Psychiatrischen Klinik machten (s. o. Buddee). Es ließ sich feststellen,
daß die psychogene Hemmung bei traumatischer Neurose die Neigung
hat, während der Arbeit zuzunehmen, während im Gegensatz hierzu die
Hemmung selbst schwerkranker Depressiver aus der Manisch-Depressiven-
Gruppe im Beginne der Versuche am stärksten ist und bei fortlaufender
Arbeit mehr oder weniger zu schwinden pflegt (Hutt, Voß). Die psychische
Hemmung der traumatischen Neurotiker stimmt in dieser Beziehung
völlig überein mit dem Verhalten dieser Kranken auf anderem Gebiet.
So sehen wir bekanntlich nicht selten, daß eine hysterische, anfangs nur
angedeutete Lähmung zunimmt während der Untersuchung, ebenso wie
bei der Sensibilitätsprüfung zunächst noch schmerzhaft empfundene
Heize auf der einen Körperhälfte späterhin keine Schmerzreaktion mehr
hervorrufen. Dieses Verhalten le,gt den Gedanken an willkürliche Über¬
treibung oder Vortäuschung nahe; es ist aber eher zu erklären aus der
unwillkürlichen Verstärkung einer in den Bereich der Aufmerksamkeit
tretenden, vorher schon in geringem Maße vorhandenen Störung.
Sowohl Specht als auch Buddee haben sich bei der Anstellung ihrer
Rechenversuche an traumatischen Neurotikern eingehend mit der Frage
beschäftigt, ob die geringen Leistungen ihrer Vp. etwa durch willkürliche
Vortäuschung zu erklären wären. Beide Verfasser lehnten diese Möglich¬
keit ab. Auch ich habe oben auf die merkwürdige Übereinstimmung der
Kurven hingewiesen, welche von einem und demselben Kranken in mehr
monatigen Zwischenräumen geliefert wurden. Die fast photographische
Treue, welche beispielsweise in der Wiederholung des Versuches Lw. zeigt,
läßt eine willkürliche Einstellung der Arbeitsgeschwindigkeit wohl mit
Sicherheit ausschließen. Ferner läßt die Beobachtung der Kranken
während der Versuche selbst fast stets erkennen, ob sie mit Eifer bei der
Sache sind. Die meisten Kranken zeigen eine starke Rötung des Kopfes;
oft tritt Zittern der den Bleistift führenden Hand bei längerer Arbeit auf.
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Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw.
279
Auch der früher gegen die Anwendung der Jtraepelinschen Rechen-
methode erhobene Einwand, daß die Arbeit zu eintönig sei und das Inter¬
esse der Vp. zu leicht bei der Arbeit erlahme, wodurch das Zustande¬
kommen einer Höchstleistung verhindert werde, geht durchaus fehl. Wir
haben fast stets den Eindruck gehabt, daß unsere Vp. mit ganzem Eifer
bei der Arbeit waren und nur infolge eintretender Ermüdung in ihren
Leistungen nachließen.
Ich fasse meine Ausführungen in folgenden Sätzen zusammen:
1. Dem allgemeinen Verlauf der Sehädel-Hirnverletzungen ent¬
sprechend finden wir bei Prüfüng der Rechenfähigkeit nach einem
Zeitraum von im Durchschnitt 2—6 Monaten in dem größten Teil
der Fälle eine Besserung der Leistung. Bei einer geringen Zahl
von Kranken bleibt die Leistung unverändert und in vereinzelten
Fällen stellt sich eine Verschlechterung des Ergebnisses ein.
2. Das Ergebnis der Rechenprüfung entspricht nicht immer
der Entwicklung des Zustandes in körperlicher Hinsicht: wir finden
einerseits, daß schwere körperliche Beeinträchtigung mit guter
psychischer Leistung Hand in Hand geht, während umgekehrt
bei geringem Ausfall auf körperlichem Gebiet die psychische
Leistung sehr schlecht sein kann. Der Besserung auf körperlichem
Gebiet entspricht durchaus nicht immer eine Zunahme der Rechen¬
fähigkeit.
3. Die Arbeitskurve der Schädel-Himverletzten zeigt aus¬
geprägte individuelle Eigentümlichkeiten. Bei Wiederholung der
Versuche halten die Kranken an dem zuerst festgestellten Typus
häufig so weit fest, daß die späteren Kurven mit nahezu photo¬
graphischer Treue die früheren Ergebnisse wiederholen können.
4. Die meisten Schädel-Hirnverletzten zeigen im Beginn der
Arbeit eine Hemmung, so daß die Leistung des ersten & Minuten-
Abschnittes geringer ist, als die des zweiten.
5. Die Ubungsfähigkeit war bei der Mehrzahl meiner Kranken
gering. Starke Übungsfähigkeit fand sich oft gepaart mit erheblicher
Ermüdbarkeit. Wo große Ubungsfähigkeit bestand, ließen sich
weniger AntriebswirkuDgen feststellen.
6. Die Gesamtleistung der Schädel-Himverletzten ist niedrig.
Sie bleibt um etwa Vs hinter der Leistung gesunder Vp. von
gleichem Bildungsstand zurück.
7. Unter meinen Schädel-Himverletzten ließen sich, wenn
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280 Voß, Untersuchungen über die geistige Leistungsfähigkeit usw.
auch nicht ohne Schwierigkeiten, 2 Gruppen voneinander scheiden,
a) Kranke mit ausgeprägt organischen Störungen, b) Kranke
mit hauptsächlich funktionellen (psychogenen) Symptomen. Von
beiden Gruppen sind alle Übergänge vorhanden; eine scharfe
Trennung läßt sich nicht durchführen. Zu einer richtigen Be¬
urteilung bedarf es eingehender Untersuchung und längerer Be¬
obachtung.
8. Die Rechenfähigkeit der Gruppe a) ist erheblich besser als
die der Gruppe b). Am geringsten sind die Leistungen von zum
Vergleich herangezogenen traumatischen Neurosen anderer Her¬
kunft (Zitterer, psychogen Gelähmte usw.).
9. So gut wie körperliche Anstrengung kann auch geistige
Anspannung bei Schädelverletzten epileptische Anfälle auslösen.
Diese Erfahrung mahnt zu einer vorsichtigen Einschätzung der
Erwerbsfähigkeit Schädel-Hirnverletzter im allgemeinen und ins¬
besondere Kranker mit epileptischen Anfällen: Wir werden die
Rente niemals einer mit Höchstanspannung der geistigen oder
körperlichen Kräfte zu erreichenden Leistung anpassen dürfen,
sondern sollten dem Kranken nicht mehr als l / a — 1 / 3 seiner Arbeits¬
kraft als vorhanden anrechnen.
10. Auch die vorliegenden Versuche mit der Kraepelinschen
Rechenmethode haben ihre Brauchbarkeit als klinisches Unter¬
suchungsmittel erwiesen; es besteht keine Gefahr, daß die Er¬
gebnisse absichtlich verringert oder verändert werden.
Literaturhinweise.
Buddee, Über Rechenversuche an Gesunden und Unfallkranken usw.
Diese Ztschr. Bd. 67, S. 906.
Specht, Über klinische Ermüdungsmessungen. I. Teil: Die Messung der
geistigen Ermüdung. Arch. f. d. ges. PsychoL Bd. III, H. 3.
Hylan und Kraepelin in Kraepelins Psychol. Arbeiten Bd. IV.
Hutt, ebendort, Bd. V.
Voß, Weitere Untersuchungen über die Schwankungen der geistigen
Arbeitsleistung. Internat. Kongr. f. Irrenfürsorge. Berlin 1910.
Kongreßbericht.
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Original fro-rri
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannes¬
alter.
Von Dr. Oehring.
Wenn wir unseren Ausführungen hauptsächlich die Geistes¬
krankheiten des Mannesalters, also die Zeit vom 35. bis 45. Lebens¬
jahre, zugrunde legen, so geschieht dies eines Teiles deshalb, weil
in diese Grenze die ältesten Jahrgänge der Militärdienstfähigkeit
inbegriffen sind, anderen Teiles auch deshalb, weil bekannt ist,
daß diese Periode für den Ausbruch geistiger Störungen ganz be¬
sonders disponiert ist. Fallen doch in diese Periode neben dem
Ausbruch der progressiven Paralyse hauptsächlich auch Er¬
krankungen, die mit der Rückbildung Zusammenhängen, weshalb
gerade diese Formen auch als männliches Klimakterium beschrieben
worden sind.
Die Aufgabe der Untersuchung ist es nun, einerseits den
quantitativen Verhältnissen nachzugehen, andererseits die Formen
im einzelnen genau zu prüfen und zu studieren und Unterschiede
festzustellen zwischen den einzelnen Psychosenformen und ihren
qualitativen Verhältnissen bei Individuen, die nicht den gleichen
Schädlichkeiten, also Militär- und Frontdienst ausgesetzt waren.
Wir haben insbesondere der Frage näherzutreten, ob be¬
stimmte spezifische Erscheinungen im Verlaufe und im Ausgang
der Erkrankungen nachweisbar sind und werden nach den ge¬
nannten Richtungen hin zu erwägen haben, ob aus quantitativen
find qualitativen Verhältnissen ein kausaler Zusammenhang
zwischen psychischen Erkrankungen und Militärdienst sich ergibt.
Urteile darüber liegen von maßgebenden Autoren nach beiden
Richtungen vor, sowohl solche, die sich für, als auch solche, die
sich gegen die Annahme eines engeren Zusammenhanges zwischen
psychischer Erkrankung und Kriegsdienst äußern.
Mtaohrift für PsyohUtri«. LXXV. 3. 20
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
282
0«hni> gf,
Eine bewnUePp Eofdörn.ag' der Ünidrsmlmog war es natOrlicli,
daß ebie Qualitative PrübrrjÄ der Fälle hneuizohien und ein. quanti-
tativer Verirfvkth u<it einem almliehon Material vorgeoonimen
wurde Za diesem Zwecke unterzöge«, wir die männlichen Zü-
■gingfr der giekibe« AMn^rindo' in eine«?-Jahre- ans derHeilanstalt
Dösetv cunvi geamieren Dichtung.
deshalb mit «fein rniti-
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Wie es siel) erblähh daß die einzelnen Psy eh oseuf armen hei
Milltär|iersoiien twid iZMipersutien hinfeiehUirb derdHktififgkeil ihres
Auftretens verschieden^: Werte bieteiL werde« wir m den KapiNn
über die versehiedeiien Kraiikhidlsfomien zu erörtern ' verstürben.
Wir v^jif'iTden un.'j S'uttiy hst rtir Brspiecfurng der Deine itt tb pi ae-
oe.x. — An ■ Erkrankungen der .Demtntia pr^t . i ^Druppe Titten •. <»<' 4 <Ai
<2*2 fft M-nntt^aKer >111 »drei» Sild^fea 3t». u. v. 2 i.NOiw.vit» * W
veiiiältvH'iitimßijg ludto 2?td, j^c^öfipters weon man ht-dfiiitj daß doThbwUpD
saeMh le das jugendliche Alit:r eine eilxjkle Disposition zu dieser Erkran¬
kung hat.
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter.
283
schieden. Kraepelin gibt in einer Zusammenstellung von 296 Fällen den
Wert von 6,5%, Wolfsohn bei 618 Fällen 15% an. Diesem letzteren Er¬
gebnis kommt der Prozentsatz von 16,96% bei 337 Fällen der Anstalt
Dösen ziemlich nahe.
Unter Meyers sehr großem Soldatenmaterial, welches allerdings die
Soldaten aller Altersklassen umfaßt, machen die Dementia praecox-Fälle
sogar nur 7,5 % aus, gegenüber dem Friedensdurchschnitt gewiß keine zu
hohe Zahl.
Meyers Material stammt aus dem Jahre 1915. Ob die Differenz
zwischen seinen und meinen Zahlen durch die Annahme zu erklären ist,
daß im Verlaufe des Krieges die Spätfälle von Dementia praecox zahl¬
reicher geworden sind, vermag ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls ist
diese Annahme von vornherein nicht von der Hand zu weisen. Wir haben
dabei nicht nur an direkte Kriegsschädigungen, sondern auch an die ge¬
samten Kriegsverhältnisse, die materielle und soziale Lage der später zum
Kriegsdienste eingezogenen Individuen zu denken.
Von meinen Fällen kamen auf die hebephrenen einer, d. i. 3,33%,
auf die paranoide Form 5, d. s. 16,6%, auf die Katatonie 6, d. s. 20% und
auf die Dementia simplex die übrigen 18, d. s. 60% der Fälle. 19, d. s.
63,3 %, der Soldaten waren kürzere oder längere Zeit im Felde, die übrigen
erkrankten in der Heimat.
Der Frage der erblichen Belastung konnte nicht in erschöpfender
Weise nachgegangen werden, da die Unterlagen dazu zum Teil mangelhaft
waren. Nach dem mir zur Verfügung stehenden Material war jedoch
ungefähr in der Hälfte der Fälle hereditäre Belastung anzunehmen, was
im Vergleich zu den Erfahrungen anderer Autoren einen mittleren Wert
repräsentiert.
In Publikationen Vorsters und Siolis wird als Belastungsziffer 90%
angegeben, Bleuler nimmt 35%, Kraepelin nur 18—19% an.
17, d. s. 56,6%, der Fälle zeigten außerdem auch schon vor der Ein¬
stellung besondere Erscheinungen seitens ihrer Psyche. Zumeist handelte
es sich um Individuen mit psychopathischer oder paranoider Konstitution
oder solche, die von Geburt an als geistig reduziert oder moralisch minder¬
wertig zu erachten waren.
Bemerkenswert ist, daß die Disposition zur Erkrankung bei vorher
sei es durch Erblichkeit bzw. abnorme Konstitution prädisponierten
Soldaten bei den im Felde gewesenen höher als bei den in der Heimat
verbliebenen ist, die ersteren betragen 68,7, die letzteren 60 %.
Noch augenfälliger ist dies bei den unter gleichen Gesichtspunkten
begutachteten Insassen der Anstalt Dösen, die außer den gewöhnlichen
Lebensreizen weiter keinen Schädigungen ausgesetzt waren. Der Er¬
krankungsprozentsatz der Belasteten beträgt bei ihnen nur 55%. : ||jJ
Auf Grund dieser Zahlenergebnisse ist der Schluß, daß der Kriegs¬
dienst mindestens eine Verschlimmerung des Leidens bei
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20 *
Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN
284
Oehring,
einer gewissen pathologischen Veranlagung herbeiführen
kann, nicht von der Hand zu weisen 1 ).
Gerade diese Tatsache ist ja von außerordentlicher Bedeutung für
die gutachtliche Tätigkeit des Militärarztes und wurde von uns auch auf
Grund dieser Erfahrungen stets in diesem Sinne gehandhabt.
Inwieweit diese rein auf Grund quantitativer Feststellungen ge¬
wonnene Behauptung richtig ist, geht später aus der Analyse einzelner,
besonders charakteristischer Fälle hervor.
Nach unseren Anschauungen vom Wesen der Dementia praecox
läßt gerade die Entwicklung dieses Leidens wenig Raum für exogene Mo¬
mente, weshalb von maßgebender Seite mit Recht der Zusammenhang
zwischen Dementia praecox und Kriegsdienst bezweifelt wird. Dagegen
erscheint jedoch bei genauerer Befassung mit den einzelnen Krankheits-
bildern die Annahme kausaler Beziehungen wahrscheinlich.
Bei der Bearbeitung der vorliegenden Fälle konnte in einer Reihe
derselben teils aus der Entwicklung des Leidens, teils aus seiner Sympto¬
matologie ein solcher Zusammenhang als wahrscheinlich angesehen werden.
Es soll von vornherein zugegeben werden, daß in typischen De¬
mentia praecox-Fällen, die von katatonen oder schizophrenen Symptomen
beherrscht werden, oder bei denen ein mehr oder minder zusammenhängen¬
des Wahnsystem hervortritt, für den kausalen Nexus mit dem Kriegsdienst
keinerlei Anhaltspunkte gefunden wurden.
Anders mußte aber das Urteil in den Fällen lauten, wo der eklatante
Erfolg der Anstaltsbehandlung den Gedanken an die Beseitigung schäd¬
licher Ursachen erweckte oder die als Erschöpfungssymptome bekannten
Erscheinungen im Vordergründe standen und eine Ähnlichkeit mit den
erst in neuester Zeit durch Stelzner abgegrenzten Erschöpfungspsychosen
von Kriegsteilnehmern hervortrat.
Hierzu kam noch, wie schon oben angedeutet, der für einzelne Fälle
erbrachte Nachweis, daß das Individuum seiner Anlage nach ein minder¬
wertiges Zentralnervensystem besaß und das von Natur aus bestehende
mangelhafte Gleichgewicht der psychischen Persönlichkeit einen Angriffs¬
punkt für äußere Ursachen bot.
Die Fälle, in denen kausale Beziehungen anzunehmen sind, lassen
sich nach meinem Material in solche mit oder ohne pathologische Kon¬
stitution einteilen.
Um für vorstehende Behauptungen den Beweis zu erbringen, ließ es
sich nicht vermeiden, einige typische Krankheitsgeschichten wenigstens
auszugweise zu bringen. Als in ihren Symptomen und ihrem Verlaufe
verwandt, führe ich zunächst folgende zwei Krankheitsgeschichten an;
1 ) Dieser Behauptung müßte auf Grund zahlreicherer Untersuchun¬
gen, vor allem auch an der Hand eines umfangreicheren Materials, noch
weiter nachgegangen werden. ""
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Original fro-m
UMIVERS1TY OF MICHIGAN
Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 285
Fall 1. D. R., 43 Jahre alt, gibt an, daß sein Yater lebt und gesund,
seine Mutter an Altersschwäche gestorben ist. Zwei seiner Schwestern
sind geisteskrank, über weitere Aszendenz weiß Pat, sonst nichts zu be¬
richten^ Er selbst hatte als Kind Masern, ist aber sonst nicht ernstlich
krank gewesen. In der Schule gut gelernt, nach der Entlassung wurde er
Gärtner. 1893—1896 aktiv gedient, Alkoholmißbrauch und venerische
Infektion hat nicht stattgefunden.
Wurde am 2. September 1914 zu einem Landsturm-Infanterie-
Bataillon eingezogen. Wegen einer Gonorrhoe erfolgte die Aufnahme ins
Lazarett, wann, vermag er nicht mehr genau anzugeben.
Am 4. August 1916 wurde er in unser Lazarett eingeliefert. Der Be¬
fund bei der Aufnahme war folgender:
Äußerst kräftig gebauter, muskulöser Mann, dessen innere Organe
keinen krankhaften Befund bieten. Befindet sich in starkem Hemmungs¬
zustande, hat einen langsamen, schleichenden Gang, bietet deutliche Zeichen
von Katalepsie. Auf Ansprache nur spärliche sprachliche Reaktion.
Im weiteren Verlaufe zunächst noch vollkommen stuporös, ver¬
weigerte die Nahrung. War später außerhalb des Bettes, jedoch noch immer
gehemmt und ohne Interesse für seine Umgebung. Gegen Ende des 5.
Monats trat eine Lösung des Stupors ein. Pat. wurde freier und zugäng¬
licher und konnte wesentlich gebessert in häusliche Pflege gegeben werden.
Fall 2. Soldat B., 39 Jahre alt, wird am 19. Januar 1917 von der
Front mit Lazarettzug hier eingeliefert. Seit 14. September 1914 ununter¬
brochen im Felde. Nähere Angaben über Vorgeschichte sind beim Zu¬
stande des Pat. nicht zu ermitteln.
Pat. ist bei der Aufnahme äußerst stark gehemmt. Sein Gesichts¬
ausdruck ist leer und unbeweglich. Reaktion auf Ansprache ganz spärlich,
kann sich auf die einfachsten Dinge nicht besinnen, woher er gekommen
und wie lange er bei uns ist. Bietet ferner Haltungsstereotypien und
ausgesprochene Katalepsie. Es trat hier eine verhältnismäßig rasche
Lösung des Stupors ein. Pat. wurde lebhafter, brachte subjektive Be¬
schwerden vor, z. B. Klagen über Kältegefühl in den Beinen, Kopf¬
schmerzen.
Nach nicht ganz 2 Monaten fast völlig klar, zeitlich und örtlich
orientiert. Wurde auf Wunsch in sein Heimatslazarett verlegt und ist von
dort, wie wir in Erfahrung bringen konnten, vollkommen geordnet in häus¬
liche Pflege entlassen worden.
Die Diagnose Dementia praecox ist in beiden Fällen durch die äußerst
charakteristischen Symptome und durch den Verlauf gesichert. Beide
zeigen Katalepsie, die zurtickgeht, und einen ausgesprochenen Stupor
der sich im 2. Falle etwas rascher als im 1. allmählich löst. Beide Pat.
konnten nach verhältnismäßig kurzer Zeit als wesentlich gebessert von hier
entlassen werden.
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286 ' Oehriug,- :
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• Ü*$i Dienstes. in der Heimat, nadi. Einwirkung dt*f godteb müdan
Umgebung mit ihrer erhöhten Anforderung an Körper und O'ist ä«f,
'\vä;)i*. ; •• ihr vm jw-ejfen Fälle ein zweijähriger Dienst -tu ehr Front und
all. s&hftn liörjip.riiirlmtT / Anstrfmgjungeh und Sepilsrben B>stdvüUer»mg€ii
'fffi?.*'* sß~ i :: " .*• ’".
Mtterüiag &fei zu bedenken.. 4aß ; ..<&. müh-.)# dteio • um ein
f ?*m dessen Familie zwei gei^ivr-kfäidtfr ßehsVesteirn
■^iW'u ' Wertig $ch /■ hirtt bö?ati der Hand der Vor-
^esel^n.hte auch keine ^nttrtߥJvgeiiiö)ptÖEigftitsjbaöe;« feetstoUeh lassen;
•Sö.foi. «H'CÜ ifottiefhiftOjö Ahoühtbö möglich, daß “hflihm latent gebliebeRC
gfeißi '&■ Defekte
, gifugeu dts&; Di#hiit*t$ ifl. "de? d&hjiteoM Uhd Utagöbting
■ h.i$w deja nötigt*)! Wldw^l^nd gejbötejt liäb??hv dvie; öS höi eiifötn normal
•'.■• r'l*:o J edividuuni der Pull gewesen wäre.
•.vhiitvßlich ist. ütafv noi.h ndt in Erwägung' zu ziehen. -daß für einen
idi'ut! von 43 döhren selbst »Un Bewülliguog Urs Garnisoiulienstes. nicht
■.. U t\ tir. ist.
AaffaiUg lud der Befrachtung beider Fälle .ist im öe gen salz zum
WM&'tdugh Verlauf der Dementia praecox '<]Tä&'.'xe..c|iaißR^iinäß%' r*«vb @ Aß : .
der akuten Symptome und der gün-tigu •Vritaui. .ib.uk: Patienten
0$)Hi; relativ rasdi der ög.nesung cntgegeii ha»;h EüffFruulng hus det»
gtibüdi^düdeiv Milieu, der eine aus dem Dienste bei der Erßatztrugpß. der
iftV.l|i i |d&..' ,
Bin schädigender Einfluß des Militär- bzw. Kriegsdienst-»*. .-jj&fc mt
( itäiiiP^teraj^lger Fälle imü.nes Erä^hleds'bäöliiiitb t vöh der Hand «ir vseüsanv
tub'diöii ens uiyjS .beij-deraRfiüteriß^ge in,; ilöttlöHgt'n FäUeit ölfle Enfeeb^*-
■ * dem iur den .Pal. günstigen Sinne getroffen werde«.
ßate '^öwisso Zusiunmoügeh^rigböH infolge de* Auftrottv^s öiiVgtN
mmm bieten die folgend«» beiden Falt«--;
F all 3- ^ B.j 42 Jahre BuUet; seht* nervös, aine, ScbWi^fer
tu rd' eb 1 'B.rtfthyFgeist eskrajik. Will : lhz|es?il|| E indhed «öhop mit ilem Köpfe
'.•;< ' -•: iTtd h'r'Popfcs gehabt halinti» ln der SrhaE sei*wer•gelucnf^ >{ü.iUü'
als l^'Hjyörböiiei?.feinen i r niörhglt. 'viöit-.hyrv-'ö^feh. BeSclW^eTdöft
?erb-fest snelh und er war bis zu seitieih hÖ-'itfebei^j||thre frei ^ävh»»« Daun
riet (dötzlic)i wieder Herzklopfen, Köpfse'hjuörÄen r SciVwiPdel-
g(d»;j|’5 und oll Sttt» FotiKi' hierkte 'Eat^fei» Ka*'hlassa»
.• iä..'htu jss.es und eine gewisse ,S; üwärl« in der •Äöffässuugsgnbe:
-;s, N'ove'(»ib>rri91ß.s*iug-t?.ög>.’rn ?■', Joonar IFt? ins PVbt ua» i- di ru
i • Wurde, bereits am 12. .Februar l'Jl ? ins Kriegslazareft Wilna ein-
Co gle ■'•
Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 287
peliefeH. Grund der Einlieferung war eine ängstliche Erregung, in die er
geriet, weil er versehentlich in einen Schuppen eingesperrt worden war.
Als die Truppe abrückte, konnte er infolgedessen nicht mit. Er fürchtete
nun, von der Truppe zurückgelassen zu werden, und brach die Tür auf.
Am 10. April 1917 wurde er uns zur Behandlung überwiesen.
Bei der Aufnahme geistig und körperlich ziemlich gehemmt, stark
deprimierter Stimmung. Denkt wählend der anamnestischen Fragen
gewissenhaft nach, Antworten jedoch erfolgen sehr langsam und stockend.
Bei der Erzählung von seinen geisteskranken Geschwistern fängt er an
zu weinen. Die Intelligenzprüfung ergibt ziemliche Mängel.
Auch während des weiteren Verlaufes der Erkrankung immer ge¬
drückter Stimmung. Hemmung hat sich zwar etwas gelöst, dafür ist aber
stärkeres Hervortreten subjektiver Beschwerden, namentlich andauernde,
heftige Kopfschmerzen sowie ein ausgeprägtes Insuffizienzgefühi in den
Vordergrund gerückt. Ebenso trat die Abnahme der Intelligenz immer
' deutlicher in Erscheinung, ohne daß aber bei der Entlassung tiefere Geistes¬
schwäche bestanden hätte.
Pat. konnte schließlich etwas freier, jedoch noch stark über sub¬
jektive Beschwerden klagend, in häusliche Pflege gegeben werden.
Dieses Krankeitsbild gehört mit dem dann folgenden in eine gleiche
Reihe, stellt aber einen leichteren Fall und verhältnismäßig günstigen
Ausgang dar. Die Diagnose Dementia praecox ist auch hier symptomato-
logisch bestimmt und durch den Verlauf gesichert. Der Fall trägt aber
noch ein besonderes Gepräge. Starkes Hervortreten subjektiver Be¬
schwerden, ausgesprochenes Insuffizienzgefühl, ängstlich-hypochondrische
Züge. Damit erscheinen Beziehungen zwischen einer besonderen Kon¬
stitution bei hereditärer Belastung gegeben. Gleichzeitig werden aber auch
die Folgen der Kriegsstrapazen deutlicher.
Es war naheliegend, das Krankheitsbild auf psychopathische Kon¬
stitution und den Effekt auf Kriegsstrapazen zu reduzieren, wenn nicht
der ungünstige Ausgang und namentlich der Verfall der Persönlichkeit
sowie die intellektuelle Einbuße die Diagnose Dementia praecox er¬
wiesen hätten.
Auf die Möglichkeit, daß bei einem an Dementia praecox leidenden
Individuum eine exogene Reaktion dem Kranfiheitsbild überlagert sein
kann, sowohl hier wie bei andern Fällen, gehen wir hier nicht näher ein,
da bei dieser Annahme die Rentenpflichtigkeit der beobachteten Störung
ja ohne weiteres gegeben ist.
Der hier zugehörige 2. Fall hat folgende Krankheitsgeschichte:
Fall 4. S. A., 42 Jahre alt, 1 erblich nicht belastet, von Beruf
Schuhmacher, bisher noch nicht ernstlich krank gewesen. Wurde am
3. Dezember*1915 zu einem Infanterie-Ersatz-Bataillon eingezogen. War
nicht im Felde. Wurde am 27. Juni 1916 in die Heil- und Pfleganstalt
Homburg aufgenommen, weil er 2 Tage vorher einen Selbstmordversuch
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288
Oehring,
(Halsschnitt und Verletzung am linken Handgelenk) unternommen hatte.
War dort bis zum 15. März in Behandlung. Während der Dauer des dorti¬
gen Aufenthaltes bestand ein starker Depressionszuständ, Teilnahm-
psigkeit, völlig apathisches Verhalten, ängstlich, weinerliche Stimmung.
Bei der Einlieferung in unser Lazarett psychisch und motorisch noch
stark gehemmt. Faßt schwer auf, spricht mit leiser, monotoner Stimme.
Seine Äußerungen sind von Bewegungen der Extremitäten begleitet, die
einen ziemlich unkoordinierten Charakter tragen. Zudem besteht ziem¬
liche Gliederunruhe. Nach dem Grunde seines Suizidversuches gefragt,
schaut er den Arzt mit ratloser Miene an und versichert, nicht die Absicht
gehabt zu haben, sich etwas anzutun. Örtlich leidlich orientiert, zeitlich
nicht. Klagt über Kopfschmerzen, die er sich infolge Sturzes auf den
Kopf aus einem Wagen heraus gelegentlich eines Transportes zugezogen
habe. Spricht dabei in nicht ganz verständlicher Weise davon, daß Kame¬
raden ihm eine Kiste auf den Kopf geworfen hätten. Nach vorübergehender
leichter Lösung der Hemmung ist diese jetzt im weiteren Verlaufe so stark
geworden, daß auf Ansprache überhaupt keine sprachliche Reaktion mehr
erfolgt. Pat. befindet sich noch in Anstaltspflege. Stark gehemmt,
stereotyp in Haltung und Bewegung. Angeredet, beginnt er zu zittern,
der ganze Körper gerät in schüttelnde Bewegung, ist zu keiner Sprachlichen
Äußerung zu bringen.
ln diesem Falle tritt zu den für einen älteren Menschen immerhin
schwierigen Dienstverhältnissen auch noch ein Kopftrauma hinzu. Der
Fall hat etwas für Dementia praecox Ungewöhnliches, einmal was die
Symptome, dann aber auch, was das verspätete Auftreten anbetrifft. Es
liegt nahe, infolge dieser zwei Momente an einen Zusammenhang mit dem
Militärdienst zu denken. Dazu kommt noch die Ähnlichkeit mit Fällen
von Psychose nach Traumen, insbesondere mit den früher als traumatische
Psychose beschriebenen, die in die Dementia praecox-Gruppe hinein¬
gehören.
Das, was ferner an diesem Falle noch besondere Beachtung ver¬
dient, ist neben dem ungünstigen Verlaufe namentlich die Art des End¬
zustandes, der sich nicht ohne weiteres in die von Kraepelin festgelegte
Terminologie einreihen läßt. Wir haben zur Charakterisierung dieses Zu¬
standes die Bezeichnung depressive oder ängstliche Verblödung
gewählt.
In folgenden beiden Fällen handelt es sich um erneute Schübe von
Dementia praecox, die mit größter Wahrscheinlichkeit durch den Kriegs¬
dienst ausgelöst sind:
Fall 5. A. H., 45 Jahre alt, Großvater angeblich in einer Nerven¬
heilanstalt gewesen, sonst in der Familie keine Nervenkrankheiten. Als
Kind Bettnässen, von Kinderkrankheiten Masern. Realschule besucht,
Durchschnittsschüler, Einjährigenprüfung bestanden, wurde Geometer.
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter.
289
1902—1912 in der Heilanstalt Dösen mit der Diagnose Paranoia. Der
Krankheit6verlauf damals war folgender:
Äußerte bei seiner Einlieferung Verfolgungsideen, fühlte sich von
unbekannter Seite stark beeinträchtigt. Neigte dann mehr zu Depressions¬
zuständen, zeigte starke Hemmungserscheinungen, war im Jahre 1906
schließlich völlig abweisend. 1907 fing er an, etwas zu arbeiten, versorgte
Küche und Haus, dabei immer noch zurückhaltend und unzulänglich.
1909 wurde er regsamer, querulierte viel, zeigte Verschrobenheiten. Die
letzten beiden Jahre war er ziemlich frei, übersetzte französische Bücher
ganz ordentlich und konnte schließlich dauernd ruhig und geordnet auf
Wunsch seiner Angehörigen in häusliche Pflege gegeben werden.
Am 29. August 1914 trat er als Kriegsfreiwilliger ins Heer ein, kam
bereits im November ins Feld, wurde aber schon Weihnachten desselben
Jahres wegen Erschöpfung zum Ersatztruppenteil zurückgesandt. In der
Heimat wurde ihm sein rechtsseitiger Leistenbruch operiert. Im Juli 1916
wurde er dann zur Feldzeugmeisterei in Dresden als Geometer versetzt.
Bereits Anfang August 1916 finden wir ihn schon wieder im Lazarett.
Wollte wegen seines Bruches angeblich noch eine Nachkur machen. Mitte
desselben Monats wurde er dann unserer Anstalt zugeführt.
Bei der Aufnahme fühlte er sich stark beeinträchtigt, sei viel in der
Presse herumgezogen worden. Bezog alles auf sich. Sein Gesichtsausdruck
war starr, ausdruckslos, Sprache monoton, Stimmung gedrückt. Halluzi¬
nierte dann viel, querulierte stark, schimpfte in gemeinsten Ausdrücken.
Bereits nach zweimonatigem Aufenthalte ruhiger, geordnet, zeigte
der Umgebung angemessenes Verhalten. Konnte schließlich frei und völlig
geordnet in häusliche Pflege gegeben werden. Wie wir in Erfahrung bringen
konnten, versieht er heute wieder seinen Dienst als Geometer bei einer
städtischen Behörde
Es handelt sich in diesem Falle um ein belastetes Individuum von
psychopathisch-paranoider Konstitution, das unter günstigen Bedingungen
existieren kann, stärkeren Ansprüchen aber nicht gewachsen ist und keine
Widerstandsfähigkeit gegen die gewöhnlichen Lebensreize besitzt.
Von vornherein ist ein derartig veranlagtes Individuum als militär-
dienstunfähig zu bezeichnen, denn das Soldatenleben, die Reibungen mit
Kameraden, die Anforderungen einer strengen Disziplin entfachen seine
querulatorisch-paranoide Konstitution und bieten ihnen ständig Nahrung.
Gewisse Ähnlichkeit mit dem Geschilderten bietet die Kranken¬
geschichte des folgenden Falles.
Fall 6. O. H., 36jähriger Arbeiter. Vater ein mehrfach bestrafter
Trinker, eine Schwester leidet an Krämpfen. Pat. hat in der Schule schlecht
gelernt, wurde nach der Entlassung Arbeitsbursche. Bereits mit 13 Jahren
wegen Diebstahls, Betteins und Betiugs bestraft. Vom 20.—26. Lebens¬
jahre 7mal wegen Betrugs mit Gefängnis, einmal mit 3 Jahren Zuchthaus
bestraft. 1906 war er in der Irrenabteilung des Gefängnisses Halle wegen
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290
Oehring,
Erhängungsversuches nach einer Gerichtsverhandlung. Bot dort Halluzina¬
tionen, Beeinträchtigungsideen, zeigte verschlossenes, ablehnendes Wesen,
war gemütlich stumpf, der Tod der Mutter löste keinen Affekt aus. 1907
kam Pat. nach der Heilanstalt Dösen. War anfangs gereizt, neigte zu
impulsiven Handlungen, bot Bewegungs- und Haltungsstereotypien, hatte
Sinnestäuschungen und Beeinträchtigungsideen. Meist wenig zugänglich,
schwankender Stimmung, oft gereizt. Akute Symptome klangen sehr
langsam ab.
Anfang 1908 wurde er entlassen und dem Polizeiamt übergeben,
ist später dann vom Vater wieder aufgenommen worden. Vom 30. Mai
1910 bis 4. Oktober 1910 zum zweiten Male in der Anstalt Dösen. Äußerte
wieder Wahn* und Beeinträchtigungsideen. Hielt sich abseits, arbeitete
im Hause. Akute Symptome klängen diesmal rascher ab. Zeigte sich
bald ruhig und natürlich. Hatte gelegentlich eines Ausganges Arbeit
gefunden und wurde als gebessert entlassen.
1915 eingezogen, kam bald ins Feld. War nur kurze Zeit an der
Front, mußte sich wegen Kopfschmerzen öfters in Lazarettbehandlung
begeben, kam deshalb nach der Heimat zum Ersatztruppenteil.
17. März 1916 ins Vereinslazarett Dösen aufgenommen, zur Beobach¬
tung seines Geisteszustandes. Hatte einen Vorgesetzten auf Befragen in
dienstlichen Angelegenheiten belogen und sich außerdem noch unter Gewehr
achtungwidrig benommen.
Bei seiner Aufnahme macht er einen schwerfälligen Eindruck. Seine
Redeweise ist plump, monoton. Kann sich auf die vorhergegangenen Er
eignisse nicht mehr recht erinnern. Versucht zwar, den Hergang des
Zusammenstoßes mit dem Vorgesetzten zu schildern, bleibt jedoch in der
Erzählung stecken, wiederholt sich immer.
Im weiteren Verlaufe zeigt er sich ruhig ujjd geordnet, arbeitet
fleißig im Hause und im Garten. Wird dann zwecks Einleitung des D.-U.-
Verfahrens seinem Ersatztruppenteile überwiesen.
Auch hier handelt es sich, wie im vorhergehenden Falle, um ein
schwer belastetes Individuum, das jedoch außerdem noch degenerativ ver¬
brecherische Neigungen zeigt und als moralisch minderwertig zu erachten
ist. Auf diesem Boden erwuchs ein Krankheitsbild, bestehend aus schizo¬
phrenen Symptomen, paranoiden Zügen und schweren Verstimmungen.
H, ist nicht strafvollzugsfähig, auch für jeden Militärdienst ungeeignet.
Schon den gewöhnlichen Lebensreizen gegenüber nicht widerstands¬
fähig genug, ist dies in noch weiterem Maße den Anforderungen des mili¬
tärischen Lebens gegenüber der Fall.
An der Front kann er sich nur kurze Zeit halten und muß selbst in
dieser kurzen Spanne Zeit wiederholt ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen
wegen seiner Kopfbeschwerden. Aber auch den Ansprüchen des Garnison¬
dienstes zeigt er sich nicht gewachsen. Strenge Anforderungen an Dis¬
ziplin, verbunden mit erhöhten körperlichen Leistungen, entfachen auch
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter.
291
hier seine Neigung zu Gewalttätigkeiten und disziplinwidrigem Verhalten,
wie aus dem Verhalten gegen seine Vorgesetzten hervorgeht.
» Daß äußere Reize aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem neu auf-
treteütlen Schub der Erkrankung Zusammenhängen, geht aus dem Erfolg
der Anstaltsbehandlung und der dadurch bedingten Entfernung der schädi¬
genden Momente hervor, ferner auch aus dem Umstande, daß der Pat.
längere Zeit, z. B. von 1910 bis zu seiner im Jahre 1915 erfolgten Ein¬
ziehung, seinem Berufe nachging, ohne irgendwie etwas Besonderes zu
bieten. Es liegt nahe, anzunehmen, daß er in diesem Zeiträume unter
angemessenen Bedingungen gelebt hat.
Zuletzt noch 2 Fälle, die sich auf der Basis eines angeborenen
Schwachsinnes entwickelten.
Fall 7 . R. W., 39 Jahre alt, Schlosser von Beruf, aus gesunder
Familie stammend. Bis zu seinem ersten Lebensjahre an Krämpfen ge¬
litten, in der Schule ganz schwacher Schüler, bereits in der 3. Klasse
konfirmiert. Nicht geschlechtskrank, trank täglich für 30 Pf. Schnaps
und 2 Glas Bier. Starker Raucher.
Mai 1915 eingezogen, September ins Feld. Oktober 1916 verwundet.
War 9 Wochen in einem Lazarett, dann noch 14 Tage in einem Genesungs¬
heim. Januar 1917 kam er als geheilt zur Truppe zurück. Obwohl die
Truppe gerade in Ruhestellung und außer Gefahr war, bekam er beim
Krepieren der in weiter Ferne einschlagenden Granaten Schreckanfälle,
rannte von seiner Lagerstätte ins Freie, zitterte stark, fürchtete, getroffen
zu werden.
Konsultierte dieser Zustände wegen den Truppenarzt und wurde
von diesem als g.*v. zum Ersatztruppenteile zurückgeschickt. Hier ver¬
schlechterte sich sein Zustand derart, daß sich am 8 . 4.1917 die Aufnahme
in unser Lazarett nötig machte.
W. ist ein mittelgroßer, kräftiger Mann, dessen innere Organe ohne
krankhaften Befund sind. Bei der Aufnahme gehemmt, hat Verfolgungs¬
und Beeinträchtigungsideen, halluziniert stark. Die Intelligenzprüfung
zeigt Merkmale von Schwachsinn. Nach einem Monat bereits ruhig
und geordnet, geht mit der Kolonne zur Arbeit.
Das Krankheitsbild wird dauernd von einer gewissen gemütlichen
Stumpfheit beherrscht, auch treten im weiteren Verlaufe die erheblichen
intellektuellen Mängel seines Schwachsinnes zutage. Nach 3 Monate
währender Behandlung konnte er in häusliche Pflege gegeben werden.
R. W. zeigt von Haus aus minderwertige geistige Veranlagung,
außerdem scheint seine psychische Widerstandsfähigkeit* noch durch
chronischen Alkoholgenuß etwas reduziert gewesen zu sein. Trotzdem
werden die Strapazen des Frontdienstes über ein Jahr lang bis zu der im
Oktober 1916 erfolgten Verwundung ertragen. Während der Wundheilung
noch keine Anzeichen geistiger Störung, erst als Pat. nach erfolgter Ge¬
nesung wieder bei der Truppe und damit erneuten Schädigungen ausge-
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292
Oehring,
setzt ist, treten bereits nach wenigen Tagen die ersten Anzeichen der be¬
ginnenden Psychose in Gestalt von Schreckanfällen und Angstzu¬
ständen auf.
Daß neben der von Haus aus vorhanden gewesenen Widerstands¬
unfähigkeit und den über ein Jahr währenden täglichen Schädigungen des
Frontdienstes hauptsächlich das Trauma die Schwelle der Reizmöglich¬
keiten überschritten und die Veranlassung zum Ausbruch der Erkrankung
gegeben hat, liegt hier sehr nahe anzünehmen.
Die Versetzung von der Front in die Garnison und damit die Be¬
seitigung der gröbsten Schädigungen reichen nicht aus, um der Psychose
in ihrem Verlaufe ein Halt zu gebieten. Erst die Entfernung aus jeder
militärischen Umgebung, die Ruhe und Pflege in der Anstalt bewirken ein
verhältnismäßig rasches Abklingen der Symptome und stellen den Pat.
innerhalb dreier Monate soweit her, daß er in häusliche Pflege gegeben
Werden kann.
Die Krankengeschichte des 2. Falles ist folgende:
Fall 8. R. Z., 39jähriger Mann, aus gesunder Familie stammend.
Als Kind Diphtherie. In der Schule schlecht gelernt, mehrfach sitzen
geblieben. Nach der Entlassung erst als Knecht, später bei der Bahn
gearbeitet, später auch noch das Schuhmacherhandwerk erlernt. Will
auch mal in Leipzig in einer Nervenklinik in Behandlung gewesen sein.
Näheres darüber kann jedoch nicht in Erfahrung gebracht werden, da Pat.
schwer besinnlich ist. 1900—1912 aktiv gedient. Pat. ist verheiratet,
Frau und Kinder sind gesund, war nie geschlechtskrank und im Alkohol¬
genuß sehr mäßig.
August 1914 rückte er ins Feld, kam nach 11 Monaten nach der
Heimat zum Ersatz-Bataillon, Grund vermag e^ nicht anzugeben. Beim
Ersatz-Bataillon war er als Kompagnieschuster tätig.
Eines Tages will er plötzlich ins Lazarett eingeliefert worden sein,
wann und warum, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Am 26. 4. 1916
wurde er uns zugeführt. '
Bei seiner Aufnahme zeigte er eine ängstliche, ratlose Miene, war
ziemlich gehemmt, bot Bewegungs- und Haltungsstereotypien. Zeitlich
und örtlich vollkommen desorientiert. Die vorgenommene Intelligenz¬
prüfung weist recht erhebliche Mängel der einfachsten Schulkenntnisse auf.
Bereits nach einem Monate rasches Abklingen der akuten Symptome,
Pat. erscheint freier, verlangt spontan Arbeit, bietet bald nichts Besonderes
mehr. Bis auf die von Haus aus bestehende Intelligenzbeschränkung
völlig geordnet in häusliche Pflege gegeben.
Auch hier handelt es sich wie im vorhergehenden Falle um ein geistig
reduziertes Individuum, das zunächst 9 Monate die Strapazen des Kriegs¬
dienstes erträgt, ohne Besonderheiten zu bieten. Obwohl nicht in Erfahrung
zu bringen war, warum Pat. zum Ersatztruppenteil zurückversetzt wurcle,
müssen wir annehmen, daß die beginnende Psychose die Veranlassung
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Geigteakrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 293
dazu gegeben hat. Sichere Angaben waren darüber allerdings nicht zu
erhalten.
Wie in allen hier aufgezeichneten Fällen, so ist auch in diesem der
eklatante Erfolg der Anstaltsbehandlung und damit die Beseitigung der
schädigenden Momente beachtenswert und läßt die Vermutung des Zu¬
sammenhanges zwischen Kriegsdienst und Psychose als naheliegend er¬
scheinen.
Was die Symptomatologie anbetrifft, so zeigten die hier zur Beob¬
achtung gelangten Krankheitsbilder im allgemeinen die für die Dementia
praecox charakteristischen Erscheinungen. Von besonderen Zügen traten
wiederholt namentlich starke subjektive Beschwerden hervor, und zwar
derart, daß es naheliegt, eine besondere Gruppe, die durch die Eigenart
des Ausganges, d. h. eine besondere Art der Verblödung charakterisiert ist,
abzugrenzen. Auffällig ist namentlich der in den näher beschriebenen
Fällen zutage tretende rasche abortive Verlauf der Erkrankung und die
relative Besserung nach Beseitigung des schädigenden Einflusses.
Demgegenüber steht die Beobachtung Meyers, der rasches Abklingen
der Krankheitsfälle im Gesamtüberblick nicht bestätigt findet. Der Gegen¬
satz dürfte sich wohl daraus erklären, daß Meyer die Gesamtzahl der Fälle
beurteilt, während wir hier nur eine gewisse Altersperiode, die 24,59%
der Fälle ausmacht, getroffen haben und zum Urteil kamen, daß eine sum¬
marische Behandlung in der praktischen Beurteilung der Dementia praecox
bei Kriegsteilnehmern nicht angängig zu sein scheint.
Von unseren Fällen wurden 22, d. s. 73,3%, als gebessert nach der
Heimat entlassen und konnten dort ihrem früheren Erwerbe nachgehen
oder wenigstens nach erfolgter Umschulung einen leichteren, weniger
geistige Fähigkeiten voraussetzenden Beruf ergreifen. Nur 6, d. s. 20%,
bedurften weiterhin der Pflege in geschlossener Anstalt. Von 2, d. s. 6,1 %
der Fälle, konnte das nähere Sciiicksal nicht weiter verfolgt werden, da sie
vor Abschluß der Behandlung in andere Lazarette verlegt wurden. Unsere
hier näher analysierten Fälle weisen einige Besonderheiten auf und stellen
zum Teil komplizierte Krankheitsbilder der Dementia praecox dar. In
dieser Hinsicht ist einmal bei einzelnen Fällen das relativ späte Auftreten
(Fall 1 und 2), dann aber auch das Entstehen des Krankheitsbildes auf
der Basis psychopathischer Konstitution, bei einzelnen Fällen verbunden
mit moralischer Minderwertigkeit (3., 5., 6.) und auf angeborener Geistes¬
schwäche (Fall 7 und 8) anzuführen.
■ Beziehentlich der Stellung des Krankheitszuslandes der Dementia
praecox im Gesamtbilde haben* wir es teils mit Ersterkrankungen (Fall 1
und 2), teils mit Wiederaufflackern eines früheren Dementia praecox-
Prozesses zu tun (Fall 5 und 6).
Endlich lag ein Krankheitsbild vor, das unter den Begriff der Pfropf-
hebephrenie fällt.
Der Zusammenhang mit dem Heeresdienste tritt aus früher benannten
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
294
Oehring,
Umständen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zutage. In einzelnen
Fällen, in denen auch kein wissenschaftlicher Nachweis zu erbringen ist,
muß doch praktisch nach den Anforderungen, die an den Gutachter gestellt
werden, und nach der geläufigen Beurteilung von Zusammenhang exogener
Ursachen mit Krankheitsschädigungen der Kausalnexus vom Gutachter
vertreten und die Rentenpflichtigkeit von derartigen Erkrankungen aner¬
kannt werden.
Paralyse. — Von den 122 im Mannesalter stehenden Soldaten
litten 55, d. s. 45 %, an progressiver Paralyse. Der Wert erhöht sich noch
um ein geringes, da c«k 4—5 Fälle hinzukommen, von denen der Ausbruch
der Erkrankung bereits vor das 35. Lebensjahr, das wir als unterste Grenze
der Untersuchungen gesetzt haben, fällt. Jenseits des 45. Lebensjahres
kamen bei unserem Material keine Fälle zur Beobachtung.
Die Zahl erscheint hoch, erstens im Vergleich zu Zugängen an Para¬
lysen der Heilanstalt Dösen, wo sie nur 28,5 % beträgt, zweitens aber auch
unter dem Gesichtspunkte, daß man annehmen sollte, bei den Unter¬
suchungen vor der Einstellung werde alles verdächtige Material erkannt
und ausgemerzt, während doch in Friedenszeiten bei Zivilpersonen Para¬
lysen dementer oder depressiver Art längere Zeit hindurch unerkannt
bleiben können.
Wenn andere Autoren noch weit geringere Zahlen angeben, bei
Meyer machen die Paralysen nur 2^5 % aller Zugänge aus, so liegt das
wohl hauptsächlich daran, daß sie ihre Untersuchungen auf Patienten
aller Altersklassen stützen, während das von mir einer näheren Betrachtung
unterzogene Mannesalter doch mit am meisten Disposition zu dieser Er¬
krankung zeigt, wie schon in der Einleitung zu dieser Arbeit ausgesprochen
wurde.
Angesichts dieser hohen Erkrankungsziffem an Paralyse bei Soldaten
erscheint die Frage berechtigt, ob eine Paralyse bei Kriegsteilnehmern
durch Kriegseinflüsse ausgelöst oder wenigstens in ihrem Verlaufe un¬
günstig beeinflußt werden kann. Zur Klärung dieser Fragen hat Weygandt
in seiner Arbeit „Die Kriegsparalyse und die Frage der Dienstbeschädi¬
gung“ eine Reihe von Gesichtspunkten aufgestellt deren Bejahung einen
Zusammenhang zwischen Krieg und Paralyse bedeuten würde. Diese
Fragen, die es gestatten, die einzelnen Fälle nach der gewünschten Richtung
hin erschöpfend zu analysieren, seien auch meinen Untersuchungen zu¬
grunde gelegt. Sie lauten:
1 . Treten Paralysen bei Kriegsteilnehmern in einem früheren Lebens- *
alter auf als bei Zivilpersonen?
2 . Ist die Zwischenzeit zwischen Infektion und Ausbruch der Para¬
lyse kürzer?
3. Ist der Verlauf der Paralyse rascher?
4. Ist der Verlauf der Paralyse schwerer?
5. Ist der anatomische Befund schwerer?
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 295
Zu 1. -Das Durchschnittsalter des Paralysebeginns ließ sich bei
unseren sämtlichen 55 Fällen feststellen; es betrug 37,2 Jahre. Wenn
Käs und Regis in ihren Statistiken das 36.—38. Lebensjahr angeben, das
Durchschnittsalter im Material der Anstalt Dösen 37% Jahr beträgt,
so läßt die in der Mitte von den durch andere Autorep gefundenen Werten
stehende Zahl keineswegs die Annahme zu, daß die Paralyse bei Kriegs¬
teilnehmern eher ausbreche als wie zu Friedenszeiten. *
Der Beantwortung der 2. Frage konnte leider nicht in erschöpfender
Weise nachgegangen werden, da einerseits die Anamnesen der mir zur
Verfügung stehenden Krankengeschichten infolge der Kriegsverhältnis*«
mangelhaft waren, andrerseits die Patienten aus andern Lazaretten im
bereits vorgeschrittenem Stadium der Erkrankung zu uns kamen und der
Autoanamnese nicht mehr der richtige Wert beizumessen war. In 18
meiner Fälle war die Inkubationszeit ziemlich genau zu ermitteln, ihre
Durchschnittsdauer betrug 14,6 Jahre, wobei sich die kürzeste Frist aui 9,
die längste auf 17 Jahre bezifferte.
Da nach Friedenserfahrungen die Inkubationszeit einen ziemlich
weiten Spielraum läßt, nämlich zwischen 2 Jahren und 3 Jahrzehnten,
so sind 14,6 Jahre absolut nicht als ein auffallend kurzes Intervall zu
bezeichnen.
Die in Frage 4 zu erörternde Schnelligkeit des Verlaufes kann zurzeit
nicht endgültig festgestellt werden, da die größte Anzahl der Fälle noch
am Leben ist. Von meinen 5,5 Fällen sind 19 gestorben, 17 davon im
1 . Jahre der Erkrankung. Als Dauer der Erkrankung wurde naturgemäß
die Zeit vor dem Eintritt in militärische Behandlung bis zum Exitus
gerechnet. Dabei ergab sich, daß ein Fall nur 5 Tage, einer 3, einer 3%
Monat in, Lazarettbehandlung waren. Bei je 3 Fällen zog sich das Leiden
4 Monate, bei je dreien 5 Monate, bei je dreien 6, bei einem 7, bei einem 10,
bei einem 11, bei einem 13 und bei einem 15 Monate hin. Als Todesursache
war fast durchweg paralytischer Marasmus anzunehmen, mit Ausnahme
des einen, nur 5 Tage behandelten Krankheitsfalles, der infolge Erschöpfung
nach mehrtägigem Toben, und eines andern, der vorzeitig an einer Pneumo¬
nie ad exitum kam.
Wie schon oben erwähnt, starben von 55 meiner Paralysen 17, d. s.
32,7%, im 1. Jahre der Erkrankung. Das ist entschieden weit mehr, als
wie es durch Statistiken auf Grund von Friedenserfahrungen festgestellt
ist, zumal die Zahl sich noch etwas erhöhen wird, da eine Anzahl der Fälle
nach dem Ergebnis der Beobachtung und nach dem jetzigen Zustande
sicher noch vor Ablauf des 1. Jahres ad exitum kommt. Aus dem Material
der Anstalt Dösen starben in den letzten 3 Jahren vor Kriegsbeginn
durchschnittlich 18 % an männlichen Paralytikern im 1. Krankheitsjahre,
nach Hoppe sind es 20%, nach Junius und Arndt 19%. Zu dem meinem
nahezu gleichen Ergebnis gelangt Weygandt mit 34,05% tödlichem Aus¬
gang im 1. Krankheitsjahre.
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296
Oehring,
Aber auch abgesehen von dem schnelleren letalen Ausgang scheint
der Verlauf und der Verfall zum paralytischen Marasmus auf Grund meiner
und auch anderer Autoren Beobachtung rascher zu erfolgen als in Friedens*
Zeiten. Ob dies allein den schädigenden Einflüssen des Kriegsdienstes oder
auch andern jetzt allgemein wirksamen Faktoren zuzuschreiben ist, vermag
ich nicht zu entscheiden. Daß dies jedoch nicht ganz von der Hand zu
weisen ist, geht daraus hervor, daß auch der Prozentsatz der im 1. Krank*
heitsjahre ad exitum kommenden Paralytiker in der Heilanstalt Dösen
in Kriegszeiten erheblich höher geworden ist. Während es in den letzten
Jahren vor dem Kriege, wie oben schon angegeben, 18 % sind, starben 1917
50,33% der männlichen Zugänge an Paralyse, wobei zu bedenken ist, daß
auch diese Zahl sich noch dadurch erhöhen wird, daß verschiedene Fälle
auf Grund der Beobachtung und des jetzigen Zustandes sicher noch vor
Ablauf des 1. Jahres ad exitum kommen.
Nach den einzelnen Formen geordnet, fallen auf die klassische 18,
d. s. 32,7%, auf die dement euphorische 30, d. s. 54,5%, auf die dement
erregte 5, d. s. 9,1 %, auf die vorherrschend depressive 2, d. s. 3,6 % der Fälle.
Die Zahlen entsprechen ungefähr den Erfahrungen an dem zum
Vergleich herangezogenen Material der Anstalt Dösen. Hier kommen auf
die klassische 20 %, auf die demente 58 % und auf die depressive Form 8 %.
Obduktionsbefunde waren mir leider nur 4 zugänglich, die ich un¬
verkürzt wiedergebe.
Fall 1. Schädeldach mittelgroß, außen und innen glatt. Dura
mater nicht gespannt, Innenfläche glatt. Weiche Hirnhäute blutreich,
entlang den Gefäßen und Furchen verdickt. Verdickung besonders deutlich
und stärker ausgebildet über dem Parietal- und Stirnlappen, wo die Me¬
ningen ein bläulichweißes Aussehen haben und mit der Hirnrinde ziemlich
fest Zusammenhängen. Ebenso beschaffen sind die Meningen über der
Fissura Sylvii und zwischen den Stirnlappen. Hirnrinde graurot, blutreich
und im Bereiche des Stirnhirnes makroskopisch deutlich nicht verschmälert,
ebenfalls sind die Stirnwindungen noch nicht deutlich verschmälert.
Gehirnsubstanz: Gewicht 1250 g. Ziemlich gute Konsistenz, feucht,
blutreich. Seitenventrikel stark erweitert, enthalten reichlich unter Druck
stehenden, klaren Liquor, 3. und 4. Ventrikel wenig erweitert. Pons, Me-
dulla oblongata, Kleinhirn sowie zentrale Ganglien ohne makroskopisch
erkennbare Veränderungen.
Mikroskopisch: Faserschwund in den oberflächlichen Teilen der
Rinde. Fibröse Verdickung der Meningen. Infiltration derselben mit
Lymphozyten, einzelnen Plasmazellen und- eosinophilen Zellen. Klein¬
zellige Infiltration kleiner, einzelner Venen. Kleine perivaskuläre Infil¬
trate in der Rinde.
Wa.-R.: Liquor + + -J-.
Krankheitsdauer: 3% Monat.
Fall 2. Schädeldach sehr dick, besonders in den Stirn- und Hinter-
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter.
297
hauptspartien. Diploe sehr wenig vorhanden. Dura mater gespannt.
'Weiche Hirnhäute stark ödematös an der Konvexität, besonders auf
dem Stirnlappen etwas weißlich verdickt, und zwar vorwiegend im Be¬
reiche der Furchen. Arterien der Basis zart, sonst o. B. Auf Schnittfläche
ist Gehirnsubstanz ziemlich feucht und blutreich. Rinde zeigt noch keine
deutlichen atrophischen Veränderungen. Gewicht 1500 g.
Wa.-R. im Liquor + + + .
Krankheit«dauert 3 Monate.
Fall 3. Schädel ziemlich kurz und breit, biparietaler Durchmesser
15,5, okzipito-frontaler Durchmesser 17,5. Knochemist dick, stark sklero¬
tisch. Weiche Häute ödematös, in den vorderen Partien reichlich verdickt.
Gehirn: Gewicht 1250 g. Arterien zart. Ventrikel erheblich erweitert
und mit klarem Liquor gefüllt. Ependym zart. Gehirnsubstanz blaß,
ödematös, ziemlich fest. Rinde in den vorderen Partien wenig, in.der Zen¬
tralgegend und an den Okzipitallappen stärker atrophisch, überall blaß.
Wa.-R. im Liquor: + sehr stärk positiv.
Krankheitsdauer: 6 Monate.
Fall 4. Schädeldach mäßig dick, Dura mater etwas gespannt,
beim Herausnehmen des Gehirns fließt reichlich klarer Liquor ab. Ge¬
wicht: 1350 g. Weiche Häute sehr stark ödematös, an der ganzen Kon¬
vexität diffus weißlich verdickt. Seiten Ventrikel sehr stark erweitert,
mit klarem Liquor gefüllt. Gehirnsubstanz stark ödematös, nur wenig
bluthaltig. Hirngewicht nach der Sektion 1220 g. Rinde ebenfalls ödema¬
tös, im allgemeinen von gewöhnlicher Dicke.
W.-R. im Liquor: -f-f-F-f.
Krankheitsdauer: 5 Monate.
Die Betrachtung der Fälle hat, übereinstimmend mit Weygandt,
ergeben, daß die Kriegsparalysen schneller zum Tode führen als die
gleichen Erkrankungen in Friedenszeiten. Allerdings hat sich, wie durch
die Feststellungen aus dem Material der Anstalt Dösen bekannt, auch die
Mortalität der Paralyse bei Zivilpersonen in Kriegszeiten wesentlich ge¬
ändert, so daß man jetzt von einem schnelleren Verlaufe dieser Erkrankung
bei Kriegsteilnehmern eigentlich nicht reden kann. Zu ähnlichen Ergeb¬
nissen kommt auch Harald Schulz-Henke in seiner Arbeit „Der Einfluß
des militärischen Kriegsdienstes auf die progressive Paralyse“. Auch er
beobachtet kein früheres Auftreten und keinen rascheren Verlauf der
Latenzzeit, hingegen gibt der Verf. einen schnelleren und schwereren Ver¬
lauf im Kriege zu. Er vermag die Möglichkeit der schädigenden Einflüsse
der Kriegserlebnisse nicht ohne weiteres abzulehnen.
Der von Weygandt in seiner Arbeit geäußerte Wunsch, seitens der
Militärbehörden möchte ein Hinweis erfolgen, daß die Paralysen zum
guten Teil unter die Bestimmungen Z. 150 und 151 zu rechnen sind, hat
sich inzwischen erfüllt, wie aus der kriegsministeriellen Verfügung Nr. 28/6,
17, s. 1, Nr. 564, Änderung der Dienstanweisung zur Beurteilung der
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 8 . 21
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298
0 e h ri ng,
Militärdiensffähigkeit usw. — D. V. E. Nr. 251 — vom 13. Juni 1917
hervorgeht. Dort heißt es:
„Ziffer 150 enthält folgenden Wortlaut: Kriegsdienstbeschädigung
ist bei allen Dienstbeschädigungen — Ziffer 97—100 — anzunehmen, die
auf die besonderen Verhältnisse des Krieges zurückzuführen und in der
Zeit vom Beginne der Mobilmachung bis zum Tage der Demobilmachung
erlitten sind.
Ziffer 151. Der erste Absatz enthält folgenden Wortlaut:
Die Frage des Zusammenhanges mit den besonderen Verhältnissen
des Krieges muß namentlich bei solchen Gesundheitsstörungen geprüft
werden, für deren Entstehung oder Verschlimmerung nicht von außen
einwirkende (sogenannte exogene), sondern in der Veranlagung des Be¬
schädigten selbst liegende (sogenannte endogene) Krankheitsursachen
in Frage kommen, z. B. bei gewissen Arten von Geistesstörungen, ferner
bei Solchen Gesundheitsstörungen, die zwar durch von außen herantretende
Einwirkungen hervorgerufen oder verschlimmert sind, bei denen aber der
Zusammenhang dieser Einwirkungen mit Kriegseinflüssen zweifelhaft
sein kann.
Im vorderen Teile des Kriegsgebietes wird (ein Nachweis des Zusam¬
menhanges mit den besonderen Verhältnissen des Krieges nur ganz aus¬
nahmsweise erforderlich sein, und auch in weiter rückwärts gelegenen
Teilen des Kriegsgebietes wird er häufig entbehrt werden können, im
Heimatgebiet dagegen ist er unerläßlich.“
Alkoholismus. — Auf unsere 122 im Mannesalter stehenden Sol¬
daten kam nur 4 Fall von Alkoholismus, d. ist 0,82%. Diese Zahl ist sehr
gering, namentlich im Gegensatz zu den Angaben anderer Autoren, wie
Baller , der bei seinen Kriegspsychosen einen recht hohen Prozentsatz
alkoholischer Störungen feststellte (14,3%). Allerdings war von diesen
nur ein kleiner Teil im Felde, die verhältnismäßig hohe Zahl erklärt sich
aus der reichlicheren Trinkgelegenheit in der Garnison.
Umgekehrt ist die von uns gemachte Beobachtung bei unseren Sol¬
daten darauf zurückzuführen, daß an sich im Felde wenig Gelegenheit zum
Trinken geboten ist und strenge disziplinelle Verhältnisse übermäßigen
Alkoholgenuß von selbst verbieten. Wesentlich trägt dazu sicher auch der
Umstand bei, daß in der Kriegszeit stark alkoholhaltige Biere immer
seltener gebraut werden, Weine den gewöhnlichen Soldaten des hohen
Preises wegen nicht zugänglich sind, und Branntweinausschank an Militär¬
personen untersagt ist.
Die hoch erscheinende Zahl der Alkoholisten beim Krankenmaterial
der Anstalt Dösen, die im Jahre 1913 22,3% der männlichen Zugänge
ausmachte, ist sicher zunächst auf die reichliche und unbehinderte Trink¬
gelegenheit in Friedenszeiten zurückzuführen. Dann ist aber auch zu
überlegen, daß zu dem Begriff Alkoholpsychosen der Zivilbevölkerung
oft versteckte Formen der Dementia praecox gerechnet werden. Umge-
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter.
299
kehrt erklärt sich der verhältnismäßig hohe Prozentsatz der Dementia
praecox-Fälle im späteren Alter bei unserem Soldatenmaterial dadurch,
daß unter den Erkrankungen sicher eine ganze Reihe Alkoholisten stecken,
die infolge verminderter Widerstandskraft durch die schädigenden Ein¬
flüsse des Kriegsdienstes psychische Störungen bekamen, die ohne
Krieg vielleicht durch Alkohol ausgelöst worden wären.
Übrigens ist der starke Rückgang der Alkoholisten während des
Krieges auch von anderer Seite beobachtet worden. So berichtet Bon-
höfjer darüber an der Hand des Materials der Königlichen Charitö in Berlin.
Bestätigt wird diese Tatsache auch noch durch die augenfällige Sta¬
tistik von Weichbrodt (Psych. Univers. Klinik Frankfurt). Nach letzterem
war der Prozentsatz an Alkoholisten bei den männlichen Zugängen des
Jahres 1913 53,7%, 1915 29,6%, 1916 23,3% und bis Juli 1917 7,3%.
Auch in der Heilanstalt Leipzig-Dösen ist eine ganz erhebliche Ab¬
nahme des Zuganges an Alkoholisten festzustellen. Im Jahre 1913 waren
unter den ftiännlichen Zugängen 22,3%, 1914 10,06%, 1915 5,81%, 1916
2,6% und 1917 nur 0,89% Alkoholiker.
Psychopathie. — Der Zugang an Psychopathen war im Vereins¬
lazarett höher als in der Anstalt Dösen. Auf die im Mannesalter stehenden
122 Soldaten kamen 13 Fälle, d. s. 10,65%, auf 112 Anstaltspatienten
nur ein einziger, d. s. 0,89%. Dieser Umstand ist leicht zu erklären, da
■es sich doch meist um Individuen handelt, die schon vor dem Diensteintritt
mit diesen konstitutionellen Zuständen behaftet waren. Zeigten sich doch
beim Studium der Anamnesen meiner Fälle 80% belastet. Übrigens
■deuten auf diese starke Belastung bei Psychopathen auch andere Autoren
Jhin (Stelzner 74%).
Patienten dieser Art erweisen sich den gewöhnlichen Lebensreizen
gegenüber gerade noch genügend widerstandsfähig, zumal sie sich in ihrem
Zivilleben ihr Dasein ganz nach Belieben einrichten können und vor allem
auch von der Umgebung auf ihren Zustand die nötige Rücksicht genommen
wird. Mit dem Eintritt ins Militärverhältnis existieren sie mit einem
Schlage unter viel ungünstigeren Bedingungen. Den Gesetzen strenger
Disziplin können sie sich nur schwer fügen, und gar bald kommt es zu
inneren Konflikten der Pflicht mit anders gerichteten Wünschen. Hierzu
gesellen sich noch bei den im Felde gewesenen Individuen die seelischen
Erschütterungen und körperlichen Strapazen, denen gegenüber sie sich
zweifellos nicht so widerstandsfähig erweisen wie ein geistig normal ver¬
anlagter Mensch.
Was die qualitative Wertung der einzelnen Fälle anbelangt, so wird
derselben die Einteilung der manisch-depressiven Konstitution in die
Unterabteilungen der konstitutionellen Verstimmung und konstitutionellen
Erregung zugrunde gelegt.
Wir fanden zu ersteren gehörend vielfach Depressionszustände,
Phobien, Willensschwäche und Mangel an Energie. Auch Zwangsvor-
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Original from
UNIVERSfTY OF MICHIGAN
800
0 eb r i n g.
Stellungen, z. B. der fortwährende Gedanke, einen Vorgesetzten erschossen
zu haben, und daraus folgende Suizidtendenzen waren festzustellen.
Unter die 2. Gruppe wären die Sanguinischen zu rechnen. Nach
unseren und auch nach den Erfahrungen anderer Autoren ( Laudenheimer)
reagieren diese im Kriege oft mit Erregungszuständen und Neigung zu
Disziplinwidrigkeiten. Mehrfach konnten wir beim Durchlesen der Akten
über derartige Individuen Strafen wegen Gehorsamsverweigerung, Wider
setzlichkeiten oder gar tätlicher Angriffe gegen Vorgesetzte feststellen.
Was den Ausgang unseres hiesigen Materials anbelangt, so wurden
ca. zwei Drittel der Fälle als kriegsunbrauchbar aus dem Heeresdienste
entlassen, unter ihnen hauptsächlich die imbezillen Psychopathen, die in
folge ihres unmilitärischen Verhaltens durch schlechtes Beispiel nur schädi¬
genden Einfluß auf die Disziplin einer Truppe haben. Bei den konstitutio¬
nell verstimmten Individuen wurde schon durch den meist zwanglosen
Aufenthalt in den Lazaretten vielfach Besserung erzielt, und der größte
Teil von ihnen konnte wenigstens a.-v. Heimat ihren Ersatztruppenteilen
zugeführt werden. Ob sie sich dort bewährt haben, ist uns unbekannt,
da über ihr weiteres Schicksal nichts in Erfahrung zu bringen war.
Was die Frage der Dienstbeschädigung anbetrifft, so war diese in den
Fällen, wo die Patienten mit bereits nachweisbar krankhafter Veranlagung
zum Heeresdienste eingezogen wurden, leicht zu klären, zumal die Ver¬
mutung nahelag, daß die Schädigungen des Kriegsdienstes bei einer in
ihrer psychischen Widerstandsfähigkeit reduzierten Person leicht einen
Angriffspunkt fanden und entweder zum Aufflackern eines abgelaufenen
oder zur Verschlimmerung eines bestehenden Prozesses führten.
In derartigen Fällen bildete es natürlich das wesentliche Bestreben,
den Zustand des Kranken im* Laufe der Beobachtung und Behandlung
wieder auf jenen Punkt zurückzuführen, der vor der Zeit seiner Einziehung
angenommen werden mußte, so daß die Patienten als rentenfrei entlassen
werden konnten.
Aber auch in den Fällen, wo die Anamnese für uns ohne nachweisbar
ätiologisches Moment war, ließ sich fast immer für den kausalen Nexus mit
dem Kriegsdienst der Beweis aus dem Verlauf und der Symptomatologie
des Krankheitsfalles erbringen.
Der deutliche Erfolg der Anstaltsbehandlung und damit die Be¬
seitigung schädigender Einflüsse, ein Moment, das wir schon bei der Be¬
sprechung der Dementia praecox betont und ausein andergesetzt haben*
verleiht auch hier dieser Annahme größte Wahrscheinlichkeit.
Wegen der geringen Anzahl der Fälle erübrigt es sich, auf die Be¬
sprechung der Kriegsneurosen, die eine dem Bilde einer Unfallneurose
entsprechende Störung zeigten, näher einzugehen. Diese Frage ist an
einem umfangreichen Material zu diskutieren, außerdem in der neuesten
Literatur bereits vollständig behandelt.
Dasselbe ist von den Kapiteln Neurasthenie und Imbezillität zu
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Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter. 301
sagen, auch hier boten die von mir beobachteten Fälle keinen Anlaß zu
einer spezielleren Besprechung.
Zusammenfassend können wir den Inhalt obiger Arbeit
in nachstehenden Sätzen wiedergeben.
Aufgabe der Untersuchung: Wir versuchen zu klären, ob
■ Psychosen der Kriegsteilnehmer sich qualitativ and quantitativ von
denen anderer Personen unterscheiden, die nicht Kriegsteilnehmer
sind. Zum Vergleich wurden die männlichen Zugänge des Jahres
1913 in der Heilanstalt Dösen herangezogen.
Dementia praecox. Bei unserem Soldatenmaterial in
diesem Alter ziemlich häufig 24,52 °/o, Kraepelin hat 6,5 °/o, Wolf¬
sohn 15 °/o, Anstalt Dösen 16,96 °/o. Bei Meyer Dementia praecox-
Fälle nur 7.5 °/o (allerdings Soldaten aller Altersklassen). Erb¬
liche Belastung bei uns in der Hälfte der Fälle, bei Vorster und
Sioli 30%. bei Kraepelin 19%. Disposition hereditär Belasteter
zur Erkrankung bei unseren im Felde gewesenen Soldaten 68,7 %,
bei Garnisondiensttuenden 60%, bei Anstaltsinsassen nur 55%.
Folgerung: Kriegsdienst kommt eventuell als schädigendes Moment
in Frage. Zum gleichen Ergebnis gelangt die qualitative Wertung
der Fälle. Kausaler Nexus zwischen Psychose und Kriegsdienst
ist aus Symptomatologie und Entwicklung des Leidens anzunehmen.
Beweis geht aus Analyse einzelner Fälle hervor.
Symptomatologisch fanden sich im allgemeinen die für
Dementia praecox charakteristischen Erscheinungen. In manchen
Fällen starkes Hervortreten subjektiver Beschwerden. Abgrenzung
einer besonderen Art, nämlich der depressiven Verblödung. Auf¬
fällig rasches Abklingen der Symptome nach Beseitigung der
Schädlichkeiten.
Eine gewisse Häufung nachstehender Gruppen tritt hervor.
I. Relativ spätes Auftreten.
H. Entstehung des Krankheitsbildes auf Basis psychopathi¬
scher Konstitution, bei einzelnen Fällen verbunden mit
moralischer und intellektueller Minderwertigkeit.
III. Krankheitsbilder auf Basis angeborener Geistesschwäche.
Paralyse. Paralytiker bei unserem Soldaten material im
Mannesalter reichlich, 45%, Anstalt Dösen nur 28,5%. An¬
gesichts der Tatsache ist Frage berechtigt, ob Krieg mit Ausbruch
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UNIVERSITY OF MICHSGAN
302 Oehring, Geisteskrankheit bei Militärpersonen im Mannesalter.
und Verlauf der Paralyse in Zusammenhang zu bringen ist. Be¬
ginn der Paralyse bei unseren Soldaten durchschnittlich im 32,2.
Lebensjahre, Inkubationszeit durchschnittlich 14,6 Jahre, beide»
keine abnormen Werte. Schnelligkeit des Verlaufs kann noch nicht
endgültig festgestellt werden, da ein großer Teil der Fälle noch
lebt, jedoch ist auf Grund eigener und auch anderer Autoren Er¬
fahrungen und Beobachtungen ein schnellerer Ausgang und rascherer
Verfall zum paralytischen Marasmus anzunehmen als in Friedens¬
zeiten.
Alkoholismus. Bei meinem Soldatenmaterial sehr gering,
0,82%, bei Baller 14,3% (allerdings mit Soldaten aus Heimats¬
gebiet). Grund für unsere relativ sehr günstigen Ergebnisse:
strenge Disziplin im Felde, wenig Gelegenheit zum Trinken. An¬
stalt Dösen 1913: 22,3% alkoholische Störungen. Grund: in
Friedenszeiten unbehinderte Gelegenheit zum Trinken. Rückgang
der Alkoholiker von verschiedenen Seiten beobachtet. Bonhöffer,
Kgl. Charitö in Berlin, Weichbrodt, Universitätsklinik Frankfurt a. M.,
ferner eine von mir gemachte Statistik aus der Anstalt Dösen.
Psychopathie. Bei unseren Soldaten 10,65%, bei Anstalts¬
insassen nur 6,89%. Grund: völlig andere Lebensweise, erhöhte
Anforderungen an Körper und Geist, verminderte Rücksichtnahme
auf Krankheitszustand als im Zivilleben. Die meisten Psycho¬
pathen waren schon vor Einziehung abnorm.
Zwei Drittel der Psychopathen wurden kr. u., namentlich
die imbezillen Psychopathen wegen Neigung zu Disziplinwidrigkeiten
und dadurch bedingtem schlechten Einfluß auf Truppe. Konstitu¬
tionell Verstimmte konnten zumeist als a.-v. H. ihrem Ersatz-
Truppenteil überwiesen werden.
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Original fro-m
1JMIVERSITY OF MICHIGAN
Beobachtungen über den Eindruck des Krieges
auf Geisteskranke.
. Von Dr. Colla, Bethel.
/
Beim Ausbruch des Krieges lag die Versuchung nahe, fest¬
zustellen, welchen Eindruck dieses die ganze Welt bewegende
Ereignis auf unsere Kranken machte. Die ersten Anhaltspunkte
die ich dabei. gewann, veranlagten mich, planmäßig an depi
ganzen Krankenbestande, soweit er dazu geeignet war, Unter¬
suchungen daraufhin anzustellen. Ich konnte mir natürlich von
vornherein sagen, daß irgendwelche wesentlichen, neuen Gesichts¬
punkte für die Beurteilung der Krankheitszustände dabei kaum,
zu gewinnen waren; immerhin wurde mir bald klar, daß die
Äußerungen der Kranken zur Kennzeichnung ihres Geisteszustandes
in vielen Fällen außerordentlich geeignet waren, und ich erlebte
bei den Unterhaltungen außerdem manche Überraschung.
J£s schied von vornherein begreiflicher Weise eine ganze
Reihe von Kranken aus, so die stuporösen Katatoniker und die
blöden Paralytiker. Ich habe trotzdem versucht, auch bei Kata-
tonikem Anknüpfungen zu suchen, so bei einem Kranken G.
(Fall 1), der ab und zu abgerissene Sätze in den Saal schreit,
auch allein ißt und meist reinlich ist. Ich erwartete, daß er gelegent¬
lich vielleicht einmal in seinen plötzlichen Äußerungen erkennen
lassen würde, daß er meine Mitteilungen verstanden und bewahrt
habe. Aber in den ganzen 43 Monaten ist nichts dergleichen zu
beobachten gewesen außer den kürzlich gefallenen Worten:
„Haben Sie eine japanische Kriegsmaschine?“ Bei der Sinn¬
losigkeit und den vielseitigen Beziehungsmöglichkeiten seiner ab¬
gerissenen Äußerungen lege ich aber darauf gar keinen Wert 1 ).
*) Wir hatten zudem vor dem Kriege auf der betreffenden Abteilung
einige Zeit einen jungen japanischen Theologen als Hilfspfleger.
Nachtrag bei der Korrektur: Inzwischen hat sich herausgestellt, daß
der Kranke vom Kriege weiß und manche Einzelheiten kennt.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
304
Colla,
Ich fahre aber mit meinen Gesprächen vom Kriege bei diesen
Kranken, auch bei den ganz stuporösen, fort, um später in freieren
Zeiten vielleicht feststellen zu können,; wie weit' die Kranken
meine Mitteilungen aufgenommen haben.
Wo es aüging, bewegte sich meine Untersuchung in der
Form der freien Unterhaltung. Dabei kam es mir darauf an.
zu erfahren, was die Kranken über die Ursachen des* Krieges
dachten, über die jeweilige Lage auf den Kriegsschauplätzen,
über die politischen Verhältnisse, die Aussichten für unsere Kriegs¬
führung und schließlich, ob Neigung bestand, ins Feld zu ziehen.
So konnte ich ein Bild über ihr Gedächtnis, über ihre allgemeinen
Kenntnisse, über die Auffassungsfähigkeit, Urteilskraft und über
ihr sittliches Empfinden erhalten. Gern ließ ich die Kranken
frei reden und lenkte nur das Gespräch auf gewisse, mir wichtige
Punkte. Bei einzelnen beschränkte sich die Unterhaltung natür¬
lich aber nur auf einfache Fragen und Antworten, und ich habe
dann, um Vergleichsmöglichkeiten zu haben, wie bei der sonstigen
Prüfung des geistigen Besitzstandes nach einem bestimmten Plane
gefragt:
1. Wissen Sie, daß wir Krieg haben? 2. Mit wem führen wir Krieg?
3. Wer hat den Krieg erklärt? 4. Warum ist der Krieg gekommen?
5. Glauben Sie, daß wir siegen werden? 6. Möchten Sie wohl selbst mit
hinaus ins Feld? ,
Von besonderer Wichtigkeit ist es mir auch gewesen, zu
erkunden, wie weit der Krieg Einfluß gewonnen habe auf die
Wahnbildungen der Kranken, auf ihre Sinnestäuschungen und
sonstige Krankheitsäußerungen. Die Ausbeute ist nach dieser
Richtung hin, wie ich vorweg bemerken will, etwas spärlich, aber
einzelne Fälle bieten gerade darin recht Anziehendes in klinischer
Beziehung.
Nach Ausscheidung der von vornherein ungeeigneten Fälle
bleiben 71 übrig, von denen ich über 53 im folgenden be¬
richten will.
Zunächst erwähne ich 5 Kranke, die zur Gruppe der psychopathi¬
schen Persönlichkeiten gehören, und zwar zur Klasse der sogenannten
Haltlosen (i. S. KraepeHns).
Von ihnen zeigte einer, St. (Fall 2), entsprechend seiner manischen
Grundstimmung die lebhafteste Teilnahme an allen Ereignissen und offen-
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 305
barte in allen Besprechungen ein allerdings immer sehr optimistisch ge¬
färbtes, aber doch sonst gesundes Urteil. Irgendeine Neigung jedoch,
am Kampfe gegen die Feinde teilzunehmen, besaß der körperlich gesunde
30jährige Pflegling nicht. Er war im Gegenteil froh, daß er in der Anstalt
„in Sicherheit“ war, und eine Einziehung für ihn nicht in Frage kam.
(Haltlosigkeit, schwärmerische Künstlernatur, sittliche Verfehlungen,
gänzlicher Mangel an irgendwelcher Einsicht.)
Ein zweiter, R. (Fall 3), der namentlich in Venere stark zu Aus¬
schreitungen neigte, mit völligem Versagen gegenüber ganz selbstver¬
ständlichen Pflichten, wollte mit aller Gewalt hinaus ins Feld, was um so
verdächtiger war, als er sonst alle altruistischen Neigungen vermissen ließ.
Schließlich gelang es ihm, im März 1915 zu entweichen und sich zu stellen;
aber bevor er eingestellt werden konnte, entgleiste er in altgewohnter
Weise so schwer, daß er endlich entmündigt und in eine unserer Arbeits¬
kolonien gebracht wurde.
Zwei weitere Haltlose, H. und A. (Fälle 4 und 5), kümmerten sich
um den Krieg gar nicht, wenigstens soweit das nach außen hervortreten
konnte. Sie waren viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten, ihrem
Kampfe gegen Eltern oder Vormund, Anstalt und „die ganze Philister»
weit“, wie einer sich ausdrückte, beschäftigt, um im Kriege mehr als ein
Ereignis zu sehen, das in der Zeitung ganz wie ein anderes, alltägliches
Vorkommnis behandelt wird. H. warf bei Unterhaltungen wohl einmal
eine „ulkige“ Bemerkung über den Krieg hin; A. schwärmte für Eng¬
land, das Land der Freiheit.
Die lebhafteste Rückwirkung hatte der Krieg auf d.en fünften
Psychopathen, Sch. (Fall 6), den Sohn sehr wohlhabender Eltern, der
sich schon seit Jahren in Anstalten aufhält, bei jedem Versuche, ihm in
irgendeiner Stellung ein Einordnen in die Lebensverhältnisse zu ermög¬
lichen, auf das allerschwerste entgleist, der zwar künstlerisch begabt und
in allerlei Technik bewandert ist, aber einen gewissen Mangel an Urteils¬
kraft erkennen läßt und neben seiner Verschwendungssucht und seiner
überraschenden Ausdauer im „Herumsumpfen“ eine außerordentliche
Gemütsroheit zutage treten läßt. Er benutzte am 5. August 1914 die
Erlaubnis zu einem Ausgange im Anstaltsgebiete, wo er photographische
Aufnahmen machen wollte, um seinen kostbaren photographischen Ap
parat zu versetzen und zu entweichen. In seinem Zimmer fanden wir
einen Zettel folgenden Inhalts: „England hat Deutschland den Krieg er¬
klärt, Westdeutschland in Gefahr; rette mich auf neutrales Gebiet!“
Unter diesem neutralen Gebiete verstand er zunächst Berlin, wo er den
Rest seines Geldes durchbrachte, dann ging er nach Zoppot. Bei einem
Haare wäre er auf seiner Flucht vor den Engländern den Russen in die
Arme gelaufen; denn das eigentliche Ziel seiner Reise war, wie er später
angab, seine Heimat, die mitten in einem der großen Schlachtfelder des
Ostens lag. Sein Verhalten liegt ganz in der Richtung seiner Charakter-
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306
Colla,
anlage, in der Mangel an jedem Mut noch ein hervorstechender Zug war.
Auch später zeigte er nicht nur gänzliche Teilnahmlosigkeit gegenüber
für uns günstigen oder ungünstigen Kriegsereignissen, sondern gelegentlich
eine abschreckende Gefühlsroheit durch nichtswürdige Äußerungen über
unsere Verluste.
Ich möchte hier einschalten, daß ich bei einer Reihe von Psycho¬
pathen, die früher in meiner Behandlung waren, auch wesentlich bessere
Erfahrungen gemacht habe. Eine überraschend große Zahl hat sich frei¬
willig zum Eintritt in das Heer bei Ausbruch des Krieges gestellt, einige
sind gefallen, andere ausgezeichnet worden. Eg hat bei vielen sicherlich
der bloße Drang nach Freiheit, bei andern das Lockende eines voraus¬
sichtlich abenteuerlichen Erlebens mitgespielt, was beides ja im allgemeinen
den Grundlinien ihrer Willensrichtv.ng entspricht. Aber ich habe bei
einigen auch wirklich eine reine Hingabe an den großen Gedanken des
Kampfes um Sein und Nichtsein des Vaterlandes gefunden. Von den
13 ehemaligen Pfleglingen, über die ich unterrichtet worden bin, Sind 5
gefallen, 3 sind sehr bald körperlich zusammengebrochen, 1 hat wegen
Fahnenflucht vor Gericht gestanden, ist aber freigesprochen und als un¬
tauglich entlassen worden. Ein weiterer, der besonders an Großmanns¬
sucht litt und schon früher allerlei Hochstapeleien vollführt hatte, be¬
nutzte die Uniform sofort zu Zechprellereien und andern Streichen und ist
jetzt wieder in einer Anstalt. Über die 3 letzten habe ich nichts weiter
erfahren können, als daß sie sich zum Eintritt ins Heer gemeldet haben
und angenommen worden sind.
Um aber auf meinen eigentlichen Besprechungsgegenstand zurückzu¬
kehren, schließe ich hier den Fall eines Zwangsneurotikers an, der an
Zweifelsucht und starken körperlichen Störungen mit hypochondrischen
Anwandlungen litt, W. H. (Fall 7). Der begabte und im Verkehr durchaus
gewandte, 32jährige Kranke aus guter Familie stand dem Kriege auf¬
fallend kühl gegenüber. Er hatte allerlei Liebhabereien und namentlich
künstlerische Neigungen; Unterhaltungen über den Krieg wich er aber am
liebsten aus, erledigte sie, wenn es nicht anders ging, mit gesellschaftlicher
Form und Zuvorkommenheit, wobei zu erkennen war, daß er die Ereignisse
wohl verfolgte, aber nur flüchtige Eindrücke davon hatte. Nie ließ er
irgendeine Äußerung hören, die auf eine Gemütsbeteiligung hätte schließen
lassen. Auch seine Miene war stets die eines „reservierten Geheimrats“,
wie einer seiner Mitkranken sagte. Ich habe bei ihm immer den Eindruck
gehabt, daß er einzelne Eindrücke gewaltsam zurückdrängte oder ab¬
wehrte; so bestand z. B. bei ihm eine völlige Unkenntnis über die jeweilige
politische Lage, und einer Besprechung der U-Boot-Kämpfe und-Erfolge
wich er hartnäckig aus, während er über die Ereignisse im Felde stets sehr
gut unterrichtet war und einer Besprechung darüber in der oben ange¬
gebenen Weise sich zugänglich zeigte. Die Frage, ob er keine Neigung
habe, am Kriege teilzunehmen, erledigt er mit gewohnter Förmlichkeit
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 307
durch ein sehr gelassenes Nein. Ich habe nicht ergründen können, ob
hinter seinem Verhalten Zwangsvorstellungen steckten.
Vor einigen Monaten "haben wir einen Belgier, N. (Fall 8), aufge¬
nommen, dessen schon lange bestehende Zwangsneurose (Zwangsdenken)
durch die Kämpfe um seine Vaterstadt Antwerpen angeblich eine starke
Verschlimmerung erfahren hat. Dieser Kranke, der sich je nach seinem
Befinden körperlich beschäftigt und nebenbei auch gute geistige Unter¬
haltung in Literatur und Kunst sucht, zeigt ebenfalls äußerlich gar keine
Teilnahme an den Ereignissen des Krieges, weiß auch über die einzelnen
Geschehnisse kaum Bescheid. v Hier liegt es ja besonders nahe, anzu¬
nehmen, daß die Eindrücke abgewehrt werden, die seinen Zustand ver¬
schlimmert haben. Es mag aber auch einfach so liegen, daß der Kranke
durch seine Zwangsvorstellungen so sehr in Anspruch genommen ist, daß
er für neue Eindrücke wenig zugänglich ist. Tatsächlich ist er auch sonst
für äußere Anregungen sehr wenig zugänglich und sucht in freieren Zeiten
immer nur in seinen alten Liebhabereien Zerstreuung.
Ich lasse nun 3 Imbezille folgen. Von ihnen ist B. (Fall 9) ein
thüringischer Bauer, dessen beschränkte Gutmütigkeit von gewissenlosen
Freunden so ausgenutzt wurde, daß man zur Entmündigung des Kranken
schreiten mußte. Er hat außer Essen und Trinken keine wesentlichen
Wünsche und Neigungen, beschäftigt sich nicht und sitzt den ganzen Tag,
mißvergnügt über seine Anstaltsversorgung, herum. Seine Antworten
auf die oben gegebenen Fragen sind äußerst bezeichnend: Frage 1: „Nu
da.“ 2: „Das weeß ich Sie nich.“ 3: „Kann ich ooch nich sagen.“ 4: „Das
weeß ich ooch nich; nu, ’s werd wohl eener angefangen haben.“ 5: „Nee,
mei Lieber, ich bleib’ derheeme.“ (Lacht hell auf.)
Der zweite, M. (Fall 10), ein Berliner Kind (Zwergwuchs, kindliche
Ängstlichkeit vor Gewittern und „unfreundlichen Menschen“, fleißiger
Arbeiter und salbungsvoller Briefschreiber), fuhr sogleich auf die erste
Frage los: „Ich brauch doch nicht mit, Herr Doktor?“ Irgendein Urteil
über Entstehung und Verlauf des Krieges bildet er sich natürlich nicht.
Dagegen fragte er wochenlang ängstlich: „Nicht wahr, hier kommt der
Krieg doch nicht her ?“ Eines Tages kam er aufgeregt zu mir, fast weinend,
und klagte: „Herr Doktor, der R. neckt mich immer und sagt, ich würde
eingezogen. Nicht wahr, ich kann doch hier bleiben? Mein Vormund hat
gesagt, ich wäre viel zu klein.“
Eine ebenso große Abneigung zeigt der 3. Imbezille, ein 45jähriger
Bergmann W. (Fall 11). Seine Antworten auf die Fragen gebe ich eben¬
falls wörtlich wieder: Frage 1: „Ja, der Bruder S. hat es gesagt.“ 2: „Na,
mit den Franzosen.“ 3.: „Die Franzosen“ 4: „Na, wegen die Franzosen.“
5: „Na, wer weiß denn.“ 6: „So ’n Krieg ist nichts Genaues.“ Dabei
steht er verlegen lächelnd an die Wand gelehnt und nestelt an seinen
Fingern; irgendeine weitere Fr.'ge richtet er nicht an mich, der Krieg ist
ihm.eine ganz gleichgültige S<"he.
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308
Colla,
Auch die in der geschlossenen Anstalt befindlichen Epileptiker
zeigen im allgemeinen keine Teilnahme an den Kriegsereignissen, begreif¬
licherweise, da bei ihnen ja schon ein ziemlicher Grad von Schwachsinn
vorausgesetzt werden kann. In einzelnen Fällen bot die Unterhaltung aber
doch Auffallendes, so besonders bei einem 52jährigen Arzte, F.. (Fall 12),
der mit 46 Jahren den ersten Anfall bekommen hatte. (Alkohol und Lues
sind nicht mit im Spiele.) Er war in der geschlossenen Anstalt wegen
häufiger Dämmerzustände und Erregungen, in denen er gemeingefährliche
Handlungen beging, und es hatte sich bei ihm ziemlich schnell ein gewisser
Grad von Schwachsinn mit großer Weitschweifigkeit, Gedächtnisschwäche
und Einstellung auf das eigene Ich entwickelt. Der Kranke verfügte aber
noch tibör ganz gute Kenntnisse, las täglich die Zeitung, sprach jedoch
niemals vom Kriege und ging, wenn die Rede darauf kam, schnell darüber
hinweg. Ich gebe die erste Unterhaltung mit ihm vom 6. August 1914:
[Wissen Sie, daß wir Krieg haben, Herr Kollege?] Soo? (Ersieht
mich erstaunt an.) [Nun, Sie lesen doch die Zeitung, da steht es ja drin.]
Soo? [Hier sehen Sie doch.] Ja, das steht da. (Er lächelt verlegen.)
[Nun und?] Ja, wenn es da steht, dann wird es auch so sein. [Wer hat
denn wohl den Krieg erklärt?] (Er sucht in der Zeitung:) Die Franzosen.
[Wie denken Sie wohl, daß der Krieg für uns verlaufen wird ?] Ja, das ist
schwer zu sagen. [Hätten Sie wohl Lust, noch mit ins Feld zu ziehen?]
Ja, wenn ich gesund wäre. Donnerwetter noch einmal. (Dabei schlägt er
wütend mit der Faust auf den Tisch.)
Diese Unkenntnis ist ja sicherlich mit auf den Verlust der Merk¬
fähigkeit zu setzen, läßt sich aber daraus nicht allein erklären, zumal der
Kollege für andere Dinge ein besseres Gedächtnis hatte, z. B. für die Nach¬
richten über die soziale Bewegung in seinem heimischen Bergwerksbezirk.
Offenbar spricht hier auch die Einbuße an Aufnahmefähigkeit für nejue
Eindrücke mit. Bezeichnend für sein noch sehr lebhaftes Krankheitsgefühl
ist die Antwort auf die letzte Frage. Hier bricht bei dem körperlich
kraftstrotzenden, hühnenhaft gebauten Manne trotziger Zorn durch die
bisherige Gleichgültigkeit durch.
Ein seit einigen Monaten in der Anstalt befindlicher 52jähriger, schon
seit 20 Jahren an Anfällen leidender Epileptiker B. (Fall 13), der noch
sehr umgängig war, aber zeitweise an Zuständen von Verwirrtheit leidet,
nicht arbeitet und gegen äußere Eindrücke sehr gleichgültig ist, glaubt
nicht an den Krieg. Auf die Frage, ob er wisse, daß Krieg ist, drohte er
mit dem Finger und sagte: „Herr Doktor, Herr Doktor, Sie haben mich
zum besten.“ Inzwischen hat er den Krieg am eigenen Leibe zu spüren
bekommen; aber wenn er sich beklagt, daß er nicht mehr so viel zu essen
bekäme wie früher, und man weist ihn auf die Ernährungsschwierig¬
keiten im Kriege hin, so sagt er verstimmt: „So? Na, es ist schon gutl“
und dreht sich mürrisch um.
Ein pfälzischer Weinbauer, H. (Fall 14), mit seltenen Anfällen,
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 309
häufigen Dämmerzuständen und Resten von (alkoholistischen) Sinnes¬
täuschungen, dabei einem Schwachsinn, der ihn immerhin noch befähigt,,
geordnete Briefe zu schreiben, hatte anfangs noch viel Teilnahme an den
Ereignissen gezeigt und war namentlich um das Schicksal seiner Heimat
besorgt. Inzwischen ist er aber noch schwächer geworden und weiß kaum
noch etwas vom Kriege. Nur Heimatbriefe mit Nachrichten über Ange¬
hörige, die im Felde stehen, erwecken vorübergehend bei ihm etwas Auf¬
merksamkeit für die Zeitereignisse. .Bezeichnend sind zwei von mir nieder¬
geschriebene Gespräche mit ihm:
1. Am 3. August 1914: [Herr H., wir haben Krieg mit Frankreich
und Rußland. Was sagen Sie dazu?] Isch’s wahr? Nu bewahr’ uns Gott!
[Wissen Sie, wodurch der Krieg entstanden ist?] Nun von wege dem
Österreicher, den s’ halt ermordet haben. [Glauben Sie wohl, daß wir siegen
werden?] Dös will i meine. Die Preuße und die Bayern, die wern’s halt
schon mache. [Würden Sie auch gern mitmachen?] (Er packt mich am
Arme und lacht laut:) Hei, wenn i gesund wär\ warum denn nit?
2. Am 12. Januar 1918: [Nun, Herr H., was sagen Sie denn jetzt
zum Kriege?] Was für e Krieg? [Nun, wir haben doch Krieg mit der
halben Welt!] Ja so, von wege dem, daß sie die Fahne naus hänge tue,
(Er macht seiner Gewohnheit gemäß mit der Hand die Gebärde, als wolle
er sagen, das sei sehr schwer zu sagen.) [Glauben Sie, daß wir sie alle be¬
siegen?] Das kann Ihne der H. nicht sagen, da frage Sie den Soldaten!
(Er spricht von sich gern in der dritten Person.) [Wer ist denn Hinden-
burg?] Der Hindenburg, sdl isch, wo uff den Kalender iß uffgemalt.
[Wie lange haben wir denn wohl schon Krieg?] S’isch scho recht. Er
dreht sich mürrisch weg.
Ein 40jähriger Amtsrichter G. (Fall 15), der seit seinem 32. Jahre
an Anfällen leidet und schnell einen mäßigen Grad von Schwachsinn
erreicht hat, in den sich Dämmerzustände nach Art des sogenannten
besonnenen Deliriums einschieben, steht dem Kriege ohne jede sichtbare
Gefühlsregung gegenüber. Seine Auffassung und Verarbeitung aller
Eindrücke ist stark verlangsamt, sein Gedächtnis wenig gestört. Er hört
allen Erzählungen über den Krieg zu, äußert sich aber nie dazu, obwohl
er täglich die Zeitung liest. Auf bestimmte Fragen über den Krieg gibt er
kurze Antworten, die erkennen lassen, daß er wohl einzelne Tatsachen
kennt, aber ihren Zusammenhang nicht beherrscht; auch ein Urteil über
die jeweilige Kriegslage und die Aussichten für uns kann er sich nicht
bilden. Beispiel (am 20. Dezember 1915): [Nun, Herr Amtsrichter, was
sagen Sie denn zur Räumung der Dardanellen?] Ja, was kann ich dazu
sagen? (Sieht mich scheu und verlegen an, dann nach kurzer Pause,
indem er nach der Zeitung greift:) Ach ja (lächelnd j, die scheinen ja eine
Menge verloren zu haben. [Unsere U-Boote haben dazu auch mitgeholfen.]
Die U-Boote, wieso? [Na die haben doch die feindliche Flotte in Schach
gehalten.] Ach so, ja das ist wohl wahr. [Wie denken Sie denn über den
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310
Co Ha,
weiteren Verlauf des Krieges?] Ja, was soll man dazu wohl sagen ? [Nun
glauben Sie an utisern völligen Endsieg?] Ja, das ist schwer zu sagen.
(Mit Eife») Aber das wollen wir doch hoffen. Als ich das Zimmer ver¬
lassen will, sagt er noch: Mein Bruder steht auch im Felde, das wissen
Sie doch, Herr Doktor? [Ja, wir haben ja schon oft davon gesprochen.]
Na ja, ich wollte es nur beiläufig erwähnen.
Die Schwerfälligkeit in der Auffassung, die mangelhafte Urteils¬
bildung und schließlich die Beziehung auf das eigene Ich sind äußerst
bezeichnend.
An der großen Zahl der in den offenen Häusern und in den Acker¬
höfen befindlichen Epileptiker ha^e -ich nur flüchtig einige Beobachtungen
machen können. Die Teilnahme an den Kriegsereignissen entsprach im
allgemeinen der Erwartung nach dem Grade ihres Schwachsinnes. Auf¬
gefallen ist mir ein ganz schwachsinniger Kranker Th. (Fall 16), der nur
noch zu regelmäßigen Botengängen benutzt wird. Auf seine Geistesver¬
fassung hat der Krieg entschieden auffrischend gewirkt. Es mag das daran
liegen, daß er in einem Hofe mit einigen arbeitenden Kranken zurückblieb,
der als Lazarett eingerichtet wurde, und daß die neuen Eindrücke nach
dem jahrelangen Einerlei der ewig gleichen Botengänge eine gewisse
geistige Erstarrung hinwegräumten, die sich über seinen Schwachsinn
gelagert hatte. Er nahm sich eine Soldatenmütze, heftete sich eine „schöne
große Kokarde“, eine russische, an, die er einem Soldaten entwendet hatte,
und begrüßte mich eines Tages zu meiner großen Überraschung mit den
Worten: „So, Herr Doktor, ich habe auch mobil gemacht.“ Er kümmert
sich um die Ereignisse gar nicht, aber er verkehrt viel mit den Verwundeten
und trägt immer seine Mütze. Sein Selbstgefühl ist gestiegen, er will bei
allen Veranstaltungen Gedichte aufsagen, sonst käme er nicht. Kürzlich
sagte er mir sogar, er .wolle heiraten, er habe viel Glück bei den Frauen.
Bei den Altersschwachsinnigen trat im allgemeinen in ganz
besonders hohem Maße die Teilnahmlosigkeit an den Kriegsereignissen
hervor, wie es ja der Eigenart dieser Kranken entspricht. Außerordentlich
bezeichnend war dies bei einem alten Volksschullehrer K. (Fall 17), der
zeitweise noch Spuren einer umfassenderen Bildung erkennen läßt. Meine
Unterhaltung mit ihm über den Krieg spielte sich so ab (4. August 1914):
[Herr K., wissen Sie, daß wir Krieg haben?] So? Das ist der 4. Krieg,
Herr Doktor, den ich erlebe. (Dann miW weinerlicher Stimme:) Habe kein
Bett, habe keinen Körper mehr. Mit der Beziehung auf seine eigene
Person war für ihn die Kriegsfrage erledigt, und sie versank sofort in
seinem Wahne.
Ein anderer, B. (Fall 18), freute sich nur über ein Bild seines
Schwiegersohnes in Kürassieruniform. , Bei ihm trat auch sonst die Teil¬
nahmlosigkeit und die Einstellung des ganzen Denkens auf das eigene Ich
besonders hervor, während Gedächtnis und sonstige geistigen Fähigkeiten
weniger geschädigt waren. Ein dritter, W. (Fall 19), ein 78jähriger
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Beobachtangen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 311
gebrechlicher Greis (Sittlichkeitsvergehen, Abnahme der Merkfähigkeit,
Zerstreutheit, Erschwerung der Auffassung, auch sonst teilnahmlos),
antwortete auf die erste Frage auch mit erstauntem „So?“ und auf die
zweite Frage, wer den Krieg erklärt habe: Napoleon. [So? Napoleon?]
Ich — ich meine die Franzosen. [Nun weshalb wohl?] Das ist immer so
gewesen. [Wie glauben Sie wohl, daß der Krieg verlaufen wird?] Wie
meinen Sie das? [Ich frage Sie, ob Sie glauben, daß wir siegen werden?]
Das werden wir wohl. Es war bei jeder späteren Unterhaltung immer
für ihn scheinbar etwas Neues, daß Krieg war, entsprechend seiner
schlechten Merkfähigkeit, während er für die verschiedenen Gerichte bei
den Mahlzeiten ein gutes Gedächtnis hatte.
Ein 65jähriger Lehrer A. (Fall 20), den ich zur Gruppe der Presbyo-
phrenen stelle, beteiligt sich an jeder Unterhaltung lebhaft, musiziert,
arbeitet fleißig im Garten, sieht mich aber jedesmal sehr erstaunt an, wenn
ich vom Kriege spreche. In der Unterhaltung gibt er dann manchmal
ganz treffende Urteile über den Krieg ab, aber offenbar je nach seiner
gerade bestehenden Stimmung. Von selbst beschäftigt er sich mit den
Ereignissen gar nicht. Auf die Frage, ob wir siegen werden, antwortet er
einmal: „Das werden wir doch!“ Einige Stunden später lächelnd: „Das
können wir wohl nicht.“ Von der früheren Unterhaltung weiß er offenbar
nichts mehr.
. Hier möchte ich den Fall eines 49jährigen livländischen Barons X.
(Fall 21) anführen, der an Schwachsinn nach polyneuritischer
Geistesstörung litt mit andauernd starker Einbuße der Merkfähigkeit
und Konfabulation neben dem Wahne des Bestohlenw r erdens. Zwischen¬
durch hatte er Schrei- und Lachkrämpfe; auch bestand eine Parese in den
Beinen: Der Kranke schrieb bis an sein Ende außerordentlich form¬
gewandte Briefe, kümmerte sich aber sonst nur um die Befriedigung
seiner körperlichen Bedürfnisse und um seine Malkunst, die sich indessen
nicht über die Stufe der Oberländerschen „Schreibhefte des kleinen Moritz“
erhob *). Ich habe im September 1915 folgendes vermerkt: [Nun, Herr
Baron, wie denken Sie denn eigentlich über den Krieg?] Den Krieg? Ich
weiß nicht, was Sie meinen. [Nun, unseren Krieg mit Rußland und den
andern Ländern.] Ach ja, ja da da da, ach ich weiß nicht, ich habe aber
wirklich immer sehr große Schmerzen, Herr Doktor. Ich setzte mich nun
zu ihm und legte ihm die ganze Kriegslage dar, erzählte ihm von der Ent
stehung und dem bisherigen Verlaufe des Krieges und bemerkte, wie er
mir scheinbar aufmerksam zuhörte. Einmal, als ich von den Russenein
fällen in Ostpreußen erzählte (er war preußischer Referendar und hatte
bei einem preußischen Husarenregimente gedient), sagte er: „Da, das ist
_ \
1 ) Der Kranke ist im vorigen Winter an Ödemkrankheit gestorben.
Bedauerlicherweise konnte die Autopsie nicht vorgenomnun werden in¬
folge von äußeren, durch den Krieg verursachten Störungen.
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C olla,
aber sehr schlimm, Herr Doktor.“ Meine Absicht, am nächsten Tage fest¬
zustellen, was er von der Unterhaltung bewahrt habe, erübrigte sich ; denn
gegen Abend wurde mir mitgeteilt, er habe Gesellschaftstoilette angelegt
und wolle zu mir kommen, weil ich heute bei ihm gewesen sei und ihn zum
Abendessen eingeladen habe.
Von 9 Paralytikern mit bereits stark ausgesprochenem Schwach¬
sinn war von vornherein keine Teilnahme am Kriege zu erwarten. Eine
Ausnahme machte nur ein 30jähriger Landwirt W. (Fall 22), der, von Hause
aus schwach begabt, mit 20 Jahren angesteckt, im Kriege paralytisch ge¬
worden war. Er spricht täglich von seiner Wiedereinziehung, drängt
lebhaft hinaus, um wieder an die Front zu kommen, hat aber für die Er¬
eignisse kein klares Verständnis mehr. Abgesehen von diesem Kriegsteil¬
nehmer war die Mitteilung, daß wir Krieg haben, allen noph Wochen
nach der Kriegserklärung eine Überraschung trotz all der durch den Krieg
bereiteten Veränderungen in der Anstalt (Personenwechsel, weibliches
Pflegepersonal usw.) und der Besprechungen der Kriegsereignisse. Auf
fallend war jedoch bei einem Ingenieur T. (Fall 23), dessen märchenhafte
Größenvorstellungen sich schließlich in einem mechanischen Hersagen der
Wörter „1 Million, 2 Millionen, 3 Millionen“ erschöpften, einmal ein plötz¬
liches Ausbiegen bei diesem Herzählen in folgender Weise: ,,1 Million,
2 Millionen, Billionen Millionen, Trillionen, Toten, Franzosen, Franzosen,
Russen, Fra.... (unverständlich), Nonen, Trillionen, Toten alle Toten
usw.“ Ich stehe nicht an, da andere Beziehungsmöglichkeiten nicht er¬
kennbar sind, anzunehmen, daß hier der Krieg einen schwachen Licht¬
strahl in die Geistesnacht geworfen hat.
Ein adliger Landwirt, v. O. (Fall 24) (einfach schwachsinnige Para¬
lyse), dessen Geistesschwäche bei der Aufnahme kurz vor Ausbruch des
Krieges gar nicht erheblich war, war doch in seiner Auffassungsfähigkeit
so geschwächt, daß er gleichfalls an den Kriegsereignissen keinen Anteil
nahm? trotzdem 5 seiner Brüder und 2 Schwäger von ihm im Felde
standen und er durch zahlreiche Briefe über deren Erleben unterrichtet
wurde. Während er die Mitteilungen von dem Heldentode zweier seiner
Brüder ohne Gemütsbewegung entgegennahm, bewirkte die Nachricht
daß der eine Schwager gefallen sei, später in seinem viel schwächeren
Geisteszustand einen heftigen Schmerzausbruch. Dieser leitete einen
äußerst schnellen Verfall mit Verwirrungszuständen ein.
Besonders auffallend ist mir die mangelnde Teilnahme an den Kriegs¬
ereignissen bei einem Hirnluiker, v. C. (Fall 25), (Wahnideen, zeitweise
lebhafte Sinnestäuschungen, ab und zu epileptiforme Anfälle), einem
* früheren Offizier, der meist äußerlich nichts Krankhaftes erkennen läßt,
recht mjtteilsam ist und die ihm anerzogenen Formen gut bewahrt (er
bittet nach jedem Erregungszustand durch Sinnestäuschungen höflich um
Entschuldigung, obwohl er weder diese noch seine Wahnvorstellungen
berichtigt). Ich habe bei oftmaligen Unterhaltungen' mit ihm nie eine
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 313
Anteilnahme an dem großen Ereignis des Weltkrieges und der Not des
Vaterlandes entdeckt. Er liest eifrig die Zeitung, verarbeitet das Gelesene
aber gar nicht; sein Inneres ist offenbar ganz ausgefüllt mit den Verfolgun¬
gen, denen er ausgesetzt ist trotz seines äußerlich meist geordneten
Verhaltens.
Hier möchte ich einen Fall von Geistesstörung bei multipler
Sklerose anfügen. Der jetzt 44Jahre alte Pflegling R. (Fall 26) leidet seit
dem 15. Jahre an Zittern und ist langsam schwachsinnig geworden; zeit¬
weise hat er Erregungszustände, sehr selten auch einige Sinnestäuschungen,
Er ist zeitlich nur im allgemeinen, örtlich und über seine Umgebung gut
orientiert. Er liest viel, ohne das Gelesene im Zusammenhänge zu ver¬
stehen ; dagegen diktiert er ganz geordnete Briefe, schreiben kann er nicht
mehr. Stark gehobenes Bewußtsein, die Vorstellung, von allen Seiten ge¬
ärgert und schikaniert zu werden, vervollständigen das geistige Bild. —
Der Kranke lebt nur seinen Gedanken an Heiraten und an Heimkehr zu
den Seinen. Der Krieg hat daher für ihn begreiflicherweise gar keine Be
deutung. Da sein Wunsch, heimzukehren, während des Krieges uner¬
füllbar ist, wird er bei seinem Drängen immer auf den Frieden vertröstet.
Der Wiederschein davon spiegelt sich in folgendem Gespräch ab: [Nun,
Herr R., was sagen Sie denn jetzt zum Kriege?] Ja, bester Herr Doktor,
was soll ich dazu wohl sagen ? [Na, wie lange haben wir jetzt schon Krieg?]
Na, schon sehr lange. [Wann hat er denn angefangen?] Wohl 1908.
[Dann hätten wir jetzt schon 10 Jahre Krieg?] Na, das wird wohl so sein!
[Nun, das stimmt aber nicht ganz.] Na, aber Herr Doktor, ich habe doch
jeden Tag meine Greifswalder Zeitung. [Was haben wir denn wohl für
Schlachten gehabt?] Ja, sehen Sie, das habe ich wieder vergessen. [Mit
wem führen wir denn Krieg?] Na, mit Rußland und — Frankreich.
[Und mit ?] Und mit England. Es ist auch schon mal Frieden angeboten
worden. [So?] Na, aber Herr Doktor, ich lese doch meine Zeitung. Wir
haben doch mal Frieden angeboten an England.! [Glauben Sie denn,
daß wir den Krieg gewinnen?] Na, gewiß dochl [Was hat die deutsche
Regierung wohl veranlaßt, Frieden anzubieten?] Na, sie wollen Frieden
haben. Das ist doch wohl auch recht so! [Nun ja, aber aus welchem
Grunde wollen sie denn Frieden haben? Die Feinde wollen doch nicht!]
Na, sehen Sie mal, Herr Doktor, der Krieg hat doch lange genug gedauert.
Wir müssen doch auch mal wieder aufhören..
In seiner Sehnsucht nach Frieden ist von allen einzelnen Ereig¬
nissen nur unser Friedensangebot in seinem Gedächtnis hängen geblieben.
Wenn wir nun zu der großen Gruppe der Schizophrenen übergehen,
so ist bei der für sie bezeichnenden Abstumpfung des Gemüts, der Erschwe¬
rung der Aufmerksamkeit und ihrer geringen geistigen Regsamkeit im
allgemeinen nicht zu erwarten, daß der Krieg starke Eindrücke bei ihnen
hinterlasse.
Das trat besonders hervor bei einem ehemaligen Pastor L. (Fall 27),
Z«ltaohrilt für P>7«hiatri«. LXXV. 8 . 22
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Colla,
der an Sprachverwirrtheit litt und im Laufe des Krieges starb. Sein
Satzgemengsel war seit alteT Zeit immer durchsetzt von vaterländischen
Wendungen, Beziehungen auf seine holsteinische Heimat und das
Herrscherhaus. Ich versuchte verschiedene Male, in seine Reden den
Krieg hineinzubringen, aber er verwob ihn nur kurz damit und hat von
selbst in aller Folge seine Sprachverwirrtheit immer nur mit altem Geistes¬
besitz genährt, ohne noch fähig zu sein, einen neuen Gedanken hinein¬
zubringen. Ich gebe eine Probe (17. September 1914): [Guten Morgen,
Herr Pastor.] Guten Morgen, Herr Doktor. Ja, meine Herren, wenn wir
nach der Weise hin uns prüfen und vornehmen, wie wir es in der Jugend
erlebt haben, im Pfarrhause in H.. sozusagen, wie Se. Kaiserliche
und Königliche Hoheit Prinz Heinrich und Jhre Kaiserliche und König¬
liche Hoheit Prinzessin Heinrich, die. das Pfarrhaus besuchten. Das ganze
Deutschland.soll es sein. Ja, meine Herren, wir müssen, müssen uns vor¬
nehmen zu wollen, nach der Weise hin, daß wir bedenken, was wir schuldig
sind. Schleswig-Holste in meerumschlungen, meine Herren. [Herr Pastor,
was sagen Sie zu dem schweren Kriege, den wir mit halb Europa führen?]
Ja, der Krieg, der Krieg, meine Herren, ist ein schweres Unglück, nach der
Weise hin, daß wir streben sollen, uns würdig zu zeigen. Blicken wir auf
unsere Jugendfreuden, heben wir uns heraus, wie Immanuel Kant sagt:
Du sollst, du sollst; das ist der kategorische Imperativ, meine Herrenusw.
Ein Kranker, I. (Fall 28), von dem ein naher Verwandter in sehr
hoher Stellung den Krieg mitmacht, und der an verhältnismäßig leichtem
Schwachsinn mit andauernd gedrückter Stimmung und schwachem Rest¬
wahn leidet, verfolgt alle Ereignisse in der Zeitung mit Eifer, weicht aber
allen Unterhaltungen und auch einzelnen Fragen über den Krieg beharr¬
lich aus.
Ein Deutscher aus Lodz, R. (Fall 29), der an einfachem Schwachsinn
•leidet, was ihm aber immerhin noch freien Ausgang gestattet hatte, zeigt
gar kein Interesse an den Ereignissen und an dem Schicksale seiner Ange¬
hörigen in seiner Heimat. Dieser Kranke steht dem Kriege völlig verständ¬
nislos gegenüber, obwohl er sonst ganz umgängig ist und viel liest. Das
ganze Weltöreignis ist ihm etwas sozusagen Sagenhaftes, und er ist immer
wieder erstaunt, daß andere die Vorgänge ernst nehmen. Er hatte infolge¬
dessen das Unglück, daß er durch ein Mißverständnis verhaftet wurde.
Als er in einer Menschenansammlung in Bielefeld eine Siegesnachricht
las, lachte er plötzlich hell auf-und machte einige Bemerkungen, die von den
Umstehenden als Verhöhnung aufgefaßt wurden. Es erhob sich gegen ihn
der allgemeine Unwille, und der Schutzmann brachte ihn zur Wache.
Wir haben ihn daher für die Zeit des Krieges in „Schutzhaft“ genommen.
Besonders bemerkenswert gestaltete sich der Eindruck des Krieges
auf einen Pfropfhebephreniker, B. (Fall 30), der an schwachem Ver¬
folgungswahn, zeitweise gehäuften Sinnestäuschungen und auffallenden
Erinnerungsfälschungen leidet. Der Kranke (schwere Zange, in der Kind-
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges aui Geisteskranke. 315
heit Krämpfe, schwache Begabung) versagte überall und bekam mit
18 Jahren Gehörstäuschungen und einförmige Verfolgungsvorstellungen;
• er hört im Keller seine Braut schreien, die geprügelt wird, er wird überall
zurückgedrängt und benachteiligt; nachts wird an ihm manchmal herum¬
operiert, das Herz herausgenommen usw. Er zeigt wenig Anteilnahme an
den Vorgängen in seiner Umgebung, soweit sie nicht sein eigenes Ich be¬
treffen, ist aber ein sehr fleißiger Arbeiter, dessen Arbeit allerdings nur
unter ständiger Aufsicht brauchbar ist; sein Gedankengang ist ganz zer¬
fahren. Er ist einer von den wenigen Kranken, bei denen der Krieg den
Inhalt der Wahnvorstellungen beeinflußt und das ganze Krankheitsbild
verschoben hat 1 ). Der Fall schien abgelaufen und in seiner Einförmigkeit
erstarrt. Da überraschte der Kranke durch eine große gemütliche Er¬
regung, die ihn bei Beginn des Krieges ergriff. Er wollte Soldat werden,
zeigte Andeutungen von Größenideen, die sich auf seinem schon früher
gehobenen Selbstbewußtsein, das sich allerdings nur auf sein gärtnerisches
Können bezog, aufbauten. Er suchte in die Lazarettabteilungen einzu¬
dringen und verursachte dort Störungen, so daß wir ihn beschränken mußten.
Nach einigen Monaten legte er Ordensbänder (Zigarrenbänder und Flicken)
an, erzählte, er habe das Eiserne Kreuz, sei Oberstleutnant der Kürassiere
in Deutz, sprach von Schlachten, die er in Belgien mitgemacht habe, von
seinem großen Vermögen, von einer „gebildeten“ Braut, er will eine „große
Hochzeitsreise“ machen usw. Dabei versieht er seine Topfarbeit im Ge¬
wächshause emsig weiter und hat für den Zusammenhang der Ereignisse
und die Bedeutung des Krieges natürlich gar kein Verständnis. Der Verlauf
und der Ausgang des Krieges ist ihm auch gleichgültig. Auf die Frage,
ob wir denKrieg wohl gewinnen, antwortete er: „Das ist ganz gleich.“ Die
Hauptsache ist ihm, daß er „in schöner Uniform mit kann.“ Inzwischen
ist er auch Kgl. Gartendirektor geworden, hat 84 Prüfungen gemacht,
13 Jahre im Zuchthaus (Irrenanstalt) gesessen und 6 Jahre die Uniform
nicht anziehen können; er beschwert sich bei der Regierung, daß sein
Dienstjubiläum nicht gefeiert worden sei usw. Auch seine Sinnestäuschun¬
gen haben sich auf den Krieg eingestellt: es wird immer geschossen. Einen
Einblick in seine Zerfahrenheit gibt ein Brief an seinen Vormund:
Geehrter Herr H..
Da ich in Barmen am 7. März Hochzeitsreise habe, und die Reise
besprochen wird, und mir angegeben wird, wann wir Reisen, am besten
l ) Ich sehe hier ab von den Geistesstörungen der Kriegsteilnehmei,
wie z. B. des oben erwähnten paralytischen Landwirtes (Fall 22). Bei
diesen bilden die Kriegsereignisse, wie allgemein beobachtet, ja recht oft
einen Bestandteil der Wahnbildungen und der Sinnestäuschungen. Na¬
mentlich die Vorstellung, am Kriege schuld zu sein, ist mir bei Depressio¬
nen oft entgegengetreten und im übrigen begreiflicherweise Sinnestäuschun-
gen in Form von militärischen Kommandos, von Schießen und anderem
Kampfgetöse.
22*
Gougle
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Colla,
im Mai 8 Wochen. Erlaube mir Ihnen dies beizufügen, und hoffe, daß ich
auch Reise machen kann. Die Reise wfrd 2. Klasse gemacht, am besten
tagüber, und des Nachts wird geschlafen. Mein Befinden ist ganz gut,*
nur des Nachts mehr Ruhe, dies Schießen im Schlafsaal muß aufhören.
Ein schönes Gedicht werde ich Paula machen. Wir binden Dir den jungem
Kranz mit Veilchen blauer Seite, der liebe gute Ehegatte Adolf seine
Uniform anzieht usw. Der Brief ist unterzeichnet.
Adolf B.
Königlicher Gartendirektor
Oberstleutnant der Kürassiere Deutz Nr. 4 Graf Haeseler.
Der Barmer Offizier verein, Garde und Landwehrverband 2. Aufgebot,
war mit im Kriege.
Hurra, hurra, hurra.
13. Zuchthaus, 6. Uniform abgenommen.
Eine weitere Verarbeitung seiner Wahnvorstellungen, wozu es einige
Male zu kommen schien, hat begreiflicherweise nicht stattgefunden, sie
verharren in der einmal angenommenen Form und im ursprünglichen
Umfange. Es liegt auf der Hand, daß hier Erinnerungstäuschungen in der
Richtung der Bedürfnisse seiner Selbstüberschätzung eine Rolle spielen.
Ein leicht schwachsinniger Kranker, K. (Fall 31) (einfacher Schwach¬
sinn mit etwas manierierten Bewegungen, Andeutungen von Negativis¬
mus und andauernd leicht gedrückter Stimmung), der sich seit Jahren mit
theologischen und landwirtschaftlichen Fragen beschäftigt, ohne damit
vom Flecke zu kommen, hat vom Kriege, obwohl er ehemaliger Offizier
ist, sein Bruder und sein Schwager gefallen sind, tiefen Eindruck nicht
empfangen. Er vermerkt alle Kriegsereignisse in Gesprächen gleichsam
geschäftsmäßig, in Eifer und unter Umständen in Hitze gerät er aber nur
bei Erörterungen seiner landwirtschaftlichen Verbesserungspläne, die aber
keine eigenen Gedanken sind, sondern nur Werbearbeit für fremde Vor¬
schläge in Fachschriften. Entsprechend diesem Hange zum Umgestalten
und Verbessern, der ihn auch zum Lesen von allerlei Sektirerschriften
führt, macht er mir auch oft Vorschläge zur besseren Behandlung der
Verwundeten, für die er nebenbei stets eine sehr offene Hand hatte. So
schlug er einmal mit Eifer vor, die Wunden mit Schachtelhalm zu ver¬
binden nach dem Lesen eines Aufsatzes über den Einfluß der Kieselsäure
auf die Wundheilung und setzte sich für ein Kieselsäure haltendes Mineral¬
wasser lebhaft ein. Auch an das Ernährungsamt trat er mit seinen Ver¬
besserungsvorschlägen heran.
Von 2 Fällen von halluzinatorischem Schwachsinn war der eine, A.
(Fall 32), überhaupt nicht von der Unterhaltung mit seinen Stimmen
abzulenken, der andere, S. (Fall 33), wich allen Fragen aus und neigte,
wie auch sonst dabei, zu Erregungen.
Ein läppisch Verblödeter, B. (Fall 34), ohne jedes Krankheitsgefühl,
der immer lebhaft auf seine Entlassung drängt, mischte zwar in sein fast
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 317
ununterbrochenes Geplauder oft den Krieg, aber nur, um die Folgerung
daraus zu ziehen, daß er deswegen nach Hause müsse. Jedes Verständnis
für die Bedeutung der Ereignisse fehlte ihm.
• Ziemliche Überraschung erlebte ich bei den paranoiden Formen,
wobei ich bemerken will, daß mir eine Zuteilung der einzelnen Fälle zu
den von Kraepelin aufgestellten Gruppen der Paraphrenien und der De¬
mentia paranoides noch nicht überall zweifellos ist.
Ein livländischer Forstmann, v. W. (Fall 35) (Verfolgungtfvor-
stellungen, überall"elektrische und magnetische Beeinflussung, die andern
Kranken reden über ihn, von Riga her wird er telepathisch beeinflußt,
Geruchs- und Gehörstäuschungen, Urteilsschwäche), den ich zu Kraepelin s
Dementia praecox paranoides stelle, und der seit etwa 3 Jahren krank
■war, hat vom Ausbruch des Krieges Vermerk genommen, ohne irgend¬
welche Folgerungen für seine Person und seine Heimat daraus zu ziehen,
und zwar auch jetzt noch, wo das Schicksal seiner Heimat entschieden
wird. Das ist bei ihm um so bemerkenswerter, als er früher gerade seinen
baltisch-deutschen Standpunkt immer hervorkehrte. Dabei ist im übrigen
bei ihm nur festzustellen, daß er jetzt mehr von Sinnestäuschungen geplagt
wird. Auch der Verlauf des Krieges fesselt ihn in keiner Weise. Meine
Mitteilung über die Eroberung von Riga nahm er sozusagen rein ge¬
schäftlich entgegen. Auf die Frage, ob er glaube, daß Riga deutsch bliebe,
antwortet er: Das ist wohl schwer zu sagen. [Ob er es wünsche ?] Würden
Sie mich dann nach Hause schicken? [Ja, wenn Ihre Schwestern Sie zu
Hause haben wollen, aber Sie müßten dann doch in eine andere Anstalt
dort.] So? Meinen Sie? Ja, sehen Sie, Herr Doktor, das ist alles so
sonderbar hier, die ewige elektrische Beeinflussung usw. Als ich ihn
kürzlich auf die Umwälzung in Rußland hinwies, sagte er bezeichnender¬
weise: „Ja? Na, das war damals (1906) auch schon so.“ Mit dieser Er¬
innerung war für ihn das Stück Weltgeschichte erledigt.
Besonders auffallend war ein anderer Russe von deutschem Adel,
v. R. (Fall 36), der der Paraphrenia systematica zuzurechnen ist. Er wird
überall beobachtet und verfolgt, es klopft in der Heizung, das sind Zeichen
seiner Feinde, die Vögel zwitschern verdächtig, im Eissen sind „Sub¬
stanzen“, man haut Holz im Garten, um ihn zu stören und zu schikanieren,
bei Tische hält ein Kranker den Löffel so merkwürdig, nachts „schwirrt es
durchs Zimmer“. Daneben bestanden Größenvorstellungen: er ist der
■erste Minister Rußlands, der vertrauteste Ratgeber des Zaren Nikolaus,
muß die Kirchen reformieren, verfügt über besondere magnetische Kräfte,
kann ein Stück Papier durch bloßes Aufdrücken an die Wand fest an¬
heften und andere Zaubereien, beherrscht die ganze Mathematik. Auf
Betreiben des Deutschen Kaisers sei er hier eingesperrt, er droht mit
Kriegserklärung. Telegraphiert an den König Hakon, er beanspruche den
Titel des „andern Königs von Norwegen“. Der Kranke ist äußerlich ge¬
ordnet, sehr selbstbewußt, meist ruhig und stolz ergeben in das Schicksal,
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Colla,
daß er so verkannt wird und sich solche Quälereien gefallen lassen muß.
Er beschäftigt sich eifrig mit Mathematik und Sprachen, aber ohne Fort¬
schritte zu machen, und ging früher viel allein spazieren. Mit dem Kriege
trat aber eine völlige Wandlung bei ihm ein. Er wurde noch wortkarger
und ging schließlich gar nicht mehr aus. Ich hatte dann am 17. Oktober
1914 eine Unterhaltung mit ihm, die ich wie folgt festgehalten habe.
[Wissen Sie eigentlich, daß wir Krieg haben, Herr Baron?] Ja, das
weiß ich, aber das geht mich nichts an. Sorgen Sie nur dafür, daß man
mich nicht immer stört. [Nun aber, wie denken Sie denn als Russe über
deh Krieg?] (Mit überlegenem Lächeln): Sie irren, ich bin kein Russe,
ich bin ein Deutscher. [Ich meine, Sie hätten Beziehungen zum Kaiser
von Rußland?] Nein, Sie irren, das muß ich entschieden ablehnen. [Nun
was glauben Sie wohl, wie wird der Krieg verlaufen?] Ich sagte Ihnen
schon, das geht mich gar nichts an, und bitte verschonen Sie mich damit.
Dabei deutet er höflich nach der Tür.
Der weitere Verlauf hat sich nun so gestaltet, daß der Kranke von
seinen Größenvorstellungen gar nichts mehr geäußert hat, aber seine
vornehm stolze Zurückhaltung hat sich noch gesteigert. Seine Verfolgungs¬
vorstellungen haben mehr und mehr eine ganz phantastisch-hypochon¬
drische Form angenommen, wozu früher allerdings schon Ansätze sichtbar
waren. Kürzlich schrieb er an seine Schwester, man hätte ihm Gehirn
und Rückenmark herausgenommen, und er müsse schwer leiden. Mich
duldet er nicht mehr als Arzt, er sei in Behandlung von Professor Barde -
leben, der ihn alle zwei Tage besuche. Hier spielen Erinnerungstäuschun¬
gen mit hinein. .
Es liegt auf der Hand, diesen plötzlichen Wechsel seiner Wahnbildun¬
gen zurückzuführen auf den Versuch, angebliche Tatsachen zu bemänteln,
die ihm seiner Ansicht nach gefährlich werden könnten. Es entspricht
das auch sonst seiner „Diplomatie“, mit der er sich aus peinlichen Lagen
zu ziehen pflegte, und dem sehr geringen Maße an Mut, über das er verfügt.
Ob das Überwuchern der hypochondrischen Vorstellungen psychologisch
mit dem Zurückdrängen des Größenwahnes und der Furcht vor den Deut¬
schen in Zusammenhang zu bringen ist, möchte ich dahingestellt sein
lassen. Es spielen dabei zweifellos körperliche Mißempfmdüngen eine
Rolle, die schon früher vorhanden waren, aber durch die Ernährungs-
schwierigkeiten und den Wegfall ausgiebiger Körperbewegung stark ver¬
mehrt worden sein mögen.
Ein ehemaliger Pastor, H. (Fall 37), den ich der Paraphrenia phan-
tastica zurechne (hat ein Herz von Quecksilber, fünf Reserveväter, ist
König von England, in seinem Bauche ist eine „Soldatenkanone“, der
Pfleger Z. rutsche in seinem Leibe auf und ab, dieser Z. sei fünffach in der
Welt vorhanden, er äße täglich Menschenfleisch usw.), nimmt gar keinen
Vermerk vom Kriege, obwohl er geistig regsam und völlig besonnen und klar
ist. Er beschäftigt sich andauernd mit Übersetzungen aus dem Griechischen
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke- 319
und Hebräischen. ^Bezeichnend ist folgende Unterhaltung mit ihm. Am
21. August 1914: [Nun, Herr Pastor, was sagen Sie denn dazu, daß wir
einen so furchtbaren Krieg haben?] Ja (schlägt sich auf den Bauch), das
kann mir auch nicht helfen. Schaffen Sie mir lieber das Zeug aus dem
Leibe. (Er spricht alles ganz ohne sichtbare Gemütserregung, wie wenn
er irgendeine gleichgültige Sache erledigt.) [Na, wer hat denn den Krieg
erklärt?] Wer? Na, doch die, die dazu da sind, aber was geht mich das
an? [Glauben Sie, daß wir gewinnen?] Das wissen die Götter. Schaffen
Sie mir nur Gesundheit und das Metallwasser aus dem Leibe. [Wie wär’s,
Herr Pastor, hätten Sie nicht auchLust, auch mit hinauszuziehen ?] Warum
soll ich mit hinausziehen. Es sind ja soviel Soldaten da. Geben Sie mir
lieber Heilkraft.
Ist bei diesem Kranken alles Denken von seinen ungeheuerlichen
Wahnbildungen in Anspruch genommen und daher seine Stellung zum
Kriege leicht erklärlich, so überraschte ein anderer Kranker, dessen Krank¬
heit noch keine sichere Eingruppierung gestattet, um so mehr. Es handelt
sich um einen 38 Jahre alten ehemaligen Artilleriehauptmann v. W.
(Fall 38), der im Jahre 1911 an schleichenden Verfolgungsvorstellungen
im Anschluß an eine Erbschaftsregelung erkrankte, bei der er sich über¬
vorteilt glaubte. Von Hause aus ist er ein geistig etwas schwerfälliger
Mensch gewesen. Er zog sich von allen seinen Bekannten zurück, witterte
überall Feinde, wurde abgestumpft für alle Beschäftigung und Unter¬
haltung. Dann traten Sinnestäuschungen auf, meist im Gehör, aber auch
im Körpergefühl, Geruch und Geschmack. Allmählich entwickelte er Vor¬
stellungen von einer ungeheuren Verschwörung gegen sich, die bis zum
Kaiser reicht. Er ist außerordentlich erregbar und zeitweise sehr gefähr¬
lich. Beständig hört er sich in gemeinster Weise beschimpft; auch er ergeht
sich, selbst wenn er ganz ruhig ist, nur in obszönen Schimpfwörtern. Sein
Gedächtnis ist gut, doch sind Erinnerungstäuschungen vorhanden. Er
beschäftigt sich gar nicht, liest nur die Zeitung und hier und da ein Buch,
ist völlig besonnen, zeitlich und örtlich klar, verkennt nur ab^und zu
Personen und zeigt noch keine Schwächung seiner sonstigen geistigen
Fähigkeiten. Sein Gemütsleben ist verroht; beim Tode seiner Mutter
fragte er nur: „Na, was hat sie denn hinterlassen ?“ Als ich ihn an 21. Juli
1915 kurz nach seiner Aufnahme fragte, wie er denn über den Krieg denke,
sah er mich erstaunt an und fragte: „Was für einen Krieg? [Nun, wissen
Sie denn nicht, daß wir einen furchtbaren Krieg mit der halbenWelt haben ?]
Ach machen Sie doch keinen Unsinh, Sie wollen mich wohl veralbern“.
Auf weitere Fragen wurde er sehr gereizt, so daß dieUnterhaltung abge¬
brochen werden mußte.
Einige Monate später, als er eine besonders ruhige Zeit hatte, knüpfte
ich wieder an das Gespräch an. Er fuhr mich an: Ach Quatsch, lassen
Sie mich doch mit dem Unsinn in Ruhe. [Aber lesen Sie denn nicht in der
Zeitung darüber, Sie kriegen sie doch jeden Tag, und hören Sie nicht,
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wie die andern davon erzählen?] Quatsch, was in der Zeitung steht,
glaube ich schon gar nicht.
Er steht auch heute noch auf dem Standpunkte, daß das ganze Ge¬
schreibe und Getue vom Kriege Unsinn sei. Einmal meinte er: „Sie werden
wohl Manöver abhalten.“ Es scheint mir, obwohl er sich darüber nicht
ausläßt, nach gelegentlichen Andeutungen, als halte er die Zeitungsnach¬
richten und die Gespräche über den Krieg für eine großartig abgekartete
Lüge seiner Verfolger, hinter der irgend etwas für ihn Gefährliches stecke.
Es würde das ganz in die ungeheure Verschwörung gegen ihn passen.
Aber er ist, wie er öfters sagt, klüger als seine Feinde. Spöttisch lächelnd
meint er bei jeder Gelegenheit: „Na, denken Sie etwa, ich merkte das
nicht?“
Wieder anders liegt die Wirkung des Krieges auf einen weiteren
Kranken, Dr. W (Fall 39). Er leidet an Verfolgungs- und spärlichen ‘
Größenvorstellungen und hat vor seiner Aufnahme gegen die Vergiftungs¬
versuche seiner Feinde, die sogar die von ihm geschossenen Rebhühner
schon in der Luft vergiften konnten, ein organisches Silbersalz als Gegen¬
mittel genommen, und zwar innerhalb mehrere Jahre über 200g, so daß'
er schwarz wie ein Neger aussieht, worauf er sich übrigens viel zugute tut.
Vor einigen Jahren schoß er sich eine Kugel durch die Stirn, als er vor den
Verfolgungen keine Rettung mehr sah; die schwere Verwundung hat
keine Folgen hinterlassen. Der Kranke verfügt noch über gute Kennt¬
nisse, wird aber langsam schwächer und ist gegen alle Eindrücke ziemlich
gleichgültig; auf Befragen erzählt er wohl noch seinen ganzen Verfolgungs¬
roman, der ziemlich verworren ist, aber eine gemütliche oder psychomoto¬
rische Reaktion auf diesen ist nicht mehr vorhanden. Dagegen ist er immer
noch sehr auf eine gute Heirat aus und schreibt seit Jahren an eine Dame
die er zufällig einmal kennen gelernt hat, ganz schwachsinnige Liebes¬
briefe, die immer schließen: Nach wie vor klingt mein Ohr! Er zeigte
für den Krieg von allem Anfang an eine große Anteilnahme, aber nur am
Kriege sozusagen als einem summarischen Ereignis; die einzelnen Ge¬
schehnisse und der ganze Verlauf bekümmern ihn gar nicht. Schließlich
offenbarte er in einem Schreiben 'an den Kriegsminister, den er schon wer
weiß wie oft um eine Anstellung als Offizier gebeten hatte, den wahren
Grund seiner Kriegsbegeisterung: er wolle ein junges, echt deutsches Mäd¬
chen heiraten, aber leider gestatte ihm das seine finanzielle Lage nicht.
Deswegen bitte er den Minister, den Kaiser zu bewegen, ihn zum Offizier
zu ernennen, dann würde er in der Lage sein, heiraten zu können.
Ich schließe nun hier zwei Fälle von Paranoia an. Es handelt sich
beide Male um alte, zum Stillstände gekommene Erkrankungen ohne
Rückwirkung auf Gemüt und Handeln nach außen. Der erste betrifft
einen Buchdrucker, K. (Fall 40), der ein Weltverbesserer ist und schon
einen ganzen Schrank von Manuskripten über die Lösung der sozialen
Frage geschrieben hat. Die ganze soziale Gesetzgebung geht eigentlich
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 321
auf ihn zurück, der Kaiser hätte sich nur seine Ideen angeeignet. Einst
wird das dankbare Volk die Anstalt stürmen und die zur Rechenschaft
ziehen, die ihn eingesperrt haben. Die Kriegsereignisse verfolgt er mit
großer Teilnahme an der Hand der Karten, und in seiner Beurteilung der
Lage sowie in seinem Verständnis der Zusammenhänge unterscheidet er
sich nicht vom Gesunden. Auf seine Wahnbildung und seine „wissen
schaftlichen“ Arbeiten hat der Krieg aber gar keinen Einfluß ausgeübt,
abgesehen davon, daß er bei seinen Ausführungen gelegentlich so nebenbei
auf ihre Wichtigkeit auch für die Kriegszeit hinweist.
Weit mehr tritt der Krieg in Beziehung zu den Wahnvorstellungen
bei dem andern Paranoiker, einem 48jährigen verabschiedeten Artillerie¬
hauptmann W. (Fall 41), und zwar deswegen, weil viele Erscheinungen des
Krieges, namentlich die der letzten Zeit, ganz in der Richtung seiner
Wahnbildung liegen. Seine Lebensaufgabe ist nämlich der Kampf gegen
d : e Demokratisierung des Heeres, gegen die Unvernunft der obersten
Militärbehörden und der Offiziere, die die Gefahr nicht erkennen, und
natürlich gegen die Sozialdemokratie. Diese sieht daher in ihm einen
ganz gefährlichen Gegner und stellt ihm nach; selbst in Italien sah er in
Zeitungsbemerkungen und Maueranschlägen, daß sie ihm auf der Spur
war. Als ich einmal eine rötljche Kravatte trug, wurde er mißtrauisch
gegen mich. Im Oktober 1912 telegraphierte er an den Kaiser: „Heer
unzuverlässig, da Offizierkorps Verständnis für Volksseele verloren hat
und, völlig blind, nicht einsieht, daß und warum Unteroffiziere und Sol¬
daten Sozialdemokraten sind.“ Bei Ausbruch des Krieges w’ar er lebhaft
erregt, freute sich zwar über die Begeisterung, traute aber der Sache nicht.
Mit der ganzen Politik war er stets sehr unzufrieden, was, wie er richtig
sagt, noch kein Zeichen von Verrücktheit sei. Nun gewann der Krieg
mit der Zeit doch etwas Einfluß auf sein Handeln: er verlangte des öfteren,
entlassen zu werden oder sonst eine maßgebende Stelle einzunehmen.
Im April 1917 telegraphierte er an General Gröner: „Friede durch Re¬
volution Wahnidee, tatsächlich Volksselbstmord. Einzelner gegen Massen¬
psychose machtlos.“ Als das Telegramm zurückgewiesen wurde, schrieb
er darunter: Dixi et salvavi animam meam. Das ist außerordentlich be¬
zeichnend für die Erschöpfung, die seine Wahngebilde in bezug auf sein
Handeln und seine Gemütserregbarkeit gefunden haben. Er erlahmt
auch sonst in allen seinen Plänen bei dem geringsten Widerstande und
läßt sich z. B. von seinem neuerdings geäußerten Plane, sich im Hilfs¬
dienste zu betätigen, immer schnell durch meine Bedenken abbringen.
Ich unterhalte mich immer gern mit dem vielseitig gebildeten und belese¬
nen Kranken, und es ist manchmal rührend, wie bei ihm immer die Sorge
um Deutschlands Zukunft durchbricht.
Anschließen erwähne ich hier noch den Fall eines in Neapel geborenen
Deutschen, eines jungen Kaufmannes St. (Fall 42), dessen Gruppierung
noch unsicher ist. Er leidet seit einigen Jahren an einem langsam zu-
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322
C o11a,
nehmenden Beachtungswahne bei gänzlich ungestörtem Intellekt und ist
schon seit Jahren mit der Welt etwas in Widerspruch. Ich nahm bei ihm
eine beginnende Paranoia an, aber er zeigt mehr und mehr so auffallende
Willensstörungen, daß ich an die Entwicklung einer Dementia paranoides
denke. Der Kranke ist nur mit sich beschäftigt und schließt sich vom
Verkehr mit andern Kranken möglichst ab. Für den Krieg^Mt er von
vornherein gar nichts übrig gehabt ; aber seit die Verpflegung schlechter
geworden ist, schimpft er auf Deutschland und ergeht sich in Lobes¬
erhebungen auf Italien. Daneben räsoniert er über Krieg im allgemeinen
und dert* jetzigen im besonderen mit fadenscheiniger Rabulistik und an¬
spruchsvollen Forderungen („Warum macht man denn Krieg, wenn ich
dabei hungern soll?“).
Ich komme nun zur Gruppe der Manisch-Depressiven. Geradezu
eine klinische Mustervorstellung bot ein 54jähriger Maniker mit alko¬
holischem Einschlag, ein Likörfabrikant P. (Fall 43). Er saß singend auf
seinem Bette, als ich eintrat, ihn begrüßte und fragte, ob er wisse, daß
der Krieg ausgebrochen sei. Er sprang auf und schrie: „Das ist mir ganz
egal, aber wir gewinnen 1“ Dabei schlug er sich mit der Hand auf die
Brust, daß es krachte. Auf meine weitere Frage, ob er Lust habe, mit
hinauszuziehen, antwortete er; „Ach was! L. S. m. i. A.“ (s. Götz von
Berlichingen). Darauf sang er die Wacht am Rhein und marschierte nach
ihrem Takte durch den Saal, was dann aber schnell in der Flucht seiner
Gedanken unterging. Derselbe Kranke hatte nach Ablauf der Manie
einen Monate langen leichten Depressionszustand, den er zu Hause durch¬
machte. Darin beherrscht ihn die Kriegsfrage, namentlich bezeichnender¬
weise die Ernährungsfrage, völlig, und er sah unsere Lage stets im aller¬
trübsten Lichte. Früher waren die Depressionen leichter und ohne be¬
stimmtes Objekt verlaufen. Der früher übermäßig genährte Kranke kam
durch die Kriegsernährung tatsächlich auch sehr herunter und starb vor
kurzem gleich nach der Einlieferung in die Anstalt an einem weiteren
manischen Anfalle infolge von Myokarditis.
Ein seit 1909 in der Anstalt befindlicher Hypomaniker, Sch. (Fall 44),
mit nur kurzen freien Zwischenräumen und bereits erkennbarem Schwach¬
sinn steht den Kriegsereignissen gegenüber wie ein Kind, das, mit seinen
Spielen beschäftigt, nur zeitweise aufhorcht, wenn von etwas Unge¬
wohntem die Rede ist, und dann danach fragt. Seine tägliche Zigarre ist
ihm viel mehr wert als der ganze Krieg. Manchmal fragt er wohl plötzlich,
obwohl er regelmäßig die Zeitung liest: „Ja, wie ist denn das nun eigent¬
lich mit dem Kriege ?“ Als ich ihn Ende August 1914 fragte, ob er wisse,
daß Krieg sei, befand er sich seit Juni in der Erregung. Ich habe folgende
Unterhaltung vermerkt: Nanu, Doktor, machen Sie man keenen Unsinn 1
[Wissen Sie wohl, wer den Krieg erklärt hat?] Na, wer soll den erklärt
haben, die Franzosen doch, die Rothosen. [Wie denken Sie wohl, daß
der Krieg verlaufen wird?] Na, die werden ihre Keile schon kriegen. (Er
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 323
lacht laut. Dann:) Sagen Sie mal, Doktor, wie ist denn nu heute mit
Aufstehen und einer Zigarre? [Na, Herr S., wie wär’s denn, wenn wir
beide mit ins Feld zögen?] Ick mit meinem Been? (Verkürzung durch
Bruch). Na, gewiß doch, Doktor, det machen wir och noch. Eine spätere
Frage, ob er noch Lust habe, mit hinauszugehen, fertigte er lachend ab:
„Ach, Sie sind ja verrückt.“ Wenn geflaggt wurde, fragte er: „War
denn schon wieder en Sieg? Na, die können’t.“
Aber das sind alles nur Augenblickserregungen seiner Anteilnahme.
Auffallend war bei ihm einmal eine kurze, ängstliche Erregung, als aus
der Senne von militärischen Übungen Geschützdonner herüberschallte.
Sichtlich erschreckt fragte er mich: „Sagen Sie, lieber Herr Sanitätsrat,
die kommen doch hoffentlich mit ihrem Krach nicht noch nach Bethel?“
„Gott bewahre,“ Wuhigte ich ihn. „Na, ich dachte schon, die Kerls, die
Franzosen kämen; aber nun können wir heute wohl aufstehen und ’ne
Zigarre rauchen?“ .Kostbar ist seine plötzliche Höflichkeit zu mir, das
Gemisch von ängstlicher Erwartung und Galgenhumor, und äußerst be¬
zeichnend die schnelle Beruhigung und die Rückkehr in seine Alltags
wünsche.
Ein 57jähriger Kaufmann B. (Fall 45), der neben Depressionen Zu¬
stände von gehemmter Manie zeigt, denen meist eine kurze Gereiztheit
voraufgeht, zeigt weder im depressiven noch im manischen Zustande
irgendwelche Teilnahme an den Kriegsereignissen. Die Nachricht von dem
Heldentode seines Sohnes traf ihn im Zustande der Depression, die vor¬
wiegend eine starke geistige Hemmung erkennen läßt, löste aber keinerlei
gemütliche Rückwirkung aus. Ich habe eine kurze Unterhaltung mit ihm
in seinem manischen Zustande am 17. August 1914 vermerkt. Er wälzte
sich langsam im Bette umher, das Taschentuch als Zipfelmütze auf dem
Kopfe und eine Wolldecke um die Schultern geschlagen.
[Nun, Herr B., was sagen Sie denn zum Kriege?] Nun, was sagen
Sie denn zum Kriege? C’est la guerre. (Lächelt.) [Wollen Sie in den Krieg?]
Krieg und Siegl N’est-ce-pas? Est-ce que vous ßtes une cruche (oder
crique?), monsieur? Er drehte sich gelassen um und wendete mir den
Rücken zu.
Ein 76jähriger ehemaliger Bergwerksdirektor M. (Fall 46), der seit
seinem 45. Jahre an hypomanischen Anfällen leidet, aber trotz seines
Alters und seines langjährigen Leidens wenig Zeichen von Schwachsinn
bietet, wurde im August 1916 wieder in einem manischen Anfalle bei uns
aufgenommen. Er erschöpfte sich in seiner Erregung in Briefen an den
Reichskanzler, Helfferich und alle möglichen Behörden, machte an sie
Eingaben und ließ alle Kranken unterschreiben. An den Kriegsereignissen
an sich nahm er natürlich großen Anteil, wirft aber alles durcheinander.
Als ich ihn einmal darauf hinwies, daß er ja ganz ohne genaue Kenntnis
der Jeweiligen Sachlage seine Vorschläge für die Friedensbedingungen dem
Staatssekretär vortrage, meinte er, um die Kriegslage kümmere er sich
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Golla,
nicht, das wäre Hindenburg seine Sache. Diesen beglückwünschte er zu
jedem Erfolge, gibt ihm auch ab und zu Ratschläge, hinkte aber dabei
meist stark nach. Er forderte von England 60, Frankreich 50, Rußland 40,
Italien 20 Milliarden, Belgisch- und Französisch-Flandern, die russischen
Ostseeprovinzen mit Finnland, die Walachei und außer allen geraubten
Kolonien Marokko und, was er Helfferich besonders ans Herz legt, wenn
möglich das Gangestal. In ruhigeren Zeiten begnügt er sich mit weniger,
läßt sich dann auch überzeugen, daß unsere Forderungen von unseren
Erfolgen abhängen werden.
Ein ehemaliger Referendar R. (Fall 47), der etwa alle Jahre 2- bis
3mal 8 bis 10 Wochen lang in mittelschwerer Weise manisch erkrankt,
war bei Beginn des Krieges in freier Zwischenzeit, in der er immer
gleichmäßiger, ruh iger Stimmung und äußerlich geordnet ist. Eine leichte
Hemmung ist bei ihm jedoch auch dann nicht zu verkennen. Dem ent¬
spricht es, daß er sich um den Krieg wenig kümmert, auf Fragen darüber
wohl eine Teilnahme an den Ereignissen erkennen läßt, aber in seinen
Antworten zeigt, daß er den Zusammenhang der Ereignisse nicht völlig
erfaßt hat. Daß hier nur eine krankhafte Hemmung, nicht Mangel an
Urteilsfähigkeit und Auffassungsgabe vorliegt, zeigen die kurzen Zeiten
des Überganges zur Erregung, wo er durchaus den Eindruck eines ge¬
scheiten, sehr lebhaften Menschen macht. In seinen manischen Zuständen
spielt der Krieg bei seinen Reden nie eine Rolle. Eingeworfene Hinweise
werden wie andere flüchtig mit verarbeitet und verschwinden in der Flucht
der Gedanken.
Auch ein jetzt 20jähriger Kaufmannslehrling, P. (Fall 48), der einige
Monate vor dem Kriege aufgenommen war, läßt weder in seinen schweren
Erregungszuständen irgendwelche Verarbeitung der Eindrücke der Kriegs¬
ereignisse erkennen, noch zeigt er in den Zwischenzeiten leichter Depres¬
sion, wo er auf einer Geschäftsstelle arbeitet, irgendwelche sichtbare
Anteilnahme am Kriege. Er ist das fast photographische Abbild des vorigen
Falles bei Unterhaltungen darüber.
Noch bemerkenswerter war die Teilnahmlosigkeit bei einem Künst¬
ler, dessen Familie über Deutschland, Rußland, England und Indien zer¬
streut ist, K. (Fall 49). Sein Zustand wechselt zwischen oft lange andauern¬
der Tobsucht und Zuständen, die am besten dem Bilde der erregten De¬
pression entsprechen mit endlosen Klagen, in denen namentlich das
Heimweh und die Sehnsucht nach Freiheit eine Rolle spielen. Dazwischen
schieben sich selten Zustände von manischem Stupor, in denen der Kranke
zu äußerst schweren Gemütsentladungen neigt. Die Mitteilung, daß der
Krieg ausgebrochen sei, erhielt er von mir, als er bei abklingender Tobsucht
im Dauerbade saß. Er war erst einen Augenblick ruhig und lächelte
dann machte er einen solchenSturm imWasser, daß ich von oben bis unten
bespritzt wurde, was ihm viel Spaß machte. Als er nach einigen Tagen
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 325
leicht deprimiert war, sprach ich mit ihm über die Nachricht, daß der
Kreuzer, der den Namen seiner Vaterstadt führt, sich ausgezeichnet habe.
In seinem weinerlich kläglichen Tone sagte er: „Das hab ich mir gleich
gedachj;, daß der eine große Rolle spielen würde.“ Er versank dann in
seine gewöhnlichen Klagen. Bis zu seiner Entlassung in eine andere Anstalt
hat er irgendwelche Teilnahme an den Weltereignissen nicht gezeigt.
Auch die Melancholiker waren begreiflicherweise teilnahmlos, ver¬
arbeiteten das Gehörte und Geschaute nicht und lehnten meist ein Ein¬
gehen auf dahin zielende Fragen ab. Auffallend war das bei einem 50jähri-
gen Kaufmann K. (Fall 50), der später durch Selbstmord endete; denn er
zog sonst die fernstliegenden Sachen in den Bereich seiner Selbstbeschuldi¬
gungen. Aber das gewaltige Ereignis des Krieges mit allen seinen kleinen
Wirkungen in der Anstalt und der Heimat des Kranken glitt einfach an
seiner inneren Hemmung ab, die ihm offenbar nur erlaubte, seine trüben
Vorstellungen aus altem Erfahrungsschätze zu nähren.
Einzig ein zirkulärer Kranker H. (Fall 51), mit leichten hypomani¬
schen und depressiven Zuständen, der später nach der Entlassung in der
Depression seine beiden Kinder und sich erschoß, zeigte immer sehr leb¬
hafte Teilnahme an allen Zeitereignissen, die in den depressiven Ab¬
schnitten entsprechende Gemütsbetonung hatte und in den hypomanischen
immer überschwänglichen Ausdruck fand. Er war früher in den Zeiten
der Erregung viel gereist und hatte manches von der Welt gesehen, und
sein Seelenleben war daher sozusagen auf Weltgeschehen etwas einge¬
stellt, jedenfalls bei weitem mehr als das der großen Mehrzahl der
andern Pfleglinge.
Tiefgehenden Einfluß hatte der Krieg auf einen ehemaligen Geist¬
lichen M. (Fall 52), der alle paar Jahre wegen starker Erregungszustände
in die Anstalt kommt. Meist zeigen sich bei ihm nach kurzen Vorboten,
die in allgemeiner Unruhe, Gesprächigkeit und Vielgeschäftigkeit bestehen,
sofort Wahnbildungen. Immer sind religiöse Größenvorstellungen vor¬
handen, zeitweise tritt dazu der Wahn, dem Kaiser drohe eine Gefahr,
und der Kranke müsse ihn retten; Sinnestäuschungen kommen hier und
da vor. Einige Male ging die Erregung bis zur Tobsucht. Der Kranke
wohnt in seinen freien Zeiten im Anstaltsgebiete in eigener Wohnung;
er ist außerordentlich fleißig, wenn auch in unfruchtbarer Weise: er
übersetzt Schiller und andere Dichter ins Lateinische! Bei Aus¬
bruch des Krieges warf er sich ganz auf die vaterländische Dich¬
tung, die er in großem Umfange, wenn auch ohne besonderen Geschmack,
doch mit technischem Geschicke übersetzte. Auch verfaßt er eine Ge¬
schichte des Siebenjährigen Krieges in Versen. Im November 1916 hatte
er eine Unterhaltung mit einem Bekannten über die Kriegslage. Bald
darauf zeigten sich die Spuren stärkerer Erregung. Einige Tage später
zeigte er den Bekannten bei der Polizei an wegen eines gegen den Kaiser
geplanten Anschlags. Wir nahmen ihn daher in die Anstalt, wo er bis
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326
Colla,
Februar 1917 in leichter Erregung verblieb, übrigens seine Wahnvor¬
stellung bald berichtigte.
Zum Schlüsse erwähne ich noch einen 30jährigen, periodisch Mani¬
schen, K. (Fall 53), der schon 16 Jahre in Bethel lebt. Er kam als „Epi¬
leptiker“ her, seine Krämpfe hörten aber nach einigen Jahren auf, und
epileptische Verblödung trat nicht ein. Dagegen bestand Imbezillität
mäßigen Grades, und es stellten sich seit dem 18. Lebensjahre zeitweise
Erregungen ein, die bis zu 13 Monaten dauerten und manchmal bis zu
hochgradiger Tobsucht gingen. In den Zwischenzeiten war der Kranke,
der kürzlich an Pleuritis starb, leicht gedrückt, sehr fleißig und von kind¬
licher Zutraulichkeit. Als der Krieg ausbrach, befand er sich in diesem
Zwischenzustand. Er wurde von den Ereignissen tief ergriffen. Da er
Botengänge besorgte, war er häufig in der Lage, die neuesten Nachrichten
zu überbringen, die meist allerdings etwas ungenau waren; namentlich in
der Zahl der Gefangenen und der Beute war er weitherzig. Als ich ihn
einmal fragte, ob er wohl Lust hätte, mit hinauszuziehen, sagte er in seiner
wehmütigen Art: „Wenn ich nur könnte!“ In den manischen Zeiten war
alles wie weggewischt. Weder trat in seiner Gedankenflucht jemals der
Krieg hervor, noch verarbeitete er Äußerungen darüber von mir anders
als höchstens rein verbal. So z. B. einmal, als er schwatzend und schimpfend
im Bette saß (17. Mai 1917): „Den langen Türken 1 ) will ich nicht
haben! Bäh! Abdul Hazis, Hatschiß heißt er, sagt der Kasper. Der
Kaspar ißt die Suppe nicht. Wächtler hat mir mein Brot weggenommen.
Doktor, ich sag’s Ihnen.“ (Droht mit dem Finger.) [Hans, wissen Sie schon
das Neueste vom Kriege?] „Krieg? Bäh! (Zeigt mir die Zunge.) Krieg
ich bald zu essen? Doktor, lassen Sie mich in Ruhe. (Kriecht unter die
Decke und schaut vorsichtig an der Seite heraus.) Nun gehen Sie, Doktor.
P ötzlich aufspringend): Den Wächter sollen Sie einsperren“ usw.
Wenn wir die dargestellten- Fälle in ihrer Gesamtheit über¬
blicken, so könnte es wundernehmen, daß sich der Krieg nicht
mehr als es der Fallest, in den Krankheitsäußerungen wider¬
spiegelt. Es ist das ja eigentlich nur bei dem Hebephreniker R.
(Fall 31), bei dem alten Maniker M. (Fall 46) und den beiden
Paraphrenikem (Fall 36 und v 38) der Fall. Die kurze Kenn¬
zeichnung der Krankheitsbilder gibt jedoch, wie ich meine, über¬
all eine leichte Erklärung. Es erübrigt sich, darauf näher einzu-
gehen. Nur einige Bemerkunge möchte ich noch anfügen.
D$r Paranoiker W. (Fall 41) zieht wohl die Nutzanwendung
seiner Wahnvorstellungen für den Krieg, und sein Handeln ist
l ) Ein türkischer Theologe namens Abdul Azis, der den Irrenpfleger¬
dienst hier studierte.
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Beobachtungen über den Eindruck des Krieges auf Geisteskranke. 327
durch die Verhältnisse des Krieges mitbestimmt, aber doch nur,
weil die Ereignisse des Krieges seinen Wahnbildungen äußerst
entgegenkommen, und sein Krankheitsbild erhält dadurch in keiner
Weise eine neue Seite. Auch ist sein Handeln als Ausfluß seiner
krankhaften Vorstellungen gegen früher gar nicht verändert,
sondern nur den Verhältnissen angepaßt: telegraphierte er früher
z. B. dem Kaiser, so wendet er sich jetzt an den Leiter des
Kriegswirtschaftsamtes in völlig^logisch richtiger Auffassung, daß
dieser der geeignete Mann sei in seinen sozialdemokratischen Nöten.
Es wäre ganz lehrreich, feststellen zu können, wie die Ver¬
hältnisse sich bei frischen Paranoikern gestalten, ob hier etwa
ein Ereignis wie der Krieg bei noch produktiver Wahnbildung
dieser Richtung und Färbung gibt. Nach den Erfahrungen bei
den Paranoiden v. R. (Fall 36), v. W. (Fall 38) sollte man das
erwarten, v. R. (Fall 35) leugnet sein ganzes bisheriges Wahn¬
gebäude hinweg, weil er den Krieg offenbar mit hineinziojit. Es
ist freilich auch hier eigentlich keine Neubildung, sondern nur
ein Aufgehen des Kriegserlebens in dem dazu äußerst gut vor¬
bereiteten Wahne, aber doch ein wirkliches Verarbeiten des Er¬
eignisses. v. W. (Fall 38) verarbeitet es offenbar auch, wenn
auch nach außen hin in negativer Weise. Dagegen tritt bei Dr.
W. (Fall 39) der Krieg nur rein äußerlich mit der Wahnbildung
in Verbindung, indem er Gelegenheit bietet, alten in den Wahn¬
vorstellungen wurzelnden Wünschen auf einem neuen Wege Er¬
füllung zu suchen.
Bei Vergleichung der beiden Paranoiker mit den Paranoiden
(Fall 36 und 38) drängt sich im übrigen mir doch der Gedanke
auf, daß hier grundsätzliche nosologische Unterschiede vorliegen.
Der Paranoiker, der aus einer besonderen Veranlagung heraus
sozusagen „am Kampfe mit dem Leben“ leidet und dadurch an
Wahnvorstellungen erkrankt, steht anders einem Zeitereignis gegen¬
über als der Paranoide, der aus endogenen Ursachen an Wahn¬
bildungen leidet und durch seine Krankheitsäußerungen mit der
Welt in Kampf gerät. Jener wird sich objektiver verhalten, so¬
weit nicht die Ereignisse unmittelbar an sein Wahnbild rühren,
und tritt ihnen mit ganz anderer Urteilskraft gegenüber als der
Paranoide.
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328 -P«iw
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Original frorn
UNIVERSITV OF MICHIGAN
Beitrag zu den „Kriegspsychosen“ »!or Zivil¬
bevölkerung und zur Psychologie te lijsl eri-
scheu Dämmerzustandes <).
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Oberarst dev L.- I.- A. Lanasbw« ä. W>... i'. Z. ui) Ft!u -
Die B&ihzi-hymg, «l»S tuu* .d$f '■ Vermehrung • d‘?F
Psychosen iß ’dter ZivilbpY^i^c'Jtm^ hrjbgeo würde, isi iÄ ab rtb-
gettm edtsd^ttetc wie dßreh^ Umfrage an Anstalten und r.iVkl rei.elu-
eutspreelieade yeröffe«tj.! 0 hixngen bewiesen ist. •JmimuUm ktijgt
juaa nicht in Abrede«teilen, daß Ereignisse;und speriblle. Erleb¬
nisse als anslösende Ursache ftir
den Aöffernelt einer akuten geistigen Stönmg atirgctfeten sind,
Was dabei das weibliche Geschlecht betrifft, so. si»uJ um
meiner Tätigkeit .-an der Landes-Irrenanstalt Landshr . ft -v .:.
den ergten Kri^sraonatea mehrere Fälle bekannt, für welche das
zpirUfr, f ^ bahd^lte sie}» dabed stets tun Fälle mrduimisch-
depres.sivetö Irresein nde$ von Bysterie rim weitesten ß \u>,
dargeboten hafte» öder, ahnt Möd^ten:;^..^h.wer psythtoy/itinselie
Personen ätumseh^n ;.•' ' .'■
Zu der. ersten Qruppd gehörten mehrere Frauen vim ost-
preußischen Flucht vor den eindjirigenclyö
Russen teils in ängeiltehe Eitt^nng, teils in tiefe DepJü&idtr'V'iJi--'
fallen waren, bei oder jtianiakhliHt’he
stände -.söWß • |a aufgetreten, und eie u nron z. X
deshalb schon in Anstalten gewesen,
: ) Aus *rcT L:iijdes-Irrcnanstait Laii<lr;lißr|!:a, W-, Direki> !' "...
rat Df. Mufih&i. jEingegao^e.a Februar tÄliäv
2«UMteH' pst .'Vöirtü***-- -LXXV. C,v2,‘i
■ .
.
Original frerti
JMtVERSITY OF MICH
330
Rein,
Unter der 2. Gruppe war besonders ein Fall, der mir wegen
seines Verlaufs und der ganzen Art seiner Erscheinungen als
interessant und der Veröffentlichung wert erscheint. Es handelte
sich um die Frau eines höheren Beamten, die bei der Nachricht
vom Tode ihres als Reserveoffizier im Felde stehenden Mannes in
einen Erregungszustand mit anschließendem Dämmerzustand ver¬
fallen war und in der Anstalt aus dem Dämmerzustand unter den
Augen des Arztes wieder erwachte.
Die 33 jährige Beamtenwitwe Herta K. wurde am 28. XI. 1914
in die Landesirrenanstalt Landsberg a. W. aufgenommen. Nach Angaben
der Angehörigen besteht keine erbliche Belastung, Pa*, soll aber stets
etwas ,,nervös“ gewesen sein; sie lebte in sehr glücklicher, kinderloser
Ehe seit 4 Jahren; die Ehegatten lebten eigentlich nur für einander,
musizierten viel zusammen und wmrden wegen ihrer übertriebenen An¬
hänglichkeit und Zärtlichkeit von den Verwandten oft geneckt.
Abgesehen von Bleichsucht in den Entwicklungsjahren hatte Pat.
keine Erkrankungen durchgemacht. Bei Kriegsausbruch ging der Ehe¬
mann der Pat. als Reserveoffizier ins Feld; sie war seitdem stets sehr still,
betete viel, las in der Bibel, musizierte gar nicht mehr. Mit einer Freundin,
deren Mann auch im Felde war, soll sie verabredet haben, sich mit Gas
zu vergiften, falls die Männer fielen. Als einmal mehrere Tage keine Nach¬
richt vom Manne kam, bekam Pat. „Herzkrämpfe“, die bei neuer guter
Nachricht vom Manne sofort wieder aufhörten.
Am 26.11. traf die Nachricht vom Tode des Mannes ein. Pat. schrie
zunächst lautauf, lachte dann schrill, lief ans Klavier und spielte „wie
rasend“ Walzer und Gassenhauer herunter, während sie früher mit dem
Manne nur ernstere Musik gespielt halte. Von da an war Pat. nicht mehr
zu beruhigen, sie schrie, lachte und weinte durcheinander, suchte überall
im Hause nach ihrem Manne, versuchte mehrmals Gashähne aufzudrehen;
betete dann laut, der liebe Gott solle dafür sorgen, daß sie von der Welt
fortkäme, sonst müsse sie sich das Leben nehmen. Nahrungsaufnahme
war sehr gering.
Bei Aufnahme zeigt Pat. ein ruheloses, ratloses Wespn; lächelt bald,
bald weint sie, fragt nach ihrem „Schatzi“, verlangt „Markenpapier, um
Schatzis Herz zusammenkleben zu können“. Zeitlich und örtlich nicht
orientiert, verkennt auch die sie begleitenden Verwandten zum Teil.
29. 11. Die körperliche Untersuchung ergibt bei der großen, kräftig
gebauten, ziemlich gut genährten Frau keine krankhaften Veränderungen
der inneren Organe. Es besteht eine leichte Pupillendifferenz, wohl ange¬
borene Anomalie; Ohrläppchen angewachsen. Von seiten des Nerven¬
systems außer leichter Dermographie, einer geringen Erhöhung der Sehnen¬
reflexe und mäßiger Ovarie keine Abweichungen. Genaue Sensibilitäts-
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Beitrag za den „Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung. 331
Prüfung ist wegen des Verhaltens der Pat. nicht möglich; anästhetische
Zonen bestehen jedenfalls nicht, anscheinend aber allgemeine Hypästhesie.
Pat. läßt sich bereitwillig untersuchen, ihre Bewegungen haben dabei etwas
Mechanisches, sind ziemlich langsam; bei der Sensibilitätsprüfung lacht
Pat., gibt keine richtigen Antworten, sagt: „Das ist mir einerlei, wenn
man mir weh tut“.
Während der Untersuchung und des folgenden Gesprächs zeigt Pat.
dem Arzte gegenüber ein kindlich-zutrauliches Verhalten, ergreift öfters
seine Hand, nickt und lächelt ihm zu. Sie blickt im Zimmer umher und
macht zu allem, was sie sieht, ihre Bemerkungen: „Mein Schlafzimmer
hat auch weiße Möbel“ — „das ist nicht mein Schlafzimmer, ein Spiegel
fehlt“ — „das sind richtige Vorhänge, die habe ich in unserem Zimmer
auch“ — „ich habe ja keinen Ring auf, darf ich den nicht haben? Das
ist schade.“ — Lacht plötzlich beim Anblick des ihr aushilfsweise gegebenen
bunten Anstaltstaschentuchs auf: „Sehen Sie nur! Ist das nicht ulkig?
Ich habe doch Frau Hämmerling geschickt, und nun bringt die mir solch
ulkiges Taschentuch! Ich habe auch ein Taschentuch, ich habe auch
eine Handtasche, da sind schöne Briefe drin von Schatzi. Gewiß ist da
auch Schokolade drin; Herr Doktor, darf ich nicht die Schokolade haben ?“
Diese und ähnliche Äußerungen werden in kindlicher Art und Weise
vorgebracht; sowohl die Sprechweise als auch der Gesichtsausdruck und
sonstige Gebärden haben etwas geziert Kindliches, etwa in der Art, wie
man oft mit Kindern spricht, deren Art nachahmend.
Den Arzt erkennt Pat. als solchen, weil er einen weißen Kittel an¬
habe; glaubt in Küstrin im Krankenhaus zu sein, wundert sich, daß
Küstrin ein so großes Krankenhaus habe. Man habe doch mit ihr nach
Küstrin fahren wollen; weiß nur ungenau, wer sie hergebracht, glaubt schon
„so lange“ hier zu sein, das könne sie nicht wissen, wie lange (in Wirklich¬
keit t Tag). Beim Hören des Ortsnamen Landsberg nennt Pat. ver¬
schiedene Bekannte, die dort wohnen.
(Vornamen?) „Sie dürfen nur Frau K. sagen, sonst heiße ich noch
Herta, so sagt Mama — und Schatzi sagt Süßerchen.“
(Alter?) „Das will ich ausrechnen, Schatzi war 31, im 32. — ja also
31 und ich bin älter, wohl 2 Jahre älter.“
(Wo geboren?) „Wo bin ich denn geboren? — Wo wohnt denn
Muttchen und meine Schwester? — Meine Schwester, das weiß ich, die
ist in N. auf dem Postamt, aber da bin ich nicht geboren. — Fragen Sie
bitte noch einmal — [geschieht] an der Fulda, in R. an der Fulda.“
(Wie lange verheiratet?) „Wenn ich nur meinen Ring hätte, da
steht es drin — 1906, da waren wir verlobt, — und dann waren wir noch
vier Jahre verlobt.“
(Kinder?) „Nein, wir brauchen keine, Schatzi sagt, ich bin sein
Kind.“
(Datum?) „Ach nein — das ist einerlei.“
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332
Rein.
(Jetziges Jahr?) „Ach nein, das ist einerlei“ [zuckt mit den
Schultern].
Pat. schaut dem Arzte zu, wie er schreibt, plötzlich sagt sie lebhaft:
„Schreiben Sie doch mal an Schatzimann.“ Diktiert dann dem Arzt:
„Mein süßer Schatzimann, komme doch bald wieder.“ Schweigt, blickt
ernst vor sich hin, auf Frage des Arztes, wie lange der Mann fort sei,
seufzt Pat.: „Ach, so lange schon.“ Fährt dann lebhaft fort: „Und dann
schreiben Sie noch: Ich koche alle Tage Gänsebraten — und dann müssen
wir noch was Derbes schreiben: Mir tut es leid, daß ich Dir mein Ehren¬
wort gegeben habe und nicht so ein Häubchen aufgesetzt habe, weil Du
so lange weggeblieben bist. — Ja, und wenn Du nicht bald wiederkommst,
dann glaube ich nicht mehr, daß Du mich lieb hast. — Und dann schreiben
Sie bitte noch: Ich werde mich auch nicht totweinen, sondern ich werde
die alte Browningpistole wegwerfen und mir eine neue kaufen.“
(Wollen Sie schießen?) „Erst suche ich mir die bösen Menschen,
die ihm etwas getan haben, und dann schieße ich mich selbst tot.“
(Wohin Mann gegangen ?) „Er sagte, er weiß es nicht“ [sehr lebhaft]:
„Nein, das wußte er auch wirklich nicht, sonst hätte er es mir gesagt;
er lügt nicht, ich lüge mir auch nie etwas vor.“
(Ist Ihr Mann beim Militär?) „Ja, in L. hat er doch immer geübt,
und da hat er mich doch immer mitgenommen.“
Pat. erzählt lebhaft und freudig, daß sie mit ihrem „Schatzi“”in L.
auf dem Schießstand gewesen und einmal mit ihm im Mondenschein auf
dem See mit Musik spazieren gefahren, und ähnliche Episoden. „Ich gehe
immer mit Schatzi mit, ich hätte müssen ganz ungezogen sein und mit
dem Fuße stampfen: ich will aber mit! —Ach nein, dann hätte er geweint.“
In kindlicher Weise spricht Pat. immer von ihrem „Schatzi“, ob der
denn weiß, daß sie hier sei, sonst könne er sie doch nicht finden, und. da
sei er sehr traurig. Sie wolle hier bleiben, bis Schatzi sie abhole. Wo
Schatzi so lange bleibe ? Sie wolle den Vorgesetzten von Schatzi bitten, ~
daß er seine Arbeit mit nach Hause nehmen dürfe; das ginge doch nicht,
daß er sie so lange allein lasse.
In den folgenden Tagen verhält sich Pat. ruhig, bis auf das kind¬
liche Wesen auch geordnet. Zum behandelnden Arzte ist sie stets zu¬
traulich-freundlich, zu andern, vertretungsweise auf die Abteilungkommen¬
den Ärzten leicht abweisend; spricht mit Kranken und Pflegepersonal
wenig, schläft viel oder liegt still für sich. Die Nahrungsaufnahme ist
gering, Pat. ißt nur auf Zureden, „Schatzi habe ja auch nichts zu essen“.
Längere Gespräche werden meist von Pat. abgelehnt. Als Ref.
einmal zu ihr vom Kriege spricht, weint sie laüt auf: „Krieg! — das ist
ein garstiges Wort, das dürfen Sie nicht sagen; Schatzi will nicht, jiaß
Sie so garstige Worte sagen.“ Darauf wendet sich Pat vom Arzt^ab,
erfaßt die Hand der Pflegerin und sagt: „Die Schwester ist gut, die sagt
nicht so garstige Worte.“
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Beitrag za den „Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung.
333
3. 11. (Aus einem Gespräch mit einem vertretungsweise auf die Ab¬
teilung kommenden Arzt.)
(Wie lange hier?) „Viel zu lange, so lange kann man nicht denken. “
(Weshalb hier?) „Ich sollte nach Kflstrin fahren, nach Hause, mein
Schwager Hellmut und Lie (die Schwester der Pat.) haben mich herge¬
bracht. fSie h^ben sich in den Zügen geirrt; wie das möglich ist, weiß ich
nicht. Herr Oberarzt hat mir gestern gesagt, das ist Landsberg/*
(Glauben Sie das?) „Ich glaube es, ein Arzt wird doch nicht lügen.“
(Wochentag heute?) „Ja, das weiß ich nicht.“
(Datum ?) „Dasweiß ich auch nicht.. /aber wissen Sie, am 10.10.10.
weiß ich immer was, aber ich weiß nicht was ... es war im Herbst, da
war es“ [spricht nachdenklich verloren vor sich hin].
(Was war denn da?) „Ach, es war schrecklich“ ... [seufzt und
stöhnt].
(Waren Sie da krank?) „Ach, wenn ich krank bin, das ist doch
einerlei — ich kann mich sehr schlecht erinnern, aber es war schrecklich —
es war ganz furchtbar — ich besinne mich immerzu darauf — [leise und
geheimnisvoll:] Ja, ich weiß ... [weint laut und sagt mit kindlicher
Stimme:] „Die vielen Menschen haben das Herz von meinem Lieb kaput
gemacht.“
(Woher wissen Sie das?) „Das weiß ich nicht, ich habe die Augen
zugemacht, daß ich es nicht sehen soll. Ich fühle es hier ganz genau [zeigt
auf Herzgegend], es tut immer noch so weh, so weh — und niemand hat
ihm einen Verband gemacht.“
(Woher wissen Sie das?) ,,Ich weiß es ganz genau, ich weiß es ganz
genau!“
(Wer hat es Ihnen erzählt?) [ungeduldig:] „Niemand! — Können
Sie ihn denn nicht heil machen ? — Ich weiß es ganz bestimmt, Muttchen
weiß esauchundLieweißes auch.“ — [Leise vor sich hin wimmernd:] „Ich
wollte ihn ja verbinden, aber ich konnte nicht hinlangen.“
(Wieso nicht?) [Ungeduldig ausbrechend:] „Ich war zu weit weg —
ich wollte meine Hände auf Schatzis Mund auflegen — was mache ich
denn da? — Sagen Sie es doch! Wissen Sie es auch nicht ? — Dann gehen
Sie doch fort, wenn Sie es nicht wissen. — Ich hätte müssen viel schneller
laufen, dann hätte ich ihm helfen können — mein armer Liebling, dul“
[Wimmert vor sich hin.]
üj (Wo ist er denn?) „Schatzi ist weit fort, er hat mich nicht mitge¬
nommen; er hat gesagt: Adieu, mein Liebling! [Mit kindlicher Stimme
fortfahrend:] Ich wollte eine Schwester werden mit einem Häubchen,
aber er hat es nicht erlaubt, das habe ich ihm versprechen müssen; was
soll ich nun machen, nun muß ich es halten. — Sein Herz tut ihm schon
wieder so weh, das fühle ich ganz genau“ [faßt nach ihrem Herzen].
(Sind Sie denn verheiratet?) „Na gewiß, es ist doch mein Schatzi-
mann. — Ich habe drei Ringe, aber die hat mir jemand weggenommen.“
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334
Rein,
(Haben Sie Kinder?) „Nein, Schatzi sagt: ich ^in sein Kind“ [mit
verklärtem Augenaufschlag].
(Wie lange verheiratet?) „Das weiß ich nicht, aber das steht in
meinem Ring — 1906.“
(Können Sie das nicht ausrechnen?) „Ich kann ja nicht rechnen,
nun bin ich sehr dumm geworden.“
(2 +1?) „4? ...4 .. 4.“ [Leise vor sich, dann laut ärgerlich:] „Ich
bin doch nicht in der Schule, ich bin schon so alt.“
(Wie alt?) ».Viele Jahre — solange Schatzi fort ist, bin ich schon
viele, viele Jahre älter. Er ist schon so lange weg, und er kommt nie wieder,
und . er sagt mir nie wieder „guten Morgen“ und „gute Nacht“-
ich sehe ihn ja doch, er sagt mir öfters „guten Morgen“ und „gute
Nacht“ [weint wieder leise vor sich hin].
(Wissen Sie, daß Krieg ist?) [Unwillig:] „Nein, es soll nicht sein,
ich kenne die Russen ganz genau. Ich war so lange in L. und Pr., da haben
wir uns immer mit X. [nennt russischen Namen] besucht.“
(Jetzt ist doch Krieg!) „Nein! Sagen Sie mir doch nicht solchen
Unsinn! Gehen Sie doch bitte fort! Ich bin so müde! [Wendet sich "ab,
schließt die Augen.]
(Wann in L. ?) „Jahreszahlen weiß ich nicht, Schatzi mußte dort
8 Wochen üben, da mußte ich immer mitgehen, er wird mich doch nicht
allein lassen. .. Ich wollte immer Markenpapier haben und Schatzis
Herz wieder zusammenkleben, aber niemand hat es mir gegeben ... böse
Menschen haben es kaput gemacht.“
(Wann geboren?) „Ach, das weiß ich nicht, ich bin schon so alt,
Schatzi ist 31 Jahre alt ... [in kindlichem Tonfall] ich werde mich ope¬
rieren lassen. Schatzi soll mein Herz haben, das ist ganz heil, das kapute
geht doch nicht — dann kann ich ja das kapute haben, wenn es zusammen¬
geklebt ist, dann wird es ja kleiner, dann geht es schon für mich.“
4. 12. Weinerlich, fragt öfters nach ihrem „Schatzi“, wendet steh
vom Fenster ab, der blaue Himmel tue ihr weh. Schreibt kindlichen Brief
an ihre Schwester um Wäsche und Kuchen; am Anfang des Briefes zeichnet
Pat. einen Hund, erzählt in dem Briefe von einer Schwester, die goldenes
Haar habe, von dejp „ulkigen Taschentuch“, die Ärzte fragten sie immer
so dämlich, die glaubten, sie wäre krank; ein Arzt habe „beinahe eine so
liebe, weiche Stimme wie Schatzilein, aber Schatzimannhat doch schöneres
Haar. Schreibe Du doch an mein Liebstes,- ja an mein Süßerle, ob er
mich noch lieb hat, und er soll es mir ganz schnell schreiben.“ Pat. unter¬
schreibt sich als „Dein Schwesterlein Herta“. Im Briefe schreibt Pat.
mehrmals, sie habe noch etwas schreiben wollen, habe aber vergessen, was.
5. 12. Fragt den Arzt, wann ihr Schatzi komme, der Arzt müsse
das doch wissen, er sei doch am klügsten hier.
Bei Besuch des Schwagers verkennt Pat. diesen zuerst, ist dann
sehr gesprächig.
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Beitrag zu den ..Kriegspsychosen“ der Zivilbevölkerung.
335
Am Abend plötzlich Fieber, 39,0°. Leichte bronchitische Erscheinun¬
gen und leichte Angina. Pat. ist etwas benommen, führt verworrene
Reden: „Der Stephan soll die Stiefel ordentlich putzen“, verlangt Wasser,
trinkt einen Schluck: ^Das soll Wasser sein? Schmeißen Sie mal erst
i
den Stephan raus! Der Stephan ist so ungeschickt, er soll mir nicht immer
Wasser auf die Füße pantschen. Ich habe ganz nasse Füße, ich möchte
bitte trockne Strümpfe haben.“
7. 12. Bronchitis mit hohem Fieber. Pat. klagt viel über Kopf¬
schmerzen, liegt sonst still und apathisch im Bett.
Am Nachmittag plötzliche Erregung: Pat. läuft im Saal hin, und
1 her, Kopf zurückgebogen, Augen geschlossen; als die Oberin den Saal
betritt, stürzt Pat. auf diese zu, klammert sich fest an sie und ruft: ,,Sie
sagen hier, Lodz sei gefallen. Das soll nicht sein; die Russen sollen nicht
besiegt werden.“ Auf Zureden beruhigt sich Pat. und legt sich wieder
still ins Bett.
8.12. Bei Morgenvisite begrüßt Pat. den Arzt wie immer in kindlich-
zutraulicher Weise, klagt über Kopfschmerzen, sagt dann: „Und noch
eins wollte ich Sie fragen — was war das nur ? — An zwei Worten haben
ich es mir gemerkt — wie war das doch ? — Ach ja! L. und Lodz! — Was
heißt das: Lodz ist gefallen?“ Auf die Erklärung des Arztes, daß doch
jetzt Krieg sei, blickt ihn Pat. fragend und sinnend an: „Es ist Krieg?“
Nach einer Weile fährt sie langsam fort: „Da muß doch Schatzi auch mit —
als Offizier!“ — Blickt abwesend ins Leere, fragt dann rasch: „Er ist
doch im Kriege?“ Als der Arzt das bejaht, blickt Pat. eine kurze Zeitlang
still vor sich hin, ruft dahn: „Ist er tot. — Sagen Sie es mir, Herr Doktqr!
Er ist tot?“ Auf die bejahende Antwort des Arztes schreit Pat. einmal
laut auf, schlägt die Hände vors Gesicht, weint, ein Schütteln geht durch
ihren ganzen Körper; dann ergreift sie die Hand des Arztes, beugt sich
weinend darüber, verharrt einige Minuten in dieser Stellung, richtet sich
dann auf: „Ach, ich darf ja nicht weinen als Offiziersfrau.“ Pat. seufzt,
hält die Hand des Arztes fest umklammert: „Ach, Sie wissen ja nicht, wie
lieb er mich gehabt hat.“ Weint vor sich hin und sagt leise, wie zu sich
selbst: „Ich habe nachts immer sein Geigenspiel gehört; alle meine
Lieblingsmelodien hat er gespielt, aber die letzten Nächte nicht mehr. Ich
komme nicht wieder, hat er gesagt.“
Nach kurzer Zeit richtet sich Pat. auf, trocknet ihre Tränen, dankt
dem Arzt für sein Beileid, fragt, ob sie nun bald nach Hause könne.
Das Wesen der Pat. ist von nun an völlig verändert, sie zeigt etwas
frauenhaft Gefaßtes in ihrem Verhalten, spricht nicht mehr von ihrem
„Schatzi“, sondern von ihrem Manne, das kindlich-kindische Wesen
ist geschwunden.
Pat. hat keine Erinnerung, wann und wo sie die Nachricht vom
Tode ihres Mannes erhalten hat, nur ganz unbestimmt erinnert sie sich,
daß wohl ein Brief gekommen.
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UNIVERStTY OF MICHU6Ä&
336
Reip
Io den folgenden Tagen verhält sich Pat. voÜköimjmit ruhig und
jg$»o spricht mit Arzt und beim Besuch d«r Angehörigen gefaßt über
Tod ihres Mäiiaes* wemkoft», «über- 4|« XdJ^Ptt|^^' : i^P;|P*a^ 0 r kind
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iUa- dfe Kranke durch die „Flucht in den Dämmerzustand" einer
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- Ihr'■ i Ausdrücken. in der Redeweise. 5n Miene and Gebärden,
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Stier. Ithdfe ’feich mit •jer gegebenen Lage ab,
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Beitrag za den „Kriegspsychosen" der Zivilbevölkerung. 337
Von den Briefen ihres „Schatzi“, die sie in ihrer Handtasche habe,
kommt sie rasch auf die dort befindliche Schokolade zu sprechen; als sie
dem Arzt einen Brief an ihren Mann diktiert, geht sie nicht darauf ein,
wo er ist und wie es ihm geht, läßt nur schreiben, er solle bald wieder¬
kommen, sie wolle ihm dann alle Tage Gänsebraten machen. In die Anstalt
gekommen sei sie dadurch, daß sich ihre Schwester in den Zügen geirrt
habe; nun wolle sie hier bleiben, bis „Schatzi“ sie abholt. Als davon
gesprochen wird, daß ihr Mann Reserveoffizier ist, erzählt sie schnell einige
Episoden aus der Zeit, wo sie mit ihrem Manne zur Übung in Lyck war.
öfters spricht Pat. auch selbst davon, daß ihrem Manne etwas zugestoßen,
sie weint auch dabei,doch ist der Affekt nur gering und von ganz kurzer
Dauer, sie lenkt entweder ganz davon ab oder versucht, sich selbst zu
betrügen, indem sie es erzählt wie einen Traum oder in kindlicher Auf¬
fassung: Böse Menschen haben ihrem Schatzi das Herz kaput gemacht,
sie will es mit Markenpapier wieder zusammenkleben, wie etwa ein Kind
seine zerbrochene Puppe heilt, oder sie will sich operieren lassen und ihr
Herz dem Schatzi geben, dafür dessen zusammengeklebtes nehmen, da
sie ja kleiner ist. Ihr unangenehme, an den Tod ihres Mannes erinnernde
Worte und Gespräche lehnt sie ab oder versucht, sie nicht zu beachten;
so beteiligt sie sich nicht an den Gesprächen anderer Kranker, die auf
Abteilung viel vom Kriege sprechen; sie verbittet sich direkt so „garstige
Worte, die man nicht gebrauchen darf, weil Schatzi es nicht will“, oder
aber sie bezeichnet derartige Gespräche trotzig aufbrausend als unwahr.
In ihren Briefen an die Angehörigen spricht sie nur fluchtig
von ihrem Manne, läßt ihn grüßen, vermeidet es aber, nach seinem
Befinden zu fragen, nur schreibt sie mehrmals, sie habe noch
etwas fragen'wollen, das sie vergessen habe; im Anschluß daran
bittet sie dann gleich in kindlicher Weise um Schokolade, Wurst
u. dergl. Auch diese Vergeßlichkeit ist ein Ausdruck ihrer kindlich
gerichteten Geistesverfassung, sie ist ja „so dumm“, daß sie nicht
2 + 1 ausrechnen kann, weder Datum noch Wochentag weiß.
Daß Pat. in ihrem Dämmerzustände gerade ein ausgesprochen
kindliches Verhalten zeigt, eine kindliche Psyche angenommen
hat, entbehrt nicht einer gewissen Logik: zu dem von Pat. un¬
bewußt oder bewußt gewollten Nichtverstehen der Kriegsereignisse
und der Schwere des eigenen Verlustes gehört die Naivität und
Einfalt eines Kindergemütes. Wie ein Kind beim Tode der Mutter
zwar weint, aber doch die Schwere des Verlustes nicht begreift
und sich leicht durch Spiel und andere Eindrücke ablenken läßt,
dann auch wieder von der Mutter spricht, als ob sie noch am
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Original from
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338
Rein,
Leben wäre, so geschieht es auch hier: die Kranke weih vom
Tode des Mannes, sie spricht auch weinend davon, sie kommt
aber nicht zum vollen Verständnis des Ereignisses. In der Periode
der kindlichen Geistesverfassung gewinnt die Pat., Zeit, sich erst
langsam an ihren Verlust zu gewöhnen, so daß sie dann gefaßt
und ruhig aus diesem Zustande zur Wirklichkeit erwacht. In den
ersten Tagen des Anstaltsaufenthaltes lenkte Pat. das Gespräch
viel mehr von ihrem Manne ab, vermied es meist, selbst von ihm
zu sprechen, später dagegen (so im Gespräch am 3. 12.) geht
sie schon viel mehr auf dieses Thema ein und kommt von selbst
darauf zurück; dabei spielt sie auch immer wieder mit dem Ge¬
danken des Selbstmordes, den sie ja früher für den Fall, daß ihr
Mann fallen würde, geplant hatte und in ihrem Erregungszustand
bei Empfang der Todesnachricht auch zur Ausführung bringen wellte.
Bereitet sich in dem häufigeren Sprechen von ihrem Manne
vielleicht schon ein allmähliches Erwachen aus dem Dämmerzu¬
stände vor, so tragen dazu wohl die Gespräche der Umgebung
über den Krieg mit bei; da sie hier immer wieder dasselbe Ge¬
sprächsthema hört, kann sie sich dem Verständnis des Gehörten
nicht länger mehr verschließen. Noch einmal versucht es die
Patientin mit trotzig abwehrender Erregung das Erkennen der
Wirklichkeit zu unterdrücken, dann aber tritt, eingeleitet durch
das Gehörte, das sie sich zunächst erst wieder scheinbar mühsam
ins Gedächtnis zurückrufen muß, ziemlich plötzlich das Erwachen
aus dem Dämmerzustand ein und damit auch sofort das volle Ver¬
ständnis ihrer Lage und ihres Verlustes. Dieses geschieht inner¬
halb weniger Minuten in Gegenwart des Arztes: soeben hat die
Pat. noch in ihrer krankhaften, kindlich-vertraulichen Art den Arzt
begrüßt, es folgt ein kurzes Überlegen und Fragen, dann wird sie
sich der Bedeutung des Wortes „Krieg“ bewußt und weiß damit
auch sofort, was sie verloren. Der Dämmerzustand ist vorüber,
das Verhalten der Pat. wieder geordnet; besonders zeigt sie in dem
nun folgenden natürlichen Schmerzausbruch ein frauenhaft-würdiges
Benehmen, das in direktem Gegensätze steht zu dem vorherigen
kindlich-kindischen Verhalten.
Nicht ohne Einfluß auf die kindliche Gestaltung des Dämmer¬
zustand‘s bei der Pat. ist w r ohl ihr Verhältnis zu ihrem Manne
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Original fram
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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten
fixen Wahnidee.
Von
Dr. August Hegar (Wiesloch i. B.).
Der verstorbene Psychiater Näcke bedauert in einem „Raritäten
aus der Irrenanstalt“ überschriebenen Aufsatze 1 ), daß in den Ar¬
chiven der großen Irrenanstalten so viele instruktive Fälle für die
Wissenschaft verloren gehen; er meint, man solle sich nicht ab¬
halten lassen, auch einzelne kasuistische Fälle zu veröffentlichen.
Diese Mahnung ist nicht ganz überflüssig, da es immerhin einige
Überwindung kostet, den selbst für Doktordissertationen nicht mehr
beliebten „ein Fall von“ zu beschreiben. Wenn ich mich doch
entschlossen habe, die nachfolgende Krankengeschichte mitzuteilen,
so kann ich dies damit begründen, daß man wohl in der psychi¬
atrischen Literatur kaum etwas Ähnliches finden wird; wem der
wissenschaftliche Wert der Veröffentlichung zu gering dünkt, der
möge immerhin bedenken, daß es auch Liebhaber und Sammler
von Kuriositäten gibt.
Unter den ersten Kranken, die 1907 in die neu eröffnete Anstalt
Wiesloch überführt wurden, befand sich zu meiner Überraschung eine
alte Bekannte aus meiner Assistentenzeit an der medizinischen Klinik
inH. Es war „die Frau mit dem Frosch im Leib“. Die klinische Diagnose
lautete auf Ren mobilis. Die Kranke wurde regelmäßig in den Kursen
und in der Klinik vorgestellt, um den jungen Medizinern Gelegenheit zur
Palpation einer lebendigen Niere zu geben; nebenher übte die Erklärung,
die die Kranke für ihr Leiden gefunden hatte, eine gewisse Anziehungs¬
kraft auf das studentische Publikum aus. Fräulein Wilhelmine G., geboren
1827, stand, als ich sie kennen lernte, im 67. Jahre. Sie suchte in den
Jahren 1884—1896 ein- bis zweimal jährlich die Klinik auf, sie blieb einige
*) Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 50.
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Eine TierUluaion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 341
Wochen, ging dann von selbst oder auf Anraten des Arztes wieder nach
Hause.
Über ihr Verhalten will ich zusammenfassend aus meiner persön¬
lichen Beobachtung und aus den Krankengeschichten der medizinischen
Klinik berichten. Fräulein G. war damals eine wohl aussehende rüstige
Person mit geringen Altersveränderungen. Appetit, Verdauung, Urin¬
entleerung waren geregelt, der Schlaf bis auf zeitweilige Störungen sehr
gut. Zwischen Nabel und Symphyse fand sich eine sehr bewegliche rechts¬
seitige Wanderniere; dieselbe war bei den schlaffen Bauchdecken gut zu
fühlen, glitt leicht durch die Finger und ließ sich bis 10 cm weit hin und
her schieben. Auch die linke Niere ließ sich palpieren und war nach unten
verlagert, aber nur wenig beweglich. Eine auffallende Erscheinung war
dann noch die enorme peristaltische Unruhe, man konnte schon von
weitem das Darmgurren bei der Kranken hören.
Fräulein G. nahm nun an, daß sie einen Frosch im Leibe habe, der
ihr eine Menge von Mißempfindungen verursache und gegen den sie Hilfe
bei den Ärzten suchte. Den Sitz des Tieres verlegt sie in den Magen,
den Darm und die „Wasserblase“, sie bemerkt, wie der Frosch seinen
Aufenthalt wechselt und oft mit großer Schnelligkeit irgendwo im Leibe
auftaucht. Er war fast immer in Bewegung, er purzelt im Leibe herum,
als wäre er im Neckar; er krabbelt, zappelt, kratzt, wühlt, scharrt und
beißt. Sie fühlt deutlich, wie der feste Gegenstand im Leibe eine wirbelnde
Bewegung macht, er kugelt durcheinander, bläst sich auf wie ein BlasbaJg,
wie eine Kugel, schlüpft herum, macht zitternde Bewegungen; direkte
Schmerzen verursacht er ihr, wenn er sich im Magen anbeißt oder ankrallt.
Das Gurren im Leibe hält sie für die Töne des Tieres; wenn sie auf den
Leib drückt, hört sie das Quaken des Frosches, „hören Sie ihn!“. Er
knurrt besonders stark, wenn er „störrisch“ ist, zuweilen bellt er nachts
wie ein junger Hund, von Zeit zu Zeit stößt er klagende Laute aus. Bei
kaltem Wetter fühlt sie, daß er rauher ist, besonders spürt sie dann die
rauhen Beine, er zappelt bei Witterungswechsel mehr, bei schönem Wetter
wird er entschieden munterer. Seit seinem langen Aufenthalt in ihrem
Leibe ist der Frosch gewachsen, er hat sich allmählich an die menschliche
Nahrung gewöhnt, ja er steigt sogar in den Magen und nimmt die einge¬
nommenen Pulver zu sich; wenn sie Obst ißt, freut er sich, wie sie an seinen
munteren Bewegungen merkt. Bei vollem Magen ist er ruhiger. Er hat
seine eigene Verdauung; sie schloß dies aus der Tatsache, daß sie einmal
Blut im Stuhlgang beobachtete.
Die Kranke litt sehr unter der Unruhe der „Krotz“, besonders wenn
sie dadurch nicht schlafen konnte. Sie hat schon Versuche gemacht, das
Tier zu fangön, wenn es an die Oberfläche des Leibes kam; einmal drückte
sie es so fest, daß sie meinte, es schneide ihr den Magen durch; als es so
arg tobte, legte sie sich auf den Boden, schob zwischen Leib und Boden
das Mangelholz hin und her, um es zu zerquetschen, auch durch festes
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342
Hegar,
Zusammenschnürer des Leibes mit einem Strick versuchte sie es zur Ruhe
zu bringen, alles vergebens, sie habe sich selbst immer weher getan als
ihm. Die Kranke suchte die Klinik auf, in der Hoffnung, daß die be¬
rühmten Ärzte ihr helfen könnten; sie war immer bereit, sich jeder, auch
der gefährlichsten und schmerzhaftesten Kur zu unterwerfen, wenn
ihr nur Hoffnung gemacht werden konnte, daß der Frosch sein Ende
finden werde.
Man konnte nun nicht sagen, daß die Kranke in der Behandlung
vernachlässigt worden wäre; Generationen von Ärzten bemühten sich,
ihr zu helfen. Gewöhnlich wurde erst versucht, ihr begreiflich zu machen,
daß ein Frosch nicht seit Jahren in ihr leben könne; da dieVerbalsuggestion
aber bei der Hartnäckigkeit der Idee ganz erfolglos blieb, ging man an
die Bekämpfung des Tieres selbst. Die Kranke erhielt etwa 70 Narkotika
und Antipyretika, die ich hier nicht aufzählen will; unsere chemische
Industrie stand damals noch nicht auf der späteren Höhe ihrer Freigebig¬
keit im Zusammensetzen und Empfehlen neuer Mittel, sonst wäre die
Zahl wohl noch größer geworden. Ich hebe nur einige hervor, so Hyoszin,
Physostigmin, Erythroplacin, Solanin, Argentum nitricum, Kurare, Pheno-
koll, Piperazin, Agathin, Cannabis indica. Die Pat. machte nie Schwierig¬
keiten, ob das Mittel schlecht schmeckte oder ihr subkutan gegeben
wurde, ließ sich auch durch die unangenehmen Nebenwirkungen nie von
neuen Versuchen abschrecken. Einzelnes machte einen besonderen Ein¬
druck auf sie, so Äther, Terpentin und besonders Methylenblau. Aber
jedesmal kam wieder die Enttäuschung. Als die Kodische Entdeckung
des Tuberkulin kam, was lag näher, als das Wundermittel auch gegen den
Frosch zu versuchen! Die Kranke wurde zweimal der Kur unterzogen,
sie bekam Fieber und fühlte sich recht elend, auch der Frosch war still
wie lange nicht. Als es ihr aber wieder besser ging, fing er gleich an, sich
zu zeigen, und auch diesmal triumphierte der unverwüstliche Frosch.' Es
wurde Galvanisation, Faradisation, Franklinisatioh versucht, auch Hyp¬
nose und sogar Massage kam in Anwendung. Was der Kranken tatsächliche
Erleichterung brachte, war die gelegentliche Ordination von Schlafmitteln
und die Erlenmey ersehe Brommischung, deren Rezept sie sich bei der
Entlassung immer mitgeben ließ.
Über die Entstehung ihres Leidens gab mir die Kranke an, daß sie
etwa in ihrem 50. Lebensjahre aus einem Brunnenwasser getrunken habe,
da müsse sie den Frosch ganz klein verschluckt haben; es sei dies jedoch
nur ein nachträglicher Schluß, gemerkt habe sie von dem Verschlucken
nichts. Sie habe zuerst Wurmsamen genommen; als das Zappeln immer
stärker wurde, merkte sie, daß es etwas anderes sei als Würmer. Die
Kranke verhielt sich während der Jahre, die sie die Klinik besuchte,
immer durchaus geordnet und bot keinerlei Eigenheiten dar. Sie war nie
unverträglich oder erregt oder machte irgendwelche Schwierigkeiten.
Was ihre Intelligenz betraf, so wird sie zweimal in der Krankengeschichte
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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 343
als geistig gut entwickelt bezeichnet; mir persönlich machte sie den Ein¬
druck einer beschränkten Person, jedoch konnte von einem nach außen
deutlich hervortretenden Schwachsinn keine Rede sein. Ihr Wesen war
freundlich, aber ohne Zudringlichkeit. Ihre Klagen brachte sie in ma߬
vollem Ton und ohne Übertreibung vor, dabei entbehrte sie aber bei
Schilderung ihres Leidens durchaus nicht des Affektes. Die Stimmung
war immer etwas gedrückt; den Unglauben der Umgebung nahm sie als
etwas Unabänderliches hin, dem zu opponieren nutzlos wäre. Sie setzte
immer ihre Hoffnung auf die Hilfe der Ärzte, obgleich sie auch hier eine
Einschränkung machte; „Wenn Sie mir helfen wollen, müssen Sie mir
erst glauben“, sagte sie mir einmal, ein andermal: „Wenn Sie mir nicht
glauben, können Sie mir nicht helfen.“
Ich sprach damals öfters mit der Kranken, da ich mir nicht recht
denken konnte, daß die Wahnidee isoliert dastelie, konnte aber nicht viel
von ihr erfahren, nur einmal gab sie mir an, daß sie im ersten Jahre ihrer
Erkrankung, als sie die ersten Sensationen nachts im Leibe gespürt habe,
glaubte, ihre Nachbarn schikanierten sie, belästigten sie mit Anwendung
von Elektrizität oder ähnliclieif Manipulationen. Sie habe Streit be¬
kommen und die Wohnung gewechselt; sie sei jedoch bald zur Überzeugung
gekommen, daß das Einbildung sei, habe später nie den Grund ihres Leidens
auf die Mitwirkung der Außenwelt zurückgeführt. Fragen über ihr Vor¬
leben lehnte sie bestimmt mit den Worten ab: „Darüber will ich nicht
sprechen.“ Ich hatte natürlich damals keineVeranlassung und kein Recht,
besondere Nachforschungen anzustellen. Als ich dies, nachdem Fräulein G.
Pflegling unserer Anstalt geworden war, nachzuholen versuchte, zeigte es
sich, daß in den langen Jahren manches verloren gegangen war. Ich konnte
nur noch eine auch schon bejahrte Nichte^ausfindig machen, der ich
verschiedene zuverlässige Angaben verdanke; außerdem fand sich noch
ein ausführliches ärztliches Zeugnis aus dem Jahre 1874 vor.
Eine erbliche Belastung ist nicht bekannt. Der Vater starb mit 87,
die Mutter mit 78 Jahren; die Geschwister waren gesund. Fräulein G.
zeigte eine kräftige Konstitution, war nie schwer krank gewesen, galt als
talentvoll und geschickt in weiblichen Arbeiten, die eigene Schwester hielt
sie jedoch nicht für besonders begabt. Ihr Temperament sei etwas heftig
gewesen; sie neigte zu Putzsucht und Eitelkeit. Sie hatte ein Verhältnis,
aus dem eine Tochter hervorging. Später stellte sich heraus, daß ihr
Geliebter ein katholischer Geistlicher war; die Sache wurde daher zu ver¬
schweigen versucht; Fräulein G. verließ ihre Heimat und wurde Haus¬
hälterin. Erst nach Jahren kehrte sie nach M. zurück. Es wurde als
auffällig angesehen, daß Fräulein G. ihre Tochter in den Theaterberuf
brachte, was zu ihrer sonst vorhandenen Frömmigkeit nicht paßte. 1873
zeigten sich die ersten Zeichen einer geistigen Störung: FräuleinG. wechselte
ihre Wohnung, wurde streitsüchtig und boshaft. Die Periode trat nur
noch selten ein. 1874 brach dann eine ausgesprochene Psychose aus:
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344
Hegar,
sie glaubte, die Leute sähen sie auf der Straße an, fühlte sich verspottet,
meinte, es seien Herren in der N ähe, die sie verführen wollten, verkannte
Personen, sah in ihren Verwandten verkleidete Männer. Schließlich
stellte sich eine starke Erregung ein: sie lachte und sang vor sich hin,
riß sich an den Haaren, wollte zum Fenster hinausspringen; sie wurde
dann in die Irrenabteilung des Landeshospitals zu S. gebracht, wo sie vom
1. 10. 74 bis 6. 7. 76 blieb und gebessert entlassen wurde.' Eine Kranken¬
geschichte fand sich leider nicht vor. Der Frosch wird in dem Aufnahme¬
gutachten nicht erwähnt; die Nichte gab auf ausdrückliches Befragen
an, daß diese Idee mit der damaligen geistigen Erkrankung nichts zu tun
hätte; Fräulein G. habe ihr später erzählt, sie habe den Frosch beim
Trinken aus einem Brunnen erworben. Von der Operation, durch die der
Frosch entfernt werden sollte, wußte die Nichte auch zu erzählen, genützt
habe dieselbe gar nichts.
Nach der Rückkehr aus S. lebte Fräulein G. von den Zinsen ihres
kleinen Vernfögens in M., reiste jedes Jahr einige Wochen „zur Kujp“
in verschiedene Krankenhäuser und Kliniken. Im übrigen bot sie nichts
Besonderes, ihre letzte Wohnung behielt sie fast 20 Jahre bei.
Im Jahre 1906 beklagten sich die Bewohner des Hauses, in dem sie
wohnte, daß Fräulein G. in ihrem Zimmer und dem Gange viel schimpfe
und klopfe, daß sie nachts mit dem offenen Licht im Treppenhaus umher¬
laufe. In ihrer Wohnung fand sich eine große Unordnung und Unsauber¬
keit. Die Kranke kam dann zuerst in die psychiatrische Klinik zu H.
und dann nach Wiesloch. Sie war verwirrt, sehr reizbar und mißtrauisch;
nachts kam es zuweilen zu Erregungszuständen; es bestanden lebhafte
Sinnestäuschungen, sie hörte die Stimmen von Bekannten, hörte rufen,
daß der Wagen an der Bahn draußen sei, sah Leute an ihr Bett kommen;
die Haupt Verfolger sind die früheren Hausbewohner, die sie bestehlen
und betrügen. Auf Befragen wegen des Frosches gab sie an, derselbe
mache ihr keine Beschwerden mehr. Ich nahm damals an, daß s’e jetzt
dissimuliere, um in der Anstalt nicht deswegen für geisteskrank gehalten
zu werden. Von selbst sprach sie während ihres Aufenthaltes nie davon,
äußerte auch nie die früheren Beschwerden. Sie wurde in den folgenden
Jahren zwar geistig klar, konnte gut Auskunft geben, hatte keine Sinnes¬
täuschungen und Verfolgungsideen mehr, wurde aber immer stumpfer
und hinfälliger und schließlich ganz bettlägerig. Sie verlangte bei der
Visite nur ihre Entlassung und öfters ein Abführmittel. Auffällig war
bei der allgemeinen geistigen Verödung die gute Erhaltung der Merkfähig¬
keit, sie kannte die Namen der mit ihr verkehrenden Personen, beobachtete
genau die Vorgänge in ihrer Umgebung und konnte darüber berichten.
Einige Wochen vor ihrem am 18. 11. 15 erfolgten Tode sprach ich noch
einmal in Gegenwart eines Kollegen mit ihr über ihre Wahnidee. Sie gab
ganz klar Auskunft, sie habe an einer Wanderniere gelitten, die Geschichte
mit dem Frosch sei ein Unsinn gewesen, den sie schon lange nicht mehr
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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 345
glaube. Sie erzählte auch von der Operation, die man in einem Kranken¬
hause zo ihrer Heilung vorgenommen hatte; man habe sie chloroformiert
und ihr nach dem Erwachen einen Frosch vorgehalten — „ich hab’ das
natürlich nicht geglaubt“, dabei überzog noch ein vergnügtes Lächeln die
Züge der 87jährigen.
Die Obduktion ergab neben hier als unwesentlich zu übergehenden
Veränderungen, daß die rechte Niere bei Eröffnung der Bauchhöhle unter¬
halb des unteren Leberrandes liegt, fast in der Mittellinie; die Fettkapsel
ist geschwunden, die fixierenden Bänder sind gelockert und schlaff, so daß
man die Niere ohne besonderen Zug in die linke Bauchseite und unterhalb
des Nabels hin- und herbewegen kann; die Peritonealkapsel ist mit der
Niere verwachsen. Kelche und Nierenbecken sind stark erweitert und
gehen in einen etwa 10 cm langen, häutigen Trichter über, der allmählich
im Ureter ausläuft. Die Niere selbst bietet das typische Bild der senil¬
atrophischen Zystenniere. . Die linke Niere liegt mit ihrem oberen Pol
unterhalb des letzten Interkostalraumes und ist innerhalb des Peritoneal¬
überzugs beweglich. Bemerkenswert ist, daß eine Torsion und rechts¬
seitige Skoliose des unteren Abschnitts der Brustwirbelsäule bestand,
so daß dadurch eine Herabdrängung der rechten Niere von oben nach unten
und von hinten nach vorn gegeben war.
Bevor ich einen Versuch mache, die Entstehung der Tierillusion
bei unserer Kranken zu erkläre^, möchte ich zwei Punkte kurz
streifen: den nach dem Vorkommen derartiger Illusionen und
Halluzinationen überhaupt und dann die besondere Psychotherapie
die auch in Laienerzählungen eine Rolle spielt. Sehr häufig sind
die Tierphantasmen nach meinen Erfahrungen nicht. Noch am
meisten trifft man sie bei Katatonikern, aber immer neben zahl¬
reichen Halluzinationen auf andern Sinnesgebieten. Der Kranke
fühlt und sieht massenhaft kleine Tierchen, Schnacken, Würmer,
Käfer, vorzugweise im Essen, aber auch in den Abgängen, im
Speichel, auf der Haut, in den Ohren. Die Wahnvorstellungen
sind viel flüchtiger, wirken lange nicht so aufreizend auf die
Stimmung des Kranken wie die Gehörstäuschungen, sie werden
kaum systematisch verarbeitet; nach einigen Monaten findet man
oft nichts mehr von denselben vor. Im allgemeinen bedeutet ihr
Vorhandensein schon einen ziemlichen Grad von Verworrenheit.
Noch seltener sind die isolierten Vorstellungen eines Tieres, hier
kommen hysterische und hypochondrische Psychosen in Betracht;
die Tiere sind schon größer und treten zu bestimmten Organen in
Beziehung, wie zum graviden Uterus, zu Tumoren, z. B. Magenkrebs;
Zeitschrift für Psycl^Utrie. LXXV. 8. 24
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l
Hegar,
im Gehirn sitzt ein Vogel oder eine Grille, die ständig eintönig
singen, die Därme erscheinen als Schlangen n. ähnl. Von
Fröschen im Leib wird öfters in der Literatur berichtet. Daß eine
Wanderniere als Tier aufgefaßt wurde, konnte ich nur einmal
finden: bei Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie (1890)
wird diese Vorstellung als fixe Wahnidee bei paranoischer Hypo¬
chondrie kurz erwähnt.
Es ist verständlich, daß bei der Behandlung derartiger Indivi¬
duen entsprechend der Hartnäckigkeit ihres Wahns auoh zu
kräftigen Mitteln gegriffen wurde. Je schärfer die Wahnvorstellung
ausgeprägt war und je größer das Tier, desto augenfälliger mußte
der Apparat sein, mit dem man den Wall der kranken Logik zu
sprengen suchte. Es kam dadurch zu den bekannten Schein¬
operationen, deren Nutzlosigkeit eigentlich vorauszusehen ist.
Esquirol erzählt in seinem Lehrbuch (1836) unterhaltende Beob¬
achtungen. Die in der Krankengeschichte unserer Patientin er¬
wähnte Operation zeigt, daß auch noch in unsera Tagen derartige
psychologische Fehlgriffe gemacht werden.
Es handelt sich bei unserer Patientin um eine unbelastete,
wohl nicht sehr begabte Person; eine gewisse körperliche und
geistige Rüstigkeit dürfte ihr trotz der späteren psychotischen Er¬
scheinungen nicht abzusprechen sein. Aus ihrem Lebensgang ist
nichts Besonderes hervorzuheben. In ihrem 47. Jahre 'zusammen
mit klimakterischen Symptomen brach eine Psychose aus mit Be¬
wußtseinstrübung, Sinnestäuschungen, Verfolgungsideen und Er¬
regungszuständen. Über den Verlauf sind wir nicht weiter unter¬
richtet. Es trat nach etwa zwei Jahren offenbar eine weitgehende
Besserung ein; 32 Jahre später kam es dann zu einer neuen
Störung in Form eines typischen senilen Verfolgungswahns, der
auch wieder abklang. Von Wichtigkeit ist für die ganze Be¬
urteilung die Prüfung, wie sich die Kranke in der Zeit zwischen
den beiden Anfällen verhalten hat. Sie lebte selbständig, kam
nicht mit den Anforderungen des Lebens in Widerstreit; ihr äußeres
Auftreten hielt einer Prüfung stand. Ich glaube ihr langes Ver¬
weilen in nicht für Geisteskranke bestimmten Krankenhäusern
wäre nicht möglich gewesen, wenn bei ihr die Eigentümlichkeiten
bestanden hätten, wie sie meist nach schweren Psychosen zurück-
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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 347
bleiben, wenn noch latente Verfolgungsideen mit Stimmungs¬
schwankungen und Reizbarkeit ihr Verhalten bestimmt hätten.
Wir können als sicher nur das feststellen, daß Fräulein G. eine
etwas abgestumpfte Persönlichkeit war, [daß sie vdn einer ver¬
einzelt dastehenden Wahnidee, die ja schon allein für eine Schwäche
des Urteilsvermögens sprach, beherrscht wurde und daß diese —
ein genauerer Zeitpunkt läßt sich nicht angeben — in ungefährem
zeitlichen Zusammenhang mit einer überstandenen geistigen Er¬
krankung stand.
Wenn ich nun versuche, die psychische Störung der Kranken
in die uns geläufigen Krankheitsbilder einzureihen, so geht es mir
wie einem, der zwei ungleiche Schachteln ineinander verpassen will,
eine Seite steht immer vor und der Deckel läßt sich nicht schließen.
Von den in Betracht kommenden Krankheitsgruppen tritt uns zu¬
nächst die Hysterie entgegen. Die Kranke wurde mehrfach als
hysterisch bezeichnet. Abgesehen nun von dem Fehlen aller
sonstigen Symptome — an eine Hysteria monosymptomatica
glaube ich nicht — spricht besonders der Umstand dagegen, daß
ihre Sensationen nicht wie die der Hysterie völlig irrige waren,
sondern daß ein pathologischer objektiver Befund vorhanden war;
auch wäre der immer gleich bleibende Verlauf für eine Hysterie
auffallend. Viel näher liegt die Diagnose Hypochondrie: die
Kranke beobachtet sich gespannt, sie leidet sehr unter ihren Organ¬
empfindungen, bleibt in ihrer Deutung unbeeinflußbar trotz großer
Behandlungsbedürftigkeit. Bei dem abgegrenzten Bilde könnte
man die Bezeichnung zirkumskripte Hypochondrie r ) wählen. Zur
Hypochondrie gehört jedoch noch ein etwas stärkerer Anteil von
neurotischen und affektiven Begleiterscheinungen, als in unserem
Falle vorhanden ist; auch paßt die wunderliche groteske Wahn¬
idee nicht hierher. Die zur Paranoia gehörige paranoische Hypo¬
chondrie können wir ausschließen, da ja jeder weitere Ausbau im
Sinne der Verfolgung fehlt. Wir werden^ schließlich uns mit der
Diagnose: fixe Idee begnügen müssen. Wieviel Selbständigkeit
wir dieser Bezeichnung zuerkennen können, hängt eng mit der
Frage nach der Entstehung der Wahnidee zusammen. Griesinger
x ) Neißer, Archiv f. Psych. Bd. 36.
24*
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348
Hegar,
bezeichnet die Monomanie immer, als eine sekundäre Erkrankung:
es verbleibt, aus Melancholie, oder Manie herausgebildet, eine fixe
Wahnvorstellung bei einer abgestumpften Persönlichkeit, nicht etwa
der vorige Mensch plus dem einzelnen Irrtum. Schule 1 ) meint,
daß im Stadium der sekundären Verrücktheit in einzelnen Fällen
die fixe Idee nicht assimiliert wird, sondern sie bleibt als Se¬
quester im Bewußtsein zurück, welches, unfähig zur kritischen
Vernichtung, das wichtige Format abgekapselt in sich bestehen
läßt. Der fixierte Wahn kann aber wieder beweglich werden und
sich zum Zentrum einer neuen Person entwickeln, die ein Doppel¬
leben führt und, obgleich in ihrer Gesamtheit krank, gesund er¬
scheint, solange der Wahn nicht berührt wird. Beiden Autoren
nähert sich auch Kraepelin, indem er betont, daß solche Ideen
auf die Dauer nur das Übergewicht erhalten können, wenn eine
Umwandlung der Gesamtpersönlichkeit oder eine krankhafte Ver¬
ödung des geistigen Lebens eingetreten ist. Die Verbindung mit
der früheren Psyehose wäre bei unserer Kranken gegeben, wenn
wir annehmen, daß die Wahnidee aus dem Kreise ihrer früheren
krankhaften Vorstellungen stammte, oder daß ihre Urteilskraft
durch die überstandene Geisteskrankheit so geschädigt war, daß
sie einem absurden Gedanken keinerlei Gegenvorstellungen mehr
entgegensetzen konnte. Das erstere können wir nun nicht sicher
behaupten, da wir zu wenig über den Anfall wissen; zur Annahme
des letzteren kann ich mich nicht recht entschließen, da mir die
Kranke in ihrem geistigen Bestände nicht so stark verändert
oder herabgemindert erschien, um einen psychotischen Schwäche¬
zustand anzunehmen. Die Einreihung des Krankheitsbildes als
zirkumskripte Autopsychose im Sinne WernicJces würde am
wenigsten Schwierigkeiten machen, aber auch hier läßt sich nicht
alles den aufgestellten Bedingungen einordnen. Es fehlt die Er¬
innerung an ein affektbetontes Erlebnis, es fehlt die Ausbildung
des Beziehungswahnes, wozu doch bei der langen Dauer des Be¬
stehens der überwertigen Idee und dem günstigen Boden genügend
Gelegenheit war.
Immerhin gestattet die Lehre Wernickes eine Anl ehnung und
*) Geisteskrankheiten. 1878
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Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee. 349
■die Möglichkeit, an ein ganz selbständiges, ohne Zusammenhang
mit der früheren Erkrankung sich entwickelndes Krankheitsbild
zu denken. Man wird sich die Frage stellen, ob nicht hier ein
Fall vorliegt, in dem um eine primär aufgetretene Wahnidee
eine Psychose entstand, deren einziges Symptom diese Vorstellung
geblieben ist. Wir wissen, daß die Kranke eine Wanderniere besaß
mit einer nicht häufig vorkommenden Beweglichkeit. Es handelte
sich also bei ihr um ein chronisches körperliches Leiden mit mehr
oder weniger freien Zwischenzeiten. Die Entstehung liegt sicher
ziemlich weit zurück, aber erst die Menopause mit ihrer Veränderung
des Seelenlebens, mit ihren nervösen Beschwerden und Mißemp¬
findungen brachte der Kranken zum Bewußtsein, daß sie eine Ge¬
schwulst im Körper hatte, deren Wirkungen sie um so mehr beun¬
ruhigten, als sie keine rechte Erklärung dafür fand und erhielt,
wie es vielfach bei diesen Leidenden der Fall ist. In den kurzen
Bemerkungen, die die Lehrbücher über die Psychologie der mit
Wandernieren Behafteten bringen, finden wir übereinstimmend her¬
vorgehoben, daß die Kranken „Symptome der Hypochondrie und
Hysterie“ haben, daß sie an allgemeiner Gemütsdepression und
krankhafter Empfindlichkeit leiden, selbst wenn die lokalen Be¬
schwerden nicht sehr groß sind. Bei unserer Kranken haben wir
nun einen' ganz ausgebildeten Symptomenkomplex. Der Niere ist
es möglich, in einem großen Bezirk des Bauches sich fast frei zu
bewegen, sie begleitet jede Bewegung des Zwerchfells und der
Därme, die schlaffen Bauchdecken bieten keinerlei Widerstand;
die Nierfc sefbst kann sich um ihre Achse drehen, sie folgt dem
Druck und dem Füllungsgrad der benachbarten Organe, verursacht
Kompressionen und Insulte entgegenliegender Darmteile. Die er¬
höhte Peristaltik der Därme ist eine vielfach beobachtete Begleit¬
erscheinung der Wanderniere. Es kommt zu Zerrungen der zur
Niere führenden oder ihr benachbarten Nervengeflechte. Bei der
Kranken hat sich eine Hyperästhesie der Darmnerven herausge¬
bildet. Wenn auch ausgesprochene Schmerzattacken nicht beob¬
achtet wurden, so kam es wohl'auch zu Knickungen des Ureters
mit akuter Hydronephrose; die merkwürdige Angabe der Patientin,
daß der Frosch auch in die Wasserblase komme, deutet auf Stö¬
rungen der Urinentleerung. Wir müssen bedenken, daß die Organ-
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350 H e g a r, Eine Tierillusion als Grundlage einer isolierten fixen Wahnidee.
empfindungen unter normalen Verhältnissen unbestimmt und von
geringer Intensität sind; der erschreckende Eindruck, den das auf¬
dringliche Erscheinen eines gewissermaßen wild gewordenen Körper¬
teils macht, kann daher auch auf eine unversehrte Gemütssphäre
nicht hoch genug eingeschätzt werden. In ihrem Kansalitätsbe-
dürfnis dachte die Kranke zuerst an Würmer, um dann im Tier¬
reich etwas höher zu steigen. Unterstützt wurde sie durch die
im Volk sehr beliebte abergläubische Vorstellung, daß man beim
Trinken am offenen Brunnen leicht Frösche verschlucke. Damit
war für ihren einfachen Sinn die genügende Erklärung da, „der
illusorische Erkenntnisakt war vollzogen“, wie Schule sich aus¬
drückt. Ihr Wahn ist die langen Jahre etwas ein für allemal
Fertiges geblieben, er beschränkte sich auf wenige Umdeütungen
der von der Niere ausgehenden Empfindungen; assoziative Be¬
ziehungen zu andern Vorstellungen traten nicht ein. Als mit dem
zunehmenden Alter, wie gewöhnlich, die Beschwerden der Wander¬
niere verschwanden, als die intensiven Reize nachließen, trat auch
die Korrektur des Wahnes ein; ich glaube jetzt, daß die Kranke
in den letzten Jahren ihres Lebens davon genesen war.
Im Kern des ganzen Krankheitsbildes waltet Dämonomanisches.
Aber nicht ein von außen kommender finsterer Geist quält die
Kranke, sondern ein Teil ihres eigenen Leibes nimmt die Gestalt
eines sonst harmlosen Tieres an, das ihr erbittertster Feind wird,
gegen den sie vergeblich den großen Apparat der medizinischen
Wissenschaft aufbietet. In der so scharf begrenzten Entstehungs¬
weise des Wahns auf Grund eines körperlichen Kraftkheitszu-
Standes beruht die Unfähigkeit zur Ausbildung eines ausgedehnten
Verfolgungswahns; alles spricht für die Selbständigkeit der Psychose.
Wollen wir ihr einen Namen geben, so halte ich die Bezeichnung
isolierte fixe dämonömanische Wahnidee für die geeignetste.
bv Google
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Uber induzierten religiösen Wahn und eine Hexen¬
glaubenepidemie 1 ).
Von
Wilhelm Mayer (Tübingen-München).
Nichts beleuchtet besser den Seelenzustand eines großen Teiles
der jetzigen Bevölkerung als der kürzlich veröffentlichte Erlaß eines
bayrischen stellvertretenden Generalkommandos, in dem hypnotische
Vorführungen, in denen besonders die Geister der auf dem Felde Ge¬
fallenen zitiert werden, als verboten erklärt werden. Allerorts greift
das Suchen nach dem Bekanntwerden mit übersinnlichen Gewalten
um sich (siehe das Anschwellen der theosophischen Bewegung), aller¬
orts hören wir vom Auftauchen mehr minder zweifelhafter Persönlich¬
keiten, die sich mit Wahrsagen, mit Prophezeiungen usw. befassen.
Letzten Endes spielt dabei die Ungeduld einer großen Menge nicht
nur sogenannter ungebildeter Menschen eine Rolle, etwas über die
zukünftige Gestaltung des Lebens, vor allem etwas zu erfahren über
das Schicksal der Angehörigen, die im Kampfe stehen. So sehen und
hören wir allerorts, aus mündlichen Erzählungen, aus Zeitungsnach¬
richten, wie die Aufmerksamkeit z. B. elftes Dorfes sich auf Persönlich¬
keiten richtet, die im Geruch stehen, Besonderes zu vermögen; wir
hören, wie z. B. in einem Dorf in einem Hause sich merkwürdige spuk¬
artige Dinge zugetragen haben sollen, wie ehrfürchtig staunend die
Bewohner das Haus umstehen, für sich etwas zu erfahren trachten,
wie sich ein Zeitungsstreit daran anschließt, wie Psychologen hin-
reisen und den Unwillen der Bevölkerung erregen, da sie durch eine
tatbestandsdiagnostische Untersuchung das Ganze als Unfug erklären;
wir hören, wie allerorts Betrüger sich als Wahrsager etablieren und
D Aus der psychiatrischen Klinik Tübingen; Vorstand Prof. Gaupp,
Geschrieben 1917.
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352
Mayer,
besonders in der Großstadt (ich erinnere nur an die Zeitungsinserate
Pariser, aber auch Berliner Zeitungen) einen Kreis bekommen.
Daß gerade hier bei uns in Württemberg unter der von jeher
stark mystisch-spekulativen Bevölkerung der Aberglaube während der
Kriegsjahre zugenommen hat, war zu erwarten, und wenn das nicht
an einer Fülle konkreter Beispiele immer gezeigt werden kann, so
liegt es in der Natur der Sache. In der Sprechstunde sieht man das
weniger. Nur, wenn starke hysterische Erscheinungen sich bemerkbar
machen, nur wenn die Angelegenheit einen forensischen Beigeschmack
bekommt, wird die Klinik oder Poliklinik konsultiert; so bekamen
wir u. a. ein junges Mädchen zu sehen, um das sich während des Krieges
die Dorfbewohner scharten, weil es merkwürdige Zuckungen bekam,
weil es wahrsagen konnte, und weil bei ihm unter allerlei geheimnis¬
vollen Andeutungen das Haupthaar verschwand; die Untersuchung
bestätigte den Verdacht, daß es sich um eine schwere infantile Hysterie
mit richtigen Anfällen handelte, und daß das Haar von der Kranken
selbst abgeschnitten war, die auf sehr energische Behandlung bald wieder
unter den „Normalmenschen“ des Dorfes verschwand. Einen anderen viel
krasseren Fall sahen wir einige Zeit später; ihm 1 soll der Hauptteil
dieser Abhandlung gelten; er ist besser untersucht, leuchtet mehr in
die Psychologie eines Dorfes, ist psychiatrisch nicht uninteressant und
ist wiederum mit einer uns durch eine Chronik bekannten und volks¬
psychologisch interessanten Hexenglaubenepidemie verquickt.
Im September 1917 schrieb der Ortspfarrer aus einem württem-
bergischen Dorfe W. $n die Klinik, daß in seiner Gemeinde ein lOjähriger
Junge sei, der viel von sich reden mache. Er leide an somnambulen Zu¬
ständen, habe manches richtig prophezeit, spreche eine merkwürdige
Sprache, mache auf die Leute im Dorf, einen großen .Eindruck. Die Sache
sei ihm aber nicht geheuer, und er wäre dankbar, wenn man den Jungen
einmal auf kurze Zeit aufnehmen wollte. Die Lenrerin, die ihn brachte,
wußte oder wollte wenig Anamnestisches wissen; sie hatte wohl Angst,
es könne ihr schaden. Es war nichts von ihr zu erfahren.
Der körperlich gesunde, kräftige Junge wurde am 21. 9. 17 in die
Klinik aufgenommen. Er weinte anfänglich stark, war stark von sich
überzeugt, fühlte sich als wichtige Persönlichkeit, machte einen pfiffigen
Eindruck; erzählt flott, fühlt sich bald heimisch, bekommt aber bald im
Bett einen seiner sogenannten Anfälle; er setzt sich plötzlich auf, stiert
starr nach der Decke, zeigt mit einem Finger hinauf und ruft halb pathe¬
tisch, halb ängstlich: „Jetzt kommt er, jetzt kommt er!“ Da die Um-
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Ober induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 353
gebung etwas lacht und ihn zurechtweist, gibt er gleich den Zustand
auf, läuft einige Male ängstlich im Zimmer auf und ab, wird in ein Bad
gebracht; dort wird ihm die Suggestion erteilt, daß er ganz heile, wenn
er jetzt ein Bad nehme. Nach einer Viertelstunde kommt er aus dem Bad
in sein Zimmer, strahlend „jetzt bin ich gesund“, „jetzt ist alles aus mir
heraus“. Zu seiner Anamnese gibt er selbst nun folgendes an:
Er sei 10 Jahre alt; gehe in die Volksschule in W. Mit dem Lernen
gehe es nicht so recht; das Rechnen besonders falle ihm schwer. Sein
Vater sei am 1. Juli 1916 im Felde gefallen; das habe er ganz genau voraus¬
gesagt, und so sei es auch eingetrolTen. Ein halbes Jahr vorher habe er
schon immer gesagt, daß der Vater an einem Kopfschuß auf Posten fallen
werde. Das habe ihm während eines Gebetes sein „Führer“ gesagt; den
„Führer“ sehe er oft; das sei ein weißer Engel. Als der Vater gefallen sei,
habe man (das bestätigte auch die Lehrerin) aus dem Felde einen Brief
bekommen, daß er an einem auf Posten erlittenen Kopfschuß gefallen sei.
Mit der gesunden Mutter stehe er sich gut. Er habe noch eine Schwester
von.6 Jahren, die aber nie so etwas wie er erlebt habe. Seine Mutter
sei sehr fromm, ginge viel in die Kirche, noch mehr aber in die „Stunde“
(religiöse Sektenversammlungen). Die Mutter habe ihn schon als kleines
Kind mitgenommen, da habe er schon von dem Hexenprozeß gehört,
der vor vielen Jahren in W. gespielt habe. Jedesmal, wenn er seine „An¬
fälle“ gehabt habe, hätte ihn die Mutter mit in die „Stunde“ genommen.
Da sei die Bibel für den Jungen ausgelegt worden, man habe viel vom
Antichrist gesprochen, er habe nicht alles verstanden; die Anfälle hätten
in der Stunde immer aufgehört. Weil er solche Anfälle habe, hätten ihn
die Leute in der Stunde gut leiden mögen. An diesen Anfällen
leide er seit ein paar Jahren. Sie kämen oft einmal, oft aber auch bis zu
sechsmal am Tage. Es krampft ihn in der Herzgegend, er falle hin; wenn
er dann bewußtlos sei, komme sein „Führer“, ein Cherubim, zu ihm,
der habe ein weißes Gewand und goldenes Haar. Dann müsse er laut
sprechen und beten; die Mutter ruft dann die Leute aus dem Dorfe. Dann
habe er auch einmal gesagt, daß sein Vater an einem Kopfschuß fallen
werde. Seitdem hätte er immer über das, was mit den Leuten im Dorfe
geschehe, reden müssen. Im Juli 1917 habe ihm sein „Führer“ im Anfall
gesagt, er solle zu seiner Tante gehen, sonst müsse er bestraft werden.
Er sei hingegangen und habe dort erfahren, daß eine Kuh und ein Schwein
krank seien. Da sei er in einen Anfall gefallen, habe im Anfall
einen Sack vergraben, damit die Tiere gesund würden, und habe gebetet.
Am nächsten Tage seien die Tiere gesund gewesen. Das habe sich gleich
im Dorfe herumgesprochen. Die Leute hätten dann den „Führer“ gerühmt
(den Engel nenne er auf dessen Befehl Führer). Mit seiner Mutter sei er
wegen der Anfälle schon in ... (Gesundbeteanstalt) und bei einem Herrn
St... gewesen; genützt habe aber auch hier das Beten nichts.
Diese Angaben macht der nicht intelligente, aber sehr schlaue und
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•Go*, igle
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pfiffig Ju^ägr' sehr ibfelintsaptrn'daßWts ^ Bi’pdruck hier direkt.
Kun?äi*afi?*rt«'njf Angabe *Ij»s pjForreris ii(jr Öe...
jinHödeK/.-ErkAt iü«d- weil •ö'?etgisäi
\nkitU Kratddiafte. 1 *mehr geboten. Die Mutter
k«>e taten t\i>- u'n-'ht vfiviK 9O.0' z-U'h aut, wie vm».• svojmisehen war,
läö <Mn>> Fr» u
handeln.
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Wi. Mit; und iwieres.ssnt war. was de/ Pfarrer der Gemeinde. der den
Jungen hier besucht#,. iifeer de* Pak '«»d irtsbeKOuder« tlbvr die Zustande
»ns irtil tt-flie. • • Bei* Pfarrer bra-hlt auch. 2 Büem-/ mH. »n die
Jungt- im Anfc-il a« «o<:5j. und die •von.der Moüur und .von einer Rodt e von
Lauter, im Dorf $),* -o Uvea* wie ein*-- hedig* Gdrministhrfft angesGiv«
Ober intioiit»rt**« rtügjtös«» Wahn und ein»« Hexdngl&tibenojndeflii*’
rers\ eöifchidi, * bringo ich hier*lfe |?b<;‘tograjkWt* zwier
nichts zexgnü *;d».bui a&samm.enhaflgloscs öiscbreibj:ai ^
B*£Pfaei*r m&äifs au>fi verberge m Dq>*C aUee y<ir «hm; wett;» eWras
Bcsondeffts ««*,' ia,u& abe;? in «jn btmadhbiirtes D«H zum .He^ühaimer ;*i
ln der Gemeinde sei Viel AWgiat&ef«.- • Die Mutter dee Pal. *t’i besonds-»
dumm und Ä&et’giänidsrh: 4ns läge« so in der Farnihe. Man spräche <n <Jte?
fpSpS
Co« gle
Origiqa'l'fröm;:
Ä^ERSfaY Öf&illG
356
Mayer,
scher Stimme und starren Augen gepredigt; meist seien es Bruchstücke
aus der Offenbarung Johannis gewesen. Zahlen über die Dauer
der Welt (restlos der Offenbarung Johannis entnommen) hätten eine
Rolle gespielt. Da die Äußerungen des Jungen in diesen Zuständen ihn
interessiert hätten, habe er die meisten stenographisch aufgezeichnet.
Ich bringe hier einen Teil des Stenogramms:
Gespräche des E. B. mit Geistern nach stenographischer Nieder¬
schrift des Pfarrers in der Zeit vom 11. 9. 17 an:
Mamme, lies Psalm 76. — Jetzt müßt ihr 2 Tage da bleiben. Hände
Zusammenlegen. Das gibt’s nicht, dort hinaus! Ich brauche dich jetzt
noch nicht. Her ihr 2! Der andere soll auch kommen. Die dürfen erst,
wenn die fertig sind, kommen. Dann tu ich kein Amt für euch, wenn
ihr die Hände nicht zusammenlegt. Jetzt die Hände so! (Zur Mutter:)
Psalm 76! Hände zusammen lassen! Ich jage euch noch fort. (Er springt
zum Bett heraus.)
Wieder im Bett: Du schwarzer Satanas, weich im Namen Jesu!
Der ist mir widerspenstig. Du kannst auf die Gasse hinaus. Ihr könnt
dableiben. Zu wieviel seid ihr ? Zu 7 ? Wie heißt du ? Daumenfinger
übers Kreuz.
(Kommt an die Kommode mit geschlossenen Augen:) Das Buch,
das schwarze!
(Er fängt an zu schreiben, rennt wieder davon.)
Pfarrer: Wo hast du das Buch gekauft? Bei A. . . .
Er: Psalm 96! Pfarrer: Hast du mich gemeint? Ja!
Die Schwester kommt ins Zimmer. Er rührt sich nicht. Macht
dann eine wegwerfende Gebärde. Sie geht. Er öffnet halb die Augen.
Im Nebenzimmer: Heute nacht 12 Uhr. In 3 Tagen. Morgen in
8 Tagen dürft ihr kommen. Allemal 3, weiter nicht. Die andere W T oche
um 7 Uhr. Das sind die 7 Sakramente. Fällt auf den Boden. Wacht auf.
*,Schon vorbei!“
Mamme, ich nehm ihn nicht an. Warum plagt er mich so? Er
schmeißt den Rechen um und schlägt den Laibschießer aufs Hirn.
Pfarrer: Was hast du geschrieben? Antw.: Ich weiß nicht. Mutter:
Was hat er denn gesagt? Antw.: Der Herr Pfarrer wird belohnt. M.:
Darf der Herr Pfarrer nicht wissen, was darin steht? Antw.: Er wird’s
schon noch erfahren, es wird noch alles gelesen. Mamme, ich sage meinem
Führer, ich nehme ihn nicht an. 2 Schwarze sind gekommen.
Er rennt zur Treppe, die er im Nu hinabspringt. Pfarrer nachher
zu ihm: Auf einmal fällst du noch hinunter. Antw.: Nein, ich falle nicht,
mich hütet stets ebber. Pfarrer: Ist dir nicht übel. Antw.: Jetzt ist mir
ganz wohl, aber nachts habe ich Schmerzen. Heute nacht um 42 Uhr ist
ein Engel gekommen. Ich habe die Mutter nicht geweckt. 3 Geister, die
haben eingehen dürfen. Ein Geist ist in einer Wolke hinauf. Das ist
feierlich gewesen. Oben steht: Unser Vater in dem Himmel oben an der
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Ober induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 357
Himmelstör. Dort haben sie hineingedürft. In ein schwarzes Kämmerlein,
und dann in eine Stube, so groß wie Stuttgart. Lauter Bücher, groß
und breite. Immer 3 werden in ein Buch geschrieben.
Pfarrer: Sag mir, was hast du geschrieben? Antw.: Wenn mein
Führer kommt, kann ich es lesen. Er kommt jetzt nicht, er ist schon das
Tal hinunter, hinter ihm flattert ein Band, da steht: in den Krieg. — Herr
Pfarrer, kommen Sie immer um 7 Uhr. Dann dürfen sie es sehen. Das
ist mir gesagt worden. Frau Pfarrer soll auch kommen. Das ist eine
fromme Frau, hat der Führer gesagt.
Die Mutter fängt an zu weinen, der Anfall kommt wieder.
Am 13. Sept. E. ruft: Psalm 105 beten! Was wollt ihr beten?. Das
wieder: Jesus nimmt die Sünder an? Guck, ihr könnt’s. Keiner Gnade
sind wir wert. Sagt’s alle mit einanderher. So so. Wenn ihr nicht beten
tut, müßt ihr fort, dürft nicht mehr kommen. Ihr wißt, daß ich einge¬
schrieben bin, daß ich dazu geboren bin zu dem Heil. So jetzt das Vater¬
unser. So weiter, schön die Hände Zusammenlegen. Ihr dürft alle Tage
kommen, bis euch Gott ruft. Fest beten (wie im Ärger): Psalm 105 beten!
Mutter liest Psalm 105. Er ruft: Ps. 110. Mutter liest. Wollt ihr nicht
mehr beten? Jetzt sagt mir: seid ihr etwas Gutes? Sagt die 3 höchsten
Namen. Kannst du das sagen: Gott der heilige Geist. So. Du auch! Noch
einmal du! Gott der Vater, der Sohn und der h. Geist. Amen.
Woher bist du? Von Berlin! Du auch von Berlin? Du von Stutt¬
gart! So, was habt ihr angestellt? Was ihr angestellt habt? Sonst
dürft ihr nicht mehr kommen. Was hat er dir getan, warum hast du dies
Kind gemordet? Was hat es zu leid getan? Du hast denkt, daß es
nicht da wäre, daß es nicht Kummer trage. Meine Mutter muß auch
Kummer tragen.
Du bist ein Buchhalter. 5 Kinder und eine Mutter. Warum hast
du der alles aus dem Hals gezogen? Was hast jetzt von deinem Geldsack?
So daß du viel Geld hast! Warum ... jetzt ein paar Briefe in einem unter¬
irdischen Gang im Keern (Keller). 5 Briefe, da will ich nachgucken. Wo
liegen sie? Soll ich nachgeben? Dann will ich herausfinden, was das
heißt. So, das heiß ihn. Deswegen bist so wüst gegen mich. Gib Antwort!
Hast noch Geld darin? Aufmachen! Wieviel Mark sind drin? 35. Was
hast du mit dem Geld gewollt ? Nicht genug mit deihem Lohn. So in den
Himmel kommen?
Du hast 2 Männer gemordet? Du und dein Bruder? Den bringst
morgen mit. Um y 2 4 Uhr. Wenn der Herr Pfarrer nicht da ist, nicht
bringen. Warum dann nicht kommen? Ist das ihr Begleiter, daß ihr
kommen könnt? Warum dürft ihr dann nicht kommen? So weil er
fromm ist. Das ist ein jeder Pfarrer. Wenn er nicht fromm wäre, hätte
er kein Menschenherz. Nichtin Himmel. Bin ich nicht fromm ? Ja, wenn
ich fromm bin, braucht der Pfarrer nicht immer da herlaufen und sich
plagen. Die andere Woche, um 7 Uhr, so? So lange bleiben wir nicht
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Mayer,
mehr, das steck ich auf. Dann will ich ins Bett. Ich bin müde. Das gibt’s
nicht mehr. Warum um 12 allein, ohne Pfarrer? Weil’s Nacht ist Das
muß ich nicht wissen. Dann steck ich mein Sach auf. Raus mit der Färb.
So weil euch da ... Jetzt müßt ihr wieder fort? Aber zu mir selber will
ich kommen. Fort dürft ihr nicht.
Wollt ihr nochmals beten. Wenn möchtet ihr in Himmel kommen,
dann will ich’s meinem Führer sagen. Ich will ihn fragen, wenn ich bei
mir selber bin. Jetzt laßt mich zu mir selber kommen. So, dann müßt
ihr fort. Du Schwarzer: Gott hilft. Albert sag’s du.
Pfarrer wurde am Samstag den 15. geholt. Als er kam, spricht
E. das Lied: Jesus nimmt die Sünder an. Nachher: Mamme, sie sprechen
aus mir heraus. Sjeite 119 in der Bibel. Nimm sie zu dir, wenn‘s nur in
ein Kämmerlein tust. Nimm sie doch gnädig an, sind doch auch deine
Schäflein gewesen. Sei so gut, gieb ihnen Gnade, sprich nur ein Wort,
das ist dir ein kleines. Und wirf sie nicht in die ewige Verdammnis. Du
kannst, jetzt kann auch dieses Wenden. Christi Blut und Gerechtigkeit
usw. — Herr meinen Geist befehl ich dir, mein Gott weich nicht von mir,
nimm mich in deine Hände. Die göttlich Kraft macht uns sieghaft durch
Jesum Christum. Amen.
Seite 154. Jetzt morgen dürft ihr eingehen. Morgen nimmt euch
Gott an. Dann dürft ihr nicht mehr in solchen Pfuhl gucken. Er betet:
Herr sprich nur ein Wort, so ist es schon getan.
Mutter liest Seite 154. Es klopft lang und stark. E.: H^rr Pfarrer.
Sie sollen getrost sein, es sei nichts Böses.
Mit ganz veränderter Stimme: Du sollst glauben und nicht zweifeln
an Gottes Wort.
Mamme ist der Herr Pfarrer fort? Da lauft er unter deiner Hand
durch. Wer? Hermann heißt er.
Zum Pfarrer: In ihrem Keller ist etwas verborgen. Sind 27 Geister
drunten. Und die kommen raus.
Der Anfall kommt wieder. Wühlt im Bett. Schlägt an ein Gruppen¬
bild mit geschlossenen Augen, auf die Bilder der im Kriege Gefallenen.
Er weint.
Der Junge wurde hier, von seinen Anfällen geheilt, nach kurzer
Zeit entlassen. Vom Schultheißen, der mit argem Zorn auf derartige
Dinge in der Gemeinde schaute, erfuhren wir hinterher, daß die Mutter
des Pat. vor einem Jahre im Dorfe auf freiem Felde ein Sofa ver¬
brannt hätte, weil es verhext gewesen wäre. Kurze Zeit nach der Ent¬
lassung schrieb der Pfarrer, daß der Junge nun keine Aufregung ins
Dorf bringe, daß aber schon wieder eine andere Sache „los“ sei, daß
nämlich eine Frau aus abergläubischen Vorstellungen heraus ihr Kind
als Holzscheit ins Feuer habe werfen wollen.
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Ober induzierten religiösen Wahn and eine Hexenglaubenepidemie. 359
Es war nun sehr interessant, zu verfolgen, daß in dem gleichen
Dorfe 19 Jahre zuvor eine Sache spielte, die damals großes Aufsehen
erregte, die zu einem Gerichtsverfahren führte, und die besonders
kraß den Aberglauben dort aufdeckte. Es handelte sich um eine
Hexenglaubenepidemie. Ich habe nun versucht, die damaligen Ge¬
richtsakten zu bekommen, um ein Bild von der ganzen Angelegenheit,
die noch im Munde vieler in jener Gegend ist, zu bekommen; es war
vergebens; die Akten sind nicht mehr da. Dagegen bekam ich über
jene Zeit ein anderes, vielleicht noch interessanteres Dokument,
nämlich die Ortschronik des damals amtierenden, jetzt schon lange
toten Pfarrers, die sich durch eine gute Darstellung, einen angenehmen
Humor und eine recht kritische Einstellung all jenen „mystischen“
Erscheinungen gegenüber auszeichnet. Die Chronik ist etwas behäbig
und umfangreich, verweilt oft lange bei Kleinigkeiten, aber sie ist
doch für die Psychologie eines ganzen Dorfes und für den Aber¬
glauben seiner Bewohner und der daraus entspringenden Gegensätze,
Anfeindungen unter den Bewohnern so charakteristisch und wichtig,
daß ich die Chronik hier wörtlich wiedergeben möchte. Dies ist sie:
Es sei dem Chronisten vergönnt, zunächst einen Rückblick auf die
dem Jahre des Beginns dieser Ortschronik unmittelbar vorangehenden
Jahre zu werfen, da in denselben die Gemüter des ganzen Fleckens durch
seltsame bingein hochgradige Erregung versetzt wurden. Was der Chronist
hier zu berichten hat, wirft freilich auf den Kulturstand unseres Land¬
volkes am Ende des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts des Dampfes und
der Elektrizität, ein grelles Licht und zeigt, welche ägyptische Finsternis
des Aberglaubens, begünstigt wohl einerseits durch den mystischen Zug
unseres deutschen Volkscharakters überhaupt und des schwäbischen
Stammes insbesondere, andrerseits wohl auch durch den geringen Bildungs¬
grad unseres Landvolkes, noch heutigentags über der bäuerlichen Be¬
völkerung sich lagert. Vom Sommer 1896 an bis tief ins folgende Jahr
hinein stand K. unter den Zeichen der „Hexen“. Seit Sommer 1896 traten
bei der S. Z., Tochter des Wirtes M. Z., geboren hier den 20. Dezember 1881,
hysterische Krankheitserscheinungen auf, teils in Gestalt nächtlicher
Lach- und Weinkrämpfe, welche das vollsäftige, über ihr Alter entwickelte
kräftige MädchenzumGrausender Nachbarschaft schüttelten, und Während
derer die Kranke von mehreren Personen von ihren Versuchen, aus dem
Bett zu springen, gewaltsam zu rück geh alten werden mußte, teils an dem
von den Medizinern sogenannten „Globus“ (Gefühl des Aufsteigens einer
Kugel von den Füßen bis zum Halse). Allmählich gestaltete sich dann
die Krankheit etwas anders: die Kranke begann während jener Anfälle
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Mayer,
allerlei tolles Zeug herauszuschwatzen und bekam allerlei Visionen; am
Abend des Adventfestes 1896 z. B. sah sie den Heiland und einen ver¬
storbenen Bruder namens „Hannesle“, und als an diesem Abend der Orts¬
pfarrer von einer Verwandten der Familie zu der Kranken geholt wurde,
da sang sie — in völlig unzurechnungsfähiger Geistesverfassung, denn si*-
erkannte denselben nicht — das Lied: „Aller Gläubigen Sammelplatz"
und das Konfirmationsgelübde: Herr Jesu, Dir leb ich usw., und zwar
mit sanfter, gedämpfter Stimme, so daß man sich an diesem Krankenbett
fast hätte erbaulich gestimmt fühlen können, wenn nicht fortwährend das
Mädchen mit wallenden aufgelösten Haaren sich auf seinem Lager auf¬
gebäumt hätte, freilich nur, um sofort von etlichen Mädchen niedergehalten
zu werden, welche auf ihrem Bette saßen, stets bereit, sich mit ihrem Ober
körper auf und über die Kranke herzuwerfen und ihr so ein etwaige?
Herausfallen oder Herausspringen unmöglich zu machen.
Wenn es schon ob all dieser Krankheitszustände vielenLeuten gruselte,
so sollte es bald noch ganz anders kommen.
Bald bekam die S. Z. noch eine Kameradin in der Person der Chn
stine B., Tochter des Bauern J. B. Dieselbe war hier geboren den 1. No
vember 1878, somit damals ca. 18 Jahre alt und 3 Jahre älter als die Ge
nossin ihrer Leiden. Auch ein sehr kräftig entwickeltes, groß gewachsenes
robustes Mädchen, aber, wie der Pfarrer erst später erfuhr, von schwachem
Nervensystem, in jüngeren Jahren war sie schon mit nervösen Zuständen
behaftet. Wegen solcher hatte sie einen Dienst, in den sie als ca. 15jähriges
Kind nach E. gegeben worden war, wieder aufgeben müssen; sie selbst
mit ihren Angehörigen schrieb freilich jene Erkrankung einem verhexten
Zimmetstern zu, den sie damals arglos gegessen habe. Ob ein jüngerer
Bruder von ihr, namens G., auch einmal einen solchen gegessen hatte,
weiß der Chronist nicht; item, jedenfalls hat auch dieses Kind schon
nervöse Zustände gehabt. Eigentümlich ist auch der Umstand, daß di*-
Großmutter dieser Kinder, die Mutter des J. B.', für eine Hexe galt
Es war im Herbst 1896 — leider vermag der Chronist weder Monat
noch Tag genau festzustellen —, als die Ch. B. in ähnlicher Weise wie di*-
S. Z. erkrankte. Da sie auch über Verstopfung und Beschwerden in den
Gedärmen klagte, gab ihr der behandelnde Arzt, Dr. F. von T., dem nächst -
gelegenen Ort jenseits der badischen Grenze, ein Abführmittel. Als nun
gerade niemand von der Familie sich in der Stube befand, da fing das
Mittel zu wirken an, und dabei geschah nun eine große „Moritat“:
In der Gelte, welche die Kranke benutzte, fanden sich, mit Kot
vermischt, vor: eine gerade Stricknadel, eine gebogene Haarnadel, ln
Absatznägel, 2 Hufeisenstumpen, 2 Tuchflecke, ein handlanges Stück
Zuckerschnur, 3 Hemdenknöpfe, einer von Bein und einer von Messing.
Noch am selben Abend, an welchem dieses im vollsten Sinn des
Wortes Unglaubliche — wie schon gesagt, in Abwesenheit der übrigen
Familienglieder — geschah, bew. geschehen sein sollte, zogen die L^ute
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Über induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 361
den Arzt aus T. dazu und zeigten ihm die ganze Bescherung. Er aber
drehte sich — so erzählten dem Chronisten die Angehörigen der Kranken —
ob dieses unerwarteten Resultats seines Abführmittels höchlich über¬
rascht auf dem Absatz herum und nahm Gelte samt Inhalt zu näherer
Untersuchung mit heim. Als der Ortspfarrer auf die Kunde von diesen
Dingen andern Tages zu dem Mädchen kam und sich die Sache erzählen
ließ, fand er dieselbe völlig bewußtlos in schweren Krämpfen liegend.
Von diesen hat es sich zwar rasch erholt, nicht ebenso rasch aber erholte
sich die Familie mit ihrer Verwandtschaft und Gefreundschaft von dem
erschrecklichen Eindruck jenes Abends. Wohl gab der Pfarrer sich alle
Mühe, den Eltern beider Mädchen klar zu machen, daß deren Krankheit
eine durchaus natürliche Möglichkeit sei. Wohl gab er seinen berechtigten
Zweifeln an der Möglichkeit und Wirklichkeit jener Stuhlgangs„affäre“
ehrlichen Ausdruck. Wohl suchten auch die beiden Ärzte, Dr. S. von M.,
der die S. Z. behandelte und gar oft bei ddr Nacht seine Elektrisiermaschine
gegen sie spielen ließ, wie auch Dr. F. von T. als Hausarzt der Familie B.
die Leute zu belehren und zu beruhigen. Aber mit der Dummheit kämpfen
die Götter selbst vergebens, man dürfte freilich diesem Zitat noch hinzu -
fügen: auch mit der Lieblosigkeit, der es nicht darauf ankommt, den
Nächsten zvt verraten, afterreden und bösen Leumund von ihm zu machen:
die Wurzel des Aberglaubens liegt ja nicht bloß im Verstand, nicht bloß
in mangelnder Erkenntnis, sie liegt tiefer, im Herzen und des Herzens
Tücke und Härtigkeit, in der das große Gebot: Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst, keinen Eingang findet.
Kurz und gut: die Leute ließen es sich nicht nehmen, daß alle diese
Dinge nicht natürlich zugehen, daß die „baisen Leute“ vielmehr dabei
im Spiel sind, daß alles auf Rechnung der bösen Geister und Hexen
komme.
In dieser „Überzeugung“ wurden die Angehörigen der Kranken
mit ihrem nicht kleinen Anhang von zwei sehr verschiedenen Seiten her
bestärkt. Nach jener Stuhlgangsgeschichte hatte sich J. B. an Pfarrer Bl. 1 )
gewendet und diesem den Vorgang berichtet. Man hätte nun füglich an¬
nehmen dürfen, daß Pfarrer Bl. zunächst vorsichtigerweise entweder mit
dem Ortspfarrer oder auch mit dem behandelnden Arzte sich ins Be¬
nehmen gesetzt hätte als mit denjenigen Personen, welche den ersten und
besten Einblick in diese kuriosen Dinge zu besitzen in Anspruch nehmen
durften. Davon geschah aber nichts. Vielmehr redete er in einem am
4. Dezember 1896 an B. geschriebenen Briefe von „Zauberei“ und schrieb
u. a.: „Das soll und darf nicht sein, daß der Feind solche Sachen anrichtet
in solcher „Unnatürlichkeit““.
*) Pfarrer Bl. ist ein im ganzen Lande bekannter, viel von’Kranken,
nicht zuletzt von abergläubischen, aufgesuchter Mann, der wohl eine
große suggestive Kraft hat. (Ref.)
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 3. 25
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Mayer,
Wohl schwächte der Pfarrer Bl. nachher dieses sein Gutachten
einigermaßen wieder ab, als infolge der steigenden Aufregung in der Ge¬
meinde etliche Wochen später auch der Ortspfarrer seinerseits an ihn
schrieb, ihm mitteilte, daß die Leute glaubten, die Mädchen seien verhext,
und einzelne Gemeindeglieder als Hexen, die an deren Zustand schuld seien,
verlästerten, und bei ihm rund heraus anfragte, ob .er solches b illige.
Daraufhin schrieb Bl. dem Ortspfarrer unter dem 13. Januar 1898: „Wenn
die Familie B. die Liebe Gottes zu den Nebenmenschen so sehr verleugne,
daß sie diese öffentlich schmähen, anstatt das Gebot: Liebet eure Feinde
zu halten, so will ich keine Gemeindschaft damit haben.Wo Aber¬
glauben ist, da ist kein wahrer Glaube. Auch wenn eine Krankheit dämoni¬
schen Charakter hat, ist’s eine Trübsal, die nur in Buße und Glauben
getragen und überwunden werden kann.“ usw.
Auch legte Bl. einen offenen Brief an J. B. bei, in welchem er die
Leute dringend warnte, sie sollten doch um Gottes willen das Mädchen
nicht für verhext halten, seine Krankheit als eine natürliche ansehen und
behandeln, ihrem Pfarrer folgen usw. Aber was half’s? „Was ich ge¬
schriebenhabe, das habe ich geschrieben!“ Die Leute bleiben dabei; unsere
Kinder sind verhext.
Was aber zugunsten dieser Überzeugung wohl noch schwerer ins
Gewicht fiel als jenes Gutachten Bl.s, das war das Gutachten der ver¬
schiedenen „Hexenbanner“, welche von den Leuten konsultiert wurden;
darunter besonders ein Schmied von E. im Badischen, namens S., ferner
ein Schäfer von F., „Schafhannes“ genannt, namens J. -R. Dann soll
auch einer von B. hier vielfach praktiziert haben. yFer will es diesen Leuten
so besonders übelnehmen, wenn sie nach dem Grundsatz verfuhren:
Die Welt will betrogen sein, usw. ? Brachte ihnen doch die Leichtgläubig¬
keit der Leute in ihrer Praxis hübsche Einnahmen, zumal sie schlau genug
waren, auch ohne eigentliches Fordern zu ihrem Gelde zu kommen und
mit geziemender Gewandtheit sich um die drohenden Klippen der Ge¬
werbeordnung herumzudrücken. Die Anfälle der beiden Mädchen wurden
nun im Laufe des Winters immer heftiger und häufiger, und der ganze
Krankheitsverlauf trat allmählich insofern in ein ganz neues Stadium,
als die beiden Mädchen offenkundig nicht mehr bewußtlos und ohne
die Leute, welche um sie waren, zu kennen, dalagen, sondern dieselben
wohl kannten und darin wetteiferten, immer tolleres Zeug herauszu-
schwatzen. I nsbesondcre betrieben sie einen großartigenSport mit albernen
Drohungen; so z. B. sagte einmal die Ch. B. zu Schullehrer B., als er sie
einst besuchte: „Schulmeisterle, hinter dich kommen wir auch noch“; oder
zu ihrem Vater: „Wir werfen Euch von der Scheuernleiter herunter“, so
daß der Vater, wie er selbst dem Ortspfarrer erzählte, nie mehr dieselbe
bestieg, ohne vorher ein Vaterunser gebetet zu haben. Oder
zu einer hiesigen Frau: „Wart du kugelrundes Salzdorle, hinter dich
kommen wir.“ Daneben beschäftigten sich beide mit allerlei Enthüllungen,
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Über induzierten religiösen Wahn and eine Hexenglaubenepidemie. 363
namentlich über Todesfälle von Menschen und Vieh. Es starben damals
verschiedene Personen, die schon lange krank und siech gewesen waren;
von ihnen hieß es nun aus dem Munde dieser Konkurrentinnen der alten
Pythia: „Die haben wir hinausgeschafft“ und dergl. Wer aber diese „wir“
waren, das war ja klar. Das waren die bösen Hexen, welche in
den Mädchen steckten und aus denselben „heraus schwatzten.“
Ebenso klar war aber auch, daß all diese Drohungen und Enthüllungen
unbedingten Glauben verdienten, und man muß anerkennen, daß die
Einwohnerschaft hiermit nicht kargte.
Aber sie'begnügten sich nicht bloß mit verschleierter Andeutung
von allerlei Missetaten, nein, auch über die Personen, die an und in den
Mädchen als Hexen fungierten, konnte jedermann die gewünschte Aus¬
kunft erhalten. Eine ganze Anzahl von Gemeindegliedern, männliche und
weibliche, alte und junge, lebende und verstorbene, wurden auf diesem
Wege als schändliche Werkzeuge der finsteren Mächte, wie die Leute zu
sagen pflegten, entlarvt. Mit besonderer Energie wurden von den beiden
Kranken 3 hiesige Personen aufs Korn genommen, nämlich eine Jj6jährige
Frau namens D., ferner ein 22jähriges sittliches Mädchen, K. H., Strumpf,
kätter genannt, weil ihr verstorbener Vater Strumpfweber gewesen war,
und ein 68jähriger braver, fleißiger Greis namens J. H., genannt der
Fronenhannes. v
Was die erste, die D., betrifft, so- ist dieselbe von Sch. gebürtig,
und das abergläubische Landvolk pflegt an Leute, deren Wiege nicht
innerhalb des Heimatlichen Zehntens gestanden ist, gern den Verruf der
Hexerei zu hängen, wie denn einmal beispielsweise in jenen Zeiten ein
verheirateter älterer Mann, ein überzeugungstreuer Anhänger des Hexen¬
glaubens, im Wirtshaus mit der Faust auf den Tisch schlagend rief: „Alle
Weiber, die nicht von hier sind, sind Hexen“, aber kleinlaut verstummen
mußte, als man ihm entgegenhielt: „Dann hast ja auch du eine Hexe
* zur Frau, denn die deine ist auch nicht von hier.“ Es scheint auch, daß
die Frau D., welche keine Kinder und wenig Feldgeschäft und manchmal
freie Zeit hat, manchmal in etwas vorwitziger oder jedenfalls unvor¬
sichtiger Weise in fremde Häuser und Ställe hineingelaufen ist, und das
erweckt gleich Mißtrauen. Die Mutter der Strumpfkätter aber ist eben¬
falls nicht von hier und wurde wohl teils aus diesem Grunde, teils wegen
ähnlicher Unvorsichtigkeit beim Betreten fremden Eigentums von Anfang
ihres Hierseins an als Hexe gefürchtet: die Hexerei aber erbt sich in den
Familien fort, und nur die Anwendung der äußersten, besser gesagt un¬
sinnigsten, abscheulichsten Mittel, z. B. Hinaustragen einer Gelte
voll Menschenkotes im Munde auf den Acker, vermag nach
den Ansichten des Aberglaubens solchen Bann und Familien-
fluch zu brechen. Und als nun die K. H. im Dezember 1896 ein unehe¬
liches Kind gebar als Frucht einer Liebschaft mit einem jungen Gold¬
schmied, F. B., dem Bruder des Geliebten der S. Z., da mußte das arme
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Mayer,
Würmlein, kaum daß es etliche Tage auf der Welt war, auch schon eine
Hexe und an den Krankheitszuständen der beiden Mädchen mit schuld
sein. Der Fronenhannes aber hatte vor Jahresfrist das Unglück gehabt,
beim Holzmachen im Walde von einem Mitarbeiter mit einem Holzscheit
am Ohr verwundet zu werden, und da er die Wunde vernachlässigte,
wurde sie immer schlimmer, bis er endlich sich nach T. wandte,
wo die Ärzte sich genötigt sahen, ihm das Ohrläppchen abzunehmen.
Das wußte nun männiglich in K. sehr gut, aber dennoch erschien vielen s
vielgeglaubter als jener tatsächliche Hergang der Dinge die von der S. Z.
gegen den Mann ausgesprochene Verleumdung, der Hexenbanner habe
ihn als den Hauptmann der K.er Hexen erwischt und als Strafe ihm sein
Ohr abgeschnitten.
Kein Wunder, wenn solche hochinteressante Enthüllungen ein höchst
zahlreiches Publikum anzogen. Vordem B.schen Hause stand an manchem
Vorstellungsabend viel Volkes ungeduldig wartend auf der Straße,
bis die bereits drinnen Kopf an Kopf Lauschenden genug hatten und
andern Gelegenheit gaben, ihren Horizont zu erweitern und beim An¬
hören def unsinnigen Geschwätze teils sich von einer Gänsehaut um die
andere überrieseln zu lassen, zum Teil auch bangend und wehklagend,
wenn ihnen selbst etwas Böses prophezeit worden war, davonzulaufen.
Die Wirtsleute aber gaben geradezu offizielle Einladungen an gute Freunde
und Bekannte in den Nachbarorten aus, von welchen auch ausgiebiger
Gebrauch gemacht wurde, und sie hatten auch nichts dagegen, wenn nach
beendigter Vorstellung die Leute in der Wirtsstube ihr Gruseln wieder
hinabzuspülen sich bemühten. Später allerdings wurden wenigstens die
B.-Leute vernünftiger und ließen nicht mehr Krethi und Plethi herein.
Leider ist dem Ortsgeistlichen erst hinterdrein zu Ohren gekommen,
mit welch abscheulichen Zoten jene Produktionen gewürzt waren; sonst
hätte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, um bei den Behörden ein Verbot
der öffentlichen Schaustellung der beiden Mädchen wegen Gefährdung *
der öffentlichen Sittlichkeit zu wirken; allein die Gewährsleute des Orts¬
geistlichen waren zunächst dezent genug, ihm die volle nackte Wahrheit
vorzuenthalten und sich auf Andeutungen zu beschränken. So wurde
z. B. die Strumpfkätter von der S. Z. beschuldigt, einmal mit dem Vater
ihres Geliebten auf der Landstraße zwischen L. und K. Unzucht getrieben
zu haben, wobei der Hergang mit allem Detail beschrieben wurde!
Ihren Höhepunkt aber erreichten diese Schwindeleien, als etwa im
Monat März oder April ein guter Geist, namens Anna F., als Bundes¬
genossin der beiden verhexten Mädchen auf der Bildfläche erschien. Das
ging so zu. Als die guten Mittel der Hexenbanner nichts halfen, hatten
zu Anfang des Jahres 1897 die Angehörigen der beiden Kranken ihre
Zuflucht nach D. genommen, da sie den Pfarrer Bl. daselbst als Ober-
Hexenbanner betrachteten, und die Kranken für mehrere Wochen dorthin
verbracht. Daß sie dort keine Anfälle bekamen, ist sehr natürlich. Aber
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Ober induzierten religiösen Wahn und eine Hexenglaubenepidemie. 365
kaum waren sie weder zu Hause, so ging dieselbe Geschichte wieder los.
Dort in D. nun hielt sich damals ein Mädchen namens Karoline M. auf,
welches in andern Umständen war und bald darauf geheiratet hat, welches
auch mit den beiden Mädchen hie und da einige Worte wechselte. Ganz
zufällig ist der damals hier angestellte Unterlehrer N. nach Jahresfrist
mit dieser Karoline M. in seiner eigenen Behausung persönlich bekannt
geworden, als sie einmal mit einer befreundeten Lehrerfamilie, bei welcher
sie auf Besuch sich aufhielt, in das N.sche Haus kam. Dieselbe hat nach
Beschreibung des jetzigen Schullehrers N. einen unstäten, unruhigen Blick
und rote Haare. Beides aber gilt hier als sicheres Merkmal einer Hexe,
und beides wirft ein interessantes Licht auf den großartigen Humbug,
zu welchem jene Person derS. Z. nach deren Rückkehr bei ihren erneuten
Anfällen herhalten mußte. Das kranke Mädchen ist ja erklärlicherweise
in einer abergläubischen Umgebung aufgewachsen und von derselben tag¬
täglich in solchem Wahn bestärkt, selbst bis an den Hals herauf des Hexen¬
glaubens voll, und so hielt denn die S. Z. jene Karoline M. ohne Zweifel
für eine Hexe, und zwar, da dieselbe gerade in D. sich aufhielt, für eine
in der Bekehrung stehende Hexe. So verbreitete sich nun nach der erst¬
maligen Rückkehr der beiden Mädchen von D. die seltsame Kunde im
Flecken, im Wirtshaus sei ein guter Geist eingetroflen, um für die Kranken
zu beten und ihnen zu helfen.
Damit nun das Bild des Gebarens solcher hysterischen Mädchen
noch deutlicher werde, als es im Bisherigen geworden ist, soll dasselbe
nach Aufzeichnung eines Augen- und Ohrenzeugen, des eben genannten
Unterlehiers N., noch genauer geschildert werden. Die schwäbische
Mundart ist dabei ins Schriftdeutsche übertragen, das Unzüchtige und
Unflätige ausgemerzt, das Unwesentliche übersehen. Von den Ange¬
hörigen dazu, aufgefordert, ging der Genannte an einem Vorstellungsabend
ins Wirtshaus und wurde dort von der Kranken bzw. von den in ihr stecken¬
den Hexen begrüßt mit dem Zuruf: „Hohoho, jetzt kommt der auch noch!“
Auf die Frage: „Wer denn?“ kam die Antwort: „Haha, der Lehrer; ich
kenn’ ihn gut, kannst grad wieder fort, ich bleib eineweg da!“ Dabei
krümmte und bäumte sie sich wie ein Wurm, bemühte sich, aus dem
Bett zu springen, sich die Haare auszuraufen, die Decke von sich zu
werfen und ihre Brust zu entblößen, schlug mit den Armen wie wütend um
sich, verzog das Gesicht zu höhnischem Grinsen, schlug ein helles
Gelächter auf und spuckte den Anwesenden ins Gesicht. Während dieser
Szene aber schrie sie: „Hinmachen wir dich noch! Verrecken mußt du
noch! ’s ist noch lang’ bis 11 Uhr!“ Als Unterlehrer N. von dem Unge¬
wohnten, das er sah und hörte, betroffen, leise das Vaterunser betete,
wurde das Mädchen einen Augenblick ruhiger, aber bald ging es von
neuem los. „Schon wieder sind wir da“, schrie sie. „Was willst du denn
mit deinem Gebettel, du S... ?“ Als N. fragte: „Wer bist du denn?“,
bekam er den klaren Bescheid: „Die Strumpfkattei bin ich, verstanden?“
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„Ach, die ist ja daheim und näht.“ „Nein, da bin ich.“ „Ja, wo soll
denn dann dein Leib sein?“ „Ha, daheim auf dem Bett, geh hin und
guck!“ Plötzlich wurde die Kranke wieder ruhiger, tat, als - ob es ihr auf¬
stoße und war ganz vernünftig. Triumphierend stießen die Anwesenden,
einander an: „Habt ihr es jetzt gesehen, wie die Hexe jetzt gerade heraus -
gefahren ist?“ Das Mädchen klagte, wie matt sie sei, und wie das Lampen¬
licht so blende. Als sie aber den Lehrer ansah, lächelte sie, und auf einmal
begann der tolle Tanz aufs neue. „Schon wieder sind wir da! Jetzt sind
wir zu 16!“ „Wer hat euch denn geschickt? Seid Ihr wirklich vom
Teufel?“ „Ich tät auch noch fragen, freilich sind wir vom Teufel!“ „Der
Teufel hat doch aber jetzt keine Macht mehr, Christus hat ihm volle
Macht genommen, er ist Sieger.“ „Ach was, der Teufel ist Meister, was
Jesus, den gibt es ja gar nicht, ich pfeif darauf!“ „Wie bist du denn in
sie hineingekommen?“ „Kuchen habe ich gegessen und eine Mücke ver¬
schluckt, das ist der Teufel gewesen!“
In seiner Angst ließ der Vater den „Schafhannes“ von F. holen.
Als derselbe gegen 10 Uhr eintraf, begrüßten ihn die Hexen mit den
Worten: „Haha, da kommt der Hannes, das ist ja mein Namensbruder,
oho, ich bleib’ noch ein’ Weile da!“ Alles mußte nun die Stube räumen
und den Schäfer mit der Pat. allein lassen. Nachdem Unterlehrer N. in
der Wirtschaft mittels etlicher Schoppen Bier sich von seinem Gruseln ,
erholt hatte — er war an jenem Abend geneigt, den Zustand der Kranken
für Teufelswerk zu achten —, ging er wieder in das Krankenzimmer.
Das Mädchen lag jetzt ganz ruhig da und schien zu schlafen! Wie in
tiefste Andacht versunken lag der Schäfer, mehr auf der Kranken
liegend als über sie hingebeugt, da und plapperte unaufhörlich
über sie hinein. Was er sprach, war nicht verständlich. Doch waren
immer wieder die Worte vernehmlich: „Im Namen des Vaters und des
Sohnes und des hl. Geistes!“ Endlich betete er auch noch das Vaterunser,
wobei er in der 7. Bitte das Geschlechtswort „dem“ besonders betonte.
Die Anfälle stellten sich in dieser Nacht nicht wieder ein, und der Schäfer
ging heim, jedoch nicht ohne Begleitung.
Etliche Tage nachher ging Unterlehrer N. wieder hin. Der Anfall
selbst bot im ganzen nichts Neues, dagegen lieferte die Kranke dem kriti¬
schen Beobachter diesmal einen klaren Beweis, wieviel bewußter Betrug -
von ihrer Seite bei der ganzen Sache mit unterlief. Unterlehrer N. sah
ganz deutlich, wie sie, sobald jemand zur Tür hereinkam, mit den Augen
blinzelte, sie rasch zur Hälfte öffnete und wieder schloß, so daß sie stets
darüber unterrichtet war, wer im Zimmer zugegen war, obschon sie für
gewöhnlich mit geschlossenen Augen dalag. Ihre Reden machten an
diesem Abend auf N. den bestimmten Eindruck, sie sei auch hierbei zum
Teil bei vollem Bewußtsein gewesen. Merkwürdig war auch, daß sie dem
Lehrer niemals ins Gesicht spuckte, wie den übrigen Anwesenden. Als
nun im Verlauf des Abends die Mutter der Kranken einnfal betete: „Christi
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Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck“ usw., gab sie diesen Vers
in folgender Weise wieder: „Christi Blut und Gerechtigkeit ist nicht mein
Schmuck und Ehrenkleid, darin werde ich nicht vor Gott bestehen“ usw.
Ebenso machte sie es mit dem Vaterunser, als jemand dieses betete:
„UnserVater nicht in dem Himmel, dein Name werde nicht geheiliget“usw.
Zum dritten Male ging N. hin, als der „gute Geist“ angekommen
war. „Guten Abend, Sophie!“ Mit hoher, dünner Stimme sprach das
Mädchen: „Ach, ich bin doch nicht die Sophie, ich bin doch die Anna!“
„Was, Anna, du bist doch die S., deine Hand habe ich in meiner Hand,
du sitzest da, sonst niemand anders!“ „Ach, ich kenne dich ja gar nicht,
das verstehst du gar nicht! Ich habe zwei .„Geister“!“ „Ja, wer bist du
denn?“ ..Ach, ich bin gekommen, für die Mädchen zu beten, denn sonst
würden sie noch viel kränker, die bekämen den Veitstanz?“ „Wer hat
dich denn geschickt?“ „Niemand; ich weiß halt, daß die Mädchen krank
sind, und da bin ich gekommen.“ „Ja, wie kommst du denn da herunter
mit deinem Geist?“ „Haha, fragst du gespäßig; weißt, ich bin halt
halt da, ich muß es eben sagen, eine Hexe, aber das glaubst du am Ende
nicht.“ „Ich war früher eine Hexe, jetzt habe ich mich bekehrt, aber
noch nicht ganz, und ich muß noch zwei Jahre in der Bekehrung stehen,
die ganze Bekehrung dauert 7 Jahre.“ „Wie kamst du denn dazu, daß
du dich bekehrt hast?“ „Mein Schatz hat mich so weit gebracht. Ich
hab’ einmal einen Mann seine Scheuer herabgestürzt, daß er gestorben
ist, und dann hat mir mein Schatz keine Ruhe mehr gelassen; aber ich
hab’ dann viel dadurch von den andern zu leiden gehabt.“ „Du sagst,
du habest zwei Geister, wo ist denn dann dein anderer ?“ „Der ist in D.“
„Wo?“ „In meinem Stüble und schläft.“ Hier legte das Mädchen ihre
Arme bloß, und auf die Frage, warum sie das tue, antwortete sie: „Ha,
ich hab’ halt so eine Freude an meinem Speck.“ Auf die
weitere Frage: „Weiß denn das der Herr Bl. *)?“ sagte sie: „Ja.“ „Hat
er es denn dir nicht untersagt, fortzugehen?“ „Doch, aber ich bin doch
fort wegen der Mädchen.“ „Wie bist du denn heruntergekommen?“
„Auf einer Katze!“ „Hinter oder voran?“ „Nein, auf dem Rücken.“
„Wer hat dich denn dieses Kunstwerk gelehrt?“ „Meine Mutter hat
mich eben auch einmal mitgenommen; ich kann’s nicht mehr genau sagen,
wie es gegangen ist!“
In dieser albernen Weise ging das Gespräch weiter und lieferte nichts
anderes, als was das Mädchen von früher her über Hexen und Hexen¬
wesen aus dem Munde ihrer Umgebung vernommen und in sich aufge¬
nommen hatte. Um 10 Uhr abergab die Kranke bzw. der in ihr wohnhafte
gute Geist allen Anwesenden zum Abschied die Hand mit der Bemerkung,
um 11 Uhr müsse sie zu Hause sein. Dann stieß es ihr auf, worauf das
Mädchen sich in ihrem Bette hinsetzte und ganz gescheit und vernünftig
) jener bekannte Pfarrer
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war. Von dem guten Geiste hierzu ermuntert, reisten bald darauf die
beiden Mädchen zum zweiten Male nach D., woselbst sie ganz gesund und
normal waren.
Leider sollte nun die Anwesenheit der hilfreichen ,,Fräulein Anna“
für die Angehörigen ihrer beiden Schützlinge verhängnisvoll werden.
Dieselbe wünschte eines Tages die Katharine H. zu sprechen. Man schickte
hin, und in der Absicht, zu beweisen, welch gutes Gewissen sie habe, erschien
dieselbe auch wirklich im Wirtshaus. Bei diesem Anlaß war auch die
Mutter der Ch. B. anwesend, und von dieser wie auch vom Wirte wurde
die H. gröblich beleidigt. Erstere warf dem Mädchen vor: „Seit deine
Mutter meinem Maidle im Wald Stachelbeeren gegeben hat, ist sie krank,
und wenn die Fräulein Anna nicht gekommen wäre, hättet ihr unser
Maidle noch umgebracht.“ Der Wirt aber wandte gegenüber der Kath. H.
wiederholt die Hexenbeschwörungsformel an, bestehend in den oftmals
hintereinander zu sagenden Worten: „Ich bitt* dich um Gottes willen.“
Auch hat der Wirt eines andern Tages die H. und die D., als sie an seinem
Hause vorübergingen', bedroht, er stoße ihnen doch noch einmal die Mist¬
gabel in den Leib. Daraufhin hat nun die Kath. H. gegen die Frau B.
und den Wirt Klage angestrengt wegen Beleidigung und Bedrohung. Die
angestellten Sühneversuche waren ohne Erfolg, vielm ehr wurde die Klägerin
hierbei nur aufs neue beleidigt. Am 15. Mai 1897 kam es zur Verhandlung
zu L. Zahlreiche Zeugen waren dazu geladen, neben einer Anzahl von
Parteigängern des Hexenglaubens auch der Ortspfarrer, der Ortsvorsteher
und Dr. F. von T. Letzterer legte zum allgemeinen Erstaunen des an¬
wesenden Publikums auf dem Tische des Gerichts jene seltsamen Dinge
nieder, die nach Behauptung der Gh. B. an jenem Abend aus ihrem Leibe
gekommen waren. Die beiden Angeklagten wurden zu Geldstrafen und
zur Tragung der Kosten verurteilt. Die beiden kranken Mädchen hatte
man dabei ruhig in D. gelassen.
Groß war über dieses gerichtliche Erkenntnis die Freude aller derer,
welche für Hexen galten. Ein Söhnchen der Frau Schultheiß, einer hoch¬
achtbaren, herzlich frommen Frau, welche aber trotzdem als Hexe galt
und im Verlaufe der Vorstellungen im Wirtshaus von der S. Z. auch als
solche gebrandmarkt worden war, meinte am Abend des Gerichtstages:
„Nun lacht doch die Mutter auch wieder“. Die armen Leute tyußten eben
wohl, was für sie bei jener Verhandlung auf dem Spiele stand. Groß war
aber auch die Wut der Familie B. und Z. und ihrer beiderseitigen Ver¬
wandten und spnstigen Gesinnungsgenossen; und sie ward noch größer,
als am 14. Juni 1897 die Strafkammer des Landgerichts zu X. die von den
Verurteilten eingelegte Berufung verwarf und dieselben zu den Kosten
erster und zweiter Instanz verurteilte. Der Ortsgeistliche freilich und der
Ortsvoasteher, welche es in L. für ihre Pflicht gehalten hatten, kräftig
für die unglücklichen Hexen einzutreten, mußten ihren „Unglauben“ —
denn so bezeichnet der Aber- speziell der Hexengläubige den Standpunkt
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%
des Aufgeklärten — und ihren Freimut schwer büßen. Wenn sie den
beiden Vätern der krank gewesenen Mädchen begegneten, so waren sie
,,Luft“ für dieselben, und ohne Gruß, ja zum Teil mit gehässigen Reden
geleitet gingen sie an ihnen vorüber. Besonders wurde der Kirchenbesuch
empfindlich durch all’ diese Geschichten beeinträchtigt. Da bekanntlich in
den Augen vieler derselbe in erster Linie dem Pfarrer zuliebe geschieht,
so war am Sonntagvormittag die Landstraße nach Y. schwarz von Scha¬
ren „Andächtiger“, die ihre Erbauung im Gotteshause der Nachbar¬
gemeinde suchten, wobei es ' manchen unter den frommen Pilgern
natürlich auch nicht unerwünscht war, wenn an der Straße ein Wirts¬
haus mit seinem langen Arm ihnen zuwinkte, neben der geistlichen auch
die leibliche Stärkung nicht zu kurz kommen zu lassen.
Aber was schadet das? Männiglich war doch klar geworden, daß
es recht unangenehme Folgen haben kann, einen Nebenmenschen der
Hexerei zu zeihen, ohne ihn gerade auf dem Besenstiel zum Schornstein
hinausreitend gesehen zu haben, und nur in den vertrauten und ver¬
schwiegenen Zirkeln ihrer Gesinnungsgenossen wagten es nunmehr die
Hexengläubigen noch, die Namen der bösen Hexen zu nennen. Wenn
nur durch den ganzen Gang der Dinge den armen Leuten die Augen über
ihren unglückseligen Wahn selbst aufgegangen wären! Sollte aber dem
geneigten Leser dieser Wunsch im Herzen aufgestiegen sein, so muß der
Chronist bedauern, denselben als einen „frommen“ in des Wortes vollster
Bedeutung bezeichnen zu müssen, denn er ist fest überzeugt, daß noch in
vielen Jahren bei diesem und jenem Vorkommnis bei Mensch und Vieh
gezischelt und getuschelt werden wird: „Das ist nicht mit rechten Dingen
zugegangen, das haben die „baisen Leut’“ getan!“ Der Vater des Lichtes
woll’s bessern! Amen.
Dies die Chronik. Die Zeitungen brachten damals über den Prozeß
eine Notiz, die ich hier der Abrundung halber folgen lasse:
„Daß im Zeitalter der Elektrizität und des Dampfes noch der krasseste
Aberglaube wuchert, beweist eine Gerichtsverhandlung, die sich dieser
Tage vor der X.er Strafkammer abspielte. Es handelt sich um einen
veritabeln Hexenprozeß, der kaum glaubliche Dinge an das Tageslicht
förderte. Stuttgarter Blätter berichten darüber: Der Besitzer der Wirt¬
schaft .. • in ... hat eine Tochter, ein 13 Jahre altes hysterisches Mädchen.
Da die Krankheit des Mädchens den Bürgern höchst seltsam vorkam,
hielten sie das Mädchen für verhext, und da es in den Anfällen meistens
den Namen der .. in den Mund nahm, war dieses junge, unbescholtene
Mädchen die Hexe. Als Rädelsführerin der Hexen wurde eine ältere Frau
namens A. D. bezeichnet. In welchem Maße der Hexenglauben in diesem
Dorfe verbreitet ist, beweist der Umstand, daß der Pfarrer von ...» der
sich mit andern die größte Mühe gab, den Aberglauben auszurotten, vor
Gericht erklärte, wenn er gegen diesen Aberglauben gepredigt hätte, so
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Mayer,
wären ihm drei Viertel der Gemeinde nicht mehr in die Kirche gegangen.
Nach der Schilderung des Rechtsanwaltes Dr. L., der als Nebenkläger
auf trat, ist in W. wie in andern Orten der Umgegend noch allgemein der
Glaube verbreitet, daß daselbst eine ganze Reihe von weiblichen Hexen,
ja auch ein Hexenmeister, dessen Eigenschaft erblich sein soll, leben.
Sie verhexen Menschen, Vieh, Schweine und Kühe, und zwar werden den
zu Verhexenden Früchte oder sonstige Nahrungsmittel eingegeben. Ist
nun einmal eine Person oder ein Tier verhext, so bekommen sie alle mög¬
lichen bösen Anfälle, welche sich so steigern, daß sie zuletzt den Tod zur
Folge haben. Es wurde festgestellt, daß unter den dortigen Bürgern
einige waren, die den beiden vermeintlichen Hexen Todesfälle letzter Zeit,
Krankheiten aller Art von Tieren und Menschen zuschrieben. Hiergegen
werden Hausmittel angewendet, darunter zum Teil nicht wiederzugebende
Sprüche aus der Bibel. Doch das Hauptmittel ist der Hexenbanner, der
mit vielem Kostenaufwand herbeigeschafft wird, und der sich nur mit
blanken Goldfüchsen bezahlen läßt, deren die W.er genug zu besitzen
scheinen, denn 8—10 Häuser usw. hat er, jedenfalls eine bekannte Per¬
sönlichkeit von E., ,,fest“gemacht. Der Name ist nicht zu erfahren, da
die Leute glauben, wenn dieser genannt werde, so haben die angewandten
Hilfsmittel keinen Wert. Wie die Anklage ausfuhrt, wurden die beiden
„Hexen“, als sie am 26. März an dem W.-Wirt und seiner Tochter vorüber¬
gingen, von diesem bedroht und gröblich beschimpft. Auch von den
übrigen Dorfbewohnern mußten sie sich in djer Öffentlichkeit allerlei be¬
leidigende Bemerkungen gefallen lassen, wie' z. B.: „Die muß man ver¬
brennen“ usw. Die H. erhob wegen dieser Beleidigungen gegen zwei
Weiber, die sich dabei am meisten hervortaten, Klage, und diese wurden
vom Schöffengericht L. zu Geldstrafen von 50 und 60 M. verurteilt. Die
Strafkammer verwarf die Berufung und verurteilte die Beklagten zu den
Kosten erster und zweiter Instanz.“
Wenn derlOrtspfarrer am Schlüsse seines trefflichen Berichtes
meinte, daß noch in vielen Jahren bei diesem und jenem Vorkommnis
bei Mensch und Vieh getuschelt werde: „Das haben die „baisen Leut’“
getan“, so hatte er recht. Er kannte seine Dorfbewohner und wohl
die Menschen aus der weiteren Umgebung gut. Der Hexenglauben,
der Aberglauben, die Sucht „Unbekanntes“ zu wissen, wahrzusagen,
zu prophezeien, sie jst, wie unsere Beispiele im Beginn der Abhandlung
zeigten, noch heute genau so stark wie damals. Das ist für den, der
sich etwas im Volksaberglauben a ) im allgemeinen und speziell in dem
J ) Wuttke, Deutscher Volksaberglaube der Gegenwart, Heike ig, Ver
brechen und Aberglaube, und zahlreiche Veröffentlichungen im Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik geben überreiches Material.
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Ober induzierten religiösen Wahn and eine Hexengl&ubenepidemie. 371
des stark mystisch-grüblerisch-spekulativ veranlagten württembergi-
schen Volkes auskennt, nicht verwunderlich. Wie stark der Hexen¬
wahn auch noch in Deutschland *) zu Hause ist, wie er hier immerhin
noch öfters ein kriminelle Bedeutung hat, zeigt eine Reihe Vorkomm¬
nisse aus den letzten Jahren, welche das Gericht beschäftigten (ich
erinnere an die Veröffentlichungen von HeUwig über Beleidigung und
Körperverletzung infolge Hexenwahns und andere Arbeiten HeUwigs ,
an die Beispiele Löwenstimms, an Gaupps Beitrag zur Lehre vom
psychopathischen Aberglauben u. a. m.). Auf die kriminelle Bedeutung
will ich hier nicht eingehen, nur noch einmal daran erinnern, wie stark
überall und in allen Ländern während des Krieges und je länger er
dauert, viele Menschen nicht nur in der Großstadt (hier mehr zu
gewerbsmäßigen Wahrsagern, zu okkultistischen Vereinen, zu spiri¬
tistischen Sitzungen, zu theosophischen Klubs), sondern auch auf dem
Lande (hier wiederum mehr zu alten, in „heiligem' 4 Geruch stehenden
Frauen) allgemein zu Erscheinungen sich hingezogen fühlen, die etwas,
wie sie meinen, „Mystisches 44 an sich haben, die sie trösten sollen, und
die sie retten sollen von der qualvollen Brutalität und Realität dieser
Zeiten. So haben sich die Bewohner des Dorfes zu unserem Patienten,
jenem aus starr-abergläubischer Familie stammenden,
schwach begabten, zu hysterisch-somnambulen Zuständen
neigenden, stark mit religiös-induziertem Wahn behafteten
Knaben hingezogen gefühlt, haben ihm, nachdem er zufällig einmal
(obwohl auch das nicht sicher feststeht und eine Erinnerungsfälschung
nicht ausgeschlossen ist) etwas Richtiges „vorausgesagt hat 44 , wie
einen Seher behandelt und betrachtet, damit des Jungen Glauben
an sich gestärkt und ihn, der neben seiner sicheren hysterischen Ver¬
anlagung ein großes Stück Schläue und Pfiffigkeit sein eigen nennen
konnte, dazu gebracht, daß er ruhig, mit kalter Miene dazuschwindelte.
Der Fall bot psychiatrisch nichts Außergewöhnliches, auch der
Inhalt der hysterisch-somnambulen Zustände bot das in zahlreichen
einschlägigen Publikationen bekannte Bild vom Glauben an Geister,
an Hexen, von starren religiösen, zum Teil nicht verdauten Bildern
aus der Offenbarung Johannis; der Hexenprozeß in derselben Gemeinde
ist in seinem Inhalt auch von vielen andern, weit krasseren Fällen
*) mehr in den slawischen Ländern.
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i
H72 : M.ay^F>. t^ber reii^osOJi Fabn )im r
U^yEtr.oilAnv a ; l*e»: die Mögbdikwt #t JDarfeieilnng jltfc Abcrgli«dmjs
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UNIVERSITY OF MICHfGAN
Wirtsehafüiclie und soziale Lage des Irreupflege-
Personals.
Von
Oberarzt Dr. Kngc, Heilanstalt Strecknitz-Lübeck.
Völlige Einigkeit herrscht darüber, daß ein tüchtig geschultes,
leistungsfähiges und gesittetes Pflegepersonal. eine, Hniiptvorau’-
»et2nng für eine geordpete Irrenfümirge bildet. Über die Wege
aber, die mr Erreichung dieses Zieles führe», sind di*.* um -
schiedensten, z. T. recht gegensätzlichen Vorschläge
werden. Bei der Feststellung der Forderungen, die für die- Be*
tmhaffung eines guten Pflegepersonals iii Frage kommen, kann
schon d&dnreh eine verschiedene Behhndliing and Beurteilung ge¬
geben sein, daß iuejif alle Anstalten «Be gleichen Bedürfnisse haben
Örtliche VerhäitKtBse t. B. können eine besondere BeTöcksichtigunir
eTfarderfl.'.^Ädr. -safaheu. besonderen Verhältnisse abeT sollen bet
.
«achstehhnder Betrachtung außer Acht gelassen-und nur die breite
Masse der größeren. Provinzial- und Bundesanstalten berücksichtigt
werden.
Eine Keilte von Leitsätzen, die von Fachmännern eifirigst etr-
örtert und erwogen sind, seien im folgenden wiedergegeheD.
(Siebe Bericht über die Jahresversammlung des Vereins der deut¬
schen Irrenärzte zu Heidelberg am 18- und 19. Sept. 1896.) An
ihrer Hand Bollen die einschlägigen Verhältnisse besprochen werden.
Der erste und wichtigste Satz lautete: Es ist anzust reben.,
daß für die Behandlung Geisteskranker ein bosyodi f •
anhgebildetes Personal gewonnen werde, das möglichst
längere Zeit io Dienst bleibt.
Der springende Punkt dieses Satzes ist der, ob es erwünscht
ist,, ein Personal za gewinnen, dae die Irren pflege als Lebenaberuf
Co gle
Ofj'tVEdsm''0P : iiii(
374
Enge,
wählt, oder ein Personal mit beschränkter Dienstzeit. Während
die vorsichtige Fassung des Leitsatzes beweist, daß man damals
dieser Frage noch zweifelnd, jedenfalls unter allerhand Ein¬
schränkungen, gegenüberstand, so hat die Erfahrung der Jahre in
stetig wachsenden Kreisen die Meinung immer mehr gefestigt, daß
die Krankenpflege der Geisteskranken Sache eines Berufes werden
müsse, daß es im Interesse der Kranken liegt, daß (las Irrenpflege¬
personal der Irrenanstalten ganz oder teilweise wenigstens ein
Berufspflegepersonal werde. Was man unter dem Begriffe „Berufs¬
pflegepersonal“ zu verstehen hat, das sei mit kurzen Worten dahin
begrenzt:
Jede Irrenanstalt soll bemüht sein, die Pflege ihrer Kranken
solchen Personen anzuvertrauen, die mit ihrer ganzen Existenz an
die Anstalt gebunden sind, und welche die Pflege der Geistes¬
kranken zu ihrem Lebensberuf gemacht haben. Jede Anstalt soll
einen festen Stamm von Personen besitzen, die den Entschluß ge¬
faßt haben, an dieser Anstalt zu dienen, solange ihre Dienst¬
fähigkeit es gestattet. Nur in diesem Sinne ist der Ausdruck
„Berufspflegepersonal“ zu verstehen, nicht aber so, daß man un¬
bedingt an die Schaffung eines allgemeinen Irrenpflegerstandes
denken müßte, welchem die einzelnen Anstalten ihr Personal zu
entnehmen hätten.
Die Vorzüge eines Berufspflegepersonals würden folgende sein:
Es würde sich eine größere Ständigkeit des Personals ein¬
stellen. Eine Hauptklage vieler Anstalten bezieht sich doch heute
immer wieder auf den raschen Wechsel, und man muß diese Klage
als berechtigt anerkennen, wenn jedes Jahr 50°/o und mehr des
Personalbestandes aus einer Anstalt ausscheidet und durch neue
Kräfte ersetzt werden muß. Hinzu kommt noch, daß Hand in
Hand mit dem raschen Wechsel des Personals auch eine Abnahme
der Güte desselben einherzugehen pflegt. Es ist klar, daß unter
solchen Verhältnissen eine sachgemäße und humane Pflege sehr
in Frage gestellt werden kann. Daß die Beschaffenheit von Be¬
rufspflegepersonal eine bessere sein wird, braucht kaum noch be¬
sonders betont zu werden. Denn es ist ohne weiteres einzusehen,
daß Personen, die nicht daran denken, die Anstalt, an der sie die
Irrenpflege ausüben, zu verlassen, ihren Dienst und ihre Pflichten
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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 375
ganz anders auffassen als solche, die den Dienst in eiher Irren¬
anstalt nur als vorübergehenden Notbehelf ansehen und bei ihrem
Eintritt in die Anstalt vielleicht schon wieder den Termin wissen,
an welchem sie wieder aastreten werden.
Das Personal soll möglichst längere Zeit im Dienst bleiben,
so heißt es in dem 1. Leitsatz. Anch hier wieder die große Vor¬
sicht in der Fassung der Forderung. Es hat nämlich nicht an
Stimmen gefehlt, welche eine langjährige Dienstzeit des Pflege¬
personals als nicht empfehlenswert bezeichneten und den Verbleib
des Personals in dem Dienst der Anstalt auf eine 5—6 jährige
Dienstzeit beschränkt wissen wollten. Begründet wurde diese An¬
sicht damit, daß der dauernde Umgang mit Geisteskranken auf
die körperlichen und geistigen Kräfte aufreibend wirke, und daß
infolgedessen auch das ursprünglich gute Personal mit der Zeit
an seiner Güte einbüße. Mag man auch zugeben, daß man solche
Erfahrungen gelegentlich an langgedientem Personal machen kann,
so dürfte doch die daraus gezogene Forderung, ein Personal mit
beschränkter Dienstzeit anzustreben, keineswegs richtig sein.
Wenn die geistigen und körperlichen Kräfte der Beteiligten vor¬
zeitig aufgerieben werden, so erscheint vielmehr der Schluß zu¬
lässig, daß dort die Gestaltung des Pflegedienstes eine nicht richtige
ist. Dann ist hier der Hebel einzusetzen, und es ist zu verlangen,
daß der Pflegedienst so einzurichten ist, daß er seine erschöpfende
und aufreibende Wirkung möglichst verliere.
Pflegepersonal, das jahrelang den Dienst in einer Irrenanstalt
versehen hat, nach einer gewissen Dienstzeit einfach entlassen zu
wollen, nur weil es in seiner Leistungsfähigkeit naohläßt, würde
einen Akt großer sozialer Härte darstellen, den Krankenanstalten
nicht vollziehen sollten. Zum mindesten müßte dieser Akt da¬
durch gemildert werden, daß man den Entlassenen eine Geld¬
entschädigung gewährt oder ihnen irgendeinen anderen Dienst
in einer anderen Verwaltung sichert. Wollte man wirklich eine
beschränkte Dienstzeit des Pflegepersonals aus den angegebenen
Gründen für berechtigt halten, so müßte man denselben Grundsatz
auch für die Anstaltsärzte in Anwendung bringen. Nicht nur das
Pflegepersonal, sondern auch die Ärzte können durch den Dienst
vorzeitig verbraucht werden und so in ihrer Leistungsfähigkeit
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UMIVERS1TY OF MICHIGAN
376
Enge,
leiden. Nbch hat hier aber niemand den Vorschlag gemacht, die
Dienstzeit der Ärzte auf kurze Zeit beschränken zu wollen. Eine
solche Maßnahme würde auch den Interessen der Kranken ebenso
zuwiderlaufen wie den Lebens- und Existenzinteressen der Irren¬
ärzte. Mit dem Pflegepersonal verhält es sich ganz ebenso.
Es gilt also die Forderung, daß das Pflegepersonal der Irren¬
anstalten ein Berufspflegepersonal werde, das gewillt ist, seinen
Beruf so lange auszuüben, als es seine Dienstfähigkeit gestattet.
Und bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit darf man keinen
andern Maßstab anlegen als es bei andern Berufen üblich ist.
Um nun ein tüchtiges Berufspflegepersonal zu erlangen, ist
es in erster Linie notwendig, die soziale Stellung und die wirt¬
schaftliche Lage des Pflegepersonals so zu gestalten, daß junge,
kräftige, körperlich und geistig gesunde, unbescholtene und bildungs¬
fähige Leute veranlaßt werden, die Irrenpflege als Lebensberuf
zu erwählen.
Mit der sozialen und wirtschaftlichen Stellung des Pflege- (
Personals beschäftigen sich die nächsten Leitsätze. Ein 2. Leit¬
satz lautet:
Jede Anstalt soll ihr Pflegepersonal möglichst selbst
heranbilden, d. h. Direktor und Ärzte der Anstalt sollen
das Pflegepersonal in der Krankenpflege unterrichten.
In diesem Leitsatz ist die Frage, woher wir geeignetes Per¬
sonal beziehen sollen, dahin beantwortet, daß die Direktion jeder
Anstalt die Anwärter für den Irrenpflegedienst selbst wählen und
zu Pflegern heranbilden soll. Niemand wird die Vorzüge einer
solchen Einrichtung verkennen. Man tut recht daran, anzunehmen,
daß der ärztliche Leiter einer Irrenanstalt selbst am besten weiß,
welche Personen von den sich Meldendenden für seine Anstalt
am geeignetsten sind. Es ist zweifellos vorteilhaft, wenn das neu
eingetretene Pflegepersonal seine Probezeit unter den Augen des
Direktors abmacht. Es scheint aber entschieden zu weit gegangen,
wenn man, wie das vielerorts geschieht, grundsätzlich die An¬
stellung eines Pflegers oder einer Pflegerin ablehnt, die bereits in
einer andern Anstalt als solche angestellt gewesen sind. Man hat
diese Maßnahme damit begründet, daß man solche Leute, die schon
in einer andern Irrenanstalt oder Krankenanstalt gedient haben.
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Wirtschaftliche and soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 377
schlechtweg als unbeständige und nach Abwechslung strebende
Menschen bezeichnet, die für den Irrenpfiegedienst ungeeignet seien.
In einer' solchen Verallgemeinerung ist eine derartige Behauptung
aber unzutreffend, und die Ausschließung solcher Personen, die bereits
an anderen Anstalten tätig waren, bedeutet einerseits eine soziale
Härte und andererseits eine unvorteilhafte Beschränkung des An¬
gebots. Die Gründe eines Anstaltswechsels können in größerer,
Zahl durchaus berechtigt sein und brauchen keineswegs eine ge¬
eignete Beschaffenheit der Betreffenden auszuschließen. Nur einige
Beispiele dafür. Die Entlohnung des Pflegepersonals ist nicht an
allen Anstalten die gleiche. Viele Pflegepersonen sind aus den ver¬
schiedensten Gründen genötigt, einen möglichst großen Verdienst
zu erringen. Wer nun die Anstalt wechselt, um sich im Lohn
zu verbessern, dem wird man dieserhalb nicht die Geeignetheit
absprechen müssen. Pflegt man doch auch in anderen Berufen
es niemand übelzunehmen, der seine Stellung wechselt, um sich
wirtschaftlich zu verbessern. Andere werden ferner durch ver¬
wandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen zu einem An¬
staltswechsel veranlaßt. Ist es doeh für manchen nicht gleichgültig,
ob er in der Anstalt oder in ihrer Nähe einen geeigneten Anschluß
hat oder nicht. Schließlich scheint es nicht nötig zu sein, daß
das Pflegepersonal auf die Einrichtungen und Gepflogenheiten eines
Direktors und einer Anstalt eingeschworen ist. Brauchen doch
diese durchaus nicht immer allgemein anerkannt oder die einzig
richtigen zu sein. In anderen Berufen wird es auch nicht ohne
weiteres als ein Fehler ausgelegt, wenn jemand sich in der Welt
umgesehen hat und andere Einrichtungen' kennengelernt hat.
Wer aus diesen oder ähnlichen Gründen die Anstalt wechselt, ge¬
hört deshalb noch nicht zu den sogenannten Wandervögeln, die
gewohnheitsmäßig von Anstalt zu Anstalt ziehen, und die aller¬
dings für einen Pflegedienst ungeeignet sind. Diese Elemente fern¬
zuhalten, dürfte nicht schwer fallen; dazu ist eine so schroffe
Maßregel wie die erwähnte nicht erforderlich.
Daß jede Anstalt sich ihr Personal selbst heranbilde, ist ein
Weg, um ein tüchtiges Berufspflegepersonal %u erlangen, nicht aber
der einzige Weg. Das beweisen andere, bereits bestehende Ein¬
richtungen. In manchen, besonders katholischen Ländern, hat
ZMtMhritt flr PayeUatri«. LXXV. S. 26
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378
Enge,
man die Krankenpflege religiösen Genossenschaften und Order
übertragen und ihnen somit auch die Auswahl der einzelnen Per¬
sonen überlassen. Auch von diesem Vorgehen werden günstig
Erfahrungen berichtet.
Im Königreich Sachsen hat man die Auswahl der Anwärter
für den Pflegedienst dem Staate selbst überlassen. Man hat dort
besondere Pflegeschulen errichtet, aus denen sämtliche Landes-
anstalten ihr Personal beziehen. Auch diese Einrichtung hat siel
durchaus bewährt. Man sieht also auch hier, es führen viel*
Wege nach Rom, und man wird kaum den einen Weg als den
einzigen und allein richtigen bezeichnen können. Welchen Wo¬
zu r Heranbildung und Erziehung des Personals man nun ein-
schlagen will, immer wird eine gewisse Auswahl nötig werden,
da nur eine bestimmte Anlage einen Erziehungserfolg ermöglich:.
Bei dieser Auswahl wird jeder, sei es nun Anstaltsdirektion, se:
es Ordensgemeinschaft, oder der Staat selbst, sich Mittelspersonen
und Vertrauensmänner bedienen, die Leute zur Auswahl Zufuhren
Hinsichtlich dieser Auswahl seien noch einige ganz allgemein-
Bemerkungen gemacht.
Bezüglich des Lebensalters der Anzustellenden empfiehlt cs
sich vor allem, über eine gewisse Altersgrenze nicht hinauszu
gehen, d. i. durchschnittlich eUva das 25. Lebensjahr. Junge
Leute sind bildungsfähiger und erlernen daher die Pflege Geistes¬
kranker leichter als ältere Personen. Da, wo ein ruhelohnbe¬
rechtigtes Personal besteht, erfordert schon die Rücksicht auf dir
Geldverhältnisse eine solche Altersbegrenzung. Als unterste Grenz«
dürfte man das 18.—20. Lebensjahr annojimcn können.
Unerläßliche Bedingungen für den Pflegedienst sind selbstver¬
ständlich völlige geistige und körperliche Gesundheit und ein ein¬
wandfreies Vorleben, ein guter Leumund.
Als Pfleger eignen sich besonders gut junge Leute, die eben
ihre Militärdienstzeit hinter sich haben und mit einem guten
Führungszeugnis entlassen sind, als angehende Pflegerinnen solch«-
junge Mädchen, die aus der Familie oder einem häuslichen Dienst
kommen.
Bemerkenswert ist, daß auch heute noch in der überwiegenden
Mehrzahl das Pflegepersonal aus den niederen sozialen Schichten
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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irren Pflegepersonals. 379
stammt. Es ist nun die Ansicht vieler, daß mehr noch als die
Krankenpflege die Pflege der Geisteskranken in die Hände Ge¬
bildeter gelegt werden müßte, da es sich in der Irrenpflege um
das tiefinnerste Verstehen, um den Takt des Herzens und des
Kopfes handelt und gesellschaftliche Untugenden hier besonders
stark empfunden werden. Es mag daran sehr vieles Wahrheit
sein. Es gibt aber auch sehr viele, die von Pflegepersonen, die
den gebildeten Ständen entstammen, wenig Gutes gesehen haben,
da dieselben meist sehr empfindsam sind, oft von vornherein eine
herausgehobene Stellung beanspruchen und sich nicht allen Dienst¬
leistungen unterziehen wollen. Auch wird man nicht behaupten
können, daß tüchtige Charaktereigenschaften, ’ auf die es ja in
erster Linie ankommt, nur bei den sogenannten gebildeten Ständen
anzutreffen sind. Tatsache ist schließlich, daß unter den besseren
Ständen heutzutage nur eine sehr geringe Vorliebe für den Irren¬
pflegeberuf vorhanden ist.
Daß eine Schulung und Ausbildung des Pflegepersonals not¬
wendig ist, darüber sind alle Anstaltsärzte einig. Es versteht sich
dies übrigens von selbst, wenn man nur Leute in den Pflegedienst
aufnehmen will, die noch keinen Pflegedienst getan haben.
Die Einführung in die Irrenpflege geschieht zunächst an der
Hand einer genauen Dienstanweisung und einer Hausordnung, so¬
dann durch Fachunterricht und schließlich durch eine planmäßig
durchgeführte dienstliche Verwendung jedes einzelnen. Haupt¬
sache bleibt, daß alles unter ärztlicher Aufsicht geschieht.
Über die Art, wie der Unterricht erteilt werden soll, kann
man verschiedener Meinung sein. Ihn abzuhalteu, ist Sache der
Arzte.
Was soll gelehrt werden? Der Hauptwert wird zu legen sein
auf die Technik der Krankenpflege, insbesondere der Irrenpflege.
Hier muß das Pflegepersonal auch praktisch mit allen Ver¬
richtungen vertraut gemacht werden, die in der Irrenpflege Vor¬
kommen. Mit rein medizinischen Einzelheiten der Anatomie,
Physiologie und anderer Fächer wird man sparsam umgehen
können, die wissenschaftliche Belehrung mehr dahin richten, daß
das Pflegepersonal es lernt, wie sich z. B. Angst, Selbstmorddrang,
Sinnestäuschungen und andere Erscheinungen des Irreseins zu
26 *
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380
X
äußern pflegen. Mit solchen Kenntnissen wird das Personal den
Arzt wirklich unterstützen können.
In manchen Ländern z. B. England, Amerika, Österreich, in
Deutschland im Königreich Sachsen, macht das Pflegepersonal
einen geordneten Bildungsgang durch, etwa folgender Art: Nach
einer bestimmten Probezeit nimmt das Pflegepersonal an den Lehr-
kursen teil, die sich gleichfalls über vorgeschriebene Zeitläufe er¬
strecken. Nach Beendigung derselben legt es vor einer Behörde
eine Prüfung ab und erhält einen Prüfungsausweis. Erst dann
erfolgt die endgültige Anstellung als Pfleger. So wird beispiels¬
weise im Königreich Sachsen verfahren, wo die Pflegeordnung für
die Landesheil- und Pflegeanstalten bestimmt, daß der Anstellung
eine Ausbildung im Pflegerhause und ein Hilfspflegerdienst von
mindestens zweijähriger Dauer vorauszugehen hat.
Die Frage, ob nun eine solche Ausbildung und Prüfung eine
unerläßliche Voraussetzung für eine feste staatliche Anstellung
bilden sollen, hat vielfach zur Erörterung gestanden. Die deutschen
Psychiater haben sich in ihrer Mehrheit nicht für Einführung von
Prüfungen und Erteilung von Befähigungsnachweisen des Pflege¬
personals erwärmen können. Man hat darin allerlei Gefahren er¬
blickt, so z. B. daß durch sie Überhebung, Strebertum und Halb¬
bildung gezüchtet würden, daß ferner die Anstalten dadurch Per¬
sonal, dessen Wert nicht auf theoretischen Kenntnissen beruht,
sondern in Vorzügen des Charakters, verlieren würden. Man hat
auoh geltend gemacht, daß Prüfungen keinen rechten Aufschluß
über die Leistungsfähigkeit des Personals geben können. Mag
vieles daran auch richtig sein, man wird die Bedenken doch nicht
in dieser krassen Form zu teilen brauchen. Heutzutage wird in
allen öffentlichen Dienstzweigen, die eine Sonderausbildung nötig
machen, der Befähigungsnachweis durch eine Prüfung verlangt.
Auch bei nicht öffentlichen Berufen, z. B. den Handwerkern, ist
dies schon der Fall. Jedenfalls wird ein Beruf dadurch in seinem
Ansehen nach außen hin gehoben, was auch nicht ohne Bedeutung |
ist. Und noch etwas anderes. Schon vor Jahren sind Vor- I
Schriften über die staatliche Prüfung von Krankenpflegepersonen J
in Kraft getreten mit der ausdrücklichen Nebenbestimmung, daJß j
die Krankenanstalten bei der Auswahl der erforderlichen Kräfte I
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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 381
die geprüften Pflegepersonen zu bevorzugen haben. Dem werden
sich anf die Dauer auch die Irrenanstalten nicht entziehen können.
Schließlich sei noch erwähnt, daß einige Psychiater empfehlen,
neben dem Fachunterricht dem Personal eine bessere Allgemein¬
bildung zuteil werden zu lassen. Zweifellos hat auch dieser Vor¬
schlag sein Gutes. Mancher kann nicht in höhere Stufen auf¬
rücken, weil ihm gewisse grundlegende Fähigkeiten allgemeiner
Bildung z. B. richtiges Schreiben und Rechnen usw. fehlen.
Ein 3. Leitsatz beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen
Stellung und Sicherung des Pflegepersonals. Er lautet:
Es sind Einrichtungen zu treffen, durch welche die
Zukunft des Pflegepersonals möglichst sichergestellt
wird. (Entsprechend hohes Anfangsgehalt, Steigerung
des Gehaltes mit der Dienstzeit, Geldbelohnung nach
längerer Dienstzeit, Ruhegehalt, Witwen- und Waisen¬
versorgung, Ausdehnung des Unfallversicherungsgesetzes
auf das Irrenpflegepersonal.)
Bezüglich der wirtschaftlichen Stellung des Pflegepersonals
kommt vor allem eine angemessene Bezahlung in Betracht. Viel¬
fach steht die Besoldung des Personals noch in keinem rechten
Verhältnis zu der Fülle der Togenden, die wir von ihm verlangen.
Die Höhe des Gehaltes wird natürlich verschieden sein, je nachdem
die Anstalt in der Nähe einer großen Stadt oder auf dem Lande
liegt, sie wird aber die ortsüblichen Löhne der dienenden Klasse
erheblich übersteigen müssen, wenn der Pflegeberuf wirklich be¬
gehrenswert erscheinen soll. Wichtig ist ferner, das Anfangsge¬
halt verhältnismäßig hoch zu nehmen, da die Erfahrung gelehrt
hat, daß davon vorzugsweise die Zahl und die Güte der sich
meldenden Anwärter abhängt. Ferner ist von Bedeutung, daß das
Gehalt mit der Dauer zufriedenstellender Dienstleistung steigt, und
daß eine Gehaltsordnung die Erhöhungen und deren Eintritt genau
regelt, so daß jeder die Gestaltung seiner wirtschaftlichen Lage
genau überblicken kann.
Neben einer angemessenen Bezahlung ist die wichtigste Ma߬
nahme wirtschaftlicher Sicherung des Pflegepersonals die Ver¬
leihung der Ruhegehaltberechtigung. Diese ist sozusagen eine un¬
erläßliche Voraussetzung für die Erlangung eines tüchtigen Berufs-
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382
Enge,
%
Pflegepersonals.. Denn wer einigermaßen an seine Zukunft denkt,
wird darauf großen Wert legen. Demnach muß die Forderung
erhoben werden, daß jeder durch Unglücksfall, Krankheit oder
Alter dienstunfähig gewordenen Pflegeperson. ein ausreichendes
Ruhegehalt gewährt werde, und daß auch den Witwen und Waisen
verstorbener Pfleger angemessene Unterstützungen zu leisten sind.
Am befriedigendsten würde die Frage der Ruhegehaltsberechtigung
gelöst werden, wenn die Provinzen und die Staatsverwaltungen
selbst die Ruhelöhne für das Pflegepersonal ihrer Irrenanstalten
ohne weiteres auf sich nehmen wollten. Bei der großen geldlichen
Belastung aber wird man sich dazu nicht überall verstehen wollen
und können, wenigstens nicht in vollem Umfange.
Hier bleibt dann der andere WSg, daß Anstalt, Anstaltsper¬
sonal und'Staatsverwaltung Zusammenwirken, um eine Ruhelohns¬
kasse für das Pflegepersonal zu schaffen. Das Pflegepersonal wird
sich jedenfalls zur Zahlung von Beiträgen bereit finden, wenn da“
durch eine bestimmte Regelung der Ruhelöhne erreicht werden
kann. Zur Zahlung von bloßen Zuschüssen würden sich Staat
und Gemeinden immer herbeilassen. Daß sich auch auf diesem
Wege etwas Gutes erreichen läßt, beweist die auf genannter
Grundlage schon 1894 gegründete „Pensionskasse für die ober-
bayrische Kreisirrenanstalt in München“, die jeder eingetretenen
Dienstunfähigkeit gegenüber in ausreichender Weise gerecht werden
konnte. Alle anderen Einrichtungen der Fürsorge für eintretende
Dienstunfähigkeit stehen weit hinter den Vorzügen eines gut ein¬
gerichteten Pensionswesens zurück.
Erwähnt seien noch die Sparkasseneinrichtungen, die soge¬
nannten Rücklagen von Gehaltsteilen. Dazu hat man folgendes
vorgeschlagen.
Der Lohn des ersten Dienstmonats soll in einer öffentlichen
Sparkasse verzinslich angelegt werden. Bei jeder weiteren Lohn¬
auszahlung hat der Pfleger einen neuen Beitrag einzulcgen oder
das Nichteinlegen vor dem Direktor zu rechtfertigen. Die Spar¬
kassenbücher bleiben unter dem Verschluß des Rechnungsführers
der Anstalt, der auch die Einlagen besorgt und das Sparkassen¬
buch nur nach vorher eingeholtcr Genehmigung des Direktors Jin
den Eigentümer verabfolgt.
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Wirtschaftliche und soziale Lage des Irrenpflegepersonals. 383
Ganz abgesehen davon, daß dieses Verfahren eine recht weit¬
gehende und in unsere Zeit nicht passende Bevormundung enthält,
hat es noch den Nachteil, daß jeder einzelne nur für sich spart
und doch der Not preisgegeben sein kann, nämlich wenn eine
Dienstunfähigkeit eintritt zu einer Zeit, wenn die Ersparnisse noch
sehr gering sind. Fließen die Einlagen des einzelnen in eine
Ruhelohnkasse, so sparen alle für einen und einer für alle und
die Zukunft des einzelnen ist gesichert, mag er nun früh oder
spät dienstunfähig werden.
Eine andere Fürsorgeeinrichtung für eintretende Dienstun¬
fähigkeit des Personals bildet die Gewährung von Geldbelohnungen
für Dienstzeit von bestimmter Dauer. Auf die verschiedenen
Grundsätze über die Bewilligung von solchen Dienstbelohnungen
sei nicht näher eingegangen. Sie lassen sich eigentlich nur dann
empfehlen, wenn man den Austritt der Pflegepersonen nach be¬
stimmter Zeit für wünschenswert hält. Daß aber schon nach
5—6 jähriger Dienstzeit eine Invalidität eintreten müsse, das ist,
wie bereits ausgeführt, nicht richtig. Daß das gewährte Geld in
kurzer Zeit zwecklos vergeudet worden ist, daß minderwertige
Persönlichkeiten in Erwartung der Dienstbelohnung länger im
Dienst bleiben, bessere trotz der zu erwartenden Belohnung früher
abgehen, das alles sind unangenehme Erfahrungen, die man mit
der Verleihung von Dienstbelohnung gemacht hat
Zum Schluß sei hier noch erwähnt, daß das Pflegepersonal
auch an der Reiclis-Invaliditäts- und Altersversicherung, an der
Unfall- und Krankenversicherung in möglichst weitem Umfange
teilzunehmen hat. —
Ein 4. Leitsatz bezieht sich auf die innere Gestaltung des
Pflegedienstes und ist in folgende Worte zu fassen:
Es sind Einrichtungen zu treffen, durch welche die
notwendige Erholung und Schonung des Personals ge¬
währleistet wird. (Genügende Anzahl im Verhältnis zum
Krankenbestande. Regelung der Arbeitszeit. Regel¬
mäßige dienstfreie Zeiten. Besondere Erholungsräume.
Bestimmter Urlaubsanspruch mit Fortbezug des Gehaltes.
Geeignete Wohnung und Beköstigung.)
Ein Haupterfordernis ist, daß das Pflegepersonal mit Rück-
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384 En ß®.
sicht auf Zahl und Artung der Kranken genügend zahlreich sein
muß.
Zum andern muß die Einrichtung des Dienstes darauf hin¬
zielen, daß die erschöpfenden Wirkungen, die in einem dauernden
Umgang mit Geisteskranken zweifelsohne liegen, möglichst abge¬
schwächt werden. Ein gutes Mittel, um die körperliche und
geistige Frische des einzelnen länger waohzuhalten, ist die Ab¬
wechslung im Dienst. Unter diesem Gesichtspunkt ist es unzweck¬
mäßig, daß' das Personal jahrelang denselben Dienst zu leisten hat.
z. B. ständig auf der gleichen Abteilung und bei den gleichen
Kranken Verwendung findet. Heutzutage ist das noch der Fall,
weil man bei der geringen Auslese oft froh ist, jemand gefunden
zu haben, der sich für den einen oder anderen Posten besonders
gut eignet. Eine solche einseitige Verwendung aber ist auch nicht
mit einer möglichst vielseitigen Ausbildung des Personals in Ein¬
klang zu bringen. Für die Erholung und Sohonung des Personals
sind regelmäßige freie Zeiten erforderlich. Jede Woche einen
freien Nachmittag und alle 14 Tage einen freien Sonntag dürfte
ein erfüllbares Verlangen sein. Viele Anstalten stellen denen, die
ihre freie Zeit nicht außerhalb derselben verbringen wollen, wohl¬
eingerichtete Erholungsräume, Pflegerheime, zur Verfügung. Es ist
dies eine dankenswerte Einrichtung, vor allem wenn, wie im
Königreich Sachsen, diese Heime auch als Unterkunfts- und Er¬
holungsstätten für die Zeiten längeren Erholungsurlaubs dienen
können. Zu warnen aber ist davor, irgendeinen Druck hin¬
sichtlich der Benutzung dieser Einrichtungen ausüben zu wollen,
sondern im allgemeinen empfiehlt es sich, die Wahl des „Wie und
Wo“ der Erholung den einzelnen zu überlassen und nicht in
Standes- und Lebensgewohnheiten ohne zwingenden Grund ein¬
zugreifen.
Als wichtige Forderung ist noch zu erheben: Das Personal
soll alljährlich auf einen längeren Urlaub mit Fortbezug des Ge¬
haltes Anspruch haben. Eine Dauer von 14 Tagen wird man als
angemessenes Mindestmaß bezeichnen können. Viele Anstalten
gehen auch erheblich über diese Frist hinaus. Daß gegebenen¬
falls aus Gesundheitsrücksichten auch einmal ein wesentlich
längerer Urlaub mit oder ohne Gehaltsbezug bewilligt werden soll,
kann als selbstverständlich gelten.
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Wirtschaftliche and sociale Lage des Irrenpflegepersonals. 385
Wenige Worte seien noch den Wohn- und Beköstigungsver¬
hältnissen gewidmet.
Es ist eine gewöhnliche Erscheinung, daß man nicht aus¬
reichende Räume für das Pflegepersonal vorgesehen hat. Ein
eigenes Zimmer für das Pflegepersonal ist sehr selten zu finden.
Zwei, drei und noch mehr wohnen in einem Raum. Die Mehrzahl
des Irrenpflegepersonals ist sogar gezwungen, mit den Kranken in
den verschlossenen Krankensälen zusammen zu schlafen. Wenn
man diejenigen Kranken, deren Zustand die Beigebung einer
Pflegeperson Tag und Nacht erforderlich macht, möglichst alle auf
einem Wachsaal unterbringen würde, so könnte die immerhin recht
einschneidende Maßnahme des Zusammenschlafens des Personals
mit den Kranken sicher wesentlich eingeschränkt werden. Das
Pflegepersonal würde in überwiegender Mehrzahl darin eine
wesentliche Erleichterung seines Dienstes sehen. Gerade von
Leuten aus sozial höheren Schichten hört man öfters die Äußerung,
daß ihnen das Zusammenschlafenmüssen mit den Kranken und
auch mit mehreren anderen Pflegepersonen die Freude an ihrer
Tätigkeit verleidet.
Eine andere sehr häufige Klage des Pflegepersonals betrifft
die Kost. Es bestehen darüber in verschiedenen ärztlichen und
fachwissenschaftlichon Zeitschriften umfangreiche Abhandlungen,
die dartun, daß es sich dabei nicht etwa um unberechtigte Unzu¬
friedenheiten handelt, sondern um Verhältnisse, die dringend der
Abhilfe bedürfen. Einzelheiten sollen hier nicht aufgerollt werden*
Eine gute und reichliche Ernährung ist von augenfälliger Bedeutung
für die Leistungsfähigkeit und für die Krankheits- und Sterblich¬
keitsverhältnisse des Pflegepersonals. Mohr als es bisher geschieht,
könnte auch auf küchentechnische Dinge Rücksicht genommen
werden. Die Nahrung soll nicht nur reichlich, sie soll auch
schmackhaft, appetitlich und abwechslungsreich sein. Viel wird
gegen den obersten Grundsatz einer guten Küche gefehlt, nämlich
das Essen frisch sofort aufzutischen, wenn es tischfertig ist. —
Nur soviel über die Beköstigungsfrage des Pflegepersonals.
Vorstehend sind in kurzen Zügen die Wege gezeichnet, die
geeignet erscheinen, den Irrenpflegeberuf begehrenswert zu machen
und ein tüchtiges Berufspflegepersonal heranzuziehen. Für das
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386
Enge,
I
männliche Personal besonders stellt sich noch die Notwendigkeit
heraus, ihm die Möglichkeit einer Familiengründung zu erleichtern.
Dies geschieht aber durch die Herstellung gesunder Wohnungen
für Verheiratete. Auch hierin haben zahlreiche Provinzialver¬
waltungen bereits Mustergültiges in freigebiger Weise geleistet.
Die Regelung nach den besprochenen Richtlinien stellt in
vielen Punkten eine Geldfrage dar. Trotz der Schwierigkeiten und
der Opfer, die damit verknüpft sind, darf man hoffen, daß sie in
absehbarer Zeit allgemein durchgeführt wird. Daß bei der Her¬
anziehung und Ausbildung eines guten Pflegepersonals vom An¬
staltsarzt ein erheblicher Teil Arbeit, und zwar sozialer Arbeit im
Interesse seiner ihm anvertra'uten Kranken zu. leisten ist, geht aus
den gemachten Ausführungen zur Genüge hervor. f
Leider hat der große Weltkrieg uns auch auf dem Gebiete
der Fürsorge für ein gutes Irrenpflegepersonal zurückgebracht.
Die Beschaffung von Ersatz für das zum Heeresdienst eingezogene
männliche Pflegepersonal ist auf große Schwierigkeiten gestoßen.
Dabei soll anerkannt werden, daß öffentliche Arbeitsnachweise.
Hilfsdienstpflichtstellen, Sanitätsärater und Generalkommandos sich
eifrig bemüht haben, die entstandenen Lücken auszuffillen. Aber
den zu stellenden Anforderungen hat der so gewonnene Ersatz
meist nicht genügt. Nur eine im Krieg aufgenommene Einrichtung
hat sich bewährt, d. i. die Verwendung von weiblichen Pflege¬
personen bei der Pflege von männlichen Geisteskranken. Mit ver¬
hältnismäßig wenigen Ausnahmen war es vor dem Krieg Grund¬
satz, auf der Männerabteilung nur männliches Personal zu ver¬
wenden. Damit hat man im Kriege gebrochen, und die gemachten
Erfahrungen haben gelehrt, daß weibliches Pflegepersonal auch
auf Männerabteilungen mit Vorteil verwendet werden kann. Zwar
kann die Pflegerin nicht allgemein auf Männerabteilüngen Ver¬
wendung finden, aber sie kann zu einem Teil den Mann ersetzen
und ihn in manchen Teilen sogar übertreffen. Besonders geeignet
ist weibliche Pflege für das Lazarett, die Siechenabteilung und
auch als Extrapflegerin, während für die unruhigen Männerab¬
teilungen sich männliches Pflegepersonal besser eignet. Es steht
infolge des Männermangels nach dem Kriege zu erwarten, daß in
vielen Anstalten die Verwendung weiblichen Pflegepersonals auf
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% Kleinere Mitteilungen.
\
Zu Dr. K. E. Mayers Aufsatz: „Blücher in kranken Tagen“
(diese Zeitschr. Bd. 24, Heft 4—6). — Nun ist also auch unser braver,
alter Vater Blücher psychiatrischem Forschertrieb zum Opfer gefallen!
Stabsarzt Dr. Mayer hat es unternommen, des Marschall Vorwärts Seele
zu sondieren. Ob es recht getan war, seine gelegentlichen psychischen
Eigentümlichkeiten unter die kritische Lupe zu Jiehmen und damit an
dem Nimbus dieses unseres Nationalheros aus Deutschlands größter Zeit
zu rühren, wage ich zu bezweifeln. Denn wenn auch die Feststellung
einer zeitweisen Anomalie den Helden und seine Taten bei psychiatrisch
denkenden Menschen nicht herabsetzen kann und wird, so urteilt die
Menge, wenn sie solche Reflexionen aufgreift, doch anders, und das Votum
aus berufenem Munde: „Blücher war periodisch geisteskrank“, scheint
nicht geeignet, „ihn dem Volke menschlich näher zu bringen“, sondern
birgt vielmehr die Gefahr in sich, unserer materiellen und für Ideale nicht
mehr empfänglich erscheinenden Gegenwart auch noch leuchtende nationale
Güter der Vergangenheit zu zertrümmern.
Aber abgesehen davon kann ich auch den psychiatrischen Deduk¬
tionen des Verfassers nicht folgen. Mayer behauptet: „Blücher litt an
manisch-depressivem Irresein“, und et* kommt zu diesem Resultate letzten
Endes lediglich auf Grund der Tatsache, daß Blücher mehrere Attacken
einer Depression durchmachte, worin er eine Periodizität sehen will. Bei
dieser Diagnose störte ihn nicht das völlige Fehlen einer manischen Periode,
indem er ausführt, was ja auch nicht zu beanstanden ist, daß dieselbe
auch zur Annahme einer derartigen Psychose nicht unbedingt notwendig
sei; er stieß sich nicht an dem Umstand, daß sich die melancholischen
Phasen erst ip vorgerücktem Lebensalter geltend machten, auch nicht
an der Form derselben, nämlich dem Unmutscharakter über körperliche
Leiden und der durch dieselben bedingten Verurteilung zur Untätigkeit,
auch nicht an den ausgesprochen hypochondrischen Vorstellungen und
gelegentlichen Illusionen auf der Höhe der Verstimmung. Wohl scheint
er anfänglich nicht ohne gewisse Bedenken an der Richtigkeit seiner
Theorien gewesen zu sein, aber die Stärke und Dauer der Depressionen
und das Fortbestehen derselben über die Störung des Allgemeinbefindens
hinaus, oder in einem anderen Falle die Besserung der Verstimmung trotz
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Kleinere Mitteilungen.
389
andauerndem körperlichen Leiden hat dann doch oiTenbar -edle Bedenken
besiegt und die Annahme einer Selbständigkeit des psychischen Krank¬
heitsbildes, nämlich des manisch-depressiven Irreseins, gefestigt (S. 36i,
Abs. 2).
Ich glaube aber, auf der Beobachtung mehrerer Verstimmungs¬
attacken im Leben eines Menschen darf man, selbst wenn die soeben
angeführten Gründe zutreffen, nicht ohne weiteres die Diagnose manisch-
depressives Irresein aufbauen, und möchte, wenn denn schon einmal
Blüchers Anomalie diagnostiziert werden soll, einer anderen Auffassung
Ausdruck geben. Ich glaube, wie gesagt, nicht an eine periodische Melan¬
cholie und möchte trotz aller von Mayer dafür angeführten Gründe
der hypochondrischen Natur der Depressionen Blüchers festhalten und
dieselben als eine Teilerscheinung einer mäßigen Psychopathie erklären.
Die Psychopathie ist eine angeborene Konstitutionsanomalie, die,
ganz allgemein ausgedrückt, in einer Seelenzwiespältigkeit besteht, zufolge
der sich die Seelentätigkeit^der betreffenden Individuen in schroffen
Kontrasten bewegt. Impulsivität und Stimmungswechsel sind zwei der
fast nie fehlenden Symptome dieses Leidens, die man stets bis in die
früheste Jugendzeit zurückverfolgen kann und feststellen muß, wenn
man überhaupt die Diagnose Psychopathie stellen will.
Diese Züge finden wir nun in Blüchers Leben in reichlicher Anzahl.
Uber erbliche Belastung ist zwar nicht viel zu sagen, aber die Impulsivität
in der Aszendenz (Vorfahr Totschläger im Jähzorn) und in der Deszendenz
die geistige Erkrankung seines Sohnes geben doch zu denken und lassen
die Annahme einer gewissen Degeneration auch bei ihm nicht ganz von
der Hand weisen.
Er hat als Kind, wie er selbst von sich sagt, „alles versäumt, was
er hätte lernen sollen“; das deutet auf eine gewisse innere Unrast und
psychische Zerfahrenheit hin, die sich auch in seinem ganzen ferneren
Leben nicht völlig verleugnet. Impulsive Triebe veranlaßten seinen Ein¬
tritt mit 16 Jahren in schwedischen Heeresdienst; „lockerten ihm den
Säbel“ bei geringfügigsten Anlässen, lieferten ihn manchen Leidenschaften
aus (Spiel)jind ließen ihn an keinem Orte lange ausharren und heimisch
werden, alles Anzeichen einer psychopathischen Persönlichkeit! Das
hinderte selbstverständlich nicht, daß er trotzdem oder vielleicht gerade
deshalb ein militärisches Genie wurde, weiß man doch, daß Genie und
Anomalie recht nahe Verwandte sein können.
Wie bei den meisten Psychopathen traten dann mit zunehmendem
Alter auch bei Blücher die trüben Gefühlstöne häufiger und nachhaltiger
in den Vordergrund; er wurde zum Schwarzseher (siehe S. 328, Abs. 3),
besonders als sich körperliche Beschwerden einstellten. Er spielte mit
Todesgedanken bei entsprechenden Gelegenheiten (siehe S. 336, Abs. 3) —
eine fast typische psychopathische Erscheinung ! — Wenn er nicht völlig
der sogenannten konstitutionellen Verstimmung anheimfiel, so verdankte
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390
Kleinere Mitteilungen.
er das wohl nur dem Umstande, daß der Grundzug seines ganzen Wesens
früher so ausgesprochen sanguinisch und impulsiv war und ihn der Ab¬
lenkung und Beeinflußbarkeit durch die Vorgänge in seiner näheren und
ferneren Umgebung zugänglich machte.
Die einzelnen Attacken seiner psychischen Verstimmung haben aber,
das läßt sich nicht leugnen, die frappanteste Ähnlichkeit mit den genannten
Verstimmungen der Psychopathen. Hier wie dort finden wir den aus¬
gesprochenen hypochondrischen Typus, wobei bemerkt werden mag.
daß auch bei dem Psychopathen häufig jeder reale Grund für die hypo¬
chondrischen Klagen fehlt. Bei Blücher war dies nicht einmal der Fall,
er litt wirklich körperlich — Kopf, Unterleib, Gicht usw. — und wenn
man nun noch bedenkt, daß „jede martervolle Untätigkeit“, — wobei
ich bei dem Epitheton „martervoll“ nicht gleich an Schmerzen denken
möchte, — an und für sich schon seiner impulsiven Natur im höchsten
Grade zuwider war, so kann man die Intensität seiner Depressionen ver¬
stehen und braucht nicht „weitgehende Selbständigkeit“ derselben im
Sinne einer melancholischen Periode des manisch-depressiven Irreseins
anzunehmen.
Aus diesem konstitutionellen Grunde heraus erklärt sich auch die
Beobachtung des gelegentlichen Aufhörens der Verstimmungen noch
während des Fortbestehens der körperlichen Beschwerden oder des um¬
gekehrten Falles, was Mayer als ganz besondere Stützen seiner Diagnose
benutzt. Die hypochondrischen Depressionen der Psychopathen sind er¬
fahrunggemäß nicht in jedem Falle an körperliche Beschwerden gebunden,
sie sind vielmehr meist psychogener Natur, und daher hat der Verfasser
bis zum gewissen Grade auch wiederum recht, wenn er eine „weitgehende
Selbständigkeit des Blücherschen Krankheitsbildes“ annimmt, nur irrt
er in bezug auf dessen Ätiologie und Rubrizierung.
Was nun endlich die sogenannten Wahnbildungen Blüchers auf der
Höhe der schwersten Attacken anbctrifFt, so wäre das, selbst wenn es sich
um echte Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen gehandelt haben
sollte, auch bei psychopathisch bedingten Verstimmungen nichts Unge¬
wöhnliches. Aber ich habe mich nicht davon überzeugen können, daß
man in den Äußerungen Blüchers: er habe einen Kopf von Stein, einen
Elefanten im Leibe u. a., derartiges zu sehen hätte. Ich neige vielmehr
der Ansicht zu, als seien das nur mißmutige Beschreibungen krankhafter
Organgefühle gewesen; das darf man schon, glaube ich, aus der Art der in
gleicher Verfassung produzierten „Sinnestäuschungen“ schließen, die
in der Tat nichts anderes als allenfalls Illusionen sind, d. h. von krankhaft
überreizter Phantasie beeinflußte falsche Auslegungen realer Vorgänge
bzw. Erscheinungen. Ich möchte nur zum Beweise hervorheben den auf
Seite 336 geschilderten Vorgang, wo der kranke Blücher in einem weißen
Ofen mit einer auf demselben auf einer Säule stehenden Urne eine weiße
Gestalt zu sehen glaubte, die die Säule umfaßt, den Kopf an die Urne
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Kleinere Mitteilnngen.
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gelegt und ihm gewinkt habe; oder ferner (S. 350) die Erscheinung seines
Freundes Zastrow als Lieht gestalt, was sich dann als der Feuerschein
einer Feldschmiede entpuppte u. a. m. Diese illusionären Umdeutungen
harmloser Gegenstände im Zwielicht oder in krankhafter Verfassung ist
geradezu ein klassisches Symptom psychopathischer Seelen, das findet
man bei fast jedem einzigen derartigen Individuum.
So spricht also m. E. alles für die Annahme konstitutionell-hypo¬
chondrischer Verstimmungszustände und gegen Depressionsphasen eines
manisch-depressiven Irreseins. Und da eine mäßige Psychopathie, als die
das Blüchersehe Leiden anzusprechen wäre, noch bei weitem nichts mit
Geisteskrankheit zu tun hat, so wäre auch das Odium hinfällig, das anderen¬
falls sich an die Lichtgestalt dieses unseres populärsten Nationalhelden
herandrängen könnte. Dr. Baller-C winsk.
Erwiderung. — Dem Verfasser vorstehender Entgegnung auf
meine Blücherskizze, Herrn Dr. Baller, habe ich vor allem zu erwidern:
Blücher ist keine „Lichtgestalt", kein vom grauen Nebel der Sage um-
wobener Held der Vorzeit, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut,
mit Fehlern und Krankheiten, aber mit noch viel mehr mannhaften und
gewaltigen Eigenschaften des Charakters und des Willens.
Baller wirft mir nun vor, daß ich ..gelegentliche psychische Eigen¬
tümlichkeiten" Blüchers ,,unter die kritische Lupe nehme", und daß durch
meine Schuld nun „unser braver, alter Vater Blücher psychiatrischem
Forschertrieb zum Opfer gefallen“ sei. Diese Anschuldigung kann ich nicht
anerkennen. Ich habe nicht etwa „gelegentliche psychische Eigentüm¬
lichkeiten" Blüchers zusammengesucht und zu einer psychiatrischen
Diagnose verdichtet, sondern ich Süchte Klarheit darüber zu gewinnen,
was an den allgemein bekannten Behauptungen, daß Blücher an „Irrsinn"
gelitten habe, daß er geglaubt habe, einen Elefanten im Leibe zu haben
und dergleichen, richtig ist, oder was diesen Behauptungen zugrunde liegt.
Jedes eingehende geschichtliche Werk aus den Tagen der Freiheitskriege
enthält derartige Behauptungen zum Teil in einer so schroffen Form
(vgl. Pertz-Dolbrück, „Gneisenau", 1800, Bd. IV, S. 110/111 und viel
stärker Delbrück in „Gneisenau bei Laon", Mil. Wochenblatt 191ß, Nr. 4,
S. 70 fl., wo er davon spricht, „daß der Feldherr vorübergehend irrsinnig
wurde" u. a.), daß mir auf meine Blücherarbeit der Verfasser der neuesten
Blücherbiographie, Exz. von I nger, in einem zustimmenden Brief nahe¬
legte, diesen unhaltbaren Behauptungen von dem „Irrsinn Blüchers"
öffentlich einmal ausdrücklich entgegenzutreten. Dies hätte er nicht
getan, wenn nicht ans meinen Darlegungen hervorgegangen wäre, daß
ich die Krankheit Blüchers milder beurteile als z. B. der Geschichtsforscher
Delbrück. Denn wenn Delbrück vom „Irrsinn" Blüchers spricht, so ent¬
stehen durchaus falsche, übertriebene Vorstellungen von den Erkrankungen
Blüchers, die in geschichtlichen Darstellungen als „Schwermutszustände 1 *
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392
Kleinere Mitteilungen.
oder als „schwermütig hypochondrische Verstimmungen" bezeichnet
werden sollten. Demnach kann von Zerstören eines „Nimbus" für alle,
die Blücher kennen und verehren und denen er als Mensch und Persön¬
lichkeit mehr ist als bloß der „brave, alte Vater Blücher“, nicht die Rede
sein. Aber auch sonst schienen mir Nichtfachleute in meiner Blücher¬
darstellung keine Verunglimpfung des urwüchsigen originellen Mannes
zu erblicken, sie freuten sich vielmehr an der menschlich großen Persön¬
lichkeit, die nach diesen Untersuchungen nicht etwa, wie man sonst hören
kann, „halb verrückt“ war, sondern nur vorübergehend an Krankheiten
des Gemütes litt. Eben die Beurteilung Ballers ist mir ein weiterer Beweis
dafür, daß ich in meiner Darstellung fern davon bin, die Erkrankungen
Blüchers als krankhaftere Zustande zu schildern, als sie es in Wirklichkeit
waren. Sonst wäre es nicht denkbar, daß Baller sie lediglich als Ausdruck
einer Psychopathie, als psychopathische Verstimmungen ansieht. Aber
trotzdem muß ich dieser Auffassung entgegentreten. Ich setze voraus,
daß die Diagnose ohne Tendenz gestellt wird. Denn es handelt sich doch
darum, einen im vollen Licht der Geschichte stehenden Mann klar zu
sehen. Die Erwägung, daß die Diagnose „periodische Geisteskrankheit“
oder vielmehr „Schwermut“ auf „die Menge, wenn sie solche Reflexionen
aufgreift“, ungünstig wirkt, darf daher nicht bestimmend sein. Baller
spricht von „gelegentlichen psychischen Eigentümlichkeiten“ und ähn¬
lichem. Das ist zu wenig gesagt. Es handelte sich vielmehr um ausge¬
sprochene Krankheitszustände. Das beweist vor allem der Umstand,
daß seine zeitgenössische Umgebung ihn auch für ausgesprochen krank
ansah, obwohl doch der Laie sehr dazu neigt, sogar da noch psychologische
Zusammenhänge zu erblicken, wo die neuere Psychiatrie nur noch psycho¬
logisch nicht mehr verständliche Auswirkungen einer Geisteskrankheit
erkennt. Wenn Baller aber der Diagnose nur einen andern Namen geben
will, indem er von „konstitutionell hypochondrischen Verstimmungs¬
zuständen“ spricht, so bin ich vom Standpunkt seiner Nomenklatur fast
mit ihm einverstanden. Denn ich gebe zu, daß auch für mich zwischen
Psychopathie mit Neigung zu Stimmungsschwankungen, zwischen Zyklo¬
thymie und manisch-depressivem Irresein bzw. periodischer Schwermut
mehr ein quantitativer als ein qualitativer Unterschied besteht. Immerhin
betonen die beiden ersten Bezeichnungen mehr die krankhafte Anlage,
letztere aber sind mit einem in den Zwischenzeiten gesunden Nervensystem
eher vereinbar und lassen die Krankheitszustände mehr selbständig und
zeitlich begrenzt erscheinen. Dies trifft aber bei Blücher zu. Ich glaube
auch, wir tun gut daran, derartige Zustände schwerer Verstimmungen,
welche Wochen und Monate lang einen Menschen zu jeder Arbeit unfähig
machen und ihm seine Umgebung in krankhafter Verzerrung zeigen,
eben als das zu bezeichnen, was sie sind, nämlich als richtige Krankheiten,
als Depressionen, als Schwermut und nicht bloß als gelegentliche psychische
Eigentümlichkeiten; wir müssen aus praktischen und wissenschaftlichen
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Kleinere Mitteilungen.
393
Gründen Grenzen ziehen. Gerade aus dieser Begrenzung entspringt aber
für die Betrachtung Blüchers nebenbei der weitere Gewinn, daß wir sagen
können: in der Zwischenzeit war Blücher gesund, alle anderen Eigentüm¬
lichkeiten gehören zu seinem Charakter, auch krankhaft manische Zu¬
stände kennen wir bei ihm nicht, woran vielleicht der psychiatrisch ge¬
bildete Geschichtsforscher denken möchte. Klarheit und Wahrheit rüöken
die Gestalt Blüchers nur mehr ins Licht. Ja, ich halte es für viel günstiger,
ohne bei meinen Ausführungen an eine Tendenz in dieser Richtung zu
denken, wenn man sagen kann, daß Blücher eine gesunde, eigenartige,
geniale Persönlichkeit mit vorübergehenden Depressionen war, als wenn
man ihn, wie Baller es tut, einen Psychopathen nennt.
Dr. E. Mayer.
Eine Anzahl deutscher Psychiater, die an den Bezirksanstalten
Elsaß-Lothringens tätig waren, sind ihrer Stellen enthoben und nach
Deutschland abgeschoben worden.’ Das gleiche droht den Ärzten der
Provinzialanstalten Posens. Es wird für diese Kollegen sehr schwer sein,
eine neue Stellung zu finden, da die öffentlichen Anstalten infolge der
Rückkehr der zum Heere eingezogenen Anstaltsärzte und der Verminderung
der anstaltbedürftigen Kranken reichlich mit Ärzten versehen sind und
daher eine Neuanstellung nur in einzelnen Fällen in Frage kommen kann.
Der Vorstand des Deutschen Vereins für Psychiatrie hat sich nun an die
zuständigen Behörden der Einzelstaaten, der preußischen Provinzen und
dar bayrischen Kreise mit der Bitte gewandt, sobald ein solcher Fall ein-
tritt, die wegen ihres Deutschtums vertriebenen Anstaltsärzte Elsaß-
Lothringens und Posens in erster Linie zu berücksichtigen. Er hofft
damit keine Fehlbitte zu tun. Sehr wünschenswert aber wäre es, daß
auch die Kollegen, die als Sachverständige di« Behörden in solchen Fragen
beraten, sich der Sache annehmen und gegebenenfalls es als ihre Ehren¬
pflicht ansehen, jenen Männern, die, aus ihrem Amte herausgerissen,
nicht nach Unterstützung, sondern nach Arbeit verlangen, diesen Wunsch
nach Möglichkeit erfüllen zu helfen. Die Zentralfürsorgestelle für elsaß-
lothringische Beamte im Reichsamt des Innern wird über Namen, frühere
Stellung und jetzige Adresse der in Betracht kommenden gern Auskunft
geben.
Die Heinrich Laehr-Stiftung überwies im Rechnungsjahr
1. 4. 1918—1. 4. 1919 Herrn Prof. Dr. /sserfm-München 1200 M. zur Fort¬
setzung seiner psychologisch-phonetischen Untersuchungen. Das Ver¬
mögen der Stiftung bestand am 1. 4. 1919 aus
Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXV. 3. 27
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394
Kleinere Mitteilangen.
5 000 M.
100 000 „
37 000 „
96 500 „
70 000 „
52 000 „
39 000 „
29 000
24 000 „
4 000 „
5 000 „
25 500 „
20 000 „
16 000 „
5 910
3% preuß.
3 %•% „
4 %
Konsols
99
eingetragen im Staatsschuldbuch und
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
° /O
5%
5%
4 H%
5%
4%%
4y 2 %
5%
5%
5%
5%
1. Kriegsanleihe
2 .
3.
4.
5. ,,
6 .
6 . „
eingetragen im Reichsschuldbuch und
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
7.
7.
8 .
9.
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
eingetragen im Reichsschuldbuch und
der Darlehnskasse Berlin verpfändet
eingetragen im Reichsschuldbuch.
Guthaben bei der Darmstädter Bank.
Dagegen schuldete die Stiftung der Darlehnskasse Berlin 357 610 M.
Personalnachrichten,
Dr. Karl Wickel, San.-Rat, Oberarzt in Dziekanka, ist zum Direktor
der Landesanstalt Haina (Reg.-Bez. Cassel),
Dr. Joh. Bresler, Oberarzt in Lüben, zum Direktor der Prov.-Anstalt
Kreuzburg, .
Dr. Georg Stertz, Prof., Oberarzt in Breslau, als Nachfolger von Prof. Ernst
Rüdin zum Oberarzt der psychiatr. Klinik in München ernannt
worden.
Dr. H. Willige, Prof., Oberarzt in Halle, ist als leitender Arzt zur
Privatanstalt Ilten übergesiedelt.
Dr. Hans Grühle, Priv.-Doz. in Heidelberg, hat den Titel Professor .
erhalten.
Dr. E. L. Brückner, Oberarzt in Hamburg-Langenhorn, ist als Stabsarzt
d. R. in der Kampfzone im Osten am Fleckfieber gestorben.
Dr. Wilhelm Plaskuda, Oberarzt in Lübben, ist gestorben..
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ffeilung des Orest: in Goethes Iphigenie
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Carl Moeli,
dem diese Blätter gewidmet sind, und dessen Bild — aus der
Zeit kurz vor dem Kriege stammend — sie einleitet, blickt aui
10. Mai 1919 auf 70 Jahre eines arbeitvollen, aber auch unge¬
wöhnlich erfolgreichen Lebens zurück. Den Tag so zu feiern,
wie es uns sonst wohl ums Herz wäre, verbietet die Not, die
jetzt über Deutschland hereingebrochen ist, und wäre auch nicht
im Sinne des Jubilars. Aber daß seine Mitarbeiter und Freunde
den Tag benutzen, um ihm Früchte ihres Fleißes darzubringen,
gestattet auch die schwere Zeit, die gerade zur Arbeit und
zur Vereinigung auffordert, und zum Sammeln solcher Früchte
dürfte neben dem Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten,
dessen Mitherausgeber Moeli ist, unsre Zeitschrift vor andren be¬
rufen sein, weil sie in besonders nahen Beziehungen zum Deutschen
Verein für Psychiatrie steht, dessen Vorsitzender der Jubilar ist.
Mögen ihm die Darbietungen als Zeichen dankbarer Verehrung
willkommen sein!
In Cassel geboren, hat Modi , nachdem er in Marburg.
Würzburg und Leipzig studiert und als Assistent der inneren
Kliniken in Rostock und München seine medizinischen Kenntnisse
befestigt und erweitert hatte, seine psychiatrische Laufbahn ganz
an Berlin geknüpft. Zuerst unter C. Westphal in der Charite,
dann an den städtischen Anstalten Dalldorf und Herzberge tätig,
erlangte er durch seine wissenschaftlichen und praktischen Lei¬
stungen wie durch seine für alles Neue offene, aber auch scharf
und bedächtig abwägende, ebenso lebendige und frische wie
liebenswürdige und gesellige Persönlichkeit eine mit den Jahren
rasch zunehmende Bedeutung. Wie vielseitig die Anforderungen
waren, die an ihn gestellt wurden, ist daraus zu ersehen, daß er
neben der Leitung der städtischen Anstalt Herzberge (1893—1914)
als Privatdozent (seit 1883) und ao. Professor (seit 1892) regel¬
mäßig Vorlesungen an der Universität hielt, Mitglied der wissen-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 28
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
396
Vorwort.
schaftlichen Deputation (seit 1892) und des Reichsgesundheitsrates
war, den städtischen Körperschaften als Berater diente — so
besonders auch beim Bau der beiden neuen Anstalten in Buch —,
im Kultusministerium und später im Ministerium des Innern als
Hilfsarbeiter eine ausgedehnte Tätigkeit entfaltete und dem
Deutschen Verein für Psychiatrie (seit 1905) Vorstand. Daneben
sei an die große Arbeit erinnert, die ihm zwischendurch aus der
Teilnahme an Kommissionen erwuchs, namentlich an denen zur
Abänderung des deutschen Strafgesetzbuchs und der Strafproze߬
ordnung. Zur Bewältigung dieser so verschiedenen Anforderungen
war nicht nur rastloser Fleiß und genaue Zeiteinteilung, sondern
auch ein klares Ergreifen der leitenden Gesichtspunkte und ein
genauer Überblick über die Einzelaufgaben erforderlich, und allein
Moelis hervorragende Fähigkeit zum Zusammenfassen im Verein
mit seiner Neigung, jede Frage hin und her zu wenden,-sie von
immer neuen Seiten zu betrachten und alle ihre Beziehungen
sich gründlich zu vergegenwärtigen, ehe er eine Entscheidung
traf, ermöglichte es ihm, in der Fülle der Einzelheiten die ihm
vorschwebenden Ziele nicht zu verlieren und in allem die Grund¬
züge auszuprägen, die sich ihnl als nötig ergeben hatten. So
vereinigte er Festigkeit im Wesentlichen mit großer Beweglichkeit
in Nebensachen und konnte in leitenden Stellungen Ordnung und
maßgebenden Einfluß aufrechterhalten und doch seinen Mit¬
arbeitern weitestgehende Freiheit gewähren. Gerade diese Eigen¬
tümlichkeit schuf ihm die Möglichkeit, die Leitung seiner großen
Anstalt, die ihm die stete Vertrautheit mit allen praktischen und
wissenschaftlichen Fragen sicherte, gewissermaßen als Unterlage
für seine weitergehenden Leistungen bis vor kurzem beizubehalten,
was einem Andren trotz größtem Fleiße kaum ohne Vernach¬
lässigung eines oder des andren Amts so lange gelungen wäre.
Daß ihm die hierzu erforderliche Rüstigkeit und Frische erhalten
blieb, ist freilich nicht zum wenigsten auch der stillen, unermüd¬
lichen Fürsorge seiner Gattin zu danken, die, wie sie in früheren
Jahren ihm bei seinen mikroskopischen Arbeiten eine treue Helferin
war, so auch später an allem, was ihn in seiner vielseitigen
Tätigkeit beschäftigte, stets lebhaften Anteil nahm und in der
Sorge für sein Wohl aufging.
Schließlich machte doch das Anwachsen der Aufgaben im
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Carl Moeli.
397
Ministerium und das zunehmende Alter eine Entlastung nötig.
Aber bald, nachdem Moeli vor 5 Jahren sich entschlossen hatte,
die Leitung von Herzberge niederzulegen, brach der Krieg aus
und brachte ihm an Stelle der direktorialen Tätigkeit eine erheb¬
liche Vermehrung der übrigen Geschäftslast, da er, um Kräfte
für andere'Zwecke freizumachen, die Vertretung seiner Mitarbeiter
im Ministerium in aufopferndster Weise übernahm. Die Folge
war dauernde Überanstrengung, die im Verein mit der Ernährungs¬
knappheit ihm schwere, noch immer nicht ganz überwundene
Krankheit zuzog. Möge das neue Lebensjahr ihm völlige Ge¬
nesung bringen!
Ich lasse einen Bericht Falkenbergs über Moeli als Anstalts¬
direktor und eine Würdigung seiner Tätigkeit im Ministerium
durch Exz. Kirchner folgen, die beide besondres Interesse er¬
regen dürften, und schließe mit einer, wenn auch gewiß unvoll¬
ständigen Zusammenstellung seiner bisherigen wissenschaftlichen
Arbeiten. H. L.
In kurzen Worten dem gerecht zu werden, was die Anstalt
Herzberge ihrem ersten Direktor Moeli verdankt, ist keine leichte
Aufgabe; hat er doch mehr als 21 Jahre rastlos an der Vervoll¬
kommnung der Anstalt gearbeitet und allen ihren Einrichtungen
den Stempel seiner starken Persönlichkeit anfgeprägt. Ein er¬
schöpfendes Bild der direktorialen Tätigkeit Moelis *zu geben, ist
daher schwer möglich; dankbare Verehrung will aber versuchen,
wenigstens das für sie besonders Kennzeichnende hier festzuhalten.
Hierzu gehört vor allem die großzügige Auffassung, die Moeli
von den Aufgaben eines Anstaltsdirektors hatte. Wenn er auch
die Zügel der Verwaltung straff in der Hand behielt und auch
dem Detail lebhaftes Interesse entgegenbrachte, ohne das ja nach
einem Worte Steins niemand Verwaltungsbeamter sein kann, ging
sein Bestreben doch stets dahin, seinen Mitarbeitern und Beamten
nach Möglichkeit freie Hand zu lassen. Von der Überzeugung
durchdrungen, daß das Gedeihen des Ganzen wesentlich von der
Arbeitsfreudigkeit des einzelnen abhängt, und daß es kein besseres
Mittel gibt, die Lust und Liebe zur Arbeit zu steigern, als die
Gewährung möglichst weitgehender Selbständigkeit, sah er seine
Aufgabe nicht darin, sich um jeden Einzelfall zu kümmern und
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398
Vorwort.
jede Einzelfrage seiner Entscheidung vorzubehalten, sondern in
der Aufstellung allgemeiner Grundsätze und Richtlinien, nach
denen gleiche und ähnliche Fragen dann erledigt werden konnten,
ohne daß jedesmal ein besonderes Eingreifen des Direktors not¬
wendig geworden wäre. Freilich bedurfte es, um eine derartige
Organisation zu schaffen und im Gang zu halten, in der die
einzelnen Dienststellen möglichst selbständig, unter eigener Ver¬
antwortung und doch nach gemeinsamen Gesichtspunkten arbeiteten,
jenes großen praktischen Geschickes und weiten Blickes, wie sie
Moeli eigen sind. Und wenn er bei der Erledigung der Geschäfte
Wert legte nicht nur auf sachliche, sondern auch auf formale
Korrektheit, so war auch dies nicht etwa der Ausfluß eines un¬
fruchtbaren Bürokratismus, sondern der Erkenntnis, daß dadurch
die glatte Durchführung der von ihm vertretenen dezentralisieren¬
den Grundsätze erleichtert werde.
Namentlich seinen älteren Mitarbeitern ließ er in ärztlichen
Dingen völlig freie Hand, verlangte dafür aber von ihnen, daß
sie auch in schwierigeren Fragen unter eigener Verantwortung
selbständig ihre Entscheidung trafen. Er wußte, daß es in einer
Anstalt von dem Umfange und der Aufnahmeziffer wie Herzberge
für den Direktor unmöglich sei, sich um den einzelnen Kranken
so zu kümmern, wie es von dem behandelnden Arzt verlangt
werden muß, und überließ daher die eigentliche ärztliche Be¬
handlung und Beurteilung des Einzelfalls seinen Ärzten, während
er sich selbst mehr als consiliarius betrachtete; aber auch als
solcher suchte er niemals seine etwa abweichende Meinung mit
Hilfe der Autorität, die er als Direktor beanspruchen konnte, zur
Geltung zu bringen. Weit wichtiger war ihm, seine Ärzte zu
eigenem selbständigen Denken und Handeln anzuregen. Trotz
aller äußerer persönlicher Zurückhaltung war daher überall der
lebendige, nie rastende, auf das Wohl seiner Kranken und das
Gedeihen der ihm anvertrauten Anstalt bedachte Geist Moolis zu
spüren. Auf das sorgfältigste verfolgte er die hygienischen und
sonstigen in der Behandlung der Geisteskranken gemachten Fort¬
schritte, um sie für seine Anstalt nutzbar zu machen und weiter
auszubauen; die Einrichtung der Herzberger Familienpflege und
der Beiratsstelle für entlassene Geisteskranke sind, um nur einiges
zu nennen, sein eigenstes Werk und berühren sich mit jenen
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Carl Moeli.
399
Fürsorge-Bestrebungen (Maßnahmen gegen den Alkoholmißbrauch
und seine Folgen, Fürsorge für psychopathische Jugendliche u. ä.),
deren Förderung Moeli auch über den Rahmen der Anstalt hinaus
sich besonders angelegen sein ließ. Auch seine Reisen und
häufigen Besuche anderer Anstalten gaben ihm vielfache An¬
regungen zur Einführung neuer und Vervollkommnung eigener,
schon früher selbst geschaffener Einrichtungen: es sei hier nur
an die mustergültigen Einrichtungen für die Pflege und Unter¬
bringung ansteckender Kranken, die Operationszimmer, Dauerbäder
u. ä. in Herzberge erinnert. —
Wie er aber selber bei allem weitgehenden Interesse für die
Fragen der Praxis nicht in dieser aufging, sondern trotz der ge¬
waltigen Arbeitslast, die auf ihm ruhte, immer noch Zeit zu
fruchtbarster literarischer Tätigkeit fand, sah er es auch gern,
wenn seine Ärzte sich wissenschaftlich beschäftigten. Sie hierbei
nach Kräften zu fördern und ihnen durch die Bereitstellung be¬
sonderer Laboratoriumseinrichtungen und die Beschaffung etwaiger
sonstiger technischer Hilfsmittel behilflich zu sein, lag ihm be¬
sonders am Herzen.
Dem gleichen Zweck dienten auch die Referierabende, die
Moeli schon in Dalldorf eingeführt hatte, die dann in Herzberge
bis in die letzten Jahre hinein weiterbestanden, und auf denen
untfer Heranziehung # des reichen Krankenmaterials der Anstalt
wissenschaftliche Fragen mannigfacher Art erörtert wurden. Ge¬
rade hier pflegte Moeli gern aus der Fülle seiner Erfahrung und
seines reichen Wissens zu geben, liebte es aber auch, wenn
in freier, zwangloser Aussprache Einwände vorgebracht wurden,
und ließ willig andere Ansichten gelten, wenn sie genügend begrün¬
det werden konnten. Die Teilnehmer an diesen Abenden, nament¬
lich aus den früheren Jahren, die jetzt in ganz Deutschland verstreut
sind, werden sich gewiß auch jetzt noch gern jener Stunden erinnern.
Sein besonderes Interesse wandte Moeli der Heranbildung
und Erhaltung eines brauchbaren Pflegepersonals zu, für dessen
berufliche Hebung durch Unterricht in der Anstalt und durch
zeitweilige Überweisung einzelner an andere Krankenhäuser zur
Fortbildung auf chirurgischem,Gebiet und in der Pflege anstecken¬
der Kranker, einschließlich der Desinfektionsmaßnahmen, er nach
Möglichkeit sorgte. Auch die Bestrebungen des Personals nach
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400
Vorwort.
wirtschaftlicher Besserstellung und Erleichterung des Dienstes
fanden bei ihm volles Verständnis: so führte er, zum Teil angeregt
durch das Studium englischer Anstalten, die er auf seinen ßeisen
persönlich besucht hatte, schon bald nach Eröffnung der Anstalt
Herzberge grundsätzlich durch, daß die Pfleger nicht mehr unter
den Kranken, sondern getrennt in eigenen Zimmern schliefen,
sorgte dafür, daß die tägliche Arbeitszeit durch dienstfreie Zwischen¬
pausen für die Einnahme der* Mahlzeiten und zu sonstiger Er-
•holung unterbrochen wurde, und richtete auf den einzelnen
Häusern besondere Zimmer ein, in denen das Pflegepersonal sich
in der dienstfreien Zeit zur Ruhe und Erholung zusammenfinden
konnte.-
So ist die Anstalt Herzberge, in der sich ein gut Teil der
Lebensarbeit Moelis verkörpert, in Wahrheit sein Werk geworden,
und leicht wurde es ihm gewiß nicht, als er sich gleich nach
Vollendung des 65. Lebensjahres von ihr zu trennen entschloß.
Freilich hatte damals noch niemand außer ihm selbst ein Nach¬
lassen seiner Arbeitskraft bemerkt; gewohnt, an sich selbst die
höchsten Anforderungen zu stellen, glaubte er aber doch, jüngeren
Kräften Platz machen und sich auf die Tätigkeit an anderer,
wichtigerer Stelle beschränken zu sollen, um mehr Zeit und Muße
für die Vollendung von Arbeiten zu haben, die ihn schon lange
beschäftigten. Die Dankbarkeit und Verehrung seiner Schüler
und früheren Mitarbeiter ist ihm auch dorthin gefolgt, und gern
gedenken sie, die ihm in den Jahren gemeinsamer Anstaltstätig¬
keit auch persönlich nahe treten durften, mit herzlichsten Wünschen
des nunmehr Siebenzigjährigen. Falkenberg.
Am 15. Februar 1892 trat Carl Moeli als Hilfsarbeiter und
am 17. April 1893 als ordentliches Mitglied in die Wissenschaft¬
liche Deputation für das Medizinalwesen ein, am 1. Oktober 1893
wurde er als ständiger Hilfsarbeiter in die Medizinalabteilung des
Kultusministeriums berufen und am 1. April 1910 trat er mit
dieser zum Ministerium des Innern über. Er gehört jetzt also
mehr als 27 Jahre der Deputation • und mehr als 25 Jahre dem
Ministerium an. In dieser Zeit hat er eine umfassende Arbeit
geleistet und einen hervorragenden Einfluß auf die ^Gestaltung
und Verwaltung des Irrenwesens in Preußen ausgeübt.
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Carl Moeli.
401
Auf Grand eines Gutachtens der Wissenschaftlichen Deputation
vom 9. Oktober 1886 war durch Ministerialerlaß vom 19. Januar
1888 die Aufnahme und Entlassung in Privatirrenanstalten und
deren Beaufsichtigung geregelt worden. Die Durchführung dieses
Erlasses stieß jedoch auf Schwierigkeiten, weil die Zahl und Ein¬
richtung der betreffenden Anstalten der Zentralinstanz nicht hin¬
reichend bekannt war. Auf Hoelis Rat wurde dem zunächst
durch eine genaue Registrierung abgeholfen. Sodann wurde für
eine der Natur der Anstalten entsprechendere Art der Beaufsichti¬
gung, die bis dahin lediglich durch den zuständigen Kreisphysikus
und den Regierungs- und Medizinalrat, meist gelegentlich anderer
Dienstreisen, ausgeübt worden war, Sorge getragen. Durch
Ministerialerlaß vom 11. Mai 1896 wurden Besuchskommissionen
geschaffen und eine Geschäftsordnung für diese gegeben. Diese
Kommissionen, deren zunächst 17 ins Leben gerufen wurden, und
deren jeder ein hervorragender Fachmann beigegeben war, hatte
die Aufgabe, die Einrichtung, Leitung und den ganzen Betrieb
der Anstalt vom Standpunkte der wissenschaftlichen Psychiatrie
zu prüfen und den Leitern gegebenenfalls Anregungen und Rat¬
schläge zu erteilen, während die hygienisch-technische Über¬
wachung der Anstalten den Medizinalbeamten überlassen blieb.
Gemäß Ministerialerlaß vom 14. Januar 1897 haben die Besuchs¬
kommissionen über ihre Tätigkeit und ihre Wahrnehmungen all¬
jährlich an die Zentralinstanz zu berichten. Die Tätigkeit der
Kommissionen, die sich weniger auf die in der Mehrzahl vor¬
züglich eingerichteten und geleiteten Privatanstalten für zahlende
Kranke, als auf die zahlreichen kleineren Privatanstalten für Kranke,
die dort auf Kosten der Provinzen oder Kommunen untergebracht
werden mußten, erstreckte, erwies sich bald als außerordentlich
segensreich und fand nicht nur in den Kreisen der Staats- und
Provinzialbehörden, sondern auch bei den Anstaltsleitern selbst
die verdiente Anerkennung. Sie gewährleistet eine einheitliche
und wissenschaftlich auf der Höhe stehende Pflege und Behand¬
lung der Kranken.
Eine weitere wesentliche Maßregel, die auf Moelm Rat durch¬
geführt wurde, war die Regelung der Organisation und des ge¬
samten Betriebes aller Privatanstalten, insonderheit der Aufnahme
und Entlassung der Geisteskranken durch Ministerialerlaß vom
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
402
Vorwort.
26. April 1896. Er enthielt genaue Vorschriften über die Aus¬
wahl, die Vorbildung und die Tätigkeit der Anstaltsärzte, die
Einrichtung und die Leitung der Anstalten und die Aufnahme
und Behandlung freiwilliger Pensionäre. Auf Grund der inzwischen
gemachten Erfahrungen wurden diese Bestimmungen durch
Ministerialerlaß vom 26. März 1901 der Entwickelung der Wissen¬
schaft entsprechend abgeändert und vervollständigt unter Berück¬
sichtigung der verschiedenen Interessen der Kranken unter und
über 18 Jahren. Der Erlaß ermöglicht, den Verschiedenheiten
der einzelnen Anstalten tunlichst Rechnung zu tragen und auch
bezüglich des Nachweises der erforderlichen psychiatrischen
Kenntnisse der Leiter deren Eigenart und Entwickelung weit¬
gehend zu berücksichtigen. Eine genaue Regelung erfuhr auch
der Unterricht und die Beaufsichtigung dieses Unterrichts in An¬
stalten für jugendliche Epileptiker und Idioten.
Zahlreiche weitere Ministerialerlasse bauten die Vorschriften
über die Einrichtung und Leitung der Privatheilanstalten weiter
aus. Insbesondere wirkte Moeli mit bei den neuen Vorschriften
über Anlage, Bau und Einrichtung von Krankenhäusern usw.
vom 11. August 1913.
Besondere Sorgfalt wurde der Aufnahme, Unterbringung und
Behandlung gefährlicher und verbrecherischer Personen zugewandt,
die früher fast ausschließlich in den Gefängnissen und Zucht¬
häusern untergebracht, für die aber neuerdings hauptsächlich auf
Moelis Rat besondere Abteilungen für gefährliche Geisteskranke
in den Irrenanstalten geschaffen wurden, um sie einer zweck¬
mäßigen und wirksamen Pflege und Behandlung zuzuführen. Der
hiergegen anfänglich bestehende Widerstand, der hauptsächlich
finanzielle Gründe gehabt hatte, nahm je länger je mehr ab.
weil man sich allseitig von der Zweckmäßigkeit der Neuerung
überzeugte.
Moeli und SkrzeczTca führten auch die psychiatrischen
Fortbildungskurse für die Kreisphysiker ein, um die bei vielen
von diesen bestehenden Lücken in der Psychiatrie ausfüllen zu
helfen. Diese Kurse, die sich. ausgezeichnet bewährt haben,
waren bis zur Durchführung der Medizinalreform die einzige für
den Kreisphysikus bestehende Gelegenheit, sich fortzubilden. —
Aus ihnen sind die auf meine Veranlassung eingerichteten Fort-
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Garl Moeli.
403
bildungskurse für die Kreisärzte hervorgegangen, die sich außer
auf Psychiatrie auf Hygiene, gerichtliche Medizin und Medizinal¬
verwaltung erstreckten.
Die Verhältnisse der Geisteskranken außerhalb der
Irrenanstalten erfuhren. eine neue Regelung durch den Mini-
sterialerlaß vom 3. Juli 1896. Es wurden Anregungen und
Weisungen gegeben über die Anzeigepflicht, die periodische Be¬
sichtigung, die Zahl der in den einzelnen Familien unterzubringen¬
den Kranken usw. Weiter wurde versucht, das Los der Schwach¬
sinnigen zu verbessern, namentlich für ihre Erziehung zu sorgen,
um sie, soweit es ihre Beschränktheit zuläßt, zu brauchbaren
Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen.
Das Referat des Psychiaters im Ministerium ist zurzeit nur
nebenamtlich. Trotzdem hat Moeli es verstanden, es, der Wichtig¬
keit der Psychiatrie entsprechend, allseitig'auszubauen und in wahr¬
haft wissenschaftlichem Sinne zu bearbeiten. Jährliche Bereisungen
der Anstalten von je einer Provinz gaben ihm Gelegenheit,
seine Kenntnis der Anstalten und ihres Betriebs zu erweitern und
seine reichen Erfahrungen in den Dienst der Anstaltsleiter zu
stellen. Neben der Tätigkeit in der Medizinalabteilung nahmen
Moeli zahlreiche wichtige Gutachten in der wissenschaftlichen
Deputation in Anspruch, die fast sämtlich von ihm und dem
Ordinarius der Universität bearbeitet wurden. Das Bild von
Mortis Tätigkeit würde aber nicht vollständig sein, wenn ich
nicht erwähnen würde, daß er auch Mitglied der Kommission des
Strafgesetzbuches und des Reichsgesundheitsrates ist.
Mit höchster Anerkennung und aufrichtigem Dank schaut
die Medizinalverwaltung auf Moelia vielseitige Tätigkeit- und
wünscht von Herzen, daß sie dem Staate noch viele Jahr/ zum
Wolile der Allgemeinheit erhalten bleiben möge.
' Ministerialdirektor Prof. Dr. Kirchner.
Schriften Moelis.
1H80. Ein Fall von amvotrophischer Lateralsklerose. Areh. f. Psyeh.
Bd. 10, S. 718.
über die Häufigkeit von Geistesstörung bei Tabetikern. Allg.
Ztschr. Bd. 07, S. 530.
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404
Vorwort.*
1881. Zwei Fälle von Myelitis. Arch. Bd. 11, S. 757.
Uber psychische Störungen nach Eisenbahnunfällen. Berl. klin.
Wschr. Nr. 6 (AUg. Ztschr. 38, 4 (Lit.), 459).
1882. Die Reaktion der Pupillen Geisteskranker bei Reizung sensibler
Nerven. Arch. 13, 202.
1883. Über ophthalmoskopische Befunde bei Geisteskranken. A. Z. 40,657.
Akute halluzinat. Verwirrtheit bei einer Bleivergiftung. Charite-
Ann. Jg. 8 (A. Z. 40, 6 (Lit.), 122).
1884. Uber einige symptomatologische und pathologisch-anatomische
Verhältnisse des Alkoholismus. Berl. klin. Wschr. Nr. 14
(A. Z. 41, 6 (Lit.), 81).
Statistisches und Klinisches über Alkoholismus. Charitö-Ann.
(A. Z. 42, 3 (Lit.), 131.
1886. Was lehren die in Dalldorf gemachten Erfahrungen für die Frage
nach der Unterbringung geisteskranker Verbrecher? A. Z.
43, 298.
1887. Wirksamkeit des Jendrassikschen Handgriffs. Neurol. Ztlbl. S. 21.
Über die Pupillenstarre bei progressiver Paralyse. Arch. 18, 1.
1888. Über irre Verbrecher. Berlin, Fischer.
1889. Über Befunde bei Erkrankung des Hinterhauptlappens. Neurol.
Ztlbl., S. 439.
Demonstration eines Falles von Entwicklungshemmung einer Klein¬
hirnhemisphäre durch Veränderung der rechten unteren Hinter -
hauptgrube. Neurol. Ztlbl., S. 553.
1890. Über abnorme Schädel. A. Z. 47, 411.
1891. Lüge und Geistesstörung. A. Z 48, 257.
Gegenwärtiger Stand der Aphasiefrage. A. Z. 48, 489.
Über Syphilis des Nervensystems. Verh. d. Ges. d. Naturf. u. Ärzte.
(A. Z. 49, 4 (Lit.), 301).
Veränderungen d. Tract. u. N. opt. b. Erkrankung des Ökzipital-
hirns. Arch. 22, H. 1.
1892. Über Erkrankungen in der Haube der Brücke, mit Bemerkungen
über den Verlauf der Bahnen der Hautsensibilität. Arch. 24,655.
1893. Über atrophische Folgezustände in sensiblen Bahnen des Gehirns.
Neurol. Ztlbl., S. 503. .
M. und Skrzeczka, Superarbitr. über den Geisteszustand der Witwe
B. Vierteljschr. f. ger. Med., 3. Folge, 6. Bd., H. 1 (A. Z. 50,
Lit., 55).
M. u. Jolly, Superarb. betr. d. Geisteszustand des Postsekretärs M.
Ebenda, 3. Folge, 6. Bd., Suppl. (A. Z. 50, Lit., 56).
1894. Kurze Bemerkungen zur Behandlung der Epilepsie. A. Z. 51, 487.
1895. Über Lähmung im Gebiete des N. peroneus bei progressiver Paralyse.
Neurol. Ztlbl., S. 98 (A. Z. 51, 995).
1896. Akute Störung des Bewußtseins außerhalb der Epilepsie. Neurol.
Ztlbl., Bd. 16, S. 46.
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Qrigiral fran\
UNIVERS1TY OF MICHIGAN
Carl Moeli.
405
Die Irrenanstalt Herzberge, mit Bemerkungen über den Bau von
Anstalten für Geisteskranke. Berlin (A. Z. 54, Lit., 169).
1897. Weitere Mitteilungen über die Pupillenreaktion. Berl. kliiy Wschr.
Nr. 18, 19 (A. Z. 55, Lit., 51).
Ein Fall von Amnesie. A. Z. 54, 717.
1898. Über atrophische Folgezustände in Chiasma und Sehnerven.
Arch. 30, H. 3.
1899. M. u. Pistor, Obergutachten über den Geisteszustand des Kauf¬
manns L. Vjschr. f. ger. Med. 3. Folge, Bd. 17, H. 2 (A. Z. 56,
Lit., 49).
Die Geisteskranken im BGB. und in der ZPO. Berlin, Hirschwald
(A. Z. 56, Lit., 288).
1900. Über die vorübergehenden Zustände abnormen Bewußtseins infolge
von Alkoholvergiftung und über deren forensische Bedeutung.
A. Z. 57, 169.
Demonstr. d. automat. Exzenter-Rotationsmikrotoms Herzberge.
A. Z. 57, 599.
Material zu § 1569 BGB. Psych. Wschr. Nr. 39.
1901. Über Hirnsyphilis. Berl. klin. Wschr. Nr. 4 (A. Z. 59, Lit., 214).
Über Familienpflege Geisteskranker. Berl. klin. Wschr. Nr. 26
(A. Z. 58, 693).
Über Atrophie im Sehnerven. Arch. 34, 323.
Zur Statistik der Anstaltbehandlung der Alkoholiker. A. Z. 58, 558.
Über Hysterie. A. Z. 58, 740.
1902. Über Rückenmarkserkrankungen auf syphil. Grundlage. Berl.
klin. Wschr. S. 481.
1903. Die Imbezillität. Deutsche Klinik am Eingang des 20. Jahrhunderts.
Berlin, 1903.
Die Geisteskranken in zivilrechtlicher Hinsicht. Klin. Jb. Bd. 11,
S. 177.
Einiges über die Weiterentwicklung der Anstalten der Stadt Berlin
für Geisteskranke. Psych. Wschr. Jg. 4, S. 457.
1904. Jolly und M., Obergutachten betr. einen Fall zweifelhafter Dienst¬
fähigkeit bei Paranoia chron. Vjschr. f. ger. Med. 27, 219
(A. Z. 54, Lit., 28).
1905. Über das zentrale Höhlengrau bei vollständiger Atrophie des Seh¬
nerven. Arch. 39, 437.
über die zur strafrechtlichen Verfolgung zurechnungfähiger Minder¬
jähriger gemachten Vorschläge. Arch. 39, 1281.
1906. Die in Preußen gültigen Bestimmungen über die Entlassung aus
den Anstalten für Geisteskranke. Samml. zwangl. Abh. aus
dem Geb. d. Nerven- u. Geisteskrankh. Halle, Marhold, VII, 2.
Einige Bemerkungen über die 3. Anstalt für Geisteskranke der
Stadt Berlin in Buch. A. Z. 64, 375
1907. Die Tätigkeit des Sachverständigen bei Feststellung des Geistes-
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406
Carl Moeli.
• Zustandes im Zivilverfahren. Handb. f. ärztl. Sachverständigen¬
tätigkeit. Braumüller.
1910. Die Bestimmungen über Unzurechnungfähigkeit und verminderte
Zurechnungfähigkeit im Vorentwurf eines deutschen Straf¬
gesetzbuchs. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 5.
über den Entwurf des Strafgesetzbuchs: über die strafrechtliche
Zurechnungfähigkeit. Neurol. Ztlbl., S. 331 u. 390.
Die Aufgaben der ärztlichen Praxis bei der Fürsorge für psychisch
Kranke. D. med. Wschr. 2207.
1911. Bemerkungen zum Vorentwurf des StGB.s. Jb. f. Neurol. u.
Psychol., Jena, Fischer.
Die Aufgaben der ärztlichen Praxis bei der Fürsorge für psychisch
Kranke. Ztschr. f. ärztl. Fortbildung Nr. 6.
Bemerkung über die ,,psychischen Mängel“ als Strafausschließungs¬
grund. Psych.-neurol. Wschr. Jg. 13, Nr. 11.
1913. Behandlung der Vergiftungen mit Weingeist. Handb. d. ges. Ther.
(Penzoldt u. Stintzing), 5. Auf!., Bd. 1.
Über Anwendung des § 202 StPO, bei Personen, die im Verlauf
einer Untersuchung geisteskrank befunden werden. Mschr. f.
Krim.-Psych. 9, H. 11—12.
Bemerkungen über die Regelung des Rechtsverhältnisses der in
Anstaltsbehandlung oder in Pflege fremder Personen befind¬
lichen Geisteskranken in Preußen. Ebenda 10, H. 8.
Die Beiratstelle als Form der Fürsorge für aus Anstalten entlassene
Geisteskranke. VeröfT. a. d. Geb. d. Med.-Verwaltung Bd. 2.
H. 2. Berlin, Schütz.
I9l-i. Zur Strafgesetzgebung. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 3.
1915. Weitere Bemerkungen über die Rechtsverhältnisse der in Anstalten
gelangten Geisteskranken in Preußen. Mschr. f. Krim.-Psychol.
I, H. 8.
Bonhöffer und M., Obergutachten betr. die Verantwortlichkeit des
Irrenarztes für den Selbstmord eines Geisteskranken. Vschr.
f. ger. Med., 3. Folge, 49.
Die Fürsorge für Geisteskranke und geistig Abnorme nach den
gesetzlichen Vorschriften, Ministerialerlassen, behördlichen
Verordnungen und der Rechtsprechung. Halle, Marhold.
1917. Zur Erinnerung an Heinrich Schüle. Arch. 57, 526.
1918. Uber Vererbung psych. Anomalien. Berl. klin. W T schr. Nr. 25—27.
Die Berücksichtigung der geistigen Anomalien durch die Zivilgesetz¬
gebung der Schweiz und Österreichs. Vschr. f. ger. Med.
Bd. 56, H. 1—2.
1919. Die Anstaltsaufnahmen zur Vorbereitung eines Gutachtens über den
Geisteszustand eines Angeschuldigten und zur Feststellung des
Geisteszustandes eines zu Entmündigenden in Preußen.
Psychol.-neurol. Wschr. Jg. 20, Nr. 37—40.
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Über die Emährungsverhiiltnisse in der
Irrenanstalt Buch während des Krieges 1914/18
und deren Folgen.
Von
Geh. Sanitätsrat Dr. A. Richter in Buch.
Als nach Ablauf der ersten zwölf Kriegsmonate die Gewichts¬
abnahmen unserer Patienten deutlicher in die Erscheinung traten
und sich einzelne derselben über knappe Beköstigung zu beklagen
begannen, veranlagte ich eine Zusammenstellung der Patienten¬
gewichte nach den monatlich in die Wägebücher der Häuser ein-
getragenenen Ergebnissen.
. Die Zusammenstellung erfolgte so, daß einmal die monat¬
lichen Gewichte der gesamten Patienten jedes Hauses — die
Wägungen erfolgten stets im Hemd — zusammengezählt und mit
der Anzahl der gewogenen Patienten geteilt und kurviert wurden,
und zwar zurückgreifend bis Juli 1914, und daß überdies die
gesamten Gewogenen in vier Rubriken: Gewichtszunahmen, Ge¬
wichtsstillstand, Gewichtsabnahmen bis 1 kg, Gewichtsabnahmen
über 1 kg, und zwar gleichfalls häuser- und monatweise, unterge¬
bracht wurden. Die erstere Berechnung wurde dann weiterge¬
trieben, indem die Gewichte der sämtlichen Männer bezw. Frauen
zusammengezogen und jedes dieser beiden Gesamtgewichte mit der
Anzahl der gewogenen Männer bezw. Frauen geteilt wurde, und
schließlich wurden in derselben Weise die Männer- und Frauen¬
gewichte gemeinsam behandelt. Die letzteren beiden Verfahren
wurden gleichfalls kurviert, so daß ich eine Männer- und eine
Frauenkurve bekam und eine Kurve, in welcher die sämtlichen
Gewogenen der Anstalt beider Geschlechter enthalten waren.
Das Resultat ergab nun Gewichtsabnahmen, und zwar waren
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ifjts ftitliter,
»fe ggfttJlgft 'VO» fiM bg «h Attgu$i 1^14 aut
00 kg un • pp* Inn b.5 hg. die ^'raüß'ßgewiaii!«'
.vöu . 04,8 % iw August J4414 'auf 49*7 kg tm Ä«gt|Rt 1915. also-.
am 5*1 kg., Und i\M Gewicht der beiden %i
von 58,8 kg rU>i i>>S.,7 kg _al.se aueh fcim'5,t
Stellung «fa»r' [iubrijkaJgeWu.lite tcel siatijirlicb aiiai.bg. »bs
tm -mui- von #0i? Seite erdgcgtwt wurde, daß die**. Gewichts-
• i.ü.iiioM'-i •-. k-drit |«i -:jw elf ui Hotwendjgef\yeiso auf' die Ernähr
tto Anstalt; .mriiekgefn'h.rt werden iiiitöfen, bat
o ii j«- ll iu.nl in Wuldgarten -— mh danke ihm zu-
gbieh «u dieser beateuk am seine Gewichts-
iwoltuie und eie hü- <h. •••::.• - : ; :-.beo gieidifaUsein kontinuierlich^
•:*.nkeo -dt Rri^Wuiti. .i-nd **» sänket* seine .Männergewiehtc
■ • 1 i■ tjß.ö kg im A-ygoW ;i"Mf mt 58.3 kg tm August: 1915, aiso
.t!n 5.2 kg. und :<mm- t^K-oge wichte in derselben Zeit von
u(') 5 kg'- änf; 5.ä,2 kg, also rtm .4,3 feg.Da nun Wuhlgarten nach
denselben Speisebestmimmigeo verpflegt wie Buch und die andern
Berliner stäiUist hm* jbim» an statten rsneh Itt diesen fielen die (?</-
Kudook is'i der Sohlnß' 4aB die Gewichtsriickgänge
aut die Vo'ddioguijgvsretlvkltniisse zurükzufähreti waren.
15? 0 hierbei bemerkt. daß Wuldgarten and Buch bia zum
l.<. :mv n i. • ••■ UGcu jrtäp-H regelmäßig miteinander-aus-*
und daß. wahrend die "Gewiebtskurven. der Männer
beider Anstalten sieh schneide». : . <Ki& Mäuuer derselben
rti.-,o im Dirndfrchmll uny <*>:>:.!• .neteh seh\yer sind, die Wuhlgariener
Ü:reiudnkt»rvß stets über der Saeiier steht, die krampfkraoMen
Frauen Vwdbgärleus also schwerer sind, als die B.tK-ber geistes-
kt :iiik(*it !• i;.m u. was vielleicht twi zu .erklären, ist. daß die Bacher
Fnififfigv\'-..--iw.e durot* die hinfälligen Paralysen gedrückt- die
i.m wieder darob die rüstigen Krimi-
, -o Wublgävtejöot 'i;u:uetknr?£ «ntpörgeltobeil werden, so
i ■-.•!!,;ii der rüstigem Kriminellen (ca. 225. jetzt 1621
auch die ßoelo r Müaoerkuirvg^ainkem wSrde, die Ursache des
Wldb^fü^bsAfer Kursen. hed#r G<^dhlbclder äläft' nicht iu Wuhl-
garttou söiideto ib gtv ?itchen wäre^; • -A
Wed'-i :,•(•} cm* ii ar.i e;ue andere interessante,' Tötsaeite hi«
•/mvio.-vMi W-U*r- nd de- ?*o* Her männlielnm Patienteu hei einem :
,
‘
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Uber die Emährungsverhäitnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 409
Durchschnittsalter von 46 Jahren 165;0 cm nnd die weiblichen
bei einem von 49 Jahren 153,6 cm hoch waren, berechnet
Quetelet ( Villaret, Handwörterbuch der gesamten Medizin 1900,
S. 157) die Männerkörperhöhe bei einem Alter von 25 Jahren
auf 167,5 cm und die der Frauen bei gleichem Alter auf 157,9 cm:
darnach dürften die Irren bei ihrer geringeren Körperhöhe auch
etwas leichter sein, als die in Freiheit befindliche Bevölkerung,
und tatsächlich berechnet Quetelet ebenda den Mann mit 40 Jahren
auf 67,0 kg (Buch 63,1), die Frau mit 60 Jahren auf 58,0 kg
(Buch 54,8). Die männlichen Paralysen messen aber 168,1 dm,
die weiblichen 157,1, sind also beide länger als die übrigen Irren,
wohl deshalb, weil bei den Irren das Moment der Degeneration
überwiegt, während die Paralytiker an einer Infektionskrankheit
leiden; wenn aber die weiblichen Paralysen doch nicht das
Queteletsche weibliche Durchschnittsmaß erreichen, so liegt das
wohl daran, daß unter ihnen wiederum die degenerierten Prosti
tuierten sich befinden. Nachstehender Überblick erläutert das
Gesagte:
Bücher Irre ins- M.
gesamt.165,0 cm 63,1 kg (46 Jahr)
Bücher Paralysen 168,1 cm
Quetelet .167,5 cm (25 Jahr) 67,0kg
(40 Jahr)
F.
153,6 cm 54,8 kg (49 Jahr)
157,1 cm
157,9 cm (25 Jahr) 58,0 kg
(60 Jahr)
Das jüngere Durchschnittsalter der Bücher männlichen über
die Bücher weiblichen Irren insgesamt ist wohl auf das zahlen¬
mäßige Uberwiegen der männlichen Paralytiker zurückzuführen,
welche meist im jüngeren Alter erkranken. —
Immerhin beruhigte mich die Kongruenz der Bücher und
Wuhlgartener Durchschnittsgewichtskurven nicht vollständig; ich
griff also mit den Durchschnittsgewichtsberechnungen zurück bis
auf das Jahr 1906, dem Eröffnungsjahr der Anstalt Buch. Was
ergab sich nun?
Der tiefste Männergewichtsstand vor dem Kriege war auf
Januar 1909 mit 63,2 kg verzeichnet, zu den 57,6 kg des August
1915 also mit immer noch einer Differenz von 5,6 kg; der höchste
auf April und Juni 1907 mit 70,5 kg, zu den 63,1 kg des August
1914 allerdings mit einer Differenz von 7,4 kg, hohe Durchschnitts-
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410
Richter.
gewichte der ersten Anstaltsjahre, bedingt durch große Aufnahmen
im Kremser transportabler, rüstiger Patienten. Von Januar 1910
ab sanken die Männerdurchschnittsgewichte ganz allmählich von
67.2 kg auf 63,1 kg des August 1914. Die erste Männerwägung
(November 1906) hatte ein Durchschnittsgewicht von 69,8 kg
ergeben.
Die Frauendurchschnittsgewichte erreichten ihren tiefsten
Stand vor dem Kriege mit 53,4 kg März 1912; zu den 49,7 kg
des August 1915 also immer noch 3,7 kg Differenz; ihren höchsten
Stand erreichten sie im Juni 1907, Januar 1908 und September
1910 mit 56,0 kg, ergibt zu dön 54,8 kg des August 1914 nur
1.2 kg Differenz. Die erste Frauenwägung erfolgte Januar 1907
mit 65,4 kg, eine Höhe bedingt wie bei den Männern. Von
dieser ersten Wägung erfolgte ein jähes Abstürzen auf die 56,0 kg
des Juni 1907, woran sich so ziemlich eine Kontinua zu den
54,8 kg des August 1914 schloß.
Die Gewichte der beiden vereinten Geschlechter hatten ihren
tiefsten Stand vor dem Kriege im September 1907 mit 56,5 kg,
Differenz zu den 53,7 kg des August 1915 2,8 kg, höchster Stand
November 1906 mit 69,8 kg, Differenz zu den 58,8 kg des August
1914 11,0 kg.
Also auch das Zurückgreifen auf die Gewichtsbestimmungen
bis 1906 bezw. 1907 ergab keine derartig stetigen Gewichts¬
abnahmen wie die zwölf Monate August 1914 bis August 1915.
Zur Erklärung derselben bleibt also nur übrig, die Ernährungs-
verhältnisse heranzuziehen. —
Seit August 1915 sanken nun die Gewichte weiter, und zwar
die der Männer bis November 1915 auf 57,1 kg, bis Februar
1916 stiegen sie wieder auf 58,6 kg, von da fielen sie bis Sep¬
tember 1917 auf 48,1 kg und stiegen wieder bis Oktober 1918
auf 51,0 kg; die Differenz von Oktober 1918 zu den 63,1 kg
des August 1914 war also 12,1 kg. Die Frauengewichte sanken
bis November 1915 auf 48,7 kg, stiegen bis Januar 1916 wieder
auf 50,0 kg, um bis September 1918 wieder auf 39,7 kg zu
fallen und bis Oktober 1918 auf 39,8 kg zu steigen; die Differenz
von Oktober 1918 zu den 54,8 kg des August 1914 ist demnach
.sogar 15,0 kg. Die gemeinsamen Gewichte fielen bis November
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Über die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Huch usw. 411
1915 auf 52,8 kg, stiegen bis Januar und Februar 1916 auf
54.3 kg, fielen wieder im September und Dezember 1917 auf
44.4 kg, um bis Oktober 1918 auf 44,5 kg zu steigen; die Diffe¬
renz von Oktober 1918 zu den 68,8 kg des August 1914 ist dem¬
nach 14,3 kg. Die Männer hatten also überhaupt das niedrigste
Gewicht im September 1917 mit 48,1 kg, die Frauen im Sep¬
tember 1918 mit 39,7 kg und die niedrigsten gemeinsamen Ge¬
wichte beider Geschlechter fallen auf September und Dezember
1917 mit je 44,4 kg; die Differenz zu August 1914 (63,1 kg)
betrug darnach bei den Männern 15,0 kg, bei den Frauen (54,8 kg)
15,1 kg und bei dem gemeinsamen Gewicht (58,8 kg) 14,4 kg. —
Im allgemeinen scheinen Männerdurchschnittsgewichte von
50 kg und Frauendurchschnittsgewichte von 40 kg auf die Dauer
nicht vertragen zu werden, ohne daß gelegentlicher Tod eintritt
(vgl. Rubner, Halbmonatschr. f. soz. Hyg. u. prakt. Med. vom
21. Nov. 1918); jedenfalls scheinen die Patienten durchschnittlich
nicht leichter werden zu können. Das Skelett eines Mannes wiegt
übrigens 6—8 Kg, ca. 15% des Gesamtgewichts (Bischoff).
Es muß von vornherein betont werden, daß sich unsere Patienten
zu Beginn des Krieges zum Teil in einem Zustand von Überernährung
befanden. Verpflegt wurden sie während des Krieges vom Gutsbezirk
und der Abteilung des Magistrates für Nährmittel (Brotkommission,
dann Einkaufskommission genannt). Alle rationierten Nahrungsmittel
sollten wir eigentlich vom Gutsbezirk bekommen, auch etwas Nährmittel
(Erbsen, Bohnen, Linsen, Hirse, Grieß, Graupen, Hafergrütze, Buch¬
weizengrütze, Sago, Reis, Nudeln und Makkaroni), den Löwenanteil an
Nahrungsmitteln bekamen wir aber vom Osthafen, Fleisch und Fleisch -
waren von der städtischen Schlachterei Hobrechtsfelde.
Gleich mit Beginn des Krieges mußten nun seitens der städtischen
Behörden Bestimmungen betr. Kürzung der Beköstigung erlassen werden.
Januar 1915 Einführung des K-Brotes. 1. Februar 1915 wurde auf gesetz¬
lichem Wege die Brotration verkleinert: die Frauen bekamen vor 1. Februar
280 g, die Männer 400 g, nach 1. Februar 250 resp. 800 g, erstere also 30,
letztere 100 g weniger pro Kopf und Tag. August 1915 zufolge Magistrats¬
verfügung Erhöhung der Brotmenge um 36 g pro Tag und Kopf, Zucker¬
zubuße bei Notwendigkeit; jedoch bereits vorher seitens der Anstalt Reis-
und Zuckerzubuße. Im November 1915 lauteten die Höchstsätze der
Beköstigung für arbeitende Kranke I. Fornj 3. Tisches bessere Wurst-
Sorten 40 g, gewöhnliche 40/50 g, abends 60 g und 90 g, Fleisch zu Mittag
175 g Hammel oder 160 g Schwein, 50 g Zucker täglich.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 29
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412
Richter.
April 1916 Ermäßigung des KartolTelverbrauches von 14 Pfund
auf 10% Pfund pro Kopf und Woche. Im Mai 1916 waren nur 500 g an
Fleisch und Fleischwaren pro Kopf und Woche zu verbrauchen, der Fleisch¬
verbrauch hatte sich nach der für die Zivilbevölkerung festgesetzten
Rate zu richten; als Ersatz für den Ausfall kamen in erster Reihe See¬
fische, Heringe, Eier und Käse in Betracht; 7 Pfund Kartoffeln pro Kopf
und Woche. Im Juni 1916 konnte zum Kaffee kein Zucker mehr gegeben
werden.
Seit 1. Februar 1917 traten die Bestimmungen des Präsidenten des
Ernährungsamtes in Kraft: „Die Insassen der Anstalten für Geistes¬
kranke und Sieche gelten hinsichtlich der Versorgung mit Lebensmitteln
als der gesunden Zivilbevölkerung gleichgestellt, mit Ausnahme der-
, jenigen, die einer diätischen Behandlung bedürfen. Diese werden den
Kranken in öffentlichen Krankenanstalten gleichgestellt.“ 250 g Fleisch
pro Kopf und Woche. Ende Februar 1917 350 g Fleisch, 3 Pfund Kar¬
toffeln und 4 Pfund Kohlrüben pro Kopf und Woche. März 1917 250 g
Fleisch, 3 Pfund Kartoffeln, 4 Pfund Kohlrüben, 1950 g Brot, 200 g Zucker
pro Kopf und Woche. Seit April 1917 500 g Fleisch und 1600 g Back¬
ware resp. Mehl pro Kopf und Woche. Von Mai 1917 ab 2000 g Nähr¬
mittel (exkl. Brot) pro Kopf und Monat. Juni 1917 500 g Fleisch, 110 g
F^tt, 1600 g Brot pro Kopf und Woche. Nach den Speisebestimmungen
konnten wir 600 1 Milch pro die verlangen ( l / s Mager-, */* Vollmilch) be¬
kamen aber nur 80—4401. Juli 1917 wurde für 5 Pfund Kartoffeln (Wochen¬
menge) bis auf weiteres Ersatz in Mehl oder Gebäck gewährt (in letzter
Zeit hatte es überhaupt nur 3 Pfund Kartoffeln pro Woche gegeben, dafür
Haferflocken und dergleichen aus unsern Beständen) und zwar für 1 Pfund
Kartoffeln 70 g Mehl oder 100 g Gebäck; außerdem aus unsern Beständen
an Nährmitteln so viel als möglich. Vom 23. August bis 2. November
1917 wurde für die arbeitenden Patienten eine Brotzusatzmenge von
450 g pro Kopf und Woche bewilligt (ohne diese Zusatzmenge bisher
1950 g pro Kopf und Woche inkl. Mehl). Seit Oktober 1917 statt 5 Pfund
7 Pfund Kartoffeln pro Kopf und Woche. Seit November 1917 sollten
die 60 jährigen Patienten (123 M. + 163 F. = 286 Patienten bei einem
monatlichen Durchschnittsbelag von 1665, + 8 Personal = 294 Köpfe)
pro Kopf und Monat 1 Pfund Haferflocken bekommen; es waren aber
beim Gutshof nicht genug vorhanden. Im November 1917 gab es auf
unsern besonderen Antrag 20 Zentner Reis (die ersten 12 Zentner hatten
wir, ebenfalls auf unsern besonderen Antrag, Juli 1917 bekommen). Seit
November 1917 gab es die Woche einmal Eier zu Mittag, pro Kopf 2 Stück;
die Arbeiter bekamen die Woche einmal zum Frühstück ein Ei. Die Ge¬
wichtszunahmen vom Dezember 1917 auf Februar 1918 (Männer von
49,0 auf 50,8 kg, Frauen von 40,1 auf 40,9 kg, gemeinsam von 44,4 auf
45,5 kg) waren auf die reichlichere Gabe von Kartoffeln, Nudeln, Graupen
usvv. zurückzuführen. Die durchschnittlichen Kosten für die drei Tische
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Über die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Bach usw. 41 3
betrugen für das Jahr 1917: 1. Tisch 3,87 M., 2. Tisch 2,23 M., 3. Tisch
1,22 M.
Vom 23. Februar bis 7. März 1918 gab es nur die Hälfte der gesetz¬
lichen Menge Fleisch pro Kopf und Woche, 92 g, vom 7. März 1918 ab
wieder die volle gesetzliche Menge, 185 g pro Kopf und Woche, vom 15. März
ab 250 g Fleisch und Wurst pro Kopf und Woche. Mitte März 1918 be¬
kamen die bettlägerigen Patienten (314 M. -+- 504 F. = 818 Köpfe von
1603 Patienten) je 204 g Zwieback extra als nachträgliches Weihnachts¬
geschenk. Vom 17. Juni 1918 ab wird das Brot von 1950 auf 1750 g inkl.
35 g Mehl pro Kopf und Woche herabgesetzt; Kranke II. Form bekamen
3 Semmeln oder 1 Semmel und 6 Zwieback pro die. Von Anfang Juli
1918 ab bekamen die Patienten (687 M. + 848 F. = 1535 Personen) 160 1
Milch pro Tag und nur noch — nominellI — 1 Pfund Kartoffeln pro Kopf
und Woche, in Wirklichkeit gar keine, 14 Tage lang, bis zur neuen Kar¬
toffelernte, ohne Ersatz; auf unsere Eingabe an die Einkaufskommission
bezüglich der wieder zurückgegangenen Patientengewichte wurden uns
10 Doppelzentner Suppe Nr. 12, 3 Doppelzentiter Kartoffelsuppe und
3 Doppelzentner Kriegssuppe überwiesen; nach obigen 14 Tagen gab es
wieder 7 Pfund Kartoffeln pro Kopf und Woche bis zum heutigen Tage.
Mitte Juli 1918 gab es statt 180 nur 90 g Fleisch zweimal die Woche für
alle drei Tische (1520 Patienten — 681 M. -(- 839 F. und etwa 25 Personen
1. jund 2. Tisches), es kamen 120 Pfund Schweinefett und 360 Pfund
weiße Bohnen, sowie 20 Zentner Reis auf besonderen Antrag. Anfang
August 1918 bekamen 756 bettlägerige Patienten (274 M. + 482 F. = J56
von 1482 Patienten) wieder je 230 g Zwieback, es gab aber nur noch die
Hälfte Backwaren und Weizenmehl (statt dessen Schwarzbrot) und von
Mitte August ab nur noch Schwarzbrot. Die gesetzlich festgelegten drei
fleischfreien Wochen kamen auch für uns in Betracht und fielen je eine
auf August, September und Oktober. Von Mitte August bis Mitte Oktober
1918 sollte die bisherige Überweisung von Nährmiteln für die „gesunden“
Insassen auf die Hälfte herabgesetzt und nur die Lieferung der Nähr¬
mittel für die „kranken“ Insassen in der bisherigen Höhe weiter erfolgen;
wir gaben jedoch bei der Verpflegungsstärke sämtliche Insassen als „krank“
an. In der einen fleischlosen Woche wurde die Brotmenge auf 1850 g pro
Kopf und Woche heraufgesetzt. Anfang September 1918 teilte uns der
Gutsvorsteher mit, daß auf das Anfang März 1918 für die 70jährigen
und älteren (82 Personen im März 1918 bei 1596 Monatsdurchschnitts¬
belag) in Aussicht gestellte Krankenbrot (80 g Zwieback u. dergl. pro Tag)
nicht zu rechnen wäre, da die Festsetzungen über die Ernte erst in zwei
Monaten erledigt sein dürften. Von Anfang September 1918 ab gab es
wieder Zwieback und Semmel für die 2. Form 3. Tisches statt des Schwarz¬
brotes. Mitte September 1918 1715 g Brot pro Kopf und Woche. Ende
Oktober 1918 trafen zufolge meiner Vorstellung betr. des abermaligen Ge¬
wichtsrückganges der Patienten bis Mitte September 5 Zentner Reis ein.
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414
Richter,
Neben den angeführten Nahrungsmitteln wurde den Kranken bis
13. Oktober 1916 zum Streichen des Brotes 20 g Margarine pro Kopf und
Tag verabfolgt; von da ab erhielten sie infolge Verfügung der Butter¬
versorgungsstelle Groß-Berlin nur eine Wochenmenge von 90 g Margarine;
diese wurde für Sonntag und Montag verausgabt, an den übrigen Wochen¬
tagen erhielten sie je 30 g Marmelade oder Kunsthonig. Seit dem 4. Februar
1918 verabfolgen wir eine Wochenmenge von 70 g Margarine für 2 Tage;
für die übrigen Wochentage wieder je 30 g Marmelade oder Kunsthonig.
Es folge noch die Oktoberverpflegung 1918 pro Kopf: 8,439 kg Brot,
0,292 kg Margarine, 0,434 kg Schrotkaffee, 1,429 kg Kochzucker, 26,689 kg
Kartoffeln, 0,237 kg kons. Apfelmus, 7,668 kg frischer Weißkohl, 0,064 kg
Knochenbrühextrakt, 1,188 kg Syrup, 3,17 kg Milch, 0,696 kg Mehl,
2,638 kg frischer Spinat, 1V 2 StückjEier, 0,006 kg kondensierte Milch,
5*/» Stück Hering, 2,470 kg frische Mohrrüben, 0,102 kg Blutwurst, 0,008 kg
Rinderknochenfett, 0,056 kg kons. Kürbis, 0,089 kg Leberwurst, 0,178 kg
gelbe Erbsen, 0,073 kg Weißkäse, 0,529 kg Rindfleisch, 0,018 kg Schmalz,
0,735 kg frischen Rotkdhl, 0,114 kg^dörrtes Leipziger Allerlei, 0,052 kg
Kunsthonig, 0,057 kg Roßfleisch, 0,020 kg Hirse, 0,570 kg frische Kohl¬
rüben, 0,717 kg frischer Wirsingkohl, 0,777 kg Maggisuppe, 0,114 kg
weiße Bohnen, 0,092 kg Grieß, 0,117 kg Graupen, 0,071 kg Backobst,
0,165 kg Hafergrütze, 0,007 kg Reis, 2 Stück Rettige, 0,815 kg frische
Kohlrabi. Wer Lust hat, berechne die Kalorien.
Obige Zusammenstellung der Beköstigung während des Krieges
erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie soll nur eine
Vorstellung geben vom besten Willen, der vorhanden war, die
Schwierigkeiten, mit welchen die Verpflegung zu kämpfen hatte,
zu überwinden, und von deren Unregelmäßigkeiten und Ungleich¬
heiten. Ihre Hinlänglichkeit, eventl. Unzulänglichkeit- wird das
nun Folgende beleuchten.
Gleich nach Bekanntgabe der Gewichtsverhältnisse - der In¬
sassen der Irrenanstalten an die Deputation für die städtische
Irrenpflege wurde das Medizinalamt der Stadt Berlin mit der
Prüfung der Verpflegungsverhältnisse in den Irrenanstalten be¬
traut, und es erfolgten seitens des Medizinalamts Kalorienberech¬
nungen der verabreichten Nahrungsmittel. Juli 1914 waren ge¬
geben 2695 Kalorien, Dezember 1914 2649, März 1915 2321,
Juli 1915 2444, November 1915 2980, März 1916 2658, Juli
1916 2311, November 1916 2149 und Januar 1918 nur 1987,
die niedrigste nachgewiesene Kalorienzahl. Es muß nun hierbei
hervorgehoben werden, daß den Berechnungen selbstverständlich
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Original fram
. UMIVERSITY OF MICHIGAN
Ober die £rnährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 415
nicht die kalorimetrischen Untersuchungen der verabfolgten Nah¬
rungsmittel selbst zugrunde lagen, denn das würde ja einen
ungeheueren Aufwand von Arbeit und Zeit erfordern, sondern
die Berechnungen erfolgten, wie gewöhnlich, nach tabellarischen
Normen, und es ist tatsächlich eine Kongruenz zwischen obiger
Kalorienkurve und den Gewichtskurven zu konstatieren, ja dem
Gewichtsaufstieg vom November 1915 bis zum Februar 1916 geht
der steile Anstieg der Kalorienkurve von 2444 Kalorien .des
Juli 1915 zu den 2980 Kalorien des November 1915 voraus, wenn
die Gewichtszunahmen auch nicht in dem Maße erfolgten, wie
der Anstieg der Kalorienkurve erwarten lassen müßte. Für die
Praxis wird überhaupt zunächst das Wiegen der Patienten aus¬
schlaggebend sein, aber beide, Wägungen und Kalorienberechnungen
des Verabfolgten, müssen einander ergänzen wegen der zweck¬
mäßigen Zusammensetzung auch der einzelnen Bestandteile der
Nahrungsmittel und wegen ihrer gegenseitigen Mengen. Wie ich
hOrte, begann man übrigens auch die Truppen zu wiegen, im
Felde und im hiesigen Vereinslazarett. Da nach Hindhede (Mod.
Ernährung S. 41). bei sitzender Lebensweise die Zahl der Kalorien
auf 2500 und noch weniger herabgehen kann, hätten wir bis Juli
1916 (2311 Kalorien), gesunde Verpflegte vorausgesetzt, noch
gar v nicht ungünstig verpflegt gehabt. Die Kriegsernährungsver-
hältnisse „ dürften übrigens zur Lösung der Frage des Eiwei߬
minimums im Hindhede sehen Sinne etwas Wesentliches beige¬
tragen haben.
Bis zum Jahre 1916 waren nun auch die Gesundheitsverhält¬
nisse der Patienten trotz ihrer, mit Ausnahme des Anstieges von
November 1915 bis Februar 1916, stetigen Gewichtsverluste nicht
ungünstig gewesen; da traten in der zweiten Hälfte des Jahres
1916 (Kalorienmenge!) höhere Intermissionen der Monatsmorta¬
litätskurve auf, die Kranken bekamen ein auffällig bleiches Aus¬
sehen, und mit dem Januar 1917 machte sich die Odemkrankheit
geltend, an welcher zeitweise^ zwischen 30 und 40 Patienten
litten; dieselbe ist auch bis zum heutigen Tage nicht geschwunden,
wenn auch verringert. Zu allem Unglück setzte im Januar 1917
eine Ruhrepidemie ein, die bis März anhielt, im April erlosch,
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416
Richter,
aber von Mai bis November zum zweitenmal auftrat. Im August
1917 erreichte die Sterblichkeit mit 126 Personen (1698 Durch¬
schnittsbelegung des August 1917) eine noch nie dagewesene
Höhe. Die Ruhrepidemie war ihrer Intensität wie Extensität nach
keine milde, und sei hierbei nur erwähnt, daß gelegentlich einer
Ruhrepidemie der Anstalt in den Jahren 1911/13 von 70 Er¬
krankten nur 4 starben.
Die Abhängigkeit der_ödemkrankheit von den Ernährungsverhält¬
nissen ist ja allgemein anerkannt. Die Ödemkrankheit wird nicht etwa
durch Herzschwäche hervorgerufen — der Puls der ödemkranken war
nicht schlechter als der der übrigen bettlägrigen Irren, und die betr.
Kranken boten meist gar kein allgemeines ödem dar, sondern meist nur
lokales —, ebensowenig durch eineNierenaffektion, denn der Urin hatte auch
kein Eiweiß, ebensowenig durch eine Erkrankung der Kapillaren — dazu
kommt und schwindet die Krankheit zu schnell, sondern sie besteht in
einer durch die veränderten Ernährungsverhältnisse bedingten Ver¬
änderung des Chemismus der Körpersäfte, welche ein größeres Diffusions-
vermögen derselben bedingt, und so besteht zwischen ihr und der Pollakisurie
eine gewisse Analogie, des veränderten Chemismus der Körpersäfte und des
Urins, welcher dort den Säfteaustritt bedingt aus den Gefäßen, hier das
häufige Urinieren. Leider konnten wir wegen Personalmangels während
des Krieges nur selten Sektionen vornehmen, wir zapften aber unmittelbar
post mortem zwei Leichenödemflüssigkeit der Bauchhöhle ab, und Professor
Boruttau an der physiologisch-chemischen Abteilung des Krankenhauses
im Friedrichshain, dem ich auch an dieser Stelle meinen besten Dank aus-
spreche, hatte die Güte, eine Probe zu untersuchen; „sie entsprach den
gewöhnlichen Verhältnissen der Kriegsödemkrankheit“.
Qualitative Untersuchung
Eiweiß vorhanden,
Quantitative Untersuchun
Dichte: 1,011,'
Zucker
G
o
'O
Trockensubstanz 1,3 %,
Harnsäure
1
Chlor 0,32 % = 0,55 NaCl,
Bernsteinsäure
Stickstoff 0,20 %,
Echtes Muzin
Pseudomuzin (Metalbumin)i
nicht
Eiweiß ( Esbach ) 1,2 %,
Auf die Ruhr hatten die knappen Ernährungsverhältnisse der An¬
stalt nur insofern einen Einfluß, als sie die von ihr Befallenen weniger
widerstandsfähig machten, und insofern muß auch die Virulenz der Epi¬
demie, namentlich auch mit der von 1911/13 verglichen, ihre Bewertung
resp. eine Einschränkung finden. Jedenfalls handelte es sich um Bazillen¬
ruhr und wurden Flexnersche Pararuhrbazillen, Y-Pararuhrbazillen,
auch «yAtga-Ä'rMse-Ruhrbazillen vom städtischen Medizinalamt nach-
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Ober die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 417
gewiesen, wenn auch die Untersuchungen nicht in dem Maße von 1911/13
durchgeführt werden konnten; überdies schien diesmal der Bazillus schneller
vergänglich zu sein. Es erkrankten während der Epidemie, eigentlich
waren es ja zwei, bei einer täglichen Durchschnittsbelegungszahl von 1674,
375 Patienten und zwar 168 Männer (darunter 5 Pfleger) und 207 Frauen
(darunter 19 Pflegerinnen); eine Patientin erkrankte zweimal. Es starben
an ihr resp. ruhrartigen Erkrankungen und deren Schwächezuständen
50 Männer und 53 Frauen = 103 Personen, darunter kein Personal!
Die Ödemkrankheit und die Ruhr der hiesigen Anstalt, ebenso die
Grippe, von welcher 1918 die Patienten befallen wurden, werden voraus¬
sichtlich später noch an anderer Stelle besprochen werden.
Was die Mortalität der Anstaltsinsassen während der Kriegs¬
jahre betrifft bei ihrer Abhängigkeit von den obwaltenden Er-
nähmngsverhältiiissen, so sei der Originalität halber darauf hin¬
gewiesen, daß die größte Monatsmortalität seit der Eröffnung der
Anstalt Buch im Jahre 1906 bis zum Kriege, ohne daß hierfür
eine besondere Ursache festgestellt werden konnte, auf den Monat
Juli 1914 fiel (27 Männer und 23 Frauen = 50 Personen bei einer
täglichen Durchschnittsbelegzahl von 1769). Sie sterben „ruck¬
weise“, sagte ein alter Oberpfleger.
Die Monatsmortalität der Jahre 1916 (tägliche Durchschnitts¬
belegzahl 1769), 1917 (1674) und die bisherige von 1918 (1609)
gestaltete sich folgendermaßen:
Jan.
Febr. März April Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov. Dez.
1916
17
17
23
25
23
23
28
16
34
24
18 35
1917
56
54
62
48
51
36
76
126
83
60
56 63
1918
74
43
46
56
32
39
45
30
49
59
Die Mortalität betrug in den Rechnungsjahren 1913/17: 1913
(täglicheDurchschnittsbelegzahl 1757): 302,1914(1769): 337,1915
(1768): 222, 1916 (1769): 398, 1917 (1674): 762! Sie stieg
also trotz des Rückganges der Belegstärke im Jahre 1917 außer¬
ordentlich, während sie im Jahre 1915 aus unbekannten Gründen
— oder waren die Patienten bis 1914 zu dick gewesen? —
gegen die Vorjahre erheblich sank. Der Anstieg erfolgte bereits
1916, wenn wir nicht sogar schon im Jahre 1914 die erste An¬
deutung des Aufstieges suchen wollen; aber die sieben ersten
Monate des Rechnungsjahres 1918 (siehe obige Tabelle) ergeben
gegen die sieben letzten Monate des Rechnungsjahres 1917 nur
310 Tote gegen 425, also erfreulichen Rückgang.
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418
Richter,
Prozentual ausgedrtickt starben in den beregten fünf Rech¬
nungsjahren 1913/17 in Buch 0,047%, 0,052%, 0,035%, 0,062%
und 0,124%!
Im großen und ganzen verlaufen übrigens die Mortalitäts¬
kurven der drei Berliner Irrenanstalten gleich, und zwar prozen¬
tual berechnet; nur Wuhlgarten bleibt tief zufolge des weniger
siechen Materials. Die höchste Sterblichkeit im Jahre 1917 hat
Herzberge mit 0,153%, dann kommt Buch mit 0,124%, dann
kommt Dalldorf mit 0,103% und zu unterst steht Wuhlgarten mit
0,064%. Wir hängen, wie schon angedeutet, in dieser Beziehung
von dem uns zustehenden Material ab, denn Verpflegung und
Behandlung sind die gleichen. . . ^
Die prozentual berechneten Mortalitätskurven der Filialen der
vier Anstalten verliefen auch so ziemlich gleich und stiegen gleich¬
falls samt und sonders im Jahre 1917. —
Aus den Betrachtungen der klinischen Verhältnisse der An¬
stalt Buch geht demnach hervor, daß die Ernährung der Pati¬
enten seit der zweiten Hälfte des Jahres 1916, wie auch außer¬
halb der Anstalten, für die Zustände vieler, namentlich lauter und
schwerer Kranken, ungenügend wurde: die Ernährung genügte
weder der Menge, noch der Zusammensetzung nach, namentlich
fehlte es an Fetten und den erforderlichen Mengen Zerealien und
Leguminosen. Die Frage der Verpflegung der Anstaltsinsassen
war gesetzlich geregelt, mehr in sozialem als wissenschaftlichem
Sinne gelöst worden, aber durch die Strenge der Zeit diktiert.
Es wurden nun noch nach verschiedenen Gesichtspunkten die
Wägeresultate der Patienten der einzelnen Häuser oder einzelner
Patienten weiter verwertet.
Die Kurve der Männerlandhäuser, Arbeiterkolonnen und Hand¬
werker, — jetzige Belegstärke 67 Patienten — zeigt zufolge der Rüstig¬
keit der Patienten im allgemeinen einen höheren Stand und zufolge des
lebhafteren Wechsels der Patienten verschiedener Körperschwere von
jeher erheblichere Schwankungen, aber doch auch vom Juli 1914 ab bis
zun» Oktober 1918 einen Absturz von 69,9 auf 59,5 kg. — Haus I, gleich¬
falls ruhige Männer, Arbeiterkolonnen und Handwerker — jetzjge Beleg-
slärke 72 Patienten —, zeigte zufolge der größeren Stabilität seines Mate¬
rials von jeher eine gleichmäßigere Kurve; dieselbe stürzt vom Juli 1914
bis Oktober 1918 von 66,8 auf 54,6 kg. — Haus III, Männeraufnahme-
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Über die Ernährungsverhältoisse in der Irrenanstalt Buch usw. 419
haus — jetzige Belegstärke 90 Patienten —, zeigte zufolge des häufigeren
Wechsels seiner Patienten immer etwas lebhaftere Schwankungen seiner
Kurve als Haus I, wenn auch nur kleinere, aber in derselben Zeit einen
Absturz von 58,7 auf 48,4 kg; von Juli bis Oktober 1914 war erst noch
ein Aufstieg der Gewichtskurve bis auf 63,4 kg erfolgt, weil damals sich
die Zugänge noch m besserem Ernährungszustände befanden als die
Insassen. — Haus V, ein Männer-Pflege- resp. Siechenhaus — jetzige
Belegstärke 97 Patienten —, zeigte von jeher zufolge seines stabilen,
überwiegend siechen Materials eine ruhige Gewichtskurve; Gewichts¬
abfall vom Juli 1914 bis Oktober 1918 von 59,9 auf 47,5 kg. — Die Kurve
von Haus VII, des 2. Männerpflegehauses — jetzige Belegstärke 98
Patienten —, ist fast identisch mit der von Haus V, naturgemäß, zufolge
des gleichen Materials, Absturz von 58,7 auf 44,9 kg. AbsturzdifTerenz
zu HausV nur 1,4 kg. —Auch die Kurve von Haus IX, dem Überwachungs¬
haus für leichtere kriminelle und fluchtverdächtige Männer — jetzige
Belegstärke 84 Patienten —, zeigt die üblichen Schwankungen mit einem
Absturz von 66,6 kg, dem ungefähren Ausgangsgewicht von Haus I,
ruhige Männer, auf 51,1 kg. — Die Kurve von Haus XII, kriminelle
Männer, — jetzige Belegstärke 33 Patienten*—, zeigt eine gewisse Un¬
ruhe; Absturz von 64,8 auf 54,6 kg. — Auch die Kurve von Haus XIII,
schwerste kriminelle Männer — jetzige Belegstärke 49 —, zeigt lebhafte
Schwankungen und Absturz von 70,9 auf 55,0 kg; die Insassen hatten
also das ungefähre Ausgangsgewicht der Männerlandhäuser.
Die Kurve von Frauenlandhaus II, viele unruhige Frauen —
jetzige Belegstärke 118 —, verläuft seit Eröffnung der Anstalt ziemlich
einförmig; Absturz von 56,5 auf 38,4 kg. — Recht monoton verläuft die
Kurve der beiden Landhäuser für ruhige Frauen (IV und VI) — jetzige
Belegstärke zusammen 52 —, und zwar seit Eröffnung der Anstalt; Ab¬
sturz von 58,2 auf 38,6 kg. — Auch die Kurve von Haus II, ruhige, be¬
schäftigte Frauen — jetzige Belegstärke 100 —, verläuft ruhig; Absturz
von 59,2 auf nur 46,6 kg; von diesem Hause gehen nämlich 36 Patien¬
tinnen, einen Tag um den andern 18, nach der Kochküche Gemüse putzen
und essen dort reichlich Mittagbrot! — Die Kurve von H aus IV, Frauen¬
aufnahmehaus — jetzige Belegstärke 110 —, ähnelt der von Haus III,
dem Männeraufnahmehaus, aber die Kurve von Haus IV zeigt noch mehr
Erhebungen zufolge besser genährter Zugänge; Absturz von 54,9 auf
42.8 kg. — Die Kurven der Häuser VI und VIII, Frauenpflege- resp.
Siechenhäuser — jetzige Belegstärken 164 und 165 —, sind gleichfalls
fast identisch, wie die der beiden Männersiechenhäuser V und VII, aber
ruhiger als die der Männersiechenhäuser zufolge der geringeren Kranken¬
bewegung, und diese ist wieder bedingt durch den geringeren Bestand
und Abgang der Paralysen (ungefähr nur die Hälfte), welche zumeist
in den Siechenhäusern liegen. Gewichtsabsturz Haus VI von 52,3 auf
36.9 und Haus VIII von 51,6 auf 37,0 kg, also auch hierin so ziemlich
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420
Richter,
identische Verhältnisse. — In Haus X, dem Frauenüberwachungshause —
jetzige Belegstärke 98 —, lagen von jeher gewalttätige oder fluchtver¬
dächtige Patientinnen; die Kurve verläuft relativ gleichmäßig, Absturz,
von 56,1 auf 41,1 kg; die Insassen waren also schwerer als die der Frauen-
siechenhäuser und blieben es auch. — Haus XI, die Infektionsbaracke —
jetzige Belegstärke 15 —, zeitweise mit Männern, zeitweise mit Frauen,
zeitweise mit beiden belegt, zeigt eine groteske Kurve; Männerabsturz
vom Juli 1914 bis August 1916 von 62,2 auf 52,9 kg, Frauenabsturz von
46,5 im Februar 1917 auf 40,5 kg im Oktober 1918.
Die Abstürze vom Juli 1914 auf Oktober 1918 erleichtert der folgende
Überblick:
Männerlandhäuser .
..69,9—59,5 kg
Landhaus. 2.
.56,5—38,4 kg
Haus I.
..66,8—54,6 kg
Landhaus 4 u. 6 ..
.58,2—38,6 kg
Haus III .
.. 58,7—48,4 kg
Haus II.
.59,2—46,6 kg
Haus V.
. .59,9—47,5 kg
Haus IV .
.54,9—42,8 kg
Haus VII .
..58,7—44,9 kg
Haus VI .
.52,3—36,9 kg
Haus IX .
. .66,6—51,1 kg
Haus VIII .
.51,6—37,0 kg
Haus XII .
. .64,8—54,6 kg
Haus X .
.56,1—41,1 kg
Haus XIII .
. .70,9—55,0 kg
Haus XI .
i .46,5 — 40,5 kg
Im übrigen zieht sich durch die Kurven aller Häuser der.
gemeinsame Ernährungsabstieg vom Juli 1914 bis zu den letzten
Monaten des Jahres 1915, der gemeinsame Anstieg zu den ersten
Monaten des Jahres 1916, dann der tiefe Abfall zu den letzten
Monaten des Jahres 1917 und ein abermaliger kleiner Anstieg
bis Oktober 1918. Jedenfalls ergibt sich aus dem Geschilderten
die Notwendigkeit der Geschlechterdurchschnittskurven, damit
durch Verlegungen von einem Haus in das andere nichts ver¬
loren geht; aber immerhin wäre es denkbar, daß Kurvenschwan¬
kungen selbst der Geschlechtereinheitskurven nicht durch Er¬
nährungsschwankungen der Mehrzahl der Patienten, sondern durch
schwere Ab- und leichte Zugänge selbst weniger Patienten be¬
dingt sein kannten oder umgekehrt, bei der ganz erheblich über¬
wiegenden Stabilität des Materials und der Verteilung dieser
extremen Fälle auf so viele Insassen kann sich aber dieses
Eintreffen kaum wesentlich bemerklich machen; überdies ist eine
Täuschung über den Ernährungszustand der Patienten nach dieser
Richtung hin durch das z. T. gestaffelte Rubrikalverfahren —
einzelne Fälle verteilen sich, mehrere zeigt es an —, welches
übrigens auch die Zu- und Abgänge der letzten vier Wochen ein-
begreifen kann, und die Einzelbeobachtungen kontrolliert. Sonst
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Ober die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 421
können Gewichtsschwanknngen einzelner noch durch psychische
Veränderungen mit Ernährungsschwankungen bedingt sein.
Die Momente der Evolution und Involution spielen bei unserm
Material und der erforderlichen Zeitlänge zu ihrer Geltendmachung keine
Rolle. Immerhin sei noch erwähnt, daß trotz gleicher Verpflegung auch
scheinbar ganz gleiche Patienten doch nicht immer in gleicher Weise zu-
oder abnehmen. Die durch Besucher mitgebrachten oder geschickten
Nahrungsmittel müssen natürlich im Auge behalten werden. —
Es wurden dann noch auf einem Schema die bis auf Eröffnung der
Anstalt zurückgeführten Kurven der Männerlandhäuser (beschäftigte),
von Haus XII (kriminelle Männer), Haus III (Männeraufnahmehaus)
und Haus VII (Männersiechenhaus), in verschiedenen Farben auf¬
gezeichnet, und es zeigte sich, wie schon aus den betr. Zahlentabellen
ersichtlich war, daß die Kurve der Männerlandhäuser und von Haus
XII einander beständig schnitten und die Kurve von Haus III immer
unter ihnen blieb, noch weiter darunter die von Haus VII, die letzteren
beiden aber immer in ziemlich gleichem Abstand; es war also immer das
gleiche Krankenmaterial in diese vier Häuser gelegt worden. — In gleicher
Weise wurden vier Frauenhäuser kurviert: Frauenlandhäuser IV und VI
(ruhige Frauen), Haus X (unruhige), Haus IV (Aufnahme) und Haus VIII
(Sieche); diese vier Frauenkurven blieben alle vier näher aneinander,
aber die der beiden Landhäuser und von Haus X (die oberen) schnitten
sich weniger oft, Haus IV wahrte den Abstand von Haus X, schnitt
sich aber zeitweise mit Haus VIII. Dezember 1914 liefen Haus X und
IV ineinander über, Dezember 1915 trat auch die Kurve der beiden
Frauenlandhäuser hinzu, und während nun die Kurven dieser drei Häuser
bis März 1918 durcheinander liefen, sank die Kurve der Frauenlandhäuser
August 1917 unter die beiden ersten, welche sich wieder trennten (IV oben),
während Haus VIII seit November 1913 immer zu unterst blieb.
Weiter wurden auf einem Schema die bis zur Eröffnung der Anstalt
zurückgeführten Kurven von vier Männern vier verschiedener Häuser
und verschiedener Ausgangsgewichte aufgetragen: einer Dementia para¬
noides von Haus XIII, einer Dementia praecox von Haus VII, einer
Paranoia hallucinatorica chronica von den Männerlandhäusern und einer
jugendlichen Verblödungspsychose von Haus I. Diese vier Kurven grup¬
pierten sich verschieden, ohne daß man etwas Charakteristisches ent¬
decken konnte, sanken natürlich, wie alle, in den Kriegsjahren. — In
derselben Weise wurde mit fünf Frauenkurven verfahren: zwei Dementia
praecox und drei Dementia paranoides; auch sie boten nichts Charakte¬
ristisches dar. —
Mehr versprachen die drei folgenden Kurvengruppen.
Auf der einen wurden die Gewichte von 35 Patienten des Hauses I
nach dem Lebensalter in zwei Durchschnittskurven untergebracht, Alters¬
grenze 50 Jahre; die 17 älteren (51—72 Jahre) hatten Juli 1914 die schweren
Ausgangsgewichte (Durchschnitt 70,2 kg), die 18 jüngeren (19—50 Jahre),
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Richter.
die leichteren {64,9 kg Durchschnitt). Von Juli 191? an stiegen die jüngeren
bis Mai 1918 von 49,2. auf 51,5 kg, kreuzten mit 51,5 kg die älteren bei
51,0 kg, stehen jetzt November 1918 mit 53,8 kg nur 600 g unter den
älteren, schnitten also nach dreijährigem, ziemlich parallelem Verlauf
schließlich doch besser ab.
Auf der zweiten Kurvengruppe wurden die Gewichte derselben
35 Patienten nach der Gewichtshöhe in zwei Durchschnittskurven unter¬
gebracht, Gewichtsgrenze 67,5 kg (das Durchschnittsgewicht der in Be¬
tracht kommenden 35 Patienten), 16 über, 19 bis 67,5 kg und darunter.
Die 16 schwereren hatten Juli 1914 das Ausgangsgewicht von 78,4, die
19 leichteren von 58,2 kg. Die 16 schwereren sanken bis November 1917
auf 53,8, also um 24,6 kg, die leichteren auf 48,3 kg, also nur um 9,9 kg,
Differenz beiden Kurven im November 1917 nur noch 5,5 kg; FalldifTerenz
14,7 kg. Von da ab stiegen die schwereren bis November 1918 auf 58,2
(um 4,4 kg), die leichteren auf 49,3 (um 1 kg); die schweren hatten also
rapider ab- und etwas Schneller wieder zugenommen. Es sei hierbei noch
bemerkt, daß die 16 schwereren Patienten im Juli 1918 bei einem Durch¬
schnittsgewicht von 55,9 kg unter das Durchschnittsgewicht des Juli
1914 (67,5 kg) der gesamten in Betracht gezogenen 35 Patienten herab¬
gesunken waren (was also nicht etwa den tiefsten Gewichtsstand der¬
selben überhaupt bedeutet, der ja, wie schon gesagt, im November 1917
mit 53,8 kg stattfand) und daß unter diesen 16 schwereren Patienten
überhaupt die stärksten Gewichtsrückgänge sich befanden.
Schließlich wurden die Gewichte derselben 35 Patienten nach der
Körpergröße in zwei Durchschnittskurven untergebracht, Grenze 1,64 m,
18 1,64 m und darüber, 17 bis 1,64 m ausschließlich; die 18 größeren hatten
Juli 1914 das Ausgangsgewicht von 70,4 kg, die 17 kleineren von 64,3 kg:
die Kurven verliefen eigentlich ganz parallel und schienen den Beweis
zu erbringen, daß Große und Kleine in demselben Tempo abnehmen.
Dann hatte ich noch auf zwei Formularen nach den beiden Ge¬
schlechtern die Gewichtszunahmen, Stillstände und Abnahmen monatlich
in drei verschiedenen Farben seit August 1915 kurvieren lassen; da beide
Geschlechter gleich verpflegt werden, zeigten diese beiden Geschlechter-
tableaux natürlich ziemliche Kongruenz: die Abnahmen waren am reich¬
lichsten vertreten, nahmen die höchste Kurve ein, in der Mitte befinden
sich die Zunahmen, die Stillstände befinden sich in der Minorität, ihre
Kurve steht am tiefsten.
Dieses bringt mich darauf, noch einiges über die Zweckmäßigkeit
resp. Nützlichkeit der ganzen Kurviermethode überhaupt zu sagen: es
ist die Sinnfälligkeit, welche auch bei mehreren Kurven auf einem Tableau,
zufolge der Verschiedenfarbigkeit derselben nicht beeinträchtigt wird:
man hat den Überblick über die Ernährungsverhältnisse der Patienten
i n der Gewalt, denn eine Kurvenlinie ist viel übersichtlicher, als geschriebene
Zahlenreihen.
Ebenso einleuchtend ist die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit der
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Ober die Ernährungsverhältnisse in der Irrenanstalt Buch usw. 428
Durchschnittsgewichtsberechnungen. Natürlich muß es sich dabei um eine
genügend große Anzahl von Patienten handeln, und wenn die tägliche
Durchschnittsbelegstärke der Anstalt vom Jahr 1 y 14 bis zum Jahre 1918
von 1769 auf 1509 zurückging, so war die Belegstärke der einzelnen
Häuser für diese Berechnungsmethode doch noch vollkommen hoch
genug. Eine durch die Durchschnittsberechnungen über die Ernährungs¬
verhältnisse der Patienten verursachte Täuschung, so, daß eine Gewichts¬
abnahme der Mehrzahl der berechneten Patienten durch eine gewaltige
Gewichtszunahme der Minderheit und umgekehrt, verwischt erschiene,
wird auch hier durch das Rubrikalverfahren und ergänzend durch die
Einzelgewichtsprüfungen kontrolliert. Idealer wären natürlich die Durch¬
schnittsberechnungen immer derselben Anzahl von Patienten und am
idealsten immer derselben Patienten, wenn aber, wie in Buch, die bei
weitem größte Anzahl der Patienten stabil ist, die Gewogenen zum
mindesten über 4 Wochen in der Anstalt sich befinden (Wägedistanz),
so behalten diese Durchschnittsberechnungen vollkommen ihren Ver¬
gleichswert. Der Beweis hierfür und der Zuverlässigkeit der Methode
überhaupt liegt übrigens schon im gleichmäßigen Sinken der Durch¬
schnittsgewichte beider Geschlechter zweier Anstalten der gleichen Ver¬
pflegung während dieser vier Jahre; das ist kein Zufall.
Das Verfahren schließt natürlich das Anlegen von Gewichtskurven
für bestimmte Patienten nicht aus, im Gegenteil, es würde überhaupt
sehr zweckmäßig sein, wenn für die Krankengeschichte eines jeden
Patienten eine Gewichtskurve angelegt werden könnte!
Die Methode der Gewichtskontrolle, welche Falkenberg bei der
Revision der Kommunalkranken der Stadt Berlin anwendet, z. B.: von
28 Patientinnen wogen 7 über 100 Pfund, 4 unter 80 Pfund, keine unter
70 Pfund, erinnert an die von mir zugleich angewandte „Rubrikalmethode' 1 ,
welche die sämtlichen Patienten in drei resp. vier Rubriken nach Zu¬
nahme, Stillstand und Abnahme bis und über 1 kg unterbringt, erschöpft
aber nicht und erleichtert nicht genügend den Vergleich mit den vorher¬
gehenden Wägungen.
Um nun noch einen praktischen Schluß aus der ganzen Ar¬
beit zu ziehen, so halte ich es nicht ffir notwendig, alle Patienten
nach dem Kriege wieder vollkommen auf das Gewicht yor dem
Kriege zurückzubringen, im Gegenteil, während des Krieges kam
in Buch viel weniger und nur ganz leichter Dekubitus vor, so daß.
der Schluß auf die Schwere des Körpers als Mitursache desselben
berechtigt ist. —
Meine Arbeit endet ohne Ende; möchten bald glücklichere
Zeiten wiederum ein Steigen der Gewichts- und Sinken der Mor¬
talitätskurven herbeiführen, um der Arbeit auch bald einen gün¬
stigen Schluß hinzufügen zu können.
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Das Luminal bei der Behandlung der Epilepsie 1 )*
Von
Direktor Dr. Otto Hebold.
Es sind in den 25 Jahren, die die Berliner. Anstalt für
Epileptische im Betrieb ist, mancherlei neue Arzneimittel zur Be¬
kämpfung der Epilepsie versucht, mancherlei Zusammenstellungen
dieser Mittel empfohlen worden; meist waren es Bromverbindungen,
welche Nachteile, die die bisher üblichen Bromsalze bei alleiniger
Anwendung und an und für sich in manchen Fällen zeigten, ver¬
meiden oder ihre Wirkung übertreffen sollten. Keines dieser
Mittel hat die allgemeine Einführung so gelohnt, wie in neuester
Zeit das Luminal, das kein Brom enthält, sondern Phenyläthyl-
malonylham8toff ist.
Unsere Versuche damit begannen wir im Februar 1915.
Seine Anwendung wurde im Laufe der Zeit immer mehr ver¬
allgemeinert, da wir die bisherigen guten Ergebnisse anderer
Beobachter im großen und ganzen bestätigen konnten.
Das Mittel ist teurer, als die bisher für gewöhnlich allgemein
verordneten Bromsalze. Es kommt für die Draußenkundschaft
hinzu, daß es in Pulverform verordnet werden muß, da die kleinen
Dosen, die bei der Epilepsie verwendbar sind, nicht in Pastillen¬
form im Handel sind, sondern erst die Schlaf erzeugenden Dosen
von 0,3. In der Anstalt verwenden wir Pastillen von 0,05, die
in einer städtischen Hauptapotheke für uns dargestellt werden.
Vergleicht man die Preise der einfachen Stoffe, so kostet jetzt
die mittlere Gabe (4,0) Bromkalium etwa 2 V 2 Pfg-, 4 mal 0,05
l ) Aus der Berliner städtischen Anstalt für Epileptische, Wuhl-
jjarten.
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Das Lumina] bei der Behandlung der Epilepsie. 425
Lominal aber 30 Pfg. Es wird das bei der Verwendung zu
beachten sein.
Unter seiner Anwendung machten wir eine auffallende Wahr¬
nehmung über das Körpergewicht, das in den Kriegsjahren in
höherem Maße beachtet wurde und bekanntlich recht zurückging.
Es stellte sich nämlich heraus, daß in der Mehrzahl der Fälle
das Körpergewicht der mit Luminal behandelten Kranken im
Gegensatz zu den übrigen hinaufging und sich höher hielt.
Happich 1 ), der die Gewichtzunahme auch erwähnt, schiebt es an¬
scheinend auf die beruhigende Wirkung des Luminals. Er schreibt:
„Merkwürdig ist die große Gewichtzunahme bei luminalberuhigten
Kranken.“ Die Erklärung liegt wohl in einer Beeinflussung des
Stoffwechsels.
Für die Anwendung des Luminals wird in den bisherigen Veröffent¬
lichungen, über die sich eingehende Auszüge in E. Mercks Jahresberichten
der Jahre 1912 bis 1916 befinden, kurz gesagt, daß es bei der Epilepsie
da angezeigt ist, wo die Bromsalze versagen. Weiterhin hat es sich bei
verschiedenen Geistesstörungen, wie ebendaselbst wiedergegeben wird,
und was ebenso für die entsprechenden Störungen bei der Epilepsie zu
beachten ist, von günstigem Einfluß gezeigt.
Schon die ersten Mitteilungen weisen einhellig darauf hin, daß die
Wirkung eine pünktliche und auffallende ist, daß die Ergebnisse zur
Ausdehnung der Anwendung ermuntern, um so mehr, als kleine Dosen
genügen und störende Nebenerscheinungen ausbleiben oder unbedenklich
sind und bald verschwinden. Als solche werden bei empfindlichen Kranken
Schlaftrunkenheit, Kopfschmerzen und Exantheme erwähnt, die sich
leicht vermeiden lassen, wenn man mit kleinen Gaben beginnt und zu
höheren erst übergeht, wenn sich eine größere Verträglichkeit eingestellt
hat. Jedenfalls tritt keine Anhäufung ein, wie oft bei Brom. Die Urteile
sind darin einig, daß die Zahl der epileptischen Anfälle wesentlich ver¬
mindert wird und sie ähnlich wie auch durch die Bromsalze selbst zum
Schwinden gebracht werden können, und daß das Luminal auch wirkt.
wo diese versagen.
Die Erfahrungen sind indessen nicht gleichartig. Klotz *) fand z. B.»
daß es bei organisch bedingten Epilepsien nicht hilft, und rühmt es bei den
Epilepsien der Kinder, während es nach Kutzinski *) bei infantiler Epilepsie
*) Happich , Münch, med. Wschr. 1914, S. 1844.
*) Klotz, Therap. Monatsh. 1915, S. 132.
3 ) Kutzinski, Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 1914, Bd. 36, Nr. 2.
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Hebold,
weniger wirksam war. Fuchs *) bemühte sich, die Anzeigen für die ver¬
schiedenen Formen eingehend festzulegen. Nach ihm bieten die besten
Aussichten die klassischen Formen, die geringsten die paranoid reizbaren
und die infantil euphorischen. Das Genauere möge man bei ihm wegen
der ihm eigenen Einteilung nachlesen.
Sonst wird die beruhigende Wirkung bei mittelschweren und schweren
Erregungen, bei Delirien, bei Verstimmungs- iftid Angstzuständen ange¬
führt, mögen diese Erscheinungen bei Katatonie, bei Paralyse, auch wohl
bei Epilepsie vorliegen.
Für die Anwendung des Luminals bei der Epilepsie ergeben
sich für uns verschiedene Voraussetzungen, die man dahin ein¬
teilen kann, daß man, von der Brombehandlung ausgehend, ent¬
weder festgestellt hat, daß diese keinen Einfluß auf die Anfälle
und andere Erscheinungen dieser Nervenkrankheit hat, oder daß
mit der Brombehandlung trotz der günstigen Einwirkung auf die
Nervenkrankheit Nachteile und Ubelstände sich einstellten und so
Gegenanzeigen sich geltend machten, die daneben, wenn man
aus irgendeinem Grunde von seiner Anwendung bisher nicht
absehen konnte, eine Bekämpfung mit noch anderen Mitteln
erforderten. Weiterhin kam man, wenn bisher keine Behandlung
mit Bromsalzen stattgefunden hatte, dazu, Luminal zu versuchen,
wenn man nach der bisherigen Erfahrung von vornherein Brom¬
salze verwerfen mußte, die man doch sonst in die vorderste Reihe
der Arzneimittel bei Behandlung der Epilepsie stellte und auch
noch zu stellen hat.
Es ist nun bekannt, daß man den sog. kleinen oder Schwindel-
anfällen mit den bisher fast ausschließlich gebrauchten Mitteln
nicht beikommen kann. Meist treffen wir diese häufigen kurzen
Bewußtseinsstörungen bei den der Anstalt anvertrauten Kindern
an. Aber hierbei versagte auch das Luminal völlig, so oft wir es
auch versuchten, was sich mit den Erfahrungen Kuteinskis deckt.
Anders ist es mit. schweren Anfällen, die auf Brom nicht
zurückgehen. Da lohnt sich ein Versuch mit Luminal.
Brom wird in mancherlei Beziehung von gewissen Kranken
nicht vertragen.
In Betracht kommen zunächst und häufig solche, die von
*) Dr. W. Fuchs, Epilepsie und Epilepsiebehandlung. Leipzig
1914, S. 12.
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Das Lumkiai bei der Behandlung der Epilepsie.
427
Hauterkrankungen danach heinigesucht werden, Krankheiten, die
nur nach Aussetzen des Mittels entfallen oder mit Anwendung
weiterer Arzneimittel, bei denen Arsenik im Vordergründe steht,
bekämpft werden konnten. Eine häufige Begleiterscheinung ist
die Akne, die oft den ganzen Körper befällt, und die Dermatitis
ex bromo (das Bromoderma), die gewöhnlich an den Unterschenkeln
init Krusten bedeckte Geschwüre bildet, derartige Bildungen aber
auch sonst am Körper auf der Grundlage von Entzündungen,
beim Abheilen von Furunkeln und selbst, wie wir sahen, an Impf¬
pusteln entstehen läßt. Hierbei hatten wir bislang leidliche Er¬
folge mit Sabromin, dann aber ganz gute mit Luminal, so daß
wir dieses jetzt in allen Fällen jeder andern Behandlungsweise
vorziehen.
Im Gegensatz hierzu können wir so gut wie keine Beob¬
achtungen anführen, wo Hauterkrankungen die Anwendung von
Luminal verboten hätten. In einem Falle traten zwar zwei bis
drei Monate nach der Verabreichung von 3 mal 0,1 täglichen
Gaben auf der von der zerebralen Kinderlähmung betroffenen
Seite am Unterschenkel, dem Gesäß und oben auf der zweiten
Zehe oberflächliche Hauterosionen auf, worauf das Luminal aus¬
gesetzt wurde: ähnliches kam aber seitdem bei wieder eingeführter
und lange fortgesetzter Behandlung nicht wieder vor.
Unangenehm bemerkt wird der Einfluß des Broms auf das
geistige Verhalten in manchen Fällen und nach längerer Ver¬
abreichung, wo es hemmend wirkt. Die Verallgemeinerung dieser
Wahrnehmung von der schädlichen Wirkung, die untQr den Laien
recht verbreitet ist, bringt viele Kranke dazu, sich auch unter
ärztlicher Überwachung dagegen zu sträuben und sich zu weigern,
es einzunehmen. In gewissen Fällen rufen die Bromarzneien
aber auch geradezu Erregungen mit Verwirrtheit hervor. Diese
Wirkung ist nicht so bekannt, als sie beachtet zu werden ver¬
dient. Um sie hervorzurufen, bedarf es nicht einmal großer Dosen,
auch findet man bei denselben Kranken zeitliche Unterschiede.
Die Fälle lassen sonst nichts Besonderes, was darauf hinwiese,
erkennen. Wenn man das Bromkalium nicht ganz aussetzen
wollte, verlangte die Verabreichung bisher eine ganz besondere
dauernde Überwachung, da in der rechtzeitigen Abstufung und
Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXV. 4/5.
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Hebold,
Wechsel der Gaben, der immer wieder eintreten mußte, der
Nutzen hießt zu verkennen war. Hier war ein Ersatz durch
'Luminal, das in‘größeren Dosen als Beruhigungs- und Schlaf¬
mittel erprobt war, in Betracht zu ziehen. In der Tat stellten
wir fest, daß es schon in kleinen Gaben, wenn das anfängliche
Ermüdungsgefühl überwunden war, eine gewisse geordnete Reg¬
samkeit hervorrief und Erscheinungen von Unruhe und mit
Hemmung verbundener Verwirrtheit sich besserten. In einem
solchen Fall blieb sogar das überaus lästige und besonders nachts
recht störende laute Aufschreien, das sich an die häufigen, von
da ab seltener gewordenen Anfälle anschloß, aus.
Bei hochgradiger Reizbarkeit' die mit heimtückischen An¬
griffen auf andere meist hilflose Kranke verbunden war, wirkte
das Luminal besänftigend, so daß die Kranken mit kurzen seltenen
Unterbrechungen mit anderen zusammen sein und regelmäßig
beschäftigt werden konnten. Ferner konnte bei Zuständen seelischer
Verstimmung und bei Angstzustäden, in gewissen Fällen neben
gleichzeitiger Darreichung von Bromwasser, eine Besserung be¬
merkt werden.
Recht augenscheinlich war der gute Einfluß in einem Falle,
wo nach den Anfällen sich ein Zustand von Erregung und hallu¬
zinatorischer Verwirrtheit von längerer Dauer eingefunden hatte.
Der Kranke Paul St., geboren den 5. VIII. 1858, seit dem 21. Lebens¬
jahre krampfkrank, nebenher zum Trünke geneigt, seit 1904 zum 13. Male
in der Anstalt, hatte in den Jahren nach seiner letzten Aufnahme im
Jahre 1913 50 bis 80 Anfälle jährlich, da er sich weigerte, eine Bromarznei
zu nehmen, war leicht erregbar und kam leicht zu Streit. Nach einem
Urlaub im April 1914, wo er trank, äußerte er eigentümliche Beobach¬
tungen, die auf Sinnestäuschungen beruhten, und wurde nach 5 Anfällen
erregt und verwirrt. In der Folgezeit war er oft recht laut und störend.
Dann äußerte er seit November 1914 Sinnestäuschungen, es komme
Wasser aus dem Luftschacht getropft und ähnliches, und sprach davon,
daß er viel Geld habe, versprach dem Oberpfleger 2000 M., der Vater
habe in der Lotterie gewonnen. Er war 2 Wochen mit Unterbrechungen
abgesondert. Die Monate Januar, Februar und März 1915 waren mit
Erregungen, die von Sinnestäuschungen gefördert wurden, ausgefüllt.
Auch wurde er gewalttätig. Er erhielt nunmehr seit dem 5. III. 1915
zweimal täglich 0,1 Luminal, vom 3. IV. ab zweimal täglich 0,15, seit
dem 5. IX. wieder zweimal täglich 0,1 mit dem Erfolg, daß die Anfälle
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Das Luminal bei der Behandlung der Epilepsie.
429
selten auf traten, die halluzinatorischen Zustände ausblieben und sein
Verhalten dauernd ein ruhiges und gehaltenes war, nur ganz selten sich
nach Anfällen kurzdauernde Zustände von Verwirrtheit einstellten.
An dieser Stelle ist auf eine eigenartige Wirkungsweise ein¬
zugehen, die das Lumina! den Bromalkalien an die Seite stellt,
daß nämlich dadurch, und zwar bei mittleren Dosen, schon Er¬
regungszustände hervorgerufen wurden. Ich wähle aus dem von
uns Beobachteten drei Fälle aus, bei denen es besonders deutlich
hervortrat.
Die ledige Hedwig H., geboren den 7. VI. 1867, seit dem 1. VIII. 1889
in Anstaltsbehandlung, in der Kindheit an Epilepsie erkrankt, leidet an
häufigen bald kleinen, bald ausgebildeten Krampfanfällen, an deren Ende
sie immer furchtbar erregt war, loslief, alles niederrennend, auch Sachen
zerstörte und beschädigte, nicht zu halten war, spie und um sich biß,
was so bis zu 15 Minuten andauerte. Dies änderte sich auch nicht unter
der Behandlung mit 6,0 Bromkalium. Seit dem 16. I. 1911 wurde das
Bromsalz fortgelassen, nachdem vorher die Gabe verringert worden war.
Es änderte sich wenig im Krankheitsbilde und an der Zahl der Anfälle,
deren sie gegen 20 im Monat hatte. Sie erhielt dann im Jahre 1915 vom
4. XI. ab zweimal 0,05 Luminal, vom 11. XI. dreimal 0,05, vom 18. XI.
viermal 0,05, vom 23. XI. ab sechsmal 0,05, und die Anfälle blieben aus,
das Gewicht stieg um 1 Kilo in dieser Zeit. Am 19. XI. wurde sie dann
sehr unruhig, schwatzte fortwährend dieselben unsinnigen Redensarten.
Unruhe und Verwirrtheit steigerten sich in den folgenden Tagen. Sie
war dann ganz durcheinander, redete fortwährend in großer Erregung
vor sich hin, sie sei gesund, habe 100 Millionen auf der jüdischen Bank,
wolle einen Kerl haben. Dazwischen weinte sie. Es wurde nun die Luminal-
gäbe verringert, so daß sie am 28. XI. fünfmal 0,05, am 30. XI. viermal
o,05, am 2. XII. dreimal 0,05, am 4. XII. zweimal 0,05 und am 6. XII.
einmal 0,05 erhielt. Danach hatte sie gleich in den folgenden zwei Tagen
je einen Anfall und dann noch acht im Monat Dezember. Die Erregung
dauerte noch bis in den Anfang Dezember an. Nach den Anfällen am
7. und 8. Dezember hatte sie nur einen kurz dauernden Erregungszustand
und zeigte seitdem wieder ein ruhigeres Verhalten. Nach den weiteren
Anfällen war sie unter dem Einfluß der geringen Luminalgabe nicht ganz
so erregt und so lange verwirrt wie früher. Da aber immer noch Auf¬
regungszustände vorkamen, wurde fortan vom 25. II. 1916 an morgens
und abends je 0,05 Luminal verabreicht. Danach wurde das Verhalten
erträglich. Auch die Zahl der Anfälle wurde günstig beeinflußt. Als im
Juni 1917 wiederum ein Zustand von Erregung mit Weinen und Schreien
eintrat, ging man am 19. VI. auf 0,05 täglich herab, setzte das Luminal,
obschon sie ruhiger geworden war, am 14. VII. ganz aus und gab statt
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seiner 2,0 Brk. Sie war zunächst einige Tage erregt und verwirrt, wurde
dann ruhiger, und die Anfälle mehrten sich sehr.
Die kleine Kranke Margarete H., geboren den 26. IX. 1906, seit dem
15. X. 1914 in der Anstalt Wuhlgarten in Behandlung, nachdem sie seil
Februar desselben Jahres (im 8. Lebensjahr) an Krämpfen erkrankt war,
erhielt, weil sie trotz Bromkalium zahlreiche kleine und große Anfälle
hatte, seit dem 7. IV. 1917 zweimal 0,05 Luminal, seil dem 2. X. morgens
0,05, abends 0,1 Luminal, seit dem 11. II. 1918 zweimal 0,1 mit sicht¬
lichem Erfolg in der Herabminderung der Anfälle. Seit der letzten Steige¬
rung der Arznei zeigte sie ein verändertes Wesen. Es wechselte große
Heiterkeit und Niedergeschlagenheit. Sie konnte stundenlang über dieselbe
Sache jammern und war durch nichts abzulenken, schlug die Hände vor
das Gesicht, stützte das Köpfchen auf und sagte immerfort: „Ach, diese
schreckliche Angst und die Anfälle, immer quälen sie mich und lassen
mich nicht schlafen.“ Brachte man sie auf einen anderen Gegenstand,
so hörte sie flüchtig hin und setzte sofort mit Jammern wieder ein. Oft
wurde sie totenbleich und sagte, es sei ihr schlecht. Auf. diese kleinen
Anfälle hatte das Luminal keinen Einfluß. Auch wurde sie erregbar,
zankte sich und lärmte. Am 9. VI. wurde, da sie ein papulöses Exanthem
an beiden Backen, Handrücken und Ellenbogen bekam, die Dosis auf
zweimal 0,05 Luminal herabgesetzt und der Ausschlag mit Zinkpulver
mit Erfolg behandelt. Von einem kurzen Urlaub kam sie im Juli in einem
Hemmungszustand zurück. Da sie wieder mehr über nächtliche Angst¬
zustände klagte, wurde am 25. XI. die Abenddosis auf 0,1 erhöht. Die
Durchschnittsgewichte waren 1914 27 kg, 1915 25 kg, 1916 25% kg, 1917
28 kg (nach Luminal) und 1918 .91 kg.
Bei dem Kranken Bernhard Str., geboren den 29. VI. 1902, der seit
dem 1. Lebensjahre an Krämpfen leidet und seit dem 19. V. 1913 mit
kurzer Unterbrechung in Anstaltsbehandlung ist, einem streitsüchtigen,
ungebärdigen und lügnerischen Jungen, wurde statt der'4,0 Brk., die er
täglich erhielt, Luminal gegeben, da er dauernd recht viele Anfälle hatte.
Er erhielt seit Oktober 1915 zunächst 0,05, dann allmählich steigend
zweimal 0,1 Luminal, ohne daß eine wesentliche Wesensänderung eintrat:
Die Zahl der Anfälle ging darauf etwas zurück. Im Januar 1918 trat aber
ein manischer Zustandein. Er-zeigte ein gehobenes Selbstbewußtsein,
machte dem Arzt beim Besuch recht förmlich eine tiefe Verbeugung mit
militärischem Gruß, während er sonst mit gehobenem Kopfe dastand,
und erklärte, er werde jetzt ein ganz anderer Mensch werden, werde seine
Mutter unterstützen, nicht mehr lange Finger machen, er werde sich eine
Braut nehmen. Er hielt dabei das Gesangbuch in der Hand, indem er auf
die zehn Gebote hinwies. Gelegentlich behauptete er auch frei von Krämpfen
und gesund zu sein. Seit Ende Februar erhält er nur noch zweimal 0,05
Luminal täglich. Sein Befinden und Verhalten hat sich gebessert, und er
kann jetzt dauernd mit Arbeit im Freien beschäftigt werden.
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter
Geisteszustände, insbesondere nach § 81 der Straf-
prozeJßordnung.
Von
Sanitätsrat Dr.TJratz, Oberarzt der Irrenanstalt Dalldorf,
psychiatr. Sachverständigen am Kammergericht and den Berliner Landgerichten.
Wenn wir heute der Befruchtung so vielfältiger, fast aller
Arbeitsgebiete der Psychiatrie durch Moeli dankbar uns erinnern,
muß auch Erwähnung fin'den, daß Moeli im Verein mit Stra߬
mann, Leppmann, Strauch, Stoermer u. a. im Januar 1914 die
forensisch-medizinische Vereinigung ins Leben gerufen hat. An
dieser Stelle haben Ärzte im Verein mit Juristen die verschieden¬
sten ihnen gemeinsamen Fragen zu lösen unternommen. An
dieser Stelle sollten auch die nachstehend abgedruckten Dar¬
legungen, ergänzt durch einen juristischen Korreferenten, Herrn
Landgerichtsrat Dr. Sontag , zur Erörterung gelangen. Der Aus¬
bruch des Krieges hat damals unser Vorhaben vereitelt.
In dieser dem Gründer der forensisch-medizinischen Ver¬
einigung gewidmeten Festschrift sollen unsere Vorschläge jetzt,
erweitert durch unsere Kriegserfahrungen, den Ärzten und Juristen
vorgelegt werden 1 ).
Die Anstaltsbeobachtung zur Klarstellung schwer zu beur¬
teilender Geisteszustände ist auch von juristischer Seite immer
hoch bewertet worden und stellt zumeist die ultima ratio dar.
Auch wenn ausnahmweise nach dem Gutachten des Anstaltsarztes
noch eine Überprüfung — etwa durch das betreffende Medizinal¬
kollegium — eintritt, wird diese größtenteils auf den Fest¬
stellungen der Anstaltsbeobachtung fußen und höchstens eine
andere Auslegung dieser Feststellungen finden.
*) Zwei neuerliche, unsern Gegenstand berührende Aufsätze Moeli&
konnten noch bei der Korrektur verwertet werden: a) Die Anstaltsaufnahmen
zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand eines Angesciml-
digten (StPO. § 81) und zur Feststellung des Geisteszustandes eines zu Ent¬
mündigenden (ZPO. § 656) in Preußen. (Psych.-Neur. Wchnschr. 1918/19,
Nr. 37/38 u. 39/40.) b) Die Berücksichtigung der geistigen Anomalien durch
die Zivilgesetzgebung der Schweiz und Österreichs. (Vjschr. f. gerichtl. Med..
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
altsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 433
1 •
Das Menschenmaterial der Anstaltsbeobachtung.
Im Jahre 19'09 sind, wie ich seinerzeit für den internationalen
Psychiaterkongreß in Berlin in dem damals auf Moelis Anregung von
mir herausgegebenen „Führer durch das psychiatrische Berlin“ zusammen¬
gestellt habe, in den fünf öffentlichen Anstalten Groß-Berlins, d. h. in
der Charitö, den drei städtischen Irrenanstalten und der Anstalt für Epi¬
leptische, 122 Männer und 2 Frauen von den Gerichten zur Beobachtung
des Geisteszustandes nach § 81 der StPO, begutachtet worden.
Nach den Verwaltungsberichten des Berliner Magistrats-, welche ich
dank der Freundlichkeit des Herrn Geheimrat Bonhöffer durch die Zahlen
der Charitö ergänzen konnte, hat sich die Zahl der in Groß-Berlin nach
§ 81 Beobachteten in den letzten 10 Jahren in keiner Richtung wesentlich
geändert und beträgt im allgemeinen jährlich 100—120 Personen, in der
überwiegenden Mehrzahl Männer. Über die Hälfte kommt aus der Unter¬
suchungshaft.
Außerordentlich klein ist die Zahl derjenigen, welche im Entmündi¬
gungsverfahren nach § 656 ZPO. zur Beobachtung in die Anstalt geschickt
werden. Etwas häufiger ereignet es sich bei den Groß-Berliner Gerichten,
daß bei anderen bürgerlichen-Rechtsstreiten, bei denen der Geisteszustand
einer Person zweifelhaft erscheint, dieser vom Gericht aufgegeben wird,
sich eine bestimmte Zeit in einer Anstalt beobachten zu lassen.
Viel zu wenig, wie das jüngst Frölich ausgeführt hat, wird die Be¬
obachtungin der Irrenanstalt bei zweifelhaftem Geisteszustände im Renten¬
streit von den Berufsgenossenschaften und Versicherungsämtern in An¬
spruch genommen. Die modernen Irrenanstalten mit ihren vielfältigen
Beschäftigungsgelegenheiten und ihrer Kenntnis auch der durch Alter,
Unfall und sonst bedingten geistigen Störungen sind zur Beurteilung der
Frage der Erwerbsfähigkeit besonders geeignet. Die Versicherungs-Spruch -
behörden pflegen aber den Betreffenden immer wieder durch einen Arzt
in der Sprechstunde beobachten zu lassen, allenfalls die ihnen sonst für
die Behandlung und Begutachtung chirurgischer und nervöser Fälle be¬
kannten Heilstätten, aber keine Irrenanstalten heranzuziehen.
Der Einweisung in die Irrenanstalt stellen sich im Rentenverfahren
und im bürgerlichen Rechtsstreit zuweilen Schwierigkeiten seitens des
Willens der zu begutachtenden Person entgegen, die auch im Strafver¬
fahren gelegentlich vorhanden sind, nur hier naturgemäß weniger Berück¬
sichtigung finden. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in der öffentlichen
Irrenanstalt erscheint nicht jedem verlockend. Er würde erleichtert, wenn
die Anstalt Pensionärabteilungen oder eigene Häuser für die in der Anstalt
rasch zu geistiger Klarheit zurückkehrenden Morphinisten, Alkoholiker,
Psychopathen usw. besitzt. Die entsprechenden Zahlen für ganz Preußen
s. bei Moeli, Psych. Wchnschr. Am zweckmäßigsten ist, wie für Dalldorf
und Herzberge in Aussicht genommen, die Angliederung räumlich ge¬
trennter Nervenabteilungen, deren Sonderstellung Doch durch einen
eigenen Namen verdeutlicht werden kann.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
484
B ratz.
Der Kreis der nach § 81 »StPO, zu Beobachtenden würde sich erheb¬
lich vermehren, wenn die Änderung der Gesetzgebung zwischen die Geistes¬
gesunden und die Unzurechnungsfähigen noch die Klasse- der Minder¬
wertigen, d. h. der Zurechnungsfähigen mit geistigen Mängeln, stellt.
Sobald auf Minderwertigkeit, eben Zurechnungsfähigkeit mit geistigen
Mängeln, erkannt ist, erhebt sich die von uns allen soviel erörterte und
gefürchtete Krage der Behandlung dieser Rechtsbrecher, der Art ihrer
Bestrafung, ihrer Sicherung und Beaufsichtigung. Welch eine genaue
und gründliche Kenntnis der ganzen Persönlichkeit und des gesamten
Lebensganges des Rechtsbrechers gehört dazu, um diese Maßnahmen für
den Einzelfall richtig und zweckentsprechend zu trefTen. Liegt es da nicht
für den Richter nahe, die Vorbereitung für beide Urteile, ob Minder¬
wertigkeit vorliegt und wie der betreffende Minderwertige behandelt
werden soll, gleich vor der Hauptverhandlung durch die psychiatrische
Anstaltsbeobachtung zu beschaffen?
Schon jetzt — ohne gesetzliche Bestimmung — arbeiten in der
Praxis Juristen und Ärzte überall mit dem Begriffe der Minderwertigkeit.
Die Geistesart der Personen, welche zur Beobachtung nach § 81 in
die Anstalt kommen, hat sah in den letzten 20 Jahren nach Meinung
aller von mir befragten Fachgenossen wenig geändert.
Es werden jetzt höchstens 40 Prozent der nach § 81 zur Beobachtung
kommenden als chronisch oder zur Zeit der Straftat geisteskrank und unzu¬
rechnungsfähig angesehen. Mehr als 55 Prozent sind als minderwertig
erachtet, dabei ein großer Teil mit starker Übertreibung der geistigen
Mängel: 2—5 Prozent sind geistesgesunde Simulanten.
Das Krankenmaterial der eingewiesenen Rechtsbrecher hat nun
eine bestimmte Färbung. Die ausgesprochenen Paralytiker und-chroiu-
schen Paranoiker bzw. Dementia praecox-Kranken mit »Sinnestäuschungen
und Wahnvorstellungen werden oft schon durch die betreffenden Privat¬
ärzte, besonders aber durch die Gerichtsärzte erkannt und ohne Anstalts¬
beobachtung begutachtet. Etwas häufiger fließen uns Alkoholisten, Morphi¬
nisten, Epileptiker, Imbezille und Senildemente zur Beobachtung zu.
Die große Mehrzahl aber aller zu Beobachtenden sind Psychopathen
in all ihren Abarten, solche mit dauernder Hemmungslosigkeit und Un-
stetheit oder mit triebhaften Zuständen, solche mit Abweichungen des
Geschlechtslebens, solche mit und ohne Hysterie, zumeist dauernd mit
seelischen Mängeln behaftet, andere außerdem vorübergehend nach körper¬
lichen und besonders nach seelischen »Stößen geistig erkrankend. Eine
große Zahl der Psychopathen, welche in die Anstalt nach § 8t der StPO,
kommen, verdanken diesen Aufenthalt einem mehr oder minder erheb¬
lichen Schuß von zweckbewußter »Simulation oder Übertreibung. Psycho¬
pathen können ferner Erscheinungen früherer oder vorübergehender
geistiger Krankheit, welche ihnen als selbsterlebt bekannt sind, zum
Zwecke der Täuschung in der allmählich sich einstellenden Gesundung
beibehalten oder wieder hervorheben. Sic können aber auch noch, wenn
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Die Anstaltshcobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände nsw. 4B5
sie etwa unter dorn seelischen Stoße der Untersuchungshaft wirklich leicht
geistig erkrankt sind. z. B. wenn sie zeitweise schreckhafte Visionen haben,
oder wenn sie ihre Beziehungen zur Umgebung schon schief, fast wahnhaft
auffassen. mit dem aus der gesunden Zeit festgehaltenen Motiv, krank zu
erscheinen und straffrei zu werden, die wirklichen Krankheitserscheinungen
durch Täuschungsversuche maßlos verzerren.
Wer diese verwickelten Verhältnisse kennt, welche die Natur mit der
Erkrankung der Psychopathen schafft, wird sich nicht wundern, wenn
hier die Gutachten nicht nach dem einfachen Schema ausfallcn: geistes¬
krank oder nicht krank, wenn vielmehr die berühmten Bandwürmer von
Endurteilen entstehen, z. B.: zur Zeit der Tat zurechnungsfähig, in der
Untersuchungshaft geistig erkrankt, in der Anstaltsbeobachtung simu¬
lierend. aber nicht mehr geisteskrank: ob 8 Wochen später verhandlungs-
fähig. hängt von dem Maße der bis dahin festgehaltenen seelischen Be¬
ruhigung ab, unter Umständen von der Führung der Hauptverhandlung.
Wie stellt sich nun im allgemeinen der Ausgang der Anstaltsbe¬
obachtung?
Bekanntlich werden jetzt, trotzdem das Menschenmaterial im wesent¬
lichen das gleiche geblieben ist, weniger für unzurechnungsfähig erklärt
als vor 10—20 Jahren.
Von 43 Männern, welche in 2 Jahren vor dem Kriege in Dalldorf von
den hiesigen Ärzten nach § 81 beobachtet wurden, waren die Ergebnisse
folgende: 14 wurden als zur Zeit der Tat unzurechnungsfähig erklärt;
bei 4 bestanden wenigstens begründete Zweifel an der Zurechnungs¬
fähigkeit im Sinne der bekannten Reichsgerichtsentscheidung: 23 unter¬
lagen nicht dem § 51 StGB., waren aber dauernd minderwertig: 2 wurden
als geistig gesund bezeichnet.
Ich habe innerhalb 10 Jahren bis 1912 in den Anstalten Wuhlgarten
und Dalldorf 48 Männer nach § 81 beobachtet: von denen waren 18 zur
Zeit der Tat unzurechnungsfähig, 28 waren zurechnungsfähig, aber minder¬
wertig. Einen rein geistesnormalen Simulanten habe ich ein- bis zweimal
gesehen.
Die Anstaltsbeobachtung nach § 81 ergibt also in Verhältnisanteilen
aus diesem kleinen aber gleichmäßigen Material von Menschen, welche
die mit mir arbeitenden Kollegen bzw. ich selbst begutachtet haben,
berechnet: Auf 100: 38 Unzurechnungsfähige. 58 Minderwertige, 4 Geistes¬
gesunde.
Mein größeres, allerdings durch den Krieg nicht ohne weiteres ver¬
gleichbares Material bis 1918 kommt zu den gleichen Verhältnisanteilen.
An diesem Ergebnis, an der jetzt gegen früher geringeren Zahl der für unzu¬
rechnungsfähig erklärten, hat der Wechsel der wissenschaftlichen An¬
schauungen, die kritischere und strengere Stellung der modernen Psychiatrie
einen Anteil. Wir haben gelernt zu erkennen und zu werten, wie oft
Hysterische und Hystero-Psychopathen, um der Feststellung einer Straf¬
tat zu entgehen, auch ohne klar bewußte Simulation nach ihrer ganzen
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436
Br atz,
Wesensart Krankheitserscheinungen übertreiben und fälschen. Aber
ebenso offen muß ich hier meine Meinung dahin darlegen, daß in der
Übung der Minderwertigkeitserklärung' bereits das Pendel zu weit nach
der anderen Seite schwingt. Für die hemmunglosen Psychopathen, die
gleichzeitig nach ihren Verstandesleistungen schwachsinnig sind, müßte
m. E. der Anstaltsarzt, der nicht schematisch diese Krankheitsform mit
dem Endgutachten ,,Minderwertigkeit“ verknüpft, sondern den Einzelfall
sorgfältig prüft, öfter, als es jetzt geschieht, den Schutz des § 51 verlangen.
Wie dem auch sei, im wesentlichen ist unser zahlenmäßiges Ergebnis,
wie wir gesehen haben, durch die Artung des zur Anstaltsbeobachtung
kommenden Menschenmaterials bedingt, das in Wirklichkeit die zweifel¬
haften, schwer oder doch nicht rasch zu beurteilenden Geisteszustände
umfaßt.
Es wurde schon erwähnt, daß die gerichtsärztlichen Gutachter schon
jetzt, ohne gesetzliche Einführung des Begriffs der Minderwertigkeit bzw.
der geminderten Zurechnungsfähigkeit, doch mit dieser Feststellung
arbeiten. Der Unterschied zwischen der jetzigen Übung und dem beab¬
sichtigten Zustande ist nur der, daß jetzt der Richter bei Berücksichtigung
der Minderwertigkeit nicht an einen gesetzlich festgelegten Strafrahmen
gebunden ist, und daß er auf Sicherung und Verwahrung jetzt nicht er¬
kennen kann. Aber jetzt schon beachtenswert scheint die hohe Zahl der
Minderwertigen, welche die Beobachtung nach § 8t aufzeigt, diejenige
Form der Begutachtung, welche einerseits mit Hilfe behördlicher Auf¬
klärung der Tatsachen, andererseits mit der Anstaltsbeobachtung der zu
prüfenden Menschen arbeitet und deshalb für sich in Anspruch nehmen
kann, am tiefsten in die Persönlichkeit einzudringen. Diese Form der
Begutachtung erachtet schon jetzt unter den ihr zur Prüfung der Zu¬
rechnungsfähigkeit überwiesenen rund 60 Prozerit als minderwertig, d. h.
als zurechnungsfähig, aber mit geistigen Mängeln dauernd behaftet.
Die hohe Zahl der Minderwertigen, ihre klinisch nahezu gleich¬
mäßige Zusammensetzung aus hemmunglosen bzw 7 . schwachsinnigen
Psychopathen macht es dem Psychiater zur Pflicht, sie auch nach ihrer
Wesensart näher zu betrachten. Dabei ergibt sich nun folgendes: Erstens,
die Rechtsbrüche der Minderwertigen beginnen in sehr frühem Lebens¬
alter. Zweitens, sie werden fast durchweg rückfällig. Es handelt sich
nach der Art der Rechtsbrüche im wesentlichen um drei Klassen: a) die
Rückfallsdiebe, wobei ich alle vom Gesetzgeber unterschiedenen Eigen¬
tumsvergehen, wie Unterschlagung, Urkundenfälschung, Betrug wegen
der psychologisch gleichen Art hier zusammenfasse; b) die übererregbaren
Rohlinge; Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Beleidigung, Wider¬
stand usw. sind hier zusammengefaßt; c) Sittlichkeitsverbrecher.
Die Auffassung, welche erfahrene Psychiater wie Kraepelin schon
immer gehabt haben, daß auch die nicht zur Begutachtung kommenden,
wegen Rückfalls immer wieder verurteilten Diebe, Rohlinge und Sitt-
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Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände asw. 437
lichkeitsverbrecher bei ärztlicher Prüfung sich als minderwertige, mit
dauernden seelischen Mängeln behaftete Menschen erweisen, hat sich
mir auch vor den Kriegsgerichten bestätigt. Die Kriegsgerichte haben
in weit größerem Umfange als die bürgerlichen Gerichte psychiatrische
Beobachtung angeordnet. Mehr als 500 Rechtsbrecher habe ich in 4 V,
Kriegsjahren als Stationsarzt einer Nervenstation und Fachbeirat eines
Armeekorps begutachtet. Wieder hat es sich gezeigt, daß die drei ge¬
nannten Klassen der Rückfälligen fast durchweg Minderwertige waren.
Und für eine vierte Klasse fand sich hier die Bestätigung. Wir Psychiater
kannten schon aus dem bürgerlichen Leben die Unstetheit der hemmung¬
losen Psychopathen, welche sie immer wieder ihre Beschäftigung und ihren
Aufenthalt wechseln ließ. Nur wird solche hemmunglose Unstetheit im
bürgerlichen Strafgesetzbuch nicht mit Strafe bedroht und kommt nur
ausnahmweise zu gerichtlicher Beurteilung. In militärischen Verhält¬
nissen ergab sich die unerlaubte Entfernung, bei denen, die nicht zurück¬
zukehren beabsichtigen, Fahnenflucht bena~nnt. Und siehe da: alle mehr 1
als einmal sich unerlaubt Entfernenden — viele hatten sich dreimal und
öfter entfernt — erwiesen sich bei psychiatrischer Prüfung als Minder¬
wertige.
So interessant und grundsätzlich wichtig für die ärztlich-klinische
Betrachtung dieser Zuwachs der Minderwertigen durch die Unsteten ist.
für die bürgerlichen Verhältnisse der nächsten Zukunft können wir uns
auf die schwer genug wiegende Frage beschränken: Was folgt aus dieser
Beschaffenheit der Rückfallsdiebe, Rückfallsrohlinge und rückfälligen
Sittlichkeitsverbfecher als minderwertiger, mit seelischen Mängeln dauernd
behafteter Menschen für ihre Behandlung?
Vermutlich wird die Änderung der Gesetzgebung der nächsten Zeit
sich in der Richtung bewegen, dem Angeklagten weitgehenden Schutz
zu gewähren: Erleichterung der Verteidigung, durchgehende Möglichkeit
der Berufung, Mitwirkung des Laien an der Rechtsprechung und andere
Maßnahmen sind als Schutz für den Angeklagten gefordert.
Alle solche Schutzmaßnahmen sind das wichtigste Interesse des¬
jenigen, der zum erstenmal in seinem Leben vor Gericht gezogen wird.
Solchen Personen wären auch ohne weiteres alle diejenigen gleichzusetzen,
welche später wegen eines anderweitigen Vergehens oder erst jahrelang
nach der ersten Anklage wegen des gleichartigen Vergehens vor Gericht
gezogen werden. Bei allen diesen Personen, die ja geistesgesund und nach
ihrer Geistesart fähig sind, sich vor Rechtsbrüchen zu bewahren, wird die
moderne Gesetzgebung in ihrem und in der Gesellschaft Interesse den
Gesichtspunkt voranstellen können. Unschuldige vor Strafe zu schützen,
Schuldige unter Berücksichtigung der obwaltenden Umstände strafrecht¬
lich mit dem Ziele mi behandeln, sie vor einem zweiten Rechtsbruch zu
bewahren.
Ganz anders bei den Minderwertigen, wie wir sie in der' genannten
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B ratz.
Kalogor io der rückfälligen Diebe, Rohlinge und Sittliehkeits Verbrecher
^ vor uns haben. Sicher verdienen sie nach ihrer krankhaften Eigenart
mehr unser Mitleid als moralische Entrüstung. Sie sind wie mißratene
Kinder. Weder ihnen noch der menschlichen Gesellschaft ist damit gedient,
daß sie vor der Aburteilung ihres dritten oder vierten Diebstahls alle Ma߬
nahmen der Verteidigung und alle Instanzen der Rechtsprechung durch¬
laufen können und diese Instanzen zuungunsten der erstgenannten Per¬
sonen belasten. Vom ärztlichen Standpunkt aus wäre es wünschenswert,
für diese Rückfälligen eigene gesetzliche Bestimmungen zu schallen, sie.
möglicherweise sogar vor eigene Kammern zu verweisen, die sich ein¬
gehend mit der Behandlung derselben befassen. Wenn die vor dem Kriege
erstrebte zeitweise Verbringung der Minderwertigen in angegliederte
Sonderabteilungen der Irrenanstalten oder eigene Bewahranstalten bei
unserer jetzigen traurigen Finanzlage vorerst undurchführbar ist., so wird
eine gewisse Sicherung doch auch mit geringeren Mitteln, wie mit zwang¬
weiser Anweisung des Aufenthaltes und der Beschäftigung, Bestellung einer
mit vormundschaftlichen Rechten ausgestatteten Schutzaufsicht 1 ). für
gewisse Zeilen und bis zu einem gewissen Grade zu erreichen sein. Bei dem
Vorschläge eigener Kammern schwebt mir neben den Erfahrungen der
Jugendgerichte vor. daß schon jetzt bei den Kriegsgerichten für alle
Arten von Angeklagten der gleiche Richter als t'ntcrsuchungsführer und
auch in der Hauptverhandlung tätig ist und genau die Person des An¬
geklagten kennenlernt, besser als es in einer vielköpfigen öffentlichen
Haupt Verhandlung möglich ist.
Technik der Anstaltsbeobachtung;.
Ich bin ein großer Freund der Anstaltsbeobachtung nach § 81 und
glaube, daß dieselbe im Interesse der Rechtspflege schon jetzt häufiger
angewandt werden müßte. Ob Schlaflosigkeit. Kopfschmerzen, ob Krämpfe
oder andere anfallweise Nervenstörungen bestehen, kann die Tag und
Nacht fortgesetzte Anstaltsbeobachtung gewissermaßen spielend klar¬
stellen, während sie ohne dieselbe immer zweifelhaft bleiben, f*ber Sinnes¬
täuschungen wird am ehesten die Anstaltsbeobachtung Licht bringen.
Die zwangweise Fernhaltung der Berater und der Hilfsmittel des gewöhn¬
lichen Lebens bringt oft schon Klärung. Bei einem jungen Kaufmann
und notorischen Wechselschieber hatten sechs beamtete Arzte Reaktions-
losigkeit der Pupillen sowie seelische Hemmung und Abstumpfung auf
Grund der Sprechstundenuntersuchungen begutachtet, ln der Anstalts¬
beobachtung hörten alle diese Erscheinungen nach etwa einer Woche
allmählich auf, und es ergab sich, daß sie durch Morphiumgebrauch herbei¬
geführt waren. Die so wichtige Klarstellung des ganzen Lebensganges
durch Herbeiziehung aktenmäßigen und krankengeschichtlichen Materials
und die Besprechung der sichergestellten Erlebnisse mit der Person selbst,
l ) Vergl. Modi, Vjschr. f. geriehtl. Med. 1918. S. 134.
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Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 43 «)
die Beobachtung ihrer Erinnerung und ihrer Gefühlsreaktion bezüglich
bestimmter Erlebnisse ist am besten in der Anstalt durchführbar.
Aber zu einer häutigeren Anwendung der Anstaltsbeobachtung
müßte m. E. eine jetzt nicht vorhandene Vorbedingung erfüllt werden,
eine größere Kürze. Das ganze Verfahren krankt jetzt, ebenso wie ein
wesentliches Glied derselben, wie das schriftliche Gutachten, an einer
sachlich zumeist nicht' erforderlichen Breite und Umständlichkeit.
Wird jetzt, sei es vom Untersuchungsrichter oder Staatsanwalt, sei
es in der Haupt Verhandlung, die Anstaltsbeobachtung beschlossen, so
bedeutet das im allgemeinen eine Unterbrechung des Verfahrens auf
mindestens ein Vierteljahr, sehr häutig auf ein halbes Jahr und länger.
Eine solch lange Unterbrechung bringt natürlich mannigfache Mißslande
mit sich und muß an sich schon für den Richter ein Gegengrund für die
Anwendung des § 81 sein.
loh möchte eine Reihe von ärztlichen Vorschlägen für die Abkürzung
des Verfahrens den Fachgenossen unterbreiten: Oft kommt der zu Beob¬
achtende in die Anstalt, aber noch keine Gerichtsakten. Ich brauche
nicht auszumalen, daß eine rasche und durchdringende Erforschung der
Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten erschwert ist, wenn der Arzt nicht
einmal die Art der Straftat kennt, geschweige denn etwaige Vorgulachten
und andere Einzelheiten.
Dqs Verfahren muß sich behufs möglichster Beschleunigung folgender¬
maßen abspielen: Mindestens bei Eintreffen des Angeklagten, besser
schon eine Woche vorher, müssen die Akten in den Händen des Arztes
sein. Der Arzt muß dann seinerseits sofort die ersten Tage ausnutzen,
d. h. er muß alsbald die Akten sorgfältig durchsehen, erforderlichenfalls
sich einen Auszug oder eine Abschrift von allen interessierenden Akten¬
stellen entnehmen. Viel weiter geht ein Vorschlag meines Herrn Korre¬
ferenten, der empfiehlt, daß der Untersuchungsrichter Duplikatakten
dem Arzt der Irrenanstalt zugehen läßt. —Trifft der zu Beobachtende in
der Anstalt ein, so muß der Arzt, bewaffnet mit der Kenntnis der Akten,
am besten noch den Tag der Einlieferung benutzen, solange der Ange¬
klagte noch unbekannt mit den Verhältnissen der Anstalt und von
etwaigen anderen Rechtsbrechern nicht unterrichtet ist, um erstmalig
über den Geisteszustand des Angeklagten sich zu unterrichten.
Die allgemeinen Anordnungen für die Beobachtung werden bei
diesem ersten Vorbesuche getroffen, die beteiligten Ärzte und Oberpfleger
von der Sachlage unterrichtet. Zweckmäßigerweise wird ein Pfleger,
der im Aufenthaltsraum des Neuaufgenommenen seinen Dienst hat, mit
der besonderen Beobachtung des Betreffenden beauftragt. Er muß täg¬
lich seine Beobachtungen niederschreiben, muß sich freundlich mit. dem
Angeklagten stellen. Dabei muß der Pfleger zwar von seiner Aufgabe
den Angeklagten möglichst wenig merken lassen, braucht aber durchaus
nicht wie ein Spitzel zu handeln: er wird im Gegenteil ausdrücklich darauf
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Br atz,
aufmerksam ztrmachen sein, daß er sich mehr abwartend verhalten muß und
niemals in seinem Erkundungseifer dem Angeklagten etwas vorlügen dürfe.
Der Arzt, der täglich von dem Ergehen des zu Beobachtenden Kennt¬
nis nehmen muß, wird außerdem noch seine besonderen Vorbefeuche fort¬
setzen, d. h. eingehend unter Benutzung des Aktenmaterials mit dem
zu m Beobachtenden außerhalb der Krankenabteilung in der Ruhe eines
besonderen Zimmers — erforderlichenfalls unter .Zuziehung eines Proto¬
kollanten — sich beschäftigen. Auf die Gefahr hin, in der Erwähnung
von Kleinigkeiten lehrhaft zu erscheinen, möchte ich raten, diese Vor¬
besuche soweit als möglich in den späten Nachmittagstunden, im Winter
beim traulichen Schein der Lampe vorzunehmen. Es scheint, als ob sich
die Seele mancher normalen und besonders vieler nervösen Menschen
mehr gegen Ende des Tages löst und mitteilsamer wird. Aber auch die
ganze Stimmung auf der Krankenabteilung einer Heilanstalt ist vormittags
vor, während und nach der ärztlichen Visite, zu welcher Zeit alle Wünsche
der Kranken, alle ärztlichen Anordnungen, die wesentlichen Teile des
laufenden Dienstes sich abspielen, naturgemäß nicht so ruhig, nicht so
geeignet zu einer offenen Aussprache als gegen Abend. Und es muß doch
unser Hauptbemühen sein, den zu Beobachtenden zum Reden zu bringen,
zur rückhaltlosen Darlegung der von ihm angenommenen Krankheits¬
erscheinungen und des Herganges der Straftat.
Aus diesem Grunde empfehle ich dem Arzte dringend, bei dem Ver¬
dachte der Simulation oder der Übertreibung von Krankheitserschei¬
nungen die eigene Auffassung dem zu Beobachtenden nicht vorzeitig zu
verraten und ihn nicht etwa durch eine Mahnung zur Wahrheit oder eine
Kritik einer Einzeldarstellung zu reizen. Zu derartigen ärztlichen Ein¬
wirkungen, die erforderlichenfalls bis zu eindringlicher Mahnung gesteigert
werden können, ist noch am Ende der Beobachtung Zeit, und sie werden
um so wirksamer sein, je mehr sie schon auf umfassende Beobachtung
sich stützen.
Bei den ersten Vorbesuchen muß der Arzt die Lebensgeschichte des
zu Begutachtenden so genau mit demselben durchgehen, daß die Herbei¬
ziehung aller sich dabei ergebenden Akten und Krankheitsgeschichten,
die Bestellung von Angehörigen und Bekannten zur Rücksprache mit
dem Arzt alsbald lückenlos erfolgen kann.
Ich empfehle des weiteren, nach einigen Wochen, und zwar sobald
die eingeforderten Akten eingetroffen und die Vernehmungen der An¬
gehörigen beendet sind, während der Angeklagte noch in der Anstalt ist,
das Konzept des schriftlichen Gutachtens, und zwar zunächst die Vor¬
geschichte, schon niederzuschreiben. Man hat dabei den Vorteil, etwaige
Lücken zu erkennen, und kann noch Rückfragen an den Angeklagten
oder die Angehörigen stellen.
Zumeist am gleichen oder folgenden Tage, jedenfalls, sobald das
Ergebnis der Beobachtung im wesentlichen feststeht, schreibe ich, wahrend
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Die Anst<sbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 441
der Angeklagte noch da ist, in Fortführung des Konzeptes auch den zweiten
Teil desselben nieder, die Darstellung der Anstaltsbeobachtung einschlie߬
lich der körperlichen und geistigen Untersuchung. Bei der Niederschrift
der eigenen Beobachtungen stellen sich fast regelmäßig noch kleine Un¬
klarheiten oder Lücken der Untersuchung heraus, die bei Anwesenheit
des zu Beobachtenden rasch beseitigt werden können.
Zu diesem Zeitpunkte, wo die gutachtlichen Erwägungen, welche .
die ganze Beobachtung begleiten, sich zu der letzten Schlußfolgerung
verdichten, ja oft noch bei der Niederschrift dieses gutachtlichen Teiles,
ist der Angeklagte noch in der Anstalt. Die Reinschrift des Gutachtens
geht bei dieser Arbeitsweise zugleich mit der Aufforderung zur Abholung
des Angeklagten oder mit dem Angeklagten aus der Anstalt ab. Andern¬
falls folgt sie in einer Woche etwa, nachdem der Angeklagte die Beobach¬
tung verlassen hat.
Gegenüber der von den meisten Kollegen geübten Arbeitsweise,
mehrere Wochen nach dem Abgänge des Beobachteten das Gutachten
niederzuschreiben, hat die von mir vorgeschlagene und auf meine An¬
regung auch von den hiesigen Kollegen erprobte Methode neben der er¬
heblichen Beschleunigung des ganzen Verfahrens den Vorteil, daß die
Aufmerksamkeit des Gutachters nicht durch längere, zerstreuende Pausen
unterbrochen wird. Das wird der Richtigkeit der Erwägungen oft förder¬
lich sein, in jedem Falle kommt es der Darstellung zugute.
Als ein nur gelegentlich passendes, dann ausgezeichnetes Mittel,
den Anstaltsaufenthalt abzukürzen und doch die Beobachtung wirksam
zu ergänzen, hat sich mir ih Einzelfällen bewährt, den Rechtsbrecher
in seine Wohnung zu entlassen und ihm nach einigen Tagen einen unan¬
gemeldeten Besuch zu machen. Außerhalb der Anstalt erscheinen die
Wirklich-Kranken oft noch leidender. Simulanten aber, die beim Ver¬
lassen der Anstalt mit tausend Gebrechen aus dem Bett sich erheben,
trifft man rauchend und singend oder, was auch in solchem Falle viel
sagt: nicht zu Hause.
Ich bin bei der geschilderten eindringlichen Art, der Persönlichkeit
des Rechtsbrechers nahezukommen, vielfach mit 2—3 Wochen Beob-
ächtungszeit ausgekommen. In der Mehrzahl der Fälle konnte ich die
Angeklagten nach etwa 4 Wochen aus der Anstalt entlassen. Es empfiehlt
sich zuweilen, wenn z. B. der zu Begutachtende Sinnestäuschungen oder
andere, weniger durch die ärztliche Exploration als durch die laufende
Beobachtung zu klärende Krankheitserscheinungen behauptet, oder wenn
er der ärztlichen Erforschung ablehnendes Verhalten oder ein bewußt
angenommenes Benehmen entgegensetzt, von weiteren ärztlichen Be¬
sprechungen abzusehen und den Betreffenden anscheinend unbeachtet
auf der Krankenabteilung sich ausleben zu lassen. Auch in solchen zeit¬
raubenden Fällen, in denen erst nach 2 Wochen die ärztlichen Unter-
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B r a t z ,-
suehungen wieder einsetzten, bin ich mit.den genannten Fristen zumeist
ausgekommen.
Durch Riickspracfie mit einer Reihe von erfahrenen Kollegen habe
ich feststellen können, daß es vielleicht nur einer Anregung bedarf, um
die jetzt in etwas schematischer Weise oft auf 6 Wochen ausgedehnte
Reobachlungszeit künftig in der Mehrzahl der Falle um ein Drittel zu
verkürzen. Nur in schwierigen Fallen, wenn ich nach 4 Wochen bezüg¬
lich meines Endgutachtens noch im ernsten Zweifel bin, dehne ich die
Beobachtung bis zu der gesetzlich zulässigen Zeitdauer aus.
Es hat einige Male unliebsames Aufsehen erregt, wenn gefährliche
flewohnheitsvrrbrccher gelegentlich der Beobachtung ihres Geistes
zustandes durch Entweichen aus der Irrenanstalt dem Arme der Gerechtig¬
keit sich entzogen haben. Der Anstaltsarzt darf natürlich über seine
Beobachtungsmaßnahmen die Sicherung nicht vergessen. Ich bin der
Ansicht, daß die Einrichtungen unserer großen Irrenanstalten, wenn
sie planmäßig angewandt werden — oft allein schon Bettruhe bei Ent¬
fernung der Kleider —. genügen, um wenigstens für die Dauer von wenigen
Wochen einen geschickten Ausbrecher festzuhalten. Aber eine Forderung
muß dabei auch an die richterliche Behörde erhoben werden. Es ist zweck¬
mäßig. wenn diese auf Entweichungsverdachtige gleich bei der Einweisung
in die Anstalt aufmerksam macht, damit das Unglück nicht geschieht,
ehe die Anstalt den Betreffenden kennenlernt.
Kehrt der Angeklagte aus der Anstalt in Untersuchungshaft zurück,
so ist es notwendig, daß an die Leitung des Untersuchungsgefängnisses
ein kurzes Befundattest über den gegenwärtigen Geisteszustand des An¬
geklagten sogleich mitgeht. Das wird um so notwendiger, wenn ent¬
gegen den hier dargelegten Grundsätzen der Arzt sein ausführliches Gut¬
achten erst viele Wochen später dem Gericht erstattet.
Es ist eine außerordentlich mißliche Lage, wenn die Ärzte des Unter¬
suchungsgefängnisses einen simulationsverdächtigen oder sonst schwer
zu beurteilenden Rechtsbrecher in die Irrenanstalt überführt haben und
nach der Rückkehr desselben in das Untersuchungsgefängnis in die Lage
kommen, dem ihnen unbekannt bleibenden Anstaltsurteile entgegen¬
gesetzte Entscheidungen zu treffen. y
Welche Verwirrung entstehen kann, wenn das Anstaltsgulachten
über den Geisteszustand des Beobachteten nicht rechtzeitig an die in
Betracht kommende Behörde weitergeleitet wird, erhellt aus einem Vor¬
kommnis der jüngsten Vergangenheit. Ein in der städtischen Irrenanstalt X
Beobachteter wird bei der Rückführung in die Untersuchungshaft als
haftunfähig bezeichnet, und zwar, wie gemeint, aber nicht angegeben war.
wegen schwerer Lungentuberkulose. Das einige Wochen später ergehende
ausführliche Gutachten erklärt den Betreffenden als geistesgesund und
zurechnungsfähig. Inzwischen war er aber dem Polizeipräsidium zur Ver¬
fügung gestellt. Der Kreisarzt fand nichts besonders Abnormes, nahm
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Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 443
aber an, daß die Irrenanstalt ihn wegen Geisteskrankheit für haftunfähig
erklärt hatte, und schickte ihn nach der städtischen Irrenanstalt Y. Die
Irrenanstalt Y findet den Überwiesenen geistesgesund und entläßt ihn
bald, und nun erscheint auch das übereinstimmende Gutachten der Irren¬
anstalt X.
Am besten wird in allen Fällen der Beobachtung von Untersuchungs¬
gefangenen nach § 81 sogleich der Richter das Ersuchen stellen, daß,
abgesehen von dem ausführlichen begründeten Gutachten, bereits am
Tage der Überweisung in das Untersuchungsgefängnis ein Befundattest
über den Geisteszustand, insbesondere die Fähigkeit, in Haft, Einzelhaft
oder Gemeinschaftshaft zu verbleiben, an dieses mitzugeben ist.
Das schriftliche Outachten.
Auf die Gefahr hin, gegen alteingewurzelte, liebgewordene Gewohn¬
heiten anzukämpfen, möchte ich es aussprechen, daß unsere schriftlichen
psychiatrischen Gutachten, insbesondere die aus § 81 erfolgenden, im all¬
gemeinen zu lang sind.
Mit größerer Kürze werden sie m. E. ihren Hauptzweck besser er¬
reichen, vom Richter in allen Einzelheiten gelesen und aufgenommen
zu werden. Aber auch an sich betrachtet, sagen wir als schriftstellerische
Leistung angesehen, wird unser Gutachten mit größerer Kürze klarer,
ich wage zu sagen, schöner werden.
Fast alle nach Anstaltsbeobachtung schriftlich erstatteten Gut¬
achten enthalten mit dem Titel „Vorgeschichte“ eine vollständige Lebens¬
geschichte der Person, welche mit den gutachtlich oft belanglosen Ahnen
beginnt, das Leben des Betreffenden lückenlos bis zur Straftat durchläuft
u nd dann diese, auch wenn sie in der Anklageschrift schon dargestellt ist.
mit dem Untertitel „Straftat“ noch einmal erzählt.
Statt dieses langen Teiles würde oft und fast immer, wenn die Vor¬
geschichte bereits von einem Vorgutachter in den Akten dargestellt ist,
genügen eine Darstellung der eigenen vorgeschichtlichen Erhebungen des
Gutachters, und zwar nur soweit sie Neues beibringen, z. B. die früher
noch nicht gemachten Mitteilungen der Angehörigen. Dieser Teil kann
dann zur Beruhigung des Gewissens „zur Vorgeschichte“ überschrieben
werden.
Ist ein Überblick über das gesamte Leben erforderlich, etwa zum
Beweise zahlreicher Wiederholungen von Einzelhandlungen, welche
seelische Mängel verraten, so kann an Stelle einer breiten Erzählung
zuweilen eine Geschichtstabelle zur Kürze helfen. Ich habe diese Art der
Darstellung der Vorgeschichte vor vielen Jahren von Herrn Med.-Rat
Stoermer gelernt und sie seither vielfach angewendet. Solche Tabelle
braucht nur drei Rubriken: die Zeiten, die Tatsachen und die Aktenstelle
zu enthalten. Je nach Lage des Einzelfalles füge ich der Tabelle eine
Zeitschrift fflr Psychiatrie. LXXY. 4/5. 31
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Bratz,
vierte Rubrik bei, welche mit Stichwort den Richter auf die jeweilige
gutachtliche Bedeutung der betreffenden Tatsache hinweist.
Die Beobachtung in der Anstalt wird von vielen Ärzten breit, von
Tag zu Tag der krankengeschichtlichen Niederschrift folgend, vor¬
getragen. Ich empfehle statt dieser zeitlichen Folge die eigenen Beob¬
achtungen nach sachlichen Gesichtspunkten zusammengefaßt darzustellen
und so über Benehmen des Rechtsbrechers, Schlaf, etwaige Anfälle, Äuße¬
rungen zur Straftat, kapitelweise zu berichten. Der Bericht wird dadurch
kürzer und für den Richter durchsichtiger.
Nun weiß ich wohl, daß mancher Arzt die Einzelheiten der Beob¬
achtung, die für den Richter belanglos sind, für etwaige folgende ärztliche
Gutachten glaubt aktenmäßig festlegen zu sollen. Ich empfehle, auch in
solchen Ausnahmefällen die Kürze und Übersichtlichkeit der eigentlichen
Darstellung nicht zu stören, aber als Anhang die betreuenden Teile der
Krankheitsgeschichte abschriftlich dem Gutachten beizufügen.
Diesen Ausweg lernte ich durch Herrn Prof. Licpmann kennen und
verfahre seither ausnahmweise ebenso mit etwaigen von mir beschafften,
die Vorgeschichte betreffenden Aktenstellen, welche ich ausführlich nicht
dem Texte des Gutachtens einverleiben'mag, aber dem Nachgutachter
bereitstellen wilL
In der geschilderten Weise werden wir die beiden bisher längsten
Teile des Gutachtens, I die Vorgeschichte und II die eigene Beobachtung,
wesentlich kürzen können. Enthält Teil I und besonders II die aufge¬
fundenen Krankheitserscheinungen schon nach sachlichen Gesichts¬
punkten geordnet und nicht nur nach der zeitlichen Folge die Gescheh¬
nisse, so wird Teil III das eigentliche Gutachten, den ich „Beurteilung' 4
oder „Zusammenfassung*, überschreibe, um so eher darauf verzichten
können, noch einmal Teil I und II gedrängt zu wiederholen, sondern gleich
die Diagnose und die Begründung des Gutachtens bringen.
Diesem Strebennach Kürze und insbesondere der Anwendung dieser
Kürze auch auf Einleitung und Schluß stehen nun bis zu einem gewissen
Grade entgegen zwei 60 Johre alte Ministerialerlasse.
Nach dem Preußischen Ministeffalerlaß vom 20. I. 1853. welcher
durch die Ministerialverfügung vom 11. II. 1856 erweitert wurde — zitiert
nach Leppmann, Sachverständigentätigkeit —, muß ein schriftliches
Gutachten folgendes enthalten:
1. Die bestimmte Angabe der Veranlassung zur Ausstellung des Gut¬
achtens, des Zweckes, zu welchem dasselbe gebraucht werden und der
Behörde, Korporation oder Privatperson, welcher es vorgelegt werden
soll. Außerdem muß Ort und Tag der stattgefundenen ärztlichen Unter¬
suchung resp. der wiederholten ärztlichen Untersuchungen oder bei längerer
Beobachtung die Zeit derselben angegeben werden.
2 . Folgen die etwaigen Angaben des Kranken oder der Angehörigen
und der Umgebung des Kranken über seinen Zustand (= Teil I unserer
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D ie Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 445
Darstellung); die Angaben des Kranken aber nur'in dem Falle, daß man
ihn (Neurastheniker, Morphinisten) für zurechnungsfähig erachtet, sonst
folgen alle Aussagen des Kranken besser sub 3, d. h. nicht unter der Anam¬
nese, sondern im Stat. praes.
3. Gesondert von den Angaben zu 2 , die eigenen tatsächlichen
Wahrnehmungen des Begutachtenden (= Teil II unserer Darstellung).
4. Die aufgefundenen wirklichen Krankheitserscheinungen, also
die eventuelle Diagnose eines krankhaften Seelenzustandes.
5. Die tatsächlich und wissenschaftlich motivierte Schlußfolgerung
aus der Diagnose, d. h. Nutzanwendung auf die bei der Begutachtung
in Betracht kommende Frage (4. und 5. = Teil III).
6 . Die Versicherung, daß die Mitteilungen des Begutachteten oder
der Angehörigen oder der Umgebung richtig in das Gutachten aufgenommen
sind, daß die eigenen Wahrnehmungen des Ausstellers überall der Wahr¬
heit gemäß sind, und daß das Gutachten auf Grund der eigenen Wahr¬
nehmungen nach dessen bestem Wissen und Gewissen abgegeben wird.
Diese Versicherung wird bei den amtlichen Gutachten auf den Diensteid,
bei den gerichtlichen auf den im allgemeinen oder im besonderen Falle
geleisteten Sachverständigeneid zu erstatten sein resp. *kie Bereitwilligkeit
enthalten müssen, das Gutachten auf Verlangen mit dem Sachverständigen¬
eide zu bekräftigen.
7. Sollen die Gutachten mit dem Datum der Ausstellung und voll¬
ständigen Namensunterschrift versehen sein. Bei den amtlichen ist Be¬
zeichnung des Amtscharakters und ein Beidrücken des Amtssiegels er¬
forderlich, bei den privaten die Zufügung des Privatstempels oder Siegels
erwünscht.
Nach Nr. 1 dieser Ministerialforderungen sind unsere Einleitungen,
welche die auftraggebende Behörde, alle uns gestellten Fragen, alle be¬
nutzten Akten, Zeit der Untersuchung usw. aufzählen, so umfangreich
geworden, daß bekanntermaßen jeder Kenner, Jurist wie Arzt, die Gut¬
achten so liest, daß er zunächst die ersten Seiten überfliegt und sucht,
wo der eigentliche Text und damit die Lektüre beginnen soll.
Ein Gutachten nach § 81 bildet doch kein Buch für sich, sondern
kommt, durch Begleitschreiben der Anstalt oder mit den Gerichtsakten
abgesandt, sicher in diese hinein. Da genügt statt seitenlanger Einleitung
für gewöhnlich die Überschrift: Fachärztliches Gutachten über die Fragen
Blatt x und y der Strafsache gegen Müller, Aktenzeichen so und so. Die
benutzten Akten mache ich dann im Text da kenntlich, wo ich sie zitiere.
Die feierliche Schlußversicherung der Gewissenhaftigkeit, welche
die Ministerialverfügung vom 20 . I. 1853 den Ärzten vorschreibt,
nimmt auf Kosten der Übersichtlichkeit die letzte halbe Seite in An¬
spruch. Fort mit diesem alten Zopfe !
Viele Ärzte haben sich an die strenge Innehaltung des Ministerial-
schemas gewöhnt. Aber auch nach Leppmanns Auffassung ist das Schema
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Bratz,
der Ministerialverordnungen nur ein solider Anhalt für Anfänger. Mit
wachsender Kunst soll der Gutachter den Erfordernissen des Einzelfalles
gerecht werden.
An einem Einzelfall fnöchte ich entwickeln, wie das nach Anstalts¬
beobachtung zu erstattende Gutachten am klarsten und kürzesten von der
Bindung an das Schema sich freimachen kann: Ein im Weltkriege zum
zweiten Male wegen Drucks und Vertriebs von Brotkarten zur Verant¬
wortung gezogener Setzer klagt in der Untersuchungshaft über Gesichts¬
und Gehörstäuschungen. Der Gefängnisarzt findet in der Vorgeschichte,
die er genau in seinem Gutachten darstellt, nichts erheblich Krankhaftes,
kann aber eine Beobachtung auf die Wirklichkeit und Art der behaupteten
Sinnestäuschungen im Gefängnis nicht durchführen und stellt deshalb
Antrag aus § 81. In der Irrenanstalt stellt sich heraus, daß der Setzer an
Sensationen im Kopf, Angstgefühl und Visionen leidet, als ob die Decke
sich teilt, daß er aber das Krankhafte dieser Sensationen jeden Augen¬
blick erkennt, und daß in keiner Weise von einer halluzinatorischen Psy¬
chose die Rede sein kann. In solchem Falle beginne ich die Darstellung
mit Hervorhebung, der gutachtlichen Frage, die der Gefängnisarzt vor¬
fand, gebe sogleich die Antwort, welche die Irrenanstaltsbeobachtung
lieferte, und füge dann kurz, nur soweit ich Neues beibringen kann, die
Vorgeschichte an, immer unter Bezug auf das Vorgutachten, so daß die
ganze Darstellung in einem Fluß bleibt und nur den Gedanken entwickelt,
daß jetzt die vorhanden gewesene Schwierigkeit beseitigt ist.
In ähnlicher Weise werden wir oft für das nach § 81 zu erstattende
Gutachten davon ausgehen können, in welchem Stadium und zu
welchem besonderen Zwecke vom Richter die Anstaltsbeobachtung verfügt
ist, und unsere Darstellung vor allem von dem Gesichtspunkte leiten
lassen, dem Richter ein klares Bild der neuen durch unser Gutachten
entstandenen Beleuchtung des betreffenden Geisteszustandes zu geben.
Heutzutage wird dieser Zweck des Gutachtens, der Rechtspflege zu
dienen, zu oft vergessen und allzu häufig eine nach dem Schema ablaufende
Darstellung gegeben, als ob diese ein zur wissenschaftlichen Veröffent¬
lichung bestimmtes, in sich abgeschlossenes Werk wäre.
Und dazu ein offenes Wort auch an den Juristen ! Wenn künftig
nach den hier gemachten Vorschlägen unsere Gutachten kürzer ausfallen,
so bitten wir, sie bezüglich der Gebühren nicht mit der Elle zu messen.
Jeder Erfahrene weiß, daß es viel schwieriger ist, alles Erforderliche ge¬
drängt und übersichtlich darzustellen, als auf vielen Seiten ganze Auszüge
aus Akten und Krankheitsgeschichte nach der zeitlichen Folge aneinander¬
zureihen.
Im Interesse der Rechtspflege sollte ein fachärztliches Gutachten,
besonders ein nach § 81 erstattetes, niemals mit einem non liquet endigen.
Nach Moeli (Psych. Wchnschr.) schließen in Preußen 3 Prozent der
nach § 81 veranlaßten Beobachtungen und 3 Prozent Anstaltsbeob-
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Die Anstaltsbeobachtang zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 44 7
achtungen im Entmündigungsverfahren mit unbestimmtem Ergebnis.
Ist ausnahmweise ein Fall durch die Beobachtung nicht so geklärt, wie es
im allgemeinen gelingt, so soll der Beobachter diese Lage frei und von
vornherein in seiner Darstellung kenntlich machen. Aber zu irgendeiner
Überzeugung muß er sich durchringen, dazu ist der Sachverständige da.
Und diese wohlerwogene Überzeugung soll er auch möglichst ohne ein¬
schränkende Vorsichtswörtchen aussprechen. Mit einem „wahrscheinlich“
kann der Richter wenig anfangen. Zum mindesten „mit hoher Wahr¬
scheinlichkeit“ muß das Gutachten ergehen, besser „mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit“ und viel besser ohne solche Floskeln.
Zumeist liegt die Unsicherheit des Urteils ja nicht an dem Versagen der
fachärztlichen Wissenschaft, sondern daran, daß versäumt worden ist,
genügend tatsächliche Unterlagen für das Urteil zu beschaffen.
Über manche Einzelheiten der Anstaltsbeobachtung werden wir den
Juristen zu hören haben.
ln Haftsachen gehen alle Briefe vom und an den Angeklagten, auch
während er in der Anstalt zur Beobachtung sich befindet, zuerst durch
die Hand des Untersuchungsrichters bzw. Staatsanwalts. Auch jeder
Besuch bei dem zu Beobachtenden bedarf der vorherigen richterlichen
Genehmigung. Nun gibt aber ein flotter, unbefangener brieflicher und
persönlicher Verkehr des zu Beobachtenden so zwanglos einen Einblick
in seine Interessen, Verstandeskräfte und seine Wesensart, daß es be¬
dauerlich ist, diesen Verkehr während der Anstaltsbeobachtung zu hemmen.
Die richterliche Kontrolle des Briefwechsels und der Besuche sollte m. E.
auf besondere vom Richter namhaft gemachte Fälle beschränkt bleiben.
Ich lasse die Angehörigen, nachdem ich sie zunächst über den Geistes¬
zustand des Rechtsbrechers gehört habe, zu einem ersten Besuch desselben
gern in meiner Gegenwart zu und leite die Unterhaltung auf die von mir
gewünschten Punkte.
Auch die unauffällige Beobachtung der Unterhaltung des Rechts¬
brechers mit seinen Angehörigen kann zuweilen die Erforschung seines
Geisteszustandes fördern.
Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich, daß Besuche von Ange¬
hörigen die Beobachtung stören und gefährden.
Wenn unsichere Tatsachen, z. B. Angaben von Bekannten des
Rechtsbrechers über frühere Dämmerzustände desselben eine wesentliche
Grundlage des zu erstattenden Gutachtens bilden sollen, empfiehlt es
sich zuweilen, vor Erstattung desselben die Klarstellung und Erhärtung
dieser Grundlagen durch eidliche Zeugenvernehmungen zu beantragen.
Wenn nun ein Angeklagter erst in der "Hauptverhandlung nach § 81
in die Anstalt geschickt wird und der ärztliche Sachverständige für sein
Gutachten noch solche-Zeugenvernehmungen braucht, wie ist das anzu-
s teilen?
Ferner: Ist die zur Beobachtung angestellte experimentelle Alko-
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Original from
UNIVERStTY OF MICHIGAN
448
Br atz,
holisierung des zu Beobachtender^erlaubt, wenn sie Schaden von irgend¬
welcher Dauer nicht bewirkt?
.Ich wende das Alkoholexperiment selten an, weil die Bedingungen
der Wirklichkeit, in der neben dem Alkohol andere Schädlichkeiten, wie
die physikalische und die seelische Atmosphäre der Kneipe, eine bedeut¬
same Rolle spielen, nicht durch das Experiment nachzuahmen sind.
Dennoch ist es im Einzelfalle wertvoll. Z. B. behauptete ein gerissener
Simulant, schon nach zwei Schnäpsen oder drei Glas Bier sinnlos betrunken
zu sein und die Straftat in solchem Zustande begangen zu haben. Es
erwies sich im Experiment, daß er ein weit über die Norm trinkfester
Herr war.
Ob andere kleine, noch weniger eingreifende Experimente zum
Zwecke der Beobachtung erlaubt sind, wird nicht im allgemeinen zu‘
beantworten sein, sondern im Einzelfalle vom Takte des Arztes abhängen.
Er wird gut daran tun, auch Simulanten niemals die Unwahrheit zu sagen.
Dabei kann doch im Einzelfalle eine Überrumpelung oder ein ähnlicher
experimenteller Trick von Nutzen sein. So habe ich gegenüber einem
schweren hysterischen Stupor, in welchem der simulationsverdächtige
Angeklagte höchst einsilbig und mit einem Minimum von Bewegungen
verharrte, einmal einen blinden Feuerlärm inszeniert. Alles stürzte auf
den wohlgelungenen, mit Rauchentwicklung begleiteten Alarm aus dem
Zimmer, nur der Kranke blieb ruhig sitzen und erwies so die Echtheit
seiner Hemmung.
Im ganzen nimmt ja die Psychiatrie der Simulation gegenüber eine
mildere Stellung ein als der Richter, und zwar nicht aus Humanitäts¬
dusel, sondern gezwungen durch naturwissenschaftliche Erkenntnis. Es
geht aus meinem Material zahlenmäßig hervor, was der schon lange ge¬
hegten Meinung der Psychiater entspricht, daß nur bei 3 bis höchstens
5 Prozent der zur Beobachtung überwiesenen Rechtsbrecher geistes¬
gesunde Simulanten waren, daß aber viel mehr minderwertige, mit seelischen
Mängeln behaftete Personen außerdem Symptome von Geisteskrankheit
übertrieben oder vortäuschten. Viele solcher Hysterischen, Psychopathen,
pathologischen Lügner sind zu der Neigung, sich zu irgendwelchen Zwecken
unwahre Tatbestände zu suggerieren und sie so nach außen hin vorzu¬
tragen, nach ihrer ganzen seelischen Veranlagung disponiert.
Aber wir Psychiater sollen doch von solcher naturwissenschaftlichen
Erkenntnis uns nicht zu weit in der praktisch-forensischen Anwendung
tragen lassen. Ich will offen gestehen, daß ich früher diese, wie ich glaube,
fehlerhafte Übung gehabt habe. Hatte ich erkannt, daß es sich um zu¬
rechnungsfähige Menschen mit psychischen Mängeln handelte, die simu¬
lierten, so pflegte ich im schriftlichen Gutachten die Tatsache der Simu¬
lation nicht gar zu dick zu unterstreichen und in dem kurzen mündlichen
Vortrage in der HauptVerhandlung überhaupt nur ganz kurz zu erwähnen.
Die Folge solcher Art Darstellung des Sachverständigen ist, daß
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Anstaltsbeobachtung zur Prüfung zweifelhafter Geisteszustände usw. 449
I
die Simulation der Minderwertigen vom Gericht als straf verschärfendes
Moment nicht erfaßt und bewert et'wird. Ich glaube aber jetzt, daß wir,
schon damit das Heer der Minderwertigen nicht über Gebühr anschwillt,
der Simulation in praxi möglichst hemmend entgegentreten müssen.
Trotzdem unter den Sachverständigen unserer Sensationsprozesse
oft ein Anstaltsarzt sich befindet, welcher den Angeklagten nach § 81
beobachtet hat, kommt es immer wieder vor, daß die Gutachten unsicher,
mit vielen Wenn’s und Aber's ausfallen, und vor allem, daß die Gutachten
der Sachverständigen sich schnurstracks widersprechen. Es ist dies eine
höchst bedauerliche, die Rechtsfindung und das Ansehen der Psychiatrie
außerordentlich schädigende Erscheinung. Solche Vorkommnisse, soweit
sie nicht in der menschlichen Natur begründet sind, seltener zu machen,
scheint mir so wünschenswert, daß ich Anregungen in dieser Richtung
nicht unterlassen möchte:
Die Spannung, welche der Verlauf vieler Sensationsprozesse hervor¬
ruft, beruht vielfach darauf, daß der Hergang der etwaigen Straftat bei
Beginn des Prozesses noch im Dunkeln liegt. Ich erinnere an den Prozeß
der Frau v. Sch., in welchem der Anteil der Angeklagten an der Erschießu ng
ihres Gatten erst nach der Klärung der Ausführung der Mordtat durch
ihren mitangeklagten Geliebten vorstellbar war.
Ich erinnere aus jüngster Zeit an den Prozeß der schönen Sünderin,
der Hedwig M., in welchem zwei himmelweit verschiedene Möglichkeiten
der Erschießung des Exgeliebten Vorlagen. Entweder die planmäßig
verabredete oder, eine affektmäßig aus den aufs fürchterlichste gequälten
Gefühlen des in ihrem Liebesglück bedrohten Weibes im Momeat hervor¬
gerufene Schießerei.
Nun ist klar, daß bei einem Psychopathen, einem Hysterischen,
einem Trunkenen, für die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit es von
außerordentlicher Wichtigkeit ist, den Hergang der Straftat genau zu
kennen, insbesondere in die Wagschale werfen zu können, ob ruhige Über¬
legung oder hochgradiger Affekt bei der Tat vorlag. Die Hauptverhand¬
lung nimmt bei der Fragestellung an den Sachverständigen gar keine
Rücksicht auf die schwankende Tatsachengrundlage der Begutachtung.
Ja, der Vorsitzende, der die Fragen an den Sachverständigen formuliert,
darf aus sich heraus in diesem Augenblicke noch nicht einen bestimmten
Hergang der Straftat zugrunde legen. In solchen Fällen möchte ich nun
anregen, daß der Sachverständige, welcher nach § 81 das schriftliche
Gutachten erstattet und in der Ruhe der Anstalt auf Grund der Akten
und der Kenntnis der Persönlichkeit die verschiedenen Möglichkeiten des
Herganges der Straftat zur Begutachtung sich konstruieren kann und
muß, daß dieser Sachverständige in solchen Fällen vor Erstattung des
Gutachtens eine Rückfrage an das Gericht stellt und formell ersucht,
ihm bestimmte vom Gericht, unter Umständen nach Anhörung der Ver¬
teidigung, formulierte Möglichkeiten des Herganges der Straftat als Grund-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
450
B r a t z, Die Anstaltsbeobachtung usw.
läge der an den Sachverständigen gerichteten Fragen vorzulegen. Die
Begutachtung der Zurechnungsfähigkeit wird dann möglicherweise für
die verschiedenen aufgestellten Hergänge verschieden ausfallen. Aber
für die Hauptverhandlung wird eine erheblich bessere Rücksichtnahme
auf die Bedürfnisse der Begutachtung und ein viel bestimmterer Ausfall
des Gutachtens die Folge sein.
F An Stelle eines zweiten förmlichen Vorschlages zur Vermeidung der
Meinungsverschiedenheit psychiatrischer Gutachten möchte ich ein ein¬
schlägiges Erlebnis berichten.
Vor der Strafkammer einer Provinzialhauptstadt, in welcher einige
Berliner nachts, von einer Kneiperei zurückkehrend, eine Aufsehen er¬
regende Begegnung mit Schutzleuten gehabt hatten, sollte der Haupt¬
angeklagte wegen der Frage eines pathologischen Rauschzustandes be¬
gutachtet werden. Von der Universität der betreffenden Provinz, in deren
psychiatrischer Klinik der hochgeborene Rohling nach § 81 beobachtet
war, war der betreffende Professor und aus Berlin ich geladen. Ich hatte
für mein schriftliches Gutachten umfangreiche Zeugenvernehmungen über
nicht forensisch gewordene Trunkenheitsabenteuer aus der Offizierszeit
des Angeklagten veranlaßt und auf Grund deren Ergebnisse auf Unzu¬
rechnungsfähigkeit zur Zeit der Straftat begutachtet. Von der Beob¬
achtung nach § 81 erfuhr ich erst nach Erstattung meines schriftlichen
Gutachtens durch eine Karte des mir gut bekannten Universitätslehrers
und verabredete daraufhin ein Zusammentreffen. Mein Bekannter sagte
nun im letzten Augenblick wegen dringender Behinderung ab und erschien
aus dem gleichen Grunde erst während der Verhandlung im Gerichtssaal.
Nun hielt der Vorsitzende eine Ansprache an uns mit einer captatio bene-
volentiae beginnend, er habe hier zwei Autoritäten vor sich, diejenige der
Provinz und eine andere aus Berlin, aber leider beide völlig entgegen¬
gesetzter Meinung. Ob wir uns nicht nach mündlicher Aussprache einigen
könnten. Wir berieten nun ein paar Minuten im Gerichtssaal in Flüster¬
sprache unter den Augen aller Anwesenden. Ich erfuhr durch diese Unter-
* redung, daß man in der Klinik AlkoholeXperimente gemacht und patho¬
logische Rauschzustände nicht beobachtet hätte. Natürlich wurde ich
durch das entgegengesetzte Urteil meines erfahrenen Freundes stutzig,
aber ich konnte doch nicht in 5 Minuten die Feinheiten des Alkohol¬
experimentes hinreichend würdigen, um daraufhin mein aus etwa zehn
übereinstimmenden eidlichen Zeugenaussagen konstruiertes Urteil umzu-
werfen. Ich milderte die Bestimmtheit meines Gutachtens und stellte dem
Gericht anheim, dem auf Grund der Anstaltsbeobachtung und der Kenntnis
meines Gutachtens erfolgten, entgegengesetzten Sachverständigenurteile
Rechnung zu tragen. Nachdem die Verhandlung vorüber war, konnte
ich das schriftliche Gutachten durch die Freundlichkeit meines Bekannten
in Ruhe lesen und mit ihm besprechen. Ich gewann dabei die. Überzeugung,
daß ich mit meinem Gutachten unrecht hatte. Aber wenn der Vorsitzende
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
8ontag, Korreferat.
451
uns Gelegenheit gegeben hätte, eine halbe Stunde außerhalb des Gerichts¬
saales uns ruhig auszusprechen, oder besser, wenn er mir das entgegen¬
gesetzte schriftliche Gutachten des anderen Sachverständigen vor der
Hauptverhandlung zugänglich gemacht hätte, so wäre sicher in diesem
Falle die unangenehme Verschiedenheit der mündlichen Gutachten vor
dem Gericht vermieden worden.
Die wesentlichen Ergebnisse möchte ich zum Schluß in einigen
Sätzen herausheben:
1. Das gesamte Verfahren der Anstaltsbeobachtung nach
§81 bedarf ebenso wie das schriftliche Gutachten in den meisten
Fällen der Kürzung.
2. Um so mehr wird es in Zukunft auch der Beobachtung
der Minderwertigen dienstbar-gemacht werden können.
3. Die Minderwertigen, d. h. die Zurechnungsfähigen mit
dauernden seelischen Mängeln, bilden mehr als die Hälfte aller
nach § 81 der St.-P.-O. in der Anstalt Beobachteten.
4. Fast alle rückfälligen bezw. gewohnheitsmäßigen Rechts¬
brecher, insbesondere in den drei Klassen der Diebe, der Rohlinge
und der Sittlichkeitsverbrecher, sind — soweit sie nicht geistes¬
krank sind — minderwertig.
5. Die rückfälligen Rechtsbrecher müssen künftig entsprechend
ihrer von der Geistesgesundheit abweichenden Eigenart eine ge¬
sonderte Behandlung im Strafrecht und Strafprozeß erfahren.
Korreferat
zu vorstehendem Aufsatze des Herrn Sanitätsrats Dr. Bratz.
Von
Landgerichtsrat Dr. Ernst SOntag, Berlin.
Den klaren und ideenreichen Ausführungen des Herrn Sani¬
tätsrats Dr. Bratz zur Frage der Anstaltsbeobachtung zwecks
Prüfung zweifelhafter Geisteszustände habe ich nur wenige Sätze
beizufügen.
Was wären wir Juristen gegenüber Verbrechern, deren Zurech¬
nungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit zweifelhaft ist, ohne die
Hilfe der Psychiater und in besonders schwerwiegenden Fällen ohne das
Mittel der von diesen angewendeten Anstaltsbeobachtung. So bekenne
auch ich mich als ein Freund dieses Mittels und bedauere, daß es nicht
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452
S on tag,
noch häufiger als bisher angewendet wird. Freilich persönlich weiß ich
mich von dem seitens des Herrn Referenten erhobenen. Vorwurf frei,
daß nämlich in den Rentenstreiten der Berufsgenossenschaften und Ver¬
sicherungsämter die Anstaltsbeobachtung viel zu wenig angewendet werde.
Ich selbst habe als Vorsitzender des Schiedsgerichtes für Arbeiterversiche¬
rung im Eisenbahndirektionsbezirke Kattowitz in zahlreichen Fällen,
insbesondere wenn Renten wegen Kopfverletzungen beansprucht wurden,
den Irrenanstalten in Rybnik und Tost die Rentenkläger zur Beobachtung
überwiesen und von beiden Anstalten, insbesondere aus der Feder des
Herrn Oberarzt Dr. Fünf stück — dessen ich hier anerkennend gedenken
möchte —, die wertvollsten, unsere Urteile oft entscheidend beeinflussenden
Gutachten erhalten.
Auch der Bratzschen Forderung ist unbedingt beizutreten, daß der
Gesetzgeber zwischen die Unzurechnungsfähigen und die Zurechnungs¬
fähigen die Klasse der Minderwertigen einschiebe. Gerade die Praxis der
Kriegsgerichte während des Krieges hat uns gezeigt, wie unentbehrlich
dieser Zwischenbegriff ist. Für die künftige Gesetzgebung wird es freilich
nicht genügen, den Begriff der Minderwertigen festzulegen und einen
milderen Strafrahmen für diese zu spannen, sondern es wird vor allen
Dingen den Richtern das Recht gegeben werden müssen, auf dauernde
Verwahrung gewisser zur Rückfälligkeit neigender Minderwertiger zu er¬
kennen. Bratz bezweifelt, ob das bei unserer jetzigen traurigen Finanzlage
möglich sein wird, aber ich meine, daß die Schaffung solcher Verwahrungs¬
anstalten nur eine scheinbare Mehrausgabe ist; denn-wenn wir die von
Bratz zutreffend als minderwertig gekennzeichneten Rückfallsdiebe,
Rückfallsrohlinge und rückfälligen Sittlichkeitsverbrecher beim vierten,
fünften oder meinetwegen auch sechsten Rückfall lebenslänglich inter¬
nieren, so werden wir '
1. die Vermögenswerte sparen, die andernfalls künftig von diesen
Verbrechern entwendet oder zerstört (Arbeitskraft) worden wären,
2. die Zeit unserer Polizeibeamten, Richter und Irrenärzte erheb¬
lich weniger in Anspruch nehmen, damit aber in absehbarer Zeit an diesem
Beamtenpersonal und damit wieder an Geldausgaben sparen können;
3. sind auf die Kosten dieser Sicherungsanstalten die Kosten mit
anzurechnen, welche uns die Verbrecher durch die zweifellos wieder in
ihrem künftigen Leben noch zu verbüßenden Gefängnis- und Zuchthaus¬
strafen verursacht hätten. — Das friedliche Bürgertum hat einen Anspruch
darauf, daß nicht Menschen immer wieder auf es losgelassen werden,
von denen Psychiater und Juristen mit absoluter Gewißheit Voraussagen
können, daß sie den Rechtsfrieden der Allgemeinheit doch stets durch neue
Verbrechen stören werden 1 ).
*) Vgl. Sontag, Roter Tag, Nr. 146 vom 25. Juni 1918: ,,Zu den
Einbruchdiebstählen in Berlin“.
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Korreferat.
453
Sollte man aber das m. E. sehr gut angelegte Geld für solche Siche¬
rungsanstalten nicht glauben aufbringen zu können, dann möge man die
Einführung der Kastrierung für gewisse besonders schwer Rückfällige in
Erwägung ziehen. Ich hatte bisher immer Bedenken, dieses Radikal¬
mittel zu vertreten, aber nach der Verwilderung, welche dieser Krieg
uns gebracht hat, wird man sich in der Tat fragen mü'ssen, ob wir nicht zu
denselben Strafmitteln greifen, welche die Staaten Jowa, Nebraska und
Mississippi schon seit Jahren mit Erfolg anwenden.
Dagegen verspreche ich mir von den von Bratz empfohlenen ge¬
ringeren Mitteln der zwangweisen Anweisung des Aufenthalts, der Zwangs¬
beschäftigung und der Bestellung einesVormundes nichts. Für den Zwangs¬
aufenthalt kämen natürlich, da die Verbrecher aus den Großstädten ent¬
fernt werden sollen, nur kleine Ortschaften in Betracht. Hier habe ich
aber im Schutzhaftdezernat eines Generalkommandos während des Krieges
Gelegenheit gehabt, ausgiebige Beobachtungen zu machen, wie weder
die Polizei noch die Bevölkerung kleiner Orte den dorthin überwiesenen
Verbrechern gewachsen isi Die Kleinstädter haben die Minderwertigkeit
der ihnen zugewiesenen Schutzhäftlinge nicht erkannt, wohl aber sich
von pathologischen Lügnern und Schwindlern so blenden lassen, daß
diese eine große Rolle in den kleinen Orten gespielt und diese Rolle vielfach
zur Begehung neuer Verbrechen benutzt haben. Demgegenüber würde
auch die Autorität eines Vormundes nicht aufkommen.
II. — Erfreut hat mich das offene Wort Bratz\ daß die schriftlichen
Gutachten der Psychiater vielfach an einer unnötigen Breite und Um¬
ständlichkeit kranken. Darüber haben wir Juristen unter uns oft genug
Klage geführt. Es gibt, wie ich verraten will, sogar Kollegen, die ein 50 bis
00 Seilen langes Gutachten überhaupt nicht lesen, sondern nur nachsehon,
zu welchen Endergebnissen der Gutachter kommt. Natürlich ist vor
allem, wie dies auch Bratz ausführt, in den meisten Fällen die sehr lange
Erzählung des Vorlebens und des Tatbestandes der zur Frage stehenden
Anklage entbehrlich. Dieses Material ist in der Regel in den Akten ander-
weit enthalten.
Ebenso iröchte i<h in Übereinstimmung mit Bratz einer Abkürzung
der Anstaltsuntersuchung das Wort reden. Zwei bis drei Wochen werden
in der Regel genügen. Freilich muß der Gutachter dann in die Lage ver¬
setzt werden, die Akten schon studieren zu können, noch ehe der zu»Beob-
achtende bei ihm eintrifit. In einem unlängst veröffentlichten Aufsatze
habe ich noch vor Kenntnis des Bratzschen Berichtes ausgeführt: „die
mit Abfassung von Gutachten gemäß § 81 StPO, betrauten Ärzte der
Irrenanstalten haben mir mehrfach erklärt, daß sie die Beobachtungen
für die Angeklagten oft abkürzen könnten, wenn sie die Akten einige
Tage vor Einlieferung des Angeklagten erhielten. Dann könnten sie sie
zum Zeitpunkt der Einlieferung des Angeklagten schon studiert haben,und
die intensive Beobachtung könnte sofort einsetzen. Heute verstreichen
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
454
S o n t a g, Korreferat.
kostbare Tage, bis die Akten dem eingelieferten Angeschuldigten nach-
folgen, und weitere, bis sie der beobachtende Arzt studiert hat“ 1 ). Als'Mittel
zur Abhilfe dieser Beschwerde und auch sonst als wertvolles Mittel zur
Beschleunigung großer Strafsachen habe ich vorgeschlagen, daß die Proto¬
kolle über Vernehmung der Angeschuldigten und der Zeugen in der Schreib¬
maschine sofort mit zwei Durchschlägen angefertigt würden, von denen
der eine für die Staatsanwaltschaft, der andere für die Irrenärzte, für
auswärtige Vernehmungen usw. bestimmt wäre.
Den kürzer gefaßten und schneller abgelieferten Gutachten soll
gewiß keine verkürzte Zahlung entsprechen, denn weit schwerer ist es,
darin stimme ich ebenfalls Brau bei, in knapperer Zeit dieselben Er¬
mittelungen anzustellen und in gedrängterer Form alles Erhebliche zu
sagen.
Endlich ist auch die Forderung Brau' dankbar zu begrüßen, daß
der Gutachter sich zu einer klipp und klaren Entscheidung entschließen
möge. Nichts macht uns Juristen die Rechtsfindung schwieriger als ein
Gutachten, das sich um eine klare Antwort herumdrückt und mit einem
„einerseits, andererseits“ schließt.
So darf ich wohl meinen Bericht dahin zusammenfassen,
daß durch eine Verwirklichung der .Bratschen Forderungen das
Verfahren der Anstaltsbeobachtung an Brauchbarkeit für die Praxis
noch gewinnen und uns Richtern im Kampf gegen das durch
Krieg und Revolution vermehrte Verbrechertum "ein noch wert¬
volleres Hilfsmittel sein würde als bisher.
x ) Sontag, Reformvorschläge für die Technik des Voruntersuchungs¬
verfahrens, Blätter für Rechtspflege im Bezirke des Kammergerichts
Nr. 11/12 vom 15. Dezember 1918, S. 82 ff., insbesondere S. 85.
r
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Der Aufbau der Psychose.
Ein klinischer Versuch.
Von
Karl Birnbaum, Berlin-Bach.
Themen dieser Art pflegt die klinische Psychiatrie mit über¬
legenem Lächeln entgegenzunehmen. Sie sind ihr, kurz gesagt,
müßige Spekulationen. Ihre vorherrschend auf die Erfassung
von Krankheitsgruppen und -typen gerichtete Einstellung, für die
oft genug das wissenschaftliche Interesse am „interessanten Fall“
mit der diagnostischen Klärung erschöpft ist, macht sie von
vornherein für solche ganz außerhalb dieses Rahmens liegende
Gesichtspunkte unempfänglich. Eine Betrachtung nun gar, die
die Psychose im allgemeinen — gewissermaßen als ein Einheits¬
phänomen — ins Auge faßt, also anscheinend die von ihr ständig
betonten grundsätzlichen Wesensunterschiede der Sondertypen
wieder fallen läßt, muß ihr ebenso grundsätzlich abwegig
erscheinen. Und schließlich muß sie auch den Begriff des Krank¬
heitsaufbaus als einer klinischen Betrachtung unwürdig ablehnen,
da er weder klinisch irgendwie festgelegt und anerkannt noch
überhaupt aus den üblichen' klinischen Anschauungen ohne weiteres
ableitbar ist.
Die ablehnende Haltung erscheint zu weitgehend, ihre Gftnde
sind nicht genügend stichhaltig. Die Gefahr einer rein spekula¬
tiven Betrachtung läßt sich vermeiden, wenn man sich streng an
die Empirie und ihre Grenzen hält und sich immer wieder an
den klinischen Tatbeständen orientiert. Der gegen die allgemeine
Betrachtung der „Psychose“ erhobene Einwand wird hinfällig, da
den Wesensdifferenzen der Einzeltypen auch bei der allgemeinen
Erörterung gebührend Rechnung getragen werden kann. Der
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
456
Birnbaum.
Aufbau selbst schließlich läßt sich — mag er auch bisher klinisch
nicht genügend festgelegt sein — sehr wohl als ein bestimmt
geartetes, klinisch wohl charakterisiertes, durch andere patholo¬
gische Begriffe nicht ersetzbares pathologisches Phänomen erfassen
und formulieren;
Im übrigen ist der Aufbaubegriff der letzten psychiatrischen
Entwicklung durchaus nicht ganz fremd, wenn dies auch nicht
immer klar erkannt und bewußt geworden ist. Er erhebt bei¬
läufig auch gar nicht Anspruch auf unbedingte Neuartigkeit. Die
zunehmende Skepsis gegenüber den immer erneuten Krankheits¬
aufstellungen und -differenzierungen, den ewigen Um- und Neu¬
gruppierungen von Krankheitstypen auf der einen —, das wachsende
Interesse an der Individualgestaltung des Einzelfalls auf der
andern Seite haben allmählich eine Betrachtung unter diesem
Gesichtspunkt stärker hervorgedrängt. Ihren vorläufigen Höhe¬
punkt hat diese in dem gegenwärtigen Bestreben erreicht, den
Aufbau der kriegspsychoneurojisehen Störungen nach Vor¬
bereitung, Auslösung, Symptomen- und Verlaufsgestaltung usw.
aus dem Zusammenwirken der verschiedensten, inneren wie
äußeren, normalen wie pathologischen, physischen wie psychischen,
individuellen wie sozialen Momente erschöpfend zu erfassen. Für
das eigentliche Psychosengebiet ist allerdings eine solche Be¬
arbeitung bisher wohl kaum versucht worden. Zum mindesten
nicht vom Boden der Schulpsychiatrie aus. Von anderer Seite
wenigstens gelegentlich, freilich mit anfechtbaren Mitteln, d. h.
fast stets mit einer Fülle abseitsführender Theorien und oft genug
auch mit unzulänglichem klinischem Anschauungs- oder Er¬
fahrungsmaterial.
Alles dies wäre an sich schon Grund genug für die Psychiatrie,
nun von sich aus einmal diese Aufgabe systematisch vorzunehmen
und den Blick, statt wie bisher stets auf die Krankheits form,
nun einmal grundsätzlich auf ihre Zusammensetzung, ihren Auf¬
bau hinzulenken. Sie darf überdies aber auch klinischen Ge¬
winn davon erhoffen. Das Einsetzen des eigenartigen Aufban¬
begriffs in die klinische Betrachtung ermöglicht eine der bisherigen
ferner liegende Einstellung und Orientierung und damit eine
neue, sei es kritische, sei es produktive Stellungnahme. Und
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Aufbau der Psychose.
457
eine solche läßt auf allen Gebieten der Psychiatrie: auf allgemein
psychopathologischem wie speziell klinischem, auf diagnostischem
wie klassifikatorischem usw., reichliche Gelegenheit zu neuen
Einwänden und Nachprüfungen, neuen Fragestellungen und
Anregungen erwarten. Was schließlich dann als Endprodukt bei
einer solchen Aufbaubetrachtung herauskommt, ob ein wirklicher
positiver klinischer Gewinn oder eine bloße Verwicklung in un¬
fruchtbare Hypothesen, das läßt sich freilich nicht vorweg über¬
sehen. Doch darf dies gewiß kein Hinderungsgrund sein, und so
muß schließlich trotz mancherlei Bedenklichkeiten der Versuch,
auf diesem Wege weiterzukommen, einmal gewagt werden.
Der klinische Aufbau in dem Sinne, wie er hier verwertet
werden soll, ist ein sehr komplexer Begriff, der sich auf
höhere klinische Einheiten, auf ganze abgeschlossene Er¬
krankungen — Individualfälle wie Krankheitsspielarten und Krank-
* heitstypen — bezieht. Er faßt in seinen Rahmen die Gesamtheit
aller am Krankheitsfall beteiligten Erscheinungen: die durch
Symptome und Verlauf repräsentierten Krankheitsbestand¬
teile, die Zusammenhänge, in die sie eingefügt sind, die
Vorgänge, aus denen sie sich ergeben, die Faktoren, durch
die sie bedingt sind, zu einer Einheit zusammen. D. h. um den
Aufbaugesichtspunkt gleich in der Kennzeichnung dieser Momente
schärfer hervortreten zu lassen: Jene genannten, als Aufbau-
produkte, Aufbaumechanismen und Aufbaudetermi¬
nanten sich darstellenden klinischen Gebilde machen
in der Besonderheit ihres Zusammenhangs und Zu¬
sammenschlusses innerhalb des Krankheitsrahmens
das Wesen des klinischen Aufbaus aus. Eine etwas farb¬
lose Formulierung, der die nähere Betrachtung bald anschaulichere
Gestalt und festeren Kern geben wird.
Zunächst einmal gilt es ganz allgemein und grundsätzlich,
über diese Aufbaumomente und die Art ihrer Beteiligung am
Aufbau der Psychose Klarheit zu schaffen. Es geschieht dies am
sichersten unter Heranziehung und Festlegung einiger — in der
Hauptsache übrigens weder neuer noch neuartig verwerteter —
Termini technici, die von vornherein die ganze klinische Struk¬
turanalyse wesentlich erleichtern und vereinfachen. Daß freilich
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Birnbaum,
die klinischen Aufbauverhältnisse nicht durchweg und nicht ganz
so einfach -liegen und nicht immer so eindeutig erfaßbar sind,
wie es hier im Interesse der übersichtlichen Heraushebung der
Haupttatbestände zur Darstellung gebracht wird, ist mir keines¬
wegs entgangen, und naheliegende Einwände habe ich mir selbst
entgegengehalten. Es erscheint mir aber unzweckmäßig, einen
solchen ersten Versuch gleich vorweg mit allen vorkommenden
Komplikationen zu belasten und durch sie zu erschweren.
Von vornherein sind eine Anzahl differenter Aufbauerschei¬
nungen entschieden auseinanderzuhalten, mögen sie auch im
jeweiligen Einzelfall sich verschmelzen oder wenigstens äußerlich
schwer voneinander zu scheiden sein. -Das gilt in erster Linie
von zwei alle Krankheitsfälle durchsetzenden Grundphänome¬
nen: einmal solchen, die auf die eigentliche KrankheitsVer¬
ursachung sich beziehen, indem sie den Krankheitsfall in seinem
ganz spezifischen Charakter, seinem So-und-nicht-andere-sein
erwirken, sodann aber solchen, die für die Krankheitsau-s-
gestaltung in Betracht kommen, indem sie den ätiologisch
bereits in seiner Grundform, seinem spezifischen Grundcharakter
festgelegten Krankheitsfall den Inhalt, die Färbung, die Sonder¬
gestalt usw. geben. Die erstere Phänomenengruppe soll — wie
mir scheint, mit genügender unmittelbarer Kennzeichnung durch
das Wort — als pathogenetische, die letztere .als pathoplasti-
sche herausgehoben werden.
Innerhalb beider Gruppen treten gleich noch einige weitere
Anfbaumomente heraus, denen im einzelnen zwar eine verschiedene
Wertigkeit für die pathogenetischen und pathoplastischen Vorgänge
und Bildungen zukommt, die aber jedenfalls von grundsätzlich
geringerer klinischer Dignität als jene Grundmomente selbst sind.
Zunächst solche, die mehr allgemeine Bereitschaften, all¬
gemeine pathogenetische und pathoplastische Hilfen
abgeben. Soweit sie auf erstere Bezug haben, sollen sie auf
prädisponierende (vorbereitende), soweit sie für die letzteren
in Betracht kommen, als präformierende (vorbildende) ge¬
sondert werden.
Ihnen schließen sich dann noch Erscheinungen von noch
geringerer klinischer Wertigkeit an, insofern sie die anderweitig
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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den Umfang der möglichen Kombi«atiröiit>n ttnd KümpHkatkmnu.
no«b eucHiuh die Schwierigkeiten üfriftT rhgtiöBea AtdbanerfHasung
solcher Fälle erkenne». Wettt-gsfam ' eine vorläufige Audi :-u •
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Zunäeliek können die Aüfbe« der Psychose beteiligen
Determinanten An sich denkbar verschitMlenartig sei«. Ami
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Betraetri wie mqerKmiÄtfaehe (endokrine Störungen. Arien-"•!•;!* ■•
rose «.«.). biologische ■'(•Konstitution; Alter. woibik-he £<• • •«
Phasen u<\\\) so gm wie psychologischo (Erlebnisse. Afiltotf
SummonsGuiflüsse). Sodann iiigen sich diese m ‘eesduec-
Richtung und vermittelst der vorscloedenen MccbanisuHvn wirk,
samen Momente; in gAü? yerschiedener Weise fcerjiii; Krankheit?
uufban zusammen, in dem je nach der Eigenart dos Falls van
bald diese bald jene Einzelfaktoren im Sinne der PftthoKeoosn;
der P&thuplastik. der Priidisposition. Provokation tiswg ”J?i ;
wirksam sind und sich bald so. bald andere verbinde?.: mul
mischen. Und schiielSbeh tragt iar Erweiterung -des klnriVsden
P o 1 y ttwir^lki &tt»nj8 und znr Vervk'lgßsfaU%OHg der Aflfbauyery
hiiltnisse nichi sum wenigsten noch bei, daiä unter de« Aufhau*
deteniiiuan?<*n gerade diejenigen tone besondere Rolle zu ajjfefab
*)vliitBS^gorfage kli nische Wenigkeit der provozierenden Elemrhtc
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460
Birnbaum,
pflegen, die in Wirkungsweise und -produkten besonders weit¬
gehende Variationen gestatten. Es sind dies die psychischen
Faktoren, denen ihre natürliche Affinität zu seelischen Vor¬
gängen im allgemeinen (und daher auch zu den abnormen) von
vornherein eine Vorzugstellung im klinischen Aufbau gewährt.
Sie beherrschen vor allem das besonders wichtige, weil wohl für
jeden Krankheitsfall in Betracht kommende Gebiet der Patho-
plastik: Psychoplastische — und wenn man noch weiter spe¬
zialisieren will: thymo 1 )-, ideo-, ethoplastische 2 ) Gebilde kom¬
plizieren in vielgestaltigen Niederschlägen (wofür später noch
genügend Beweise) allenthalben alle möglichen psychotischen Fälle.
Wie ohne weiteres zu ersehen, macht übrigens diese ver¬
schiedene Wertigkeit der psychischen Beeinflussungsarten eine
Differenzierung des klinischen Psychogeniebegriffs
unabweisbar. Neben den Erscheinungen eigentlicher Psychoge¬
ne se, das heißt wirklicher psychischer Verursachung, sind solche
der Psychoplastik, d. h. der psychischen Ausgestaltung patho¬
genetisch anderweitig festgelegter Bildungen, der Psychoprovo-
kation, der psychischen Auslösung anders verursachter Phäno¬
mene usw. entschieden auseinanderzuhalten.
Natürlich haben die verschiedenen Aufbaumomente ent¬
sprechend ihrer verschiedenen, in Art, Umfang und Zusammen¬
setzung wechselnden Beteiligung am Aufbau der einzelnen
Krankheitsformen auch eine verschiedene klinische Wertigkeit im
Rahmen der verschiedenen Typen: das Trauma, bei der Kommo-
tionspsychose pathogenetisch ausschlaggebend, ist etwa bei einer
epileptischen nur provozierend, bei einer psychogenen nur prä¬
disponierend oder — den Symptomencharakter färbend — nur
pathoplastisch beteiligt. Das alkoholische Agens, für das Trinker¬
delirium pathogen, bereitet für eine hysterische Störung nor den
Boden vor, gibt für eine schizophrene halluzinatorische Erregung
pathoplastisch den alkoholisch gefärbten Symptomeninhalt, wirkt
endlich beim pathologischen Rausch nur auslösend. Oder: die
Konstitution, die für gewisse degenerative Störungen die durchaus
l ) Sich im wesentlichen mit Maiers katathymen deckend.
*) Vom Charakter determiniert.
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Der Aufbau der Psychose.
461
spezifische pathogene Determinante darstellt, gibt bei zahllosen
andern Krankheitsformen nur die allgemein prädisponierende oder
speziell präformierende oder pathoplastische Aufbaukomponente
ab usw. usw.
Gerade diese Differenzen in Aufbauanteil und -Wertigkeit der .
einzelnen klinischen Determinanten bei den verschiedenen Psycho¬
sen legen ebenso wie die grundsätzlichen Unterschiede im allge¬
meinen Aufbau überhaupt: daß bei bestimmten Krankheitsformen
>/):i 3 ; ende, prädisponierende, pathoplastische usw. Momente
eine wesentliche Rolle spielen, bei andern dagegen nicht in Be¬
tracht kommen, — gerade diese allenthalben feststellbaren Auf¬
baudifferenzen legen es nahe, sie zur Erfassung von klinischer
Eigenart und Stellung des einzelnen Krankheitsfalls und darüber
hinaus überhaupt zur Differenzierung der festgelegten Krankheits¬
typen sowie zu ihrer Zusammenordnung in einem klinischen
System zu verwerten. Ich komme darauf später noch zurück,
wenn erst einmal ein Gesamtüberblick über das klinische Gebiet
unter diesem Gesichtspunkt gewonnen ist.
Mit den Aufbaudeterminanten wechseln natürlich auch die
Krankheits mechanismen, d. h. die Vorgänge, die im Einzelfall
dem pathogenetischen, pathoplastischen, provozierenden, prä-
formierenden usw. Geschehen zugrunde liegen. Klare Einsichten,
wie das Trauma, der Alkohol, das Alter, die Konstitution, der
Charakter, das Milieu u. a. in dem oder jenem Sinne wirken,
fehlen bisher so gut wie ganz. Zum mindesten für die Mecha¬
nismen nicht-psychischer Art, die irgendwie auf bestimmte Hirn¬
prozesse zurückgeführt werden müssen. Zum Glück sind sie für
die Aufbaubetrachtung ohne wesentlichere Bedeutung, und Hypo¬
thesen wie etwa die von Jelgersma für die pathogenetischen Vor¬
gänge bei den exogenen Psychosen herangezogenen erübrigen sich
, hier. Die psychisch bedingten, psychogenen und vor allem
psychoplastischen Mechanismen lassen sich — weil in der Haupt¬
sache-psychologisch verständlich — schon eher übersehen 1 ), und
i) Der in jüngster Zeit klinisch so stark betonte Gegensatz zwischen
kausalen und verständlichen Zusammenhängen kommt im übrigen für
den Aufbau nicht wesentlich in Betracht.
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462
Birnbaum,
ohne weiteres kann man wenigstens solche, bei denen es sich
um eine normal -psychologische Verarbeitung pathologischen
Materials handelt (halluzinatorisch abgeleiteter Erklärungswahn,
kombinatorische Weiterführung paranoischer Vorstellungen und
dergl.), von anderen trennen, bei denen umgekehrt eine patho-
psychologische Verarbeitung normalpsychischen Materials vor¬
liegt (autosuggestive Realisierung von Wunsch Vorstellungen und
ähnliches).
Der polymorphe Aufbau der Psychose aus bestimmten
verschiedenen pathogenetischen, pathoplastischen usw. Determi¬
nanten schließt im übrigen an sich nicht aus, daß einzelne von
ihnen gewissermaßen zusammenfallen, daß das pathogenetische
Moment zugleich Träger des pathoplastischen ist, daß vom prä¬
disponierenden oder provozierenden Faktor zugleich psycho-
plastische Einflüsse ausgehen usw. Das psychische Erlebnis, das
etwa das hysterische Delir provoziert, bestimmt zugleich auch
psychoplastisch seinen Inhalt. Die pathologische Konstitution,
die die Prädisposition für die schizophrene Störung abgibt, be¬
dingt zugleich pathoplastisch auch ihre besondere, etwa periodische
Verlaufsform usw. usw. Auch diese Zusammendrängung der
Aufbauanteile auf einzelne Determinanten bringen klinische Ver¬
wicklungen mit sich und erschweren insbesondere die klinische
Einordnung des Falls aus der Aufbaueigenart heraus. ‘
Den Aufbauprodukten selbst — und das ist die Haupt¬
komplikation und -Schwierigkeit — kann man in allen Fällen
durchaus nicht immer ansehen, durch welche Aufbaudetermi¬
nanten sie zustande gekommen sind. Die gleichen oder wenigstens
gleich aussehenden Krankheitserscheinungen — Symptomenbilder
wie Verlaufsformen — können durchaus verschieden, bald patho¬
genetisch, bald pathoplastisch usw., bedingt sein. Der Depressions¬
zustand, der bei der echten melancholischen Störung pathogene¬
tisch durch die Konstitution festgelegt ist, ist beim Psychopathen
psychoplastisch durch depressive Erlebnisse determiniert. Der
periodische Krankheitsablauf, beim manisch-depressiven Irresein
wieder pathogenetischen Ursprungs, hat etwa bei der Schizo¬
phrenie seine Ursache in der pathoplastischen Wirkung der
besonderen konstitutiven Komponente. Die Prädominanz von
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Der Aufbau der Psychose.
463
Gehörshalluzinationen ist in einem Falle lediglich pathoplastisch
durch psychische Momente — Niederschlag einer aufregenden
Unterhaltung —, im andern durch lokale Prozesse — Ohren¬
erkrankung —, in einem dritten durch konstitutive Eigenheiten
— Zugehörigkeit zu einem auditiven Sinnestyp — und nur in
einem vierten pathogenetisch durch den Grundcharakter der
Störung gegeben. Vielfach hindert die unzulängliche Einsicht in
die allgemeinen klinischen Zusammenhänge überhaupt die richtige
Zuweisung der Krankheitserscheinungen. Gewiß sind im allge¬
meinen die groben Grundformen wie etwa die organischen De¬
menzsyndrome pathogenetisch abzuleiten, und die speziellen Aus¬
gestaltungen, also etwa die Inhalte von Wahnideen und Sinnes¬
täuschungen, padio- bezw. psychoplastisch, doch kann man schon
nicht mit gleicher Bestimmtheit sagen, ob etwa die angeblich
bevorzugte Rot-(Blut-)halluzination der epileptischen Delirien, ob
die schizophrenen Wahninhalte von Gedankenentziehung, ob die
alkoholische Angstemotion lediglich ein pathogenetisches oder
pathoplastisches Phänomen oder nicht etwa teils das eine, teils
das andere, oder gar bald das eine, bald das andere darstellen.
Läßt man bei der Schizophrenie nur das. was nach Bleuler zu
den Grundsymptomen gehört, als pathogenetisch gegeben gelten,
und versucht man alles sonstige anderweitig, speziell bei den
pathoplastischen Erscheinungen, unterzubringen, dann merkt man
erst so recht die Schwierigkeiten einer einwandfreien Entscheidung.
Die gleichen Versuche bringen noch eine weitere, für die
klinische Systematik ungemein schwerwiegende und folgenreiche
Erscheinung: den überraschend hohen Anteil der pathoplasti¬
schen Vorgänge am Psychoseaufbau und seinen großen klini¬
schen Umfang überhaupt zum Vorschein. Das Gebiet des
Pathoplastischen geht weit über das hinaus, was so im allge¬
meinen und von jeher als sein Wirkungsbereich anerkannt wurde:
die Determinierung von Halluzinations- und Wahninhalt von dem
persönlichen Erfahrungskreis, dem Milieu, den allgemeinen Zeit¬
anschauungen u. dgl. aus. Neben den bloßen Symptomeninhalten
werden ganze Symptomenbilder und -phasen, neben den symptoma-
tologischen Zügen auch die Verlaufsformen und Ausgänge patho¬
plastisch bestimmt. Bei den verschiedensten Krankheitstypen,
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464
Birnbaum,
exogenen so gut wie endogenen, und von den verschiedensten
äußeren wie inneren Determinanten her, von psychischen Ein¬
wirkungen, körperlichen Schädigungen, von Konstitution, Charakter¬
eigenart und vielem andern ausgehend, findet man diese patho-
plastischen Wirkungen wieder
Das allgemeine Verhältnis zwischen den sich allent¬
halben im Krankheitsrahmen treffenden und kreuzen¬
den Hauptdeterminanten des klinischen Aufbaues, den
pathogenetischen und pathoplastischen Erscheinungen,
wird übrigens durch die sonst üblichen klinisch-analytischen Ver¬
suche eigentlich nicht erschöpfend erfaßt. Was man etwa mit
Neißer als primäre, direkt vom Krankheitsprozeß gegebene,
und sekundäre, psychologisch von jenen erst abgeleitete Er¬
scheinungen anspricht, deckt sich mit den genannten Aufbau¬
determinanten ganz gewiß noch nicht, so gewiß auch die primären
Phänomene grundsätzlich für die pathogenetischen, die sekundären
in der Hauptsache für die pathoplastischen in Anspruch genommen
werden können. Die Gruppierung nach Elementar- und zu¬
sammengesetzten Erscheinungen ist ihrem Wesen nach über¬
haupt anders orientiert, wenn auch unverkennbar speziell die
Elementarphänomene vorwiegend im Bereich der pathogenetischen
zu suchen sein dürften. Auch die Bleulersche Trennung von
Grundsymptomen und akzessorischen scheint mit der hier
angestrebten nicht identisch, wenigstens wenn man sich an Bleulers
eigene Definition: Grundsymptome in jedem Fall bei gewisser
Krankheitshöhe vorkommend, daher wohl in nuce, wenn auch
nicht manifest, stets vorhanden; akzessorische beliebig fehlend,
auftretend, sich kombinierend, verschwindend — hält. Sieht man
mit Maier in den Grundphänomenen die für den inneren Krank¬
heitsprozeß typischen, in den akzessorischen nur die der Er¬
scheinungsform der einzelnen Symptome eignen Bildungen, dann
scheint allerdings eine weitergehende Übereinstimmung gegeben,
ohne daß aber die akzessorischen Momente den ganzen Bereich
des Pathoplastischen zu umfassen vermögen.
Es kommt nunmehr darauf an, unter dem Aufbaugesichts¬
punkt zu den klinischen Krankheitsformen selbst Stellung
zu gewinnen und sie in ihrer Eigenart nach dieser Richtung zu
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Der Aufbau der Psychose.
465
erfassen. Dabei systemlos alle Einzelformen durchzugehen,
erscheint, weil keinen klaren Überblick gewährend, ermüdend und
wenig fruchtbar. In Betracht kommt daher nur eine gruppen¬
weise Übersicht. Ihr müssen zur Erleichterung der Aufbau¬
betrachtung speziell die von dieser nahegelegten Richtlinien zu¬
grunde gelegt werden. Damit ist ohne weiteres die patho¬
genetische Gruppierung die gegebene, also eine solche, die
nach den für den spezifischen Krankheitscharakter ausschlag¬
gebenden, ursächlichen „pathogenen“ Faktoren vorgenommen ist.
Danach sind in der bekannten Weise drei * klinische Gruppen
aufzustellen: die exogenen, durch der Außenwelt oder dem
Körper entstammende physische Noxen bedingten, die endogenen,
konstitutiv bedingten und die psychogenen, durch psychische
Agentien bedingten. Bei dieser Gruppierung müssen so gut wie
die Eigenart und Differenzen der pathogenen Faktoren selbst, so
auch die Eigenart und Unterschiede der sonstigen Aufbaukom-
ponönten der betreffenden Gruppe halbwegs charakteristisch zum
Ausdruck und prägnant zur Gegenüberstellung kommen.
Innerhalb der Gruppe der exogenen, auf materiellen Hirn¬
schädigungen beruhenden Psychosen treten die Aufbauerscheinungen
bei den ausgeprägten organischen Demenzpsychosen von
vornherein erheblich zurück und dies um so mehr, je weit¬
gehender und tiefgreifender die Hirnschädigung ist. Bei den
schwersten Yerfallsformen kommen sie daher überhaupt kaum
noch in Betracht. Aber auch in den weniger schweren Fällen
pflegt die pathogene Wirkung des spezifischen Agens zu weit¬
gehend das Krankheitsbild festzulegen, als daß für andere, zu¬
mal pathoplastische Wirkungsmöglichkeiten noch genügend Raum
bliebe. Daher kann vom Aufbaugesichtspunkt aus speziell die
geringe Pathoplastik als bezeichnendes Merkmal der organi¬
schen Formen gelten. Immerhin geben doch auch selbst diese
Demenztypen in einem, wenn auch geringem Umfang einige
Grundlagen für einen klinischen Aufbau. Nur muß man von
jenem bezeichnenden klinischen Phänomen ausgehen, das, wie 0
ich meine, mit sachlicher Rechtfertigung und ohne geistreich sein
"sollende Künstelei mit einem bereits in ähnlichem Sinne verwandten
Ausdruck als Abbau (v. Monakow) hingestellt werden kann.
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466
Birnbaum.
Dieser rein pathogenetisch determinierte Abbau, der
bei diesen organischen Psychosen an/dem hochkonstituierten und
-aufgebauten psychischen Einheitskomplex der vollentwickelten
Gesamtpersönlichkeit vor sich geht 1 ), gibt in zwei charakteristi¬
schen Formen die Basis für eigen- und neuartige Aufbauphäno¬
mene: Einmal ganz allgemein durch Herabsetzung des psy¬
chischen Organisationsniveaus, durch Herabsinken auf
ein primitiveres seelisches Funktionssystem, wie es in
dem Wesen der Demenz, bezw. in weniger schwerer Form in
der durch die organische Hirnschädigung bedingten Charakter¬
degeneration gegeben ist. Hier kommt die Schwächung des
psychischen Funktionsoberbaus, der höheren seelischen Regulier-
und Hemmungsmechanismen, — deren weitgehende' allgemeine
pathologische Wirkungen (im Sinne der Hemmungs- und Direk- k •
tionslosigkeit, der egozentrisch eingeengten Triebhaftigkeit usw.)
ja zur Genüge bekannt sind, — als wichtiger Symptomen¬
bild ner zur Geltung. Durch die Beeinträchtigung der Maß- und
Gleichgewichtsbeziehungen zwischen den psychischen Funktionen,
speziell den intellektuellen und affektiven, durch Versagen der
richtigen intellektuellen und emotionellen Steuerung, durch das
unverhältnismäßige Übergewicht des Affektiven bei den seelischen
Abläufen und nicht zuletzt durch die Bevorzugung emotioneller
Denkmechanismen (verstärkte Wunsch-, Ichbetonungseinflüsse und
dergl.) wird die Produktion von neuartigen psychotischen Gebilden,
insbesondere von Wahngebilden, ermöglicht. Diese nicht eigent¬
lich spezifisch organischen, sondern auf organischem Boden auf¬
gebauten, durch psychologische Tendenzen und psychologische
Mechanismen entwickelten Wahnvorstellungen — expansive,
hypochondrische, Beeinträchtigungsideen usw. — erhalten allerdings
*) Die fertige psychische Persönlichkeit läßt sich — in nahe¬
liegender Analogie mit den psychischen Krankheitsfällen — alsein gleich¬
falls geschlossenes psychisches Einheitsgebilde auch unter dem Aufbau-
' gesichtspunkt erfassen: Sie ist in ihrer Eigenart durch biogenetische
Momente (speziell Rassen-, Geschlechtstypus, individuelle Konstitution
usw.)inder Grundformfestgelegtunddurchbio- bzw. psychoplastische
(Alterseinfluß, physische Einwirkungen, Lebensschicksale, Milieu usw.)
im einzelnen ausgestaltet.
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Der Aufbau der Psychose.
467
gewöhnlich durch ihr Vereinzeltbleiben, unzulängliche Motivierung,
lockeren Zusammenhang und dergl. einen bezeichnenden organisch-
dementiven Einschlag.
Noch wesentlicher erweist sich für den Symptomenaufbau
im organischen Rahmen die mit der eben gekennzeichneten eng
zusammenhängende zweite Abbauform: die Frei- und Mani-
festmachung, die Aktivierung und Mobilisierung der
konstitutiven Grundkomponenten der befallenen Persönlich¬
keit und zwar auch der sonst gebundenen, gehemmten und
latent gehaltenen. Auch diese vom organischen Abbau vor¬
bereitete schärfere Heraushebung und verstärkte funktionelle Wirk¬
samkeit konstitutiver Eigenheiten: persönlicher Dispositionen,
präformierter Mechanismen usw. — insbesondere auch patholo¬
gisch angelegter —, gibt den Abbaupsychosen einen symptomato-
logischen Sonderzuwachs.. ln diesem Sinne kommt zunächst das
Auftreten gewisser affektiver, charakterologischer und dgl. Ano¬
malien im Rahmen der organischen Störungen in Betracht (für
Hirnherderkrankungen beispielweise von Reichardt , für senile
von Gaupp u. a. anerkannt), des weiteren dann das Vorkommen
allerhand nervöser, hysterischer und sonstiger psychopathischer
und degenerativer Symptomenkomplexe auf dem organisch-psy¬
chotischen Boden — bei der Paralyse, der luischen Demenz usw.
(Fauser u. a.). Aber auch sonstige mehr oder weniger als
spezifisch den betreffenden organischen Störungen zugerechnete
Symptomenbilder müssen im Sinne des Vorliegens einer konsti¬
tutiven Pathoplastik bewertet werden. Pernets Untersuchungen
an einem größeren Paralysenmaterial unter dem Gesichtspunkt
besonderer verlauf bestimmender Momente ergaben für die expan¬
siven Formen eine Begünstigung durch euphorische Konstitution,
für die depressive durch die pathologische Konstitution überhaupt
(depressive, reizbare, indifferente Psychopathie, direkte und kolla-
terale psychopathische Belastung, auch israelitische Rasse usw.).
In analoger Weise werden von Ziehen senile Demenzen, Paralysen
usw., die unter dem Bilde der Melancholie oder mit zirkulärer,
periodischer Ablaufsform verlaufen, konstitutiv-pathoplastisch
aus dem Zusammenhang mit entsprechender Belastung abgeleitet,
und schließlich hat man sogar ganze als selbständige organische
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468
Birnbaum,
anerkannte Krankheitsbilder aus dem tiefgreifenden Hineinspielen
der konstitutiven Komponente in den pathogenetisch festgelegten
zerebralen Prozeß erklärt.' Seelert spricht mit beachtlicher, wenn
auch nicht ganz durchschlagender Beweiskraft die paranoiden
Krankheitsbilder des höheren Lebensalters als Reaktionen be¬
stimmt gearteter affektiver Konstitutionen auf den organischen
Hirnprozeß an. Er sieht also in der Hauptsache nur das Sub¬
strat für das Wahnmaterial, gewisse körperliche und psychi¬
sche senile Beschwerden und Mängel als pathogenetisch fest¬
gelegt an, baut dagegen die «eigentlichen Kardinalsymptome und
speziell den Wahnvorgang selbst auf der konstitutiven Kompo¬
nente und den ihr eignen psychologischen Verarbeitungstendenzen
auf. In woht noch weiterem Umfange verschieben sich für
Beichardt die Aufbauverhältnisse, indem er die. funktionellen
(melancholischen, hypochondrischen, paranoiden usw.) Störungen
des Seniums überhaupt und allgemein als endogene Reaktions¬
formen auf einen langsam verlaufenden zerebralen Prozeß auffaßt
und damit also der Konstitution die Bedeutung des eigentlichen
pathogenen Moments in diesen Fällen zuspricht')•
Mag man nun auch im einzelnen allen solchen Auffassungen der
Aufbauverhältnisse nicht so weitgehend folgen, so wird man über die Tat¬
sache selbst doch nicht hinwegkommen können, daß manche organisch -
psychotischen Gebilde und Episoden in ihrer Sondereigenart nicht einfach
und rein pathogenetisch festgelegt sind, sondern sich erst aus dem Zu¬
sammenwirken der pathogenen Vorgänge mit andern Einflüssen ergeben.
So wird man beispielweise die provokatorische Beteiligung fremd¬
artiger Determinanten bei jenen Episoden deliranter Verworrenheit
u. dgl. auf organisch defektiver Basis anerkennen müssen, wie sie
Beichardt als akute Reaktionen auf äußerliche Schädlichkeiten heraus¬
hebt. Oder man wird p sych op last isch e Sondereinflüsse bei jenen
(speziell von Bleuler betonten) Schwankungen in der Ausprägung der orga¬
nischen Symptome heranzuziehen haben, die in Form von gefühlsbeein¬
flußten Verstärkungen der Aufmerksamkeits-, Auffassungs- und Gedächt¬
nismängel, in elektivem Versagen an sich und sonst noch leistungsfähiger
psychischer Funktionen zum Ausdruck kommen^xun. m.
Die klinische Bedeutung dieser besonderen Aufbauphänomene geht
im übrigen erheblich über den einfachen Tatbestand des Vorkommens
1 ) Die folgenden aus Raummangel kleingedruckten Abschnitte
sind dem übrigen Text gleichgeordnet.
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Der Aufbau der Psychose.
469
funktioneller, endogener und sonstiger wesensfremder Sym-
ptomenkomplexe bei organischen Störungen hinaus. Sie liegt,
wie schon ausgeführt, vor allem in zwei Momenten: 1. Manche als typisch
für die Krankheitsform geltende senile, paralytische usw. Krankheits¬
merkmale von Symptomenbild und Verlauf sowie manche als charakte¬
ristisch bewertete Krankheitsspielarten erweisen sich in der Hauptsache
nieht sowohl pathogenetischer als pathoplastischer Herkunft und ver¬
lieren damit eigentlich ihre Wertigkeit als dem Krankheitstypus unbedingt
wesenszugehörige Erscheinungen. Und 2. eng damit zusammenhängend:
Selbst pathogenetisch so eindeutig und einheitlich aussehende und klinisch
so gut faßbare Krankheitsformen, wie gerade die organischen, zeigen
sich bei näherer Strukturzerlegung nicht selten polymorph und hetero¬
gen zusammengesetzt. —
Die exogenen Störungen im engeren Sinne, die durch infektiöse,
toxische, autotoxische, traumatische usw. Hirnschädigungen verursachten
psychotischen Typen, erscheinen in ihren symptomatologischen und Ver¬
laufsbesonderheiten relativ rein und weitgehend pathogenetisch fest¬
gelegt durch die von Bonhöffer herausgehobenen spezifisch ^exogenen
Schädigungstypen (Delirien, epileptiforme Erregungen, amentiv-
halluzinatorische, inkohärente und katatonische Komplexe usw.„) mit
ihren charakteristischen"Verlaufsformen des kritischen oder lytischen Ab¬
falls der amnestischen Phasen, der emotionell-hyperästhetischen Nach ¬
zustände. Daß die spezifische, pathogenetische Festlegung bei ihnen nicht
so weit geht, um auch noch jeder einzelnen exogenen Spezialnoxe
entsprechend spezialisierte klinische Grundformen zuzuordnen,
braucht an den grundsätzlichen pathogenetischen Zusammenhängen nicht
stutzig zu machen.
Immerhin weisen die Sonderformen und EinzelTälle allenthalben
noch auf die wesentliche Mitbeteiligung verschiedenartiger weiterer Auf¬
baukomponenten hin. Der maßgebende Anteil psycho- und thymo-
plastischer Determinanten für den Inhalt von Infektionsdelirien u. dgl.
ist weitgehend erwiesen (Kriegstyphusfälle und ähnliches). Bleuler sieht
sogar in den Infektionsdelirien in der Hauptsache Komplexdelirien, d. h.
er scheint nicht nur anzuerkennen, daß sie von Wunscheinflüssen psycho-
plastisch bestimmt, sondern darüber hinaus auch von ihnen psycho*
provoziert sind. Pathoplastische Einflüsse werden sodann ganz all¬
gemein in weitgehendem Maße für sonstige klinische Eigenheiten der
exogenen Psychosen herangezogen. So werden Symptomen- sowohl wie
Verlaufseigentümlichkeiten dieser Störungen etwa zu Alter, Kräfte¬
zustand, Konstitution in innere Beziehungen gesetzt, wie beispielweise
Bonhöffer ihre manischen Varianten als wohl konstitutiv bedingte an¬
spricht. Und jüngst noch hat Ewald, aus dem besonderen Anteil der konsti¬
tutiven Aufbaudeterminänte eine Sonderstellung der protrahierten sym¬
ptomatischen Psychosen vom Charakter der Amöntiaform proklamiert
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470
Birnbaum,
und aus Variationen dieser konstitutiven Komponente noch besondere
symptomatologisch gekennzeichnete Spielarten (der halluzinatorischen,
inkohärenten, psychomotorischen Verwirrtheit) abgeleitet.
Speziell auch ein prädisponierendes Aufbaumoment in Form
einer spezifischen Veranlagung gilt ziemlich allgemein bei diesen exogenen
Störungen als unumgänglich notwendig. Wenn allerdings einer der mono¬
graphischen Bearbeiter dieser Krankheitstypon — Schröder — diesem
Anlagefaktor gelegentlich einen solchen Anteil zuerkennt, daß er ihn im
Einzelfall höher einschätzt, als die eigentliche pathogene Noxe selbst,
so scheint mir mit dieser Verschiebung von klinischem Charakter und
Wertigkeit der einzelnen Aufbaudeterminanten die klinische Stellung der
Psychosen selbst als exogene in Frage gestellt und ihre Zuordnung zu
dieser Krankheitsgruppe nur noch mit der Denominatio a potiori be¬
gründet.
Einen recht weitgehenden Aufbaupolymorphismus läßt übrigens auch
der anerkannteste Typ einer rein exogenen Psychose, das Alkoholdelir,
erkennen. Pathogenetisch durch dieses toxische Agens festgelegt —
der Zusammenhang im besonderen, die Beteiligung etwaiger ätiologischer
Zwischenglieder u. dgl.- kann hier außer acht bleiben —, zieht es im ein¬
zelnen zu seinem Aufbau noch alle möglichen anderen Momente heran:
prädisponierende wie Unterernährung, Erschöpfung, Schädeltraumen,
provozierende wie Körperverletzungen, Infektionskrankheiten usvv.,
in symptomatologischer Richtung pathoplastisch wirkende, z. B.
Angsthalluzinationen erzeugende Herzschwäche und Atemnot {Bleuler),
den Delirinhalt psychö- bzw. thymoplastisch bestimmende individuelle
Gewohnheiten (Berufsdelir, Kneipendftlir usw.), schließlich dann auch
noch pathoplastisch den Verlauf beeinflussende, z. B. die Krankheits¬
korrektur erschwerendes hohes Alter, körperliche Dekrepidität ( Schröder)
usw. — sind in dieser Hinsicht anzuführen.
Speziell für die Alkoholhalluzinose wird ziemlich grundsätzlich
der pathogenetische Alkoholfaktor als an sich für den spezifischen Krank¬
heitscharakter unzureichend erklärt und die Notwendigkeit der Heran¬
ziehung weiterer grundlegender Aufbaudeterminanten, speziell konsti¬
tutiver ( Bonhöffer, Schröder), hervorgehoben. Aus dem verschiedentlich
herangezogenen auditiven Anlage-Sinnestyp würde sich freilich nur
gerade der halluzinatorische Sondercharakter mit seiner bezeichnenden
Prädominanz der Akoasmen pathologisch ableiten lassen, nicht aber die
sonstigen vom typisch exogenen Bilde abweichenden Eigenheiten. Daß
im übrigen eine Auffassung, die die Alkoholhalluzinose geradezu als spezi¬
fische Reaktionsform einer besonders veranlagten Person aufstellt (z. B.
Bonhöffer s. Schröder), wiederum den Krankheitstypus selbst stark ver¬
schiebt, und zwar speziell in der Richtung auf die konstitutiven Typen hin,
sei im Hinblick auf die klassifikatorische Wertigkeit des Aufbauprinzips
wieder ausdrücklich hervorgehoben.
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Der Aufbau der Psychose.
471
Am bezeichnendsten tritt wohl die Heterogenität des Aufbaus im
Rahmen einer als exogen anerkannten Psychose beim chronisch-alko¬
holischen Eifersuchtswahn, der „Alkoholparanoia“, hervor. Ver¬
schiedenartigere und -wertigere Aufbaudeterminanten, als bei diesem
gleichfalls als einheitlich und geschlossen geltenden Krankheitstyp heran¬
gezogen zu werden pflegen, sind kaum noch denkbar. Eine vom Alkohol¬
einfluß bedingte und geprägte äußere Situation speziell sexueller
Färbung: ehelicher Zerfall: vom Alkohol beeinflußte körperliche
Veränderungen in der Sexualsphäre: herabgesetzte sexuelle Leistungs¬
fähigkeit; vom Alkohol gesetzte gesamtpsychische Veränderungen:
alkoholische Charakterdepravation *) mit Urteilsschwäche, Einsichts¬
losigkeit und emotiver Denkneigung bei sexualethischem Manko (und
eventuell noch gesteigerter sexueller Begehrlichkeit) und schließlich —
wenn auch wohl mehr akzidentell — noch psychotische, alkoholische
Erscheinungen: sexualpsychoplastisch determinierte, halluzinatorische
und deliriöse Erlebnisse — diese teils präformierenden, teils provozierenden,
teils patho- und psychoplastischen Momente gelten seit Krafji-Ebin« als
die Komponenten einer selbständigen Krankheitseinheit, deren Zusammen¬
hang mit dem ihre anscheinende Spezifität verbürgenden Alkoholfaktor
zwar nicht abzuleugnen, aber zum mindesten doch sich als teilweise recht
lose, teils recht heterogen darstellt. Hinzu kommt in manchen Fällen
schließlich noch, um das Maß der Heterogenität des Aufbaus ganz voll zu
machen, eine Aufbaukomponente, die ihrem Wesen nach mit dem patho¬
genen alkoholischen Momente ganz gewiß nichts weiter zu tun hat, sondern
vielmehr aus rein natürlichen psychologischen Bedürfnissen — kognitiven
wie emotionellen — stammt und daher als ein allgemeiner psychoplastischer
Faktor anzusprechen ist. Es ist die Systematisierungstendenz, jene stark
symptomenbiidende und -erweiternde Kraft, die sich auch sonst noch im
klinischen Bereich findet (unter anderem ja auch bei der Alkoholhallu-
zinose) und die mit besonders starker Wirkungskraft sich speziell als
kombinatorisch wirkendes Moment maßgebend am Aufbau der reinen
Wahnpsychosen beteiligt. —
Daß alles in allem ein so vielseitig aufgebauter alkoholischer Krank¬
heitstypus nicht gerade den Anforderungen entspricht, die ein um die
Reinheit und Einheitlichkeit psychiatrischer Krankheitstypen besorgter
Psychiater speziell an eine ätiologisch abgeleitete Krankheitsform stellen
müßte, wird nicht gut zu bestreiten sein. Zudem entfernt sich der klinische
Vorgang in manchen hierher gerechneten Fällen von „Alkoholparanoia“
eigentlich recht weit von dem, was die typisch exogenen Psychosen im
*) Daß auch die sogenannte alkoholische Charakterdegeneration
nicht allgemein rein alkoholisch-pathogenetisch, sondern zum Teil sehr
weitgehend konstitutiv-pathoplastisch abgeleitet wird (z. B. von Bleuler),
sei nebenbei hier eingefügt.
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Birnbaum,
allgemeinen und die typischen Alkoholpsychosen im besonderen in Bild
und Verlauf bieten, und nähert sich so weitgehend anderen klinischen
Typen (etwa den konstitutiven nach Art der pathologischen Entwick¬
lungen), daß eine klinische Umrangierung wenigstens so mancher Fälle
von chronischem Eifersuchtswahn zum mindesten nahegelegt wird. Was
dabei speziell klassifikatorisch noch besonders ins Gewicht fällt, ist die
Tatsache, daß in vielen dieser Fälle die klinische Stellung der Alkohol-
komponente als wirklich pathogenetische nicht einmal über jeden Zweifel
sichergestellt ist. Vielmehr ergibt in äußerlich durchaus ähnlichen und
daher hierhergerechneten Fällen die Aufbauanalyse, daß in der Haupt¬
sache der Alkohol nur pathoplastisch auf den Wahn- und Halluzinations¬
inhalt gewirkt hat, daß aber das pathogenetische Moment ganz anders¬
woher stammt,' etwa von der pathologischen Konstitution wie bei der
Paranoia, von noch unbekannten Hirnschädigungen wie bei den para
phrenen Formen.
Die richtige Einstellung des Alkoholmoments in den klinischen
Aufbau, speziell in Beziehung auf Pathogenese und Pathoplastik, erscheint
überhaupt als grundlegende Voraussetzung für die richtige Stellungnahme
gegenüber gewissen Alkoholpsychosen. Ich denke speziell an die chronisch-
halluzinatorischen und -paranoischen. Das Bestehen initialer alkohol»
psychotischer Bilder, das „Herauswächsen“ anscheinend aus einer akuten
alkoholischen Erkrankung, die alkoholische Färbung des klinischen Bildes,
zumal in der Art der Sinnestäuschungen und der AlTektlage (Angst), die
halluzinatorischen Schwankungen — Exazerbationen und Nachlässe —
in Abhängigkeit vom Alkoholgenuß, alle diese vielfach als ausreichende
Beweisstücke für die wirklich alkoholische Natur der Störungen heran¬
gezogenen Erscheinungen scheinen mir mit der Existenz pathogenetisch
durchaus andersartiger Psychosen, degenerativer, schizophrener usw., bei
lediglich pathoplastischem Alkoholeinschlag sehr wohl vereinbar. Einer
den Aufbau voll erfassenden klinischen Diagnostik müßte es gelingen, noch
vor dem Manifestwerden der die Diagnose sichernden andersartigen (schizo-
dementiven usw.) Merkmale die nichtpathogenetische Beteiligung des
Alkoholfaktors bei solchen „chronischen Alkoholpsychosen“ heraus zu
erkennen. —
Die ganze klinische Bedeutung des Aufbauphänomens und die ganze
Schwierigkeit seiner Analyse kommt am prägnantesten bei der Schizo¬
phreniegruppe zum Ausdruck. Daß hier überhaupt eine Betrachtung
unter diesem Gesichtspunkt mit einiger Aussicht auf Erfolg möglich ist.
ist das zweifellose Verdienst Bleulerschcr Arbeiten, deren - Wert für die
Aufbauklarlegung klinischer Fälle überhaupt nicht hoch genug veran¬
schlagt werden kann. Natürlich ist eine volle sichere Erfassung der Aufbau-
Verhältnisse im Schizophreniegebiet so lange nicht durchführbar, als über
die zugrunde liegenden und grundlegenden pathogenetischen Vorgänge bei
dieser Krankheitsform noch keine Klarheit besteht. Immerhin erscheint
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Der Aufbau der Psychose.
473
als Grundlage für die Aufbaubetrachtung halbwegs ausreichend verwertbar
die wohl ziemlich sicherstehende Tatsache ihrer pathogenetischen Zuge¬
hörigkeit zu den exogenen Typen, ganz gleich, mit was für pathogenen
Noxen (autointoxikatorischen, innersekretorischen Stoffwechselstörungen
usw.) man im besonderen auch rechnen mag. Freilich werden damit
zunächst nur einige wenige und nicht einmal immer als typisch schizophren
anerkannte Bilder, die den exogenen Grundformen noch am ehesten
analog sind (katatonische, dissoziative u. a.) pathogenetisch erfaßt, da¬
gegen noch nicht einmal mit genügender Sicherheit die eigentlichen spezi¬
fisch-schizophrenen Grundstörungen und -tendenzen, in denen die „Asso-
ziations- und Schaltspannungsschwäche“ (Bleuler) charakteristisch zum
Niederschlag kommt. Immerhin genügt doch wenigstens diese patho¬
genetische Begrenzung, um für den enormen schizophrenen Formenkreis
mit allen seinen mannigfachen als mehr oder weniger charakteristisch
geltenden Bild- und Verlaufsbesonderheiten noch auf die unumgängliche
Beteiligung weiterer Aufbaukomponenten hinzuweisen. In diesem
Sinne erscheint es bezeichnend genug, daß Bleuler zum Verständnis für
die „kontinuierliche Schattierung der Dementia praecox vom Gesunden
bis zu ihrer schwersten Erscheinung“ die Beteiligung vieler Faktoren
und ihrer Kombinationen betont, daß er beispielweise für die Schwere
der Krankheit die anderen psychischen Eigenschaften ihres Trägers, die
in unendlicher Weise wechseln können, mit heranzieht.
Als wichtigste Aufbaukomponente der schizophrenen Störungen
darf wohl ganz allgemein die Konstitution gelten, deren Beteiligung
durch gewisse Tatsachen der Heredität und der prämorbiden patho¬
logischen Eigenart des Erkrankten nahegelegt und sichergestellt wird.
Sie kommt zunächst rein pathogenetisch in Betracht, und zwar sowohl
in mehr allgemeinem und ziemlich unbestimmtem Sinne als einfach prä¬
disponierend, wie vor allem mit mehr oder weniger spezifischem Sonder¬
charakter (Bleulers Erbschizose ?) unmittelbar den Krankheitstypus
festlegend. Vielfach zunächst latent, pflegt sie dann durch provozierende
Faktoren (Schizophrenie im Anschluß an Infektionskrankheiten, Traumen,
Wochenbett, Strafhaft usw.) manifest und aktiv,zu werden. Sie kommt
weiter, und zwar meist in Form irgendeiner bestimmten psychopathischen
Konstitution, auch pathoplastisch — sympt'omen- und verlaufs¬
gestaltend — in Betracht. Fälle, in denen konstitutionelle Dispositionen,
phantastisch-pseudologische oder paranoisch-querulatorische u. a., sich
unverkennbar in einem schizophren-paranoiden Symptomenbilde nieder¬
schlugen, sind mir beispielweise wiederholt begegnet. Schizophrenien
mit manisch-depressiven Symptomenkomplexeh dürften in ähnlichem
Sinne aufgebaut sein, wie ja auch Ziehen auf zirkuläre und periodische
Verlaufsförmen der Hebephrenie bei entsprechend Belasteten hinweist.
Alles dies sind Erfahrungen, die zwar im einzelnen erst noch durch Sonder¬
untersuchungen gesichert und ausgebaut werden müssen, immerhin aber
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474
Birnbaum,
doch schon jetzt das eine beweisen, daß mancherlei schizophrene Er¬
scheinungen, und zwar sowohl solche, die als mehr oder weniger typisch,
wie auch solche, die gerade als atypisch gelten, konstitutiv pathoplastisch
abzuleiten sind.
Unter den exogenen Aufbaudetermrnanten der Schizophrenie
mag zunächst der Kommotionstraumen als prädisponierender und
provozierender Momente im Hinblick auf gewisse Kriegserfahrungen
wenigstens gedacht werden. Auch an die psychischen Faktoren sei
hier erinnert, da sie zu mancherlei klinischen Komplikationen und diffe¬
rentialdiagnostischen Schwierigkeiten führen können. Von klinischen
Autoren hat sie wohl Bleuler zuerst und bis jetzt wohl auch noch am weit¬
gehendsten anerkannt. Auch wer sich, wie Verfasser selbst, nicht voll
empfänglich erweist für die Beweiskraft so mancher von anderen Forschern
als durchaus durchsichtig und einleuchtend hingestellten psychoplastisch-
schizophrenen Zusammenhänge, wird über die Beteiligung psychischer.
Komponenten bei diesen Störungen nicht glatt hinweggehen können.
Auf die provozierende, d. h. also den Krankheitsausbruch veranlassende
Bedeutung psychischer Faktoren legt vor allen Bleuler einen ungewöhnlich
großen Wert, und es wirkt unter den heutigen psychiatrischen Zeitläuften
doch einigermaßen überraschend, w-enn er gerade die verunglückte Liebe
ausdrücklich als krankheitauslösendes Moment herauszuheben für nötig
hält. Da die Untersuchungshaft, d. h. eine Situation von anerkannt starkem
Affektwert, im allgemeinen den Ausbruch von Schizophrenien nicht nach¬
weislich zu fördern pflegt (im Gegensatz zur Strafhaft), und da auch die
Kriegserregungen ihn anscheinend nicht nachweislich begünstigt haben,
so wird man eine psychoprovozierende Aufbaudeterminante bei der Schizo¬
phrenie, wenigstens soweit der Ausbruch der Krankheit selbst in Betracht
kommt, nicht so hoch veranschlagen können. Dagegen scheint mir die
Psychoprovokation von schizophrenen Krankheitssymptomen, Sym-
ptomenkomplexen und Episoden, das psychisch bedingte Neuauftreten
von Syndromen ungleich sicherer gestellt, und die psychoplastische
Bild- und Verlaufsgestaltung, wie übrigens auch die psycho¬
plastische Symptomenverstärkung und Verschärfung (durch Erlebnisse,
Milieu, Situation usw.) drängt sich in manchen Fällen, etwa bei Haft¬
schizophrenien, geradezu auf. Raeckes katatonische Situationspsychosen
des Gefängnisses mit Ganserbildern, Dämmerzuständen, simulatiformen
Syndromen der verschiedensten Art sowie mit gewissen der Haftsituation
entsprechenden Verlaufsschwankungen gehören hierher. Auch die Bleuler-
schen Versetzungsbesserungen weisen grundsätzlich in die gleiche Rich¬
tung. — Daß eine solche gelegentlich recht w-eitgehende Symptomen-
und'Verlaufspsychoplastik den typisch-schizophrenen wie überhaupt den
prozeßpsychotischen Charakter solcher Störungen über lange Zeit und
weite Krankheitsstrecken hin verdecken und damit ganz andersartige
Krankheitstypen (paranoische, degenerative, hysterische, psychogene.
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Der Aufbau der Psychose.
475
auch manisch-depressive usw.) Vortäuschen kann, soll demnächst einmal
an einer Zusammenstellung langfristig beobachteter Fälle dieser Art dar¬
getan werden. Es zeigt den ganzen Tiefstand der Aufbaudiagnostik, daß
die Veröffentlichung solcher- Kasuistik sich noch im Hinblick auf dia¬
gnostische Verfehlungen der Praxis rechtfertigen läßt, denn im Grunde
bieten ja solche Fälle wissenschaftlich nichts Besonderes mehr, sobald
man sich des ganzen Umfangs der pathoplastischen und speziell psycho-
plastischen Vorgänge im schizophrenen Rahmen bewußt geworden ist.
Wissenschaftliche Bedeutung würden solche Fälle allerdings noch einmal
erlangen können, wenn es gelänge, einen Einblick in die tieferen Ursachen
dieser Vorherrschaft der Patho- und Psychoplastik im Krankheitsbilde zu
gewinnen. — Im übrigen findet man, das muß doch nochmals gesagt
werden, eine ausgesprochene und weitgehende Psychoplastik bei der
Schizophrenie lange nicht so häufig als man nach der starken Betonung
dieses Moments bei manchen Autoren erwarten müßte.
Folgerichtig hat das Anfbauprinzip über die allgemein schizophrenen
Formen hinaus auch noch auf die einzelnen Spielarten Anwendung zu
finden. Doch fehlt es hier noch an allen und jeden klinischen Voraus¬
setzungen. Den einfachen dementiven Formen als rein pathogenetischen
die zusammengesetzteren, die paranoiden usw. als durch patlioplastisehe
Einschläge bedingte gegenüberzustellen, liegt nahe, doch reicht das, was
man etwa als pathoplastische Determinanten heranziehen könnte — bei
den paranoiden etwa eine zu solcher Verarbeitung geneigte individuelle
Eigenart, reiferes, zu verstandesmäßiger Stellungnahme tendierendes Alter,
gewisse, die emotionelle Gedankenbewegung anregende und überwertige
Komplexe erzeugende Erlebnis- und Milieueinflüsse u. dgl. — zum er¬
schöpfenden Aufbau der einzelnen Spielarten durchaus nicht aus. Weiter
kommen wird man hier erst können, wenn eine sit venia verbo: ,,all-
gemeine Pathoplastik“ geschallen ist und damit die zahlreichen,
zum Teil noch recht fraglichen Zusammenhänge zwischen allgemeinen
Faktoren und pathologischen Erscheinungen — zwischen höherem Alter
und depressiver Stimmungslage, zwischen Juvenilität und schnellem
psychischen Verfall u. ähnl. — geklärt worden sind.
Jedenfalls tritt auch für die Schizophrenie trotz aller Unklarheiten
und Unsicherheiten im einzelnen aus der Aufbauanalyse in großen Um¬
rissen wieder zutage: der heterogene Charakter von sonst als gleichwertig
schizophren geltenden Krankheitsmerkmalen je nach ihren pathogeneti¬
schen oder pathoplastischen Beziehungen, der heterogene Aufbau von als
typisch, klinisch rein und einheitlich geltenden schizophrenen Psychosen
selbst und schließlich der möglicherweise weitgehend (oder gar rein ?) patho¬
plastische Ursprung spezieller schizophrener Spielarten. Wieweit wir
dabei freilich vorerst noch von grundsätzlich entscheidenden Aufbau¬
ergebnissen entfernt sind, beweist der Ausspruch des Autors, der bisher
am tiefsten in die innere Struktur der Schizophrenie eingedrungen ist:
Zeitschrift für Psychiatrie« LXXV. 4/5. 33
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Birnbaum,
„So kann zurzeit niemand ausschließen, daß nicht auch Psychosen, die
wir von der Hauptgruppe der Schizophrenie nicht unterscheiden können,
bloße psychische Reaktionsformen sind“ (Bleuler).
Mit den konstitutiven Krankheitstypen verschieben sich
die Aufbauverhältnisse gegenüber den exogenen grundsätzlich und
weitgehend. Der endogene Faktor, der bisher nur prädisponie¬
rend. präformierend oder pathoplastisch wirkte, wird nun patho¬
genetisch ausschlaggebend, der exogene steigt umgekehrt von
der Stellung einer pathogenetischen zur Rolle einer lediglich
provozierenden oder pathoplastischen — gelegentlich auch prä¬
disponierenden und präformierenden — Aufbaukomponente hinab.
Mit dieser Konstitution — auf deren allgemeinen Charakter in
seinen Beziehungen zur Pathogenese hier nicht näher einzugehen
ist — kommt übrigens auch die Erbkomponente: das heredi¬
täre Moment, bisher in der Hauptsache nur prädisponierend und
pathoplastisch beteiligt, als rein pathogenetische Determinante
mit in den Krankheitsaufbau hinein. Ein näheres Eingehen auf
die hierdurch gegebenen, zu komplizierten und durch die Tat¬
sachen überdies noch nicht genügend sichergestellten Zusammen¬
hänge würde nutzlos abseits führen. Bleulers Darlegung über
den Mendelismus bei Psychosen, speziell bei der Schizophrenie,
deutet sohon zur Genüge den ganzen Umfang der Schwierig¬
keiten an.
Es kann auch dahingestellt bleiben, wie weit das klinisch
wichtige Moment des Lebensalters, das ja auch pathologisch
vielseitig — sowohl pathogenetisch wie pathoplastisch, wie prä¬
disponierend usw. —in Betracht kommt (Begünstigung heboider
Symptoraenfärbungen, hysterischer Psychosen durch das Ent¬
wicklungsalter, paranoischer durch das Reifealter, depressiver
durch das vorgerückte usw.) mit für die Konstitution heranzu¬
ziehen ist. Die Tatsache der altersbedingten Konstitutions-
änderungen legt eine Angliederung an dieser Stelle nahe.
Mit der gegebenen pathogenetischen Kennzeichnung als kon¬
stitutiver ist der Aufbaucharakter wenigstens der leichter über¬
sehbaren Krankheitstypen — etwa der manisch-depressiven
Formen — unbeschadet gelegentlicher Komplikationen ausreichend
festgelegt. Mögen im einzelnen auch provozierende Momente.
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Der Aufbau der Psychose.
477
vor allem psychische, den Krankheits- oder Anfallsausbruch be¬
stimmen, mögen pathoplastische und speziell psychoplastische
Faktoren auch einmal Syraptomenbild oder Verlauf beeinflussen,
— bestimmte Erlebnisse oder Milieubeziehungen etwa den Kern
für manisch-depressive Wahnbildungen abgeben, Situationseinflüsse
Steigerungen und Nachlässe der thymopathischen Phasen nach
sich ziehen —, der Krankheitstyp ist in seinem spezifischen
Grundcharakter nach Bild und Ablauf von der — übrigens nicht
- immer in ihrer Eigenart nach außen erkennbaren — Konstitution
festgelegt und dies gelegentlich selbst so einheitlich und weit¬
gehend, daß sogar für Sondereigenheiten des Einzelfalls kaum
noch weitere Aufbaudeterminanten heranzuziehen sind. Die
Untersuchungen von Reiß lassen in dieser Hinsicht die engen
Sonderbeziehungen zwischen ausgesprochenen thymopathischen
Spezialkonstitutionen (manischen, depressiven) und entsprechen¬
den parathymen Psychosen erkennen. Sie weisen allerdings zu¬
gleich auch umgekehrt auf das Vorkommen weniger durchsichtiger
Verhältnisse, auf die Vielgestaltigkeit und Kompliziertheit dieser
Beziehungen zwischen thymopathischer Konstitution und Störung
in manchen andern Fällen dieser scheinbar einfach aufgebauten
Krankheitsform hin.
Verwickelter und beziehungsreicher gestalten sich von vorn¬
herein die Aufbau Verhältnisse bei den mit den sogen, degene-
rativen Konstitutionen zusammenhängenden psychischen
Störungen. Die degenerativen Konstitutionen selbst — zu ihnen
ist übrigens auch ein nicht geringer Teil der einfachen Scbwach-
sinnsformen zu rechnen — erledigen sich als klinische Typen
für die Aufbaubetrachtung ohne weiteres. Pathogene Konstitution
— im allgemein pathologischen Sinne — und degenerative
Konstitution als klinischer Typ fallen hier zusammen, sind
identisch. Als pathoplastische Aufbaukomponenten kann man bei
ihnen noch, wenn man will, Alters-, Milieu- und dgl. Einflüsse
heranziehen, da sie nicht selten Sonderformen: juvenile, Milieu¬
varianten usw. von einigermaßen charakteristischer Prägung ab¬
geben. .
Anders liegen die Aufbauverhältnisse bei den aus den dege¬
nerativen Konstitutionen herauswachsenden psychotischen Formen,
33 *
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Birnbaum,
d.< h. den wirklich pathogenetisch durch diese festgelegten. Die
rein additiven psychotischen Störungen auf der Basis einer
degenerativen Konstitution nach Art des komplizierenden Alkoholis¬
mus und Morphinismus bieten ja trotz ihrer unverkennbaren
pathologischen Affinität zur degenerativen Konstitution und trotz
des Hineinspielens der degenerativen Komponente ins Symptomen-
bild keine tieferen pathogenetischen Beziehungen zu dieser. Für
die richtige klinische Erfassung dieser degenerativ psychotischen
Form lassen sich übrigens ähnliche Gesichtspunkte wie bei den
organisch-regressiven Typen heranziehen. Wie dort der destruk¬
tive Persönlichkeitsabbau sich als eigenartiger Krankheits-
nnd Symptomenbildner erwies, so hier der evolutiv unzuläng¬
liche Persönli'chkeitsaufbau. Die von ihm gegebene mangel¬
hafte Entwicklung des innerpsychiscben Reguliersystems, die
unzureichende Festigung des psychischen Funktionssystems, die
mangelhafte Geschlossenheit der seelischen Gesamtorganisation
usw. geben die charakteristischen Determinanten für die anto-
chthonen und reaktiven psychotischen Schwankungen u. dgl. ab.
Diese degenerativ verursachten Störungen stellen sich, wie
bekannt, verschieden dar: einmal als sogenannte pathologische
Reaktionen, d. h. vom Aufbaugesichtspunkt betrachtet: als
durch Außenreize, insbesondere psychische, provozierte und mobi¬
lisierte episodische Manifestationen der degenerativen Konstitutions¬
grundform. (Sie äußern sich teils in Steigerungen oder verstärkten
Ausprägungen der pathologischen, thymo- oder noopathischen
Konstitutionen, teils in Störungen, die sich im Sinne der durch
die Konstitution vorgebildeten Funktionsanomalien — dissoziativen,
hysterischen u. dgl.— bewegen.) Zum andern bieten sie sich als
sogenannte pathologische Entwicklungen dar, d. h. als
abnorme natürliche Weiterführungen der in der Konstitution
gegebenen psychischen Anomalien, die gewöhnlich in weitgehender
Wechselwirkung mit und unter spezieller Ausgestaltung durch
Milieueinflüsse vor sich gehen.
An beiden konstitutiven psychotischen Typen sind, wie man
sieht, psychische Faktoren wesentlich mitbeteiligt, speziell
psychoprovokatorische bei den Reaktionen, psychoplastische bei
den Entwicklungen. Bieser besondere Anteil des psychischen
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Der Aufbau der Psychose.
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Moments am Anfbau der konstitutiv degenerativen Störungen wie
flberhaupt deren ausgesprochene psychoplastische Zugänglichkeit
liegt, das ist ja ohne weiteres durchsichtig, in der natürlichen
Wesens Verwandschaft der psychopathischen mit der normal¬
psychischen Konstitution begründet. Auch für sie ist daher ebenso
wie für letztere das psychische Moment das wesensadäquate. Damit
gesellt sich die ausgesprochene psychoplastische Tendenz zu den
allgemeinen Charakteristika dieser konstitutiven Störungen, und
sie kann für einzelne psychoplastisch in besonderem Maße zu¬
gängliche Typen, speziell die hysterisch-degenerativen, als geradezu
spezifisch gelten.
Mit der Kennzeichnung als pathologische Reaktion im kli¬
nischen Sinne — denn nur um eine solche kann es sich
handeln; pathologische Reaktion im allgemein-patholo¬
gischen Sinne ist schließlich jede beliebige abnorme Reizbeant¬
wortung — ist also in jedem Einzelfall der Charakter der Störung
festgelegt und damit zugleich auch über die klinische Stellung
der sonstigen Aufbaukomponenten entschieden. Alles, was sonst
als Ursache noch in Betracht gezogen wird, — toxische, trauma¬
tische, psychische usw. Noxen — kann in Wirklichkeit nur pro¬
vozierend, pathoplastisch u. dgl. beteiligt sein, ist daher auch
■oft genug nach Art und Grad unspezifisch, ist auswechselbar und
steht in qualitativ und quantitativ uncharakteristischem Verhältnis
zu den zugehörigen klinischen Produkten. Bei dieser grundsätz¬
lichen klinischen Sonderstellung der pathologischen Reaktionen
erscheint es mir daher auch nicht als ein Streit um Worte,
vielmehr als ein Streit um die Sache, wenn beispielweise die
Frage nach dem Wesen der traumatischen Neurose einen vor die
Alternative stellt, ob spezifischer, durch die Eigenart der äußeren
traumatischen Noxe festgelegter selbständiger Krankheitstyp oder
lediglich vom Trauma provozierte und höchstens noch von ihm
pathoplastisch beeinflußte Manifestation einer pathologischen Kon¬
stitution.
Im übrigen zeigen selbst so eindeutige und einfache Spiel¬
arten der pathologischen Reaktion, wie der sogen, pathologische
Rausch, daß auch hier die Aufbauverhältnigse nicht immer gleich¬
artig und einfach liegen. So erfaßt beispielweise die einfache
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480"
Formel: die Konstitution als pathogenes, der Alkohol als pro¬
vozierendes Moment, durchaus noch nicht zugleich den. bezeich¬
nenden Rauschcharakter der Störung (Bewußtseinstrübung, kurz¬
dauernder Verlauf, terminaler Schlaf usw.) und es muß hier zum
mindesten noch eine vom Alkohol gegebene pathoplastische Kom¬
ponente mit herangezogen werden. Auch manche andere Er¬
scheinungen: der gleichzeitig provozierende und psychoplastische
Anteil psychischer Faktoren beim Blaukoller, das psychoplastische
Hineinspielen von Wunschmomenten (phantastische Größenideen
und dgl.) bei manchen Rauschfällen, der Zusammenhang mit
einer schwer alkoholischen Konstitution beim deliranten Rausch
u. a. m. weisen auf vielgestaltigere und kompliziertere Aufbau¬
verhältnisse hin. Bezeichnenderweise und eigentlich ganz folge¬
richtig werden die eigentlich reinsten alkoholisch provozierten
Reaktionsformen — etwa nach Art der vom Alkohol ausgelösten
hysteriformen Episoden, Ganser- und sonstige Dämmerzustände
— Überhaupt nicht in den Rahmen der pathologischen Rausch¬
formen mit einbezogen.
Tritt bei den pathologischen Reaktionen vor allem das psycho-
provozierende Moment als wesentliche Aufbaudeterminante neben
die pathogene Konstitution, so bei den pathologischen Ent¬
wicklungen das psychoplastische. Exogene psychische Faktoren:
Erlebnisse, Lebensschicksale, Milieu- und Situationseinflüsse treten
hier in enge Beziehung und Wechselwirkung zur endogenen
psychopathischen Konstitution, um unter entsprechender Weiter¬
führung der mit der Konstitution gegebenen pathologischen Eigen¬
heiten eine immer weitergehende seelische Umgestaltung herbei¬
zuführen. Sie finden ihren charakteristischsten Niederschlag, ihre
prägnanteste Objektivierung in Wahnanschauungen, die von der
Konstitution in den Grundformen festgelegt, von psychoplastischen
Einflüssen im einzelnen ausgestaltet, von natürlichen psychologi-
sehen Bedürfnissen und Tendenzen — kognitiven, logischen,
emotionellen — zusammengefaßt und kombinatorisch ausgebaut, zur
Krankheitseinheit der Paranoia zusammengeschlossen werden.
Die so entwickelte Paranoia 1 ) mit ihrem geschlossenen Wahn-
l ) Im Interesse der allgemeinen Gesichtspunkte, auf die es hier
allein ankommt, ist der Paranoiatyp (wie übrigens auch vorher die patho-
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Der Aufbau der Psychose.
481
System stellt so, wenn der Ausdruck gestattet ist, die vollendetste
Aufbaupsychose dar. Mit ihrer auf immer weitergehenden Ver¬
einheitlichung und Geschlossenheit der Krankheitsbestandteile
hinarbeitende Progressivität, ihrem systematischen Aufbau tritt
sie damit in charakteristischen — äußeren wie klinischen —
Gegensatz zu den Zerfallspsychosen, deren „systematischer“ Abbau
umgekehrt den psychischen Zusammenhang und die Persönlich¬
keitseinheit progressiv zerstört.
Die klinische Streitfrage nach der grundsätzlichen Chronizität
und Unheiibarkeit bezw. nach der Existenz einer akuten Form
der Paranoia erscheint aus den Aufbauverhältnissen heraus be¬
antwortet. Gestattet — wie zugestanden werden muß — die für
den Krankheitstyp ausschlaggebende pathologische Konstitution
an sich eine akute Steigerung und Verschärfung, eine episo¬
disch verstärkte Wirksamkeit ihrer pathogenen Dispositionen
sowie auch umgekehrt ein schnelles Zurückgehen dieser Kon¬
stitutionssteigerungen und damit eine Abschwächung der von ihr
ausgehenden pathologischen Tendenzen in begrenzter Zeit,
erweisen sich — wie gleichfalls zuzugeben jst — Chronizität,
Progressivität und Unheilbarkeit auch als psychoplastisch
von äußeren Beziehungen (ungünstigen Milieu-Situationsverhält¬
nissen usw.) festgelegte Verlaufsformen, — dann liegt kein Grund
vor, nicht auch pathogenetisch zusammengehörige paranoische
Typen von verschiedenem Ablaufcharakter anzuerkennen.
Des weiteren wird man von den Aufbaubesonderheiten aus¬
gehend auch die paranoischen Spielarten schärfer erfassen
müssen. Bisher begnügte man sich meist damit, lediglich nach
den Verschiedenheiten des äußeren Bildes, die bestenfalls patho-
beziehungsweise psychoplastisch abgeleitet werden (Eifersuchts¬
wahnformen im Zusammenhang mit biologischen Sexualver¬
änderungen und dergl.), zu differenzieren. Tiefere, wirklich
pathogenetisch ausschlaggebende Wesensunterschiede werden da¬
mit gewiß nicht gewonnen. Dazu müßte man vielmehr von den
logische Reaktion) im Sinne der jetzt ziemlich allgemein anerkannten
Auffassung angenommen. Meinen eigenen Standpunkt habe ich in anderem
Zusammenhang (Zur Paranoiafrage: Zeitschr. f. d. ges. Psych. u. Neurol.
Bd. 29, 1915) spezialisiert.
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Birnban m.
verschiedenen Konstitntionsgrundformen mit ihrer in emo¬
tioneller Intensität, Nachhaltigkeit usw. variierenden psychischen
Reaktivität ausgehen. Vielleicht läßt sich hier an den von
Kretschmer in seiner ungewöhnlich guten Arbeit über den sensi¬
tiven Beziehupgswahn unternommenen Versuch einer psychia¬
trischen Charakterlehre anknüpfen, '
Erschwerungen in der richtigen Aufbauerfassung der klinischen
Typen mit ausschlaggebenden konstitutiven Determinanten sind
— dies noch zum Schluß — durch mancherlei Komplikationen
gegeben. So durch das nicht seltene gemeinschaftliche Vorkommen
verschiedener Konstitutionsformen, von denen die eine patho¬
genetisch, die andere pathoplastisch mitspricht (so etwa bei
Ziehens degenerativen Modifikationen der Manie, Melancholie
und Paranoia mit ihrem besonderen atypisierenden degenerativen
Symptomen- und Verlaufeinschlag); oder durch die nicht seltene
Mischung von Krankheitselementen verschiedener konstitutiver
^Pathogenese im gleichen Krankheitsfalle (Mischung von hysteri¬
schen und manisch depressiven Syndromen usw.). Auch die ver¬
breitete und weitgehende anderweitige Beteiligung der Konstitution
bei den verschiedensten pathogenetisch anders bedingten Krank¬
heitstypen — prädisponierender, pathoplastischer usw. Konstitu¬
tionsanteil an der Schizophrenie, den exogenen Psychosen und
älinl. — pflegt in klinisch nicht ohne weiteres durchsichtigen
Fällen die pathogenetischen Zusammenhänge verworrener zu
gestalten. Ob es berechtigt ist, für einzelne symtomatologische
und Verlaufseigenheiten so weitgehend zugehörige Konstitutions¬
determinanten anzunehmen, wie Kleist es mit seiner Aufstellung
von autochthon-labilen, reaktiv-labilen, zyklisch-psychomotorischen
und dergl. Konstitutionen tut, muß so lange dahingestellt bleiben,
als man die Konstitution nicht direkt und unmittelbar zu erfassen
vermag, sondern erst aus den jeweiligen Krankheitsäußerungen ab¬
leiten muß. —
Die letzte in Betracht kommende Gruppe, die psychogenen
Krankheitsformen im eigentlichen Sinne, d. h. also die wirklich
ursächlich von einem psychischen Agens in ihrem spezifischen
Charakter abzuleitenden, pflegt man in diesem spezifischen Sinne
weitgehend abzulehnen und im allgemeinen der konstitutiven
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Oer Aufbau der Psychose.
483
Gruppe anzugliedern, beziehungsweise sogar in ihr auf gehen zu
lassen. Doch rechtfertigen zahlreiche und klinisch entschieden
belangvolle Momente meines Erachtens ihre Sonderstellung als
selbständige Krankheitsgruppe. Zunächst das nicht so seltene
nachweisliche Fehlen einer pathologischen Konstitution; sodann
im Fall ihres Bestehens ihr unspezifisch’er Charakter: die
zugrunde liegende pathologische Konstitution erweist sich in den
verschiedenen Fällen ganz verschieden geartet und bedingt, zum
Teil als nur erworben und selbst temporär, sie ist kurz und gut
gewissermaßen auswechselbar, ohne daß damit eine Änderung
des Krankheitscharakters der betreffenden Fälle verbunden ist,
eine Erscheinung, die natürlich nur möglich ist, wenn eben der
Konstitution keine spezifisch pathogene Bedeutung zukommt; und
schließlich vor allem die Tatsache, daß die spezifischen Krank¬
heitserscheinungen — die psychogenen Grundformen — sioh wohl
restlos aus der besonderen Wirkungsweise der — stets vorhan¬
denen und durchaus unumgänglich notwenigen — psychischen
Noxen ableiten lassen. — Mil dieser Aberkennung des spezi¬
fisch pathogenetischen Anteils der Konstitution bei diesen
eigentlichen psychogenen Störungen soll selbstverständlich ihr
sonstiger oft wichtiger Aufbauanteil an diesen Krankheitsformen,
insbesondere ihr prädisponierender und pathoplasti scher, nicht in
Abrede gestellt werden, — ein Anteil, der übrigens gelegentlich
auch nicht-konstitutiven Elementen (der Erschöpfung, dem
Trauma usw.) in gleicher Weise zukommt. Ebensowenig soll
auch verkannt werden, daß die Grenze zwischen konstitutiven und
psychogenen Störungen in praxi nicht immer so scharf gezogen
werden kann, wie sie theoretisch dem pathogenetischen Prinzip
nach erscheint. Daß insbesondere in der Verfolgung klinischer
Reihen sich ein ziemlich fließender Übergang zwischen diesen Typen
unter Verschiebung der klinischen Stellung von Konstitution und
psychischem Faktor und ihres gegenseitigen Verhältnisses im
Rahmen des Aufbaus feststellen läßt, d. h. also ein Absteigen der
Konstitution von der Höhe des pathogenen Moments zur bloßen
Stellung eines prädisponierenden bezw. pathoplastischen auf der
einen und umgekehrt ein Aufstieg des psychischen Faktors von
der bloßen provozierenden und ev. psychoplastischen Bedeutung
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Birnbaum,
bis zur pathogenetischen hinauf. Eine die klinischen Verhältnisse,
zumal in klassifikatorischer Hinsicht komplizierende Aufbau¬
verschiebung, die ja zur Genüge von den Kriegserfahrungen her
illustriert wird. Bei den als gemeinhin als Kriegshysterien zu¬
sammengefaßten Störungen finden sich ja alle nur denkbaren
Abstufungen von den psychisch provozierten Manifestationen einer
konstitutiven Hysterie am einen Ende bis zu den psychisch ver¬
ursachten „hysterischen“ Störungen der konstitutiv normal Ge¬
arteten am andern/ Diese eigentümlichen inneren Beziehungen
zwischen zwei pathogenetisch im Prinzip auseinanderzuhaltenden
Krankheitstypen — auf die sich daraus und aus andern Momenten
ergebenden klinischen Schwierigkeiten bin ich an anderer Stelle
eingegangen 1 ) — können an sich nicht weiter überraschen. Sie
erklären sich aus der schon-erwähnten weitgehenden Wesensüber-
einstimmmig der pathologischen Konstitution mit der normalen.
Speziell aus der beiden eignen besonderen Affinität zu psychischen
Momenten ergibt sich auch die zunächst so befremdende Tatsache,
daß hier durch provokatorische psychische Einflüsse psychopatholo-
gische Mechanismen in Bewegung gesetzt werden, die dort durch
psychische Einflüsse überhaupt erst zustande kommen.
Sind so die psychogenen Krankheitstypen in der klinischen
Grundform und dem spezifischen Grund Charakter durch ihre
besondere Pathogenese, d. h. durch die Eigenart der psychischen,
speziell Emotionswirkungen auf das seelische Leben, festgelegt
— bezüglich der Einzelheiten wird auf meine jüngst erschienene
Abhandlung über die „psychische Verursachung seelischer
Störungen und die psychisch bedingten abnormen Seelenvorgänge“
(Wiesbaden 1918) verwiesen —, so zeigen sie sich in ihren
Spezialgestaltungen gemäß der ihrem Wesen eignen psychi¬
schen Zugänglichkeit durch psychoplastische Einflüsse weit¬
gehend determiniert, und sie ergeben so durch die vielfachen,
von den verschiedensten Seiten her beeinflußten Variationen der
Symptomen- und Verlaufsgestaltung eine ungewöhnliche Fülle von
psychoplastisch differenzierten Formen. Es ist daher wohl auch
kein Zufall, daß gerade die psychogenen Störungen der Ausgangs-
1 ) Birnbaum, Klinische Schwierigkeiten im Psychogeniegebiet.
Monatsschr. f. Psych. u. NeuroL 1917, Bd. 41.
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Original fro-m
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I
Der Aufbau der Psychose. 485
punkt für solche Aufbaubetrachtung und der Haupttummelplatz
für Aufbauanalysen geworden sind, und daß speziell die psycho-
traumatischen Störungen des Krieges, die auf eine in dieser Hin¬
sicht gerade genügend vorbereitete wissenschaftliche Einstellung
trafen, zu einer — wenn auch nicht direkt ausgesprochenen —
Anerkennung der klinischen Aufbauphänomene geführt haben.
Es kann nicht Sache der hier versuchten allgemeinen Betrachtung
sein, nun im einzelnen den Aufbauverhältnisseif bei diesen klini¬
schen Typen nachzugeheu, bloß weil sie die Aufbauerscheinungen
in gewöhnlichem Umfang, in ungemeiner Vielseitigkeit, in be¬
sonderer Ausprägung und in charakteristischster Form darbieten.
Jedenfalls i&t es hier noch mehr als sonst Erfordernis, 'daß man
grundsätzlich über die übliche äußere Kennzeichnung des Krank¬
heitsbildes hinausgeht und, statt dieses als etwas einfach Gegebenes,
Unabänderliches hinzunehmen, vielmehr beweiskräftig zu zeigen
sucht, wie in jedem Falle eine Anzahl nach Art, Zahl und Zu¬
sammensetzung wechselnder Aufbaudeterminanten sich durch ihre
funktionelle Wirksamkeit zur Einheit des Krankheitsbildes zu¬
sammenschließt. Insbesondere: wie aktuelle und vergangene
seelische Geschehnisse, wie klarbewußte oder halb- oder unbe¬
wußte Vorstellungen und Erinnerungen; wie bestimmt gefärbte
und gerichtete Gefühlsbewegungen, wie allgemein menschliche
und besondere individuelle seelische Tendenzen, Gewohnheiten,
Wünsche, Neigungen, Bestrebungen, wie Erlebnisse, Milieu und
Situationsfaktoren, wie Temperament, Charakter und psychische
Konstitution und darüber hinaus, wie selbst die körperliche Kon¬
stitution und ihre Beeinflussungen durch äußere Schädlichkeiten,
kurz und gut: wie die verschiedensten Momente von Vorleben
und gegenwärtiger seelisch-körperlicher Verfassung und Ein¬
stellung in wechselseitiger Verknüpfung und variierendem Einfluß
prädisponierend oder präformierend, patho- wie psychoplastisch
am Gesamtaufbau sich beteiligen.
Alles in allem ergibt sich hier ein wichtiges Gebiet von
weitreichendem klinischen Aufbau mit vielseitigem, vor allem
psychoplastisch bedingtem Polymorphismus, der es gestattet,
innerhalb des psychogenetischen klinischen Gesamttyps noch
psychoplastisch determinierte Untergruppen zu unterscheiden,
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
486
Birnbaum,
die durch sozial-psychische und sonstige gemeinschaftliche psychi¬
sche Bedingungen geschaffen und zusammengehalten werden
(psychogene Unfall-, forensische Psychosen usw.).
Auch bei den psychogenen Formen sollen im übrigen die
Schwierigkeiten nicht übersehen werden, die sich aus gewissen
Aufbaubesonderheiten und speziell von den psychischen Deter¬
minanten Tier ergeben. Die Hauptbedenklichkeit ist darin ge¬
legen, daß die gleichen psychischen Mechanismen, die hier
pathogenetisch ausschlaggebend beteiligt sind, bei andern
klinischen Krankheitsformen in anderer Wirkungsform, vor allem
psychoplastisch wirksam, wiederkehren. Daß die klinische
Eindeutigkeit der psychogenen Typen dadurch nicht wenig be¬
einträchtigt wird, wird man zugeben müssen, ohne sie deswegen
als aufgehoben zu erklären. Diese klinisch verwirrenden Tat¬
sachen zeigen eben nur, wie gerade das. psychische Moment in
vielseitigen Formen in die Klinik der Psychosen hineinspielt und
wie die Aufbaubetrachtung noch am ehesten dazu angetan ist.
in dieser Hinsicht Klarheit zu verschaffen. —
Dieser allgemeine Überblick über die Aufbauverhältnisse bei
den verschiedenen Psychosengruppen gestattet wenigstens einige
allgemeine grundsätzliche klinische Schlußfolgerungen. Spezial¬
erkenntnisse bezüglich der einzelnen Krankheitstypen können
freilich erst durch eine vertiefte Strukturanalyse der Sonderformen
selbst gewonnen werden. Insofern bedarf diese Darstellung von
vornherein wesentlicher Ergänzungen.
Die grundlegende Tatsache, von der auszugehen ist, ist der
Aufbau wohl aller, auch der scheinbar einfachsten und einheit¬
lichsten, Krankheitsfälle aus verschiedenartigen und -wertigen
Determinanten. Unter ihnen stehen an erster Stelle, weil grund¬
sätzlich an allen Krankheitsfällen beteiligt und durchweg das
ganze klinische Gebiet durchziehend, die als pathogenetisch und
pathoplastisch herausgehobenen. Ihr pathologischer Charakter,
ihre pathologische Wertigkeit und ihr gegenseitiges Verhältnis
gewinnt daher für die Erfassung, Bewertung und Differenzierung
aller klinischen Erscheinungen — Symptomen- und Verlaufs¬
gebilde so gut wie ganze Krankheitsformen, Typen so gut wie
Spielarten und Individualfälle — maßgebende Bedeutung. Daß da-
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Der Aufbau der Psychose.
487
bei den pathogenetischen Phänomenen gegenüber den pathoplasti-
schen an allgemeinpathologischer, diagnostischer und klassi-
fikatorischer Dignität grundsätzlich der Vorrang einzuräumen ist,
ergibt sich aus der Kennzeichnung ihrer* allgemeinen Natur. — Was
zunächst die äußeren Krankheitsmerkraale: Symptomenbild
und Verlauf, angeht, so gelten sie jetzt so gut wie früher ziem¬
lich durchweg als Gebilde von höchster klinischer, für den Krank¬
heitscharakter ausschlaggebender Wertigkeit. Kraepelin hat dies
erst unlängst wieder in seiner Kennzeichnung von Zielen und
Wegen der klinischen Forschung anerkannt. Die klinische Digni¬
tät des Symptomenbildes hat freilich auf Grund mannigfacher
Erfahrungen über den oft unspezifischen Charakter und die all¬
gemeine Verbreitung vieler Symptome (Halluzinationen, Wahn¬
ideen usw.) entschieden an Gewicht eingebüßt, und zum mindesten
sieht man sich gezwungen, bei der klinischen Verwertung zwischen
Phänomenen, die erfahrunggemäß bei den verschiedensten Krank¬
heitsformen Vorkommen können, und solchen, die sich auf einzelne,
ganz bestimmte beschränken, streng zu scheiden. Die Aufbau¬
analyse bestätigt zunächst die Berechtigung einer niedrigen klini¬
schen Einschätzung der Symptome im allgemeinen, noch mehr
aber die Notwendigkeit einer prinzipiell differenten Bewertung der
einzelnen. Und zwar ist dafür nicht sowohl die immerhin
täuschenden Zufälligkeiten unterliegende Erfahrung über das an
bestimmte Psychosen gebundene oder nicht gebundene Auftreten
der einzelnen Symptome,- sondern die Aufbauerfassung, d. h. vor
allem die Klarstellung ihres pathogenetischen oder pathoplastischen
Charakters ausschlaggebend. Freilich ist, wie schon anfangs
erwähnt, die einwandfreie klinische Verwertung der Symptome
unter' diesem Gesichtspunkt vorerst noch erschwert durch die
Unsicherheit in der Trennung der pathogenetischen und patho¬
plastischen Gebilde, deren restlose Durchführung zu den not¬
wendigen klinischen Zukunftsaufgaben gehört, vor der Hand
allerdings bei den Mängeln einer tieferen Einsicht in die ätiolo¬
gischen Mechanismen und Zusammenhänge noch wenig aussichts¬
voll erscheint. Diese bestehenden Unzulänglichkeiten in der
Differenzierung der beiden Symptomenformen machen sich not¬
wendigerweise auch in der klinischen Systematik geltend. Es
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Birnbaum,
kann beispielweise gelegentlich eine von vornherein verlorene
Liebesmüh bedeuten, wenn man aus der Übereinstimmung oder
Verschiedenheit des Symptomenbildes als solchen zu einer Ent¬
scheidung über die Wesenszusammengehörigkeit oder -Verschieden¬
heit von Krankheitsfällen zu kommen sucht, wie es etwa in der
Streitfrage: „Involutionsmelancholie und manisch-depressive Psy¬
chose“ geschehen ist. Die äußeren symptomatologischen Über¬
einstimmungen zweier Krankheitsbilder beweisen eben die Identität
ebensowenig wie die Differenzen ihre grundsätzliche Verschieden¬
heit, weil beide hauptsächlich pathoplastisch bedingt sein können.
Besondere Schwierigkeiten für diese notwendige Differen¬
zierung pathogener und pathoplastischer Symptome dürften im
übrigen speziell von den psychoplastischen Phänomenen aus¬
gehen, zumal wenn bei ihnen tatsächlich solche Verkleidungen
und Verdeckungen der Zusammenhänge eine Rolle spielen, wie
sie von manchen Autoren in Gestalt von Verschiebungen, Ver¬
dichtungen, Übertragungen, symbolischen Umsetzungen, Konver¬
sionen und ähnl. anerkannt werden. Aber auch sonst bedingen
— wie leicht zu übersehen — die psychoplastischen Momente
klinische Erschwerungen auf symptomatologischem Gebiete,, indem
sie auf der einen Seite äußerlich übereinstimmende Krank¬
heitserscheinungen bei pathogenetisch verschieden¬
wertigen Grundformen herbeiführen (z. B. analoge haft¬
psychotische wie überhaupt forensisch-psychotische Bilder mit
Ganser- und sonstigen hysteriformen Symptomen, querulatori¬
schen Überwertigkeitswahnbildungen usw. bei schizophrenen und
degenerativen Typen), auf der andern verschieden aussehende
Modifikationen pathogenetisch wesensgleicher Grund¬
formen, wie sie die äußerlich weit auseinander strebenden
Bilder psychogener Störungen bei verschiedenartigen Milieu- und
Erlebniseinflüssen darbieten. Alles Tatsachen, die samt und sonders
dazu angetan sind, den pathognomonischen wie differential-diagno¬
stischen Wert der Symptomengebilde zu beschränken.
Die Verlaufsformen vermochten länger und in höherem
Maße die ihnen zugesprochene, grundsätzlich hohe klinische
Wertigkeit sich zu erhalten. Galt es doch lange Zeit überhaupt
als über jede Diskussion erhaben, daß gerade sie das Wesen der
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Der Aufbau der Psychose.
489
Krankheitsform spezifisch zum Ausdruck bringen, d. h. also
grundsätzlich pathogenetisch determiniert sind. Die Aufbauanalyse
hat auch in diese Auffassung eine Bresche gerissen und auch
hier klinisch differente Verlaufserscheinungen herausgeholt. Sie
hat beispielweise gezeigt, daß die periodische Verlaufsform,
die zumeist als rein pathogenetisch festgelegt angesehen wurde,
in vielen Fällen lediglich pathoplastisch durch die besondere
Konstitution des Erkrankten gegeben ist, und daß also die
periodischen Psychosen an sich noch keine spezifischen Krank¬
heitseinheiten bedeuten. Sie hat weiter gelehrt, daß in den
natürlichen, pathogenetisch gegebenen Ablauf der Psychosen sich
Episoden anderer Art. die durch materielle (traumatische, toxische
usjw.) oder psychische Reize provoziert sind, also reaktiv psy¬
chotische Phasen einschieben-und damit den spezifischen Krank¬
heitsverlauf verändern können. Und sie hat schließlich
bewiesen, daß es ganz allgemein neben pathogenetischen Ver¬
laufsformen auch pathoplastische gibt. Zumal bei gewissen
funktionellen, konstitutiven, wie vor allem psychogenen Krankheits¬
typen trat unverkennbar zutage, daß selbst so schwerwiegende,
anscheinend zutiefst im Wesen des KrankheitsVorganges selbst
wurzelnde Verlaufseigenheiten, wie Progressivität und Unheilbar¬
keit. sehr wohl durch psyehoplastische Beziehungen, äußere Be¬
dingungen psychologischer Art herbeigeführt sein können. Ein¬
dringlich genug spricht auch in diesem Sinne, wenn selbst ein Autor
wie Kraepelin. der von jeher wohl am stärksten die Abhängigkeit
von Ablaufsweise und Ausgang vom Krankheitsprozeß als solchem
betont hat, wenn gerade er bei gewissen Typen — Paranoia und
Querulantenwahn — die Progressivität und Unheilbarkeit aus
äußeren psychologischen Faktoren — grundsätzliche bezw. tat¬
sächliche Unmöglichkeit eines befriedigenden Abschlusses des
Kampfes zwischen krankhaften Ansprüchen und Widerstand der
Umgebung — ableitet.
Für gewisse Verlaufserscheinungen, wie beispielweise den
sozusagen psychologischen Krankheitsabbau — die Promptheit
und Schnelligkeit in der Gewinnung der Krankheitseinsicht,
in der Korrektur von Sinnestäuschungen und Wahnideen, sowie
umgekehrt für das mehr oder weniger lange Verharren darin
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490
Birnbaum,
usw. — wurden übrigens ja von jeher psychoplastische Momente,
die durch die individuelle Eigenart, intellektuelle Fähigkeiten usw.
gegeben sind, herangezogen.
Auf die auch hier wieder zur Geltung kommenden Schwierig¬
keiten einer reinlichen Scheidung und Abgrenzung des patho¬
genetischen und pathoplastischpn Verlaufsanteils — z. B. bei den
konstitutiven Krankheitsformen — braucht nicht erst neu hin¬
gewiesen werden. Ebenso ist die praktische Bedeutung dieser
klinischen Verhältnisse offenkundig, daß die Prognose durchaus
nicht (was bisher so ziemlich ein psychiatrisches Dogma) aus¬
schließlich an den Krankheitstyp gebunden und eindeutig, einzig
und erschöpfend durch ihn allein gegeben ist, daß vielmehr
allenthalben — und selbst bei pathogenetisch so weitgehend
festgelegten Krankheitsformen wie den organischen und exogenen
— pathoplastische Momente (Konstitution, Alter, somatischer und
psychischer Allgemeinzustand usw.) mit heranzuziehen sind.
Auch der klinische Wert der Einzelphasen verschiebt sich
unter der Aufbaubetrachtung in gewissem Sinne gegenüber den
herkömmlichen Anschauungen. Ganz allgemein wird man aus
den bekannten Gründen derjenigen Verlaufsphase die größte
Dignität zuerkennen müssen, in der die pathogenetischen Er¬
scheinungen am stärksten und reinsten, die pathoplastischen am
schwächsten und seltensten zum Ausdruck und Niederschlag
kommen. Diese Verhältnisse sind nun — dies gerade ein wesent¬
liches Ergebnis der Aufbauanalyse — durchaus nicht einheitlich
und gleichmäßig für alle Krankheitstypen festgelegt, sondern
variieren vielfach mit ihnen. Seit Krappelin wird bekanntlich der
Hauptwert auf die Endformen gelegt, insofern die spezifischen
Eigenheiten besonders prägnant in ihnen Zurückbleiben sollen.
Diesen Standpunkt bestätigt wenigstens bis zu einem gewissen
Grade auch die Aufbaubetrachtung. Zunächst darf ganz allgemein
zugegeben werden, daß die wesentlichen, d. h. also die patho¬
genetisch festgelegten Erscheinungen ihrer ganzen Natur nach die
konstanteren, feststehenden, sich gleichbleibenden, die patho¬
plastischen die labileren, unbeständigeren, wechselnden sind, und
daß das, was vom Anfang bis zum Ende den Krankheitsverlauf
durchzieht und bis zum .Schluß erhalten bleibt, nicht sowohl die
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Der Aufbau der Psychose.
491
mehr zufälligen, nebensächlichen pathoplastischen Einschläge, als
die pathogenetischen Grundformen sein durften. Dazu kommt,
daß von allen Verlaufsphasen erfahrunggemäß vor allem die
Anfangsstadien, weil zumeist mit nur leichteren Abnormisierungen
einhergehend, pathoplastischen und speziell psychoplastischen
Beeinflussungen besonders zugänglich sind und damit also am
ehesten unspezifische — lediglich psychoprovozierte oder psycho-
plastische Bildungen darbieten. Immerhin gilt dies doch nicht
allgemein — am ehesten wohl noch für schizophrene wie auch
organische Krankheitsformen —, und gewisse andere Erfahrungen
weisen nach anderer Richtung. So neigen manche Krankheits¬
gebilde, wiewohl sie an sich ganz verschiedener Genese sein
können, so etwa überwertige Komplexe, wie sie bei Schizo¬
phrenie, Paraphrenie, Paranoia, psychogenen Störungen usw.
Vorkommen, von sich aus in ziemlich übereinstimmender Weise
zu gewissen speziell psychoplastischen Weiterbildungen in Form
von progressiven kombinatorischen Wahnvorgängen, und sie ge¬
langen damit zu Endergebnissen und Endformen, in denen dann
diese sekundären psychoplastischen Produkte durchaus vor¬
herrschen, die primären pathogenetischen dagegen weitgehend
zurücktreten. In solchen und anderen Fällen ähnlicher Art be¬
deutet es naturgemäß eine nicht belanglose Fehleinschätzung der
Endformen, wenn man in ihnen ohne weiteres den Ausdruck und
Niederschlag des spezifischen Krankheitsprozesses sieht. Besonders
deutlich wird dieser Fehlschluß übrigens bei gewissen nach rein
psychologischen Gesetzmäßigkeiten fortschreitenden Typen von der
Art der Paranoiagruppe. Bei ihnen wird der eigentliche patho¬
genetische Grundcharakter, der sich speziell an\ Anfang im Ent¬
stehungsmechanismus noch deutlich kundgibt, im weiteren Verlauf
mehr und mehr durch psychoplastische Bildungen überlagert und
verdeckt, und den über Jahr und Tag hindurch ausgebauten
Wahnsystemen kann man es dann am Ende durchaus nicht mehr
ansehen, welchem Sondertypus sie eigentlich — ob dem para¬
noischen, paraphrenen oder psychogenen — zuzuweisen sind.
Es erscheint nun — um noch weitergehend in gleichem Sinne,
aber nach anderer Richtung hin vorzustoßen — zum mindesten
nicht ohne weiteres ausgeschlossen — wenn auch vielleicht vorläufig
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 34
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492
Birnbaum,
in der wissenschaftlichen Phase der Überbewertung pathogene¬
tischer und der Unterbewertung pathoplastischer Krankheits-
phänomene noch ganz indiskutabel —, daß beispielweise gewisse
Erfahrungen der somatischen Medizin über das durchaus ver¬
schiedenartige Zustandekommen gewisser Endzustände vom Cha¬
rakter der Schrumpfung und des Schwundes mutatis mutandis
auch für die Psychosen Geltung haben. Das heißt also vor allem,
daß auch für manche klinischen Ausgänge in Demenz nicht
sowohl das eigentliche pathogenetische Moment und damit das
„Wesen“ des Krankheitsprozesses, als vielmehr der Einfluß patho¬
plastischer Faktoren des Alters, des Kräftezustandes, der indivi¬
duellen Konstitution und Hirnorganisation usw. den Ausschlag
geben, und daß dann also selbst die scheinbar eindeutigste Krank¬
heitsgruppe, die sogenannten Demenzpsychosen, unter einem von
dem bisherigen wesentlich abweichenden Gesichtspunkt neu ge¬
ordnet werden müßte..
Verliert damit der Endzustand in gewissen Fällen seine
bisherige hohe klinische Wertigkeit, so erhöht sich in diesen
vielfach umgekehrt die klinische' Dignität der sonst recht gering
eingeschätzten, ja wohl unterschätzten Initialphase. Gerade
sie läßt beispielweise bei den chronisch progressiven Wahn¬
bildungen den für den klinischen Typ charakteristischen und
entscheidenden pathogenen Mechanismus und überhaupt die
pathogenen Zusammenhänge klar und scharf hervortreten, die,
wie erwähnt, im weiteren Verlauf durch individualpsychologische
Reaktionen, psychologische Weiterverarbeitungen und sonstige
psychoplastische Bildungen überwuchert und überdeckt werden.
Alles in allem ergibt sich so eine Verschiebung der
klinischen Wertigkeitsskala der äußeren Krankheits¬
merkmale. Statt yrie bisher etwa zu sagen: Die Symptome
sind klinisch grundsätzlich 'geringwertiger als der Verlauf, die
Initialphase als das Endstadium usw., würde es nun heißen:
Symptomen- und Verlaufseigenheiten, wie geartet sie sonst auch
sein mögen, sind klinisch um so hochwertiger, je einwandfreier
sie pathogenetisch festgelegt sind, um so geringwertiger, je mehr
sie pathoplastisch bedingt sind. Eine Stellungnahme, die im
Prinzip einen Übergang, ein Zurückgehen von den äußeren
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Det Aufbau der Psycho#*. >;j 493
Erscheinnugeu auf dieinneren Slrukturvcrbättniasc des Krank¬
heitsfalles bedeutet.
L’ö»t damit ist man nun auch schon zur grcntisätzUchen
Stellungnahme gegenaber den Krankheitsfftllbn selbst den Typen
wie dpa Spielarten und .den JödmdaatfäJiea sie
ist in gewissem S»»ne dwre.b 4*e Aufbauajiajlyso fesrtgelis^t.
Zunächst die Frage des k{Ässifik&töifächen Prinaips. Die
äußeren Kränkbeit^i^rkina^;;-^^-' Symptomen- wie Yerlaufsbild
könuen nach dem Creaa^ten — auch night zusammen gaüömoicn
als Symptomen- und Yerlaufseiöbek — gekori wegen der Ver¬
einigung und untergeijiedlösen Ver^niekunl: patliegeaetiscber and
paniopknslisclier /GeV»!#:' utekt v^ljftfce
Basis fftr die Anfsteiruug echter rcinnF Krönid)ejtsty]ien und für
ihre richtige Zagam m Unordnung in ehte^y-ab-
geben. Daran kann auch die Tatsache nicht a ändern, daß >
praktischer 'Erfahrung Sfl Verbindung mit wissMischaftiicher In¬
tuition sehr wohl glucken kann nüd oft. genug., geglückt ist.
lediglich aus diesen äußeren Merkmalen heraus einwandfreie,
d. h. der bisher möglichen analysierenden Nachprüfung stand-
haltende Krankheitsfarmeu zu gewinnen, ßoeh deutet Seiton die
Hüüfig'keU atypisch er Fälle auf der einen, scheinbarer Misoh-
und ühergungsfälie auf der andern Seite auf die nicht tmzweU
-deutige Typizität mancher «0 gewonnener. KraTikhe.itsfur.rneu hin,
wie ja fibfirliaiipt ein Kmnkheitshu^Tdf, der lediglich' auf der
Sam fite #r tat. gleiche? 'WS«ö]l30o«^l$ehrojBiÄi äußeren Merk¬
male anfgebftur ist. unzureichend erscheinen muß. Die ganze
Auftouibcträolitipig verweist: jedenfalls gnujdsätzlleh auf df&V
pathogenetische Moment eis dasjenige, welches ul fern mit
Sicherheit die .wesentlicher!, hellten arid spezifischen Eigenheiten
des Typus erfassen und damit die einzig sichere Gruadlag^
die klinische Typen- und System fhidung abgeheu kann. Damit
Wird, also unbedenklich die - kiassifikatorisehc Vorrangstellung de.-,
ätiologischen Prinzips anerkannL und diesurn so bernitwilbge-
als dagegen erhobene Ein wände, wip; Wteehiedene Psyciiufeii
trotz gleicher Ursachen; gleiche Psychbie« trotz versehledeöei -
Ursachen u. n. in., gerade voll der AuflmuanaJyse her als nicht
genügend stichhaltig zurückgewiesen werden kdaneii. Es bedinge!!
C° gle • L^R^W-oSlOHl
494
Birnbaum,
eben neben den kausal gewiß nicht wenig ins Gewicht fallenden
Variationen des pathogenen Agens selbst, den Verschiedenheiten
in Intensität, Dauer usw. der einwirkenden Noxe — es bedingen,
sage ich, neben diesen gewiß nicht zu unterschätzenden patho¬
genetischen Verschiedenheiten vor allem die sonstigen Aufbau¬
determinanten, die qualitativ so weitgehend variierenden prädis¬
ponierenden, präformierenden, provozierenden und pathoplastischen
Faktoren inneren und äußeren Ursprungs, ganz erhebliche Diffe¬
renzen für die gleichen Krankheitsformen, Differenzen, die dann
fälschlicherweise gegen das ätiologische Prinzip als solches ver¬
wertet, anstatt der unzulänglichen Aufbauanalyse zur Last gelegt
zu werden. Auf ähnliche Mängel in der richtigen und voll¬
ständigen Erfassung und Bewertung der verschiedenen Aufbau¬
determinanten und ihrer gegenseitigen Stellung im Krankheits¬
rahmen scheinen mir übrigens auch jene klinischen Fehltypen
zu beruhen, wie sie beispielweise jetzt gelegentlich vom Kriegs¬
material aus unter falscher Einschätzung des im wesentlichen bloß
prädisponierenden und pathoplastischen Anteils des Erschöpfungs¬
moments in Form von neuartigen Erschöpfungspsychosen auf¬
gestellt worden sind. Im übrigen ist es bei der Zusammen¬
gesetztheit des Aufbaus mancher Krankheitsformen durchaus
nicht immer so einfach, das eigentliche pathogenetische Moment
herauszuerkennen, und so kann es beispielweise bei dem Schwer¬
hörigenwahn mehr oder weniger strittig sein, ob man den exogen
somatischen Faktor der Schwerhörigkeit oder das endogene
Moment einer abnormen (paranoiden) Charakterkonstitution oder
schließlich selbst das mitbeteiligte Rückbildungsalter in Anspruch
nehmen will.
Naturgemäß sind auch manche wissenschaftliche
Strömungen und Einstellungen einer richtigen Aufbau¬
erfassung nicht immer günstig. Daß beispielweise eine so vor¬
wiegend organisch orientierte Epoche, wie die erst kurz ver¬
flossene, ohne weiteres dazu neigte, das pathogenetische Moment
zum Schaden des pathoplastischen zu überbewerten, beweist —
um nur etwas anzuführen — Wernickes ausdrücklicher Hinweis
auf „die Norm der Lokalität und die Ätiologie“ als die höchst
wahrscheinlich „einzigen“ Bedingungen für die Gestaltung
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Der Aufbau der Psychose.
495
der speziellen Symptomatologie eines Krankheitsbildes. Umgekehrt
unterschätzen gewisse Richtungen der Jetztzeit, die speziell den
psychoplastischen Bildungen ihr ganzes Interesse zuwenden,
unwillkürlich das eigentliche pathogenetische Moment und tendieren
dazu, den Krankheitsfall in der Hauptsache einfach aus dem
unterschiedlos pathoplastischen und speziell psychoplastischen
Zusammenwirken einer Anzahl Determinanten abzuleiten. Auch
manche klinischen Systeme, die auf einem bestimmten klinischen
Faktor sich aufzubauen suchen — etwa auf dem hereditären
Moment (Schule), dem Alter (Savage) usw. —, scheinen mir der
Vielgestaltigkeit der Aufbauverhältnisse im allgemeinen und ihren
Verschiebungen be/ den verschiedenen Krankheitsformen im be¬
sonderen nicht genügend Rechnung zn tragen. Sie lassen zu
sehr außer acht, daß das betreffende Moment zwar jeweils als
wirksames Agens nachweisbar sein kann, aber in wechselnder,
nicht immer gleichwertiger Rolle, und daß also beispielweise
dem Alter und der hereditären Konstitution durchaus nicht immer
eine pathogenetische, sondern auch eine bloß prädisponierende,
pathoplastische, provozierende usw. klinische Bedeutung zukommt.
Im übrigen gestattet die Aufbaubetrachtung eine gewisse
Gruppierung und Differenzierung der Krankheitstypen.
Verfolgt man speziell im Hinblick auf das Verhältnis zwischen
pathogenetischen und pathoplastischen, insbesondere auch psy¬
choplastischen Momenten die ganze Reihe der Krankheits¬
formen, von den organischen ausgehend über die exogenen im
engeren Sinne hinweg bis hin zu den verschiedenen funktionellen,
den konstitutiven wie schließlich den psychogenen, so zeigt sich
im großen und ganzen ein Aufsteigen, eine Zunahme des Aufbaus
in Umfang und Vielseitigkeit und damit Hand in Hand gehend eine
entsprechende Zunahme der patho-(psycho-)plastischen Momente.
Das heißt, di6 erstgenannten Typen heben sich als verhältnis¬
mäßig einfach aufgebaute, im wesentlichen durch den pathogenen
Faktor, die Hirnschädigung, eindeutig festgelegte und von ihr
ableitbare Krankheitsformen entschieden von den hochzusammen¬
gesetzten, durch starke patho-(psycho)plastische Einschläge deter¬
minierten konstitutiven und psychogenen ab. Damit gewinnt
aber auch die pathoplastische Komponente selbst, je nach ihrem
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
496
Birnbaum,
stärkeren Hervortreten oder Znrücktreten, eine gewisse, eigentlich
unerwartete, pathognostische und diagnostische Bedeutung. Denn
mag auch das pathogene Moment, weil die spezifische Grundform
abgebend, für die Aufstellung und Feststellung des Typs ent¬
scheidend sein und bleiben, und mag auch die Pathoplastik, weil
allenthalben im klinischen Bereich zur Geltung kommend und
zumal als psychoplastische Zugänglichkeit selbst den ihr an sich
wesensfremden organischen Prozessen nicht fremd, im allgemeinen
diagnostisch irrelevant sein, so weisen doch die psychoplastischen
Einschläge bei besonderer Ausprägung und großem Umfang auf
das Vorliegen funktioneller, speziell konstitutiver und psychogener
Störungen hin, und die Tatsache der weitgehenden Symptomen-
und Verlaufspsychoplastik (wie übrigens der ausgesprochenen
Psychoprovokation) kann dann ausschlaggebende diagnostische
Bedeutung bekommen, also beispielweise bei einem unklaren,
deliranten oder anderen Zustande die Entscheidung für Hysterie
und gegen Epilepsie und Schizophrenie geben.
Auf der andern Seite ist aber daran festzuhalten: mit dem
Nachweis des eigentlichen pathogenen Faktors ist über die klinische
Zugehörigkeit des betreffenden Falls zu bestimmten — etwa
organischen, exogenen usw. — Krankheitstypen entschieden, und
diese Entscheidung kann durch den weiteren Nachweis selbst
weitgehender psychoplastischer Gebilde nicht mehr in Frage ge¬
stellt werden. Auch der eben vollzogene Rückschluß von dem
Vorliegen in Umfang und Ausprägung ungewöhnlicher psycho¬
plastischer Momente auf das Bestehen einer funktionellen und
speziell psychogenen Störung ist nur und nur solange gestattet,
als in andere Richtung weisende Merkmale pathogenetischen Cha¬
rakters ausgeschlossen sind.
Durch solche Erwägungen ist dann auch der Standpunkt
gegenüber etwaigen Aufstellungen neuartiger Krankheitstypen
gegeben. Solche erscheinen nur berechtigt, wenn ihre Sonderart
einwandfrei auf pathogenetische Momente zurückzuführen ist.
Gegen die klinische Selbständigkeit von Krankheitsbildem, die
lediglich pathoplastisch abzuleiten sind, müssen entschiedene
Zweifel erhoben werden, mögen sie auch in Symptomen und Ver¬
lauf noch so eigenartig erscheinen. Sie können dann bestenfalls
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Der Aufbau der Psychose.
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nur den Rang von Varietäten, von Krankheitsspielarten in An¬
spruch nehmen. Sind die Verhältnisse bezüglich der Pathogenese
überhaupt noch unentschieden, so ist auch die klinische Sonder¬
stellung der Krankheitsform noch ungesichert. Überlegungen
dieser Art kämen u. a. auoh für den als psychogene Sonderform
herausgehobenen Begnadigungswahn der Lebenslänglichen oder
den Verfolgungswahn der Schwerhörigen in Frage, solange bei
manchen der hierher gerechneten Fälle die Möglichkeit noch
offen bleibt, daß es sich nicht um neuartige psychogene Störungen,
sondern um bloße psychoplastische Modifikationen feststehender
Krankheitstypen, also etwa um Spätkatatonien oder Involutions¬
psychosen mit psychoplastisch von Milieu und Situation bestimmter
Symptomatologie handelt.
Im übrigen erfordert — um auch darauf noch einmal kurz
zurückzukommen — die Notwendigkeit einer rein pathogeneti¬
schen Ableitung echter Krankheitstypen durchaus nicht etwa,
daß nun alle charakteristischen Krankbeitsbestandteile einheitlich
pathogenetisch festgelegt sein müssen. Die Tatsache der
polygenen und heterogenen Zusammensetzung von
Krankheitsfällen und Typen durchzog die ganze obige Aufbau¬
betrachtung, und selbst der Zusammenschluß organisch bedingter
und funktioneller Erscheinungen in einem Krankheitsrahmen
etwa bei senilen Störungen bot kein Hindernis für ihre Aner¬
kennung als echte Krankheitstypen. Man braucht daher auch
dem Standpunkt Aschaffenburgs , wonach die Geschlossenheit
eines Krankheitstypus unvereinbar sei mit dem Auftreten von
der Krankheit wesensfremden Erscheinungen durchaus nicht so
bedingunglos, wie eigentlich zu erwarten, beizupflichten. Die
pathogenetische Einheitlichkeit aller Krankheitsmerkmale mag
Voraussetzung für einen idealen Krankheitstyp sein, für eine
echte oder wenigstens für eine praktische Krankheitseinheit ist
sie es jedenfalls nicht. Wäre diese Homogenie der Krankheits¬
elemente Bedingung, so wäre jedenfalls das Suchen nach echten
Krankheitstypen ein ziemlich eitles Bemühen.
Die Aufbaumomente und speziell wieder die Beziehungen
zwischen pathogen und pathoplastisch spielen schließlich auch
in die grundsätzliche Auffassung von Krankheitsfamilien und
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Birnbaum,
-Varietäten mit hinein. Als selbstverständlich muß zunächst
auch hier wieder gelten, daß die pathogenetische Übereinstimmung
allein das Bindeglied für natürliche Kran^heitsfamilien abgibt,
und daß lediglich pathoplastische Übereinstimmungen, selbst wenn
sie zu ganz umfassenden Symptomen- und Verlaufsgemeinsamkeiten
führen, die Vereinigung zu einer klinischen Gruppe noch nicht
rechtfertigen. Damit ist beispielweise auch zur Genüge gesagt.’
wie man sich zu den schon:wiederholt herangezogenen chronisch
progressiven, systematisierenden Wahnbildungen ohne Defektaus¬
gang zu stellen hat. Daß es insbesondere für ein reinliches
klinisches Empfinden nicht angeht, pathogenetisch nachweislich
verschiedene Fälle dieser Art auf schizophrenem, paraphrenem.
paranoischem Boden wegen der weitgehenden äußeren Überein¬
stimmung in innere Wesensverbindung zu bringen und ohne
weiteres fließende Übergänge zwischen ihnen anzuerkennen. Daß
Krankheitsgruppen nach Art der Schwangerschaft?-, Wochenbetts-.
Gefängnispsychosen kaum irgendwelchen klinischen Wert als
Krankheitsgruppen aufweisen, so lange das namengebende Moment
an den einzelnen Krankheitsfällen in wechselnder Weise beteiligt
ist — bald pathoplastisch, bald provozierend, bald nur prädisponie¬
rend usw. —, ist zu selbstverständlich, als daß es mehr als eine
bloße Erwähnung verdient.
Kann für die Aufstellung von Krankheitsfamilien nur das
pathogene Moment bestimmend sein, so muß man für die Krank-
heitsspielarten auch das pathoplastische daneben gelten lassen.
Durch diese Heranziehung der verschiedenen Aufbaudeterminanteo
kommt dann eine ziemliche Variabilität in die einzelnen Typen
hinein, die um so größer zu sein pflegt, je umfassender der Auf¬
bau ist, und je mehr vor allem pathoplastische Faktoren mit¬
sprechen. Speziell bei den konstitutiven und psychogenen Störungen
bringt es die ausgesprochene psychoplastische Zugänglichkeit neben
anderen Gründen mit sich, daß diese Formen gegenüber den
anderen sich durch eine besondere Variationsfähigkeit und Va¬
riationsbreite und damit eine besondere Fülle von Spielarten
auszeichnen.
Da im übrigen neben den pathoplastisch bedingten Spiel¬
arten natürlich auch die pathogenetisch bedingten in Betracht
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Original fro-m
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Der Aufbau der Psychose.
499
kommen, kann die verschiedene klinische Wertigkeit von pathogen
und pathoplastisch auch für die Bewertung der Varietäten nicht
belanglos bleiben. Erforderlich wird die grundsätzliche Ausein¬
anderhaltung von Spielarten höherer und niederer Ordnung,
je nachdem sie, durch Varianten des pathogenen Agens selbst
gegeben, an den allgemeinen Grundformen vor sich gehen oder
aber, lediglich durch pathoplastische Abwandlungen bedingt, sich
im wesentlichen nur auf die Spezialausgestaltung beschränken.
Daß Änderungen des pathogenen Agens in Qualität, aber auch
in Intensität, Dauer, Umfang usw. recht tiefgehende klinische Va¬
rietäten zustande bringen können, beweisen mancherlei klinische
Ergebnisse, beispielweise im Bereich der exogenen Psychosen,
wo ja nach der verschiedenen Stärke der Hirnschädigung ganz
gegensätzliche, teils homonome, dem Hirnmechanismus wesens¬
gemäß, teils heteronome, dem natürlichen psychischen Geschehen
fremde Syndröme auftreten (Kleist), oder wo je nach der ver¬
schiedenen Dauer der Einwirkung teils unspezifische Störungen
(bei akuter), teils spezifische (bei chronischer) sich einstellen
(Jelgersma). Und daß umgekehrt die pathoplastischen und zumal
psychoplastischen Unterschiede vielfach klinisch ungleich unwesent¬
lichere Varietäten ergeben, darauf weist schon die Erfahrung hin,
daß diese Spielarten in fließenden Übergängen zu den Individual¬
fällen mit ihren fallweise variierenden Typusausgestaltungen hin¬
überführen.
Endlich wird man auch bei den sonstigen klinischen Vari¬
anten — den vom Typus sich entfernenden atypischen Fällen
ijnd den andern Typen sich nähernden „Übergangs- und
Mischfällen“ — gleichfalls die grundsätzliche Klarstellung, ob
pathogenetisch oder -plastisch bedingt, nicht entbehren können.
Daß auch hier die pathoplastischen Faktoren (Konstitution usw.)
sehr ins Gewicht fallen können, dafür spricht beispielweise die
schon früher herangezogene Tatsache der durch die degenerative
Konstitution modifizierten und komplizierten Krankheitsbilder:
Psychosen der russisch-jüdischen Bevölkerung und dergl. Dafür
weiter die speziell von Oaupp betonte Komplizierung des klinischen
Bildes durch die geistige Struktur des Erkrankten, die hohe Be¬
teiligung der oberen Stände mit ihrem reicheren Seelenleben an
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500
Birnbaum,
den ganz unklaren, überraschend verlaufenden, nicht diagnostizier¬
baren Fällen. Diese Erkenntnis, daß so manche atypische Krank¬
heitsfälle lediglich auf gewisse Besonderheiten^ihrer Aufbaudeter¬
minanten zurückzuführen sind, dürfte, wenn nichts Besseres, so
wenigstens das eine Gute haben, daß sie einer zu weitgehenden
Neigung zur klinischen Aufsplitterung von Krankheitsformen und
-Spielarten ein Halt zuruft.
Selbstverständlich birgt das Aufbauprinzip bei unkritischer
oder einseitiger Anwendung auch Gefahren in sich, und speziell
die Gefahren einer Übertreibung für die klinische Systematik
dürfen nicht übergangen werden. Sie liegen im wesentlichen in
der Richtung einer weitgehenden Auflösung der Krankheitstypen
als pathogenetischer Einheiten. An dem einen Ende steht die
Individualpsychose: in ihrer Besonderheit nur einmal ver¬
treten, in ihrer Form nur einmal gegeben, stellt sie lediglich das
Aufbauprodukt aus den verschiedenen inneren und äußeren indi¬
viduellen Determinanten — Konstitution, Alter, Geschlecht, Cha¬
raktereigenart auf der einen, äußere Noxen, 1 Milieu, Situation,
Erlebnisse usw. auf der andern Seite — dar. An dem andern
Ende — im Grunde zugleich mit ihr gegeben — steht die Ein¬
heitspsychose. Ihrem Wesen nach völlig amorph und unbe¬
stimmt, ist sie die allgemeine Resultante aus dem Zusammen¬
wirken einer allgemeinen Prädisposition zur Geisteskrankheit von
innen und irgendeines provozierenden Momentes von außen, wobei
erst die individuell wechselnden sonstigen Aufbaudeterminanten
ihr prägnante Züge verleihen 1 ).
Das ist gewiß zu weit gegangen. Immerhin scheint mir eine
Fragestellung von nicht so weitgehender Einseitigkeit wenigstens
der Nachprüfung wert. Kommen psychische Krankheitszustände
vor, etwa Depressionszustände, die in der Hauptsache einfach als
das Ergebnis eines unglücklichen Zusammentreffens und Zusammen-
• wirkens verschiedener unspezifischer äußerer und innerer Momente
— körperliche Schwächung, seelische Erschütterungen, besondere
x ) Die Neumannsche Einheitspsychose, aus der Auffassung heraus¬
gebildet, daß die verschiedenen Krankheitsformen nur verschiedene
Stadien ein und desselben Krankheitsprozesses sind, ist natürlich etwas,
ganz anderes.
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Der Aufbau der Psychose.
501
— nicht abnorme — psychische Individualität usw. — anznsehen
sind, ohne daß man dabei ein bestimmtes Einzelmoment als
das pathogenetisch wirklich ausschlaggebende ansprechen darf?
Im übrigen scheinen mir Anschauungen, die sich in dem hier
angedeuteten allgemeinen Kreise bewegen, der modernen Psychiatrie
überhaupt nicht ganz fremd zu sein. So spielt beispielweise in
den Bleulerschen Hinweis, daß die Begleitpsychosen, die sich
neben der Schizophrenie in den Sippen Dementia praecox-Kranker
finden, Äußerungen von Komponenten oder Komponentenkombina¬
tionen sein könnten, die in andrer Gruppierung die Dementia
praecox bilden, doch wohl die (von ihm selbst übrigens abgelehnte)
Anschauung einer Erbeinheitspsychose beziehungsweise einer
konstitutiven Einheitspsychose hinein. Wenn nun Hinrichsen gar
die Meinung ausspricht, daß „je nach den Resistenzen in einem
psycho-zerebralen System bei wahrscheinlich gleichem Grund¬
prozeß manisch-depressive oder typische Dementia praecox-Symp-
tome in Erscheinung treten können“ 1 ), das heißt also, falls ich
recht verstehe, daß letzten Endes zwei grundsätzlich so verschiedene
Typen wie die schizophrenen und manisch-depressiven nur kon¬
stitutiv bedingte Varietäten des gleichen Krankheitsprozesses be¬
deuten, so scheint mir dies allerdings in seinen Konsequenzen
ein vernichtender Vorstoß gegen unser ganzes klinisch-psychiatri¬
sches System, dessen Berechtigung noch eines eindeutigen Nach¬
weises bedarf.
%
Weniger weit getrieben und zum mindesten leichter dis¬
kussionsfähig erscheinen noch gewiß andere Ableitungen aus der
Aufbaubetrachtung. Sie lassen wenigstens einige pathogenetisch
festgelegte einfache klinische Grundformen eines Typus gelten,
fassen aber alle sonstigen und insbesondere die komplizierteren
psychotischen Begleiterscheinungen als pathoplastische Äußerungs¬
formen dieser Grundform auf. Das heißt also, wie früher schon
angedeutet, auf die Paralyse oder Schizophrenie angewandt: die
„blande“ dementive Form stellt den eigentlichen spezifischen Krank¬
heitstyp dar, die verschiedenen psychotischen Spezialformen —
manische, depressive bei der Paralyse, paranoide bei der Schizo-
Briefliche Mitteilung.
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■502
Birnbaum, Der Aufbau der Psychose.
phrenie usw. — dagegen lediglich pathoplastische Abwandlungen
dieses pathogenetischen Typs. Die klinische Erfahrung, die den
pathogenetischen Ursprung der verschiedensten, oft recht kom¬
plizierten, prozeßpsychotischen Gebilde nachweist, widerlegt die
durchgängige Anwendbarkeit dieser Anschauung, die eine enorme
"Vereinfachung der klinischen Systematik bedeuten würde.
Übrigens drängt die bisher durchgeführte Vereinfachung der
klinischen Gruppenbildung, wie sie in der Vereinigung der ver¬
schiedensten Bilder in den großen allgemeinen Krankheitsgruppen
der schizophrenen, manisch-depressiven Psychosen usw. zum
Ausdruck kommt, drängt, sage ich, von .sich aus auf 'die Not¬
wendigkeit hin, vermittelst der Aufbauanalyse ein Verständnis für
die zahlreichen variierenden Gestaltungen im Rahmen dieser
umfassenden Krankheitskreise zu gewinnen. Deswegen scheint
mir auch die vielgeschmähte Tendenz der „großen Töpfe“ die
klinische Psychiatrie durchaus noch nicht, wie es immer hin¬
gestellt wird, zu völliger wissenschaftlicher Unfruchtbarkeit zu
verurteilen — eine Tendenz, die im übrigen über Lob und Tadel
völlig erhaben ist, sofern sie nur wissenschaftlich genügend be¬
gründet ist.
Die allgemeine Bedeutung des Aufbauprinzips im klinischen
Bereich bleibt aber von allem Für und Wider unberührt bestehen.
Es lenkt die klinische Betrachtung von den äußeren Er¬
scheinungen und Merkmalen weg auf die inneren Strukturver¬
hältnisse hin. Es differenziert die Krankheitsbestandteile nach
ihrer klinischen Wertigkeit, bringt neben den grundlegenden
spezifischen auch die sozusagen „außerwesentlichen“ gebührend
zur Geltung und erleichtert damit die richtige klinische Zu- und
Einordnung. Es läßt beim Individualfall alle ihm individuell
zugehörigen Elemente in allen ihren inneren und äußeren Be¬
ziehungen erschöpfend erfassen, und es tritt hinsichtlich des
Krankheitstypus vor allem jener zu schematischen Auffassung
entgegen, die in den Krankheitsformen durchaus unverrückbare,
unwandelbar feststehende pathologische Einheiten sehen will.
Damit ergeben sich aber vom Aufbau aus vielfache Ausgangs¬
punkte für eine vertiefte Grundlegung und eine schärfere Aus¬
gestaltung des klinischen Systems.
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Über einige neuere Ergebnisse von Spirochäten¬
untersuchungen bei der progressiven Paralyse \
Von
F. Jahnel.
Wenn auch die Erkenntnis eines Zusammenhanges der Para¬
lyse mit der Syphilis schon über 60 Jahre alt ist und durch neuere
Erfahrungen im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts immer mehr
an Wahrscheinlichkeit gewonnen hatte, so hat sie doch erst eine
festere Gestaltung und Bedeutung erhalten durch die Entdeckung
Noguchis. Noguchi konnte den Nachweis erbringen, daß die
Paralytiker, wie man schon früher auf Grund des positiven Aus¬
falls der Wassermann-Reaktion und anderer Anzeichen vermutet
hatte, noch,Träger von lebenden und virulenten Syphiliserregern
sind, und daß die Spirochäten in dem erkrankten Zentralnerven¬
system selbst vorhanden sind. Die Angaben Noguchis haben im
Verlauf der letzten Jahre mehrfache Bestätigungen erfahren.
Immerhin ist es bis heute niemandem gelungen, den Spirochäten¬
nachweis in allen Paralysefällen zu erbringen. Ich habe bereits
in einer früheren Arbeit die Gründe auseinandergesetzt, wieso ein
regelmäßiger Spirochätennachweis bei der Paralyse nicht gelingt,
und habe dabei auf die örtlichen Verschiedenheiten in der Aus¬
breitung der Krankheitserreger in den einzelnen Fällen, ihr Vor¬
kommen in bienenschwarmartigen, mehr oder weniger scharf
umschriebenen Herden hingewiesen und habe auch eine in ge¬
wissen Zeiträümen periodisch erfolgende Zu- und spätere Abnahme
der Parasitenzahl angenommen. Was diese letztere Annahme
anbetrifft, so habe ich mich auf Beobachtungen bei paralytischen
*) Aus der psychiatrischen Universitätsklinik zu Frankfurt a. M.;
Direktor Geheimrat Professor Dr. Sioli.
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504
J ahnel.
Anfällen, wo fast regelmäßig zahlreiche Parasiten nachweisbar
sind, bezogen und habe vor allem dabei eine biologische Eigen¬
tümlichkeit, die sämtlichen pathogenen Spirochäten zukommt,
auch für den speziellen Fall der paralytischen Erkrankung an¬
genommen. Es handelt sich um die Tatsache, daß bei allen als
Krankheitserreger wirksamen Spirochäten die Vermehhing der
Krankheitskeime periodenweise erfolgt, und daß die Perioden des
plötzlichen enormen Anschwellens der Parasitenzahl getrennt sind
durch parasitenfreie oder richtiger gesagt parasitenarme Intervalle,
durch Zeiträume, in denen die Krankheitskeime in einer so ge¬
ringen Zahl vorhanden sind, daß man sie mit gebräuchlichen
mikroskopischen Methoden nicht nachweisen kann. Daß sie aber
auch in den Intervallen nicht völlig aus dem Organismus ver¬
schwunden sind, beweist das spätere Auftreten eines Rezidivs
sowie einzelne experimentelle Beobachtungen, die in solchen Inter¬
vallen mit Überimpfung großer Blutmengen gemacht worden sind. So
finden wir bei allen durch Spirochäten verursachten Krankheiten, bei
dem Rückfallfieber, der Weilschen Krankheit und auch bei den Er¬
scheinungen der Syphilis in früheren Krankheitsperioden, die Eigen¬
tümlichkeit des schubweisen Auftretens der Krankheitserscheinungen
und der Krankheitskeime im Organismus deutlich ausgeprägt. Von
anderen Autoren haben namentlich Lcvaditi, A. Marie und Ban-
Icowski die Annahme eines schubweisen Auftretens der Spirochäten
in paralytischen Gehirnen auf Grund eigener umfassender Unter¬
suchungen schon vor mir gemacht und die Spirochätenschübe in
paralytischen Gehirnen verglichen mit der schubweise auftretenden
Haut- und Schleimhäute-Erkrankung in der Sekundärperiode der
• Syphilis. Da nach meiner Ansicht die Unmöglichkeit des Spiro¬
chätennachweises in allen paralytischen Gehirnen vor allem be¬
gründet ist in der Begrenztheit der Arbeitskraft des Untersuchers,
erscheint die Annahme durchaus berechtigt, daß die
Spirochäten wohl in allen Fällen von Paralyse im Ge¬
hirn vorhanden sind, wenn wir sie auch nur in einem
Teil der Fälle nachweisen können.
So fand Noguchi Spirochäten in Schnittpräparaten in y 4 seiner Fälle,
Förster und Tomasczewski bei Untersuchungen lebender Paralytiker durch
die Hirnpunktion in 44% der Fälle, Levaditi, A. Marie und Bankowski
bei in paralytischen Anfällen Verstorbenen in 90%, ich selbst bei Unter-
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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersnchungen usw. 505
suchung des frischen Paralytikerleichengehirns ohne Auswahl der Fälle
im Dunkelfelde in 50%, in Schnittpräparaten in 25%, und kürzlich ist es
F. Sioli gelungen, den Spirochätennachweis in Schnittpräparaten in 50%
der Fälle zu erbringen. Wenn ich früher die ParalysefäHe eingeteilt habe
in solche mit und ohne Spirochäten, so erscheint eine solche Scheidung
durchaus willkürlich und nicht ganz den tatsächlichen Verhältnissen ent¬
sprechend. Es gibt nämlich eine nicht geringe Zahl von Paralysefällen,
bei denen man erst nach längerem, oft stundenlangem Suchen sehr spär¬
liche Parasiten findet, bei denen man sich mitunter sogar mit einer einzigen,
sicher nachgewiesenen Spirochäte begnügen muß. Es liegt auf der Hand,
daß in derartigen Fällen der Spirochätennachweis ganz außerordentlich
vom Zufall abhängig ist. Andrerseits ist die Möglichkeit nicht von der
Hand zu weisen, daß man in Fällen von völlig negativem Spirochäten¬
befund doch einzelne Parasiten aufgefunden hätte, wenn man länger
gesucht oder andere Hirnstellen zur Entnahme des Materials gewählt
hätte. Demnach scheint es mir den tatsächlichen Verhältnissen viel besser
zu entsprechen, wenn man die Fälle mit nur ganz vereinzelten Spirochäten
und diejenigen, bei denen der Parasitennachweis nicht gelungen ist, in
eine Gruppe zusammenfaßt und derselben die Fälle mit stärkeren und
ausgebreiteteren Spirochätenansammlungen gegenüberstellt. Unter letzte¬
ren verstehe ich solche Fälle, bei denen die Dunkelfelduntersuchung an
mehreren Stellen der Hirnoberfläche einen positiven Spirochätenbefund
ergibt. In solchen Fällen ist der Spirochäteunachweis unabhängig von der
Übung und Ausdauer des Untersuchers. Jeder, der die Technik der Spiro¬
chätenuntersuchung beherrscht, muß in solchen Fällen zu einem positiven
Ergebnis gelangen.
Unsere wichtigste Aufgabe besteht zunächst nicht darin, den
Parasitennachweis in allen Fällen zu erstreben, sondern in der
Ermittlung möglichst zahlreicher Einzeltatsachen über die Lokali¬
sation der Spirochäten in den erkrankten Gewebsteilen und etwaiger
Beziehungen zu diesen und der Bedingungen, unter welchen die
Krankheitskeime im Zentralnervensystem auftreten, bezw. sieb
vefmehren. Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, daß
das spirochätenhaltige Paralytikergehim eine wahre Fundgrube
von neuen und interessanten Tatsachen ist, deren Deutung uns
allerdings noch mancherlei Schwierigkeiten bereitet, und deren
Bedeutung noch in vieler Hinsicht dunkel ist.
Was die Verteilung der Spirochäten in den paralytischen
Gehirnen anbelangt, so habe ich schon früher zwei Haupttypen
unterschieden, nämlich das Vorkommen der Spirochäten in mehr
oder weniger scharf umschriebenen Herden, aus einer Anzahl
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506
J a h n e 1,
*
dicht aneinandergedrängt liegender Einzelindividoen bestehend,
und ferner den am häufigsten vorkommenden Typus der diffusen
Verteilung der Parasiten, bei welchem die einzelnen Individuen
in mehr oder weniger großen Abständen voneinander liegen. Der
Ausdruck diffus ist insofern nicht ganz zutreffend, als auch bei
diesem Typus die Verteilung der Parasiten keine regelmäßige ist,
etwa derart, daß auf dem gleichen Rauminhalt immer die gleiche
Spirochätenzahl käme, sondern es sind, abgesehen von den nicht
seltenen Ubergangsbildern und Kombinationsformen mit dem Typus
der herdförmigen Verteilung, die in Abständen liegenden Spiro¬
chäten meist so angeordnet, daß eine Stelle einer Windung be¬
sonders stark von ihnen befallen ist, während sie an der ent¬
gegengesetzten Partie des Schnittes nur in einzelnen Exemplaren
Vorkommen oder ganz fehlen. Immerhin pflegt man in Fällen,
welche den geschilderten Typus am reinsten zeigen, in allen oder
fast allen Hirnwindungen, namentlich der vorderen Hirnpartien,
Spirochäten anzutreffen. Es ist vielleicht zweckmäßig, das Beiwort
„diffus“ 'durch die die Regellosigkeit der Verteilung besser zum
Ausdruck bringende Bezeichnung „disseminiert“ zu ersetzen und
von einem Typus der disseminierten Spirochätenverteilung
zu sprechen.
Heute bin ich in der Lage, den geschilderten zwei Typen einen
weiteren Typus der Spirochäten Verteilung hinzuzufügen, den vasku¬
lären Typus, wie ich ihn vorläufig nennen möchte. Bei diesem
sind vorzugweise die Gefäße der Hirnrinde von den Spirochäten
befallen.
*
Nicht alle Gefäße weisen Spirochäten in der noch näher zu
schildernden Anordnung auf, sondern es sind meistens die Gefäße
in einem herdförmigen Bezirk von Spirochäten durchsetzt und zwar
in der Weise, daß an einer solchen Stelle alle Gefäße außerordent¬
lich große Mengen von Spirochäten in ihren Wänden enthalten.
Zumeist handelt es sich um Kapillaren, welche von der Parasiten¬
invasion heimgesucht sind. Aber auch größere Gefäße, Venen
sowohl wie Arterien, zeigen zum Teil eigentümliche Parasitenmäntel,
zum Teil sind sie auch in gleicher Weise in ihren Wänden von den
Spirochäten durchsetzt. Die Spirochäten liegen in dichten Massen
in den Gefäßwänden zum Teil in Längs-, zum Teil in querer Rieh-
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über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 507
tung angeordnet; anch perivaskulär liegen dichte Massen von
Spirochäteif, die das Gefäß mantelartig umgeben. Schon bei
schwächerer Vergrößerung heben sich diese Gefäße durch ihre
schwarze Farbe von anderen, die nicht in solcher Weise von den
Spirochäten befallen sind, deutlich ab. Bei Immersionsvergrößerung
erscheinen die Gefäße ebenfalls tiefschwarz; sieht man genauer hin
und läßt man die Mikrometerschraube spielen, dann erkennt man,
daß die schwarzen Massen zusammengesetzt sind aus einer Unzahl
von dicht aneinandergelagerten Spirochäten, und daß nicht etwa,
wie es bei oberflächlicher Betrachtung scheinen könnte, Bestand¬
teile der Gefäßwände sich mit Silber schwarz gefärbt oder Silber¬
niederschläge sich an diesen Stellen gebildet haben. Das da¬
zwischen liegende Parenchym ist nicht ganz parasitenfrei, jedoch
ist die Zahl der im nervösen Gewebe selbst liegenden Spirochäten
geringer. Sie ist am größten in der Nachbarschaft der Gefäße
und namentlich solcher, welche die geschilderten perivaskulären
Parasitenmäntel aufweisen. Hingegen ist die Zahl der im Bereich
des nervösen Parenchyms liegenden Parasiten an jenen Punkten
am kleinstei#, welche von den Gefäßen am weitesten entfernt
sind. An manchen Stellen zeigen fast ausschließlich die Gefäße
die starke Parasiteninvasion, an anderen Orten wieder sind, von
den perivaskulären Spirochätenanhäufungen ausgehend, die Para¬
siten im nervösep Gewebe in solcher Zahl vorhanden, daß das¬
selbe mehr oder weniger vollkommen von ihnen durchsetzt er¬
scheint. Auf diese Weise kann es durch das Zusammenfließen
von ursprünglich auschließlich perivaskulären Spirochätenansamm¬
lungen zu einem großen Herd von bienenschwarmartigem Cha¬
rakter kommen. Diese Beobachtungen legen die Annahme nahe,
daß vielleicht manche Parasitenherde auf diese Weise entstanden
sind, und in diesem Sinne scheint mir vor allem die Beobachtung
zu sprechen, daß man an der Peripherie der Riesenherde, dort '
wo die Infiltration des nervösen Gewebes mit Parasiten aufhört,
den vaskulären Typus der Spirochätenverteilung in mehr oder
weniger reiner Form antrifft.
Bei Kapillaren sind alle Schichten der Gefäßwand in gleicher
Weise von den Parasiten durchsetzt. Nähere Beziehungen der
Spirochäten zu den einzelnen Gefäßwandelementen lassen sich
U
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/6. 36
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508
Jahnel,
f
schwer feststellen, da zumeist die Parasitenzahl so groß ist, daß
die einzelnen Gefäßwandelemente nicht deutlich zu erkennen sind,
und daß man auch in dem dichten Parasitengewirr vielfach die
Leiber der einzelnen Spirochätenindividuen nicht voneinander zn
trennen vermag. Manchmal kann man die einzelnen Gefä߬
wandelemente überhaupt nicht erkennen, und die Gefäße erscheinen
dann wie schwarze, aus lauter zusammengepreßten Spirochäten
bestehende Röhren.
Man sieht Bilder, bei denen Spirochäten mit einem Teil
ihres Körpers in das Gefäßlumen hineinragen, nicht selten.
Ebenso kann man sehr häufig beobachten, daß in den Gefä߬
wänden verankerte Spirochäten mit einem Teil ihres Körpers im
nervösen Parenchym liegen.
Auch in den Gefäßbrücken, die zwei Gefäße miteinander
verbinden und die sich auch bei der Spirochätenfärbmethode
durch ihre braune Farbe vom Untergründe deutlich abheben,
findet) man Spirochäten, deren Längsrichtung mit der Richtung
der Brücke .zusammenfällt. An der Ansatzstelle der Brücke füllen
die Spirochäten den Ansatztrichter vollkommen aus und bilden
einen mit den in den Gefäßwänden befindlichen Spirochätenmassen
zusammenhängenden Parasitenkegel.
Bei etwas größeren Venen, welche stärkere Infiltrate von
Plasmazellen und Lymphozyten aufweisen, sieht man die Spiro¬
chäten häufig zwischen den Infiltratzellen liegen. Die Spirochäten
durchsetzen sämtliche Schichten der Gefäßwand bis zur Intima.
In seltsamer Weise kann es gerade in der Intima zu so starken
Spirochätenansammlungen kommen, daß dieselbe sich tiefschwarz
abhebt und gewissermaßen durch einen aus mehreren konzen¬
trischen Spirochätenlagen bestehenden Ring ersetzt zu sein scheint.
Ich halte gerade diese Beobachtung für sehr wichtig, weil sie
weit deutlicher und klarer, als man dies an den kleinen Gefäßen
sehen kann, das Einwachsen und Einwandern der Spirochäten
durch die Gefäßwand hindurch in die Blutbahn hinein zeigt.
Wenn sich bei der Fixierung des Nervengewebes perivas¬
kuläre Räume bilden, So pflegt sich der perivaskuläre Spirochäten¬
reifen von dem betreffenden Gefäß loszulösen und den äußeren
Rand des perivaskulären Raumes zu bilden. Zuweilen ziehen durch
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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 509
den freien perivaskulären Raum hindurch Spirochäten nach dem
Gefäße zu. Diese Spirochäten weisen oft Zeichen von Verzerrung
auf, indem ihre Windungen unregelmäßig oder zum Teil gestreckt
sind. Die in den Gefäßwänden selbst verankerten Parasiten
bleiben in der gleichen Lage, ganz unabhängig davon, ob sich um
das betreffende Gefäß ein perivaskulärer Raum gebildet hat oder
nicht. Die aus diehtgefügten Spirochätenleibern bestehenden
Reifen — eigentlich müßte man sie als Röhren bezeichnen —
können eine beträchtliche Dicke erreichen. In den inneren
Schichten dieser Reifen erscheinen die Spirochäten so dicht in-
einandergeflochten, daß man die einzelnen Individuen nicht von¬
einander trennen kann, ja sogar in diesen dichten Massen nicht
einmal sehen kann, daß sie aus spiralig gewundenen Elementen
bestehen. Deutlicher sieht man die einzelnen Elemente dieser
Reifen in den peripheren Zonen, wo man die einzelnen Individuen
bereits mehr oder weniger deutlich voneinander trennen kann.
Wenn sich nicht um das ganze Gefäß, sondern nur um einen
Teil desselben ein perivaskulärer Raum gebildet hat, so entspricht
die Ablösung des Spirochätenreifens der Größe des gebildeten
Sehrumpfraumes. Meist sind bei derartigen perivaskulären Para¬
sitenanhäufungen die Spirochäten in zirkulärer Richtung um das
Gefäß angeordnet. An der Peripherie dieser Reifen nehmen aber
auch einzelne Parasiten andere Richtungen ein, am häufigsten
streben sie in radiärer Richtung vom Gefäße ab. Wenn zwei Ge¬
fäßquerschnitte nahebeieinander liegen, so ist der Zwischenraum
zwischen diesen Gefäßen manchmal von parallel gelagerten Spi¬
rochäten erfüllt, und man gewinnt den Eindruck, als suchten die
Spirochäten fischzugförmig durch die enge Stelle hindurchgu-
schlüpfen.
Der vaskuläre Typus zeigt eine Reihe von interessanten
Eigentümlichkeiten. So sieht man manchmal im Verlauf eines
Gefäßes die Spirochätenmäntel plötzlich oder allmählich aufhören.
Im letzteren Falle in der Art, daß die sie zusammensetzenden
Spirochäten immer mehr an Zahl abnehmen und lockerer gefügt
sind, bis sie gänzlich verschwinden. Oder man findet sich ver¬
zweigende Gefäße, die nur an einzelnen Zweigen von Spirochäten
besetzt sind. Diese Erscheinung tritt ganz regellos auf, ohne
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510
J^hnel,
daß man eine Erklärung geben kann, weshalb die Spirochäten¬
infiltration sich nnr anf einzelne bestimmte Zweige eines Gefäßes
beschränkt. Ja, man findet eine noch viel eigenartigere Erschei¬
nung: Es kommt nämlich vor, daß Venen, namentlich solche
größeren Kalibers, nur zur Hälfte oder drei Vierteln ihres Um¬
fanges die perivaskulären Anhäufungen zeigen, während die
andere Hälfte oder das andere Viertel des Gefäßumfangs keine
oder nur sehr spärliche und locker gefftgte Parasiten auf weisen.
Diese Erscheinung kann man außer an quergetroffenen auch an
schräggetroffenen Venen vorfinden. Ein ähnliches Vorkommnis
ist gelegentlich auch bei durch mehreren Schichten der Hirnrinde
hindurchziehenden Venen gut zu sehen. Es sind dann nämlich
solche Venen nur in bestimmten Schichten der Hirnrinde von
Spirochätenmänteln umfaßt.
Auffallenderweise ist, soweit meine bisherigen Beobachtungen
ein Urteil gestatten, die vaskuläre Spirochätenanordnung niemals
in den oberen Schichten der Hirnrinde anzutreffen, sondern meist
in den mittleren Schichten der Hirnrinde. Auch in den tieferen
Schichten findet man sie selten. Doch lassen sich bestimmte
Regelmäßigkeiten der Ausbreitung der vaskulären Spirochäten¬
verteilung in der Tiefenrichtung der Hirnrinde nicht erkennen.
Auch die Größe des Bezirkes, der dieses Phänomen aufweist,
wechselt. Zuweilen ist nur ein kugelförmiger Bezirk betroffen,
zuweilen sieht man an einer Windung an allen Gefäßen die ge¬
schilderten Erscheinungen. Es kommt auch vor, daß mehrere
Herde von derartig befallenen Gefäßen regelmäßig abwechseln
mit gleich großen Bezirken, in welchen die Gefäßwände und
deren Umgebung vollständig parasitenfrei sind.
Von Wichtigkeit erscheint mir folgende Beobachtung: Wo
sich die vaskuläre Spirochätenanordnung in deutlicher
Ausprägung vorfindet, ist ihr Vorkommen nicht auf
einzelne Bezirke beschränkt, sondern der vaskuläre
Verteilungstypus ‘findet sich in dem ganzen Gehirn
festgehalten, wenn auch stellenweise ausschließlich oder da¬
neben die herdförmige oder disseminierte Verteilungsart vor¬
handen ist. Mit anderen Worten: Untersucht man von einem
Gehirn, das den geschilderten Typus aufweist, mehrere Präparate
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Über einige neuere Ergebnisse von Spirochätennntersnchnngen usw. 511,
aus verschiedenen Hirnstellen, etwa aus verschiedenen Teilen der
Stirn Windungen, der Zentralwindungen, der Schläfenlappen nsw.,
• so weist die Mehrzahl derselben in beiden Hemisphären den
vaskulären Typus auf, gleichgültig aus welcher Hirnregion das
Präparat entstammt. Freilich bestehen auch bei dem vaskulären
Typus gewisse regionäre Unterschiede, was die Stärke der Para¬
siteninvasion in den einzelnen Hirnteilen anbelangt. Die Er¬
scheinung, daß die vorderen Himpartien von den Parasiten am
stärksten heimgesucht werden, während die hinteren Himabschnitte,
namentlich die Hinterhauptslappen, weit weniger von den Spiro¬
chäten ergriffen sind, trifft man atich beim vaskulären Typus an.
Auch bei dem vaskulären Typus habe ich bisher keine Spiro¬
chäten in der weißen Substanz angetroffen. Die von mir unter¬
suchten Fälle enthielten, soweit meine Untersuchungen ein Urteil
gestatten, auch keine Spirochäten in den perivaskulären Räumen
der subkortikalen weißen Substanz. Ich erwähne dies- deshalb,
weil es mir neuerdings gelungen ist, in einem Fall Spirochäten
in den perivaskulären Räumen in der weißen Substanz nachzu¬
weisen, und weil mir das Vorkommen von Spirochäten in den
perivaskulären Räumen der weißen Substanz eine interessante
Tatsache zu sein scheint.
Bei dem Typus der vaskulären Spirochätenverteilung, jedoch
nicht [ausschließlich bei diesem, konnte ich ferner eine recht
eigenartige Erscheinung beobachten. Es finden sich hier nämlich
Spirochäten in der Zonalschicht der Hirnrinde, und zwar zum
Teil unmittelbar unter der Pia, zum Teil in oder unter der gliösen
Oberflächenschicht. Die Spirochäten sind hier nicht in großen
Massen vorhanden, kommen aber doch an den verschiedensten
Stellen ziemlich regelmäßig vor. so daß es sich hier nicht um
eine Zufälligkeit, sondern nur um — wenigstens war dies bei
den bisher von mir beobachteten Fällen der Fall — ein typisches
Vorkommnis handeln kann. Bekanntlich ist in der Regel die
oberste Rindenschicht bei der Paralyse spirochätenfrei. Die häu¬
figsten Ausnahmen von dieser Regel bestehen darin, daß an
einzelnen Stellen einige Parasiten im Gegensatz zu ihrem ge¬
wöhnlichen Verhalten die Grenzlinie, welche an dem oberen
Rande der zweiten Schicht verläuft, nicht einhalten, sondern auch
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Tulm.'-lanjrc ! TO [»m, Balgauszug 40, Proj.-Ok. J.
aßt?. Ausschnitt aus einer Zone des vaskulären
Verteilungstyjms.
Fig. S. Zeiss Aporhrom 2 mm. Ttlliijslünge 170 mm* Haigauszug 40. Proj.-Ok. 4
Spirorhiut’ii in einer Y£tUttt*;&od,
3 GO
• Original frem''
UWIVE-RSiTY QFM(CHS6AN
Fig. 3 Zaiss' Apochrom 2 mm. Tttfeuslängc 170 min, Balgaaszug Ott Proj.*Ok. 4.
Perivaskulärer SinrochätenieilYn. der sich teilweise unter Bildung von
Schrumpfräutnen abgelöst hat
,
' • §
Fig. f. Zeiss- Apochrora 2 tnjri, Tiibtislartga 170 mm, B$lgao*ziig ßft Prbj.-Ok.
-m SpiiochuteuabUaaseholleü.
Digtet^CO öle QTigir.at'fron
s ,VjU ö qNIVERSITY OF. MICHIGAN
514
Jahnel,
in die erste Schicht der Hirnrinde einwandem. Wenn dies der
Fall ist, so findet man zumeist Spirochäten in den tieferen
Schichten der Hirnrinde in größerer Zahl, anch in der zweiten
Schicht sind sie meist sehr reichlich anzutreffen; in der Neuro-
gliaschicht sind sie selten und bevorzugen den unteren Teil der¬
selben, kommen jedoch anch in der obersten Zone, unter
Umständen direkt nnter der Pia, zuweilen zur Beobachtung. Ge¬
wöhnlich ist, wie bereits erwähnt, das Vorkommen von Spiro¬
chäten in der obersten Rindenschicht an einzelne Stellen ge¬
bunden und kommt nicht wie beim vaskulären Verteilungstypus
der Spirochäten in einem größeren Bezirk der Himoberfläche als
eine regelmäßige Erscheinung vor. Wir haben es demnach mit
einem durchaus typischen und merkwürdigen Phänomen zu tun,
das mir mit der vaskulären Spirochätenausbreitung in Beziehung
zu stehen scheint. Ich will später versuchen, im Zusammenhang
mit den übrigen Befunden diese Beobachtungen einer Deutung
zu unterziehen. An dieser Stelle möchte ich jedoch einen weiteren
hierher gehörigen interessanten Befund einfügen. In einem Falle
von Paralyse, der im übrigen in den Ganglienzellschichten den
Typns der disseminierten Spirochätenverteilung und außerdem
stellenweise kleine Herde von bienenschwarmartigem Charakter
aufwies, fand ich solche Spirochätenherde auch unmittelbar unter
der Pia, und zwar waren in einem Schnitte mehrere solcher
Herde vorhanden. Zwischen diesen subpialen Parasitenherden
waren auch Spirochäten anzutreffen, die einzeln lagen und deren
Richtung mit der Hirnoberfläche parallel war. Auch die mul¬
tiplen subpialen Spirochätenherde sind sicher kein Produkt dies
Zufalls, sondern als durch eine gesetzmäßige Ausbreitung der
Spirochäten in der subpialen Zone der obersten Rindenschicht
bedingt anzusehen.
Einmal sah ich von einer solchen Stelle aus einzelne Spiro¬
chäten in die Pia eindringen. Dies scheint jedoch ein seltenes
Vorkommnis zu sein. Im allgemeinen beschränken sich die Spiro¬
chäten streng auf die subpiale Zonalschicht, liegen also unter der
Membrana limitans superficialis, welche sie meist nicht durch¬
brechen.
Wie bereits erwähnt, kommt der vaskuläre Typus der Spiro-
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Über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchnngen usw. 515
chätenaussaat gar nicht so selten zur Beobachtung. Wenn auch
reine Fälle dieser Art nicht allzu häufig sind, findet man doch
Andeutung der vaskulären Ausbreitung in vielen Gehirnen.
Wie verhält sich nun in solchen Fällen der klinische Befund,
der Krankheitsverlauf und der anatomische Hirnbefund? Wir
wollen hier zwei typische und in ihrem parasitologischen Bilde
gleichartige Fälle von rein vaskulärem Ausbreitungstypus der
Spirochäten der Besprechung dieser Fragen zugrunde legen.
Der erste Fall betrifft ein 36jähriges Mädchen, das nach den An¬
gaben ihrer Schwester früher im allgemeinen gesund, nur etwas nervös,
immer gleich aufgebracht und heftig war. Sie hatte bis kurz vor ihrer
Aufnahme in die Anstalt das Bäckereigeschäft ihres im Felde stehenden
Bruders geführt, war immer sehr fleißig und ordentlich und hatte in der
letzten Zeit keinerlei Nachlässigkeiten sich zuschulden kommen lassen.
Die Erkrankung hatte ganz akut mit einem depressiven Stadium begonnen.
Sie glaubte, daß sie und die Kinder ihrer Schwester verhungern müßten,
daß die Welt zugrunde gehe; schließlich.hörte sie plötzlich zu arbeiten auf
und versuchte sich mit einem Rasiermesser den Hals zu durchschneiden.
Si>* brachte sich auch tatsächlich einen kleinen Schnitt bei und wurde
auf Grund dieses Vorkommnisses in die hiesige Klinik eingewiesen.
ln der Klinik machte sie einen deprimierten ,und gehemmten
Eindruck, machte über ihre Personalien zutreffende Angaben, erwies sich
zeitlich und örtlich orientiert. Den Selbstmordversuch motivierte sie da¬
durch, daß sie nichts mehr habe und ihre Familie unglücklich gemacht
habe. Sie äußerte die Befürchtung, daß sie eingesteckt werde, und daß
ihre Schwester verhungern müßte. Auf weitere Fragen antwortete sie
kaum, erklärte, sie könne nicht sprechen, fing zu weinen an und lehnte
schließlich die Beantwortung weiterer Fragen ab, mit der Begründung,
daß sie tot sei und nicht mehr sprechen könne. Die körperliche Unter¬
suchung ergab eine oberflächliche, ca. 5 cm. lange Schnittwunde an der
Kehle. Über allen Herzklappen war ein deutliches systolisches Geräusch
zu hören. Die Pupillen reagierten deutlich. Die Patellarreflexe waren von
normaler Stärke, es ließen sich auch keine Sensibilitätsstörungen nach-
tveisen. Im weiteren Verlaufe ihrer Erkrankung war sie meist ängstlich,
äußerte öfter die Befürchtung, daß sie sterben müsse, war besonders nachts
sehr unruhig, erklärte, daß sie nicht in der Anstalt bleiben könne, weil sie
kein Geld habe, um die Kosten zu bezahlen. Im August 1916 beruhigte
sie sich etwas, zeigte aber ein stumpfes Verhalten und verunreinigte öfters
ihre Kleider und ihr Betl. Am 4. Oktober 1916 wurde sie von ihren Ange¬
hörigen abgeholt.
Am 25. Juni 1917 wurde die Kranke von ihren Angehörigen wieder
in die Anstalt gebracht, weil sich ihr Zustand verschlimmert hatte. Sie
war wieder unruhig geworden, hatte versucht» fortzulauten, so daß man
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516
Jahnel,
die Tür zuschließen mußte. Auch zerriß -sie öfters ihre Kleider, zeitweise
äußerte sie Größenideen, behauptete, sie sei eine Königstochter, alles sei
ihr, alles sei von Gold. In der Anstalt war sie stumpf und widerstrebend,
klagte, daß man ihr die Kleider genommen habe. Auch habe man ihr Geld
weggenommen. Sie habe vop der Sparkasse sehr viel Geld gehabt, eine
Million. Die Sprache war verwaschen und häsitierend, die Pupillen waren
beiderseits gleich weit und starr. Die Patellarreflexe waren von normaler
Stärke, beiderseits gleich. Es bestand kein Fußklonus, kein Babinski. Sie
war meistens sehr unruhig, nahm anderen Kranken das Essen weg, ließ
unter sich. Manchmal äußerte sie die Idee, daß sie vergiftet würde. Sie
wurde zusehends stumpfer und auch körperlich hinfälliger. Kurz vor dem
Tode hatte sich bei ihr ein Dekubitus am Kreuzbein entwickelt. Die
Wassermannsche Reaktion war im Blut und Liquor stark positiv ausge¬
fallen, auch war im letzteren eine Zell- und Eiweißvermehrung. Die Kranke
starb am 30. August 1917. Die Sektion ergab eine geringe Trübung und
Verdickung der weichen Hirnhäute. Keine makroskopisch erkennbare
Atrophie der Rinde, feine Granulationen des vierten Ventrikels. An den
inneren Organen deckte die Sektion außer einem auffallenden Blutreichtum
der Leber keinerlei gröbere krankhafte Veränderungen auf.
Die Dunkelfelduntersuchung ergab bei diesem Falle außerordentlich
zahlreiche Spirochäten in der ganzen Hirnrinde, besonders in beiden Stirn-
und Schläfenlappen. Die Spirochäten waren jn ihrer Form wohl erhalten
und im Zeitpunkte der Sektion, die 7 Stunden nach dem Tode erfolgt war.
noch recht gut beweglich. Auch die mikroskopische Untersuchung des
Zentralnervensystems ergab das Vorliegen einer progressiven Paralyse.
Auffallenderweise waren jedoch die pathologischen Veränderungen recht
geringfügige, was in* auffallendem Gegensatz zu dem Befund von zahl¬
reichen Spirochäten steht. Es zeigte sich, daß die Pia nur wenig verdickt
war, und daß in ihr nur geringe Plasmazellenansammlungen zu finden waren:
auch in den Lymphscheiden der Hirngefäße fand man keine dichten, aus
Plasmazellen und Lymphozyten bestehende Infiltrationsmäntel, sondern
es fanden sich nur hie und da einzelne Plasmazellen an den kleineren
Hirngefäßen. Die Ganglienzellen zeigten Veränderungen meist chronischen
Charakters, indessen war ihre Form und Anordnung noch einigermaßen
erhalten, und stärkere Ausfälle waren nirgends bemerkbar. Entsprechend
der Geringfügigkeit der anatomisch nachweisbaren Rindenerkrankung
erwies sich auch die Glia nur in geringem Maße gewuchert, stellenweise
fanden sich einzelne Stäbchenzellen. Im Markscheidenbild zeigte sich eine
diffuse Lichtung der Markfasern. Trotz der Geringfügigkeit der ana¬
tomischen Veränderungen kann an der Diagnose der progressiven Paralyse
in diesem Falle kein Zweifel bestehen. Es fanden sich in Schnittpräparaten.
die nach dem Pyridinuranvorfahren vorbehandelt waren, außerordentlich
zahlreiche Spirochäten an den verschiedensten Hirnstellen in typisch
vaskulärer Ausbreitung. Stellenweise fanden sich auch Kombinationen
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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchnngen usw. 517
mit dem herdförmigen Typus und dem der disseminierten Ausbreitung
der Parasiten. Auf die Einzelheiten der Beschaffenheit der vaskulären
Spirochäten Verteilung in diesem Falle brauche ich nicht einzugehen, da
ich sie schon bei der Beschreibung des vaskulären,Typus vorweggenommen
habe.
Fall 2. — Es handelt sich hier um einen 36jährigen früheren
Krankenwärter. Die Krankengeschichte dieses Falles ist in klinischer
Hinsicht sehr interessant, indem derselbe in jungen Jahren wegen hysteri¬
scher Anfälle und einer Reihe anderer hysterischer Störungen in der hiesi¬
gen Anstalt behandelt worden war. Eine erbliche Belastung war nicht
nachweisbar. Der Kranke war jedoch als Kind schwer erziehbar, lernte
schlecht in der Schule, schwänzte, verkaufte die Schulbücher, war außer¬
ordentlich verlogen, beging zu Hause und in der Markthalle viele Dieb¬
stähle. Er kam deshalb im 10. Jahre in eine Zwangserziehungsanstalt.
Später hielt er es in keiner Lehrstelle aus und führte ein Vagabundenleben.
Er geriet sehr häufig, meist wegen Diebstahls und Unterschlagung, mit
dem Strafgesetz in Konflikt, und er ist nicht weniger als 15mal bestraft.
Es ist nicht uninteressant, daß der Kranke bei einer früheren Aufnahme
im Jahre 1901 die Erscheinungen des Ganserschen Symptomenkomplexes
dargeboten hat. So behauptete er, 6 x 8 sei 47, 7 X 9 sei 56, 9 x 7 sei 54.
Die Länge eines Kilometers gab er richtig mit 1000 m an, behauptete '
jedoch, daß man 2 Stunden daran gehe. Auch meinte er, der Main ent¬
springe im Spessart. Diese falsche Antwort ist deshalb besonders auf¬
fallend, weil der Kranke in Frankfurt aufgewachsen und in die Schule
gegangen war und seine übrigen geographischen Kenntnisse durchaus
nicht schlecht waren. Auch wurden bei dem Kranken wiederholt hysteri¬
sche Verwirrtheitszustände beobachtet, in denen er ängstlich schrie und
tobte, jammerte, daß man ihm den Hals abschneiden wolle, indem er rief:
„Da kommt der mit dem langen Messer.“ Am nächsten Tage war er
wieder ruhig und klar und hatte für das Vorgefallene keinerlei Erinnerung.
15 Jahre später, nämlich im August 1916, kam der Kranke wieder in die
Anstalt und bot diesmal das Bild der progressiven Paralyse. Leider
konnten wir über den Beginn seiner Erkrankung und seiner Lebensschick¬
sale in den seit der letzten Aufnahme verflossenen 15 Jahren nicht das
geringste erfahren, und auf diese Weise war es nicht möglich, den Beginn
der paralytischen Erkrankung festzustellen. Der Vater des Kranken hatte
sich von demselben losgesagt und ihn viele Jaly p nicht gesehen, Uber
eine luische Infektion konnte der Vater ebenfalls keine Angaben machen,
auch fanden sich in der früheren Krankengeschichte Angaben darüber
oder sonstige Anhaltspunkte für eine solche nicht vor. Er gab an, daß er
bei einer militärischen Übung eine Gehirn- und Rückenmarkerschütterung
erlitten und seit dieser Zeit immer gezittert habe. Gegenwärtig leide
er an hochgradiger Schlaflosigkeit und Uberempfindlichkeit gegen Ge¬
räusche. Er machte über seine Personalien im ganzen zutreffende Angaben.
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Ö18
Jahnel,
Er berichtete, daß er vom Militär wegen eines Nervenleidens entlassen
worden sei, an zwei Stöcken gegangen sei und gezittert habe (hysterische
Erscheinungen?). Im Jahre 1904 habe er Tripper gehabt, von einer
syphilitischen Infektion ^rill er nichts wissen Er klagte über starke Kopf¬
schmerzen, Nervosität, Abnahme des Gedächtnisses und eine[Erschwerung
der Sprache. Die körperliche Untersuchung ergab lichtstarre und ent-
rundete Pupillen sowie eine paralytische Sprachstörung. Die Sehnen¬
reflexe waren lebhaft. Im übrigen ergab die körperliche Untersuchung
keine gröberen Abweichungen von der Norm. In der Anstalt zeigte er
meist ein stumpf dementes Verhalten, war einsichtslos, unzufrieden, be
klagte sich sehr über das schlechte Essen, über „die Hungerkur“, die er
hier in der Anstalt durchmachen müsse, und verlangte schließlich sein*
Entlassung, die ihm auch gewährt wurde. Ein Jahr später kam er wieder
zur Aufnahme und zeigte das Bild einer vorgeschrittenen paralytischer
Erkrankung. Das Gedächtnis hatte weiter abgenommen, die Sprach
Störung hatte zugenommen. Der körperliche Befund wär sonst wie bei der
ersten Aufnahme, jedoch wurde diesmal auch eine stärkere Dermographie
festgestellt. Größenideen zeigte er nicht, jedoch wurde bei ihm einmal
ein paralytischer Anfall apoplektiformen Charakters mit nachfolgender
linkseitiger Parese beobachtet. Ferner traten bei ihm sehr häufig Er
' regungszustände auf, in denen er gewalttätig wurde und fortdrängte.
Wassermann im Blut positiv. Die Lumbalpunktion war wegen einer
Anomalie der Lendenwirbelsäule nicht ausführbar gewesen. Kurz vor
dem Tode wurde er stumpfer und hinfälliger. Sein Körpergewicht hatte
sehr stark abgenommen. Am 15. November 1917 starb er plötzlich. In
diesem Falle ergab die Sektion eine starke Hirnatrophie und chronische
Leptomeningitis, ferner Granulationen im vierten Ventrikel. An den
inneren Organen war außer einer Mesaortitis luica kein pathologischer
Befund zu erheben.
Die Dunkelfelduntersuchung ergab das Vorhandensein von zahl¬
reichen. lebhaft beweglichen Spirochäten, namentlich in den vorderen
Hirnabschnitten. Die mikroskopische Untersuchung der Hirnrinde erg^b
nun recht ausgebreitete und hochgradige paralytische Veränderungen.
Es fand sich nämlich die Pia verdickt und mit massenhaften Plasmazellen
und Lymphozyten durchsetzt. Es waren außerordentlich dichte, aus den
genannten Zellarten bestehende Infiltrationsmäntel um die Gefäße der
Hirnrinde vorhanden. Stellenweise waren in unmittelbarer Nachbar¬
schaft der Gefäße auch frei im nervösen Gewebe liegende Plasmazellen
nachweisbar. Die Gefäße der Hirnrinde waren sehr stark vermehrt. Es
fanden sich außerordentlich zahlreiche Stäbchenzellen der Hirnrinde, an
manchen Stellen in besonders starker Anhäufung. Die Ganglienzellen
waren stellenweise ausgefallen und wiesen zum Teil die chronische, zum
Teil die schwere Zellveränderung auf. Es bestand eine starke Wucherung
der faserigen und protoplasmatischen Glia. Ebenso bestanden Markfaser-
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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätennntersuchungen usw. 51£
ausfälle in der Hirnrinde diffusen Charakters, die stellenweise bis zu einer
völligen Entmarkung der Rinde geführt hatten. Gummen oder endarteriiti-
sche Veränderungen waren ebensowenig wie im ersten Fall nachzuweisen.
Leider hat uns in diesem Falle die Anamnese völlig im Stich gelassen,
so daß wir den Beginn der paralytischen Erkrankung auch nicht einmal
schätzungweise angeben können. Auf Grund des anatomischen Bildes
gewinnt man den Eindruck, daß es sich hier um eine weit vorgeschrittene
paralytische Rindenerkrankung handelt, und daß der Tod des Kranken
außerdem in dem Zeitpunkt eines akuten Krankheitsschubes erfolgt ist.
Auch in diesem Falle fand sich der vaskuläre Ausbreitungstypus
der Spirochäten in typischer Form vor. Außerdem bestand in manchen
Hirnregionen die disseminierte Verteilung, auch war es stellenweise zur
Bildung kleiner Spirochätenherde gekommen. Bezüglich der Einzelheiten
der vaskulären Spirochätenausbreitung in diesem Falle, die sich übrigens
vollkommen mit denen im ersten Falle decken, sei auf die vorangehende
allgemeine Schilderung des vaskulären Typus verwiesen.
Es ergibt sich aus beiden Fällen, daß es sich um durchaus
typische Paralysen handelt, und zwar von dementer Verlaufsform.
Irgendwelche klinische Eigentümlichkeiten, die mit dem vasku¬
lären Ausbreitungstypus der Spirochäten in Zusammenhang zu
bringen wären, ließen sich nicht nachweisen. Hingegen ist es
außerordentlich auffallend, wie sehr trotz gleicher Spirochäten¬
bilder die anatomischen Bfefunde differieren, im ersten Falle in
nur sehr geringfügigen Veränderungen bestehen, im letzteren
solche im höchsten Grade aufweisen.
Wie kommt nun der vaskuläre Ausbreitungstypus der Spiro¬
chäten zustande und welche Bedeutung kommt ihm zu?
Die erste Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es ist recht
eigenartig, daß in einem bestimmten Bezirk des Gehirns alle
Gefäße so stark von den Spirochäten befallen werden, und daß
diese Spirochäteninfiltration an den Gefäßen wieder plötzlich auf-
hört. Es ist mir nämlich bisher nicht möglich gewesen, dieses
eigenartige Verhalten auf irgendeine Weise, etwa durch ana¬
tomische Anordnungen zu erklären. Es würde natürlich dem
Verständnis keine Schwierigkeiten bereiten, wenn sich die be¬
fallenen Gefäße als Verästelungen eines Hauptstammes erweisen
ließen. Wir können annehmen, daß die Spirochäten in den Ge¬
fäßwänden oder an den Gefäßen weiterwachsen, indem sie diese
als Stützpfeiler benützen, nach einem früher von mir gebrauchten
Vergleiche wie Schlingpflanzen an einem Pfeiler emporwachsen.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
520
/
Jahnel,
Wenn wir den Nachweis, erbringen könnten, daß alle von Para¬
siten befallenen Gefäße Verzweigungen eines Hauptstammes sind,
wäre es einleuchtend, daß Spirochäten, die z. B. in die Wand
eines Hauptstammes eingedrungen sind, bis in die feinsten Ver¬
zweigungen des Gefäßbaumes weiterwachsen könnten. Nun lassen
sich aber die befallenen Gefäße nicht etwa als Verästelungen eines
Hauptstammes erweisen. Dagegen spricht das Befallenwerden
aller Gefäße einer umschriebenen Stelle, gleichgültig, ob es sieh
dabei um Arterien, Venen oder Kapillaren handelt. Unter¬
suchungen auf Serienschnitte haben mich in der Deutung des
vaskulären Typus nicht weiter gebracht, und so vermag ich eine
befriedigende Erklärung der eigenartigen herdförmigen Anordnung
des vaskulären Typus der Spirochätenverteilung einstweilen nicht
zu geben.
Wenn wir nun versuchen wollen, der Frage nach der Be¬
deutung des vaskulären Typus der Spirochätenausbreitung näher¬
zutreten, so müssen wir folgendes bedenken. Betrachten wir
ein Präparat mit vaskulärem Verteilungstypus der Spirochäten,
dann drängen sich jedermann sofort die Beziehungen der Spiro¬
chäten zur Lymphe auf. Die Spirochäten sind am zahlreichsten
da, wo die Lymphmenge am größten ist, nämlich in den Gefä߬
wänden, den adventitiellen Lymphräumen und auch perivaskulär
in unmittelbarer Nachbarschaft der Gefäße, wo ein Lymphraum
zwar nicht in anatomischem Sinne, wohl aber ein Ort stärkerer
Durchströmung mit Lymphe bezw. Ansammlung derselben, also
ein Lymphraum in physiologischer Hinsicht anzunehmen ist. Die
Spirochaeta pallida ist nun nach Ansicht der Spirochätenforscher
und Syphilidologen ein ausgesprochener Lymphparasit. Die Aus¬
breitung der Krankheitserreger in früheren Stadien der Krankheit,
im Zeitpunkte des Primäraffektes und in der sekundären Periode,
folgt den Lymphwegen. In der Lymphe scheinen.die Ernährungs¬
und Wachstumsbedingungen ‘für die Spirochaeta pallida am
günstigsten zu sein, während das Blut von ihr nicht in gleicher
Weise bevorzugt wird. Die eigenartige Vorliebe der Syphilis¬
spirochäte für die Lymphe und ihre Ausbreitung auf dem Wege
des Lymphgefäßsystems scheint mit einer biologischen Eigenschaft
der Syphilisspirochäten in Zusammenhang zu stehen, nämlich
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 521
mit der Eigenschaft des anaeroben Wachstums. Es ist nämlich
nachgewiesen worden, daß die Syphilisspirochäte zu den so-.
genannten anaeroben Krankheitserregern gehört, welche in Kul¬
turen nur unter vollständigem Abschluß von freiem Sauerstoff
gedeihen können. Selbst geringe Spuren von Sauerstoff können
das Wachstum der Keime hemmen, bezw. ganz unmöglich
machen. So ist es leicht verständlich, daß im lebenden Körper
das sauerstoffreiche Blut die den Syphilisspirochäten zusagenden
Lebensbedingungen nicht bieten kann. Damit soll natürlich nicht
gesagt sein, daß im strömenden Blut keine Spirochäten Vorkommen
können, was mit der Erfahrung im Widerspruch stände, noch
auch, daß sie hier schon nach kürzerer Zeit zugrunde gehen
müssen. Wir können nur sagen, daß sich die Spirochäten im
Blut sicherlich nicht so gut vermehren können, wie in den Lymph-
räumen. Übrigens sind nicht alle Spirochäteparten derartige
Lymphparasiten wie die Spirochaeta pallida, es gibt auch ausge¬
sprochene Blutspirochäten, wie die Spirochäten des Rückfallfiebers,
die Hühnerspirochäten und'dergleichen.
Leider sind vVir über die Ausbreitung der Lymphe im ner¬
vösen Parenchym, die Richtung ihrer Strömungen und viele
andere damit in Zusammenhang stehende wichtige Fragen noch
recht wenig unterrichtet, und es wäre sehr wünschenswert, auf
diesem schon wiederholt bearbeiteten Gebiete neue Untersuchungen
anzustellen. Es ist jedoch auch anzunehmen, daß außer den
erwähnten Lymphräumen der Gefäße auch unter der Pia sich
stärkere Lymphansammlungen und Strömungen vorfinden. Da¬
durch ließe sich auch die Ausbreitung der Spirochäten unter utH^
entlang der subpialen Grenzmembran erklären. Wahrscheinlich
hat der vaskuläre Verteilungstypus der Spirochäten Beziehung zu
den Lymphströmungen des Zentralnervensystems.
Weiter wird die Frage zu beantworten sein, ob der vasku¬
läre Typus in bestimmten Paralysefällen während der ganzen
Krankheitsdauer der ausschließliche oder vorherrschende Vertei¬
lungstypus ist, mit anderen Worten, ob bei den zahlreichen Para¬
sitenschüben, die während der ganzen Krankheitsdauer das Gehirn
befallen, in bestimmten Gehirnen immer der vaskuläre Vertei¬
lungstypus wiederkehrt, während in anderen z. B. die Spirochäten
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522
Jahn el,
sämtlich nach dem disseminierten Typus auftreten, oder aber, ob
. der vaskuläre Typus nur kurze Zeit besteht und dann andere
Formen, etwa den Typus der disseminierten oder herdförmigen
Verteilung der Parasiten annimmt. Im letzteren Falle wäre die
vaskuläre Anordnung der Parasiten nur eine Phase in der Aus¬
breitung der Krankheitskeime.
Da wir bei Autopsien verschiedener Paralysefällen die ver¬
schiedenen Stufen der Spirochätenaussaat zu Gesicht bekommen,
ist es denkbar, daß die vaskuläre Spirochätenverteilung im Ge¬
hirn lebender Paralytiker häufiger vorhanden ist, als wir sie nach
dem Tode zu sehen bekommen, indem es vom Zufalle abhängen
würde, ob der betreffende Kranke gerade in der Phase der vas-
knlären Parasitenausbreitung der Krankheit erliegt. £s ist mög¬
lich, daß jede multiple Spirochätenaussaat die Phase des vasku¬
lären Typus durchläuft und dann z. B. in den Typus der disse¬
minierten Verteilung übergeht. Ich habe bereits erwähnt, daß
auch Kombinationen des vaskulären Typus mit dem
herdförmigen und disseminierten Typus Vorkommen, und
zwar einerseits an denselben Stellen des Gehirns, andererseits
aber auch in der Weise, daß eine Stelle den reinen vaskulären
Typus aufweist, eine andere den rein disseminierten. Würde der
vaskuläre Typus nur eine Phase der Spirochätenansbreitung im
Zentralnervensystem darstellen, dann müßte es möglich sein, zu
verfolgen, wie sich aus diesem allmählich der herdförmige und
disseminierte Verteilungstypus entwickelt oder umgekehrt. In
manchen Fällen bestehen ja deutliche Beziehungen des herd¬
förmigen Typus zu von Parasiten stark befallenen Gefäßen, und
es bliebe eigentlich nur zu erklären, wieso die Zahl der Spiro¬
chätenherde meist eine sehr kleine ist, und wieso sich nur von
einzelnen Stellen weniger Gefäße aus derartige Herde bilden.
Doch erscheint mir diese Frage von untergeordneter Bedeutung,
wichtiger wäre es, Übergänge (nicht Kombinationen) von vas¬
kulärem und disseminiertem Typus aufzufinden. Diese sind mir
bisher nicht aufgestoßen, und ich weiß nicht, ob solche Über¬
gangsformen so gut charakterisiert wären, daß man sie auch als
Übergangsformen erkennen könnte. Ich habe bereits erwähnt,
daß auch bei der vaskulären Spirochätenverteilung Spirochäten
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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersnchungen usw. 523
im Bereich des nervösen Parenchyms Vorkommen. Aber die ge¬
schilderte Art ihrer Verteilung im Nervengewebe zeigt ihre Ab¬
hängigkeit von den befallenen Gefäßen. Bei den reinen Formen
des disseminierten Typus hingegen lassen sich Beziehungen zu
den Gefäßen nicht feststellen. Wenn wir also den Übergang des
vaskulären in den disseminierten Typus noch nicht nachweisen
konnten, so ist doch die Möglichkeit nicht zu leugnen, daß ein
Übergang zwischen dem vaskulären und disseminierten Typus
tatsächlich Vorkommen kann.
Aus den mikroskopischen Präparaten des vaskulären Typus
geht hervor, daß von stark mit Parasiten infizierten Gefäßen aus
Spirochäten sowohl in das benachbarte nervöse Gewebe als auch
in das Innere der Gefäße eindringen können. Die Tatsache, daß
das Paralytikerblut gelegentlich Spirochäten beherbergt, was
braves, ferner Levaditi durch Tierimpfungen bewiesen haben,
habe ich so gedeutet, daß Spirochäten durch die Hirngefäße in
die Blutbahn eingedrungen sind.
Auf Grund verschiedener Beobachtungen habe ich ange¬
nommen, daß die Spirochäten durch die Blutbahn ins Gehirn
verschleppt werden, daß später von einzelnen Stellen aus eine
Rückwanderung der Spirochäten in die Blutbahn stattfindet und
daß dieser „Kreislauf“ der Spirochäten sich immer wiederholt.
Ich möchte jedoch hier hervorheben, daß noch eine andere
Möglichkeit der Ausbreitung der Spirochäten im Gehirn besteht,
näpilich auf dem Wege der Lymphbahnen. Es ließe sich auch
denken, daß die Verbreitung der Spirochäten ausschließlich auf
dem Wege der Lymphbahnen stattfindet, und daß diesem Aus¬
breitungsmodus gegenüber die metastatische Verschleppung der
in das Blut eingedrungenen Krankheitskeime keine oder nur eine
sehr*untergeordnete Rolle spielt; mit anderen Worten, ich halte
es zwar nach wie vor für erwiesen, daß von bienenschwarmartigen
Herden und namentlich von den vaskulären Spirochätenverbänden
aus Spirochäten in die Blutbahn eindringen und im strömenden
Blut kreisen. Ob jedoch die im Blut kreisenden Spirochäten
später wieder in das Gehirn eindringen, kann nicht mit Sicher¬
heit behauptet werden. Es ist nicht unmöglich, daß Lymph-
strömungen und Lymphwege den Spirochäten die Möglichkeit
Z«ita«hrift Mr PsychUtrie. LXXV. 4/6. 36
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524
Jahnel,
bieten, von einer oder einzelnen Stellen aus das ganze Gehirn
zu überschwemmen, sich hier auszubreiten und dann wieder bis
auf einzelne Herde öder spärliche, im Nervengewebe verstreute
Parasiten zu verschwinden, ohne daß dabei die Spirochäten den
Weg durch den Körperkreislauf dabei zu Hilfe nehmen müssen.
Es sind demnach zwei Ausbreitungswege der Spirochäten möglich:
1. Der Blutweg, bei welchem die Verschleppung der Spiro¬
chäten von einem Orte des Gehirns nach anderen Stellen durch
den Körperkreislauf erfolgt.
2. Der Lyiüphweg, bei welchem die Lymphwege des Zen¬
tralnervensystems'die Ausbreitung der Parasiten vermitteln.
Selbstverständlich kann es auch sein, daß auf beiden Wegen
die Ausbreitung der Spirochäten erfolgt. Es lag mir nur daran,
darauf hinzuweisen, daß man sich die Ausbreitung der Spiro-
-chäten im Zentralnervensystem auch auf dem Lymphwege er¬
klären kann, ohne daß ich aber damit mit Bestimmtheit behaupten
möchte, daß dieser der wirkliche und einzige Ausbreitungsweg
sei. Ich bin mir jedoch wohl bewußt, daß die beiden, von mir
aufgestellten Möglichkeiten von der lymphogenen und hämatogenen
Ausbreitung der Spirochäten hypothetische Annahmen sind, welche
sich auf post mortem erhobene Befunde stützen, und daß alle
Reserve, die gegenüber der Deutung von Leichenbefunden am
Platze ist, gerade hier besonders angebracht erscheint. Aber wir
sind nun eben einmal darauf angewiesen, beim Studium dieser
Fragen uns auf Sektionsbefunde zu beziehen, da keine andere
Möglichkeit der Bearbeitung dieser Fragen besteht und wir die
Parasitenausbreitung im lebenden Gehirn nicht verfolgen können.
Meine Angaben über das Vorkommen von herdförmigen
Spirochätenansammlungen in der paralytischen Großhirnrinde sind
durch F. Sioli und Hauptmann bestätigt worden.
Hauptmann hat Spirochätenherde beschrieben, in deren
Zentrum die Spirochäten sich nur schwach bräunlich gefärbt
hatten, während sie an der Peripherie dieser Herde deutlich ge¬
färbt hervortraten und mit diesen Spirochätenherden einen eigen¬
artigen Befund im MßZ-Bilde in Zusammenhang gebracht, der in
einer homogenen herdförmigen Anfärbung >\'S Grundgewebes
besteht. Auch ich habe die Erscheinung der zentralen Braun-
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Uber einige neuere Ergebnisse von Spirochätennntersnchungen usw. 525
färbung in Spirochätenherden beobachtet, außerdem habe ich zu¬
weilen eine Brannfärbung von perivaskulären Spirochätenansamm¬
lungen beim vaskulären Typus der Spirochätenverteilung angetroffen.
Ich habe die Annahme gemacht, daß die Lebensdauer der
einzelnen Parasiten und Parasitengenerationen in der paralytischen
Hirnrinde keine große ist, daß sie ebenso rasch verschwinden,
wie sie gekommen sind. Ich habe nun neuerdings Beobachtungen
gemacht, die ich als „Abbau“ der Spirochäten zu deuten geneigt
bin. Man sieht nämlich zuweilen an Stellen stärkerer Parasiten¬
anhäufungen, und zwar ausschließlich an solchen, niemals in
parasitenfreien Zonen, schwarz gefärbte Kugeln und Schollen, die
größtenteils isoliert, liegen, zum Teil mit Spirochätenfäden in Zu¬
sammenhang stehen. Ein Teil der Spirochäten erscheint wie
gequollen. Die Spirochäten erscheinen als unförmige Stäbe, und
lediglich an der stellenweise an einzelnen Exemplaren erhalten
gebliebenen Spiralform kann man ihre Spirochätennatur erkennen.
Die geschilderten Kugeln und keulenförmigen Gebilde sind z. T.
wohl auch durch Einrollung entstanden, und ich habe auch schon
früher derartige Formen, die ich vereinzelt beobachtet hatte, be¬
schrieben. Man gewinnt den Eindruck, daß der Abbau der
Spirochäten sich in der Weise vollzieht, daß die Spirochäten zu¬
erst aufquellen, dann die argentophile Leibessubstanz zerfließt
und schließlich sich in Kugel- oder Keulenform znsammenballt.
Diese Gebilde sind meistens in Gruppen oder Reihen angeordnet.
Manchmal erscheinen mehrere derartige Elemente zu einem
größeren grobhöckerigen Gebilde verschmolzen, z. T. sind kleinere
und größere Schollen durch plumpe Stäbe verbunden. Auf diese
Weise können ganz eigenartige Figuren entstehen. Die genannten
Schollen sind oft dem Rande einer Ganglienzelle angelagert oder
liegen deren Fortsätzen auf. Es ist durchaus möglich, daß diese
Gebilde nicht als solche präformiert sind, daß sie vielmehr im
Leben eine flüssige oder teigige Beschaffenheit besitzen und erst
bei der Fixierung des Nervengewebes ihre endgültige Formung
erfahren. Zuweilen habe ich diese vielgestaltigen Gebilde an der
Peripherie von aus braun und rötlich gefärbten Spirochäten be¬
stehenden Herden angetroffen.
Die einzelnen Klumpen werden offenbar wie Abbauprodukte
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Jahnel,
anderer Herkunft z. T. von den Gliazellen anfgenommen, z. T.
durch Vermittlung der Lymphströme zu den Gefäßen transportiert,
in deren vaskulären und adventitiellen Räumen man dieselben
zuweilen in großen Mengen antreffen kann. Von anderen Abbau¬
produkten, die ähnliche Formen aufweisen können, unterscheiden
sich diese Gebilde durch ihre tiefschwarze Färbung. Ich bin
ihnen, wie bereits hervorgehoben, ausschließlich bei Fällen und
an Stellen mit vielen Spirochäten begegnet. Freilich wäre es
möglich, daß es sich um Abbauprodukte des Nervengewebes
handeln könnte, die eine direkte Folge der Spirochätenansiedlung
sind. Für die Spirochätennatur der fraglichen Gebilde scheint
mir namentlich die Beobachtung zu sprechen* daß sich einzelne
derselben aus Spirochäten ableiten lassen, und daß von solchen,
welche die Form der Spirochäten noch einigermaßen erkennen
lassen, eine kontinuierliche Reihe von Übergangsformen hinüber¬
führt zu den Schollen und Kugeln, die nicht die geringste Ähn¬
lichkeit mit Spirochäten besitzen. Ich verkenne nicht, daß die
Natur dieser Gebilde noch weiterer Erforschung bedarf. Indes
muß ich auch hervorheben, daß es mir bisher nicht gelungen ist,
dieselben mit anderen Methoden, insbesondere denen zur Färbung
der Abbauprodukte des Nervengewebes, zur Darstellung zu bringen.
Ich habe bereits bei der Besprechung der vaskulären Spiro¬
chätenanordnung eines Entstehungsmodus von Spirochätenherden
gedacht, nämlich des Zusammenfließens der perivaskulären Para¬
sitenhaufen zu einem einzigen großen Herde. Was die« Ent¬
stehungsweise der übrigen Herde anbetrifft, so ist für einen Teil
derselben die Entstehung von einem Gefäß aus anzunehmen.
Dies ist nicht aus der Beobachtung zu schließen, daß durch solche
Herde Gefäße hindurchziehen, was bei dem Gefäßreichtum der
paralytischen Rinde für jeden größeren Herd zutrifft und deshalb
gar nichts besagt. In diesem Sinne ließe sich lediglich die Tat¬
sache des häufigen Vbrkommens der Herdbildung beim vasku¬
lären Typus der Spirochätenverbreitung verwerten. Schließlich
ist auf die Beobachtung zu verweisen, daß auch Übergangsformen
zwischen den röhrenförmigen perivaskulären Parasitenmänteln
und den kugeligen, den Gefäßen aufsitzenden Herden Vorkommen.
Es gibt jedoch ganz kleine Herde, winzige Spirochätenkolonien,
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über einige neuere Ergebnisse von Spirochätenuntersuchungen usw. 527
welche zu keinem Gefäß Beziehungen aufweisen. Solche kommen
mit Vorliebe multipel vor. Mitunter erreicht die Zahl der die
Ganglienzellen umgebenden Spirochäten eine solche Höhe, daß
man auch hier von Herdbildung, in deren Zentrum die Ganglien¬
zelle liegt, sprechen kann.
Auch mit freiem Auge als schwarze Flecke erkennbare Riesen-
herde kommen vor ( Hauptmann ). Auch unter meinen Fällen be¬
endet sich ein solcher, der sich als dunkler Streifen in der tieferen
Rinde präsentiert.
Die einzelnen Spirochätenherde lassen sich noch nach einem
anderen Gesichtspunkte einteilen, nämlich nach ihrer Dichte.
Manche Herde, namentlich solche von Kugelform, sind außer¬
ordentlich dicht. Andere bilden mehr lockere Geflechte der
zopfförmig verschlungenen Spirochäten. Es kommt auch vor, daß
sich in einem größeren Herde Zentren besonders dichter Parasiten¬
ansammlungen vorfinden.
Ich habe bereits bei zwei Fällen, welche ganz verschiedene,
man könnte sagen, gegensätzliche anatomische Bilder darbieten,
ganz identische Spirochätenbilder aufgezeigt. Hieraus ergibt sich,
ebenso wie aus anderen Beobachtungen, daß wir zurzeit noch
nicht in der Lage sind, auf Grund der gebräuchlichen Färbe¬
methoden des Nervengewebes sagen zu können, ob ein bestimmter
Fall Spirochäten im Gehirn aufweist oder nicht. Hingegen dürfen
wir hoffen, daß uns Fortschritte in der histologischen Färbe¬
technik des Nervensystems auch in der Frage.des Zusammen¬
hangs der Spirochäten mit den paralytischen Gewebsveränderungen
noch manche wichtige Erkenntnisse vermitteln werden.
Wenn wir auch heute von einer tieferen Erkenntnis des
paralytischen Krankheitsvorganges und namentlich eines engeren
Zusammenhanges mit dem Krankheitserreger der Paralyse noch
weit entfernt sind, so glaube ich dargetan zu haben, daß die
Untersuchung derParalytikergehime auf Spirochäten schon manchen
interessanten und wichtigen Befund zutage, gefördert hat, und
daß die planmäßige Durchführung derartiger Untersuchungen noch
reiche Ausbeute verspricht, indem gerade auf diesem Gebiete der
Forschung sicherlich noch manche wichtige Tatsachen, die uns in
der Erkenntnis der Paralyse weiterzuführen geeignet sind, auf-
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528 Jahnel, Ober einige neuere Ergebnisse von Spirochätennnters. usw.
gefunden werden können. So dürfen wir hoffen, daß die Spiro¬
chätenuntersuchungen berufen sind, noch viele Lücken in unseren
Kenntnissen vom paralytischen Krankheitsprozesse auszufüUen.
In folgendem Literaturverzeichnisse sind nur die Ar¬
beiten angeführt, auf welche im Text Bezug genommen worden ist.
Förster u. Tomaszewski, Untersuchungen über die Spirochäte des Para¬
lytikergehirns. D. med. Wschr. 1914, S. 694.
Hauptmann, Über herdförmige Verbreitung der Spirochäten im Gehirn
bei Paralyse. Vortrag auf der 43. Wanderversammlung südwestd
Neurol. u. Psych. Baden-Baden, Mai 1918.
Jahnel, Über einige Beziehungen der Spirochäten zu dem paralytischen
Krankheitsvorgang.
Levaditi, A. Marie u. Bankowski, Le tröponeme dans le cerveau des para-
lytiques gönöraux. Ann. de l’Institut Pasteur Bd. XXVII.
Noguchi and Moore, A demonstration of treponema pallidum in the brain
in cases of general paralysis. Journ. of exp. med. Bd. 17.
Noguchi, Studien über den Nachweis der Spirochaeta pallida im Zentral¬
nervensystem bei der progressiven Paralyse und bei Tabes dor-
salis. Münch, med. Wschr. 1913, S. 737.
F. i Sioli, Die pathologische Histologie der Paralyse und die Spirochäten¬
befunde. Niederrhein. Ges. f. Natur- u. Heilkd. Bonn, 12. 11.17.
D. med. Wschr. 1918, Nr. 3.
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen
Hygiene und allgemeinen Wohlfahrtspflege.
Von
Direktor Dr. Max Flscher-Wiesloch.
Die Psychiatrie ist schon als Wissenschaft und Forschungs¬
gebiet sozial gerichtet. Überall stößt sie auf soziale Probleme,
auf Beziehungen zur menschlichen Gesellschaft, sei es im engen
Kreis der Familie (Erblichkeitsforschung), des Stammes, der Rasse,
sei es der engeren oder weiteren Umgebung des Kranken, der
Gemeinde, des Staates; überall ergeben sich ursächliche Zusammen¬
hänge mit den sozialen oder wirtschaftlichen Zuständen und Mi߬
ständen in der Allgemeinheit. Ohne Erforschung der sozialen
Ursachen und ohne sozial-medizinisches Handeln, besonders auch
in der Prophylaxe und Hygiene, also ohne soziale Psychiatrie
keine Psychiatrie. 'Vollends die angewandte praktische Psychiatrie
ist ohne stärksten sozialen Einschlag überhaupt nicht denkbar
und ist von jeher eine soziale Disziplin gewesen. Sie steht darin
allerdings nicht allein da, sie hat vielmehr die sozialen Be¬
ziehungen gemeinsam mit der allgemeinen Medizin, die auch ohne
namentliche Betonung dieses Moments in erster Linie sozial ist
und sein muß oder aber nicht ist. Wo immer im wahren Sinne
Heilkunde wissenschaftlich und praktisch ausgeübt wird, da wird
zugleich auch ganz von selbst die soziale Medizin in voller Wirk¬
samkeit bestehen und zu allen ihren Rechten kommen. Insofern
wäre es eigentlich gar nicht nötig, eine soziale Medizin oder
Psychiatrie als Spezialgebiete abzutrennen oder zu konstruieren;
sie ist einfach universell da in ihren vielseitigen Zusammenhängen
bei jedem einzelnen Krankheitsfall. Trotzdem hat es natürlich
sein Gutes, und es ist sehr zu begrüßen, daß die sozialen Seiten
unseres Faches mehr hervorgehoben, zusammengefaßt und auf
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530
Fischer,
Lehrstühlen besonders gepflegt werden, schon damit. gegenüber
der überwiegenden Betonung der reinen Wissenschaftlichkeit und
der reinen Forschung als selbständiger Aufgaben ein Gegengewicht
in der Hervorhebung der ausübenden Praxis und in der Beachtung
der so wichtigen allgemein menschlichen Zusammenhänge aus
dem wirtschaftlichen und sozialen Leben in unserem ärztlichen
Wirken geschaffen werde. In dieser Hinsicht muß die nächste
Zukunft noch viel mehr positive Arbeit als seither zutage fördern.
Sie wird geradezu unter dem Zeichen sozialärztlicher Gedanken
stehen sollen. Die Volksgesundheit, die Erforschung der Ursachen
ihrer Störungen aus den allgemeinen Wechselbeziehungen zwischen
Mensch und Natur, Klima," Kleinlebewesen, ferner zur Arbeit, zur
Gesellschaft und zum Staat, die Bewahrung der Volksgesundheit
vor allgemeinen Schädlichkeiten, woher sie auch kommen mögen,
also ganz besonders die Vorbeugung der Krankheiten, schlie߬
lich die positive Förderung der Völksgesundheit nach den Er¬
gebnissen der ärztlichen, hygienischen, sozialen und volkswirt¬
schaftlichen Forschung, das alles gehört in den Kreis der sozi¬
alen Wohlfahrtspflege, worunter wir die soziale Hygiene und
Fürsorgearbeit in allen ihren Zweigen zusammenfassend begreifen.
Noch weit mehr als die allgemeine Medizin ist aber nun der
irrenärztliche Beruf von sozialem Geist und Handeln erfüllt.
Es ist kein Fall von Geisteskrankheit denkbar, der nicht auch
einfache oder komplizierte soziale Aufgaben, und zwar meist in
der Mehrzahl, stellt.
Wer immer in der Geschichte den ersten Geisteskranken behandelt
und gepflegt hat, hat zugleich auch praktisch soziale Psychiatrie getrieben.
Auch der einfachste Fall erforderte sorgfältige Beachtung des Verhaltens
des Kranken zu seiner Umgebung wie nicht minder der Umgebung zu
ihm, aber auch der allgemeinen Verhältnisse der Umgebung und ihrer
Wirkung auf den Kranken. Die Fürsorge für den kranken Menschen in
sozialem Sinne trat so ganz von selbst als Hauptforderung auf, Abhaltung
von Reizen und ungeeigneten Einflüssen aus der lebenden engeren und
weiteren Umgebung, aus der Familie, aus der Gesellschaft; gegenteils
Rücksichtnahme der menschlichen Gesellschaft auf den Kranken, dann
wieder Bewahrung der Allgemeinheit vor den Krankheitsäußerungen des
Geisteskranken, vor seinen sinnlosen und gefährlichen Handlungen gegen
sich selbst oder andere; kurz fürsorgliche Maßnahmen jeder Art, teils für
den Kranken zum Schutz vor der Gesellschaft, teils für die Gesellschaft
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene osw. 531
zum Schutz vor dem Kranken und seinen Verkehrtheiten. Im Beginn
der Zeiten unter den damaligen einfachen Lebensverhältnissen mochte
ein natürliches menschliches Mitfühlen und ausübende praktische Nächsten¬
liebe im Sinne des barmherzigen Samariters genügen, um ohne viel Nach¬
denken die zweckmäßigsten Fürsorgemaßnahmen zu finden. So z. B.
sehen wir, wie im alten Griechenland die Geisteskranken aus der Familie
unter die Obhut der Priester gebracht und im Frieden der an die Götter¬
tempel sich anschließenden heiligen Haine unter Anwendung von Bädern,
reichlichem Aufenthalt im Freien und psychischer Einwirkung der Heilung
* entgegengeführt wurden.
Die Grundlagen unseres irrenärztlichen Handelns in und außerhalb
der Irrenanstalten sind bis auf den heutigen Tag im ganzen dieselben
geblieben. Die soziale Fürsorge für den Kränken steht auch jetzt noch
im Vordergründe aller Maßnahmen am Kranken, insbesondere auch der
eigentlich irrenärztlichen. Nur hat natürlich die Vervollkommnung der
menschlichen Gesellschaftsordnung und der Gesetzgebung, außerdem die
Veränderung und Komplizierung sämtlicher Lebensverhältnisse, insbe¬
sondere auch die Siedelung, die Anhäufung der Menschen in Städten und
Großstädten auch die Form der Fürsorge bedeutend verändert, vervoll¬
ständigt und verfeinert. Anstelle der früheren Einfachheit und Natürlich¬
keit ist eine große Differenzierung der Fürsorgemaßregeln je nach Lage
des einzelnen Falles, besonders stark unter städtischen Verhältnissen,
nötig geworden: Zuerst Versuch der häuslichen Pflege und ärztlichen Be¬
handlung, dann vielfach Überführung und vorläufige Unterkunft im
städtischen Krankenhause, damit einerseits der Kranke die Ruhe des
Hauses und der eng gedrängten städtischen Bewohner nicht stört oder der
Familie anderweitige Ungelegenheiten bereitet, andererseits nicht selbst
durch den Lärm der Stadt beunruhigt werde, ebenso aber, um ihn und
seine Umgebung vor Gefahren, die aus seinem Krankheitszustande er¬
wachsen, zu bewahren. Sodann unter Durchführung des Aufnahmever¬
fahrens die mit aller Vorsicht auszuführende Überführung in die zuständige
Irrenheilanstalt zur sachgemäßen Behandlung. Später bei chronischem
Verlaufe unter Umständen die Verbringung in die vorgesehene Übernahme-
anstalt, dann vielleicht Anwendung der Familienpflege von der Anstalt
aus und unter ihrer ärztlichen Kontrolle, schließlich bei eingetretener
Heilung oder Besserung Zurückführung in die Familie. Während des An¬
staltsaufenthalts Abhaltung von Schädlichkeiten von außerhalb, auch
seitens der Familie (unnütze Besuche, Korrespondenz), richtige Beein¬
flussung der Angehörigen; aber auch anderseits Fürsorge für die Familie
des Erkrankten teils durch die geordnete Armenpflege, teils durch Be¬
ratung und Unterstützung seitens der Organe des Irrenhilfsvereins in den
verschiedensten Beziehungen des bürgerlichen Lebens (Haushaltfürsorge,
Kinder- und Erziehungsfürsorge, Fortführung des Geschäfts, Sicher¬
stellung aller materiellen und ideellen Interessen usw.). Nach oder schon
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532
Fisch er,
besser vor der Entlassung des Kranken entweder Sorge für Beschaffung
einer geeigneten Arbeitstelle oder eines weiteren Erholungsaufenthaltes,
sodann regelmäßige Nachschau nach dem Ergehen des Kranken, Rat und
Förderung in allen Lebenslagen, sowohl beim Kranken selbst als bei seiner
Familie (Kinder). Bei Rückfällen rechtzeitiges Eingreifen, Verhüten der
Verschlimmerung oder aber Rückverbringung in die Heilanstalt. Eine
besondere Vorsicht ist geboten für die vielen selbstgefährlichen oder
gemeingefährlichen Kranken (besonders auch die kriminellen), seien sie es
gewesen oder seien sie es noch, um diese Kranken vor sich selbst oder die
Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Darnach müssen sich die ärztlichen
Fürsorgemaßnahmen sowohl innerhalb der Anstalt als später außerhalb
richten. Die Frage der Entlassung wird bei ihnen besonders vorsichtig
zu behandeln und nach derselben für gewissenhafte Überwachung, Schutz¬
aufsicht, gut gewählte Pflege und Arbeitstelle zu sorgen sein.
Wie man sieht, eine Fülle von höchst nötigen, hier lange nicht voll¬
zählig aufgeführten Einzelaktionen, die bei jedem Kranken je nach seinem
Krankheitszustande, seiner persönlichen Eigenart, aber auch nach den
Besonderheiten seiner sozialen Lage variiert werden müssen.
Man erkennt schon hieraus, wie in der Psychiatrie soziale Arbeit
ganz unabtrennbar ist von der täglichen Berufsausübung. Dies liegt in
der Natur der Sache selbst d. h. in der besonderen Art der Krankheits¬
zustände, mit denen wir es zu tun haben-, innerlich begründet. Der Geistes¬
kranke kann nicht, wie in der Regel der körperlich Kranke, auch der
schwer Kranke, selbständig über sich, seine Familie, seine gesamten An¬
gelegenheiten bestimmen, sondern entweder müssen diese Dinge im Inter¬
esse seiner Behandlung und Heilung als schädliche Reize oder Quelle
neuer krankhafter Vorstellungen peinlich von ihm abgehalten werden,
oder aber sein geistiges Leiden hat seine Verstandeskräfte vorübergehend
oder dauernd so geschwächt, daß er nicht mehr oder nicht mehr ganz
als verfügungsfähig und geschäftsfähig betrachtet werden kann bzw.
daß er, ließe man ihn frei gewähren, entweder die verkehrtesten und
seinen eigensten Interessen abträglichsten Handlungen begehen oder
aber durch krankhaftes Nichtstun und Unvermögen alles vernachlässigen
und dadurch womöglich noch größeren Schaden für sich und die Seinen
anstiften würde. Daher das notwendige Mehr an Fürsorge und an Ver¬
antwortung bei seiner Interessenwahrung gegenüber dem körperlich
Kranken, der, wenn überhaupt, so nur vorübergehend in der Ausübung
seines .Selbstbestimmungsrechtes verhindert ist. Beim Geisteskranken
müssen alle diese vielen Entscheidungen des täglichen Lebens, das Neben¬
sächliche wie das Wichtige, von ihm abgenommen und für ihn besorgt
werden, und zw r ar in dem Sinne, wie er es selbst tun würde, falls er ge¬
sund entscheiden könnte, damit er, so behütet, durch seine Krankheit
nicht zu Schaden komme weder für seine Person noch für seine engere
Gemeinschaft, die Familir. Es kann sich dabei um eine Fülle von sehr
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 533
verantwortungsvollen Geschäften handeln, und wer damit betraut ist, der
sieht sich unter Umständen vor eine umfangreiche und zwar in sich dank¬
bare, aber keineswegs immer des Dankes sichere Aufgabe gestellt, auch
wenn er die besten Absichten hat.
Die soziale Fürsorge an jedem Geisteskranken beginnt sonach zum
mindesten mit dem ersten Tage seiner Erkrankung, bei vielen sogar schon
lange vorher, wenn wir wirksam Prophylaxe, die vornehmste unserer
ärztlichen Pflichten, betreiben wollen (Eheberatung, Gesundheitszeugnis
vor der Ehe usw.), und sie erstreckt sich auf den ganzen Verlauf der Er¬
krankung bis zur Genesung und selbst darüber hinaus, weit in die gesunde
Zeit hinein, also auch über den Anstaltsaufenthalt hinaus in das bürger¬
liche Leben des Entlassenen, wenn sie allen Anforderungen und Bedürf¬
nissen gerecht werden will. Die Fürsorge bleibt auch nicht beschränkt
auf den einzelnen Kranken selbst, sondern sie muß seine nächste Um¬
gebung, vor allem seine Familie, Kinder usw. in Betracht ziehen, will sie
in der Tat sich richtig sozial auswirken und prophylaktisch und hygienisch
alle Möglichkeiten erschöpfen. Ja, sehr oft ist dieser Teil der Fürsorge,
die Familienfürsorge im weitesten Umfange, der bei weitem wichtigere,
besonders wenn und solange der Kranke selbst in Anstaltsversorgung sich
befindet. In vielen solchen Fällen handelt es sich auch nicht nur um die
Fürsorge für die Person des Kranken und die Personen der Familie, sondern
auch um die Sicherstellung der ideellen und materiellen Güter des Kranken
und seiner Familie, also seines Geschäfts, seiner Erwerbsquellen, seiner
bürgerlichen und sozialen Rechte usw. Man sicht, wie ein Fürsorgefall
für sich allein weite Kreise zieht und eine Vielheit von sozialen Maßnahmen
ganz von selbst herbeiführt. Und ganz von selbst greift ein solcher Fall
auch über auf einen kleinen oder größeren Teil der nächsten Umgebung,
der Gemeinde usw., und ruft dort Wechselwirkungen hervor, die gleichfalls
beachtet und in soziales Handeln umgesetzt werden müssen.
Wie geistige Erkrankung in jedem Lebensalter, vom Kinde bis zum.
Greise, einsetzen kann, so muß sich auch die Fürsorge dieser Tatsache
anpassen und sich in ihren Einrichtungen den verschiedenen Lebensaltern
entsprechend formen. Andere Bedingungen ergeben sich beim kleinen
Kinde, andere bei der heranwachsenden Jugend, andere* bei Familien¬
vätern oder Müttern, andere im Greisenalter. Auch die verschiedenartigen
Berufsarten erfordern vielfach Besonderheiten in der Fürsorgetätigkeit,
wie hier wohl nicht näher erörtert zu werden braucht.
Einen weiteren Unterschied bringt die Form der geistigen Erkrankung
mit sich. Anders die Fürsorge bei der akuten heilbaren Psychose mit ihren
vielgestaltigen, genau zu beachtenden Einzelzügen, wo oft von gering¬
fügigen, im gewöhnlichen Leben kaum beachteten Einzelhandlungen das
Gelingen oder Mißlingen des Heilplans abhängt, wo alles auf peinliche
Abhaltung von psychischen Schädlichkeiten allgemeiner oder besonderer
Art ankommt, anders beim chronisch verlaufenden Fall, der für seine
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Fischer,
Person außer der Anstaltspflege selbst wenig Abwechslung in der eigentlich
sozialen Fürsorgetätigkeit verlangt, dafür aber desto längere Zeit, viele
Jahre, oft bis zum Lebensende dieses Maß der Fürsorge nicht entbehren
kann. Bei ihm gerade tritt, besonders wenn er dauernd in Anstaltsver¬
sorgung lebt, die Fürsorge der Gesellschaft für die Person des Kranken
ganz zurück gegenüber der sozialen Fürsorge für die einmal gesund ange¬
nommene Familie des Kranken (Kinderfürsorge, Kindererziehung, Auf¬
rechterhaltung des Haushalts und des Geschäfts). Außer diesem allge¬
meinen Unterschied zwischen akutem und chronischem Krankheitsverlauf
fordert aber jede von den vielen psychischen Krankheitsformen auch ihre
besondere Art der Fürsorgebetätigung. Der Manische, der Depressive,
der Paranoische, der Halluzinant, der Haltlose, um nur wenige Typen zu
nennen, ist ganz verschieden anzufassen, und jeder einzelne Mensch bringt
durch die ihm eigene Charakterartung noch seine eigene Note ins Krank¬
heitsbild. Dazu kommen die Besonderheiten in der' Familie und näheren
Umgebung. So gestaltet sich die Einzelfürsorge in der sozialen Psychiatrie
außerordentlich verschiedenartig und stellt gerade deshalb eine abwechs¬
lungsreiche und reizvolle Tätigkeit dar für den, der sie individuell zu be¬
leben und gewissenhaft in humanem Geist wahrzunehmen versteht.
Ein weiterer sehr wichtiger Umstand’, der gleichfalls bei vielen, nicht
allen, körperlichen Krankheiten fehlt, tritt darin zutage, daß ein Fall von
Geisteskrankheit sehr oft nicht allein für sich vorhanden ist, sondern daß
in einer Familie gleichzeitig oder nacheinander mehrere Fürsorgefälle von
ganz verschiedener Art bestehen können, mit anderen Worten: die Geistes¬
krankheit kann infolge der Wirkung der Erblichkeit als Familienkrankheit
auftreten: Fälle von außerordentlicher Häufung sind leider nichts Seltenes.
Statt vieler will ich hier nur zwei markante Beispiele anführen. Der Ehe¬
mann ist starker Trinker und moralisch verkommen (geschlechtlich aus¬
schweifend, geschlechtskrank, Sittlichkeitsvergehen an Kindern, zuletzt
.am eigenen, Zuchthaus). Über all dem Unglück ist die Ehefrau im letzten
Wochenbett geistig erkrankt. Von 6 Kindern sind die älteren gesund, die
jüngeren schwächlich und kränklich, eins epileptisch. Von einer anderen
Familie sind in unserer Anstalt der Ehemann seit langer Zeit an Dementia
paranoides, die Ehefrau an zirkulärem Irresein, 2 erwachsene Söhne an
Dementia praecox, 1 Tochter ist nervös leidend. Man kann sich leicht
vorstellen, welche Fülle von Aufgaben in einer einzigen solchen Familie
für die sozial-psychiatrische Fürsorge und für die individuelle Familien¬
fürsorge überhaupt erwachsen. Ungezählte weitere Beispiele, wenn auch
nicht alle von so krasser Art, ließen sich aufstellen. Unserem Spezialfach
der Psychiatrie gehören noch die weiten und überaus wichtigen Gebiete
der Epilepsie, der Imbezillität, der Idiotie und des Kretinismus zu. Wie
häufig haben Krankheitsfälle dieser Art ihren Sitz unter der Jugend
gerade der erblich belasteten Familien, aber auch der Trinker, der Ge¬
schlechter mit Inzucht usw. Auf die Bedeutung der Bekämpfung dieser
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene nsw. 535
Volkskrankheiten für Eugenik und Volksgesundheit überhaupt näher
einzugehen, darf ich mir vor Fachgenossen versagen, wissen wir doch alle
zur Genüge, wie störend jeder solche Fall ins Familienleben und Familien¬
glück einschneidet.
Schon ans dem bisher Vorgetragenen ist ersichtlich, wie eng
and wie häufig die Irrenfürsorge mit anderen, man kann ruhig
sagen, mit allen Fürsorgegebieten verbunden ist. In prophylak¬
tischer und volkshygienischer Beziehung sei .hier an die Be¬
strebungen der Rassenhygiene und Rassenverbesserung, an den
Kampf gegen die Keimvergiftung durch Alkohol und Geschlechts¬
krankheiten (nicht nur Lues, sondern auch Gonorrhoe, die bei
den Männern die Zeugungskraft schwächen oder aufheben und
vor allem auch bei Frauen schwere Schädigungen der inneren
Geschlechtsorgane bis zur Vernichtung 'der Mutterschaft setzen,
also durch hartnäckige -Leiden das Eheglück stören und selbst
die psychische Gesundheit untergraben kann), an die Verhütung
der Keimverschlechterung durch Eheerscbwerung und Eheverbot
bei schwer degenerierten Geisteskranken, bei Idioten und
schweren Epileptikern usw. erinnert. Gleich wichtige Bezie¬
hungen bestehen zwischen sozialer Psychiatrie und der Säug¬
lings-, Kinder- und Jugendfürsorge (Schulhygiene, Schwach¬
begabtenschule, Pflege der schwer Erziehbaren, Fürsorgeer¬
ziehung, Jugendgerichte, Blinden-, Taubstummen- und Krüppel¬
fürsorge usw.). Noch engere Zusammenhänge ergeben sich mit
der Sorge für die Nervösen, der Nervenheilstättenfrage, der Unter¬
bringung der Grenzzustände, der Trinkerfürsorge usw. Aber auch
mit allen anderen Wohlfahrtsbewegungen (Gefangenenfürsorge,
Gewerbehygiene, Arbeiterschutz und -Versicherung, Wohnungs¬
hygiene und Wohnungsfürsorge, Wochenhilfe, Mutterschutz, Fa¬
milienversicherung, Kampf gegen die wichtigsten Volkskrankheiten,
Infektionskrankheiten im allgemeinen und Tuberkulose im be¬
sonderen) lassen sich ungesucht überaus häufige Beziehungen zur
sozialen Irrenfürsorge feststellen. Sie ergeben sich schon aus
dem einfachen Grunde, weil einmal jeder Geisteskranke auch
körperlich krank und noch in anderer Richtung fürsorgebedürftig
werden kann und weil zweitens bei jedem sonstigen Leidenden
oder unter irgendeiner Form der Fürsorge Stehenden wenigstens
die Möglichkeit besteht, daß er in Geisteskrankheit gerät und
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Fischer,
damit der Irrenfürsorge anheimfällt. Und zwar sind die Be¬
rührungspunkte so zahlreich vorhanden, daß wohl kein einziger
Fall von Geisteskrankheit zu nennen sein wird, wo nicht in der
Tat ein oder meistens sogar mehrere dieser Zusammenhänge, sei
es am Kranken selbst sei es in seiner Familie, nachzuweisen
sind, wo also zu der psychiatrischen Fürsorge hinzu jene anderen
Fürsorgegebiete durch ihre besonderen Fürsorgeorgane wahrzu¬
nehmen sind. So spielt die Psychiatrie überall hinein und zwar
meist in einer wichtigen Rolle; oft ist sie der Ausgangspunkt,
oft ein Verbindungsglied.
Wie sie selbst aber mit den anderen Gebieten im Zusammen¬
hang steht, so zeigen auch jene Fürsorgezweige wieder unter
sich ebenfalls zahlreiche Beziehungen und treffen nicht selten am
selben Krankenbett oder wenigstens in derselben Familie zusammen.
Angesichts dieser dichten Verknüpfung und Verstrickung
aller sozialen Fürsorgezweige untereinander und mit der sozialen
Psychiatrie im besonderen ist es nicht zu verwundern, daß schon
seit einigen Jahren von verschiedenen Seiten Bestrebungen im
Gange sind, sämtliche sozialen und hygienischen Fürsorgegebiete in
einer einzigen Gesamtorganisation zu umfassen. Sowohl Ver¬
waltungsmänner und medizinische Sachverständige, Kreisärzte,
soziale Hygieniker und Psychiater wie auch erfahrene Praktiker
der Fürsorge haben sich im gleichen Sinne ausgesprochen und
suchen alle nach einer solchen Vereinigung, einesteils zu dem
Zwecke, ein gemeinsames und darum desto wirksameres System
der Fürsorgemaßnahmen zu schaffen, und zweitens, um eine doppelte
oder mehrfache und deshalb unnötige Detailarbeit am selben
Objekt zu vermeiden. Es gehört also dazu einmal eine ver¬
nünftige Zentralisation zur möglichst vollkommenen Erfassung
aller Fürsorgebedürftigen und zur Bearbeitung aller Fürsorgegebiete
nach einheitlichen Grundsätzen, und es gehört zweitens dazu die
ebenso nötige Dezentralisation zur Durchführung der besten In¬
dividualfürsorge am einzelnen Menschen oder, wie wir es auf¬
fassen müssen, an der einzelnen Familie, da sich, wie oben gezeigt
wurde, aus dem Fürsorgefall des einzelnen immer Beziehungen
zu anderen Gliedern derselben Familie ungezwungen ergeben.
Die soziale Individualfürsorge ist also immer zum mindesten
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 537
Familienfürsorge. Treiben wir gesunde Familienfürsorge, so
ergeben sich ganz von selbst die weiteren Beziehungen zur mensch¬
lichen Gesellschaft, zur Gemeinde, zum Staat, und ebenso überträgt
sich der Nutzen, der Erfolg dieser individuellen Familienfürsorge
ganz von selbst auf die größere Gemeinschaft, auf das Volk.
Der Zusammenhang aller Einzelglieder der Fürsorgetätigkeit zur
großen Gesamtorganisation, die ihrerseits wieder von allgemeinen
Gesichtspunkten aus befruchtend auf die Detailtätigkeit wirkt, ist
so schon vom Ausgangspunkte, vom einzelnen und der Familie
an ganz zwanglos gegeben.
Für die Organisation der sozialen Irrenfürsorge habe ich
schon in meinen früheren Schriften 4 ) Richtlinien gegeben und
gezeigt, wie in Anlehnung an die staatlichen Verwaltungsbehörden
eine generelle Hilfetätigkeit entwickelt werden kann. Dort ist
auch angegeben, in welcher Weise die Irrenärzte und die Irren¬
anstalten sich bei diesen Aufgaben der Psychiatrie außerhalb der
Anstalten zu betätigen hätten, wie insbesondere die Irrenanstalt
als Zentrum und Zentralstelle für alle diese Bestrebungen, jede
in ihrem Aufnahmebezirk, zu gelten habe, wobei die Anstaltsärzte
in der Form von Besuchsreisen die Bezirke aufsuchen und die
nötigen ärztlichen Unterweisungen im allgemeinen wie in der
Individualfürsorge im besonderen geben können. Die besten
deutschen Irrenhilfsvereine arbeiten auf ähnliche Weise; leider ist
cs aber noch nirgends zur strikten Durchführung eines alle Fälle
erfassenden Fürsorgesystems in unserem Sinne der praktischen
Familienfürsorge gekommen. Und doch werden wir, das ist meine
sichere Überzeugung, nur auf diesem Wege zu einem gesunden
und wirklich allgemein durchgreifendem sozialen Arbeiten gelangen.
Ähnlich wie die soziale Irrenfürsorge für sich gedacht ist,
müßte auch die alle Fürsorgezweige umfassende Gesamtorganisa¬
tion ausgebildet werden. Auch hier ergibt sich als das Natürlichste
die Anlehnung an die Einteilung der inneren Verwaltungsbehörden
*) 1. „Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Gebiete der Irrenfür¬
sorge.“ 1901. 2. „Schutz der Geisteskranken in Person und Eigentum.“
1902. 3. „Laienwelt lind Geisteskranke“. 1903. 4. „Neue Aufgaben
der Psychiatrie in Baden.“ Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 69, 1912, S.
34 u. f.
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Fischer,
des Landes, an die Amtsbezirke, Ereisämter usw., d. h. an
Verwaltungskörper von der Größe von etwa lOOOO oder 15000
bis 30000 und 50000 Einwohnern, die also keinen allzu großen
Umfang haben and noch einigermaßen übersehbar.sind. Solche
Verwaltungsbezirke haben vor größeren den Vorteil, daß ein Be¬
amter, zumal wenn er längere Zeit im Bezirk seßhaft bleibt, die
Interessen der Bevölkerung, die sozialhygienischen Bedürfnisse und
Notwendigkeiten genau bis ins einzelne kennt und darnach auch
die Organisation der Fürsorgetätigkeit in allen ihren Zweigen am
zweckmäßigsten zu gestalten versteht. Größere Städte in solchen
Amtsbezirken werden am besten als besondere Unterbezirke aus¬
geschaltet und für sich behandelt, -da sie ja auch eine gesonderte
Gemeinde mit eigener Verwaltung darstellen und außerdem in
der Fürsorge wegen der Häufung der Anforderungen unter den
städtischen Verhältnissen eine eigene Regelung erheischen. Jede
größere Stadt und noch mehr die Großstadt wäre dann für sich
wieder in kleinere Pflegebezirke einzuteilen und für jeden eine
Fürsorgestelle zu errichten. Sowohl im Stadt- wie im Landbezirk
bekämen wir es so mit einem Netz von einander in die Hand
arbeitenden Fürsorgestellen zu tun. Jede Fürsorgesteile besorgt
alle Fürsorgezweige ohne Ausnahme und erhält dafür so viel
Kräfte zugewiesen, als sie für ihren Bezirk bedarf. Jeder Leiter
einer Fürsorgestelle teilt die Arbeit an die einzelnen Fürsorge¬
personen aus. Bei ihm werden alle Fälle von Hilfsbedürftigkeit
angemeldet. Die ganze Fürsorge eines größeren einheitlichen
Fürsorgebezirks, als welchen wir den Verwaltungsbereich eines
Bezirksamts, Kreisamts mit inliegender größerer oder kleinerer
Amtsstadt und einer Mehrzahl von Gemeinden angenommen haben,
würde in einer eigenen Behörde mit teils amtlichem teils chari-
tativem Charakter, einem Wohlfahrtsamte zusammengefaßt
und von ihm nach einheitlichem Plan ausgeübt werden. An die
Spitze eines solchen verantwortungsvollen und vielseitige'Aufgaben
stellenden Postens denken wir uns überall den Vorstand des Be¬
zirksamts selbst oder seinen Stellvertreter, den zweiten Beamten,
gestellt. Bei ihm laufen alle Fäden der Bezirksfürsorge zusammen.
Er ist der Entscheidende über alle Fürsorgemaßqahmen, besonders
auch über die Unterstützungen aus der Vereinskasse. Ihm bei-
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 539
gegeben ist ein gewählter Ausschuß, der vor allem die Ärzte,
insbesondere die Bezirks- oder Kreisärzte als die eigentlichen
Gesundheitsbeamten und ärztlichen Sachverständigen, die Geist¬
lichen, ferner Vertreter der Gemeinde und der Krankenkassen,
sodann die eigentlichen Fürsorgepersonen, männliche und weibliche,
und schließlich noch einige Vertreter aus der Arbeiter- und Bürger¬
welt, Männer und Frauen, die sich in der Fürsorgetätigkeit be¬
sonders auszeichnen und darin die ‘größte praktische Erfahrung
haben, in sich faßt. Dieser geschäftsführende Ausschuß wird
ergänzt durch freiwillige Hilfspersonen, Helfer und Helferinnen,
die unter Anleitung' und Aufsicht der eigentlichen Berufsfürsorger
stehen und sie in der Arbeit unterstützen. Den Rückhalt und
die Oberaufsicht durch staatliche Organe und zwar die Spitzen
der inneren Verwaltung halten wir für ebenso nötig und unent¬
behrlich wie andererseits die praktische Hilfetätigkeit durch beruf¬
liche und freiwillige Mitarbeiter aus dem Volke oder besser aus
allen Volkskreisen, die sich hier zu gemeinsamem Wohltätigkeits¬
werke am Volke zusammenfinden. Diese korporative Fürsorge¬
organisation soll nun alle aus irgendeinem Grunde Fürsorge-
bedürftigen erfassen und in Pflege nehmen. Sie wendet sich also
in erster Linie den Armen und Wenigbemittelten zu, nicht zum
mindesten auch den verschämten Armen. Dabei wird sie sich
jeweils aber auch mit den Verpflichtungen der Armenpflege und
den staatlichen Versicherungseinrichtungen (Krankheits-, Unfall-,
Alters- und Invaliditätsversicherung usw.) auseinanderzusetzen
haben, damit deren Leistungen unter allen Umständen für ihre
Klienten nutzbar gemacht, die Mittel der Fürsorge selbst aber
nur in Anspruch genommen werden, wo jene Einrichtungen nicht
einzuspringen haben oder aber nicht ausreichen. Die Fürsorge¬
organisation wird sich hier häufig auf guten Rat, auf Beihilfe und
Vermittlung der fälligen Unterstützungen beschränken können und
hauptsächlich für dererr zweckmäßigste Verwendung im Haushalt
der betreffenden Familie zu sorgen haben.
Auf dem Wege, da zu helfen, wo die Not am größten ist,
wird die Fürsorge von selbst dazu kommen, außer den Ortsarmen
vor allem auch die sogenannten kleinen gesicherten Existenzen
des Mittelstands einzubeziehen, die häufig dieser Hilfe viel
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/5. 37
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Fischer,
dringender bedürfen, als die Armen selbst, weil ihnen deren all¬
gemeine Hilfsmittel versagt sind, oder weil sie aus berechtigtem
Eigengefühl öffentliche Mittel und Wege zu benützen sich scheuen.
Diese kleinen Leute und ihre Familien in ihrer ideellen Selbständig¬
keit und materiellen Unabhängigkeit und damit vor dem Versinken
in Armenpflege zu bewahren, scheint mir eine Hauptaufgabe, ja
die bei weitem sozial und volkswirtschaftlich wichtigste Aufgabe
unserer Fürsorgeorganisationen zu sein, insbesondere bis einmal
die Familienversicherung auch für diese Kreise durchgeführt
und bei Krankheit sie in ihrer Lebenshaltung zu erleichtern im¬
stande sein wird. Überall, wo die öffentliche-Fürsorge nicht hin¬
reicht, und überall, wo sie nicht ausreicht, da muß die Wohlfahrts¬
pflege ergänzend und rettend einsetzen. Das muß die Quintessenz
ihres Handelns sein. /
Von größter Wichtigkeit ist dabei, daß die Arbeit sich nicht
etwa nur auf solche Fälle beschränkt, die, sei es aus eigenem
Antrieb sei es durch Meldung von' außen, an die Fürsorgestellen
gelangen, sondern daß die Organe der Hilfsvereinstätigkeit selbst
in ihren Bezirken wachsame Umschau halten und ihnen auffallende
Besonderheiten von überall her aufnehmen. Insbesondere bei
Familien, in die sie aus irgendeinem Grunde gerufen worden
sind, oder von deren Bedürftigkeit sie auf einem andern Wege
Kenntnis erhalten haben, muß man die erweiterte Familiengemein¬
schaft, die Sippe in unauffälliger Weise durchforschen, um jedes
einzelne Fürsorgebedürfnis zu erfassen und so nach und nach die
ganze Familie, jede nach ihrer Besonderheit, unter die ihr nötige
Gesamtfürsorge und damit wieder auf den Weg der Sanierung
und des sozialen und wirtschaftlichen Aufstiegs zu bringen. Man
darf also nicht warten, bis man gerufen wird, sondern man soU,
ungerufen, wenn auch unaufdringlich und mit dem hier besonders
angebrachten Taktgefühl, von sich aus in die Quartiere und Häuser
der Armen und Bedürftigen gehen und sehen, wo es fehlt und
wie geholfen werden kann. Es gilt jede durch körperliche, nervöse
oder geistige Erkrankung oder Krankheitsanlage irgendwelcher
Art verursachte Hilfsbedürftigkeit in der betreffenden Familie
nachzuweisen und für jeden Fall die zweckmäßigste Fürsorge¬
maßnahme vorzukehren. Wir wollen für jeden Volksgenossen
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 541
von der Wiege bis zur Bahre den Gesundheitsschutz schaffen,
dessen er bedarf, und worauf der Arme so gut wie der Begüterte
ein inneres Anrecht hat. Mehr wie je gilt es in dieser Zeit des
Zusammenbruchs unserer Nation, des fürchterlichsten aller Zeiten,
das Einzelindividuum und die Familie, das wichtigste Volkskapital,
das wir noch haben, gesund zu erhalten oder wieder gesund zu
machen, von den allgemeinen Menschenrechten mit das wichtigste,
das auf Wahrung seiner Gesundheit, auch dem letzten von uns
zu sichern. Erst die Gesundheit verleiht ihm den vollen Genuß
aller übrigen Rechte und Freiheiten.
Bei der Detailfürsorge wird ferner darauf zu achten sein, daß
in einer Familie nicht zu viele Fürsorgepersonen tätig sind,
sondern wo immer möglich nur eine, die auf verschiedenen Für¬
sorgegebieten bewandert ist, wie das ja in der Regel zutreffen
wird. Es soll damit eine unnötige Vielgeschäftigkeit und Doppel¬
betätigung, die gewöhnlich doch nur störend wirkt und Unfrieden
schafft, vermieden werden. Ganz durchführen wird sich dieser
Grundsatz allerdings nicht lassen; so z. B. kann es nicht angehen,
daß die Fürsorgeperson, die sich mit Infektions- oder Geschlechts¬
krankheiten abgibt, auch die Wochenbett- oder die Säuglingspflege
in einer Familie besorgt. Auch wird für die Pflege von Nerven¬
schwachen oder Gemütskranken, besonders auch von Jugendlichen
dieser Art, nicht jede Pflegeperson taugen. Immerhin, soweit
möglich, sollte man, um einfache Verhältnisse zu schaffen, an dem
Grundsatz einer Fürsorgeperson für eine Familie festhalten. Im
übrigen ist es Sache des Leiters der Fürsorgestclle, die richtigen
Dispositionen zu treffen und die Vertreter der einzelnen Fürsorge¬
zweige zu gemeinsamer Beratung über die in einer Familie vor¬
kommenden verschiedenerlei Fürsorgebedürfnisse zusammenzu¬
rufen und darnach die Zusammenfassung oder Teilung der Ge¬
schäfte vorzusorgen. Bei dieser sozialen Arbeit wird sich sodann
vielfach erweisen, daß die einzelnen Fürsorgefälle einer Gemeinde,
besonders in der Form der Familienfürsorge erfaßt, wieder in ihrer
Mannigfaltigkeit und Abwechslung unter sich mancherlei Bezie¬
hungen haben, woraus Fürsorger und Ärzte lernen und neue Gesichts¬
punkte für ihr Handeln gewinnen können, so z. B. über die Ver¬
breitung von Volkskrankheiten, über den Erblichkeitsfaktor, über
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Fischer,
das Wohnungswesen, über üble moralische Einwirkungen (psychi¬
sche Infektion) usw. Das wichtige Gebiet der Familienforschung,
aber auch der Evidenthaltung der Krankheitsfälle, insbesondere
der Geisteskranken, zieht daraus Gewinn und Förderung.
Aus der geordneten Einzel- und Familienfürsorge ergibt sich
ungezwungen die gemeinsame Bezirksfürsorge in ihren allgemeineren
Aufgaben. Um diese in ein zuverlässig arbeitendes System zu
bringen, ist es nötig, von Zeit zu Zeit (alle 2 oder 4 Wochen)
sämtliche Fürsorgepersonen und die übrigen Fürsorgeorgane
(Ärzte, Geistliche, Gemeindevertreter usw.) des Pflegebezirks zu¬
sammenzurufen und sowohl die Einzelfälle durchzusprechen als
auch die allgemeinen Richtlinien des Handelns zu erörtern, über
die getane Arbeit der letzten Wochen zu referieren und die für
die nächsten Wochen nötige vorzubereiten. In diesen Versamm¬
lungen sind auch die nötigen Unterstützungen, sei es durch Geld¬
mittel sei es, wie meist vorzuziehen, in Form von Naturalien
(Lebensmittel, Arzneien, Kleidung usw.) festzusetzen.
Diese Versammlungen der einzelnen Pflegebezirke werden
zweckmäßig ergänzt durch solche der größeren Verwaltungsver¬
bände, also eines ganzen Amtsbezirks, eines Kreises, einer Provinz,
eines Landes und gekrönt durch eine Reichsversammlung aller
Teilverbände, um gemeinsame Erfahrungen auszutauschen, sich
weiterzubilden und Normen für ein fortschrittliches Arbeiten auf
wissenschaftlicher Grundlage zu gewinnen. So soll das ganze
Fürsorgewesen mit der Zeit vereinheitlicht und allgemein nach
denselben Gesichtspunkten ausgebaut und wirksam gemacht werden.
Eine solche, das ganze Land und das Reich umfassende Organi¬
sation muß das Ziel aller Einzelbestrebungen sein.
Schon jetzt aber ist es als eine der zunächst zu erfüllenden
Aufgaben zu betrachten, daß in jeder Landesregierung eine Zen¬
tralstelle für das ganze soziale und hygienische Fürsorgewesen
errichtet wird, sei es in Form eines eigenen Gesundheits- oder
Wohlfahrtsministeriums, sei es als besondere Ministerial-
abteilung mit einem eigenen Direktor bei einem der bestehenden
Ministerien. Eine nicht zu ferne Zukunft möge sodann den Plan
verwirklichen, daß die gesamte Fürsorgeorganisation vom Staate
selbst übernommen und getragen wird. Diese Aufgabe gehört
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 543
ihm durchaus zu. Es ist einleuchtend, daß solche, das ganze
Volk umfassende, große Aufgaben auch gewaltige Geldmittel
erfordern, die aus den Vereinsbeiträgen, selbst wenn wir die
aller Teilvereine zusammennehmen, bei weitem nicht beigebracht
werden können. Auch ans Stiftungen und anderen mildtätigen
Gaben und schließlich aus den Staatsbeiträgen nach ihrer bis¬
herigen Höhe ergeben "sich keine solchen Summen, daß man
alle Bedfirfnisfälle damit befriedigen könnte. Die menschliche
Gesellschaft und der Staat werden sich zu ganz andern
Opfern aufraffen müssen, insbesondere der Staat; denn dessen
Zwecke und Geschäfte eigentlich werden von unseren Organisa¬
tionen besorgt oder wenigstens bedeutsam unterstützt. Was von
Staats wegen in der Gesundheitsfürsorge und in der sozialen Wohl¬
fahrt durch weitgehende allgemeine gesetzgeberische Maßnahmen
vorgesorgt worden ist, das erhält in der stillen und unauffälligen
Einzelarbeit unserer Fürsorgepersonen in den Familien unseres
Volkes die praktische und zugleich verinnerlichte Durchführung
im Detail, durch die Einwirkung von Mensch zu Mensch. Ohne
diese Fürsorgetätigkeit ständen manche Gesetze und Verordnungen
lediglich auf dem Papier. Unendlich viel wertvolles Menschenkapi¬
tal wird auf diesem Wege sozialer Arbeit, wirtschaftlicher Hilfe, ge¬
sundheitlicher Vorbeugung und Hygiene dem Volkskörper entweder
gesund erhalten oder vor größeren Schädigungen bewahrt oder
wieder für Gemeinde und Staat gesund und arbeitsfähig herge¬
stellt. Der Staat verfolgt somit nur sein ureigenstes Interesse,
wenn er alle diese gemeinnützigen Fürsorgebestrebungen mit allen
Mitteln kräftigt. Denn diese noch so hohen Beihilfen werden
sich ihm mehrfach verzinsen in der Besserung der sozialen und
gesundheitlichen Verhältnisse seiner Gesamtbürgerschaft, in ver¬
mehrter Arbeitskraft und Berufsfreudigkeit, im erhöhten Wohl¬
befinden aller; dadurch können bedeutende Summen an vielen
anderen Stellen des Staatshaushalts gespart werden. Auch hier¬
bei ist der Hauptnachdruck auf die vorbeugend® Tätigkeit zu
legen, weil sie Volksschäden in der Entstehung entgegentritt und
darum von vornherein das rationellere, wirksamere und wert¬
vollere Verfahren darstellt gegenüber dem Kampf gegen eingerissene
und vorhandene Schäden, der allerdings auch von uns mit den
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544
Fisch e r,
besten Waffen ansgekämpft werden muß. Anzuerkennen ist, daß
die Regierung schon jetzt ihre Beamten für die eigentlich außer
ihrer Diensttätigkeit liegende Fürsorgearbeit freigibt, noch mehr,
daß die Beamten selbst sich jederzeit ohne Rücksicht auf ihre
außerordentliche dienstliche Inanspruchnahme mit voller Selbst¬
aufopferung in den Dienst der sozialen Arbeit gestellt haben.
Nun gilt es noch die Staatsbeiträge um ein Bedeutendes zu er¬
höhen, damit jeder Bedürftige die werktätige Hilfe, deren er benö¬
tigt, in Wirklichkeit auch zugemessen erhalten kann. Dann erst
können wir mit unserem «Werke zufrieden sein. Die bisherigen
freiwilligen Hilfskräfte und Beiträge sollen dabei natürlich keines¬
falls ausgeschaltet werden. Der einzelne hilfreiche Mensch mit
hilfreichem Herzen und hilfreichem Worte ist in keiner Fürsorge¬
organisation zu entbehren; er ist gegenteils ihr Träger und ver¬
leiht ihr erst die Beseelung.
Mit diesen unseren auf das Allgemeine gerichteten Forderungen
verfolgen wir durchaus nichts Neues, sondern begegnen uns darin mit
vielen anderen Gleichgesinnten, die ebenfalls eine Zusammenfassung aller
Arten der sozialen Fürsorge und des Gesundheitsschutzes anstreben.
Auch sollen die in gedeihlicher Wirksamkeit befindlichen Teilorganisationen
(Säuglings-, Kinder-, Jugendpflege, Kampf gegen Trunksucht, Geschlechts¬
krankheiten, Tuberkulose und andere Volkskrankheiten usw.) in keiner
Weise beeinträchtigt werden. Es gilt einzig und allein unter Verwendung
des Bestehenden den Zusammenschluß ( aller und die gemeinsame über¬
geordnete Organisation zu finden. Dies Unternehmen kann weder als
aussichtslos noch als besonders schwierig erscheinen, nachdem, wie wir
gezeigt haben, soviel gemeinsame Beziehungen zwischen all den einzelnen
Fürsorgegebieten bestehen. Gerade diese Tatsache drängt unwiderstehlich
und naturgemäß zur Vereinigung. Mein Plan stellt aber auch durchaus
keine Utopie mehr dar. In vielen Städten und Großstädten sind bereits,
die Verbindungen zwischen den Teilorganisationen hergestellt worden,
weil sie sich als durchaus nötig erwiesen haben; ebenso hat sich vielfach
auch die Zusammenarbeit mit den Organen der Armenpflege und den »
Fürsorgeämtern der Gemeinden ganz von selbst durchgesetzt. In Heidel¬
berg besteht für den Stadtbezirk, hervorgegangen aus dem Tdberkulose-
ausschuß und de# Trinkerfürsorge, bereits seit mehreren Jahren eine In¬
stitution, wie sie hier erörtert worden ist, in der sich alle Fürsorgezweige
vereinigen; sie hält regelmäßige gemeinsame Sitzungen ab, in der die
Einzelfälle behandelt werden. Eine außerordentlich segensreiche Tätig¬
keit hat sie bereits hinter sich. Aber auch für den Landbezirk Heidel¬
berg ist die gleiche Einrichtung ins Leben gerufen worden, so daß nun
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 545
der ganze Amtsbezirk Heidelberg einheitlich organisiert ist; ein Beispiel,
das überall zur Nachahmung anspornen sollte. Dieser ,,Verein für
Volkswohlfahrt Heidelberg Land“ ist mitten wahrend des Krieges,
am 4. Juni 1916, gegründet worden. Er umfaßt die Säuglingsfürsorge, die
Jugendfürsorge, die Tuberkulosenfürsorge, die' Bekämpfung des Alkohol¬
mißbrauchs, die Irrenfürsorge und sogar die Kriegsversehrten- und Kriegs¬
hinterbliebenenfürsorge. Aber auch alle anderen in der Satzung nicht
ausdrücklich erwähnten Fürsorgezweige sollen vom Verein im Anschluß
an die bestehenden Landesorganisationen behandelt werden. In jeder
Gemeinde besteht zur Durchführung sämtlicher Vereinsaufgaben ein Orts¬
ausschuß, dem angehören sollen: 1. der Arzt, der in der Gemeinde wohnt
oder die Praxis ausübt; 2. der Bürgermeister oder sein Stellvertreter:
3. der im Orte wohnhafte Bezirksrat; 4. der Vorstand des Frauenvereins;
5. die Ortsgeistlichen; 6. ein oder mehrere Gemeinderäte; 7. ein oder
mehrere Lehrer; 8. mindestens zwei weitere männliche oder weibliche
Ortseinwohner. Dazu kommen, je nach Bedarf, geschulte und bezahlte
männliche und weibliche Berufskräfte der Fürsorgearbeit, insbesondere
die ausgebildeten Fürsorgeschwestern und ihre freiwilligen Helfer und
Helferinnen aus den Frauenvereinen und Vinzentiusvereinen. Diese Orts¬
ausschüsse besorgen die Fürsorgegeschäfte in ihren Gemeinden. Der
Vorstand des Vereins für den ganzen Landbezirk ßetzt sich zusammen aus
dem Amtsvorstand als Vorsitzendem, einem Mitgliede des Bezirksrats,
dem Direktor der Kinderheilanstalt, dem Vormundschaftsrichter, dem
Kreisschulrat, einem -Vertreter des Kreises und 12 von den Mitgliedern
gewählten Beiräten, worunter 2 Ärzte, 2 Geistliche, 1 katholischer und
t evangelischer, 2 Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer einer Kranken¬
kasse und 3 Mitglieder von Gemeinderäten sind. Der Beweis, daß ein
solcher Verein auch für ländliche Bezirke mit einer Anzahl größerer und
kleinerer Gemeinden durchführbar ist, ist also erbracht; das ist sehr wichtig.
Ein solcher Verein, wie er hier für das Amt Heidelberg (Stadt und
Land) in vorbildlicher Tätigkeit besteht, würde, wenn er auf alle Amts¬
bezirke des Landes sich ausdehnte und in einer Landesorganisation seine
Krönung und einheitliche Leitung mit Unterstellung unter staatliche
Oberaufsicht fände, ungefähr dem entsprechen, was wir anstreben. Es
gehört nur noch dazu die Ausdehnung auf alle Bundesstaaten, so daß das
ganze Deutsche Reich von derselben Fürsorgeorganisation eingenommen
würde. Wir dürfen zuversichtlich hoffen, daß es so kommen wird, weil
es kommen muß; alle Verhältnisse drängen darauf hin.
Als Endglied unseres Fürsorgesystems und zu seiner Ver¬
vollkommnung gehören sodann noch Hochschulen für die Aus¬
bildung der Fürsorgepersonen auf sämtlichen Fürsorgegebieten
eingerichtet, wie auch weiterhin von Zeit zu Zeit Fortbildungs¬
kurse für Geübtere, schon in der sozialen Arbeit Stehende aus
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546
Fischer,
allen Kreisen und Berufen (Beamte, Lehrer, Geistliche, Industrielle,
soziale Berufskräfte usw.), ferner allgemein gehaltene Aufklärungs¬
vorträge in allen Landesteilen, um so das große Publikum über
diese für sein eigenes Wohl so unendlich wichtigen Gebiete zu
belehren und es zur Mitarbeit, sei es im engeren Kreise der
eigenen Familie, sei es in der praktischen Fürsorgearbeit an
andern zu gewinnen. Als diejenige Instanz, welche auf diese
Weise der sozialen Fürsorge und ihrer Organisation immer wieder
neue geistige Kräfte und Anregungen zur praktischen Arbeit ver¬
leihen könnte, möchten wir eine Institution ansehen, die wir hier
in Baden gleichfalls schon besitzen.
Es ist die „badische Gesellschaft für soziale Hygiene“, die
auch während des Krieges, und zwar am 16. Januar 1916 in Karlsruhe,
gegründet worden ist. „Ihre Aufgabe besteht“ nach den Satzungen
„darin, die Beziehungen zwischen den sozialen und den gesundheitlichen
Verhältnissen zu erforschen, die Untersuchungsergebnisse bekannt zu
geben und dahin zu wirken, daß die Volkskraft gestärkt und sozialhygieni¬
sche Mißstände beseitigt oder gemildert werden. Die Gründung eines
sozialhygienischen Instituts als Zentralstelle für die wissenschaftliche
Arbeit und die praktische Betätigung der Gesellschaft wird angestrebt.
Der Anschluß an eine gesamtdeutsche Gesellschaft mit gleichen Zielen
bleibt Vorbehalten.“ Ärzte und Hygieniker, Geistliche und Lehrer, Staat*
liehe, städtische und sonstige Verwaltungen, gemeinnützige Vereinigungen,
Sozialreformer und Politiker treten hier zu gemeinsamer Arbeit am Volks¬
wohl zusammen. Aus Vertretern aller dieser Kategorien besteht der
Arbeitsausschuß und der große Ausschuß; auch die soziale Psychiatrie
ist darin vertreten.
In dieser Vereinigung, die die wichtigsten Ziele der Volks¬
hygiene und der sozialen Fürsorge bearbeiten und in sich zu¬
sammenfassen will, erkennen wir die Stelle, die bei einer wohl¬
durchdachten gleichmäßigen Organisation durch Land und Reich
hin dazu berufen wäre, einesteils die gesamte praktische Fürsorge¬
arbeit in allen ihren Einzelgebieten durch gesunde wissenschaftliche
Beeinflussung immer wieder zu befruchten, aber auch andernteils
das sämtliche Einzelörganisationen einigende Band zu bilden, so
daß alles von einem Geiste geleitet erscheint. Wir denken uns
die erweiterte Tätigkeit der sozialhygienischen Gesellschaft etwa
so, daß zunächst an allen Universitäten und technischen Hoch¬
schulen sozialhygienische Lehrstätten errichtet werden, wo sämtliche
akademischen und technischen Berufe in der sozialen Hygiene
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Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw. 547
und Fürsorgearbeit unterrichtet werden. Von hier aus können
sodann sozialhygienische Lehrkurse für Nichtakademiker in den
Städten im Umkreis der Universität leicht eingeführt werden; sie
werden sich nach obigem unterscheiden in Kurse für Anfänger
und in Fortbildungskurse für Vorgerücktere.
Dazu kämen von Zeit zu Zeit in geeignet gelegenen Zentral¬
punkten (Städten) des Landes, Versammlungen, wo für die All¬
gemeinheit, besonders aber für sämtliche Fürsorgeorganisationen
wichtige und aktuelle Themata in Vorträgen mit Aussprache
behandelt werden. Den Stoff für diese Bildungs- und Aufklänmgs-
arbeit wird die Gesellschaft vorzugweise aus den Arbeiten ihres
sozialhygienischen Instituts schöpfen, das wir für eine der
Allgemeinheit und ihrer gesundheitlichen Förderung unentbehrliche
Forschungsstätte halten.
Ferner ist zu denken an die Gründung eines sozialhygie¬
nischen Museums alg Anschauungsstätte für Publikum und
Fürsorgeorgane auf dem Gebiete der ganzen sozialen Hygiene
und Volks Wohlfahrt. Viele bedeutsame Anfänge und schon Er-
✓
füllungen solcher Sammlungen kennen wir von der Hygiene-
Ausstellung: „der Mensch“ in Dresden her; sie brauchten nur in
unserem Sinne ergänzt und neu aufgestellt zu werden; Reproduk¬
tionen müßten liberal zugestanden werden. Eine Fülle von
unendlich wichtigem Anschauungsmaterial stände dadurch allein
schon ohne allzu große Kosten für unsere Zwecke zur Verfügung.
Bekanntlich geht keine Belehrung leichter und gründlicher ein
als durch gut zusammengestelltes Bilder- und Zahlenmaterial in
Verbyidung mit erklärenden Vorträgen. Auch die Veranstaltung
von Wandermuseen und Wandervorträgen bald aus diesem, bald
aus jenem Fürsorgegebiet oder aus mehreren zusammen könnte
in Betracht gezogen werden. Die bisherigen guten Erfahrungen
damit muntern entschieden zu weiteren Unternehmungen dieser
Art auf. Auch aus der sozialen Irrenfürsorge läßt sich ftit
Leichtigkeit eine solche Teilausstellung zusammenbringen.
Als eine weitere sehr wertvolle Ergänzung in der Ausbildung
für die soziale Fürsorgetätigkeit erkennen wir die Einrichtung von
sozialhygienischen Führungen durch in dieser Hinsicht
wichtige Betriebe und Einrichtungen sowohl für das große Publi-
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548 Fischer, Die soziale Psychiatrie im Rahmen der sozialen Hygiene usw.
kum wie besonders für Fürsorgepersonen jeder Art. Beispiel¬
weise wäre dabei etwa zu denken an Besichtigung großer Fabriken
und Wohlfahrtseinrichtungen, großer städtischer lind staatlicher
neuzeitlicher Betriebe, Krankenhäuser, Irrenanstalten, Schulhäuser,
Gefängnisse usw.
Dujrch eine derartige Ausbildung und Verbreitung der sozial¬
hygienischen Gesellschaft über das ganze Reich bekämen wir eine
außerordentlich segenvolle Einrichtung zur Unterstützung und
Bereicherung unseres gesamten sozialen Fürsorgewesens, deren
ganzer Wert sich jetzt noch gar nicht abschätzen läßt. Ein stetes
und enges Zusammengehen zwischen wissenschaftlicher Forschung
und praktischer Arbeit ist vielleicht auf keinem Gebiete so wichtig,
so nötig, aber auch so unmittelbar erfolgreich, wie bei den von
uns verfolgten Zielen der Wohlfahrtspflege am Volke, weil eben
gerade auf Grund der Ausdehnung unserer Fürsorgeorganisationen
auch eine sofortige Verwertung der Forschungsresultate auf
das Volksganze möglich ist. Die soziale Psychiatrie verlangt
daran aber, wie ich im ersten Teil glaube nachgewiesen zu haben,
sowohl wegen ihrer eigenen Bedeutung als Einzelgebiet wie auch
wegen ihrer engen Verwobenheit mit allen anderen Fürsorgearten
mit gutem Recht ihren gewichtigen Anteil.
Für unser gesamtes soziales und sozialhygienisches Wirken
gilt in diesem Zusammenhänge das Wort OTcens : „Alle Fach¬
weisheit ist zuletzt doch nur Vorarbeit für die große Bildungs¬
arbeit am Volke“.
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Original fram
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Uber unnötige Satzungen.
Von
Professor Rleger in Würzburg.
Unser Jubilar hat viel Wichtiges gewirkt und geschaffen
auf dem Gebiet der Beziehungen der Justiz und der Verwaltung
zu der Psychiatrie. Als die Aufforderung an mich gelangte zu
einem Beitrag für diese Festschrift, kamen mir deshalb bei dem
Überblick über seine Schriften vor allem die Erinnerungen an
Einschlägiges 'aus den Erfahrungen meiner eigenen Praxis von
vier Jahrzehnten. Gerade in den Tagen, als ich darüber nach¬
dachte, las ich auch dieses in der psychiatrisch-neurologischen
Wochenschrift vom 7. Dezember 1918:
Zum Ersuchen des Reichskanzlers vom 4. Juni 1918 betreffs Auf¬
nahme usf. von Geisteskranken in Irrenanstalten. Vortrag von Watienberg-
Lübeck auf der Jahresversammlung norddeutscher Psychiater und Neuro¬
logen in Rostock vom 27. Juli 1918.
Direktor Wattenberg hat dort eindringlich gewarnt vor den
Schädigungen der Psychiatrie durch unnötige Bureaukratisierung.
Als ich seine Warnungen las, habe ich mir dieses besonders zum
Bewußtsein gebracht: auch ich mußte immer auf der Wacht stehen
gegen solche Gefahren. Wenn ich auch nur das Wichtigste da¬
von Erzählen wollte, brauchte ich viele Bogen,^ In der Papiernot
stehen mir aber nur wenige Seiten zur Verfügung, und deshalb
muß ich mich auf weniges Charakteristisches beschränken.
In meinem Buch: „Die Julius-Universität und das Julius-
Spital“ steht dieses auf der Seite 135:
Für jede Gegend ist wichtig ein psychiatrisches Institut, das immer
aufnahmefähig ist. Und das konstatiere ich hier mit einigem Stolz: Ich
habe es fertiggebracht, daß ich immer so rechtzeitig evakuiert habe, daß
ich auch immer wieder neu aufnehmen konnte. Eine Stauung in der Auf¬
nahme ist in meiner Klinik einfach niemals eingetreten. Ich habe ja, um
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
550
Rieger,
dies zu erreichen, oft viele persönliche Energie aufwenden müssen. Und
besonders mußte ich möglichst wenig abwesend sein, damit ich das Ent¬
lassungsventil immer selbst in der Hand hatte. Ich muß aber in diesem
Punkt auch die günstigen Verhältnisse hervorheben und anerkennen,
deren ich mich in Würzburg deswegen zu erfreuen habe, weil ich ohne
jede bureaukratische Bevormundung handeln kann, ohne Satzungen, ohne
Statuten, nur unter den einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches.
Unter einem „Irrengesetz“ wäre auch meine Klinik jedenfalls in die gleiche
Stagnation geraten, wie sie überall unter solchen papiernen Mächten ein-
treten muß. Und da hätte wohl auch alle meine Energie nichts mehr
genützt.
Dieses bedarf aber einer Ergänzung. Denn man könnte dar¬
nach glauben, meine Freiheit sei eine mühelose gewesen. Im
ganzen ist es ja so: meine Klinik ist direkt herausgewachsen aus
eiper Tradition des alten Spitals, die bis in das Jahr 1580 zu¬
rückreicht. In diesen langen Jahrhunderten waren die psychia¬
trischen Fälle ifnpier gleich behandelt worden wip alle anderen.
Und so hatte es nur eine medizinische Tradition im allgemeinen
gegeben und keine besonderen Satzungen für die psychiatrischen
Fälle. Und auch als ich im Jahre 1888 mit den psychiatrischen
Kranken aus dem räumlichen Zusammenhang mit den anderen
Kranken auszog, hat man im Punkte von Satzungen u. dergl.
nichts Besonderes stipuliert. Es ist mir gelungen, diesen guten
Zustand in den einunddreißig Jahren seither zu erhalten. Aber
so ganz mühelos ist es doch nicht gegangen. Es galt doch- auch
einigermaßen „der Weisheit letzter Schluß“:
Nur der verdient sich Freiheit und das Leben.
Der täglich sie erobern muß.
Und ich mußte manchmal auch „umrungen von Gefahr mein
tüchtig Jahr verbringen“.
Wenn ich mich dann frug: Woher kommt die größte Gefahr?
kam ich auf die Antwort: Fast immer davon, daß die Psychiater
selbst nicht vorsichtig genug sind in den zwei Punkten, die die
gefährlichsten Klippen sind, nämlich in den antagonistischen Para¬
graphen des Strafgesetzbuches: einerseits 239, andererseits 121
und 347: Skylla und Charybdis. Hier: Wer vorsätzlich und
widerrechtlich einen Menschen einsperrt u. s. f. Dort: Wer einen
Gefangenen entweichen läßt u. s. f.; und: Ein Beamter, welcher
einen Gefangenen entweichen läßt u. s. f.
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UNIVERSETY OF MICHEGAN
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Über unnötige Satzungen.
Die Klagen lauten dann das eine Mai: er hat zu viel ein¬
gesperrt; das andere Mal: er hat zu wenig eingesperrt. Und da
habe ich nun häufig gefunden, daß Psychiater übereifrig sind.
Z. B.: Ich hatte über einen achtunddreißigjährigen ledigen Mann
dieses berichtet:
Ich habe eine Entscheidung des Reichsgerichts gelesen, in welcher
der Standpunkt vertreten ist: es solle kein zu großes Mißverhältnis be¬
stehen zwischen der Zeit einer Kriminalstrafe und der Zeit einer psychiatri¬
schen Internierung. Diese Auffassung habe ich immer vertreten. Nur
dann, wenn die Gefahr neuer Vergehen ganz evident ist, wird man un¬
begrenzt lange Sicherheitsmaßregeln anwenden dürfen. Die trifft aber in
vorliegendem Falle nicht zu.
Der Mann hatte einige Male nicht besonders schwere Sitt¬
lichkeitsdelikte begangen und war jetzt schon so lange in psy¬
chiatrischen Instituten interniert, wie aus dem Nachstehenden
ersichtlich ist.
Es dürfte deshalb jetzt Pflicht sein, wieder einen Versuch in der
Freiheit zu machen, wobei ja dann immerhin den Eltern Verpflichtungen
zur Verhütung von neuem Unglück auferlegt werden können. Aber die
betagten Eltern wünschen sehr, daß er jetzt wieder bei ihnen leben dürfe.
Und man wird diesen Wunsch um so mehr beachten müssen, als er ihr
einziges lebendes Kind ist. Sie haben mir gesagt, es sei ihnen sehr schmerz¬
lich, daß sie von ihrem einzigen Kinde getrennt leben müssen. Und dies
trübe ihren Lebensabend sehr. Auf solche Gefühle muß man Rücksicht
nehmen in einem Fall, in dem es sich nicht handelt um eine Strafe, deren
Zeit durch ein Gesetz und durch ein gerichtliches Urteil bestimmt ist, und
die deshalb verbüßt werden muß. Denn hier handelt es sich ja nur um
ein willkürliches Ermessen. Und dieses muß allen Umständen Rechnung
tragen. Auch würde längere Internierung die Eltern in einer Weise pekuniär
belasten, die ohne zwingenden Grund auch nicht ins Ungemessene aus¬
gedehnt werden darf. Und dazu kommt, daß dem Sohne selbst, der jetzt
schon 38 Jahre alt ist, wenn ihm noch länger die Freiheit entzogen würde,
damit auf die Dauer jede Möglichkeit abgeschnitten würde eines selb¬
ständigen Erwerbs. Zu einem solchen ist er aber an und für sich ganz gut
befähigt. In der Zeit meiner Beobachtung habe ich den Eindruck be¬
kommen, daß er auf bescheidener Stufe ganz Brauchbares als Chemiker
leisten würde. Und die Eltern haben mir,auch ausdrücklich gesagt, es
wäre ihnen ganz besonders peinlich, wenn jetzt noch weitere Zeit in dieser
Richtung ungenutzt verginge und damit auch für später jede Hoffnung
schwände. Zeugnisse von Chemikern, bei denen er früher gearbeitet hat,
hat mir der Vater vorgelegt. 'Auch sie bestätigen, daß er für einfache
Laboratoriumsarbeiten ganz brauchbar ist. Man wird also wohl annehmen
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Rieger,
dürfen, daß der Gedanke der Eltern, er könne doch noch einmal in seinem
Fach etwas verdienen, nicht ein ganz grundloser oder chimärischer ist.
Für einfache Arbeiten in einem chemischen Laboratorium genügt seine
Intelligenz. Und deshalb sollte man ihm diese Arbeitsmöglichkeit auch
nicht auf die Dauer abschneiden. Für die Frage: Darf er mit Rücksicht
auf sicherheitspolizeiliche Gründe jetzt in Freiheit entlassen werden?
kommt eine mäßige geistige Schwäche überhaupt nicht in Betracht.
Diese wäre nur wesentlich in bezug auf die Frage der Aufhebung der Ent¬
mündigung. Diese ist aber nicht gestellt und die Aufhebung nicht
beantragt. JSs handelt sich jetzt bloß um das Leben außerhalb oder inner¬
halb einer Anstalt, und diese Frage hat mit dem entmündigten oder nicht
entmündigten Zustande nichts zu tun. Er war im ganzen rund 8 Jahre
in psychiatrischen Anstalten. Für seinen Beruf als Chemiker hatte er dort
gar keine Anregung oder Förderung. Auch ich konnte ihn nur im Garten
beschäftigen. Wenn man ihn also jetzt nicht wieder sich in seinem Beruf
betätigen läßt, so ist er für den ganzen Rest seines Lebens verdammt zur
Berufslosigkeit und Faulenzerei. Dies finde ich sehr unzweckmäßig. —
Ich habe den Eindruck von ihm, daß er sich in bezug auf die Sexualdelikte
in Zukunft in Acht nehmen wird. Er ist sich klar darüber, daß, wenn er
nochmals ein solches Delikt beginge, er alsdann niemals mehr aus der
psychiatrischen Internierung herauskäme. Und die Eltern werden auch
alles aufbieten, um einem solchen Rückfall vorzubeugen. Somit ist die
Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls gering für den Fall der Freiheit. Da¬
gegen ist sicher, daß sein Leben durch eine noch länger fortgesetzte Inter¬
nierung für die Dauer ruiniert und er zu völliger Unbrauchbarkeit ver¬
dammt wäre. Dies wäre aber nach Lage der Sache zu hart sowohl für ihn
als für seine Eltern. Ich meine deshalb, die sicherheitspolizeilichen Gründe
könnten jetzt nicht mehr so stark in die Wagschale fallenwie vor vier Jahren.
Und es wäre Pflicht der Vormundschaft, daß sie dafür Sorge trüge, daß
er noch einmal einen Versuch in der Freiheit machen könnte zur Wieder¬
aufnahme eines Berufs und einer geregelten Tätigkeit. Und gegenüber
von dem zweifellosen Unrecht gegen die Eltern kann doch die bloß zweifel¬
hafte Möglichkeit eines Rückfalls des Sohnes nicht in die W'agschale fallen.
Ein anderer Psychiater hat aber in diesem Fall nachher
gemeint: Wenn es gesetzlich so etwas gäbe wie eine Haftpflicht
des Psychiaters für schlimme Folgen seiner befürworteten Ent¬
lassungen, dann wäre mein Gutachten wohl anders ausgefallen.
Es ist lange her, daß ich dieses mit Erstaunen gelesen habe,
und ich habe in der langen Zeit immer gedacht, ob ich nicht
eine Gelegenheit dazu fände, daß ich mich öffentlich äußern
könnte über eine solche Haftpflicht.^ Hier habe ich nun diese
Gelegenheit. Und die Geschichte ist mir deshalb jetzt eingefallen,
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über unnötige Satzungen.
553
weil ich mir auch dabei sage: mit solchen Haftpflicht-Gedanken
bedroht die Psychiatrie nicht bloß die persönliche Freiheit ihrer
Objekte, sondern auch die Subjekte der psychiatrischen Praxis
kommen in fatale Lagen und Gefahren bei solchen Gedanken an
exorbitante Paragraphen. Ich habe damals noch dieses geschrieben:
Eine bestimmte, wissenschaftlich begründbare Prognose kann es in
solchen Fallen niemals geben. Weder kann ich sagen/ er wird keine
Sittlichkeitsdelikte mehr begehen, noch kann ein anderer Psychiater sagen:
er wird sicher wieder solche begehen. Die Wahrscheinlichkeit für und
wider kann etwa auf 50% geschützt werden. Ich habe nun in den langen
Jahren, in welchen ich mich mit solchen zweifelhaften Fällen zu beschäfti¬
gen hatte, immer den Grundsatz empfohlen: In dubio mitius. Und dieses
mitius habe ich besonders immer dann empfohlen, wenn die nächsten
Angehörigen stark die Freiheit gewünscht haben; so, wie es hier die Eltern
tun. f Solche Gefühlsmotive dürfen selbstverständlicherweise nicht in
Betracht kommen in dem Fall eines Kriminalurteils, das einfach, ohne
Ansehen der Person, die Strafe zumessen muß. — Die Polizei und der
Vormund sind aber keine Kriminalrichter. Speziell der Vormund hat bloß
für das Wohl des Entmündigten zu sorgen. Die polizeiliche Frage der
Gemeingefährlichkeit geht ihn direkt gar nichts an. Dies wird auch von
allen Gerichten immer anerkannt. Was die „Haftpflicht des Psychia¬
ters“ betrifft, so bin ich immer am besten gefahren bei diesem Grundsatz:
der Psychiater soll auch das Wort nicht außer acht lassen: Beneflcia non
obtruduntur. Wenn die Eltern und der Sohn selbst oder auch nur die
Eltern sagten: Ach ja, es ist doch besser und sicherer, wenn er in einer
Anstalt vor Rückfällen geschützt ist — so wäre alles ganz anders. Und
wenn man ihm dann das beneficium non obtrusum sed petitum der Inter¬
nierung verweigerte, so wäre dies allerdings gegen, die ärztliche Pflicht.
In dem vorliegenden Fall aber wäre es, meines Erachtens, das einzig Rich¬
tige, zu sagen: Kommt ein neues Delikt, so wird es kriminalistisch und
nicht psychiatrisch behandelt. — Das war ja auch hier wie sonst so oft:
damit sie um das Gefängnis herumkommen, hatten Eltern und Sohn
seinerzeit die Anwendung des § 51 StGB, als Wohltat angesehen. Und
davon haben sie natürlich auch die Folgen tragen müssen. Aber dies hat.
auch seine zeitlichen Grenzen. Und diese zeitlichen Grenzen sind der Haupt¬
punkt gegenüber von dem Elend und der Hoffnungslosigkeit der lebens¬
länglichen Internierung.
Wenn Gericht und Polizei einen Psychiater um Rat fragen,
so gilt für diesen seinen Rat der alte Juristenspruch: ob consilium
nemo tenetur. Das heißt: er muß zwar als Beeidigter und Ver¬
pflichteter unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen
anssagen, aber mehr als dieses subjektive Moment kommt nicht
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Rieger,
in Betracht. Wenn der weitere Verlauf erweist, das Gutachten
war objektiv falsch, kann er dafür nicht haftbar gemacht werden.
Dies ist der große Unterschied zwischen einer objektiv irrigen,
ärztlichen Aussage und einer ärztlichen Handlung oder Unter¬
lassung im Sinne der Paragraphen 222 und 230 des Strafgesetz¬
buchs. Eine solche Ausdehnung der psychiatrischen Haftpflicht
ist unmöglich. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit ist immer da,
es könnte etwas Schlimmes passieren. Und da könnte ja über¬
haupt kein Psychiater mehr riskieren, zur Freiheit zu raten.
( Denn wenn etwas Schlimmes käme, wäre er ja haftpflichtig.
Wenn es aber dann unter einem solchen Druck eine Zeitlang
viel weniger Freiheit gäbe, dann käme nur wieder eine solche
Reaktion, wie ich sie z. B. um das Jahr 1895 mitangesehen habe.
Damals ging eine Sensationswelle durch Deutschland. In Württem¬
berg war es der Oberbürgermeister Hegelmaier in Heilbronn und
mehrere andere; in Aachen waren es die Alexianer, die sensa¬
tionell wirkten. Und einige von diesen Wellen schlugen auch an
meine ruhigen Würzburger Ufer. Ich habe es aber doch fertig
gebracht, daß sie keinen bleibenden Schaden gestiftet haben. Be¬
sonders ein Erlebnis vom Jahr 1895 ist mir in dem neuen Jahr¬
hundert wieder lebhaft in Erinnerung gekommen, als ich die
Phantasie von vorhin las über die Haftpflicht der Psychiater.
Weil damals die Sensationen gerade eingestellt waren auf den
Schutz der Freiheit, ging es einem Arzt schlecht, der einen be¬
sonderen Pflichteifer und ein lebhaftes Haftpflichtgefühl gezeigt
hatte. Statt daß sie ihn dafür belobt hätten, haben hohe Juristen
ihn schlimm gezaust mit Worten wie diese: „Es gilt Einspruch
zu erheben und Front zu machen gegen solche allzu zärtlichen
psychiatrischen Umarmungen. Die Freiheit ist im ganzen Land
bedroht durch die Psychiatrie“ — und ähnliche Reden. Wenn
um das Jahr 1895 die Sensationswellen nicht gerade in dieser
Richtung gelaufen wären, sondern in der entgegengesetzten, dann
wäre etwa statt der „allzu zärtlichen Umarmungen“ etwas ge¬
kommen von allzu gleichgültigem Verhalten gegen gefährliche
Menschen u. dergl. Und so ist der Psychiater immer zwischen
der Skylla und Charybdis der Paragraphen (oben Seite 679).
Der Arzt vom Jahr 1895 hat ganz recht gehabt, und trotz-
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Über unnötige Satzungen.
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dem zausten ihn die Juristen schlimm. Er dachte sehr an seine
Pflicht, Unheil zu verhüten, und er hatte „des Teufels Dank“
dafür. So wird es oft gehen, und deshalb soll man nicht noch
weitere Haftpflichten phantasieren, als man so schon hat. Es
ist mir damals gelungen zu verhüten, daß die allzu zärtliche
Umarmung eine schädliche Gegenwirkung auch auf meine Klinik
gehabt hätte, und daß alles in dieser Hinsicht ohne Schaden ab¬
lief. Aber ich bin doch von da ab auch immer mehr noch von
diesem Gedanken beherrscht gewesen: der Schutz der persönlichen
Freiheit ist besonders den hervorragenden, dominierenden, ma߬
gebenden Juristen die Hauptsache. Und wenn ein Psychiater
gerade unter sensationellen Konstellationen, die immer ganz vom
Zufall abhängen, die persönliche Freiheit zu bedrohen scheint,
dann kann er auf lange hinaus Schaden stiften und den sach¬
gemäßen Betrieb der Psychiatrie stören. Die Wirkungen der da¬
maligen Sensationen in verschiedenen deutschen Ländern habe
ich geschildert in meinem ersten Bericht, den ich um das Jahr
1895 herum und unter dessen Sensationen allmählich zusammen¬
geschrieben habe. Und wer sich dafür interessiert, der kann
dort vieles Einschlägige aus jenen Jahren lesen. Wer ihn nicht
besitzt und ihn zu lesen wünscht, der braucht mir nur zu schreiben.
Jch kann sofort ein Exemplar schicken, solange ich noch Vorrat
habe.
Ich selbst hatte also, weil ich nicht in die „allzu zärtlichen
Umarmungen“ verfallen war, nach dem Jahre 1895 doch im
wesentlichen Ruhe im Punkt der Gefahren, welche drohen von
dem § 239 Str.-G.-B. Und dabei kann ich andererseits doch auch
mit gutem Gewissen behaupten: Ich habe auch kein Unglück
angerichtet. Ich habe mich immer ernstlich geprüft: habe ich
nicht doch durch zu viele Freiheit gefehlt in der Richtung des
Stiftens von Schaden? Aber ich darf sagen, ich hatte die zweifel¬
haften Fälle doch immer richtig taxiert, und es ist mir nichts
passiert. Wenn einmal was passiert wäre, so wäre die Sensation
natürlich sofort umgeschlagen in die Charybdis des Gegenteils,
und man hätte schärfer betont die Paragraphen 121 und 347
und was mit ihnen zusammenhängt. Und von dieser Seite aus
habe nun auch ich noch am ehesten Anfechtungen zu erdulden
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 4/6. 38
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556
Ri e g e r,
gehabt, aber nicht etwa, weil ich Unglück gestiftet hätte; denn
wie ich soeben konstatiert habe, ist mir ja gerade darin nichts
passiert. Sondern es war mbhr bureaukratischer Formalismus,
und insofern auch speziell juristischer, weil man da immer vor
allem darauf bestand: auch die psychiatrischen Fälle, welche die
Polizei eingewiesen hat, sind „Gefangene“ im Sinne der Para¬
graphen 121 und 347. Und mit Hilfe dieser Auslegung hat
man mich allerdings manchmal bedroht. Und ich habe diese
Drohung auch nicht gering geachtet. Denn es fiel mir dabei
immer der wichtige Spruch ein:
Faust t. 3361:
Ich weiß mich trefflich mit der Polizei,
Doch mit dem Blutbann schlecht mich abzuflnden.
Ein Paragraph des Strafgesetzbuchs ist eben ernsthafter als
etwas bloß Polizeiliches. Nun habe ich allerdings manchmal
dagegen geschrieben: meine psychiatrischen Kranken sind keine
Gefangenen. Ein Gefangener ist, wer eine zeitlich festhestimmte
Strafzeit zu verbüßen hat. Und nur derjenige fällt unter die
Paragraphen, welcher einen solchen wirklichen Gefangenen früher
in Freiheit läßt, als es geschrieben steht; wie es mir demgemäß
auch niemals eingefallen ist, jemanden in Freiheit zu lassen, von
dem mir ausdrücklich geschrieben worden war: seine Strafzeit
läuft ab am so und so vielten. Diese wirklichen Gefangenen
habe ich natürlich immer zum mindesten genau bis zu ihren
Terminen behalten. Und wenn ich auch diese vorher in Freiheit
entlassen hätte, so hätte ich den Paragraphen 347 zweifellos
verletzt. — Ich habe also manchmal zu behaupten versucht:
die bloß wegen Gefährlichkeit von der Polizei in'die Klinik Ge¬
schafften, ohne jeden Termin und nur abhängig von ihren je¬
weiligen Zuständen, diese sind keine Gefangenen. Bei ihnen
hängt ja eben alles bloß davon ab, wie sich nach der Einschaffung
der Zustand weiter entwickelt hat. Und dies zu beurteilen und
in seinen Folgen abzuwägen, dazu bin doch offenbar bloß ich in
der Lage. — Aber auf meine Darlegungen in diesem Sinne hin
haben die Juristen in der Regel auf Kommentare zum Straf¬
gesetzbuch verwiesen, in welchen stand: auch die durch die Polizei
in psychiatrischen Instituten Internierten fallen nnter die Para-
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Über unnötige Satzungen.
557
graphen der Gefangenenbefreitmg. Und so hätte ich also doch
auch manchmal mich kriminalistisch verfehlt insofern, als dann
eben doch vorher hätte ein ausdrücklicher schriftlicher Beschluß
mir vorliegen müssen, daß das Frühere aufgehoben sei, auch
wenn es bloß rein Polizeiliches war. Und so ist es von Zeit zu
Zeit immer wieder vorgekommen, daß man mir die Paragraphen
des Strafgesetzbuchs von der Gefangenenbefreiung vorgehalten
hat. Dagegen habe ich im allgemeinen in der Regel auch nichts
weiter eingewendet. Denn ein solcher Streit um das Wort: Ge¬
fangener geht den Mediziner schließlich doch nicht wesentlich an.
Ich habe aber in jedem einzelnen Fall immer auch deutlich darauf
hingewiesen: Wenn man nicht dulden will, daß ich diese „Ge¬
fangenen“ von mir aus deshalb entlasse, weil sie eben jetzt nicht
mehr gefährlich sind, dann muß man auch dafür sorgen, daß die
„Gefangenschaft“ nicht so unerträglich langsam aufgehoben wird,
wie es in der Regel der Fall ist. Und mit diesem Hinweis auf
die unendlichen Verschleppungen in den Büreaus habe ich dann
doch immer gesiegt. So war es z. B. bei einem Epileptischen.
Der Polizeiarzt hatte ganz mit Recht geschrieben, als er ihn
untersuchte: „Der Mann ist in hohem Grade gemeingefährlich,
er kann seine Frau totschlagen.“ Aber kaum hatte er es
geschrieben, war der Mann auch nicht mehr gemeingefährlich,
und die Frau wünschte aus pekuniären Gründen selbst am meisten
die Entlassung. Das Ehepaar wohnte in nächster Nähe der
Klinik. Ich kannte seit langen Jahren nicht bloß ihn selbst,
sondern auch seine ganze Familie, als Nachbarsleute. Und da
habe ich denn auch nicht lange gewartet, bis man mir schrieb,
der Beschluß wegen Gemeingefährlichkeit sei aufgehoben, sondern
ich habe die dringende Bitte der Ehefrau erfüllt und ihr gesagt,
sobald er wieder unruhig werde, könne sie ihn sofort wieder ohne
alles Weitere in die Klinik bringen. So hat sie ihn denn im
Laufe der Zeit auch noch fünfmal gebracht. Und es ist in der
realen Wirklichkeit gar nichts Übles passiert, und nur in der
papierenen Welt hat man mir mein Verfahren übelgenommen.
Und man wollte gerade aus diesem Fall des so sehr gefährlichen
Gefangenen mir das machen, was man heißt: „einen Strick
drehen“. Ich habe mich aber kräftig zur Wehr gesetzt und der
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Ri eger,
papierenen Welt besonders auch ihre schreckliche Langsamkeit
vorgerückt und hingerieben. Ich schrieb damals:
Alle psychiatrischen Anstalten, nicht bloß in Bayern, sondern auch
in den benachbarten Ländern, besonders in Württemberg und Baden,
sind immer überfüllt. Und es findet deshalb immer ein gewaltiger Andrang
von Kranken zu der psychiatrischen Klinik in Würzburg statt. Auch die
Einwohnerzahl der Stadt Würzburg wächst immer mehr. Und, selbstver¬
ständlicherweise. kommen deshalb auch aus der Stadt Würzburg immer
mehr Kranke in die Klinik. Trotzdem habe ich es bisher immer fertig¬
gebracht, daß frische Fälle stets aufgenommen werden konnten. Dieses
konnte ich aber nur deshalb, weil ich immer rechtzeitig, bildlich gesprochen,
das Entlassungsventil habe ziehen können. Sonst wäre es ganz unmöglich
gewesen. Wenn ich nun an Stelle meiner bisherigen Freiheit jedesmal zu
langen Verhandlungen gezwungen wäre, dann müßte sofort die schlimmste
Stauung in der Krankenbewegung eintreten, und den Polizeibeamten
müßte ein solcher Zustand unerträglich werden. Denn auch für sie ist
die Hauptsache: Erhaltung der Möglichkeit, daß alle frischen Fälle immer
sofort in die Klinik gebracht werden können. Dies ist aber unmöglich,
wenn bei den Entlassungen eine Zeit verloren geht, die bloß durch
Formalitäten bedingt ist und nicht durch wirkliche Ursachen.
Wenn ich bei dem epileptischen „Gefangenen“ mich an das papierne
Tempo gehalten hätte, so wäre er jedesmal dann in Freiheit gewesen,
wenn er gefährlich war, und in der Klinik, wenn er keine gefährlichen
epileptischen Zustände hatte.
Dies war denn auch einleuchtend und durchschlagend, und
demgegenüber verblaßten auch diese Deklamationen, die ja ganz
plausibel zu sein schienen, die aber doch im wesentlichen bloß
papieren waren. Ein Jurist hatte nämlich dieses geschrieben:
Solchen Klagen kann einzig durch die Erlassung von Satzungen,
welche die Aufnahme- und Entlassungsbefugnis der Direktion genau
regeln, wirksam vorgebeugt werden. Nur der Besitz von Satzungen
gewährt den Irrenanstalten ausreichenden Schutz gegen Anschuldigungen
einerseits wegen widerrechtlicher Freiheitsentziehung, andrerseits wegen
Vernachlässigung der schuldigen Pflege anvertrauter Kranker. Indem
sich ferner die Satzungen vor allem die Forderungen der Psychiatrie zur
Richtschnur nehmen, ermöglichen sie es dem Irrenarzte, den Kranken in
allen Fällen Arzt zu sein und die Geltendmachung des Rechtsstandpunktes
den hierfür zuständigen Organen, den Vormündern usw., zu überlassen.
Dies ist ja alles recht schön gesagt und nimmt sich auf dem
Papier auch recht schön aus. In Wirklichkeit ist es aber nicht
schön, sondern so, daß die größten Mißstände durch Überfüllung
deshalb entstehen, weil die Papiere, von denen dann alles ab-
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Über unnötige Satzungen. 559
bängt, nicht kommen. Dies war immer mein wirksamstes Argu¬
ment, z. B. so:
Die Frau soll in ihre Heimat gebracht werden und könnte ganz gut
reisen. Aber das Schreiben, das ich schon seit 3 Wochen erwarte, ist immer
noch nicht gekommen. Es ist eine reine Formalität. Wenn ich auf diese
nicht Rücksicht nehmen müßte, wäre sie schon längst in ihrer Heimat. Ein
Grund für die Verzögerung ist bei dem ganz einfachen Falle gar nicht
ersichtlich. Wenn es mit den Entlassungen so langsam geht, so sind Neu¬
aufnahmen ja unmöglich, und das ist das Schlimmste.
Immer wenn man mir nnnfitze Satzungen aufdrängen wollte,
habe ich remonstriert mit meinen Klagen über die Verschleppungen.
Und dies war immer so wirksam, daß ich dies Verfahren nur
auf das wärmste auch anderen Kollegen empfehlen kann. Ich
hatte mir ein unmittelbar übersichtliches und evidentes Ver¬
schleppungs-Verzeichnis angelegt, aus dem ich dann immer, wenn
es not tat, aus dem Vollen schöpfen konnte. Und das war meine
wirksamste Waffe gegen die unnötigen Satzungen. Auch in anderer
Weise habe ich jedesmal, wenn wieder Satzungen kommen sollten,
den Spieß umgedreht, z. B. so:
Ich benutze auch diese Gelegenheit zu der Bitte, es möchten doch
überhaupt die Personalien der Kranken genau angegeben werden. Es ist
wirklich tief beklagenswert, wie viele Zeit ich immer deshalb verliere,
weil ich immer wieder auf Ergänzung der Akten dringen muß. Ich meine,
dies müßte doch endlich einnfal anders werden. Eine einzige kurze, prä¬
zise und erschöpfende Angabe erspart eine Menge von Zeit, Papier und
Tinte.
Im gleichen Sinne habe ich auch in meinem Buch: „Die
Julius-Universität und das Julius-Spital“ viele Beispiele gegeben
davon, daß gerade di^Büreaukraten, welche mich am meisten mit
unnötigen Schreibereien gequält haben, in ihren papierenen Ex-
uberanzen immer doch recht mangelhaft sind und bei aller Viel¬
schreiberei gerade immer das Wichtigste vergessen. Wer Beispiele
davon lesen will, den verweise ich deshalb auf dieses Buch.
In bezug auf die Langsamkeit habe ich seinerzeit noch dieses
geschrieben:
Der langsame Geschäftsgang ist völlig unvereinbar mit den Be¬
dürfnissen der Psvchiatrie. Denn hier muß immer alles, was die Aufnahmen
und Entlassungen betrifft, umgehend erledigt werden. Das einzige Mittel,
welches die Krankenbewegung in erträglichem Gange erhalten kann, ist
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560
R i e g.e r,
Freiheit in den Entlassungen. Andernfalls kämen unerträgliche Zustände.
Denn es ist unmöglich, daß auf dem papierenen Wege alles so rasch erledigt
werde, wie ich es ohne Papier erledigen kann. Man kann die Fälle eben
nur dann rasch erledigen, wenn man sie immer direkt und persönlich vor
Augen hat. Wenn man sich immer erst lange in Papiere hineinstudieren
muß, dann dauert alles viel zu lange. Und alsdann ist auch eine unerträg¬
liche Uberfüllung unvermeidlich.
Vor hundert Jahren hat der damalige Würzburger Psychiater Dr-
Anton Müller folgende vortreffliche Sätze geschrieben in seinem Buche:
Die Irrenanstalt des Julius-Spitals (Würzburg 1824) S. 29:
„So ein mit Formen begleiteter langwieriger Geschäftsgang kann
wohl bei der Rechtspflege innegehalten werden, für das Ärztliche paßt er
aber gar nicht. Der bei einer Gerichtsstelle eines erlittenen Schaden¬
ersatzes wegen nachsuchende Untertan hat immer Ursache, zufrieden zu
sein, wenn das für ihn günstige Urteil auch 3—4 Wochen oder Monate
später erfolgt, als es hätte erfolgen können, und dem Verbrecher kommt
das Strafurteil immer zu früh. Ganz anders verhält es sich mit dem Prozeß,
den der Arzt mit der Krankheit zu führen bekommt. Hier läßt sich kein
zerstörlicher Termin auf Tage und Wochen anberaumen, die Krankheit
zerstört selbst, und der^Tod gewinnt den Prozeß.“
Und gerade in den Tagen, da ich diese Stelle ans dem alten
Buch herausgeschrieben habe, ist mir die nachstehende Zeitungs¬
notiz in die Hände gekommen:
Beim Bahnhof wurde die Leiche einer Frau aufgefunden. Sie war
leidend und hat schon öfters Selbstmordgedanken geäußert. Sie hat sich
von einem Bahnzug überfahren lassen.
Und dann kam ^ auch der Ehemann und der Sohn und be¬
lichteten, sie hätten sie vorher in die Klinik gebracht, wenn es
nicht so viele Schwierigkeiten und Verzögerungen bei dem Magi¬
strat gegeben hätte. —
Daß es bei dem Magistrat nicht so schnell gehen kann wie in der
Klinik; dies ist ja unmittelbar einleuchtend. Denn schon die mechanische
Tätigkeit des Schreibens muß ja immer sehr viele Zeit in Anspruch nehmen.
Dies ist einfach unvermeidlich. Deshalb meine ich aber auch, man sollte
die Anlässe zu Unglücksfällen nicht noch weiter vermehren. Und wenn
die Entlassungen erschwert würden, dann müßte die unfehlbare Folge
diese sein, daß mehr Selbstmorde vorkämen. Denn dann wäre die Klinik
in Bälde unerträglich überfüllt, und die Aufnahmen wären gesperrt. So,
wie es jetzt ist, kann ich wenigstens die Klinik selbst offen halten. Und
die Verzögerungen finden nur statt außerhalb der Klinik. Wenn es aber
anders gemacht würde, dann wäre die Klinik selbst gleichfalls bald gesperrt.
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Original frum
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Ober unnötige Satzungen.
561
Durch solche Gegenangriffe habe ich bis jetzt noch immer
alle Versuche abschlagen können, die auf unnötige Satzungen
gerichtet waren. Ich druckte gerne hier noch einiges Weiteres
ab. Ich habe aber versprochen, ich nehme nur ungefähr 12 Druck¬
seiten in Anspruch. Und nach meiner Schätzung habe ich diese
v schon hier überschritten. Ich muß deshalb zum Schluß eilen.
Ich denke, daß ich schon in dem Vorstehenden, auch für andere
in ähnlichen L^gen, Lehrreiches, berichtet habe. Was ich aber
noch weiter mitteilen möchte, das muß ich verschieben auf meinen
nächsten Bericht aus der psychiatrischen Klinik. Und in bezug
auf das, was. ich schon früher habe drucken lassen, verweise ich
nochmals auf meinen ersten Bericht. Dort habe ich auf Grund
einer, damals zwanzigjährigen, Praxis vor allem dieses entwickelt:
der Paragraph 239 des Strafgesetzbuchs schützt die Freiheit viel
wirksamer als alle Polizeiverordnüngen. Jetzt, nach einer Er¬
fahrung von weiteren zwanzig, im ganzen also von vierzig Jahren,
kann ich sagen: ich bin davon nur noch fester überzeugt. Und
gerade jetzt, anläßlich dieses meines Aufsatzes, habe ich eine
Menge von Zeitungsausschnitten nochmals durchgelesen, die ich
mir im Laufe vieler Jahre gesammelt habe über einschlägige
Geschichten aus allen deutschen Ländern. Und als ich diese
aufmerksam las, mußte ich mir immer wieder sagen: die Haupt¬
ursache alles unnötigen Spektakels, Rumors, Skandals war diese:
durch Satzungen und Polizeiverordnungen schien alles auf dem
Papier in Ordnung zu sein. Aber auch die schwierigen Fälle
waren nach den gleichen Papieren behandelt worden wie die
allereinfachsten, die überhaupt keines Satzungspapiers bedurft
hätten. Dadurch wurde aber das Bewußtsein und die Unter¬
scheidung für die schwierigen Fälle völlig abgestumpft. Wenn
man dagegen immer die volle Verantwortlichkeit hat in bezug auf
das Strafgesetzbuch, dann macht man den nötigen scharfen Unter¬
schied zwischen den Leuten, die nachdrücklich protestieren gegen
die Internierung, und den anderen, bei denen dies gar nicht in
Betracht kommt.
Auf die Individualisierung und Differenzierung kommt alles
an. Wenn er es zu tun hat mit nachdrücklich Protestierenden,
dann muß der Psychiater anch seinerseits - nachdrücklich eine
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
562 Ri eg er, Uber unnötige Satzungen.
Entscheidung von der Polizeibehörde verlangen. Wenn er dies
tut, und wenn dann, wie es ja gewöhnlich ist, die Behörden die
Entscheidung lange verschleppen, dann kann er jede neue Be¬
schwerde des Protestierenden mit eigenen drängenden Monitorien
weitergeben in dem Sinne, daß im Hinblick auf das Strafgesetz¬
buch der Psychiater den Fall nicht auf eigene Verantwortung
übernehmen kann, und daß deshalb hier die Behörden in ihren
geregelten Instanzen entscheiden müssen. Wenn fliese dann ver¬
schleppen, ist der Psychiater außer aller Verantwortung. —
Ich bedaure jetzt besonders, daß hier der Platz fehlt für den
Abdruck der Zuschriften hervorragender Juristen, die ich auf
meine früheren Darlegungen erhalten habe. Auch deren Sinn
und Inhalt war: viele Verordnungen im einzelnen machen gerade
eine richtige Wirksamkeit der wesentlichen und fundamentalen
Gesetzesbestimmungen unmöglich. In meinem nächsten Bericht
werde ich das Wichtigste von diesen Zuschriften abdrucken.
Für dieses Mal spreche ich nur noch meine Hoffnung aus, es
möge diese Auffassung auch den Beifall unseres Jubilars finden,
der ja auch vielfach sich darum bemüht hat, däß der Psychiater
mehr aus eigener Initiative handle und nicht bloß als ein Rad
in der büreaukratischen Maschine.
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Die physiologischen Korrelate der Lust and Unlust.
Von
Dr. Hans Laehr.
Gegenüber früheren Anschauungen über die physiologischen
Korrelate von Lust und Unlust, die von den Ausdruckbewegungen
ausgingen oder sich auf den Stoffwechsel in der Hirnrinde gründeten,
hat Ziehen eine Auffassung vertreten 1 ), die er in den folgenden Sätzen
zusanunenfaßt *): „Die Gefühlskomponente des psychophysiologischen
Prozesses ist mit der Entladungsbereitschaft der kortikalen Zellen
identisch. Einem bestimmten Empfindungs- und Vorstellungsinhalt
entspricht ein bestimmter Veränderungsprozeß (z. B. eine chemische
Umsetzung) in den Bindenzellen. Bei einem bestimmten derartigen
Veränderungsprozeß kann die Entladungsbereitschaft noch sehr ver¬
schieden sein, d. h. die Tendenz und Fähigkeit zur Fortpflanzung
der Erregung (z. B. der chemischen Umsetzung) in die aus der Zelle
entspringenden Assoziations- bzw. Projektionsfasern kann größer oder
kleiner sein. Einer großen Entladungsbereitschaft entsprechen die
positiven, einer geringen die'negativen Gefühlsprozesse.“
Diese Theorie fußt auf der Ansicht, daß Lust den Vorstellungsablauf
beschleunigt, Unlust ihn verlangsamt, und Ziehen glaubt den Nachweis
geliefert zu haben, „daß in der Tat bei Vorherrschen lustbetonter Vor¬
stellungen die Reaktionszeit etwas verkürzt, bei Vorherrschen unlust-
betonter Vorstellungen etwas verlängert ist“. Der Beweis ist aber nur
für den geliefert, der die Gefühle der Erregung und Ruhe oder Depression
(Wundi) nicht anerkennt und deshalb außer acht läßt. Ziehen berück¬
sichtigt zwar die Ablenkung der Aufmerksamkeit, aber nicht Erregung
und Depression, die in.den beiden von ihm angeführten Beispielen doch
1 ) Ziehen , Eine Hypothese über den sogenannten „gefühlserzeugen¬
den Prozeß“, Ztschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane Bd. 31, S. 21f>.
und ausführlicher: Physiologische Psychologie der Gefühle und Affekte.
Verhdl. d. Ges. deutscher Naturforscher u. Ärzte, Kassel 1903, S. 4L
*) Im zweitgenannten Aufsatz S. 56.
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Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
564
Laehr,
wohl vorhanden sein konnten. Er versetzt einen Paralytiker, bei dem
eines Morgens die akustische Reaktionszeit im Mittel zu 362 Tausendstel¬
sekunden bestimmt war, „durch einige suggestive Äußerungen über seinen
Krankheitszustand in traurige Stimmung. Die Respiration wird etwas
rascher, auf der Stirn zeigen sich einzelne Runzeln, der ganze Gesichts¬
ausdruck entspricht einer lebhaften Depression. Nunmehr ergibt sich
eine mittlere Reaktionszeit von 448 Tausendstelsekunden. Unmittelbar
darauf wird der Pat. in analoger Weise in heitere Stimmung versetzt.
Die mittlere Reaktionszeit fällt alsbald auf 308 Tausendstelsekunden.
Für. die kritische Beurteilung des Versuches ist besonders bemerkenswert,
daß die sogenannte mittlere Variation vor den Affektreizen und während
der heiteren Phase fast doppelt so groß war wie während der depressiven
Phase. Ein ganz analoger Versuch bei einem angeborenen Debilen ergab
beispielweise vor der Affektreizung 178 Tausendstelsekunden, nach de¬
primierenden Suggestionen 218, nach exaltierenden 165 Tausendstelse¬
kunden. Im Hinblick auf gewisse Einwände sei noch bemerkt, daß die Dif¬
ferenzen sich sowohl bei muskulärer wie bei sensorieller Reaktionsweise er¬
geben“ (S. 53). Wurde bei den Kranken durch die Suggestion neben lust¬
voller Stimmung auch Erregung hervorgebracht, so konnte diese — und
mußte nicht, wie Ziehen meint, die lustvolle Stimmung — an der Verkür¬
zung der Reaktionszeit schuld sein. Nach dem Genuß von Kaffee, als dessen
Wirkung Kraepelin eine Verkürzung der Reaktionszeit nachgewiesen hat,
zeigt sich ja auch ein deutliches Erregungsgefühl, ohne daß hier Lust¬
gefühl wie nach Tee damit verbunden zu sein braucht. Freilich tritt
in diesem Falle infolge des Bewußtseins rascherer Geistestätigkeit und
erleichterter Aufmerksamkeit leicht auch Lust auf, nur darf man sie
dann nicht als Ursache der Vorstellungsbeschleunigung betrachten, da
sie vielmehr deren Wirkung darstellt. Die Veränderung, die die Reak¬
tionszeit und mittelbar das Gefühl betrifft, und die hier durch ein
physisches Mittel bewirkt ist, würde in Ziehens Beispielen durch einen
psychischen Reiz erzeugt sein. Und ebenso könnte die „Depression“
hier nicht nur das Gefühl der Unlust, sondern auch das der Depression
umfaßt haben und letzterem die Verlangsamung der Reaktionszeit ent¬
sprechen. Nehmen wir das an, so wäre gerade bei einem Paralytiker und
einem Debilen die Verkürzung der Reaktionszeit bei Erregung ohne Ver¬
mehrung der mittleren Variation verständlich. Zwischen starker Erregung
und starker Ruhe liegt eine mittlere, für die Aufmerksamkeit günstige
Erregungsstärke, bei der sowohl leichte Erregungs- wie Ruhegefühle wahr¬
genommen werden. Wir bezeichnen diesen Zustand meist als Ruhe, weil
wir ihn im allgemeinen mit größerer Erregung zu vergleichen pflegen und
daher die Ruhe betonen. Wenn wir aber z. B. in Erwartung eines Signals
unser Gefühl mit dem der vorhergehenden Ruhe vergleichen, so werden
wir von leichter Erregung sprechen, die nicht nur während der Erwartung
an- und abschwellen, sondern auch an sich geringer oder größer sein kann.
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Dio iihydudogischen Korrelate-'der Last und (Tolltet. rSö
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und das ihm vnSpreche mir in»hegt 1 fohl mit der Verkürzung uad v <
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•vorahs'PPti^n^urid d&diölb «h,ff dinen mb|»r nach • fVtj&S h]:;i
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V-rregiijig r<hnk Voi'Küi^ut.g d»*r H«*akt»*>.»^2h*t <>ft «v Yvrgroik'f';.-!• :
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ßfrftda Vörböindtot ist’, die flTH ttth v‘(£rt»üwi^'(' -V >■>
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Vergleich zu der n;hr erhobh< höh Ve«Tn «i*r-\ t w»« ng der AK.^oy.uatf.*•
»thtuslbelo^^ unigckehrt Yverdon hrd Vx*rw»egi>« vvh fefd
öftektidi huch Vans'iogeiid Idäwßtljjltv VörstoUnngen geW»V.kt. >j nd ^CTdiv
Wecku ttg Vtdl5sJt>hi Mich' besonders rnsch. ynser Ctefühlatahev» w^riv >
also gerfiksciawaßen ajfs f-in SoIhstiiiultTtiUk^tor: durch W^.-koug ’fvy ,?- '>»■'
Hli^hifhgbU ictfilagc»' j^efhblshiMniiung vörsfhi'kt ek ilfc citunaT vufi.la*»t4vn« ; . •.;
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töglitihfeti tiwhf?Bö ni«tre|d. I« »Wr.‘ho;preRsh>Tj suchen Wir gin'öth'äiii ;
dld jSchsttoftkaiidn- hcryiis^ ff»r ’wrifcbie’, ö®* 1 ’ -Höifewo oH gei'ädozii. : ;Mi‘T»itvt^/\
htnui iRf.” (8. T;—:<:-). Das Ergebnis dn^er A'ernisohsroitm w-h».ii
üiötniär oben dhrgeiögle« Auffassung IcbihT (dMügedf • #.v'.***b»; )iIVfift .'
Zfchtn apm'bnie* *.4«ö 4^;göfjiK|ädf.w-ugondo ’Pr«>ÄöJß; ■?&•■ ß^p-- ■. { ;
3 i Vgt. fotvrltti. .V^yt-hdl.' Versuche ji«. Ma.nisch-.{>v(«n-'f.aver» • i f.th
f. I' .V'li'il I\. Veurot Ud ’> -2;.
C° glc
566
La eh r.
eine Komponente desjenigen Erregungsprozesses ist, welcher den Emp¬
findungen und Vorstellungen entspricht“ (S. 50), sondern Lust und Unlust
als selbständige Bewußtseinserscheinungen betrachte, die sich nach Art
der Ideenassoziation mit Empfindungen und Vorstellungen verbinden.
Ziehen lehnt diese Auffassung ab — ich komme darauf zurück und sucht
die Ergebnisse beider Versuchsreihen dadurch miteinander zu vereinigen,
daß er Erregbarkeit, Erregung und Entladbarkeit der Zellen, in welchen
die Empfindlings- und Vorstellungserregungen verlaufen, unterscheidet.
Da ,,unlustbetonte Vorstellungen bei UnlustatTekten sogar besonders
leicht ansprechen und umgekehrt“, kann ,,die Unlustbetonung die An¬
spruchfähigkeit oder Erregbarkeit als solche nicht herabsetzen. Di«*
Gefühlsbctonung hat mit der Erregbarkeit nichts zu tun. Um dies
noch spezieller zu erhärten, haben wir zahlreiche Versuche angeslellt.
um bei depressiven Zuständen die Reizschwelle und die Unterschieds¬
empfindlichkeit zu bestimmen. Bis jetzt beschränken sich diese Versuch«*
auf Berührungs- und Schallreize. Das Ergebnis ist ganz unzweideutig:
Depressionszustände als solche, namentlich Traurigkeit und Angst,
erhöhen die Reizschwelle nicht. Die kortikale Erregbarkeit ist also keines¬
falls allgemein herabgesetzt. Ein noch feineres Reagens auf die kortikale
^Erregbarkeit bietet die Prüfung der Unterschiedsempfindlichkeit. Aus
vielen Tausenden solcher Einzelversuche hat sich bestimmt ergeben, daß
auch diese durch Depressionszustände nicht herabgesetzt wird, wofern es
nur gelingt, Aufmerksamkeitstörungen zu vermeiden. Wenn nun also
die Assoziationszeit doch jene charakieristischenVeränderungen zeigt,
wie sie sich bei den Reaktionsversuchen ergaben, so wird uns nahegelegt,
da die Anspruchfähigkeit oder Erregbarkeit nicht in Frage kommt, an
die Entladungsfähigkeit oderEntladungsbereitschaft zu denken.
Alle von uns ermittelten Tatsachen lassen sich in dem Satz ausdrücken.
daß positive Affekte diese Entladungsbereitschaft steigern, negative diese
Entladungsbereitschaft herabsetzen. Erregbarkeit, Erregung und
Entladbarkeit sind, was bisher selten geschehen ist, scharf zu trennen.
Die Affekte haben es nicht mit der Erregbarkeit, sondern nur mit der
Erregung selbst oder ihrer Entladbarkeit zu tun. — Und auch diese letzte
Alternative: Erregung oder Entladbarkeit, ist schon auf Grund alltäglicher
Beobachtung zu entscheiden. Negative Affekte sind nicht durch Herab¬
setzung der Erregung charakterisiert. Die Angst, der negative Affekt
katexochen, zeigt uns im Gegenteil oft Vorstellungen von einer ungewöhn¬
lich starken Intensität. Die Trauer um den Tod eines Angehörigen zeigt
uns gleichfalls negatjve Gefühlstöne an äußerst intensive Vorstellungen
oder Erinnerungen gebunden. Der Schrecken bei einem plötzlichen Unfall,
der Schmerz bei einem Stich, bei einem Verbregnen und viele ähnliche
Beobachtungen lehren uns, daß hohe Intensität der Empfindungs- und
Yorstellungserregungen sich mit negativen Affekten nicht nur verträgt,
sondern geradezu oft negative Affekte begünstigt. Die experimentelle
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
»67
Prüfung gestaltet sich etwas schwieriger, führt aber bei exakter Ausführung
zu demselben Ergebnis. Wir können nämlich die Intensität der Rinden¬
erregungen durch die motorische Leistung an einem Kraftmesser messen,
also mit Hilfe des Dynamometers oder besser des Ergographen. . .. Aus
unseren zahlreichen Versuchen ergibt sich zweifellos, daß selbst bei der
stärksten Depression und Angst die dynamometrischen und ergographi-
schen Leistungen, ausgedrückt durch Hubhöhe, Zahl der Hebungen und
Gewicht und auf gleiche Zeiten reduziert, durchaus nicht herabgesetzt
sind. ... Angesichts aller dieser Tatsachen wird man auch die Erregung
selbst ebensowenig wie die Erregbarkeit als den Träger des gefühls¬
erzeugenden Prozesses betrachten können“ (S. 5'»—55). Die hier gemeinte
Erregung der Zellen, der psychologisch die Intensität oder Energif der
Vorstellungen entspricht, hat nichts mit dem Gefühl der Erregung zu tun,
dessen physiologischen Grundvorgang ich als Ursache der Beschleunigung
des Vorstellungsablaufs ansprach. Wohl aber könnte der Nachweis, daß
Depressionszustände als solche, namentlich Traurigkeit und Angst, die
Reizschwelle für Empfindungen nicht erhöhen, und daß sie weder die
Unterschiedsempfindlichkeit noch die dynamometrischen und ergographi-
schen Leistungen herabsetzen, gegen die Ansicht verwertet werden, daß
die Verlangsamung der Assoziationszeit bei Depressionszuständen mit dem
Gefühl der Ruhe oder Depression und nicht mit dem Gefühl der Unlust
Zusammenhänge. Nun ist aber bei starkem Ruhegefühl die Weckung der
Aufmerksamkeit zwar erschwert, gelingt es jedoch, sie auf eine Vorstellung
zu richten, sei es auf die bestimmter Empfindungen oder ihrer Unterschiede
oder auf die gewisser motorischer Leistungen, so wird diese Einstellung
zwar im allgemeinen längere Zeit in Anspruch nehmen, aber, solange sie
besteht, die Reaktionszeit in der durch sie gegebenen Richtung verkürzen,
zugleich allerdings auch das Ruhegefühl für die Zeit ihres Bestehens auf-
heben oder vermindern und hierdurch einen Bestandteil der Traurigkeit
oder Angst verändern.
Weiterhin berücksichtigt Ziehen die Irradiation und Reflexion der
Gefühle. ..Wir sind gezwungen, der affektiven Komponente der Emp-
lindungs- und Vorstellungserregungen eine Übertragbarkeit zuzuschreiben,
wie sie der inhaltlichen Komponente nicht zukommt. Die Entladbarkeit
oder Entladungsbereitschaft, deren Veränderung sich für die Gefühle als
so wesentlich erwiesen hat, müssen wir uns als eine übertragbare Eigen¬
schaft vorstellen“ (S. 66). Wir müssen das freilich nur, wenn wir die
Irradiation und Reflexion der Gefühle nicht auf Vorgänge nach Art der
Ideenassoziation zurückführen. Fassen wir dagegen Lust und Unlust nicht
als Gefühlstöne im Sinne Ziehens, sondern als selbständige Gebilde auf,
die sich mit Empfindungen und Vorstellungen verbinden, wie Vorstellungen
dies untereinander tun, so erklären sich die Erscheinungen der Irradiation
und Reflexion ohne weiteres.
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568
Laehr,
Diese Ausführungen scheinen mir Ziehens Theorie einigermaßen
zu erschüttern. Zudem erklärt die Ansicht, daß Lust und Unlust
ursprünglich unabhängig von Empfindungen und Vorstellungen und
mit ihnen in einer der Ideenassoziation ähnlichen Art verbunden sind,
die Erscheinungen ebensogut und führt sie zugleich auf einen allgemein
anerkannten psychologischen Zusammenhang zurück, der auch gehirn-
physiologisch mir weniger Schwierigkeiten zu machen scheint als die
„ Entladungsbereitschaft“ der Hirnelemente. Allerdings wendet sich
Ziehen hiergegen mit der Feststellung der Tatsachen, „daß weder die
sogenannten Gefühlstöne noch die sogenannten Affekte jemals selb¬
ständig auftreten, sondern stets an Empfindungen oder Vorstellungen
gebunden sind“ (S. 49), und „daß für eine spezielle Lokalisation der
Gefühlsprozesse in einem bestimmten Gebiete der Hirnrinde keine
einzige Beobachtung spricht“ (S. 50). Letzteres ist gewiß richtig,
ersteres wohl nur mit Einschränkung. Eine unlustige Stimmung kann
die Vorstellung überdauern, mit der verbunden sie auftrat, dann also
selbständig beharren, und nicht immer kann dies durch Irradiation
erklärt werden. Wenn z. B. eine unlustige Vorstellung durch eine
sonst lustvolle Vorstellung abgelöst wird, etwa ein ärgerliches Er¬
lebnis durch die Vorstellung einer bevorstehenden Reise, so braucht
weder diese unlustig zu werden, noch die trübe Stimmung zu ver¬
schwinden. Die Reise erscheint mir nicht unangenehm, nur erregt
sie jetzt nicht die Freude wie sonst; ich weiß, daß sie das sonst tat,
jetzt aber setzt sich die Lusterinnerung nicht in lebendige Lust um,
die Stimmung bleibt trübe trotz der an sich lustvollen, jetzt aber nach
dieser Richtung unwirksamen Vorstellung. Die Unlust ist also in
diesem Falle nicht auf die Vorstellung der Reise irradiiert, nicht zu
deren Gefühlston geworden, sondern behauptet sich ihr gegenüber
selbständig. Die Unselbständigkeit des Gefühls bezieht sich somit
nur auf dessen Auftreten. Immerhin wird jede Theorie damit rechnen
müssen, daß Lust und .Unlust nur mit Empfindungen und Vorstellungen
auftreten — ohne bei ihrer Fortdauer an. diesS oder andere Empfindun¬
gen oder Vorstellungen gebunden zu sein —, und daß der physio¬
logische Parallelvorgang der Lust und Unlust in gleicher Weise über
die Hirnrinde verstreut zu denken ist wie der Parallelvorgang der Vor¬
stellungen. Wohl aber ist eine Theorie zulässig, die Lust und Unlust
nicht im Sinne Ziehens als unselbständig, als bloße „affektive Kom-
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
569
ponente der Empfindlings- und Vorstellungserregungen“ betrachtet,
wenn sie nur verständlich macht, daß *Lust und Unlust stets in Ver¬
bindung mit Empfindlingen oder Vorstellungen auftreten, und daß
der Nachweis ihrer Lokalisation in einem besonderen Teil der Hirn¬
rinde nicht gelingt.
Vor allem jedoch muß sie dreierlei verständlich machen, 1. daß
der „Gefühlston“ der Empfindung von der Intensität des Reizes (oder
der Empfindung) abhängt, 2. daß die Triebrichtung von Unlust zu
Lust geht, und 3. daß im allgemeinen Lust mit Vorgängen verbunden
ist, die das Dasein des einzelnen und der Gattung zu fördern, Unlust
mit solchen, die das Dasein des einzelnen und der Gattung zu benach¬
teiligen geeignet sind. Ziehens Theorie ist mit alledem vereinbar,'aber
sie erklärt weder das. Verhältnis von Lust und Unlust zur Intensität
der Empfindung, noch das zum Triebe, noch das zur Erhaltung des
Individuums und der Art, weil sie nicht von diesen Haupttatsachen
ausgeht, sondern von dem für die Bedeutung der Lust und Unlust
nebensächlichen und meiner Ansicht nach nicht ausreichend bewiesenen
Verhältnis des Gefühlstons zur Schnelligkeit der Ideenassoziation.
Da der aufgestellten Forderung auch die von Ziehen mit Recht abge¬
wiesenen Theorien nicht genügen, die sich auf die Ausdruckbewegungen
oder auf den Stoffwechsel in der Hirnrinde gründen, scheint mir der
Versuch berechtigt, auf Grund jener drei Verhältnisse eine andere
Theorie aufzustellen. Ich will ihn zunächst durchführen, unbekümmert
um neuere Theorien, und dann erst auf diese eingehen, soweit sie sich
mit der meinigen berühren und zu ihrer Klarstellung dienen können.
Wir wissen zunächst ganz allgemein, daß der „Getühlston“ der Emp¬
findung von der Intensität des Reizes oder der Empfindung abhängl:
mittlere Grade der Intensität sind mit Lust, hohe mit Unlust verbunden,
wenn auch auf den einzelnen Sinnesgebieten und in bezug auf die einzelnen
Qualitäten die Lust- und Unlustschwellen sehr verschieden hoch liegen.
Die Zweckmäßigkeit dieser Zuordnung, die sich aus dem Verhältnis der
Lust und Unlust zum Handeln ergibt, ist oft hervorgehoben worden, und so
betontauch Ziehen namentlich, daß,,intensive mechanische und kalorische
Reize in der Entwicklung der Tierreihe die früheste, häufigste, direkteste
und größte Gefahr für den Tierkörper bilden. Dein mußte sich der Tier¬
körper anpassen: er mußte auf diese Reize besonders rasch mit Abwehr¬
oder Fluchtbewegungen antworten. Dies ist nun tatsächlich in zweck¬
mäßigster Weise dadurch erreicht, daß mit intensiveren mechanischen und
kalorischen Empfindungen ein so durchaus dominierendes Unlustgefühl
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570
L a e h r,
wie das des Schmerzes sich verbindet“ (Phys. Psych.. 7. Aufl. S. 122).
Und er erklärt es mit Recht als nur psychogenetisch verständlich. ,.daß
Bitter schon bei viel geringeren Intensitätsgraden Unlust erregt. Süß
dagegen bei viel höheren“ (ebenda S. 123). Phylogenetisch verständlich
ist natürlich nicht das Gefühl von Lust und Unlust selbst, sondern das
Handeln in Abhängigkeit von der je nach der Qualität verschieden abge¬
stuften Intensität des Reizes, aber zwischen Reiz undHandeln sind Nerve n-
vorgänge eingeschoben, die der Lust und Unlust entsprechen. Jedoch
erst, wenn wir weitergehen und nicht nur das Handeln, sondern alle auf
Nervenreiz erfolgenden Bewegungen und Abänderungen der Organtätig¬
keit als abhängig von der Intensität der Reize betrachten, erhalten wir
eine genügend breite Grundlage der Lust und Unlust. Wir erinnern uns,
daß Arndt in Verallgemeinerung des Pflüge rucken Zuckunggesetzes für
normale Verhältnisse das „biologische Grundgesetz“ aufgestellt hat:
„Kleine Reize fachen die Lebenstätigkeit an, mittelstarke fördern, starke
hemmen sie, stärkste heben sie auf“, ein Gesetz, das Schulz auch auf
pathologische Verhältnisse übertragen und weiter ausgebaut hat. Von
diesen die Lebenstätigkeit fördernden und hemmenden Reizen hängt offen¬
bar nicht nur die Richtung des Handelns und der Beeinflussung der Lebens¬
tätigkeit. sondern auch das mit dieser Richtung verbundene Lust- und
Unlustgefühl ursprünglich ab, und zwar muß die Richtung des Handelns
und der Beeinflussung der Lebenstätigkeit dahin gehen, daß Störungen
vermieden oder beseitigt werden, entsprechend dem Satze Pflügers: Die
Schädigung ist gleichzeitig die Ursache der Entfernung der Schädigung.
Hieraus ergibt sich folgende Auffassung: Die der Unlust ent¬
sprechenden Nervenvorgänge müssen zunächst durch Störungen der
Lebenstätigkeit hervorgerufen werden, aber sie müssen Veränderungen,
darunter auch Bewegungen, anregen, die im allgemeinen geeignet sind,
diese Störungen zu beseitigen. Dagegen müssen die der Lust ent¬
sprechenden Nervenvorgänge zunächst hervorgerufen werden durch
zweckmäßige Regelung der Lebenstätigkeit, und sie müssen das Be¬
harren in der gleichen Tätigkeit begünstigen oder doch nicht stören.
Aber noch eine zweite Folgerung scheint zunächst unumgänglich:
Die der Lust entsprechenden und das Beharren in zweckmäßiger
Lebenstätigkeit begünstigenden Nervenvorgänge und die der Unlust
entsprechenden und die Störung der Lebenstätigkeit beseitigenden
Nervenvorgänge müssen durch Erregungen derselben Nervenbahnen
hervorgerufen werden, die nur in ihrer Intensität verschieden sind:
es müßte also derselbe Empfindungsnerv bei schwacher Reizung die
entgegengesetzte Wirkung entfalten als bei starker, und das i$t schwer
vorstellbar. Denn wenn auch die starke Nervenerregung sich auf
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f% elegische» Korrelate der J.iifei und ' t-nJust,
rdiw ^öÖpj^ ^ ausbmt et and' dadurch fäfrife
Wirkungen sie doch
. .ßtTegimg ••süehi ltiHrt$emn JSiement.e ftürker mzm und. somit.
• ; Wirkung .».J**f Ist^gtui.'j vergi'sa^,. §jg£ iStojgmii).,
vtmi dalmt dh? AAlrfotng »hftn'dfern.j ■ »Her-'wie soll «h».
y\-M t.h-e .'»tfül v>:rkehren? Di*, liegt dev r?.'<!e,nkt* n,alie c däß der r-
Binj?Wlui^8iiefvt!ii ji- dach der
Mirk? ü*>: : Riw verschicvlemv Ahirglviige veranlaßt v »iie
ob liföt' rnit der ihr «r#it®jsrecI*^w4ön h4«r
Wirkung omtilte, Hnd da nahh dem
xehwathmre l<t4s&p die Lebftjisr&tigkpit aufMbcft <n|?r
Ojrc^fh, >?tl^kere sie hehim^h^i^aU^dberif .w^d^a'^ir die Möglich kwt
ins mpllji daß jene F»h$ö|», die die Richtung der ‘Wirkung '>■■■■
.vummm-, ive-av in der Förderung «der Hemmung der :Lehen>inf!"*?»»
gt^idum. sind, «laß aber U&jji Wirfernig auf dass 2eßirahiaH^u»v>.ten*
und damit auch auf Lh&t «der Unluiit muht: ddirßb^dtg : :)äm.nßhdtd^- _
nerven vermittelt wird,
mm *■'•>,hn\ uci ’•). daß JUist. Uini Unlust- ujü iokvrrO>t<
und Sterling •der f..ebenst yligk «nt *:t übergeh«, io*lcm <«• <lb-. :.••■: ,; .■
iler Mythe von bfatp- fuiiktiba^a.itriiErrjoijl&a• öe^dß^nv^erwn^
di»* li^ : : : $igji&; ni'.hoi jtvyutrt Mangel »d/ier .4»>lchoii. ^biciirhh 'IISia'i^ji.kibraiwF'
llVt.«‘i«miii> habe. »im* i her.v.hvreinc««»»:* mit J5-'ww4"lt. «■., r.
AlbtrtugSptiasSV der iitndeaxetl^fl uiid damit
iäj» 2 Jt, •sncVEfiibt der A^o?f#Uwitni $$*' fiw Ötnvogüugst in puls*,-
:’ ^Ü*viiij|^V: : etftiEir hjiüc!4<?iwdjVtt Hyperämie führe stagesfim zu eip^' <
,hi‘bea Aiirtun^piiijse dar--JlindeiüMslte«♦,und ttainif zulüfldr iicrf»iijiü«g jem «
'i : iiadrrolÄt ; );kkei|!i,f^jÖ^/^AasdriiHc »Irr : .fipift'ieti$i;heii <•
fjfrtuteö^Hhju .sei rbisA^djitötte'.igwfÖbl» der der dysp uoe t isüheji:
:,ub>' Stimmnhg, die mrh iur
: sei 'tjiie.r--.irt5 kir'Sitkhalk*a^^usiattde;, da,»Maß, dhr
. viNi ii^r ÖKfhß^bitV. Sä bewirke für gevvohnlitii ißw Ffjftc • dW? -.
»t, ft. der A6sn»Jatioat*a; ©iho- llypecamie' fa*-
• Rindt* »si eil« n and * Wuck^efühh wahi-emt eiy HematnuK $$t A-
*nst;ctigheit du-- ll.vpefiWote vei-vil'.!>• >ruA :-. v r Bug:’ -n-- .«•!<•••'
• ^tmmbeUs., so*' 'tcen.-.i. u-Ui-‘-,
sinnen will kr-mLduitv t^öviin *«.'vrdeidiirn e« hiiirea n'--:--
-talifir ilee Lust Zy wiehs, diei' t?«irrst .Abnabtrnr «M
Ij^nr id^fn iwi,^Btr?ii ^t^u'ride. iVir seheu abiv imte-r nniTneteu. einl<i: ihm
*1 Tb. ,\Ji-irmr‘u fCl*r»«M hi- Vi.)lit'S\uig--ti niy-t iH-iiUtmr. Wb-..
-., i 1!
Go gfe iJNI.VEft|r^P
572
Laehr,
Verhältnissen, etwa beim Kinde, wo noch keine Hemmungen eingreifen
und keine Erinnerungen mitspielen, gerade die Unlust mit Körperbewegun¬
gen, die Lust ohne solche einhergehen, und dies entspricht völlig der oben
dargelegten Auffassung, der eine Theorie der Lust und Unlust meiner
Meinung nach genügen muß. Zugleich werden offenbar jene Körper¬
bewegungen durch die Vorgänge im Gehirn nur vermittelt, gehen aber von
Vorgängen im übrigen Körper aus, uiui das Gehirn ist nur Durchgangs- und
Umsehaltstätte der Erregungen, die über die zentripetalen zu den zentri
fugalen Nerven verlaufen 1 ). Meynerts sehr ansprechender Gedanke, Lust
und Unlust von der Lebenstätigkeit abzuleiten, kann somit nur weiter¬
führen, wenn wir ihn nich^ auf das Gehirn beschränken, sondern auf den
Gesamtkörper anwenden, und damit bringen wir ihn dann auch in Überein¬
stimmung mit Arndts biologischem Grundgesetz, denn nun müssen wir,
um im Einklang mit der Erfahrung zu bleiben, die Störungen der Lebens¬
tätigkeit, die zur Unlust führen, als Wirkung starker, die zweckmäßig
geregelte Lebenstätigkeit, die zur Lust führt, als Wirkung schwacher
Reize auffassen.
Aber der Met/ne rischen Theorie können wir noch eine andere Vor
Stellung entnehmen, die mit der oben gewonnenenVoraussetzung aufs beste
zusammenstimmt, nämlich die Vorstellung, daß die Veränderungen der
Lebenstätigkeit, die der Lust und Unlust zugrunde liegen, Gefäßverände¬
rungen bewirken, die der jeweiligen Lebenstätigkeit angepaßt sind. Auch
hier verbietet sich jedoch eine einfache Übertragung, denn unsere Voraus¬
setzung verlangt, daß die Gefäßveränderung — gleich den Körperbe¬
wegungen, die von der jeweiligen Lebenstätigkeit etwa angeregt werden
— nicht für das Fortbestehen von Lust oder Unlust, sondern für die
Erhaltung des Organismus im allgemeinen zweckmäßig ausfällt.
Nervenvorgänge, die durch Störungen oder zweckmäßige Rege¬
lung der Lebenstätigkeit hervorgerufen werden — das sind so allgemeine
und deshalb fast nichtssagende Ausdrücke, daß sie auf eine eindeutige
physiologische Anschauung zurückgeführt werden müssen, um eine
brauchbare Unterlage für eine Theorie der Lust oder Unlust abzugeben.
Aber es hegt in der Natur der Sache, daß solche bestimmte physio-
l ) P. Kronthal: „Die Konstruktion des Nervensystems als Reiz¬
leitung zwischen den das vielzellige Individuum zusammensetzendeu
Zellen, die Leistung der Nervenzelle als übertragungsmittel eines Reizes
auf viele Nervenfibrillen, erklärt zwanglos und ohne Mystik, weshalb ei n
Reiz zahlreiche Reflexe verursachen kann.“ (über den Seelensitz, Arch. I.
Psych. Bd. 56, S. 226). Kronthals Folgerung, daß die Seele die Summe
der Reflexe ist, und daß die alte Erfahrung, nach der die Nervenzelle
kausal mit der Seele verbunden ist, der Wirklichkeit entspricht, bedarf
freilich einer Änderung im Sinne des psychophysischen Parallelismus.
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Die physiologischen Korrelate der Lust and Unlust.
573
logische Anschauung nur mit Hilfe von zunächst willkürliclrerscheineii-
den Annahmen gegeben werden kann. Knüpfen die Annahmen jedoch
an gesicherte Lehren der Physiologie und Psychologie an, und stehen
sie nicht im Widerspruch mit andern Ergebnissen, so scheint mir
nichts dagegen einzuwenden. Meine Theorie ist also nicht besser be¬
gründet als die Ziehen s, und ihren Vorzug sehe ich nur darin, daß sie
den von mir als gegebenen Ausgangpunkt betrachteten Zusammen¬
hang von Lust und Unlust mit zweckmäßiger, d. h. der Erhaltung des
Individuums und der Art förderlicher Lebenstätigkeit in einer möglichst
bestimmten Prägung als mit unsern jetzigen Kenntnissen Vereinbar
aufzeigt. Nur der grundlegende Zusammenhang, nicht seine Aus¬
gestaltung im einzelnen ist mir wichtig. Meine Ausführungen sollen
auch bei weitem nicht alle, sondern nur einige besonders bezeichnende
Züge jenes Zusammenhangs beleuchten und an ihnen zeigen, daß
seine Entstehung im Laufe der Entwicklung des einzelnen und der Art
denkbar ist. Nichts hindert, diese Aufstellungen, soweit sie sich als
falsch oder unzulänglich erweisen, durch andere zu ersetzen. Und da
dies um so eher möglich ist, je bestimmter sie gefaßt sind, werde ich
im folgenden darauf bedacht sein, sie auch im einzelnen möglichst
greifbar — und deshalb um so leichter angreifbar — auszuarbeiten.
Fragen wir uns zunächst: Wie werden zwei Körperteile a und b,
jeder mit besonderer Gefäß Versorgung versehen, sich gegenseitig nervös
zu beeinflussen haben, um die für beide günstigsten Lebensbedingungen
herzustellen und zu große Schwankungen zu vermeiden? Solange wir
von der besonderen Funktion beider Teile und vom Wachstum absehen.
handelt es sich nur um den Stoffwechsel. Geht dieser in a rascher als in b
vor sich, so wird er unter sonst gleichen Verhältnissen sich selbsttätig in a
zu mäßigen und in b zu beschleunigen haben. Als Nervenreize kommen
in Betracht einerseits die aus dem Plasma in die Zellen aufgenommenen
organfremden Blutstoffe und die aus ihnen entstehenden chemischen
Zwischenprodukte des aufbauenden Organstoffwechsels, während die
fertigen Organbestandteile nicht als Reize gelten können — und andrerseits
■die hierbei ausscheidenden und in die umgebende Gewebeflüssigkeit aus¬
geschwemmten Abfallstoffe sowie die für gewöhnlich fehlenden oder
geringen, aber bei starkem Abbau des Organs vermehrten und ebenfalls
aus dem Zellverbande in die Gewebeflüssigkeit übertretenden Zersetzungs-
stoffe des Zellinhalts. Ich will im folgenden, wo es mir nur auf die Stärke
des Reizes ankommt, den diese Stoffe auf die Nerven ausüben, die iin
gewöhnlichen Stoffwechsel entstehenden Abbaustoffe, die gründlicher zer¬
setzt werden und weniger reizen, mit unter die Abfallstoffe rechnen und
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unter Abbaustoffen nur die bei stärkerem Abbau austretenden, weniger
tief zersetzten und daher stärker reizenden Abbaustoffe verstehen.
Ich nehme nun an — weshalb, ergibt sich später von selbst —, der
Reiz der AufbaustofTe, d. h. der organfremden, in die a-Zellen eintretenden
Bestandteile, vor allem aber der aus ihnen gebildeten Zwischenprodukte,
wirke durch Nervenvermittlung als Reiz auf die b-Zellen, so daß diese zur
Tätigkeit und damit zur Aufnahme und Verarbeitung von Plasmabestand¬
teilen angeregt werden, und zugleich verengernd auf die zu a führende
Arterie, so daß die Ernährung von b auf Kosten der von a gefördert wird.
Das gleiche findet nun auch in b statt, d. h. die in die b-Zellen eintretenden
b-fremden Blutstoffe und die aus ihnen sich bildenden Zwischenprodukte
iiben den entsprechenden trophischen Reiz auf a und den entsprechenden
vasomotorischen Reiz auf die b versorgende Arterie aus. Dagegen wirken
die durch den Stoffwechsel in a entstandenen Abfall-, vor allem aber die
etwaigen Abbaustoffe, die sich in der Umgebung der a-Zellen anhäufen,
durch Nervenvermittlung 1. als trophischer Reiz auf die a-Zellen, die hier¬
durch entsprechend ihrem Verbrauch zur Aufnahme und Verarbeitung
neuen Stoffs veranlaßt werden, und 2. als vasomotorischer Reiz auf die
zu b führende Arterie, verengern diese also und bewirken dadurch einen
vermehrten Blutzufluß nach a, der die Abfall- und Abbaustoffe rascher
wegschwemmt und so den Reiz beseitigt. Das gleiche gilt in entsprechender
Weise für b.
In jedem derartigen Körperteil entspringen also zwei Nervenfasern,
deren eine von der aufbauenden, deren andere von der abbauenden Zellen
tätigkeit gereizt wird. Beide teilen sich in einen trophischen und einen
vasomotorischen Ast. Vor dieser Teilung treffen sie aber zusammen,
wohl meist durch Vermittlung von Nervenzellen, und hemmen einander:
sind sie gleich stark, so heben sie sich auf, sonst büßt die stärkere so viel
an Wirkung ein, als die schwächere beträgt. Überwiegt die Aufbautätigkeit
in a die Abbautätigkeit, so wird nur jene, im entgegengesetzten Falle nui
diese die Vorgänge in a und b beeinflussen. Sehen wir von b ab, so wird
vermehrter Aufbau in a die Blutzufuhr dahin verringern, sich also mäßigen,
vermehrter Abbau den Aufbau anregen und zugleich durch Hemmung der
durch den aufbauenden Stoffwechsel unterhaltenen Gefäßverengerung die
dem Aufbau förderliche Blut Versorgung begünstigen. Die gegenseitige
Beeinflussung von a und b aber gleicht Schwankungen im Verhältnis der
Stoffwechsel Vorgänge zwischen a und b aus und paßt die Blut Versorgung
der Blutbedürftigkeit beider Teile um so sicherer an.
Notwendig wird jedoch jene doppelte Beeinflussung durch die Aufbau-
und durch die Abbaustoffe, wenn wir neben dem nutritiven auch den funk¬
tionellen Stoffwechsel, also den, der mit der besonderen Organleistung^
verbunden ist, oder wenn wir den nutritiven Stoffwechsel unter besonderen
Bedingungen ins Auge fassen. Solange nur die Ernährung, und zwar unter
gewöhnlichen Bedingungen, in Frage kam, konnte das Verhältnis der in
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Die physiologischen Korrelate der Last und Unlust.
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der Zeiteinheit aufgenommenen zu den verbrauchten und ausscheidenden
Stoffen als ziemlich gleichbleibend in Rechnung gestellt werden, da die
Verarbeitung der neu aufgenommenen Plasmabestandteile zu organeigenen
Stoffen im allgemeinen eine ihrer Menge entsprechende Menge von Abfall-
stofTen ergeben mußte. Dies ändert sich aber, wenn die besondere Organ¬
leistung einsetzt. In dieser werden meist zunächst aufgespeicherte organ¬
eigene Stoffe zersetzt oder ausgeschieden, soweit sie eben der Organ¬
leistung dienen, und nur daneben und erst allmählich auf den von den
Abbaustoffen ausgehenden Reiz hin wachsend findet zum Ersatz dieser
verbrauchten Stolle eine stärkere Verarbeitung neu eingeführter organ¬
fremder Stoffe statt. Hier verschiebt sich also das Verhältnis der neu auf¬
genommenen zu den verbrauchten Stoffen, falls, wie beim Muskel, eine
Zersetzung aufgespeicherter Stoffe, also eine Abbautätigkeit, die besondere
Leistung bedingt. Dann fällt der Reiz der Abbaustoffe, der sowohl direkt
durch Hemmung wie durch Verengerung anderer Arterien die eigene zu¬
führende Arterie erweitert, zunächst viel stärker ins Gewicht als der Reiz
des aufbauenden StolTwechsels, der die zuführende Arterie verengert. Diese
Verengerung oder besser diese Verringerung der Gefäßerweiterung könnte
aber bei längerer Andauer der Funktion die dann zum Ersatz der ver¬
brauchten Stoffe erforderliche und durch deren trophischenReiz vermittelte
starke Zelltätigkeit schließlich doch beeinträchtigen, und ihre Ausschaltung
ist deshalb unter diesen Umständen zweckmäßig. Dies gilt erst recht da,
wo aufgespeicherte Stoffe, wie bei manchen Drüseo, nicht zersetzt, sondern
ausgeschieden werden und also nicht auf den Organstollwechsel wirken
können. Ich nehme daher an, daß in gleicher Weise wie die beiden Nerven¬
fasern, die in demselben Körperteil entspringen — und deren eine ihren
Reiz von den Aufbaustoffen im Zellinnern empfängt, während die andere
von den Abfall- und Abbaustoffen außerhalb der Zellen erregt wird —sich
mit hemmender Wirkung treffen, auch die von a zu der a versorgenden
Arterie laufenden Nervenfasern den Nervenfasern begegnen, die die Funk¬
tion von a anregen, und daß die Erregu ngen beider sich gegenseitig hemmen.
Alsdann bewirkt die anderwärts angeregte funktionelle Tätigkeit eines
Körperteils ohne weiteres eine besonders reichliche Blutversorgung des¬
selben, die auf zweifache oder gar dreifache Weise zustande kommt, nämlich
mittelbar, indem andere Arterien durch den Reiz der in größerer Menge
entstehenden Abfall- und AbbaustofTe verengert werden, und unmittelbar,
indem die Verengerung der zuführenden Arterie, die durch den Reiz der
reichlicher in die Zellen eintretenden und dort verarbeiteten PlasmastofTe
erhöht würde, stets durch Hemmung infolge der Funktion, vielfach aber
daneben auch durch Hemmung infolge des abbauenden Stoffwechsels
vermindert wird.
Außerdem macht der Stoffwechsel unter besonderen Bedingungen
die doppelte Art der Anpassung der Blut Versorgung an die Blutbedürftig¬
keit der beiden Körperteile notwendig. Es kommen hauptsächlich zwei
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Fälle in Betracht: Gewalteinwirkung und Unterernährung. Wird ein Teil
des Zellinhalts von a durch Druck oder Verletzung aus seiner Verbindung
gelöst, so verbleibt er entweder im Bereich der Zelle, es setzt der Abbau
ein, und es entstehen organfremde, reizende Stoffe, die, falls sie in der
Zelle bleiben, die zuführende Arterie verengern, oder aber die aus der Ver¬
bindung gelösten Stoffe werden aus der Zelle ausgestoßen, belasten die
Gewebeflüssigkeit in a, üben hier als ungewohnter starker Reiz nach Art
der abgebauten Stoffe einen trophischen Reiz auf a aus und steigern zugleich
sowohl unmittelbar- wie durch Verengerung der b versorgenden Arterie
den Blutzufluß nach a. Beides ist zweckmäßig. War die Gewalteinwirkung
gering, so daß nur wenig Zellinhalt aus der Verbindung gelöst wurde und
im Innern der nur wenig Versehrten Zelle verblieb, so konnte die Ver¬
minderung des Blutzuflusses den Druck auf die Zelle mäßigen, die Aus¬
schwemmung der losgelösten Stoffe verzögern und Gelegenheit geben, den
dazu noch fähigen Teil derselben wieder in die vorherige Verbindung
zurückzunehmen. War der Druck oder die Verletzung aber stärker, so
daß die abgesprengten Teile aus dem Innern der Zelle herausgedrückt oder
bei Verletzung abgetrennt waren, so fiel die Verminderung des Blutzuflusses
fort, und es trat statt ihrer eine Vermehrung desselben ein, die die reizenden
Trümmer rascher beseitigt. Ähnlich wirkt die Unterernährung, mag sie
durch Mangel an geeigneten Baustoffen im Blutplasma oder durch un¬
genügende Fähigkeit der Organzellen, die Baustoffe sich einzufügen,
bedingt sein. Man sagt, bei Unterernährung werden Organbestandteile
abgeschmolzen und zersetzt. Ich fasse das so auf, daß der Zelle die ge¬
eigneten Aufbaustoffe fehlen, das Zellgefüge sich daher lockert, einzelne
Baustoffe ausgeschwemmt, zum Teil auch im Sinne des Abbaus chemisch,
verändert und zersetzt werden, jedenfalls aber als Nervenreiz außerhalb
der Zellen deren Aufbautätigkeit verstärken und vermittelst der Wirkung
auf die Gefäße die Plasmadurchströmung des leidenden Teils vermehren.
Dann kann dieser sich unter günstigen Verhältnissen erholen, wenn nämlich
durch den vermehrten Zustrom der Mangel an Baustoffen behoben oder
durch den trophischen Einfluß eine auf vorübergehenden Ursachen be¬
ruhende Verminderung der Zelleistung ausgeglichen wird. Kann die Zelle
sich aber nicht erholen und stirbt trotz trophischem Ansporn und ver¬
mehrtem Zustrom von Nährstoffen ab, so ist wenigstens für verhältnis¬
mäßig rasche Abfuhr der Abbaustoffe und zugleich für reichliche Ernährung
der Nachbarzellen gesorgt, so daß deren vermehrte Tätigkeit den Ausfall
ersetzen und zugleich unter besonderen Umständen vielleicht eine Neu¬
bildung von Zellen erfolgen kann. Diese besonderen UmstAde würden
besonders bei den jüngsten Zellen und dann gegeben sein, wenn die Abfuhr
der Abbaustoffe längere Zeit in Anspruch nimmt und der von ihnen aus¬
gehende Reiz somit länger anhält.
Vom Organwachstum werden wir im übrigen hier absehen können,
da der Nerveneinfluß hierauf, soweit er überhaupt vorhanden ist, mit dem
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
577
Einfluß auf die Ernährung zusammenfallen dürfte. In dieser kann man ja
zwei Richtungen unterscheiden, die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe
in solche, die der Erhaltung des Bestandes und der Lebensfähigkeit der
Zelle dienen, und die Aufspeicherung derjenigen entweder unverändert
von der Zeile festgehaltenen oder in ihr chemisch umgewandelten Stolle,
die die funktionelle Leistung ermöglichen. Werden nun während der
Funktion nur die für sie aufgespeicherten Stoffe verbraucht, so wird hier¬
durch für die folgende Ruhezeit ihr Ersatz, und zwar möglicherweise in
vermehrter Menge angeregt, aber nicht die Bildung neuer Organzcllen.
also nicht ein eigentliches Wachstum veranlaßt. Dies ist in diesem Falle
nur dann zu erwarten, wenn die Stoffo angegriffen worden sind, die der
Erhaltung der Zelle selbst dienen. Dann werden nach Aufhören der Funk¬
tion diese Stoffe sich besonders vermehren und, wo dies überreichlich
geschieht, zur Neubildung von Zellen den Anstoß geben können. Man
kann sich den Vorgang vielleicht am einfachsten so denken, daß die zur
Erhaltung dei^Zelle nötigen Teile einer gewissen Zeit bedürfen, um diejenige
chemische Struktur zu erlangen, die sie befähigt, die zur besonderen Organ¬
leistung erforderlichen Stoffe zu bMden oder festzuhalten, daß sie in statu
nascendi aber dazu neigen, den ihnen zuströmenden Stoff in ihresgleichen
umzuwandeln. Wo also wenig ältere Erhaltungsstoffe vorhanden sind,
werden diese rasch mit Funktionsstoffen gesättigt sein und weitere Bau¬
stoffe sich nur in Form von Erhaltungsstoffen angliedern können, so daß
diese zunehmen, ohne sich zunächst mit Funktionsstoffen beladen zu
können. Geschieht jene Anghederung überreichlich, so würde dies bei
den dazu fähigen Zellen zur Teilung führen. Der formative Reiz, um mit
Virchow zu reden, würde somit nicht unmittelbar auf Nerveneinfluß be¬
ruhen, und wir hätten es hier nur mit nutritiven, vasomotorischen und
funktionellen Reizen zu tun. Alle diese Reize würden aber zunächst von
Stoffwechselvorgängen ausgelöst, wie ja auch ihre Wirkungen dazu dienen,
den Stoffwechsel zu erhalten. Man könnte von einer „Selbststeuerung 41
des Stoffwechsels reden.
• Was von der Nerveneinwirkung zweier Körperteile aufeinander gesagt
ist, läßt sich auf die Einwirkung einer größeren Anzahl von Körperteilen
aufeinander übertragen, auch ohne daß der einzelne Körperteil notwen¬
digerweise mehr als eine durch den aufbauenden und eine durch den
abbauenden Stoffwechsel erregbare Nervenfaser entsendet (Abzweigung
von Nervenfasern) und eine auf den aufbauenden Stoffwechsel, eine auf
die Blutversorgung und eine auf die Funktion wirkende Nervenfaser emp¬
fängt (Reduktion von Nervenfasern).
Ich habe mit Absicht bisher nicht von Nerveneinwirkung zweier
Organe, sondern zweier Körperteile aufeinander gesprochen, da es sich
auf der untersten Stufe um Organteile handelt, die der gleichen Funktion
dienen, und erst auf einer höheren Stufe um Organe im ganzen oder um
Verbindungen verschiedenartiger Teile wie solcher der Haut mit Teilen
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der Muskulatur und dergleichen. Es fragt sieh nun, wie die Beschreibung
der Nervenleitung, die zunächst nur eine Stufe berücksichtigt, zu ergänzen
ist, um beide zu umfassen. Besagt das Schema, auf Teile eines einzelnen
Organs angewandt, daß sich diese auf die angegebene Weise günstige
Lebensbedingungen wahren, so wird folgende Ergänzung nötig, sobald
wir die Einwirkung auf die das ganze Organ versorgende Arterie (ich
nehme der Einfachheit halber nur eine solche an) in Betracht ziehen:
die vasomotorischen Nervenfasern, die durch den Reiz der Aufbaustoffe
erregt werden, teilen sich nach ihrer Kreuzung mit den funktionellen
Nervenfasern, und während der eine Zweig zur Arterie desselben Organteils
zieht, innerviert der andere, mit den gleichartigen Nervenzweigen der
übrigen Organteile vereinigt, die Arterie des ganzen Organs. Hierdurch
wird erreicht, daß Reizschwankungen im ZellinneTn eines Organteils nur
die Blutversorgung dieses Organteils, nicht aber die des ganzen Organs
beeinflussen.
Um diese Verhältnisse innerhalb eines Organs auf die Verhältnisse
zwischen mehreren Organen zu übertragen, nehme ich weiter an, daß sowohl
die Nervenfasern, die vom aufbauenden, wie die, die vom abbauenden
Stoffwechsel je eines Organteils gereizt werden, noch vorher, ehe ihre Er¬
regungen eine gegenseitige Hemmung erfahren, je einen Nervenzweig
entsenden, und daß diese Zweige sich zu zwei Nervenleitungen vereinigen,
deren eine die Erregungen des aufbauenden, deren andere die Erregungen
deä abbauenden Stoffwechsels im Gesamtorgan in sich zusammenfaßt und
den sympathischen Ganglien zuführt. Jede teilt sich wiederum in zwei
Zweige, der eine zieht, ohne Verbindungen einzugehen, weiter durch die
Rami communicantes in das Zentralnervensystem, der andere geht mit
dem entsprechenden Zweige der andern Nervenleitung eine hemmende
Verbindung ein. Im übrigen wiederholen sich hier die für die Beeinflussung
der Stoffwechselvorgänge und der Blutversorgung innerhalb eines Organs
als maßgebend beschriebenen Verhältnisse, nur insofern in größerem Ma߬
stabe, als sie nicht Teile desselben Organs, sondern mehrere Organe in Ab¬
hängigkeit voneinander setzen. Der Zweig, der seine Erregung dem tiber¬
wiegen des aufbauenden Stoffwechsels des Organs a verdankt, wirkt auf
den aufbauenden Stoffwechsel in andern Organen fördernd ein; der Zweig,
der durch das Uberwiegen des abbauenden Stoffwechsels im Organ a in
Erregung gerät, wirkt auf den aufbauenden Stoffwechsel im Organ a
fördernd ein. Jener, durch den aufbauenden Stoffwechsel von a erregte
Zweig trifft in den Ganglien des Sympathikus mit den gleichen aus b, c usw.
kommenden und zum Organ a ziehenden Zweigen zusammen, und es
kommt hier die gegenseitige Hemmung der vom Organ kommenden und
der zum Organ führenden Erregungen zustande. Mit den zum Organ a
führenden Nervenfasern dieser Art vereint sich dann noch der durch den
abbauenden Stoffwechsel in a erregbare trophische Zweig.
Etwas anders verhalten sich die Zweige der von den Aufbaustoffen
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 579
gereizten Nervenfasern, die die Arterie ihres Organteils und weiterhin die
zum ganzen Organ a führende Arterie verengern. Sie verbinden sich in
den Sympathikusganglien mit den gleichen Nervenfasern derjenigen andern
Organe, die zusammen mit a von einer größeren, dem Herzen näheren
Arterie versorgt werden, und gelangen dann in die Wandung dieser größeren
Arterie. Diese wird somit durch den Reiz aller Teile der von ihren Zweigen
versorgten Organe gerade so weit verengert, daß sie den Gesamtblutbedarf
dieser Teile deckt, und es wird verhindert, daß die durch ein einzelnes
Organ oder durch einen einzelnen Organteil veranlaßte Verengerung der
zu ihm führenden Arterie die Blut Versorgung der übrigen Organe ver¬
ändert. Auf gleiche Weise wird der nächst größere Arterienstamm dem
jeweiligen Blutbedürfnis der von ihm versorgten Teile angepaßt und so
fort bis zum Aortenanfang.
Diejenigen vasomotorischen Nervenfasern, die durch Reize aus den»
Innern der Organzellen und demnach durch deren Aufbautätigkeit erregt
werden, sorgen also für die zweckmäßige Verteilung des Blutes und die
gleichmäßige Durchströmung der Organe, ohne daß eine Änderung der
Herztätigkeit hierfür erforderlich wird. Anders steht es mit den vaso¬
motorischen Nervenfasern,-die durch den Reiz der AbbaustofTe außerhalb
der Organzellen erregt werden und durch Verengerung anderer Arterien
(und Hemmung der Verengerung der eigenen Arterie) den Blutstrom zu
dem Körperteil vermehren, von dem sie ausgehen. Damit hierbei die
Ernährung der andern Organe nicht leidet, muß das Herz mehr leisten,
es muß schneller und kräftiger schlagen, um den Widerstand der ver¬
engerten Arterien zu überwinden, und bewirkt dann zugleich, daß das
.Organ, das des vermehrten Blutzuflusses bedarf, nicht nur durch die Ver-,
engerung anderer Arterien und die Erweiterung der eigenen, sondern auch
durch die vergrößerte Herzleistung besser mit Blut gespeist wird. Ich
nehme also an, daß diese vasomotorischen Fasern nach ihrer Vereinigung
im Sympathikus zum Herzen ziehen und dessen Tätigkeit beschleunigen
und verstärken, daß sie also den N. accelerans cordis des Sympathikus
bilden.
Nach dieser Aufstellung treten in jeden Körperteil mit selbständiger
Blut Versorgung, sei es Organ oder Organteil, drei zuführende Nervenleitun¬
gen oder -fasern: die eine vermag die Aufnahme und Verarbeitung von Nähr¬
stoffen zu fördern, die zweite das zuführende Gefäß zu verengern, die dritte
die Organfunktion anzuregen. Die erste übermittelt die Erregungen, die
von den AbbaustofTen desselben Körperteils ausgelöst werden, und zugleich
gelegentlich solche, die den AufbaustotTen im Zellinnern anderer Körper¬
teile entstammen. Der vasomotorische Nerv übermittelt die Reize, die
von den Aufbaustoffen im Zellinnern des Körperteils selbst, und zugleich
die, die von den AbbaustofTen in der Organflüssigkeit anderer Körperteile
herstammen. Für die funktionellen Nerven endlich sind solche allgemeinen
Herleitungen nicht möglich, weil es sich hier um besondere Leistungen
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handelt, deren Art und deren Abhängigkeit von Vorgängen im übrigen
Körper sich sehr verschieden gestaltet. Nur das wird man sagen können,
daß die Abzweigungen der durch die AbbaustolTe angeregten trophischen
Nervenfasern einen der Ursprünge der funktionellen Nervenfasern bilden,
und zwar einmal des funktionellen Nerven desselben Organs, aus dem sie
selbst stammen — da in diesem Falle, sobald das Organ mit Funktions-
stolTen gesättigt ist und daher der weitere aufbauende Stoffwechsel mit
einer Vermehrung des Abbaus einhergeht, auch die Organleistung leichter
zustande kommt, also eine Anregung stattfindet, die freilich, weil es sich
nur um chemisch gesättigte AbfallstofTe handelt, unter der Schwelle der
die Organleistung bewirkenden Innervation verbleibt —, sodann aber der
funktionellen Nerven anderer Organe, indem etwa der Reiz der in die
Lymphspalten des Darmepithels eintretenden Nährstoffe die funktionelle
Tätigkeit der Darmdrüsen, der Leber und des Pankreas hervorruft. Letzte¬
res führt aber schon zu einer weiteren Betrachtung.
Die besprochenen nervösen Einrichtungen können nämlich den Stoff¬
wechsel in den für die Erhaltung des Organismus förderlichen Grenzen nur
so lange aufrechterhalten, als genügender Nährstoff im Blute herbei¬
strömt, aber sie vermögen weder Ersatz für verbrauchte Blutbestandteile
zu schaffen noch vor äußeren Gefahren zu schützen. Die hierzu nötigen
Bewegungen dienen auch der Erhaltung des Stoffwechselsund mögen daher
durch Reize, die dem Stoffwechsel entstammen, angeregt, aber sie müssen
zugleich durch Reize, die von außen kommen, geregelt werden, um ihren
Zweck zu erfüllen. Alle diese Reize sollen nun zu Bewegungen führen,
die der Erhaltung des Organismus und damit der Erhaltung des Organ¬
stoffwechsels in den hierfür günstigen Grenzen dienen. Seitens der Haut*
ist dies dadurch erreicht, daß starke Reize Bewegungen auslösen, die den
betroffenen Körperteil von der Reizquelle entfernen. Auch bei Be¬
rührung der Darmschleimhaut mit einem spitzen Gegenstände (Knochen¬
splitter, Nadel) weicht die berührte Stelle zurück, die benachbarten
kontrahieren sich, so daß der Gegenstand an seinem spitzen Ende fest¬
gehalten und durch die Peristaltik weiterhin mit dem andern, stumpfen
Ende nach vorn fortbewegt wird (Einer nach Landois, Lehrbuch der
Physiologie, 12. Aufl., S. 251). Hier vermittelt der Plexus submucosus im
Verein mit dem Plexus myentericus die Beseitigung des Reizes, während
Reize auf die äußere Haut, deren Beseitigung nur durch Beteiligung der
willkürlichen Muskeln gelingen kann, hierzu der Leitung durch das Zentral¬
nervensystem bedürfen, weil eine viel verwickeltere Abstufung und Ver¬
teilung des Reizes auf die einzelnen ^Muskeln erforderlich ist und dieser
Leistung nur ein viel verwickelterer Nervenaufbau zu genügen vermag.
Aber die äußeren Reize könnten doch vielleicht ohne den Reiz des
Stoffwechsels zur Erklärung der mannigfaltigen Bewegungen ausreichen,
soweit diese nur dem Ziele der Entfernung des reizenden Gegenstandes oder
der Entfernung von ihm dienen, sie genügen jedoch nicht, sobald wir
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Diö physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
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zugleich die entgegengesetzte Bewegungsart, die der Annäherung, ins Auge
fassen.
Das zeigt sich schon bei den Reizen vom Darmkanal aus. Der Plexus
myentericus vermittelt sowohl die Pendelbewegung, die den Inhalt einer
Darmschlinge hin und her bewegt, ohne ihn weiterzubefördern, und ihn
so immer aufs neue mit denselben Stellen der Darmschleimhaut in Be¬
rührung bringt, wie die peristaltische Bewegung, die ihn weiter abwärts
treibt. Wären hierbei nur die mechanischen Reize wirksam, so könnten
sie wühl je nach ihrer Stärke die eine oder die andere Bewegungsart rascher
oder langsamer, stärker oder schwächer machen, aber nicht die eine in
die andere Umschlägen lassen. Wohl aber wird dieser Umschlag ver¬
ständlich, wenn wir zugleich auf die chemischen Reize des Stoffwechsels
zurückgreifen. Dann scheint mir folgende Erklärung möglich. Die Pendel-
bewegungen dienen der Aufnahme der Nährstoffe. Solange diese in einem
dem Darmabschnitt angepaßten chemischen Zustande von den Epithel¬
zellen aufgenommen werden und somit von ihnen in der gewöhnlichen
Weise abgebaut werden können, erfolgen die Pendelbewegungen mit dem
Ziele der Annäherung des Darminhalts und des Darmepithels; geht die
Zersetzung im Darm aber weiter, so daß Stoffe in das Epithel eintreton,
die in ihm nicht in der Weise verarbeitet werden können, daß sie für den
Organismus verwendbar werden, so setzt die peristaltische Bewegung ein.
Maßgebend für den Umschlag der Pendelbewegung in die peristaltische Be¬
wegung ist also dann der Reiz, den die aus dem Innern der Epithelzellen in
dieLymphspaltenaustretendenungewohnten Stoffe ausüben, unddieser Reiz
entspricht dem, der nach meiner Annahme vom abbauenden Stoffwechsel
ausgeht 1 ). Ein Reiz von gleicher Wirkung kann aber auch zustande
kommen, bevor die Zersetzung des Darminhalts soweit vorgeschritten ist,
nämhh dann, wenn so viel Nährstoffe sich im Epithel angesammelt haben,
daß die Zellen nicht imstande sind, sie zu bewältigen, d. h. soweit abzu¬
bauen, daß sie nicht als FremdstofTe wirken. Hat also nach wiederholten
Pendelbewegungen das Epithel si:h über ein gewisses Maß hinaus mit Nähr¬
stoffen beladen, so wird auch hierdurch die peristaltische Bewegung ein¬
geleitet werden.
1 ) Damit stimmt überein, daß nach Pawlow und Cannon ,,die Ver¬
dauungsorgane, wenn sie leer sind und nicht sezernieren, in eine periodische
Leertätigkeit geraten— das Antrum pylori bewegt sich, Pankreas-, Darm-
saft und Galle werden abgesondert —, und daß das Hungergefühl mit,
dieser Leertätigkeit verknüpft ist. Entscheidend für das Auftreten der
periodischen Leertätigkeit ist nach Pawlow das Fehlen saurer Reaktion im
Magen“ (Kestner, Der Sättigungswert der Nahrung. D. med. Wschr. 191h.
S. 285). Diese Leertätigkeit läßt sich davon ableiten, daß aus den nicht
sezernierenden tZellen der Magendrüsen vorbereitete Stoffe, die nicht zur
Erzeugung von Magensaft verwandt werden, in die Lymphspalten aus-
treten, wo sie den Nervenreiz für die Peristaltik abgeben.
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Verwickelter gestalten sich die Verhältnisse bei Reizungen der
äußeren Haut. Es kommen hier für die Annäherung an den reizenden
Gegenstand zunächst vor allem die Vorgänge bei der Nahrungsaufnahme
und beim Geschlechtsakt in Frage. Die stärkere Durchströmung mit Blut,
also die vermehrte Zuführung von Nährstoffen, führte ich auf den Reiz
der Abbau- und Abfallstoffe zurück; dem entspräche es, wenn auch die
Anregung zu Bewegungen, die die Annäherung zum Zwecke der Nahrungs¬
aufnahme oder des Geschlechtsaktes bewirken, von Reizstoffen ausginge,
die aus den Organzellen in die Gewebelücken austreten, während der Reiz,
der aus dem Innern der Organzellen stammt, jene Bewegungen hemmen
würde, ln der Tat wird der Trieb zur Nahrungsaufnahme wohl allgemein
darauf zurückgeführt, daß bei Unterernährung und im Hungerzustande
Bestandteile des Körpers abgeschmolzen und zersetzt werden, also aus den
Organzellen austreten. Wir werden dabei für die Anregung des Nahrungs¬
triebes — im Einklang mit dem Sitz der Hungerempfindungen — neben der
Reizung, die zweifellos von der Magenschleimhaut ausgeht 1 ), besonders
an die Leber denken, deren Zellen je nach den wechselnden Ernährungs¬
verhältnissen die größten Unterschiede in ihren chemischen Bestandteilen
darbieten. Und daß hierbei nicht nur Glykogen und Fett, sondern auch
wesentliche Zellbestandteile, wenngleich diese der Menge nach in weit
geringerem Maße, beteiligt sind, darauf weist der Umstand hin, daß im
Hungerzustand die Leberzellen fein granuliert und stark getrübt gefunden
werden. Dem gegenüber würde die Hemmung des Triebes zur Nahrungs-
l ) „Füllung des Magens allein gibt kein Sättigungsgefühl, wie das
Gefühl des Magendrückens lehrt und die Abwesenheit des Sättigungsgefühls
bei Aufblähung des Magens. . . .»In welcher Weise die Magensaftsekretion
und die Füllung des Magens mit den „Allgemeingefühlen“ Hunger und
Sättigung Zusammenhängen, ist eine noch ungelöste Frage. Vielleicht
spielt die Verschiebung der Blutreaktion eine Rolle, die bei der Salzsäure¬
sekretion zu beobachten ist“ ( Kestner , 1. c.). Hiernach würde der Hunger
von der Verschiebung der Blutreaktion nach der Säureseite abhängen. Nun
schwankt die Titrationsalkaleszenz des Blutes zwar unter physiologischen
Verhältnissen, sie wird durch starke Muskeltätigkeit infolge der Säure¬
bildung im Muskel verringert, Kinder und Frauen haben eine geringer?
Alkaleszenz als Männer, Wöchnerinnen eine geringere als Schwangere
( Landois , 1. c. S. 30), und es könnte daher wohl die Verschiebung nach der
Säureseite hin infolge von Muskeltätigkeit oder bei Frauen, Kindern,
Wöchnerinnen das Auftreten von Hunger begünstigen, aber das Ausbleiben
der Säuresekretion des Magens, das die mit Hungergefühl verknüpfte Leer¬
tätigkeit veranlaßt, bedingt keine weitere Verringerung der Blutalkaleszenz,
da dann auch keine Bildung von Säure erfolgt. Und ebensowenig macht
der Genuß von säuresteigernden Nahrungsmitteln, wie Fleisch, Brot.
Erbsen, hungrig.
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584
Laehr.
Verbindungen mit dem durch den Sympathikus vermittelten Stoffwechsel¬
reiz sich bestimmte äußere Reize zur gemeinsamen motorischen Innerva¬
tion vereinigen, während die übrigen sensiblen Reize wirlcunglos bleiben,
d. h. jene Bewegungen nicht beeinflussen. Die sensiblen Reize, die durch
die Rückenmarks- und Gehirnnerven herbeiströmen, gestalten somit auf
Grund der durch frühere Vorgänge geschaffenen Disposition die Bewegun¬
gen im einzelnen, während der Stoffwechselreiz die Ursache der Be¬
wegungen ist, die aufhören, sobald der gegenteilige Stoff wechselreiz, der
durch die in die Organzellen eintretenden Nährstoffe erzeugt wird, den
Hungerreiz tiberwiegt. Im Zentralnervensystem müssen also zwischen den
Bahnen der beiden entgegengesetzten StofTwechselreize und den Bahnen,
die aus den äußeren sensiblen zu den motorischen Nerven führen, Ver¬
bindungen teils anregender, teils hemmender Art bestehen, und zwar sind
sie sowohl im Rückenmark wie im Gehirn anzunehmen, da von beiden aus
nicht nur funktionelle, sondern auch vasomotorische und trophische
Wirkungen ausgehen, was voraussetzen läßt, daß dorthin Reize der Aufbau-
und Abbaustoffe aus den gleichen Organen gelangen, die auch ihrerseits
in dieser Weise von dort her beeinflußt werden können.
Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Geschlechtsakt. Der Reiz,
den die unter dem Druckjder gefüllten Samenkanälchen in die Gewebe¬
spalten des Hodens austretenden Stoffe ausüben, bewirkt im Verein mit
Berührungsreizen, die von der Schleimhaut des Penis ausgehen, die Erek¬
tion und weiterhin die Ejakulation, wobei allerlei weitere äußere Reize,
die vom weiblichen Partner ausgehen, unterstützend hinzutreten. Daß.
wenigstens ursprünglich, die äußeren Reize allein nicht genügen, vielmehr
die Vorgänge in den Geschlechtsdrüsen die Grundlage dafür abgeben,
darauf weist der Umstand hin, daß bei Tieren die Wirkung der äußeren
Reize allein auf die Brunstzeit beschränkt ist.
Soweit also die Stoffwechselvorgänge in den inneren Organen im Ver¬
ein mit äußeren Eindrücken zu Körperbewegungen Anlaß geben, bewirkt
Überwiegen des Abbaus Annäherung an den reizenden Gegenstand, ÜbeU
wiegen des Aufbaus das Aufhören derselben. Anders verhält es sich mit
den Stoffwechselvorgängen der Haut. Auch hier werden nur Abbauvor¬
gänge zu Bewegungen führen, da die Haut aber dem Schutze des Körpers
dient, müssen hier die Abbauvorgänge zur Entfernung des Gegenstandes
oder voix dem Gegenstände führen, der sie hervorgerufen hat, und zwar
wird es sich stets nur um stärkere Einwirkungen desselben handeln, da
nur diese zu Abbauvorgängen führen. Starker Druck schädigt die Zellen
und preßt StofTe aus ihnen heraus, die in der Gewebeflüssigkeit als Reiz
wirken, große Wärme oder Kälte verändert den Stoffwechsel und läßt
ungewöhnliche und stärker reizende chemische Verbindungen auf-
treten, Verletzungen überladen die Gewebeflüssigkeit mit reizenden Zell¬
trümmern. Auch hier bestimmt der Stoffwechsel nur das Ziel der Be¬
wegung; ihre Ausgestaltung im einzelnen erfolgt je nach den Reizen, die
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 585
die Gehirn- und Rückenmarksnerven trelTen: zunächst auch hier vielfach
ungeordnete Bewegungen, die erst allmählich dem Ziele immer genauer
sich anpassen, je öfter dieses erreicht wurde.
Daß das Überwiegen des Abbaus Bewegungen und das Überwiegen
des Aufbaus deren Aufhören herbeiführt, gilt aber nicht für die Organe
der Bewegung selbst, für die Muskeln; sonst würden einmal eingeleitete
starke Bewegungen, da sie mit lebhaftem Abbau einhergehen, immer neue
Bewegungen hervorrufen. Von dem abbauenden MuskelstofTwechsel geht
im Gegenteil eine Hemmung der Bewegungen aus, die, je mehr sie mit der
Dauer und Stärke der Muskelarbeit zunimmt, desto stärkere Reize zu ihrer
Überwindung erfordert. Diese Hemmung betrifft zunächst die unter so
ungünstiger Bedingung arbeitenden Muskeln selber, deren Leistungs¬
fähigkeit sich allmählich erschöpft, erstreckt sich aber in geringem Maße
auch auf die übrigen Muskeln. Auch führt der Muskelabbau zu dieser
Hemmung nicht nur bei starker Muskeltätigkeit, sondern auch im ruhigen
Zustande beim Abschmelzen der Muskelstoffe infolge von Hunger oder
Unterernährung: auch hier werden die Bewegungen unwillkürlich seltener,
langsamer und schwächer, und dies weit mehr, als der allmählichen Ab¬
nahme der Leistungsfähigkeit entspricht.
Dem Hautorgan haben sich später im Kopfe weitere Sinnesorgane
7.ugesellt, die Eindrücke anderer Art übermitteln, und diese mit den Haut¬
eindrücken und den Stoffwechselreizen zu vereinigen, dient das Gehirn,
und zwar zunächst der Gehirnstamm, in dessen vorderem Ende, der Seh-
hügelgegend, die afferenten Nervenfasern nicht nur der eigentlichen Gehirn-
und Rückenmark^nerven, sondern auch die des Sympathikus Zusammen¬
kommen. Vom Sehhügel aus lassen sich Kreislauf, Atmung und Darm¬
peristaltik, Stoffwechsel und Körpertemperatur beeinflussen und Aus
druckbewegungen hervorrufen; hier findet auch, wie man sagt, eine ,,Um¬
schaltung“ der sensiblen Bahnen auf ihrem Wege zum letzten großen Ver¬
einigungsort des Nervensystems, der Großhirnrinde, statt. Eine Um¬
schaltung in dem Sinne anzunehmen, als würden hier die Sinneserregungen
in anderer, für die Verarbeitung im Großhirn geeigneterer Weise zu¬
sammengefaßt, ist wohl nicht unbedingt nötig, da diese Zusammenfassung
auch im Großhirn allein stattfinden könnte. Jedenfalls handelt es sich
aber, wie in den sympathischen Ganglien und im Rückenmark, auch
im Sehhügel um Teilung von Nervenleitungen; * ein Leitungsweg geht
zum Großhirn weiter, andere gehen Verbindungen im Sehhügel ein, es
finden überall Verstärkungen und Hemmungen statt, und so kommen
besondere motorische und andere Wirkungen zustande.
Wir kommen zum letzten großen Vereinigungsort der Nervenreize,
der Großhirnrinde. Auch hier münden mit den Fortsetzungen der sensiblen
Gehirn- und Rückenmarksnerven Fortsetzungen der Sympathikusfasern
ein, und es führen die vom abbauenden Stoffwechsel herstammenden
Nervenerregungen zunächst zu allgemeinen und deshalb ziellosen Be-
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wegungen. Aber indem neben der kürzeren Leitung vom sensiblen zum
motorischen Einzelrindenteil, schon allein infolge seiner Verbindungen
mit andern derartigen Leitungen — z. B. der Leitung der sensiblen Körper¬
reize zur motorischen Zone mit der Leitung der optischen Reize zu den
Augenmuskelzentren — sich immer mehr Seiten- und LImwege bilden,
wird es möglich, daß Residuen früherer Eindrücke, die zugleich mit zweck¬
mäßigen Bewegungen aufgetreten waren, die späteren Bewegungen beein¬
flussen. Denn jetzt können gleichzeitige Erregungen auf den neuen
Bahnen, die durch jene Umstände eingeschaltet werden, sich vereinigen und
als Ganzes gewissermaßen festsetzen, d. h. durch Hemmung und Bahnung
von den übrigen Wegen abgrenzen und später in gleicher Verbindung
wieder angeregt werden, wenn auch nur ein Teil der ursprünglichen Ein¬
drücke wiederkehrt. Die durch gleichzeitige Erregung miteinander ver¬
bundenen Bahnen können weiter auch untereinander in Verbindung treten
und ermöglichen so eine viel mannigfaltigere Verarbeitung der Eindrücke,
als jene kürzeren Bahnen zwischen sensiblem und motorischem Einzelteil
der Hirnrinde. Nun ziehen von allen Teilen der Großhirnrinde kortiko-
fugale und kortikopetale Fasern nach dem Sehhügel; die Leistungen des
Sehhügels, sein Einfluß auf den Kreislauf, auf die Atmung, auf die Peri¬
staltik, auf den Stoffwechsel und auf die Ausdruckbewegungen können
also auch von jenen ,.Umwegen“ in der Großhirnrinde aus angeregt werden
und umgekehrt Erregungen des Sehhügels den „Umwegen“ der Großhirn¬
rinde, in diesen also den abgegrenzten Residuen früherer gleichzeitiger *
Eindrücke, zufließen. Die Örtlichkeit, in der diese „Umwege“ verlaufen
und die'Fasern vom Sehhügel enden, ist die „stumme“, d. h. weder sen¬
sible noch motorische Hirnrinde. Sie bezieht ihre Erregungen also sowohl
von der sensiblen Hirnrinde wie vom Sehhügel und schickt ihre Erregungen
sowohl nach der motorischen Hirnrinde wie nach dem Sehhügel.
Wie die Ganglien des Sympathikus dazu dienen, vermittelst der vom
Stoffwechsel in den einzelnen Organen ausgehenden Reize den Stoffwechsel
und die Blut Versorgung in größeren Körperabschnitten gleichmäßig zu
erhalten, während die Nervenzellen in den einzelnen Organen das gleiche
für diese leisten, so dient däs Gehirn dazu, die übrigen sensiblen Erregungen,
die in den einzelnen Rückenmarksabschnitten mit- den Sympathikus¬
erregungen zusammentreten und hier sowohl äußere Bewegungen wie
Blutlauf- und Stoffwechselwirkungen in den entsprechenden Körperteilen
auslösen konnten, nun zu gemeinsamen Wirkungen auf den Gesamtkörper
zusammenfassen. So wird die Gestaltung der äußeren Bewegungen in
immer zweckmäßigerer Weise in der Großhirnrinde ausgearbeitet und
vom Kleinhirn aus durch Zusammenordnung der Eindrücke der Tiefen-
sonsibilität und des Gleichgewichtsorgans unterstützt, und so werden auch
die Eigenleistungen des Sympathikus vom Hirnstamm aus beeinflußt,
dem die Anregung dazu teils direkt von den sensiblen Bahnen, teils von
der Großhirnrinde aus zugeht. Während aber die Mannigfaltigkeit der
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
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äußeren Bewegungen vielfachen Wechsel der beteiligten Körperteile und
Muskeln erfordert, ist es für den Einfluß des Gehirns auf Stoffwechsel und
Blutversorgung.wichtig, daß sich die Wirkung auf den Gesamtkörper
erstrecken kann, da die Wirkung einzelner Körperteile aufeinander in
dieser Hinsicht schon durch die Einrichtungen des Sympathikus und der
einzelnen Rückenmarksabschnitte geregelt ist. So finden wir im ver¬
längerten Mark ein Zentrum, von dem aus die Stärke und die Zahl der
Herzkontraktionen herabgesetzt wird, und ein anderes, das durch Er¬
regung des N. accelerans die gegenteilige Wirkung ausübt, ferner das
Zentrum der Vasokonstriktoren und der Vasodilatatoren. Dement¬
sprechend dürfen wir auch ein Zentrum für die Anregung und eines für die
Verlangsamung des (aufbauenden) Stoffwechsels erwarten. Da nun Zu¬
nahme des Stoffwechsels zur Wärmevermehrung führt, ist das die Ver¬
brennungsprozesse im Körper anregende Wärmezentrum, das im Corpus
striatum und im Sehhügel angenommen wird, als Zentrum des aufbauenden
Stoffwechsels, der ja auch zu vermehrtem Abbau führt, aufzufassen und
dürfte zugleich eine hemmende Wirkung auf die Gefäßmuskeln, vielleicht
durch Einfluß auf das Dilatatorenzentrum im verlängerten Marke, aus¬
üben, da hierdurch der Stoffwechsel unterstützt und die gefäßverengernde
Wirkung des aufbauenden Stoffwechsels gehemmt wird, die sonst die
Wirkung des Zentrums beeinträchtigen würde. Von der Haut aus wird
es hauptsächlich durch die Abkühlung der Umgebung erregt, während deren
Erwärmung ein anderes Zentrum im Gehirn reizt, welches auf den Ver¬
brennungsprozeß im Körper hemmend wirkt. Da dessen Fasern durch
Pons, Med. oblong, und Med. spin. niedersteigen, müssen sie die Hemmung
des aufbauenden Stoffwechsels im Rückenmark oder im Sympathikus
besorgen, und die Frage, was sie, abgesehen von dieser Hemmung, leisten,
dürfte wohl mit Rücksicht darauf, daß sie bei Erwärmung der Haut in
Tätigkeit treten, dahin zu beantworten sein, daß sie die Arterien, und zwar
• in diesem Falle, da die Erwärmung der Haut die Hautgefäße erschlafft,
nur die Arterien der inneren Organe, namentlich der Drüsen und Muskeln,
verengern, was nicht nur die hemmende Wirkung auf den Stoffwechsel
unterstützen, sondern auch das Blut nach der Haut ablenken und deren
schon örtlich bedingte reichlichere Durchströmung steigern würde. Da
nun der Sehhügel wahrscheinlich einen Apparat für die Vasomotoren ent¬
hält, liegt die Annahme nahe, daß di^er mit dem im Gehirn noch nicht
näher lokalisierten Hemmungszentrum des Stoffwechsels identisch ist,
so daß das Zentrum für die Förderung und das für die Verlangsamung des
Stoffwechsels einander ebenso benachbart wären wie das Zentrum der Be¬
schleunigung und das der Verlangsamung der Herztätigkeit oder die Zentren
der Vasokonstriktoren und der Vasodilatatoren. Wenn Reichardt l ) es
' 1 ) Reichardt , Arbeiten aus der Psychiatrischen Klinik zu Würzburg.
7. Heft, S. 398.
Zeitschrift fOr P s LXXV. 4/6. 40
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Lachr,
als „überwiegend wahrscheinlich“ bezeichnet, daß eine schwere Erkrankung
der Hirngegenden in der Nachbarschaft des 3. Ventrikels und der Hypo¬
physe zu einer krankhaften Mästung und konsekutiven Abmagerung und
zu einer Art Marasmus führen kann, so paßt dies zur Annahme von Zentren
für den aufbauenden und abbauenden Stoffwechsel in der Sehhügelgegend.
Die Hemmung des Stoffwechsels ist aber nicht nur bei Erwärmung
der Haut durch die Umgebung geboten, sondern "auch im Hungerzustand,
da es dann gilt, mit den Nährstoffen zu sparen und den Stoffwechsel auf
das zur Erhaltung des Körpers eben erforderliche Maß zu beschränken.
Während also die Einschmelzung in einem einzelnen Körperteil den auf¬
bauenden Stoffwechsel in ihm anregt, für den in diesem Falle ja genügend
Stoff vorhanden ist, bewirkt die im Hungerzustande den Gesamtkörper
umfassende Einschmelzung das Gegenteil, indem voiü Gehirn aus un¬
mittelbar eine Verengerung der Arterien und durch Hemmung eine Ver¬
ringerung des aufbauenden Stoffwechsels erfolgt. Daß hierbei die lebens¬
wichtigsten Organe am wenigsten leiden, sich also von den Stoffen er¬
nähren, die in den andern Organen abschmelzen, ist offenbar darin be¬
gründet, daß jene, vor allem das Zentralnervensystem, dem beständig
Reize Zuströmen, und das Herz, andauernd tätig sind, so daß hier der ab¬
bauende funktionelle Stoffwechsel auch den aufbauenden steigert und so
dessen Einschränkung entgegenarbeitet, während in den Teilen, die nicht
oder wenig funktionieren, vor allem also im Fettgewebe, Ersatzstoffe nicht
aufgenommen werden und die vorhandenen Stoffe zwar langsam, aber
infolge ihrer Labilität dauernd einschmelzen. Das gleiche, nur in ver¬
ringertem Maße, gilt für die Unterernährung.
Umgekehrt liegen die Verhältnisse nach der Nahrungsaufnahme.
Hier unterstützt die Erregung des Zentrums für den aufbauenden Stoff¬
wechsel die Ersatztätigkeit der einzelnen Organe. Und da diese Ersatz¬
tätigkeit durch die Funktion gesteigert wird, werden zunächst die Ver¬
dauungsorgane ihren Verlust am vollständigsten ersetzt erhalten und rasch
funktionstüchtig werden.
Der Reiz des aufbauenden Stoffwechsels im Einzelorgan oder in
dessen Teilen regt also die Zusammenziehung der zuführenden Arterien
an und belebt den Stoffwechsel in andern Körper- oder Organteilen.
Von Darm und Leber aus besonders kräftig eingreifend bewirkt er
durch Vermittlung des Gehirns eine Steigerung des Stoffwechsels im
Gesamtkörper und hemmt den Trieb zu Bewegungen. Das Gehim-
zentrum für die Steigerung des Stoffwechsels, das in der Sehhügel¬
gegend anzunehmen ist, beantwortet zugleich die Wirkung der Kälte
durch Steigerung der Wärmeerzeugung im Körper. Dieser mittelbare
Einfluß der Kälte auf den Stoffwechsel macht sich, wie der entgegen¬
gesetzte der äußeren Wärme, nur in den inneren Organen bemerkbar.
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
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Weil in der Haut der Stoffwechsel durch die Kälte unmittelbar ver¬
langsamt und gleichzeitig die Arterien Verengert werden.
Der Reiz des abbauenden Stoffwechsels im Einzelorgan oder in
dessen Teilen bewirkt teils unmittelbar durch Hemmung der Zusammen¬
ziehung der zuführenden Arterie, teils durch Zusammenziehung anderer
Arterien eine stärkere Blutversorgung und belebt zugleich den auf¬
bauenden Stoffwechsel im gleichen Körperteil Vom Gesamtkörper
her bewirkt er durch Vermittlung des Gehirns direkt eine Zusammen¬
ziehung der Arterien und durch Hemmung ein Nachlassen des auf¬
bauenden Stoffwechsels und regt zugleich die zur Nahrungsaufnahme
nötigen Körperbewegungen an. Das den Stoffwechsel hemmende
Zentrum, das gleichfalls in der Sehhügelgegend anzunehmen ist, ver¬
mittelt daneben auch die 'Wirkung äußerer Wärme auf den Stoff¬
wechsel.
Die beiden Stoffwechselzentren, die in der Sehhügelgegend anzu¬
nehmen sind, können aber voraussichtlich nicht nur vom Sympathikus
und von den sensiblen Gehirn- und Rückenmarksnerven aus erregt
werden, sondern vermittelst der Tractus corticothalamici auch von
der Großhirnrinde aus. Dafür spricht nicht nur, daß seelische Ver¬
stimmungen, als deren physiologisches Korrelat wir Vorgänge in der
Großhirnrinde annehraen, bei längerer Dauer den Stoffwechsel merklich
beeinflussen, sondern auch die Tatsache, daß andere gegensätzliche
Zentrenpaare im Himstamm und in tieferen Nervenabschnitten, wie
die, welehe die Herztätigkeit, die Arterienzusammenziehung, die
Schweißsekretion 1 ), die Darmbewegung, die Urinentleerung, die Pupillen¬
weite usw. fördern oder hemmen und für gewöhnlich „automatisch 1 ’,
ohne Beteiligung der Hirnrinde, wirken, auch durch Bewußtseinsvor¬
gänge, also von der Hirnrinde aus, beeinflußt werden können. Dafür
spricht ferner eine Betrachtung darüber, wie eingeübte Bewegungen
zustande kommen können, auch ohne daß die Reize, die zu ihrer Ein¬
übung geführt haben, in gleicher Weise von neuem auftreten.
Wenn ich davon sprach, daß in der Großhirnrinde die sensiblen Er¬
regungen des Gesamtkörpers zu gemeinsamen Wirkungen zusammengefaßt
und die aus ihnen entspringenden Bewegungen ausgearbeitet und zweck¬
mäßiger gestaltet werden, so sind diese Ausdrücke für das Folgende zu
*) Dieden, Die Innervation der Schweißdrüsen.
1918, S. 1048.
D. med. Wschr.
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Laehr,
allgemein und müssen auf physiologisch faßlichere Anschauung zurück¬
geführt werden. Da ich für jene Funktion der Großhirnrinde die Ver¬
bindung ihrer ,»stummen“ Teile mit dem Sehhügel und im besonderen
mit dessen StolTwechselzentren als wichtig ansehe, koiümt es mir darauf
an, die Beteiligung beider Hirnteile möglichst auseinanderzuhalten. Das
geht besser beim Frosch als beim Menschen. Beim Menschen hat die Hirn¬
rinde einen Teil der lebenswichtigen Funktionen,^die einst die Sehhügel¬
gegend leistete, so vollständig übernommen, daß diese allein sie auch "nicht
einmal unvollkommen mehr leisten kann. Dagegen ist der Frosch noch
fähig, wenn er so lange durch Fütterung am Leben erhalten wird, den durch
Abtragung des Großhirns entstandenen Ausfall allmählich einigermaßen
zu ersetzen, also durch neue Ausarbeitung früher angelegter Bahnen, die
zugunsten der mehr leistenden Großhirnbahnen verlassen waren, die zu¬
nächst verlorene Leistungsfähigkeit zum großen Teile wiederzuerlangen.
Ein Frosch, dem kürzlich das Großhirn entfernt ist, macht ohne äußere
Reizung keine Bewegung, er nimmt keine Nahrung, zeigt keine Furcht und
vertrocknet schließlich an derselben Stelle zur Mumie. Dagegen behält er
das harmonische' Gleichgewicht des Körpers, drejit sich, auf den Rücken
gelegt, sofort wieder um; gereizt, macht er einen oder zwei Sprünge, wobei
er in den Weg gestellten Hindernissen geschickt ausweicht; ins Wasser
geworfen, schwimmt er bis zum Rande des Behälters, steigt auf diesen
hinauf und bleibt ruhig sitzen. Unter den verwickeltsten Verhältnissen
zeigt er auf äußere Reize volle Beherrschung, Harmonie und Einheitlich¬
keit der Bewegungen 1 ). Erhalten ist also die Anpassung der Bewegungen
an gegenwärtige äußere Reize, während die Verwertung vergangener Ein¬
drücke verloren gegangen ist. Der Gesichtseindruck genügt, den Sprung
der Umgebung anzupassen; Gefahren und Beute regen keine Bewegung an.
Ihre Eindrücke gelangen natürlich ebenso zur Sehhügelgegend wie die
der Bewegungshindernisse, aber sie führen nicht zur Bewegung, weil hierzu
die Vereinigung jetziger mit den Residuen früherer Eindrücke notwendig
wäre und letztere fehlen. Beim unversehrten Frosche sind demnach in der
Hirnrinde Residuen früherer Eindrücke vorhanden, die die jeweilig ein¬
laufenden Eindrücke bereichern und ergänzen: die Wahrnehmung der
Gefahr oder der Beute regt Bewegungen an, und diese haben ein Ziel,
sind einem Zwecke angepaßt und schon deshalb genauer ausgearbeitet
als die zwecklosen, nur durch die Hautreize, gewissermaßen nur von hinten
angeregten Bewegungen des kürzlich cntgroßhirnten Frosches. Damit die
Ausarbeitung jener Zielbewegungen erfolgen konnte, mußten die ent¬
sprechenden Rindenbahnen also außer der Anregung von hinten auch
eine Anregung von vorn, vom Bewegungssziel aus, erfahren können.
Nun sind ja zweifellos in der Hirnrinde des jungen Frosches die
meisten Leitungsbahnen schon in seiner Kaulquappenzeit gebildet, so daß
er Bewegungen nach einem Ziele hin ausführen kann, und sich für sein
*) Nach Landois a. a. O. S. 708.
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Froschdasein zweckmäßige Ziele zu setzen lernt er im allgemeinen durch
Nachahmung, ich will aber, um die Entstehung solcher zweckmäßigen
Ziele zu verfolgen, annehmen, daß sie ohne Nachahmung gebildet werden.
Wie kommt es, daß die Nervenbahnen in der Großhirnrinde, welche im
Hungerzustand zur Sättigung führen oder den Frosch schädlichen Ein¬
wirkungen entziehen, nach ihrer Ausarbeitung auf die besonderen Reize
sofort ansprechen, d. h. die inneren Erregungen, die dem abbauenden
Stoffwechsel entspringen, und die äußeren Erregungen, die von der
Nahrungs- oder Schädigungsquelle ausgehen, gewissermaßen an»sich ziehen,
in sich aufnehmen und so die Bewegung nach dem zweckmäßigen Ziel hin
veranlassen? Es sind ja unter diesen Umständen gewiß auch Sprünge
nach unzweckmäßigen Zielen vorangegangen, und sie könnten sich ebenso
wiederholen. Die Bewegungen auf ein zweckmäßiges und ein unzweck¬
mäßiges Ziel unterscheiden sich dadurch, daß die einen zur Sättigung
oder, zum Aufhören der Schädigung, also zur Entstehung des aufbauenden
Stoffwechsels führen, die andern nicht. Die Entstehung des aufbauenden
Stoffwechsels, der den abbauenden ablöst und die durch ihn hervorgerufenen
Bewegungen hemmt, muß also die Ursache jener ,,Heranziehung“ sein.
Als Beispiel diene der durch starke Sonnenwärme angeregte Sprung
des Frosches. Führt er in den kühlen Teich, so ist dadurch von den beiden
Stellen der stummen Hirnrinde, deren Erregung die Einleitung des Sprunges
begleitete, nämlich der, die den Eindruck der äußeren Wärme und damit
zugleich Erregungen des abbauenden Hautstoffwechsels aufnahm, und der,
die dem Gesichtseindruck des Teiches entspricht, eine gemeinsame Bahn
angelegt zu der andern Stelle, die die sensiblen Eindrücke beim Verweilen
im Teiche festhält. Diese gemeinsame Bahn wird gebildet durch die
Residuen der sensiblen Eindrücke, die die Einstellung auf den Sprung
und den Sprung selbst begleiteten und durch die hierzu nötigen Bewegun¬
gen vermittelt wurden. Gelangt der Frosch m das kühle Wasser, so geht
der abbauende Stoffwechsel an der Körperoberfläche in den aufbauenden
über, und der aufbauende Stoffwechsel im Körperinnern nimmt zu. Die
von ihm ausgehenden Rindenerregungen verbinden sich mit der Erregung,
die dem Eindruck beim Verweilen im Teiche entspricht. Da die Ab¬
kühlung der Oberfläche, wenn auch rasch, doch nicht sofort beendet ist
und demgemäß der Umschlag des ab- in den aufbauenden Stoffwechsel
nicht überall gleichzeitig erfolgt, so wird eine Zeitlang ein Erregungs¬
kreislauf in der stummen Hirnrinde vor sich gehen, der von der Stelle,
die dem Eindruck der äußeren Wärme entspricht, über die Residuen der
sensiblen Eindrücke bei der Einstellung zum Sprung und beim Sprung
selbst zur Stelle führt, die den Eindrücken beim Verweilen im Teiche
entspricht, und von da zurück zu den Stellen, die den Gesichtseindruck
des Teiches und den Eindruck der äußeren Wärme festhält. Dieser Kreis¬
lauf wird zunächst gespeist von den mit dem Wärmeeindruck verbundenen
Erregungen, die vom abbauenden Stoffwechsel ausgehen, bald aber in
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L aehr,
zunehmendem Maße von den mit dem Eindruck der Kühle des Teichs
verbundenen Erregungen des aufbauenden Stoffwechsels. Zur Sprung¬
bewegung kommt es dabei nicht, weil der abbauende Stoffwechsel im Ab¬
nehmen ist und der aufbauende sehr rasch überwiegt, so daß die von jenem
angeregte Bewegung zur Ruhe kommt. Wohl aber bildet sich eine Ver¬
tiefung der so angelegten Kreislaufbahn aus, die spätere Erregungen der
Stellen, die den Eindruck der Wärme und den Gesichtseindruck des Teiches
festhalten, in diese Bahn, und zwar in der früheren Richtung, hineinziehen
und somit dieselbe Sprungbewegung veranlassen kann. Gelangt der Frosch
dagegen nicht in größere Kühle, dauert also der abbauende Hautstoff¬
wechsel fort, so wird vielleicht gleichfalls ein entsprechender Erregungs¬
kreislauf entstehen, der von der Stelle des Wärmeeindrucks und des
Sprungzieleindrucks über die Residuen der Eindrücke der Sprungein¬
stellung und des Sprunges zu den Stellen des Wärmeeindrucks und des
Sprungzieleindrucks zurückführt, aber der abbauende Stoffwechsel, der
nun fortbesteht, wird weitere Sprünge nach andern Zielen veranlassen,
so daß die Vertiefung der Kreisbahn nicht zugunsten eines bestimmten
Zieles stattfindet. Wird also ein Frosch, der sich durch den Sprung in den
Teich der Hitze entzogen hat, später wieder von der Hitze bedroht, so
wird, wenn mehrere Gesichtsbilder, darunter auch das des Teiches, sich
ihm darbieten, die Erregung durch den Anblick des Teiches in der stummen
Hirnrinde die Kreisbahn einschlagen, die sich durch den Sprung in den
Teich gebildet und durch seine Folgen vertieft hat. Die übrigen Kreis¬
bahnen, die von den Gesichtseindrücken früherer Sprungziele angeregt
werden, haben hiergegen zu geringe Vertiefung erfahren und sind daher
gegen die vom Gesichtsbild des Teiches angeregte benachteiligt. Die Er¬
regung durch die äußere Wärme, die zum Sprunge führt, wird deshalb auf
die Bahn in der stummen Hirnrinde, die zur Stelle des Gesichtsbildes des
Teiches zurückführt, geleitet, und die einzelnen Abschnitte dieser Bahn
sind mit den motorischen Abschnitten leitend verbunden, mit denen sie
damals in zeitlicher Parallele erregt wurden. So werden diese motorischen
Abschnitte nicht nur, wie die übrigen, von den unmittelbaren Erregungen
des abbauenden Stoffwechsels, sondern auch stärker als die andern von
jener Bahn der stummen Hirnrinde aus in Erregung versetzt, sie sind also
vor den andern bevorzugt und bewirken, daß ‘der Sprung in den Teich
erfolgt.
Es erhalten somit die ziellosen Sprünge, die, vom abbauenden Stotl-
wechsel angeregt, auch beim entgroßhirnten Frosch erfolgen, ein Ziel
dadurch, daß manche zu Verhältnissen führen, in denen der abbauende
Stoffwechsel in den aufbauenden übergeht , daß sie also für den Organismus
des Frosches zweckmäßig sind. Zugleich wird aber durch die Sprünge*
auf ein zweckmäßiges Ziel auch die Sicherheit und genaue Abmessung
der Sprünge erhöht, weil bei falscher Einstellung der aufbauende Stoff¬
wechsel ausbleibt. Die falsche Einstellung beruht auf ungenauer Ab*
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 593
Stimmung der motorischen Rindenbahn auf diejenige Bahn der stummen
Hirnrinde, die durch die Sprungeinstellung entstanden ist. Dadurch, daß
die Erregungswellen in der motorischen und in der stummen Hirnrinde
in zeitlicher Parallele verlaufen, erfolgt die Abstimmung, und diese wird
um so genauer sein, auf je kleinere Abschnitte der Bahnen sie sich erstreckt.
Auf den gelungenen Sprung erfolgt kein neuer, weil die Erregung durch
den abbauenden Stoffwechsel nachläßt; bevor sie aufhört, wird aber die
Erregung weiter auch in die eben durchlaufene Bahn der motorischen
Rinde sich ergießen, nur mit geringerer Stärke, so daß es zwar zu keinem
neuen Sprunge kommt, aber die Abstimmung der motorischen auf die
stumme Rindenbahn durch die, wenn auch schwächere, Nachdauer der
beiderseitigen Erregung gefördert wird. Zugleich wird auch die Abstim¬
mung Zeit haben, sich zu befestigen, da der aufbauende Stoffwechsel neue
Erregung in diesen Teilen nicht aufkommen läßt, während nach Fehl¬
sprüngen infolge der fortdauernden Reizwirkung des abbauenden Stoff¬
wechsels neue Sprünge erfolgen, die nicht nur die für die Abstimmung
bleibende Zeit verkürzen, sondern auch durch die starke Erregung neuer
Bahnen, die über Teilstrecken der alten, eben angelegten, führen, deren
nachträgliche Festigung stören.
Nun springt der Frosch aber auch häufig, ohne durch den abbauenden
Stoffwechsel dazu veranlaßt zu sein, er hüpft in den Teich, auch ohne daß
Wärme ihn' treibt, er springt wohl auch nach einem lockenden Insekt,
ohne daß Hunger im Spiel ist. Es muß also neben der treibenden Kraft
des Hungers oder zu großer Wärme auch die anziehende Kraft der Beute
oder des erfrischenden Teiches, neben der Anregung von hinten auch eine
Anregung von vorn wirksam sein können. Wie läßt sich das erklären?
Wir wissen zwar, daß Erregungen der Großhirnrinde nicht nur äußere
Bewegungen bewirken, sondern auch durch die Verbindung der Rinde
mit tiefer gelegenen Zentren die vegetativen Funktionen des Körpers ver¬
ändern können, und daß infolge dieser Veränderungen ebenso wie infolge
der äußeren Bewegungen neue Erregungen der Rinde Zuströmen. Diese
neuen Erregungen strömen in die sensible Hirnrinde ein. Von dorther
führen aber nur die Erregungen des abbauenden Stoffwechsels zu Be¬
wegungen; sollen auch die des aufbauenden äußere Bewegungen ver¬
anlassen — und sie müßten doch die anziehende Kraft darstellen, die
Kraft, durch welche der Eindruck der Beute oder des erfrischenden Teiches
Bewegungen hervorruft —, so müssen Stoffwechselerregungen auch an
anderer Stelle in die Hirnrinde einströmen können. Wer, wie ich, die
ursprüngliche Abhängigkeit der Bewegungen vom Stoffwechsel annimmt,
wird hier sofort an die Stoffwechselzentren in der Sehhügelgegend denken.
Sie werden von den Stoffwechselvorgängen ebenso erregt wie die sensible
Großhirnrinde, aber sie unterscheiden sich von der sensiblen Hirnrinde
dadurch, daß in sie nur Stoffwechselerregungen, in die sensible Hirnrinde
daneben und stets gleichzeitig mit ihnen auch sensible Erregungen anderer
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Art eintreten. Diese sensiblen Erregungen werden sich in der sensiblen
Hirnrinde mit den StolTwechselerregungen vereinigen, mit denen sie gleich¬
zeitig auftreten, d. h. sie werden mit ihnen nach ihrer gemeinsamen Ent¬
stehungsquelle — dem gleichen Organ, dem . gleichen Organteil — zu ge¬
meinsamer Wirkung zusammenfließen, so daß die Erregung derselben sen¬
siblen Faser, mit überwiegender Erregung des abbauenden Stoffwechsels
verbunden, andere Bahnen in der Großhirnrinde einschlägt, als wenn sie mit
überwiegender Erregung des aufbauenden Stoffwechsels vereint ist. Anders
in den Zentren der Sehhügelgegend. In ihnen laufen nur Stoffwechsel¬
erregungen zusammen, im einen Zentrum nur die des abbauenden, iro
andern nur die des aufbauenden Stoffwechsels. Es können sich also hier
nur die Erregungen des aufbauenden Stoffwechsels miteinander und die
Erregungen des abbauenden Stoffwechsels miteinander zu gemeinsamer
Wirkung vereinigen. Beide Zentren sind stets mit Erregung geladen, da
überall im Körper Aufbau und Abbau, wenn auch in sehr verschiedenem
Stärkeverhältnis, vor sich geht. Nimmt man also an, daß sie mit der
stummen Hirnrinde leitend verbunden sind, so können ihre Erregungen
für die Stoffwechselerregungen eintreten, die durch die sensible Hirnrinde
in die stumme Hirnrinde gelangen. Es liegt somit nahe, daß die Wirkung
des Stoffwechsels auf die Hirnrinde, die im nicht hungrigen Frosch beim
Sprung auf die lockende Beute zutage tritt und die nicht über die sensible
Hirnrinde kommen kann, von den Stoffwechselzentren des Sehhügels
stammt. Und das erweist sich in der Tat als möglich, weil stumme Hirn¬
rinde und Sehhügel durch Fasern verbunden sind, die' nach beiden Richtun¬
gen gehen und*daher einen Kreislauf der Erregung von der stummen
Hirnrinde zum Sehhügel und von diesem zu ihr zurück gestatten, die
Stoffwechselzentren des Sehhügels also in dieser Beziehung sich wie Teile
der stummen Hirnrinde verhalten, nur mit dem Unterschiede, daß sie
durch diese hindurch Bewegungen bewirken können, während andere
Erregungen der stummen Hirnrinde dies nicht vermögen, falls ihnen
nicht Erregungen des abbauenden Stoffwechsels durch die sensible hin¬
durch Zuströmen.
Wende q wir diese Überlegung auf den Fall an, daß der Frosch,
ohne durch Hunger getrieben zu sein, den Sprung auf die Beute vollführl.
so ergibt sich folgender Zusammenhang. Die Vorgeschichte ist dieselbe
wie beim Sprung ins Wasser bei Sonnenwärme. Gelang der Beutesprung,
so ist dadurch von den beiden Stellen der stummen Hirnrinde, die dem
Eindruck des Hungers und dem Gesichtseindruck der Beute entsprechen,
über die Sammelstelle der sensiblen Eindrücke, die durch die Einstellung
auf den Sprung und den Sprung selbst entstanden, eine gemeinsame Bahn
eröffnet zu den Stellen der stummen Hirnrinde, die die Eindrücke beim
Verzehren'der Beute und die der Sättigung festhält. Die Stelle, welche
den Eindruck der Sättigung festhält, wiederum ist leitend verbunden mit
der Stelle, die den .Eindruck des Hungers festhält, da dieser erst allmählich
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mit der Zunahme der Sättigung abnimmt und verschwindet. Es ist also
eine Kreisbahn geschaffen, vermöge deren später das Zusammentreffen
von Hunger und Anblick der Beute einen neuen Sprung auf diese ver¬
anlassen kann in gleicher Weise, wie das Zusammentreffen von Wärme
mit dem Anblick des kühlen Teiches den Sprung in diesen anregen konnte.
Die zum Sprunge treibende Kraft stellte der abbauende Stoffwechsel, dessen
Wirkung der Eindruck des Hungers oder der Wärme enthielt. Diese treibende
Kraft fällt beim Sprunge des nicht hungrigen oder nicht übermäßig er¬
wärmten Frosches fort und muß durch die Kraft des aufbauenden Stoff¬
wechsels ersetzt werden. Verhalten sich nun die Sehhügelzentren des
Stoffwechsels darin wie Teile der stummen Hirnrinde, daß zwischen einem
von ihnen und bestimmten Abschnitten der stummen Hirnrinde eine
gegenseitige Abstimmung eintreten kann, so wird eine solche während
des Hungers zwischen dem Zentrum des abbauenden Stoffwechsels und
der Rindenstelle, die den Eindruck des Hungers festhält, und während der
Sättigung zwischen dem Zentrum des aufbauenden Stoffwechsels und der
Stelle, die den Eindruck der Sättigung festhält, geschaffen sein. Beide
Zentren sind aber, auch wenn die Unterleibsorgane, deren Stoffwechsel
dem Hunger und der Sättigung das besondere Gepräge gibt, sich im Stoff¬
wechselgleichgewicht befinden, sowohl von diesen wie von andern Organen
her in Erregung, und ihre gleichzeitige Erregung hebt sich nicht auf, soweit
die Wirkung auf äußere Bewegung in Betracht kommt, wie dies die gleich¬
zeitige Erregung der sensiblen Hirnrinde durch Hunger nud Sättigung
tun müßte, weil die Erregung durch den aufbauenden Stoffwechsel, die
der sensiblen Hirnrinde zuströmt, die Bewegungen hemmt, zu denen die
Erregung durch den abbauenden Stoffwechsel sonst führen würde. Daß
sich jene gleichzeitige Erregung der stummen Hirnrinde von beiden
Stoffwechselzentren her aufhebt, ist ja deshalb nicht nötig, weil nicht
dieselbe Stelle mit beiden in Verbindung tritt, sondern die Erregung des
aufbauenden Stoffwechsels sich auf die Stelle, die den Eindruck der Sätti¬
gung festhält, die Erregung des abbauenden Stoffwechsels dagegen auf
die Stelle, die den Eindruck des Hungers festhält, fortpflanzt, sobald infolge
früherer Abstimmung ein Erregungskreislauf von je einer dieser beiden
Stellen der stummen Hirnrinde über je ein Stoffwechselze-ntrum des
Sehhügels stattfindet. Solcher Kreislauf wird nun leicht sowohl von der
Stelle der stummen Hirnrinde, die dem Eindruck der Sättigung entspricht,
wie von der andern, die dem Eindruck des Hungers entspricht, oder
von beiden aus eingeleitet werden, sobald diese Stellen der stummen
^irnrinde in Erregung versetzt werden, und wird ihnen dann einen erheb¬
lichen Zuwachs an Erregung bringen. Ist also durch den Anblick neuer
Beute jener andere, vorher geschilderte Erregungskreislauf in Gang ge¬
kommen, der beim nicht hungrigen Frosch allein den Sprung auf die
Beute nicht veranlassen kaün, so kann seine Erregung, wenn auf die eben
beschriebene Art zu ihr die in den Stoffwechselzentren des Sehhügels stets
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vorhandene Erregungsstärke hinzutritt, soweit anwachsen, daß der Sprung
erfolgt, auch ohne daß Erregungen der sensiblen Hirnrinde durch den
Stoffwechsel daran beteiligt sind.
Der Erregungskreislauf, der durch den Anblick neuer Beute in d?r
stummen Hirnrinde entsteht, und seine Abzweigungen nach den Stof!
Wechselzentren des Sehhügels werden besonders dann länger andauer 3
und dadurch die Abstimmung der dabei durchlaufenen Bahnstrecke#
verstärken, wenn die Wirkung des Beuteanblicks auf die motorisch--
Rindengegend gehemmt ist. Eine solche Hemmung tritt z. B. ein, wenn
die Beute zu entfernt ist, als daß der Sprung gelingen könnte. Wie kommt
diese Hemmung zustande?
Nehmen wir an, ein noch hungriger Frosch, dem bisher das Erhaschen
der Beute gelungen ist, verfehle bei einem weiteren Sprunge, der durch
den Anblick neuer Beute auf die oben dargelegte Art veranlaßt wird. da>
Insekt, weil dieses etwa zu hoch schwebt. Dann werden, so lange das Insekt
sichtbar ist, immer neue Sprünge auf gleiche Art wie der erste angeregt
werden, und zwar, da das Insekt sich in größerer Entfernung halten wird
und die Sprünge daher ergebnislos ausfallen, so lange, bis der abbauend^-
Muskelstoffwechsel die Bewegungen hemmt (S. 614). Die Stelle der
stummen Hirnrinde, die den sensiblen Eindruck der Muskelermüdung
festhält, wird nun bei genügender Erregung ebenfalls die Bewegungen
hemmen, weil sie als Nebenleitung, als Umweg, in die direkte Bahn zur
motorischen Rindengegend angeschlossen ist und die Erregungen, die vop
ihr zur motorischen Rindengegend verlaufen, also dieselbe Wirkung auf
diese ausüben wie die Erregungen des Muskelstoffwechsels selbst. Während
der vergeblichen Sprünge nach dem fernen Insekt wird aber die Stelle
der stummen Hirnrinde, die den Eindruck der Muskelermüdung festhält
und dieser in der Wirkung entspricht, mit dem Sehhügelzentrum des ab¬
bauenden Stoffwechsels in gegenseitige Abstimmung geraten sein, weil
beide, jene durch Hunger, diese durch den Muskelabbau zusammen erregt
waren, ebenso aber auch beide mit den einzelnen Abschnitten der Bahn
in der stummen Hirnrinde, die durch die sensiblen Eindrücke vor und
während der letzten Sprünge erregt wurden. Diese Eindrücke und die
ihnen entsprechenden Abschnitte der Bahn in der stummen Hirnrinde
sind nun die gleichen wie die, die auch bei erfolgreichen Sprüngen erregt
wurden mit Ausnahme des Abschnitts, welcher den Gesichtseindruck der
geringeren oder größeren Entfernung der Beute festhält. Hier hat die
Rindenbahn gewissermaßen zwei Geleise erhalten, deren eines, der größeren
Nähe der Beute entsprechend, mit dem Sehhügelzentrum des aufbauenden
Stoffwechsels, deren anderes, der größeren Entfernung der Beute ent¬
sprechend, mit dem Sehhügelzentrum des abbauenden Stoffwechsels und
der Stelle der stummen Hirnrinde leitend verbunden ist, die der Muskel-
ermüdung entspricht. Nach einiger Zeit, wenn die frische Nachwirkung
der Ermüdung vorüber ist, wird der Anblick neuer Beute die Rindenbahn
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Die physiologischen Korrelate der Last und Unlust. 597
wieder anregen können, weil die Mehrzahl der durch ihre Erregung einge¬
leiteten Sprünge Erfolg gehabt hat, aber die zweigeleisige Strecke wird
eine Hemmung bewirken und daher kein Sprung zustande kommen, wenn
das Insekt sich in größerer Entfernung befindet, weil die Erregung dahn
von dieser Strecke aus einen Nebenkreislauf über das Sehhügelzentrum
des abbauenden Stoffwechsels und die den Eindruck der Muskel er müdung
festhaltende Stelle der stummen Hirnrinde einschlägt, so daß die durch
das Sehhügelzentrum des abbauenden Stoffwechsels verstärkte Erregung
sich auf die der Musk&ermüdung entsprechende Stelle der stummen Hirn¬
rinde überträgt und die Bewegung hemmt. Dagegen wird der Sprung er¬
folgen, wenn das Insekt dem Frosche näher kommt und damit nicht nur
der hemmende Eindruck der größeren Entfernung wegfällt, sondern die
Erregung des Sehhügelzentrums des aufbauenden Stoffwechsels auch dem
Abschnitt der zweigeleisigen Strecke zugute kommt, der dem Anblick der
geringeren Entfernung entspricht. — Was ich für die Wirkung größerer
Nähe oder Entfernung der Beute ausgeführt habe, gilt natürlich auch
für andere Begleitumstände, welche auf das Gelingen oder Mißlingen
der Bewegung von Einfluß sind.
Hiernach erfolgt die Ausarbeitung zweckmäßiger Leitungsbahnen
in der stummen Hirnrinde vor allem durch ihre Verbindung mit den
Stoffwechselzentren der Sehhügelgegend, von der sie die zur Bewegung
oder deren Hemmung nötige Erregungsenergie auch ohne Beteiligung
de& sensiblen Hirnrinde beziehen können. Wenn wir aber davon aus¬
gehen, daß das Gehirn dazu dient, sämtliche sensible Erregungen,
sowohl die inneren wie die äußeren, zusammenzufassen, und durch
diese Zusammenfassung sowohl die äußeren Bewegungen wie die Vor¬
gänge im Innern des Körpers in zweckmäßiger Weise zu regeln, so
müssen wir erwarten, daß, wie die Stoffwechselvorgänge die Körper¬
bewegungen anregen und hemmen, so auch die Sinneserregungen den
Stoffwechsel beschleunigen und hemmen können. Dies ergibt sich in
der Tat schon aus den bisherigen Ausführungen, da z. B. die dem
Gesichtseindruck der Beute oder die dem Eindruck des Hungers ent¬
sprechenden Erregungen der stummen Hirnrinde infolge ihrer Ver¬
bindung mit den Stoffwechselzentren der Sehhügelgegend nicht .nur
von dort aus verstärkt werden, sondern auch die Erregungen der
Stoffwechselzentren verstärken können, wenn auch letzteres nur in
geringem Maße. Dauert aber der Einfluß einer oder mehrerer Stellen
der stummen Hirnrinde auf ein Stoffwechselzentrum der Sehhügel¬
gegend länger an, ohne daß gleichzeitig das gegenteilige Stoffwechsel¬
zentrum von andern Stellen der stummen Hirnrinde Enregungen
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erhält, so kann allmählich <ler Energiezuwachs doch auch eine leichte
Steigerung oder Hemmung des Körperstoffwechsels bewirken.
Außer den Stoffwechselzentren der Sehhügelgegend, die den Körper -
Stoffwechsel im ganzen beeinflussen, sind besondere Stoffwechselzentren
wenigstens für die willkürliche Muskulatur auch in der Großhirnrinde vor¬
handen. Während aber die Stoffwechselzentren des Sehhügels den auf¬
bauenden und erst in Abhängigkeit hiervon den abbauenden Stoffwechsel
anregen oder hemmen, wirken die besonderen Zentren für den Muskel¬
stoffwechsel steigernd oder hemmend auf den abbauenden und erst mittel¬
bar auf den aufbauenden Stoffwechsel. Die Muskeln bedürfen dieser be¬
sonderen Zentren, weil ihr abbauender Stoffwechsel mit ihrer Leistung so
innig verbunden ist, daß diese von jenem nicht getrennt werden kann,
und weil die Muskeln einzeln oder gruppenweise, aber nicht alle zusammen,
zur Leistung angeregt werden müssen, wenn diese dem Organismus förder¬
lich ausfallen soll. Ein einzelnes Zentrum, das starken abbauenden Stoff¬
wechsel der Muskeln und damit deren Zusammenziehung veranlaßte, wäre
daher unzweckmäßig, und so treten dafür nicht nur die vielen Bewegungs¬
zentren der motorischen Rindenregion, sondern auch die Zentren des Hirn¬
stammes ein. welche Zusammenziehung der glatten Muskulatur veran¬
lassen können, wie die für das Herz, die Gefäße, die Darmbewegung, die
Entleerung des Rektums und der Blase. Sehen wir aber in der motorischen
Rindenregion einen Sammelort der Einzelzentren des abbauenden Muskel¬
stoffwechsels, so werden wir auch ein entsprechendes Hemmungszentrum
in derselben Gegend erwarten dürfen, und die Erregungen der absteigenden
Bahnen dieses Zentrums werden die Erregungen der Bewegungsnerven
ebenso hemmen und von ihnen gehemmt werden, wie die absteigenden
Erregungen der Stoffwechselzentren für den Gesamtkörper sich gegen¬
seitig hemmen. In der Tat haben Eulenburg und Landois neben den motori¬
schen Zentren für die Extremitäten beim Hunde eine Stelle gefunden,
von der aus die Temperatur und Gefäßweite derselben beeinflußt wird-
Reizung dieser Gegend ruft Abkühlung, Zerstörung eine Erwärmung der
kontralateralen Extremitäten hervor, und zwar ist dabei nach Wood die
Wärmeproduktion im ersten Falle vermindert, im zweiten vermehrt.
Da die Muskeln in den Extremitäten die hauptsächliche Wärmequelle
bilden, heißt das also, daß jene Rindenstelle ein Hemmungszentrum für
den Muskelstoffwechsel und damit auch für die Muskelleistung darstellt.
Ich nehme an, daß diese Stelle vom abbauenden Muskelstoffwechsel erregt
wird und ihn wiederum hemmt (vgl. S. 614). Daß die hemmende Ver¬
bindung der absteigenden Fasern der Muskelzentren in den einzelnen Ab¬
schnitten des Rückenmarks liegt, kann aus der Steigerung der Reflexe nach
Durchschneidung des Rückenmarks gefolgert werden.
Beim Frosch ist die Hirnbahn, die zum Sprunge führt, doppelt vor¬
handen: der des Großhirns beraubte Frosch vollführt ziellose Sprünge;
zielvolle, also von zwei Seiten her angeregte Sprünge bedürfen der
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Hirnrinde. Aber auch Tiere, die keine Hirnrinde besitzen, bewegen sich
einem Ziele zu; die Hirnvorrichtungen, die hierzu dienen, waren ursprüng¬
lich also auch im Hirnstamm vorhanden und wanderten erst allmählich
von da zur Hirnrinde hinauf. Suchen wir uns die Leitungen zu vergegen¬
wärtigen, die vor dieser Wanderung die Nahrungsuche ermöglichten, so
ergibt sich folgendes Bild. In der Sehhügelgegend liegt ein sensibler und
ein motorischer Abschnitt; beide sind sowohl direkt wie durch Seitenbahnfen
verbunden. Von den einzelnen Teilen der Seitenbahnen her werden die
Einzelbewegungen angeregt, und da diese einzelnen Teile mit den Seh*
hügelzentren des auf- und abbauenden Stoffwechsels in gegenseitiger Ab¬
stimmung stehen, können auch die Residuen früherer Eindrücke, die die
Nahrungsuche und Aufnahme begleiteten, den Ablauf der Bewegungen
beeinflussen. Wird nun das Großhirn angelegt, in dem jene Seitenbahnen
zwischen der sensiblen und motorischen Gegend mehr Raum zur Ent¬
faltung und die Möglichkeit weitergehender Ausarbeitung finden, so wird
die Verbindung dieser Seitenbahnen mit den Stoffwechselzentren des Seh-
hügels die Form der Tractus corticothalamici (und thalamocorticales)
annehmen. Die sich immer weiter ausdehnenden und entwickelnden
Seitenbahnen ziehen aber auch die sensiblen und motorischen Züge all¬
mählich mit sich empor. Eine Abzweigung der sensiblen Leitung zur Hirn¬
rinde führt dieser die inneren und äußeren Erregungen zu. Dagegen gehen
nun die motorischen Fasern, die von der Rinde zum Rückenmark herab¬
steigen, am Sehhügel vorbei, ohne ihn zu durchziehen, da die einem Ziel
angepaßten Körperbewegungen bereits in der Hirnrinde im einzelnen
A ausgearbeitet sind, und zwar gerade durch Vermittlung der Sehhügel¬
gegend, so daß deren nachträglicher Einfluß überflüssig und unzweckmäßig
wäre.
Daß die Entwicklung der Hirnrinde zunächst der feineren Aus¬
arbeitung der Bewegungen und ihrer Anpassung an bestimmte, durch
äußere Eindrücke gegebener Ziele dient, wird dadurch bestätigt, daß
die Einleitung mimischer, also jetzt zielloser Bewegungen auch weiter¬
hin der Sehhügelgegend verblieben ist. Sie waren ursprünglich Begleit¬
bewegungen zielvoller Bewegungen, die deren Erfolg unterstützten,
und erlangten erst mit der Ausbildung der Hirnrinde eine gewisse
Unabhängigkeit von den zielvollen Bewegungen. Zurückgeblieben
sind weiter in der Sehhügelgegend die Vorrichtungen, die innere Vor¬
gänge regeln, vor allem die Zentren des auf- und abbauenden Stoff¬
wechsels. Sie dienen einmal dem Ausgleich von Verschiedenheiten
des Stoffwechsels im Gesamtkörper, indem die Nervenerregungen, die,
vom Stoffwechsel der Einzelorgane angeregt, durch sie hindurch in
den Körper zurückkehren, in den Ganglienzellen ihres Sehhügel-
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Zentrums sich zwar gegenseitig verstärken, aber die stärkeren durtk
die schwächeren weniger Zuwachs erfahren als umgekehrt. Insofm
wirken diese Zentren in gleicher Weise wie die Sympathikusgangliec,
nur umfassender, weil sie den auf- oder den abbauenden Stoffwechsel
des Gesamtkörpers in einer einzigen Ganglienzellengruppe vertreten.
Dann aber helfen beide Stoßwechselzentren durch ihre Verbin dun»
mit der stummen Hirnrinde dazu, die vom abbauenden Stoßwechsel
angeregten ziellosen Bewegungen zu zielvollen zu gestalten und von
abbauenden Stofiwechsel unabhängiger zu machen. Sie können dies,
weil ihre Erregungen nur, soweit sie zu den Körperorganen, nicht aber,
soweit sie zur stummen Hirnrinde und weiter zur motorischen Gegend
strömen, sich gegenseitig hemmen, während die Erregungen des auf-
und abbauenden Stoßwechsels, die der sensiblen Hirnrinde zugehen,
bei ihrem Übertritt in das motorische Gebiet eine gegenseitige Hem¬
mung erfahren, so daß sie nur bei Überwiegen des abbauenden Stoff¬
wechsels bis in die motorische Hirnrinde gelangen. —
.Die bisherigen Ausführungen zeigen, welche körperlichen
Grundlagen ich für Lust und Unlust annehme. Die Erregungen
des aufbauenden Stoßwechsels, die aus allen Körperteilen der Gehirn¬
rinde Zuströmen, entsprechen der Lust, die des abbauenden Stoff¬
wechsels der Unlust. Überwiegt in einem Organ der Reiz des auf¬
bauenden Stoßwechsels, so entsteht Lust; überwiegt der Reiz des
abbauenden Stoffwechsels, treten besondere Umstände ein, die ein
Abschmelzen verursachen oder durch Verletzungen, durch stärkeren
Druck, Wärme oder Kälte den Zellstoßwechsel schädigen und stärker
reizende Abbaustofie der Gewebeflüssigkeit zuführen, so entsteht Unlust.
Der Gefühlston der Empfindung kommt hiernach dadurch zu¬
stande, daß trotz der Verschiedenheit der Nervenleitung die Empfin¬
dung und ihr Begleitgefühl von demselben Körperteil ausgehen, und daß
die ihnen entsprechenden Erregungen zwar durch verschiedene Nerven,
aber gleichzeitig oder doch fast gleichzeitig dem Zentralnervensystem
zufließen, daher hier miteinander eine besonders innige Verbindung
eingehen. Bei den „Organempfindungen“ überwiegt der Gefühlston,
da die Empfindungen, die durch besondere sensible Nervenleitung
übermittelt werden, hier für gewöhnlich wenig lokalisiert und schwach
sind, und man spricht daher von „Gemeingefühlen“. Daß Wohlbehagen
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bei gesundem Körper die Regel ist, hängt damit zusammen, daß bei
Stoffwechselgleichgewicht stärker reizende Abbaustoffe fehlen und die
gewöhnlichen Abfallstoffe, Kohlensäure und Wasser, viel stabiler sind
und daher einen viel geringeren Reiz abgeben als die weit weniger
beständigen ungesättigten organischen Verbindungen, die wir als
Zwischenerzeugnisse des aufbauenden Stoffwechsels anzunehmen
haben. Die Reize, die nicht vom Stoffwechsel ausgehen, werden im
allgemeinen, da sie für gewöhnlich denselben nur bei größerer Stärke
und dann im Sinne des Abbaus beeinflussen, kein Lustgefühl, wohl
aber dann Unlustgefühl hervorrufen, wenn sie die zur Beeinträchtigung
des Stoffwechsels nötige Stärke erreichen. Nur unter besonderen Um¬
ständen wird der aufbauende Stoffwechsel durch sie gesteigert werden
und dann Lustgefühl auftreten. Das behagliche Wärmegefühl ent¬
spricht dem lebhafteren Stoffwechsel der Haut, der nach vorangehen¬
dem, die Blutdurchströmung und den Stoffwechsel beschränkendem
kälteren Zustande mit der besseren Blutversorgung beginnt, wie um¬
gekehrt die erfrischende Kältewirkung bei großer Wärme die Gefä߬
erschlaffung bis zu günstigerer Durchströmung des Gewebes mäßigt.
Leichte Berührung und geringer Druck erzeugen weder Lust noch
Unlust, wie sie keine Änderungen des Stoffwechsels hervorbringen.
Dagegen sind stärkerer Druck und Aufhebung desselben, Spannung
und Entspannung der Haut, wie von Änderungen der Blutdurch¬
strömung und des Stoffwechsels, so von Unbehagen und Behagen
begleitet. Ähnliches finden wir auch beim Muskel und bei den Sinnes¬
organen. Dort das behagliche Recken des ausgeruhten Körpers,
angeregt vom Reiz, den die während längerer Ruhe gedrückten Haut¬
stellen oder Gelenkflächen ausüben, hier das rein sinnliche Behagen
an frischen Eindrücken entspricht einer vermehrten Lebenstätigkeit
' dieser Gewebe, bei der der aufbauende Stoffwechsel gesteigert ist, um
den Abbauverlust zu ersetzen, aber mit diesem gleichen Schritt halten
kann, so daß sein Reiz überwiegt, während längere und stärkere An-»
strengung hier wie dort das Unbehagen der Ermüdung hervorruft.
Daß sich auch phlust und Lust des Hungers und der Sättigung dieser
Anschauung einfügen, ergeben meine früheren Ausführungen ohne
weiteres.
Daß bei einer gewissen Dauer der Empfindung der Gefühlston ab¬
nimmt, kann damit Zusammenhängen, daß der aufbauende Stoffwechsel
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die zuführende Arterie verengert, also die Stoffzufuhr verringert und sich
dadurch von selbst mäßigt, während der abbauende Stoffwechsel'den auf¬
bauenden anregt und sich damit ein Gegengewicht schafft. Bei geringer
oder mittlerer Reizstärke aber, wie sie der Lust entspricht, kann der
Vorgang auch anders verlaufen: die Stoffzufuhr wird zwar verringert,
aber nicht sogleich derart, daß der aufbauende Stoffwechsel sich so rasch
mäßigen muß; er erhält sich mühsam, indem er auch weniger geeignete
Baustoffe verwendet, die bei ihrer chemischen Umsetzung stärker reizende
Abfallstoffe ergeben, und zwar in um so größerer Menge, je langsamer und
andauernder sich die Arterie zusammenzieht. Die Verwendung unge¬
eigneter Baustoffe wird auch nicht dadurch abgestellt, daß die Abfallstolle
den Blutzufluß wieder vermehren, weil sie zugleich auch den aufbauenden
Stoffwechsel steigern und s odas Mißverhältnis bestehen lassen. Dann
kann der anfänglich lusterregende Eindruck erst gleichgültig, dann
unangenehm werden. — Daß jede Empfindung, wenn sie ein Gefühl
von merklicher Größe hervorrufen soll, eine gewisse, je nach der Qualität
der Empfindung verschiedene Zeit dauern muß, und daß diese Zeit bei
starken Empfindungen kürzer ist als bei schwachen, erklärt sich leicht
daraus, daß ^die Einleitung von Änderungen des Stoffwechsels eine ge¬
ringe, unter verschiedenen Umständen verschiedene, aber bei starken
Reizen stets geringere Zeit beansprucht.
Vor allem aber läßt sich die Abhängigkeit des Gefühlstons von
der Stärke der Empfindung durch die hier daigelegte Anschauung
erklären. Das allmähliche Anschwellen der Lust mit dem Stärker¬
werden der Empfindung entspricht der Zunahme des aufbauenden
Stoffwechsels mit zunehmendem Reize, die rasche Abnahme der Lust
und ihr Übergang in Unlust bei weiterer Zunahme der Empfindlings -
stärke dem Auftreten stark reizender Abbaustoffe, die bald den Reiz
des aufbauenden Stoffwechsels überwiegen.
Auch das Lustgefühl beim Kitzeln fügt sich dieser Erklärung ein.
Während eng umgrenzte leichte Druckempfindungen kaum Lust hervor¬
rufen, wie auch bei ihnen der Stoffwechsel kaum verändert wird, ist mit
leiser Kitzelempfindung Lust verbunden, wie ja auch das sie auslösende
leise Streichen einer größeren Fläche oder der Druckwechsel in einem
größeren Gebiete dem Stoffwechsel eine gewisse Anregung geben kann,
die durch die von der betroffenen Stelle ausgehenden Nervenfasern sich
weiter ausbreitet. Am Penis wird durch die Eirektion, die die Haut dem
Druck entgegenspannt, die Einwirkung auf den Stoffwechsel und die
trophischen Nerven erleichtert, zugleich wird aber von hier aus der Stoff¬
wechsel in den Geschlechtsdrüsen wahrscheinlich direkt angeregt und in
den Hoden noch dadurch gefördert, daß der Druck in den Samenkanälchen
durch Abschiebung des Inhalts nach den Samenbläschen zu vermindert
wird.
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
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Die Abhängigkeit des Gefühlstons von der Art der Empfindung
läßt sich nur zum kleineren Teil auf die Verschiedenheit des Einflusses
zurückführen, den der auslösende Reiz auf den Stoffwechsel des Sinnes¬
organs ausübt. Hauptsächlich wird hier die Einwirkung der Stoff¬
wechselzentren der Sehhügelgegend von Bedeutung sein. Am klarsten
ist dieser Zusammenhang für die Geschmacks reize, die ja gerade
während des Verzehrens der Nahrung eingreifen, also mit den stärksten
Erregungen des aufbauenden Stoffwechsels zeitlich Zusammentreffen.
Ihre Residuen in der stummen Hirnrinde werden daher auch mit dem
Sehhügelzentrum des aufbauenden Stoffwechsels eine sehr enge leitende
Verbindung eingehen, und es wird daher später den ihnen entsprechenden
Empfindlingen von beiden Seiten her (d. h. nicht nur vom Geschmacks-
organ, sondern auch gleich anfangs vom Zentrum der Sehh Ligclgegend
her, das direkt von der stummen Hirnrinde her beteiligt wird) der
Gefühlston der Lust zufließen. So ist eine Gewöhnung, eine Anpassung
des Geschmacks an den Nährgehalt der Nahrung (namentlich soweit
dieser in flüssiger, rasch auf nehmbarer Form vorliegt) in dem Sinne
möglich, daß der Geschmack nährender, zumal rasch resorbierbarer
Speisen Lust erregt. Gewiß hängt es auch mit der Gewöhnung zusammen,
daß für die Geschmacksarten des .Bitteren, Sauren und Salzigen die
Unlustschwelle viel niedriger liegt als für die des Süßen. Der Säugling
liebt den Geschmack der zuckerhaltigen Milch, weil nach deren wieder¬
holtem Genuß der der Geschmacksvorstellung der Milch entsprechende
Abschnitt der stummen Hirnrinde (gleichwie mit dem Abschnitt, der
die Erregungen der Unterleibsorgane während der Verdauung in sich
vereinigt, ebenso) mit dem Sehhügelzentrum des aufbauenden Stoff¬
wechsels in leitende Verbindung geraten ist, so daß die Wahrnehmung
des Milchgeschmacks nun Lust hervorruft. Ein Ersatzgemisch muß
erst auf die gleiche Weise schmackhaft werden, und wir sehen ja
gerade bei Säuglingen, bei denen die Verhältnisse noch am einfachsten
liegen, wie schwer der Wechsel der Nährmittel oft wird, wie dann aber
mit der Gewöhnung an ein neues der diesem eigene Geschmack Lust-
betonung erhält. Auch später können wir durch allmähliches Steigern
des Gehalts der Speisen an salzigen, bitteren und sauren Bestand¬
teilen unseren Geschmack in weitgehender Weise verändern, doch
spielen dann höhere, umfangreichere Vorstellungen und gefühlsbetonte
• Erinnerungen hinein und verwickeln den Zusammenhang. Daneben
Zeitschrift fttr Psychiatrie. LXXV. 4/5. 41
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604 Laehr,
ist es aber sehr wahrscheinlich, daß die natürlichen Zuckerarten, weil
zur Verarbeitung im aufbauenden Stoffwechsel sehr geeignet, diesen
auch in den Geschmacksorganen erleichtern und erst, wenn in starker
Lösung geboten, unverarbeitet oder unvollkommen verarbeitet, an
die Gewebeflüssigkeit abgegeben werden und nun die Nerven des ab¬
bauenden Stoffwechsels reizen, während andere, bittere und dergleichen
Stoffe nur in kleinen Mengen sich dem aufbauenden Stoffwechsel ein¬
füg en und schon in etwas stärkerer Lösung die Gewebeflüssigkeit
belasten. Doch ist eine Gewöhnung vielleicht auch auf folgende
Art möglich: “Wenn die Unterleibsverdauung in Gang kommt, setzt
sie das Zentrum des auf bauenden Stoffwechsels, damit aber auch
*
die zum Geschmacksorgan ziehenden Fasern desselben in stärkere
Erregung; infolgedessen wird das Geschmacksorgan auch mehr
Blutstoffe in seinen Stoffwechsel aufnehmen, die die Verarbeitung
der Nährlösung erleichtern, so daß die Nährlösung nicht nur durch
ihre eigene Verwendbarkeit, sondern durch Vermittlung des Seh¬
hügelzentrums auch indirekt den aufbauenden Stoffwechsel im Ge¬
schmacksorgan erhöht und ihn so allmählich befähigt, auch stärkere
Lösungen des Nährmittels zu bewältigen, ohne reizende Stoffe zu
erzeugen; die Folge ist dann, daß die Unlustschwelle für diese
Lösungen steigt. Auf solche Art könnte auch stammesgeschicht¬
lich die größere Höhe der Unlustschwelle für Süß entstanden sein.
Für die Gerüche, die von der Nahrung und der Nahrungsquelle
ausgehen, läßt sich die damit verbundene Lust auf die gleiche Weise
herleiten. Für die Höhe der Lust- und Unlustschwelle der meisten
Gerüche ist aber der Zusammenhang wahrscheinlich viel verwickelter
und ein ähnlicher wie der bei den Gehörs- und Gesichtsempfindungen.
Bevor ich jedoch diesen anzudeuten versuche, ist eine allgemeine Vor¬
bemerkung nötig.
Lust und Unlust entsprechen nach der hier dargelegten An¬
schauung erstens den Erregungen, die als unmittelbare Folge des auf-
und abbauenden Stoffwechsels in die sensible Hirnrinde gelangen, und
zweitens den Erregungen, die der stummen Hirnrinde, von ihr selbst
aus veranlaßt, aus den Sehhügelzentren des n auf- und abbauenden
Stoffwechsels Zuströmen. Die auf die erste Art entstehende Lust und
Unlust ist der Gefühlston der reinen Empfindung, die der zweiten Art
ist der Gefühlston der Erinnerungsvorstellung, während die Emp- *
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Die physiologischen Korrelate der Lust urd Unlust. 605
findungsvorstellung ihren Gefühlston aus beiden Quellen beziehen kann.
Heine, d. h. vorstellungfreie Empfindungen nenne ich die Einzel¬
empfindungen, entsprechend den Erregungen einzelner sensibler Nerven¬
fasern Lei ihrem Eintritt in die sensible Hirnrinde; indem diese Er¬
regungen durch ihre Vereinigung in den Residuen früherer Empfindun¬
gen aus ihrer Isolierung heraustreten, entsteht die Empfindungsvor¬
stellung (im Gegensatz zur Erinnerungsvorstellung, die entstehen
würde, wenn die Residuen früherer Empfindungen von andern Stellen
der stummen Hirnrinde aus erregt würden). Nur als Empfindungs¬
vorstellung werden uns Empfindungen klar bewußt,' da' sie erst hier¬
durch aus ihrer Vereinzelung in den Zusammenhang des Bewußtseins
aufgenommen werden. Die Empfindung einer Linie, einer Fläche,
eines Klanges ist bereits Empfindungsvorstellung, ebenso aber, auch
ein einzelner Ton, falls er wahrgenommen wird, d. h. Vorstellungen,
in diesem Falle Gehörsvorstellungen oder auch nur die Vorstellung
des Hörens hervorruft; diese Vorstellungen mögen undeutlich sein
oder nur im Bewußtsein raitschwingen, aber sie sind notwendig, damit
der Ton nach Höhe und Intensität oder wenigstens als Gehörsemp¬
findung aufgefaßt wird. Was wir gewöhnlich Empfindung nennen,
ist daher meist bereits Empfindungsvorstellung; ihr physiologisches
Korrelat setzt sich zusammen aus den Erregungen der sensiblen Fasern
bei ihrem Eintritt in die Hirnrinde und den Erregungen, die sie in
dem sie auf nehmenden Abschnitt der stummen Hirnrinde veranlassen,
oder die sich in diesem mit ihnen verbinden. Jene Erregungen ent¬
sprechen dem Empfindungsbestandteil der Empfindungsvorstellung,
diese ihrem Vorstellungsbestandteil. Nur der Gefühlston des Emp¬
findungsbestandteils stammt unmittelbar vom Körperstoffwechsel, der
des Vorstellungsbestandteils dagegen wird durch Vermittlung der
stummen Hirnrinde aus den Stoffwechselzentren des Sehhügels bezogen.
Hieraus erhellt, daß die Gehörs- und Gesichtsempfindungen
ihren Gefühlston, soweit er von der Art der Empfindung abhängt, den
Stoffwechselzentien des Sehliügels verdanken. Das gilt namentlich
für die Lust und Unlust, die aus der räumlichen oder zeitlichen Ordnung
der Empfindungen entspringt, da deren räumliche und zeitliche Eigen¬
schaften erst durch Vereinigung mehrerer Empfindungen in einer Vor¬
stellung oder durch das Verhältnis einer zu andern Empfindungen zu¬
stande kommen und erst auf dieser Grundlage, also auf der Grundlage
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Laeh r,
einer Vorstellung, als Zubehör, als Eigenschaft der Empfindung gelten
können. Damit stimmt überein, daß diese Gefühlstöne bei verschiede¬
nen Menschen verschieden und auch bei demselben Menschen nicht
jederzeit gleich sind. Klangverbindungen und Tonfolgen, Farben¬
zusammenstellungen und Zeichnungen, die dem Mongolen oder Neger
wohlgefällig sind, wecken unser Mißfalle^ oder lassen uns gleichgültig,
und man kann sich an Zusammenstellungen, die anfangs unangenehm
sind, gewöhnen nicht nur' in dem Sinne, daß sie die Unlustbetonung
verlieren, sondern soweit, daß sie Lustbetonung annehmen. Von der
Erregung in den Nervenfasern, die durch die Stoffwechselvorgänge
im Ohr und Auge veranlaßt wird — beispielweise im M. cüiaris und
M. tensor tympani, vielleicht auch in Teilen des Corti sehen Organs,
besonders der Membrana basilaris —, kann deshalb der Gefühlston
hier nur insoweit abgeleitet werden, als mit sehr starken Empfindungen
und mit sehr hohen und tiefen Tönen Unlust verbunden ist; die übrigen
Gefühlstöne gehören dem Vorstellungsbestandteil an. Sie können
auch nicht, wie die der Geschmacks- und mancher Geruchsqualitäten,
von dem gleichzeitigen Auftreten ihrer Grundempfindungen mit einem
Anwachsen des aufbauenden Stoffwechsels, etwa im Zusammenhang
mit der Nahrungsaufnahme, hergeleitet werden, wohl aber können sie
durch den Gefühlston vermittelt werden, den andere Vorstellungen
auf jene Art im Verlauf des Lebens erwerben. Das Wohlgefühl, das dem
Überwiegen des aufbauenden Stoffwechsels im gesunden Leben ent-
' spricht, führt zur Lustbetonung der Vorstellung unseres leiblichen Ichs,
das Gelingen der Nahrungsuche, die Errettung aus Gefahr zur Bil¬
dung gefühlsbetonter Vorstellungen nicht nur der Nahrungsquelle, des
•Feindes oder der Anzeichen von Gefahr, der Umstände, die die Rettung
ermöglichen, sondern auch weiterhin des Gelingens und des Mißlingens,
der eigenen Kraft oder* Schwäche, der eigenen Fähigkeiten. Dieser .
Gefühlston überträgt sich dann weiter vom eigenen Ich auf andere,
so daß die Wahrnehmung oder Vorstellung des Gelingens und Mi߬
lingens, der Kraft und Schwäche, der Fähigkeit und Unfähigkeit auch
in bezug auf Andere die entsprechende Gefühlsbetonung erlangt, dann
aber auch all die Bewegungen und Körperformen, die uns jene Vor¬
stellungen wachrufen. Nahrung zu finden, Gefahr zu vermeiden er¬
fordert oft’ deutliche Sinneswahmehmungen und wird erleichtert durch
alles, was uns ein rasches Erinnern und Wiedererkennen ermöglicht.
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
607
Auch diese Fähigkeiten und die Umstande, (he ihre Ausübung be¬
günstigen, erregen daher Lust.
Auf Grund dieser Überlegungen lassen sich, wie ich glaube, Lust-
und Unlustbetonung der Gesichts- und Gehörsempfindungen ohne
Zwang aus Vorstellungen ableiten. Daß die gesättigteren Farben im
allgemeinen lustvoller sind als die weißlicheren und diese wieder als
die dunklen und Schwarz, dürfte daraus entstanden sein, daß die
Gegenstände in klarer Luft mit gesättigten Farben deutlicher hervor¬
treten als in leichtem Nebel oder in hellem Sonnenlicht mit weißlicherer
Tönung und hier wiederum deutlicher als im Dunkel, so daß Beute und
Gefahr unter den Umständen, die gesättigte Farben ergeben, besser
erkannt werden und die eigene Leistungsfähigkeit größer erscheint.
Dem entspricht, daß das Nebeneinander gleicher Farben um so mehr
Lust erregt, je größer der Helligkeitsunterschied ist, und daß die Zu¬
sammenstellung von Farben, die im Spektrum voneinander entfernt
stehen, wohlgefälliger wirkt als die von solchen, die sich im Spektrum
nahe stehen. Daß die Lust mit der Leichtigkeit der Auffassung wächst,
ist auch bei den räumlichen Formen sehr ausgeprägt. Dies zeigen die
Beispiele, die Ziehen (Phys. Psych. S. 129) dafür anführt, daß für das
Auftreten von Lustgefühlen die Stetigkeit der Empfindung wesent¬
lich ist.
„Eine gerade Linie macht im allgemeinen einen angenehmeren Ein¬
druck als eine Punktreihe. Gerade die Kleinheit der Unterbrechungen
der Empfindung stört den Eindruck. Eine krumme Linie löst fortwährend
assoziierte Bewegungsempfindungen aus: wir gleiten gewissermaßen mit
unserem Auge über die Linie in ihrem ganzen Verlaufe hin. Für das
Auftreten positiver Gefühlstöne ist hier die Stetigkeit der assoziierten Be-
wegungsempfindungen von größter Bedeutung. Das Krümrnungsmaß darf
sich nicht plötzlich ändern: namentlich wirken auch fortgesetzte kleine
sprungweise Änderungen störend. Die Empfindung muß sich entweder
stetig oder plötzlich sehr erheblich ändern. Daher spielen sanfte Bogen
in der Ornamentik eine solche Rolle, daher die Seltenheit sehr flacher
Vinkel. Auch ist allenthalben die Linie, welche während ihres ganzen
Verlaufs von einem einfachen mathematischen Gesetz beherrscht wird, wie
der Kreis oder die Zykloide usf., besonders wohlgefällig.“ Eine Gerade,
■eine krumme Linie, deren Richtung sich entweder gleichmäßig oder plötzlich
sehr erheblich ändert, eine Linie, die sich einem einfachen mathematischen
Gesetz fügt, lassen eben die Auffassung ihrer besonderen Form leichter
als andere zu. Dahin gehört auch, daß „ein Rechteck mißfällt, welches
von der Quadratform nur unbedeutend abweicht, während ein stärker
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L aeh r,
oblonges Rechteck meistens sogar besser gefällt als ein Quadrat“, und daß
„die periodische Wiederholung einer bestimmten räumlichen Anordnung
in der Regel positive Gefühlstöne auszulösen pflegt“. Das Wohlgefallen
an der Regelmäßigkeit, zumal der Symmetrie der Formen, stimmt eben¬
falls damit überein, da hierdurch die Auffassung des Ganzen wesentlich
erleichtert wird.
Wenn ferner in Kunstschriften die Einheit in der Mannigfaltigkeit,
die Unterordnung aller Einzelheiten unter einen Gesichtspunkt, die
Ähnlichkeit des Kunstwerks mit einem Organismus, in dem alle Teile
dem Ganzen dienen und von ihm her Bedeutung erlangen, die Fülle
der Einzelzüge bei leichter Übersehbarkeit des Aufbaus, die reiche
Gliederung bei Klarheit der Gesamtanlage und dergleichen als Maßstab
der Schönheit angegeben wird, so ist dadurch als Grund der Freude
am Schönen die Leichtigkeit der Auffassung verwickelter Verhältnisse
hervorgehoben. Daß uns diese Leichtigkeit nicht zum Bewußtsein zu
kommen braucht, daß wir uns unserer gesteigerten Leistungsfähigkeit
erfreuen können, ohne die Hilfe klar zu erkennen, die uns das Kunstwerk
bietet, steigert den Genuß und fügt sich der hier dargelegten An¬
schauung ein. Auch im Vergleich des Kunstwerks mit einem Organis¬
mus ist vielleicht mehr alfc ein bloßer Vergleich zu sehen: die Freude
an der Leistungsfähigkeit eines Organismus überträgt sich auf die
Form, die sie äußerlich anzeigt oder anzuzeigen scheint, und weiter
auf alles, was, wenn auch noch so dunkel oder gerade deshalb, eine
Ähnlichkeit mit einem Organismus, also letzthin mit uns selbst, an¬
deutet, so daß die Freude am Kunstwerk schließlich auch auf die Lust
an uns selbst zurückführen würde.
Ähnlich wie mit den Gesichtsempfindungen verhält es sich nüt.
denen des Gehörs.
„Konsonante Akkorde klingen weniger zusammengesetzt als dis¬
sonante: die Verschmelzung der TeUtöne ist in ersteren viel vollständiger“
(Ziehen S. 124), sie sind leichter zusammenzufassen, in einer Vorstellung
zu vereinigen und dadurch von andern abzusondern. Das gilt noch mehr
von den Tönen im Gegensatz zu den Geräuschen. Deutlichkeit und leichte
Auffaßbarkeit stimmen auch hier mit dem Lustgehalt überein. Stärker
noch tritt dies bei der Tonfolge hervor. „Um das Lustgefühl der soge¬
nannten rhythmischen Gliederung zu erzielen, muß die Intensität der
einzelnen Töne oder ihre Dauer oder ihr Intervall einem mehr oder weniger
periodischen Wechsel unterworfen sein“ (S. 130). Dadurch wird die Auf¬
fassung des Ganzen wesentlich erleichtert.
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Dio physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
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Diese Herleitung der Lust wird auch durch eine Betrachtung der
Anfänge der Kunstübung nahegelegt.
„Der Primitive besitzt in der Augen des Kulturmenschen eigentlich
nur eine Kunst, in der er es zu hoher Vollkommenheit gebracht hat: die
Tanzkunst. Zu keiner Kunstleistung ist er besser veranlagt. Sein Körper
ist ungleich gewandter als der des Kulturmenschen. . . . Alle, die solche
Thnze von Naturmenschen gesehen haben, erstaunten über die große
Geschicklichkeit, Gewandtheit und vor allem auch über die wunderbare
Fähigkeit in Stellungen, Bewegungen und mimischem Ausdruck. Ist auch
der Tanz, wie seine schon der frühesten Stufe ungehörige Entwicklung
zum Kulttanz vermuten läßt, ursprünglich ein Hilfsmittel zur Erzeugung
zauberhafter Wirkungen, so ist er doch sichtlich von Anfang an zugleich
zu einem Genuß geworden, der zu seiner spielenden Wiederholung heraus¬
fordert. So birgt schon diese früheste Kunst das Doppelmotiv der Wirkung
nach außen und des subjektiven Genusses in sich. Dieser wird unmittelbar
aus den eigenen Bewegungen geschöpft und den Empfindungen, die sie
begleiten 1 ).“ Nun sind die Bewegungen und ihre Begleitempfindungen
bei einem Tanz, der außerordentliche Gewandtheit und Kraftleistung er¬
fordert, an und für sich gewiß nicht lustvoll, sondern ihr Lustgehalt stammt
aus der Vorstellung der eigenen Leistungsfähigkeit. Die Freude an jenen
Tänzen ist also die Freude an der eigenen Leistungsfähigkeit, diese aber
geht auf die Überwindung von Gefahren und auf die Gewinnung von Beute.
„Was diese Bewegungen ordnet, ist noch ein anderes Motiv: die Tier¬
nachahmung. Zwar spielt das Tier auf der eigentlich primitiven Stufe
noch keine so hervorragende Rolle als später: dennoch kündigt sich die
totemistische Periode bereits in der Nachahmung der Tiere in» Tanze an. Es
gilt als die höchste Kunst des einzelnen, wenn er an ein und demselben
Ort die Bewegungen selbst kleiner Tiere in sprechender Lebendigkeit nach¬
zuahmen versteht. Dagegen fehlt hier noch ganz die Tiermaske, die uns
weiterhin als verbreitetes Kult- und Zauberobjekt begegnet. Schon jene
mimische und pantomimische Nachahmung der Tiere trägt aber wohl die
Spuren des Zaubers an sich. Wenn der Wedda Jagdtiere nachahmt,
während er seinen Tanz um den Pfeil ausführt, so wird wohl der Pfeil als
Zaubermittel gedac ht, und man darf vermuten, daß die Jagdtiere, die vom
Pfeil getrofTen werden, durch diese Nachahmung ihm untertan werden
sollen“ (S. 95). Erweist sich hier die Freude an der eigenen Gelenkigkeit
und Gewandtheit, immer aber zunächst im Hinblick auf ihrenNutzen für die
Erhaltung des Lebens, als eine Quelle der Tanzfreude, so zeigt sich ebenso,
daß deren andere Quelle, die Zaubergewalt, die das Wild in den sicheren Be¬
sitz des Tanzenden bringen soll, auf der Nachahmung der Stellungen und Be¬
wegungen der Tiere beruht, daß also eine klare Vorstellung von deren Eigen¬
tümlichkeiten, die ja in der Tat für das Gelingen der Jagd von größter Be.
M \V. Wundt, Elemente der Völkerpsychologie, ?. Aufi., 1915, S. 54.
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deutung ist, im Tanz nicht nur offenbart, sondern auch noch lebendiger
eingeprägt wird. Dazu stimmt völlig, was Wundt weiter von den zum Tarn
gesungenen Liedern berichtet: „Als eigentliche musikalische Begleitung
des Tanzes dient die eigene Stimme, das Tanzlied. Wir würden uns
nun freilich einem Irrtum hingeben, wollten wir erwarten, das Tanzlied
sei, weil der Tanz ursprünglich Zauberzwecken gedient hat, eine Art von
primitivem Kultlied. Noch ist von einem solchen nichts zu finden, sondern
die Lieder sind ihrem Inhalte nach dem alltäglichsten Leben entnommen,
sie sind eigentlich rein beschreibende oder erzählende Prosa in abge¬
rissenen Stücken, ohne inneren Zusammenhang mit den Motiven des
Tanzes. Was sie zum Liede stempelt, ist der Refrain. Man könnte geradezu
von dieser dichterischen Form der Sprache sagen, sie beginne mit dem
Refrain. Das Lied ist aus beliebigen Naturlauten hervorgewachsen.
Als Liedinhalt kann irgend etwas dienen, was man getan oder beobachtet
hat; und wenn ein solcher StofT einmal aufgenommen ist, so wird er fort¬
während wiederholt, er wird zum „Volkslied“, das besonders zum Tanze
gesungen wird. ... Von ihrem Inhalt können uns die folgenden Beispiele
ein Bild geben. Ein Gesang der Wedda lautet:
Die Tauben von Taravelzita sagen kuturung.
Wo der Talagoya gebraten und gegessen wurde, blies ein Wind,
Wo die Meminna gebraten und gegessen wurde, blies ein Wind.
Wo der Hirsch gebraten und gegesserrwurde, blies ein Wind.
F.twas höher steht schon der folgende Gesang der Semang. Er
bezieht sich auf die Meerkatze (Macacus), eine in den Wäldern Malakkas
viel vorkommende AITcnart: sie heißt bei den Semang Kra:
Er läuft entlang den Ästen, der Kra, — Er trägt mit sich die
Frucht, der Kra. — Er läuft hin und her, der Kra; — Über den
lebenden Bambus, der Kra, — über den toten Bambus, der Kra; —
Er läuft entlang den Ästen, der Kra. — Er springt umher und schreit,
der Kra. — Er läßt sich ein wenig blicken, der Kra, — Er zeigt
seine fleischenden Zähne, der Kra.
Man sieht, es sind einfache Wahrnehmungen, Beschreibungen dessen,
was der Semang gesehen hat. als er im Walde die Meerkatze beobachtete.
Diese Beschreibung dient eben nur als Material für die Musik der Sprache,
und das eigentlich Musikalische ist der Refrain, der einfach genug in diesem
Falle nur aus dem Worte Kra besteht. Diese Musik der Sprache hebt und
ergänzt den Tanz; wo alle Glieder sich bewegen, da wo'len auch die Ar¬
tikulationsorgane mitwirken“ (S. 95—96). Das ist alles richtig, aber die
mitgeteilten Beispiele, die doch als besonders kennzeichnend ausgewählt
sind, zeigen deutlich, daß der Inhalt der Lieder durchaus nicht „ohne
inneren Zusammenhang mit den Motiven des Tanzes“, wenigstens mit dem
von mir hervorgehobenen, der Beziehung auf die Beute, steht, daß die
Wahrnehmungen, die als „Material für die Musik der Sprache“ dienen,
nicht beliebige sind, sondern Wahrnehmungen, die die Tiere betreffen.
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Die physiologischen Korrelate der Last und Unlust. 611
die ,»gebraten und gegessen wurden“, und deren Eigenart nachgeahmt
'wird. Wenn spater Musikinstrumente entstehen, so lehnen sie sich an die
Form des Bogens an, und das Schwirrholz, das auch in diese Anfänge der
Musik reicht, hat gleichfalls unverkennbare Beziehung zum Erlegen der
Beute: „Wie den Primitiven der Ton, den er beim gewöhnlichen Anlegen
des Bogens im Kampfe oder auf der Jagd hörte, unverkennbar zur Er¬
findung der Zither geführt hat, so war es wohl das schwirrende Geräusch
des Pfeiles oder auch des fliegenden Vogels selbst, den der Pfeil nachahmte,
das ihn ein solches Geräusch durch ähnliche Mittel hervorbringen ließ.
In der Tat wurde im Süden Afrikas, wo es freilich nur als Spielzeug Ver¬
wendung findet, das Schwirrholz in einer Form beobachtet, die direkt an
den fliegenden Vogel oder Pfeil erinnert: an einen Stab ist senkrecht zu
ihm eine Vogelfeder gebunden. Wird der Stab stark im Kreise herum¬
geschwungen, so wird ein sausendes Geräusch erzeugt, das besonders bei
großer Geschwindigkeit von einem hohen Ton begleitet ist. Dieser Ton
ist aber nicht entwicklungsfähig, und so ist denn auch kein weiteres musi¬
kalisches Instrument aus dem Schwirrholz entstanden. Vielmehr ist im
Gegenteil bei den sonstigen Schwirrhölzern, wo der Flügel durch ein
flaches Holzbrett ersetzt ist, das nur in seiner Form noch einigermaßen
den Vogel nachahmt, das Geräusch stärker, der Ton aber undeutlicher
■geworden“ (S. 99). Wir haben hier also ein Geräusch mit hohem Ton,
das Lust erzeugt, weil es als Nachahmung die Fähigkeit des Menschen
und durch seine Beziehung auf Waffen und Beute dessen Macht veranschau¬
licht, das aber als Geräusch nicht entwicklungsfähig ist, und wir haben
dort bei der Zither und bei dem ihr vorangehenden Gesänge Töne, die
sich weiter entwickeln lassen, weil sie sich deutlich voneinander unter¬
scheiden und nach zeitlichem Verhältnis und Tonhöhe sehr verschiedene
Aufeinanderfolgen zulassen, deren jede eine besondere, leicht faßliche
Eigentümlichkeit aufweist. Diese Verschiedenheiten stehen in ihrer ur¬
sprünglichen Verwendung beim Gesang in Beziehung zu Worten, die die
Beute und die Macht des Menschen betreffen, dadurch Lustgehalt erlangen
und diesen auf ihre Melodie abgeben. Die Frage liegt nahe, ob nicht auch
hier eine Nachahmung mitwirkt, die die Melodie erzeugt und zu deren
Lustgehalt beiträgt. Das ist in der Tat der Fall: es liegt ofTenbar zunächst
eine Nachahmung des Tonfalls der Sprache vor. Wenn viele Menschen
dasselbe zugleich sprechen, müssen sie, um deutlich zu bleiben, dasselbe
zeitliche und Tonhöheverhältnis einhalten; das ist besonders dann not¬
wendig, wenn mit den Worten zusammenstimmend ejne Handlung, wie
hier der Tanz, einhergeht, oder wenn die gemeinsamen Worte sich dem
Handeln anpassen sollen. Dann wird, namentlich im zweiten Falle,
ein Sprecher die Führung übernehmen und die andern unwillkürlich ihre
Stimme der seinen möglichst anpassen. Auch die Wiederholung einzelner
Worte, der Refrain, ist sehr geeignet, diese Anpassung zu begünstigen
und etwaige Unstimmigkeiten auszugleichen. Je mehr aber der Gleich-
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klang der Massenrede erzielt wird, der den Inhalt deutlicher herausbringt,
um so größer die Lust, weil so das gemeinsame Können stärker erscheint
und die Zauberwirkung größer, wenn deren Träger, etwa der als lebend
vorgestellte Pfeil, um den die Wedda herumtanzen, nicht nur den Sinn
der Tanzdarstellung, sondern auch den der begleitenden Worte auf
fassen kann.
Beruht die Freude an der Nachahmung bei diesen Tänzen und Liedern
sowohl auf der Lust am eigenen Können, das sich in ihnen hervortut, wie
auf der Lust an dem in ihnen mächtigen Zauber, der reiche Jagdbeute
erhoffen läßt, so lassen auch die Anfänge der bildenden Kunst diese Lust¬
quellen deutlich hervortreten. Bei den Höhlenzeichnungen aus den mittel¬
europäischen Zwischeneiszeiten, in denen Hirsche, Mammuts, Wildpferde
und andere Jagdtiere zum Teil in außerordentlicher Deutlichkeit wieder¬
gegeben sind, tritt das klar zutage. Aber auch bei den Linienornamentea
verbindet sich mit der Lust an der eigenen Geschicklichkeit und der Lust,
die Erzeugnisse derselben als etwas Besonderes auffassen zu können, sehr
bald das Bestreben, in die geometrischen Figuren etwas hineinzudeuten
,,So enstehen Ähnlichkeiten mit Tieren, Pflanzen, Blumen, wobei besoc
ders die letzteren durch die Symmetrie ihrer Gestalten zur Assoziation
mit geometrischen Ornamenten herausfordern. Dennoch übt das Tier im
ganzen eine größere Attraktion aus. Das Tier, das erlegt werden soll,
wird auf dem Bogen oder Blasrohr cingeritzt: es ist ein Zaubermittel, das
die Tiere vor die Waffe führt. Dadurch wird auch jene Äußerung der
Senoi und Semang verständlich, die Zeichnungen auf den Kämmen ihrei
Frauen seien Schutzmittel gegen Krankheiten. Beide Fälle repräsentieren
die zwei Formen des Zaubers, die noch auf höheren Kulturstufen im
Amulett auf der einen und im Talisman auf der andern Seite sich ver¬
körpern: den Schutz vor Gefahr und die Hilfe bei eigenen Unternehmungen 4
( Wundt , ibid. S. 103—104). Also auch hier wieder die Beziehung auf
Jagdbeute und Gefahr und auf das eigene Können, das für die Erhaltung
des Lebens so wichtig ist und die Lust am Leben auf alles überträgt, was
jenes Können veranschaulicht und zugleich geheimnisvoll zu steigern
scheint.
Ich halte diese Übereinstimmung nicht für zufällig, sondern sehe
darin, daß der Ursprung der Kunstfreude auf die gleichen leben¬
erhaltenden Urtriebe führt, auf die ich die Gefühlstönc der Gesichts¬
und Gehörsempfindungen begründet habe, eine Bestätigung meiner
Ansicht. Die Klarheit und Deutlichkeit der Empfindungen, die Be¬
stimmtheit der in ihnen enthaltenen Vorstellungen erleichtert die
Nahrungsuche und die Rettung aus Gefahren, vermehrt das Vertrauen
auf die eigene Leistungfähigkeit und erlangt dadurch auch an und
für sich Lustbetonung. Dadurch erklärt sich auch die sonst befremd¬
liche Tatsache, daß gerade sehr schwache Empfindungen nicht selten
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlast 613
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mit Unlustgefühlen verknüpft sind. Sie sind unklar und unbestimmt
und lassen daher die Art und Richtung dunkel, in der der Vorstellungs¬
ablauf zweckmäßig anknüpfen könnte.
Daß endlich Lust und Unlust auch vieler Gerüche ursprünglich
auf ähnlicher Grundlage entstanden sind, ist deshalb wahrscheinlich, weil
sich dieser Erklärung wenigstens ein großer Teil der hierher gehörigen Er¬
scheinungen ohne weiteres fügt. Suum cuique stercus bene ölet ist eine
alte Erfahrung, und der „scharfe“ Gerurh der Raubtiere ist unangenehm,
während der Nutzen der Milch, des Fleisches und des Düngers den Geruch
eines Kuhstalles sogar wohlgefällig machen kann. Vor allem stehen aber
auf vormenschlicher Stufe, soweit wir nach dem Verhalten der Tiere
urteilen können, die Gefühlstöne des Geruchs im Zusammenhang mit dem
Nahrungstrieb, Schutztrieb und Geschlechtstrieb. Daß den Menschen
Veilchen- und Rosenduft erfreut, ohne daß ihn, wie den Schmetterling,
ein Urtrieb zur Blume zieht, spricht nicht gegen eine ursprüngliche Ab¬
hängigkeit von solchem, noch weniger die Tatsache, daß viele nützliche
und schädliche Stoffe sich uns durch keinen Geruch verraten oder gerade
durch das Angenehme oder Unangenehme desselben täuschen. Ist doch
die Flüchtigkeit der Riechstoffe und ihr Einfluß auf den Stoffwechsel des
Geruchsorgans Bedingung ihrer Wirkung, so daß sich Lust und Unlust
an Riechstoffen nur auf gegebener chemischer Grundlage nach ihrer
Wichtigkeit für die Erhaltung des Individuums oder der Art ausbilden
kann.
Endlich ist hier der Schmerzempfindung zu gedenken, die ja
jetzt vielfach den Sinnesempfindungen zur Seite gestellt wird. Ich
habe sie bisher unter Unlust mitverstanden, da sie sich stets als Unlust
kennzeichnet und als besondere Art derselben aufgefaßt werden kann.
Sie wird von der äußeren Haut und den tiefer gelegenen Teilen, so
von der Muskulatur, den Sehnen, den Gelenken, dem Periost, dem Peri¬
toneum parietale, der Pleura parietalis, den Hirnhäuten her ausgelöst,
während andere Teile, wie das Peritoneum viscerale, die Pleura visceralis,
das Gehirn im allgemeinen als nicht schmerzempfindlich gelten und von
den inneren Eingeweiden der Brust- und Bauchhöhle nur unter patho¬
logischen Bedingungen, dann aber sehr lebhafte Schmerzen ausgehen
können. Als besondere Art der Unlust kann der Schmerz gelten, weil er
im Gegensatz zu den andern Empfindungen stets mit Unlust einhergeht,
während Unlust vielfach ohne Schmerz auftritt. Den Empfindungen kann
er als besondere Art eingereiht werden, weil die Schmerzempfindungen
wie andere Sinnesempfindungen auf periphere äußere oder innere Reize
hin eintreten und mannigfaltig sind, „bald stechend, bald dumpf, bald
brennend, bald pressend, bald bohrend. Aus der Art der Beschreibung
geht eine Beziehung zu Druckempfindungen oft unmittelbar hervor. Sehr
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überzeugend sind auch die Selbstbeobachtungen nach Kokain- oder Mor¬
phiuminjektionen. Die Versuchspersonen beschreiben nach solchen nicht
selten einen Zustand, in dem die Schmerzgefühle, die vor der Injektion
bestanden, verschwunden sind, aber jene stechenden, dumpfen, brennenden
usw. Sensationen noch deutlich zu erkennen sind“ *). Da scheint es in
der Tat nahezuliegen, zwar nicht, wie Ziehen meint, „eine Kombination
von Druck- und Schmerzempfindungen anzunehmen“, womit ,,zur Not
die oben aufgezählten Variationen der Schmerzen erklärt werden können“,
wohl aber den Schmerz aus einer Verbindung von Erregungen der auf
Druck und der auf den abbauenden Stoffwechsel ansprechenden Nerven¬
fasern abzuleiten, die in der grauen Substanz des Rückenmarks stattfindet,
so daß beide Erregungen bereits vereinigt in besonderer Leitung der
sensiblen Großhirnrinde übermittelt werden und hierdurch die Eigenart
des Schmerzes annehmen. Dann bewirken die von den Abzweigungen
der Drucknervenfasern angeregten Vorgänge in der grauen Substanz des
Rückenmarks die verschiedenen Arten der Schmerzempfindungen, das
Stechende, Schneidende, Bohrende derselben, und die Nervenfasern des
abbauenden Stoffes fügen dazu die Unlust, die durch die Vereinigung der
Erregungen beider Nervenfasern die besondere Form des Schmerzes an¬
nimmt, so daß dieser hiernach sowohl als besondere Art der Unlust wie als
besondere Erapfindungsart aufgefaßt werden kann. Unlust und Schmerz
fallen weg, wenn nur die Stoffwechselnerven, z. B. durch'Kokain, gelähmt
werden, so daß in der grauen Substanz des Rückenmarks nur die Erregun¬
gen und Hemmungen stattfinden, die von den Drucknervenfasern ausgehen
und jene stechenden usw. Empfindungen ohne Schmerz zur Folge haben.
Daß „die Andauer einer Empfindung oft allein schon genügt, um sie un¬
angenehm, ja schmerzhaft fühlen zu lassen“, und daß Schmerz „auch
durch schwächere gehäufte Reize (mittels Summation) angeregt werden
kann“ 2 ), würde sich dann daraus erklären, daß der die Empfindung be¬
wirkende Reiz erst nach kürzerer oder längerer Dauer oder bei rascher
Wiederholung den Stoffwechsel stört und damit, je nach Stärke des Reizes.
Unlust oder Schmerz hervorbringt. Die verhältnismäßig gute Lokalisation
des Schmerzes an der äußeren Haut aber würde sich daraus ergeben,
daß durch starke Reize für gewöhnlich die in den Hintersträngen auf¬
steigenden sensiblen Nervenfasern gleichzeitig oder fast gleichzeitig mit
den in den kontralateralen Seitensträngen verlaufenden „Schmerzfasern“
erregt werden, so daß die Schmerzempfindungen von den Druckempfindun¬
gen her ihre Lokalisation erhalten. Daß die Lokalisation bei Reizung der
Schmerzpunkte der Haut gering ist, spricht dafür, daß hier, wie Gold¬
scheider (S. 11) annimmt, „Vorrichtungen (besonders exponierte Endi-
l ) Ziehen, Die Grundlagen der Psychologie. Teubner, 1915. Buch II,
S. 211—212.
a ) Goldscheider, über den Schmerz. Hirschwald, 189*. S. 5 u. 7.
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
615
gungen, gespanntes Gewebe usw.)“ bestehen, „infolge deren schon geringe
Reizungen einen die Schmerzgrenze erreichenden Erregungszustand pro¬
duzieren“; gespanntes Gewebe würde die Änderung des Stoffwechsels er¬
leichtern, und größere Nähe der Nervenfasern, die den Reiz des abbauen¬
den Stoffwechsels übermitteln, würde die Wirkung erhöhen, während die
Druckempfindung infolge der größeren Entfernung der die Druckemp¬
findung übermittelnden Nervenfaser vom Orte des Reizes geringer und
unbestimmter ausfiele. Daß die zahlreichen zwischen den Epithelzellen
endenden Nervenfibrillen der Haut die Endapparate der Schmerzemp¬
findung, darstellen, wird vielfach angenommen. Sie würden in diesem
Falle nach meiner Auffassung durch den abbauenden Stoffwechsel erregt
und Schmerz dann bewirken, wenn der Reiz zugleich hinreichend stark
auf die Enden der Drucknerven wirkt. Werden daher die Produkte des
abbauenden Stoffwechsels durch Einspritzung physiologischer Kochsalz¬
lösung verdünnt und weggeschwemmt, so* wird die Stelle — wenn auch
weniger sicher als bei Hinzufügung von Kokain — schmerzlos. Daß gerade
in der Haut diese Fasern so zahlreich sind, würde sich aus der lebenswichti¬
gen Bedeutung des Schmerzreizes erklären. Gerade an der Haut ist die
den Stoffwechselnerven sonst eigene Wirkung auf die Gefäße großenteils
auf die Temperaturnerven übergegangen, dafür aber muß die Haut Vor¬
richtungen besitzen, die es dem Körper ermöglichen* auf starke Reize,
zumal auf Verletzungen, sofort mit Bewegungen zu antworten, die dem
Reiz und namentlich dem Ort desselben angepaßt sind. Die Nerven des
abbauenden Stoffwechsels würden die Bewegungen hervorrufen, die Druck¬
nerven ihr Ziel näher bestimmen und aus beiden zugleich die Schmerz¬
empfindung entspringen.
Goldscheider begründet seine Ablehnung besonderer „Schmerz¬
nerven“ damit, daß nach seinen Versuchen im Gegensatz zu den Befunden
v. Freys „Einstich auf die Druckpunkte ein intensiv schmerzhaftes Druck¬
gefühl, ähnlich dem neuralgischen Schmerz, erzeugt“, während Einstich
auf die Temperaturpunkte keinen Schmerz hervorbringt und die Tempera¬
turpunkte sogar unempfindlich gegen den sogenannten Temperaturschmerz
sind, und daß bei Exstirpation von Temperatur- und Druckpunkten
„durch den Schnitt bei Temperaturpunkten ein minimaler, bei den Druck¬
punkten ein erheblicherer, oft recht intensiver Schmerz hervorgerufen“ *)
wurde. Dieser Einwand fällt weg, wenn der Schmerz nicht auf periphere
„Schmerznerven“ — ich könnte nur die Bezeichnung periphere „Unlust¬
nerven“ dafür gelten lassen und nur eine zentrale „Schmerzleitung“ vom
Rückenmark zur sensiblen Hirnrinde anerkennen —, sondern auf die Ver¬
bindung von Erreg^ungen der „Unlustnerven“ mit Erregungen der Druck¬
nerven zurückgeführt wird. Denn da von den Temperaturpunkten keine
Druckempfindung ausgelöst wird, werden von ihnen aus offenbar die
1 ) Goldscheider S. 8 u. 9.
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Enden der Drucknerven gar nicht oder kaum gereizt, und so kann, selbst
wenn der Stoffwechsel beeinträchtigt wird, trotzdem kein Schmerz, sondern
höchstens Unlust zustande kommen, während stärkere Reizung der
Druckpunkte, die mit Änderung des Stoffwechsels einhergeht, Schmeri
erzeugt. Dementsprechend muß auch ein Schnitt um die Druckpunkte
stärker schmerzen als ein Schnitt um die Temperaturpunkte.
Mit der hier vertretenen Annahme stimmt auch die Schmerzemp-
findlichkeit in den verschiedenen Körperteilen insofern gut überein, als
man voraussetzen darf,' daß die tiefer gelegenen und äußeren Reizen
weniger ausgesetzten Teile: Periton. visc., Pleura visc., Gehirn, der Tast¬
nerven ganz entbehren oder deren sehr viel weniger enthalten als das
Peritoneum par., die Pleura par. und die Gehirnhäute, und daß die
Nerven der inneren Eingeweide bei der Atmung, Verdauung und
den Volumschwankungen des Gehirns auch Druckreize aufnehmen, die
für gewöhnlich nur zur automatischen Regulation der Bewegungen dienen,
unter pathologischen Bedingungen aber auch, in Verbindung"'mit den
Reizen des abbauenden Stoffwechsels, als Schmerzen bewußtYwerden
können. Im entzündeten Gewebe z. B. würden Druck und abbauender
Stoffwechsel in starkem Maße vorhanden sein und somit die sonst ver¬
schiedenen Zwecken dienenden Nerven zur gemeinsamen Schmerzwirkung
sich vereinigen können. Auf diese Fassung träfe daher Goldscheider s Einwurf
gegen die Annahme von Schmerznerven (S. 13)‘nicht zu, „daß es dann ner-
vöse Apparate gebe, deren Funktion lediglich für krankhafte Zustände ange¬
paßt sei“ (S. 13).—Daß für die Druckreize bei der Entstehung des Schmerzes
auch Temperaturreize eintreten können, wäre man versucht, daraus zu
folgern, daß Wärme- und Kältereize bei genügender'Stärke auch Schmerz
hervorrufen, also dann, wenn sie den Stoffwechsel der nächsten Umgebung
in erheblichem Maße verändern. Da aber die Wärme- und Kältepunkte
selber nach Goldscheider und v. Frey nicht schmerzempfindlich sind, scheinen
die bei schmerzhaften Temperaturreizen an andern Stellen zugleich aus¬
gelösten Erregungen der Drucknerven auch hierbei neben den Stoff¬
wechseländerungen allein beteiligt zu sein. Dagegen rufen Reize der übrigen
Sinnesnerven unmittelbar keinen Schmerz hervor, da der Blendungs¬
schmerz und der Schmerz bei sehr starken Gehöreindrücken wahrscheinlich
nur von sensiblen Nerven der Irismuskulatur und des M. tensor tympani
ausgehen.
Darin, „daß die Schmerzempfindung den Drucksinn- und Gemein¬
gefühlsnerven eigen ist, allen übrigen Nerven aber fehlt“, stimme ich also
mit Goldscheider überein, nur daß ich den Hinzutritt von Reizen des ab
bauenden Stoffwechsels für erforderlich zum Auftreten des Schmerzes
ansehe. Daß hierdurch die Qualitäts- oder Modalitätsänderung von
Druckempfindung in Schmerzempfindung viel einleuchtender wird, als
wenn man sie als Steigerung auffaßt, ist kaum zu bestreiten. Goldscheider
erklärt sie für die meisten Fälle als Summationserscheinung. Er geht
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 617
dabei von dem „Phänomen der sekundären Empfindung“ aus: „Übt man
mit einer Nadelspitze einen leichten Eindruck auf die Haut aus, so hat
man außer der ersten sofort eintretenden stechiJnden Empfindung nach
einem empfindungslosen Intervall eine zweite, gleichfalls stechende Emp¬
findung, welche sich in ihrem Charakter dadurch von der ersten unter¬
scheidet, daß ihr nichts von Tastempfindung beigemischt ist, sie vielmehr
gleichsam wie von innen zu kommen scheint. Bei mäßiger, noch nicht
schmerzhafter Intensität der primären Empfindung kann die sekundäre
schmerzhaft sein“ (S. 17). Er faßt nun diese sekundäre Empfindung des¬
halb als Summationserscheinung, und zwar in den Zellen der grauen
Substanz des Rückenmarks, auf, weil sie fehlt, „wenn ein einzelner Öff¬
nungsschlag auf die Haut appliziert wird, dagegen leicht dadurch hervor¬
gebracht wird, daß man eine ganze Reihe solcher elektrischen Reize an¬
wendet“. „Diese sekundäre Empfindung kann nur durch Summation
bedingt sein, und es zeigt sich somit, daß schon ein einfacher taktiler
Eindruck für sich zu Summationserscheinungen 'Anlaß gibt und einer
elektrischen Reizreihe physiologisch entspricht.“ Er erklärt dies so:
„Die langen Bahnen (des Rückenmarks) sind nur einer gewissen Stärke
der Erregung fähig, über welche hinaus dieselbe auch trotz Steigerung
des Reizes nicht getrieben werden kann. ... In der Summationsbahn
dagegen ist Gelegenheit gegeben, einen viel höheren Erregungszustand
durch Aufspeicherung zu erzeugen und die Stärke der Empfindung gleich -
zeitig durch Mit-Erregung einer Menge von empfindenden Elementen und
von Leitungswegen zu vervielfältigen.“ „Aber keineswegs muß jede
von dieser Bahn hergeleitete Empfindung schmerzhaft sein, denn tat¬
sächlich ist die „sekundäre Empfindung“ häufig nicht schmerzhaft. Nur
eine besondere Klausel ist uns hierbei durch die Beobachtungen, auf¬
genötigt: man kann nämlich auch mit einfachen ÖfTnungsschlägen bei
genügender Stromstärke Schmerz erzeugen. Wir werden diese Erscheinung
so aufzufassen haben, daß einfache Reize bei genügender Intensität die
Summationsbahn zu durchbrechen vermögen. ... Da auch schmerzhafte
Öffnungsschläge eine freilich undeutliche sekundäre Empfindung pro¬
duzieren, so hinterlassen dieselben wahrscheinlich gleichfalls einen Er¬
regungsrückstand in den eingestreuten Zellen; jedenfalls deutet dieser
Umstand daraufhin, daß auch der Schmerz der einfachen Öffnungsschläge
von der Summationsbahn her erzeugt wird. — Nach dieser Erörterung
stellt also die Applikation rhythmischer unterschmerzlicher Reize etwas
mehr dar als eine der Bedingungen, durch welche Schmerz entsteht,
nämlich sie eröffnet einen Ausblick auf den wesentlichen inneren Vorgang,
welcher der Schmerzempfindung zugrunde liegt“ (S. 20).
Alle diese Überlegungen führen aber nicht darüber hinweg, daß
nach dieser Summationslehre die Umwandlung von Druck- in Schmerz¬
empfindung allein durch die Verstärkung der Erregung bewirkt wird. Das
wird dadurch besonders klar, daß nicht jede von der Summationsbahn
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der Erregung hergeleitete Empfindung schmerzhaft sein muß, daß also
eine Summation, welche der Erregung die nötige Stärke verliehen hat,
sich die Bahn zur sensiblen Hirnrinde frei zu machen, nur dann Schmerz
hervorruft, wenn die Erregung in ihrem weiteren Verlauf die hierzu er¬
forderliche Stärke besitzt. Nicht der Schmerz wird also durch das Hin¬
durchgehen der,Erregung durch die Summationsbahn erzeugt, sondern
die sekundäre, die verspätete Empfindung, die nur deshalb gewöhnlich
als Schmerz auftritt, weil in der Summationsbahn Gelegenheit zur Ver¬
stärkung der Erregung gegeben ist. Vermögen aber anderseits „einfache
Reize (einfache ölTnungsschläge) bei genügender Intensität die Summa¬
tionsbahn zu durchbrechen“, d. h. ohne Summation Schmerz hervorzu¬
rufen, so ist die Summation keinesfalls „der wesentliche innere Vorgang,
welcher der Schmerzempfindung zugrunde liegt“, sondern gibt nur da,
wo dieser Vorgang, d. h. eine starke Nervenerregung, nicht schon weiter
peripher stattgefunden hat, die Möglichkeit, daß er nachträglich im
Rückenmark stattfindet. Ferner scheint mir die Beobachtung (s. S. 643),
daß nach peripherer Kokainanwendung Schmerzen verschwinden können,
obwohl die mjt ihnen verbundenen stechenden, brennenden, dumpfen
Empfindungen fortbestehen, gegen die Summationstheorie und für das
Bestehen einer zweiten peripheren Nervenleitung zu sprechen, die
zum Sdimerz beiträgt und kokainempfindlicher ist. Zudem lassen
nach einer Unterbrechung der durch die graue Rückenmarksubstanz
führenden Hautsinnesleitung die Hinterstränge noch starke Erregungen
durch, da auch unter diesen Umständen die stärksten Druckreize als
solche empfunden werden und die Unterscheidung ihrer verschiedenen
Intensität erhalten ist. Aber auch diese starken Erregungen sind schmerzlos,
während bei unverletztem Rückenmark einfache ÖlTnungsschläge bei ge¬
nügender Stromstärke Schmerz erzeugen, also „einfache Reize bei ge¬
nügender Intensität die Summationsbahn zu durchbrechen vermögen“.
Da also bei starken Reizen die Hinterstränge die Erregung ihrer Stärke
entsprechend weiterleiten, ohne daß sie als Schmerz empfunden wird,
aber unter Umständen auch die sensible Nebenleitung* durch die graue
Rückenmarksubstanz Erregungen, die als Schmerz empfunden werden,
ohne Steigerung durch Summation hindurchläßt, kann weder die Summa¬
tion noch die Stärke der Erregung an sich zum Schmerze führen. Dies
gilt auch, wenn wir annehmen, daß „die langen Bahnen nur einer gewissen
Stärke der Erregung fähig sind, über welche hinaus dieselbe auch trotz
Steigerung des Reizes nicht getrieben werden kann“, denn Erregungen
der langen Bahn, die noch lange nicht ihre größtmögliche Stärke erreichen,
werden bei unverletztem Rückenmark schon als schmerzhaft empfunden,
ihre Steigerung ist also auch in der langen Bahn noch möglich, und zwar
in erheblichem Maße, und müßte, wenn es nur auf die Stärke der Er¬
regung ankäme, auch bei Fortfall der Leitung durch die graue Rücken¬
marksubstanz zum Schmerze führen. Die Schmerzempfindung hängt also
auch davon ab, daß die Druckerregung die graue Rückenmarksubstanz
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust.
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durchläuft, und nicht nur davon, daß sie in einer gewissen Stärke zur sen¬
siblen Hirnrinde gelangt. Schwache derartige Erregungen der grauen
Rückenmarksubstanz würde die Hirnrinde ja mit bloßen stechenden, aber
nicht schmerzhaften Empfindungen beantworten (schmerzlose sekundäre
Empfindung), die sich also zu ihnen in bezug auf den Schmerz verhalten, als
ob es sich um Erregungen handelte, die ihr durch die laqge Bahn Zuströmen.
Was der bloße Durchgang durch die graue Rückenmarksubstanz aus dem
Druckreiz macht, ist also nicht der Schmerz, sondern die Stichempfindung,
die auch durch bloße Summation sich nicht in Schmerz umwandeln,
sondern nur an Stärke zunehmen könnte. Auch dies spricht dafür, daß
in der grauen Rückenmarksubstanz zu den Druckerregungen unter Um¬
ständen etwas hinzutritt, was ihrer Empfindung die Eigenart des Schmerzes
verleiht, und als dies Etwas betrachte ich eben die durch den abbauenden
Stoffwechsel ausgelösten Nervenerregungen.
Man könnte dem entgegenhalten, daß bei mäßiger, noch nicht
schmerzhafter Intensität der primären Stichempfindung die sekundäre
schmerzhaft sein kann. Aber ein mäßiger Nadelreiz wird auch den ab¬
bauenden Stoffwechsel nur mäßig anregen, so daß die Abbaustoffe nicht
sofort als Nervenreiz wirken. Trifft dann der Zeitpunkt ihrer stärksten
Wirkung auf den Nerven mit dem Zeitpunkt der sekundären Empfindung
zusammen, so würde diese schmerzhaft ausfallen. Sie kann hiernach
schmerzhaft sein, und so ist es wirklich; ich sehe daher in dem scheinbaren
Einwand eher eine Bestätigung meiner Annahme.
Hiernach würde also diö Schmerzemplindung aus der in der
grauen Rückenmarksubstanz stattfindenden Vereinigung stärkerer
Erregungen der Drucknerven mit den Erregungen des durch denselben
Reiz im gleichen Körperteil eingeleiteten abbauenden Stoffwechsels
hervorgehen und seine Lokalisation durch das gleichzeitige Auftreten
der durch den Hinterstrang der sensiblen Hirnrinde übermittelten
Empfindung erhalten. Immer aber würde der Parallelvorgang des
Schmerzes ebenso wie der der einfach unlustbetonten Empfindungen
in der sensiblen Hirnrinde stattfinden, während die von dem Sehhügel¬
zentrum des abbauenden Stoffwechsels in die stumme Hirnrinde aus-
strahlenden Erregungen stets nur von einfacher Unlust begleitet wären.
Die hier entwickelte Auffassung der Entstehung von Lust und
Unlust stimmt am meisten mit der Gefühlstheorie von Stumpf überein.
Wenn Ziehen (Gr. d. Ps. II, S. 200—201) diese dahin zusammenfaßt, -
„daß die primären sensoriellen Gefühle eine besondere Modalität (Quali¬
tätengruppe) der Empfindungen bilden, die beispielweise der Modali¬
tät der Gehörempfindungen, Gesichtsempfindungen usf. koordiniert
Zeitschrift für Psyohatrie. LXXV. 4/5. 42
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kt, und der in der Regel auch spezifische periphere Endorgane und
besondere Bahnen zukommen“, so brauche ich nur die Worte ,,in der
Regel“ zu streichen, um damit in gewissem Sinne einverstanden zu sein.
Allerdings umfassen die sinnlichen Gefühle, von denen Stumpf 1 )
spricht, und die Ziehen unter primären sensoriellen Gefühlen versteht,
nicht nur „die reih körperlichen Schmerzen (d, h. die ohne integrierende
Beteiligung intellektueller Funktionen auftretenden), ob sie nun von außen
oder vom Innern de» Organismus stammen“, sowie „das körperliche
Wohlgefühl in seinen allgemeineren und spezielleren Formen, unter den
letzteren die Lustkomponente des Kitzels', das durdh Jucken entstehende
Gefühl und die Sexualgefühle“, sondern auch „die Annehmlichkeit und
Unannehmlichkeit, die sich mit Empfindungen aller oder der meisten
„spezifischen“ Sinne, mit Temperaturen, Gerüchen, Geschmäcken, Tönen,
Farben in den verschiedensten graduellen Abstufungen verknüpft finden “ l ),
während ich einen Teil der letzteren, nämlich die Annehmlichkeit und Un¬
annehmlichkeit dq£ Töne und Farben sowie der meisten Gerüche, soweit
sie von der Art der Empfindung abhängen, aus ihrer Verbindung mit
Vorstellungen ableite. Das betrifft aber nur den Umfang der sinnlichen
Gefühle und kann zunächst vernachlässigt werden. Weniger der Ausdruck
„Gefühlsempfindungen“, d. h. „Empfindungen, die Gefühlen (Neigung und
Abneigung, Gemütsbewegungen aller Art, Begehrungen und Verabscheuun¬
gen) zugrunde liegen und in sonstigen nahen Beziehungen zu Gefühlen
stehen“ (S. 15). Wer mit mir die sinnlichen Gefühle vom Stoffwechsel,
also von körperlichen Vorgängen ableitet, die durch besondere Nerven¬
leitung die sensorielle Hirnrinde erregen, wird auf sie allenfalls die Be¬
zeichnung Empfindungen anwenden können, aber nur mit Rücksicht auf
den physiologischen Zusammenhang. Eine psychologische Gleichstellung
der sinnlichen Gefühle mit den eigentlichen Empfindungen scheint mir
trotz Stumpfs Ausführungen nicht gerechtfertigt. Gewiß kann auch ich
es „nicht zwingend finden, wenn man aus der Verwandtschaft der Sinnes¬
gefühle und der Gemütsbewegungen und aus dem gleichen Ausdruck
Gefühle den Schluß zieht, daß die sinnlichen Gefühle nicht Sinnesemp¬
findungen seien“ (S. 8), aber unter Gefühlen versteht ja die heutige Psycho¬
logie im allgemeinen auch nicht Gemütsbewegungen, sondern — wenn wir
mit Stumpf von der Wundtschen Aufstellung von Gefühlen der Erregung
und Ruhe, Spannung und Lösung absehen — nur Lust und Unlust, die
aber nicht nur mit Empfindungen, sondern auch mit Vorstellungen ver¬
bunden auftreten. Bei dem Zusammenhang der „intellektuellen“
Gefühle ( Ziehen) mit den sinnlichen Gefühlen scheint es mir mißlich,
beijie Arten von Lust und Unlust durch jene Bezeichnung vonein¬
ander zu trennen. Die intellektuellen Gefühle gehen ja ebenso wie die
*) Stumpf, Über Gefühlsempfindungen. Ztschr. f. Psych. Bd. 44,
S. 1—2.
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 621
sinnlichen Gefühle in die Gemütsbewegungen ein, und es gilt von ihnen
■dasselbe, was Stumpf von den sinnlichen Gefühlen sagt, daß sie ,,eine
Komponente des im populären Sprachgebrauch als Gemütsbewegung,
Furcht usw. bezeichneten Gesamtzustandes“ darstellen, während die
andere Komponente, „die wir als den Kern betrachten, die Gemütsbewe¬
gung im engeren Sinne“, nicht nur von den sinnlichen, sondern auch von
den intellektuellen Gefühlen gänzlich verschieden ist. Ebensowenig kann
ich die Subjektivität der Gefühle gegenüber den Empfindungen als be¬
deutunglos für die Frage der Trennung von Gefühlen und Empfindungen
anerkennen und den Satz unterschreiben: „Der heiße Ofen ist unangenehm,
der kühle Wein angenehm in demselben Sinne, in welchem jener heiß ist und
dieser kühl oder prickelnd ist.“ Das ist zunächst nur richtig, solange wir
allein auf unsere Erkenntnis, auf die Bildung unserer Vorstellungen sehen,
in welche Empfindungen wie Gefühle eingehen. Der Mensch ist aber nicht
nur- ein erkennendes, sondern auch ein handelndes Wesen, und sobald wir
dies ins Auge fassen, erhält jene Subjektivität der Gefühle einen andern,
und zwar den richtigen Sinn. Nicht die Hitze des Ofens, sondern das Un¬
angenehme der Hitze bewirkt, daß ich vom Ofen abrücke; nicht die Kühle
oder das Prickelnde des Weines an sich zieht mich an, sondern die Lust,
die zur Kühle oder zum Prickeln des Weines hinzutritt. Ferner kann die¬
selbe Hitze des Ofens, die mir jetzt unangenehm ist, vor kurzem, als ich
aus der Winterkälte in das erwärmte Zimmer trat, mir angenehm gewesen
sein und mich angelockt haben, und derselbe kühle und prickelnde Wein,
der mir angenehm ist, kann aus dem gleichen Grunde einem andern mi߬
fallen. Gewiß übersieht auch Stumpf dieses Verhältnis nicht, aber er
leitet es aus der Unterscheidung zwischen Ich und Außenwelt ab: „wenn
df^Gefühlsempfindungen auch nicht den Unterschied zwischen Ich und
Außenwelt konstituieren, so spielen sie doch, nachdem er konstituiert ist,
eine andere Rolle fürjjnser Erkennen und Handeln gegenüber der äußeren
Körperwelt als die übrigen Empfindungen“ (S. 12). Jedoch auch bevor
der Unterschied zwischen Ich und Außenwelt konstituiert ist, löst Unlust
und Schmerz Bewegungen aus, nur daß diese ziellos und ungeregelt sind;
die größere Subjektivität der Gefühle entsteht also nicht erst mit der Kon¬
stituierung jenes Unterschiedes. Und wenn Stumpf zwar „einen höchst
.bemerkenswerten Unterschied in der teleologischen oder biologischen
Funktion“ zwischen Gefühlsempfindungen und andern Empfindungen
nicht leugnen will, ihn aber nur als „Unterschied in der Funktion und in
der Bedeutung, nicht in der Sache selbst“ ansieht, so fragt es sich, worin
hier „die Sache“ besteht. Wollen wir die Funktion und die Bedeutung,
also den Zusammenhang der Bewußtseinserscheinungen aus der Betrach¬
tung ausscheiden, so bleibt als sachlicher Unterschied die bloße Beschaffen¬
heit übrig; dann aber fallen überhaupt die Gründe für eine Sonderung von
Empfindungen und Gefühlen (im gewöhnlichen Sinne) fort, und ebenso
wie die sinnlichen könnte ich die intellektuellen Gefühle mit den Emp¬
findungen zusammenfassen.
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Meine Bedenken gegen die Bezeichnung der sinnlichen Gefühle als
Gefühlsempfindungen könnten bedeutunglos erscheinen, aber sie beruhen
doch auf sachlichen Erwägungen. Ich kann daher Stumpf nur mit Ein¬
schränkung zustimmen, wenn er seine Ansicht (S. 4) dahin zusammenfaßt,
„daß die sinnlichen Gefühle tatsächlich Empfindungen sind, nichts weiter,
eine Klasse von Empfindungen, die vielleicht ihre Besonderheiten haben,
wie jede Klasse solche besitzt, die aber in allen wesentlichen Eigenschaften
und Gesetzlichkeiten sich wie die übrigen Klassen verhält“, und daß es
sich bei der Verknüpfung der sinnlichen Gefühle mit den Sinnesempfindun-
gen „um■'ein vielfältiges, durch die Einrichtungen und Bedürfnisse des
Organismus bedingtes Zusammenauftreten handelt, nicht um einen eigen¬
tümlichen psychischen Strükturzusammenhang“. Den zweiten Teil des
Satzes unterschreibe ich, den ersten nur mit der Einschränkung, daß ich
die sinnlichen Gefühle nicht im psychologischen, sondern nur im physio¬
logischen Zusammenhang als Empfindungen gelten lassen kann, d. h. ich
stelle sie nur darin den Empfindungen gleich, daß ihre Gehirnkorrelate
in derselben Weise wie die der Empfindungen von Vorgängen in andern
Körperteilen durch Nervenleitung ausgelöst werden, und kann im übrigen
nur zugeben, daß sie in vielen wesentlichen Eigenschaf tenund Gesetzlich¬
keiten sich wie Empfindungen verhalten.
Vielleicht ist aber die Übereinstimmung zwischen Stumpf und mir
doch größer, als es den Worten nach erscheint. Kann man „statt Gefühls¬
empfindung gelegentlich auch Gefühlston sagen“ (S. 18), so können sich
Gefühlsempflndungen, d. h. sinnliche Gefühle auch an Verstellungen
knüpfen, die „intellektuellen Gefühle“ Ziehens stehen also nicht im Gegen¬
satz zu den sinnlichen Gefühlen, sondern gehören zu ihnen. Damit stimmt
überein, „daß es Gefühlsempflndungen gibt, die durch besondere peri¬
pherische Reizwirkungen hervorgebracht oder modifiziert werden können,
und andere, bei'denen eine solche gesonderte Hervorbringung oder Ver¬
änderung von der Peripherie aus (eventuell von den im Innern des Leibes
liegenden Nervenendigungen aus) nicht möglich ist“ (S. 22). Und daß
wenigstens ein Teil der intellektuellen Gefühle Ziehens' in der Tat von
. Stumpf unter den sinnlichen Gefühlen mitbefaßt wird, geht aus seinem
Einwand gegen den Satz hervor, daß „an bloß vorgestellte Gerüche, Töne,
Farben nicht Gefühlsvorstellungen, sondern eben wirkliche Gefühle
geknüpft sind, die in keiner Weise sich von den Gefühlen bei wirklich emp¬
fundenen Gerüchen, Tönen, Farben unterscheiden (S. 26). Das sind doch
Ziehens intellektuelle Gefühlstöne. Stumpf fährt nun fort: „Die Verhält¬
nisse scheinen mir aber vielmehr so zu liegen: diese Gefühlssinnesvor¬
stellungen, die an vorgestellte Gerüche, Farben usw. geknüpft sind, gehen
sehr leicht in Gefühlsempfindungen über, sie werden, anders
ausgedrückt, schon in ganz gewöhnlichen Fällen zu Halluzinationen, was
bei den Vorstellungen der peripher erregten Gefühle (Hautschmerzen usw.)
nur unter besonderen Umständen der Fall ist. Beispielwei6e, wenn man
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sich den Klang einer Stimme, eines Akkords vergegenwärtigt, so kann die
Gefühlssinnesqualität ebenso lebhaft sein wie beim wirklichen Hören,
während die Tonqualität selbst nur den Charakter der Vorstellung hat.
Dieser Unterschied hängt damit zusammen, daß, wie wir weiterhin noch
wahrscheinlich finden werden, schon die Gefühlsempfindungen bei
Gerüchen, Geschmäcken, Farben, Tönen von vornherein ausschließlich
zentral und nicht peripherisch bedingt sind“. Das heißt doch: auch die
intellektuellen (an Vorstellungen, nicht an Empfindungen geknüpften)
Gefühle sind sinnliche Gefühle (= Gefühlsempfindungen). Daß zur Ent¬
stehung der intellektuellen Gefühle die „Gefühlssinnesvorstellungen“ den
Anlaß geben, indem sie „sehr leicht in Gefühlsempfindungen übergehen“,
entspricht auch meiner Anschauung x ), und ebenso sehe ich die Gefühls¬
betonung wenigstens der optischen, akustischen und der meisten Geruchs¬
empfindungen als zentral bedingt an, indem ich sie von Vorstellungen ab¬
leite. Dagegen würde ich die intellektuellen Gefühle nicht als Halluzina¬
tionen bezeichnen, da nach meiner Anschauung die ihnen entsprechenden
Nervenerregungen zwar auf Anlaß von Hirnrindenerregungen, aber nicht
in der Hirnrinde entstehen, sondern dieser von den Stoffwechselzentren
des Sehhügels, also von außen, zufließen.
Bedenklich macht mich aber, daß Stumpf den leichten Übergang der
Gefühlssinnesvorstellungen in Gefühlsempfindungen auf „Gerüche, Ge-
schmäcke, Farben, Töne“ einschränkt, da auch die Erinnerung an Schmer¬
zen sich leicht mit starker Unlust verknüpft. Da diese Unlust auch in
keiner der drei Formen enthalten ist, in die Stumpf (S. 1—2) die sinnlichen
Gefühle gliedert, scheint er sie nicht als „Gefühlsempfindung“, sondern als
„Gefühl“, d. h. als Gemütsbewegung aufzufassen und als die Gefühls¬
empfindung, die sich, allerdings „nur unter besonderen Umständen“, der
Erinnerung des Schmerzes gesellt, die Schmerzempfindung zu betrachten,
die in diesem Falle auch für mich eine Halluzination darstellen würde.
Man vergleiche S. 23: „Es können auch durch Steigerung der Lebhaftigkeit
des Vorstellens oder durch rein physiologische Vorgänge (ohne psychische
Antezedentien) Schmerzhalluzinationen eintreten. Ähnliches auch bei
Vorstellungen der Wollüstigen.“ Von Schmerzempfindungen beim Auf¬
tauchen von Vorstellungen sehe ich hier ab und fasse nur die Unlust ins
Auge, die sich ohne Schmerzempfindung der Schmerzerinnerung gar nicht
selten beimischt. Gewiß kann die Vorstellung von Schmerzen auch eine
Gemütsbewegung veranlassen, aber in diese Gemütsbewegung, wenn wir
*) Hans Laehr, Trieb und Gefühl. Diese Ztschr. Bd. 74, S. 201: „Die
Unlust als Vorstellungsinhalt kann beim Auftauchen der Vorstellung die
Unlust als Gefühlsbetonung wecken ... sie muß es aber nicht.“ Vgl. .
S. 248: „Nur darf der Lustinhalt (der Ziel Vorstellung) nicht oder doch
nicht in erheblichem Maße in Lustbet.onung übergehen, wenn der Trieb
zur Handlung führen soll.“
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La ehr,
sie „im engeren Sinne“ nehmen, geht jene Unlust nur als Bestandteil ein,
verhält sieh zu ihr wie der Stoff zur Form und bedeutet deshalb nicht das¬
selbe wie sie. Ist aber die Unlust, die zur Schmerzvorstellung hinzutritt,
eine Gefühlsempfindung, und folgt sie, was mir unbestreitbar scheint,
ebenso leicht der Schmerzvorstellung wie die entsprechenden Gefühls¬
empfindungen den Vorstellungen von Ton- oder Farbengefühlen, so kann
die Leichtigkeit des Übergangs bestimmter „Gefühlssinnesvorstellungen“
in Gefühlsempfindungen nicht davon abhängen, daß die ihnen zugrunde
liegenden Gefühlsempfindungen „von vornherein ausschließlich zentral und
nicht peripherisch bedingt“ sind, denn die Unlust oder das Unbehagen,
das zur Schmerzvorstellung hinzutritt, steckt ja auch in der Schmerz¬
empfindung un4 ist ebenso „körperlich“ wie diese oder wie das körperliche
Wohlgefühl, die Lustkomponente des Kitzels und die Sexualgefühle (S. 2).
Am richtigsten wird das Verhältnis wohl so gefaßt, daß jenes Unbehagen
eine Vorstufe des Schmerzes darstellt, daß Reize, die noch nicht Schmerz
erzeugen,doch schon Unbehagen hervorrufen, und daß dann bei Verstärkung
des Reizes oder bei längerer Dauer desselben das Unbehagen in Schmerz
übergeht. Dann ist es aber auf Grund der Stumpfschen Anschauung un¬
verständlich, daß beim Übergang der Schmerzvorstellung in Gefühls-
empfiftdung diese nicht etwa als Schmerz, sondern als Unlust, als Un¬
behagen auftritt und zwar auch dann, wenn sie eine Stärke annimmt, die
der des früher empfundenen Schmerzes entspricht. Für mich liegt hierin
keine Schwierigkeit, weil ich den Schmerz, der auf peripherischen Reiz
entsteht, vom Eintritt der Nervenerregung in die sensible Hirnrinde,
dagegen die Unlust, die von der Vorstellung des Schmerzes hervorgerufen
wird, die also zentral bedingt ist, vom Übergang der Erregung aus dem
Sehhügelzentrum des abbauenden Stoffwechsels in die stumme Hirnrinde
ableite’ so daß hier der Verschiedenheit von Schmerz und Unlust die örtliche
Verschiedenheit des Erregungsausgangs und des Erreguhgseintritts in die
Hirnrinde entspricht. Ebenso erklärt meine Aufstellung ohne weiteres den
Übergang des Unbehagens in Schmerz bei Zunahme des peripherischen
Reizes, da nach ihr ein mäßiger Reiz neben der Empfindung durch Ein¬
leitung des abbauenden Stoffwechsels Unlust hervorrufen kann, ein stärkerer
Reiz aber eine Abzweigung der Unlusterregung in die graye Rückenmark¬
substanz eintreten und sich hier einer Abzweigung der Empfindungs¬
erregung gesellen läßt, so daß als Ergebnis der Vereinigung beider der
Schmerz entsteht.
Die Unlust, die zur Schmerzvorstellung hinzu tritt, kann nicht als
Halluzination aufgefaßt werden, weil hier nicht der Inhalt der Vorstellung,
also Schmerz, sondern etwas anderes, nämlich einfache Unlust, sinnliche
Lebhaftigkeit erlangt. Dann liegt es aber nahe, auch den Übergang
anderer „Gefühlssinnesvorstellungen“ in „Gefühlsempfindungen“ nicht als
Halluzination aufzufassen, wenigstens nicht als Halluzination in gewöhn¬
lichem Sinne, die ja fast allgemein auf Erregungen ausschließlich innerhalb
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Die physiologischen Korrelate der Lust und UnTust. 625
der Hirnrinde zurückgeführt wird, wie verschieden man sich auch den
Vorgang im einzelnen denkt. Vielmehr müssen den von Vorstellungen aus¬
gelösten ,,Gefühlsempfindungen“, also Ziehens intellektuellen Gefühlstönen,
da sie zwar von Vorstellungen ausgelöst werden, aber sinnliche Lebhaftig¬
keit haben, Gehirnvorgänge entsprechen, die, von der Hirnrinde angeregt,
dieser trotzdem von außen zufiießen. Gerade dieser Forderung genügt
aber meine Anschauung, nach der die den Vorstellungen entsprechenden
Erregungen der stummen Hirnrinde durch die kortikothalamische und
weiter durch die thalamokortikale Bahn einen Kreislauf über die Stoff-
wechselzentren der Sehhügelgegend vollführen und durch deren Erregungen
verstärkt zu ihrem Ausgangpunkt in der stummen Hirnrinde zurückkehren.
Ich habe den Ausdruck Gefühlsempfindungen für Lust und Unlust
zurückgewiesen, während ich die Bezeichnung Empfindung in einem weiteren
Sinne dafür wohl gelten lassen kann. Wenn man nämlich allein den Gegen¬
satz zwischen Empfindung und Erinnerung und als Kennzeichen der
Empfindung die sinnliche Lebhaftigkeit im Auge hat, der physiologisch die
Zuleitung von Nervenerregungen in die Hirnrinde von einem außerhalb
dieser gelegenen Ausgangpunkt entspricht, dann würden auch für mich
Lust und Unlust unter diesen erweiterten Begriff der Empfindung fallen.
Zweckmäßiger aber erscheint es mir, den sonst allgemein anerkannten
Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl beizubehalten und beide
der Erinnerung entgegenzustellen. Neben den früher angeführten Gründen
spricht hierfür gerade auch die eben erörterte Tatsache, daß zu Gefühls¬
erinnerungen lebendige Gefühle hinzutreten, die wir nicht immer als
Halluzinationen im gewöhnlichen Sinne auf fassen können. Wollen wir
den Ausdruck Gefühlsempfindung beibehalten, so paßt er allein auf den
Schmerz, freilich nicht, weil er im Sinne von Stumpf als Empfindung in
Gefühle, d. h. in Gemütsbewegungen eingeht, sondern weil er allein sowohl
die Eigenart der Empfindung wie die des Gefühls untrennbar in sich ver¬
einigt, d. h. sowohl Kenntnis von Vorgängen im Organismus gibt
wie auch die Reaktion des Organismus gegen diese Vorgänge einleitet.
Wenn ich Stumpf somit auch in manchen Punkten nicht bei¬
pflichten kann, so stimme ich doch in der Hauptsache mit ihm überein,
und diese Übereinstimmung erscheint mir um so wertvoller, als seine
Anschauung auf psychologischem Boden erwachsen ist, während ich
Votf physiologischen Erwägungen ausging. Weniger nahe trotz mancher
Berührungspunkte steht meiner Anschauung die E. Försters 1 ), der sich,
wie ich glaube, die Möglichkeit richtiger Auffassung dadurch versperrt,
daß er Lust und in den meisten Fällen auch Unlust als Vorstellung
ansieht, die Unlust als Erinnerungsbild des Schmerzes, die Lust als
Vorstellung des Schwindens von Schmerz.
*) Förster, Über die Affekte. Monatschr. f. Ps. u. N., Bd. 19 ,S. 305 u. 385 .
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»I
626 % Laehr, 1
Förster sagt: „Sieht das Kind die Rute, mit der es schon gezüchtigt I
worden ist, so werden verschiedene Erinnerungsbilder an die Gesicht? j
empfindung assoziiert werden, unter anderen auch das Erinnerungsbild d* \
Schmerzes, den es bei der Züchtigung empfunden hat. So kommt da* I
Unlustgefühl beim Sehen der Rute zustande. Wir sehen, daß wir dazu
einen neuen Faktor, einen neben den Empfindungen und deren Erinm?
rungsbildern hergehenden Gefühlston nicht einzuführen brauchen. Da¬
einfachste Unlustgefühl ist der Schmerz oder das Erinnerungsbild d*
Schmerzes“ (S. 315). Gewiß kann die Erinnerung an den Schmerz b*i
solcher Gelegenheit auftauchen, aber neben oder zu dieserlErinnerung tritt
die Unlust, durch die Schmerzerinnerung vermittelt, aber als ein lebendig?? >
Gefühl, das weder Schmerz noch Erinnerung ist. Und ähnlich steht ■
mit Försters Herleitung der Lust: „Wenn wir einen heftigen Schmer:
empfinden und dieser schwindet plötzlich, so wird uns dieses Schwänden
des Schmerzes als etwas Positives, als eine neue Empfindung erscheinen,
für die wir dann den Ausdruck Erleichterung, Lustgefühl anwenden
Etwas Ähnliches geht vor sich, wenn etwa alle Töne um uns plötzlich
verstummen, wir meinen dann auch eine neue, positive Empfindung zu
haben, die wir Stille nennen; ebenso meinen wir, eine neue, positive Emp¬
findung Dunkelheit zu haben, wenn plötzlich alles Licht verlöscht“ (S. 316).
Zunächst ist der letzte Vergleich von Förster nicht richtig gewählt, da
„Dunkel“ oder „Schwarz“ eine wirkliche, wenn auch durch den Mangel
an Lichtreiz ausgelöste Empfindung darstellt, deren Entstehung Herint
damit erklärt, daß der Empfindung des Weißen die Dissimilierung, der
des Schwarzen die Assimilierung der Sehsubstanz entspricht. Da ich mir
die Entstehung von Lust und Unlust durch gleiche Vorgänge in andern
Geweben veranlaßt denke wie Hering die der Licht- und Dunkelemp
findung in der Sehsubstanz, so kann ich mir diesen Vergleich wohl an¬
eignen, ja in gewissem Sinne sogar den vorhergehenden Vergleich mit der
Stille, denn daß wir da statt der Vorstellung die Empfindung der Stille
zu haben vermeinen, und zwar um so lebhafter, je länger die Töne an¬
dauerten, und je lauter und schriller sie waren, können wir uns dadurch
bedingt vorstellen, daß während des lauten Tönens nicht nur der sich
stark zusammenziehende M. tensor tympani, sondern auch die kräftigen
Schwingungen und periodischem Druck ausgesetzten Teile des Corfischen
Organs in abbauenden Stoffwechsel geraten, der die unangenehme Bei¬
mischung gibt und dem Aufbau PJatz macht, wenn Stille eintritt. Dann
würde mit der Vorstellung der Stille sich ein Lustgefühl vereinen, das,
aus dem Ohre stammend, der Vorstellung die Eigenart der Empfindung
leiht und die Kontrastwirkung nicht allein und nicht immer auf assoziativer
Leistung, sondern zunächst auf dem Umschlag des Stoffwechsels im Gehör¬
organ beruhen. Aber auch abgesehen von diesen Vergleichen wird man
Förster darin nicht beipflichten können, daß uns das Schwinden des
Schmerzes als etwas Positives, als eine neue Empfindung erscheint, für
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 027
die wir dann den Ausdruck Erleichterung, Lust anwenden. Wie die Lust
nach dem Aulhören unangenehm starker Töne ist auch das bisweilen deut¬
liche Behagen nach dem Aufhören starker Schmerzen etwas Positives und
erscheint nicht nur als solches; es ist ebenso positiv wie die bläuliche Farbe
eines sonst weißen Papiers nach längerem Anstarren eines gelben Papiers,
die wir nur deshalb als scheinbar auffassen, weil wir wissen, daß unter
gewöhnlichen Umständen das Papier weiß aussieht. Hier beruht nicht
die Kontrastempfindung selbst, sondern daß wir sie als scheinbar auffassen,
auf einem Vergleich, also auf assoziativer Leistung, und ebenso verhält es
sich mit jener nach starkem Schmerz unmittelbar empfundenen Lust,
wenn wir sie uns mit Förster als scheinbar vorstellen, weil wir uns über¬
legen, eine Ursache zur Lust sei doch eigentlich nur darin gegeben, daß der
Schmerz geschwunden ist, und eine Lust ohne körperliche Ursache könne
mft* durch Assoziation entstehen.
übrigens sagt Förster (S. 320) selbst, daß das Lustgefühl sich ein¬
facher erklären ließe, ,,wenn man ebenso wie einen Schmerzsinn einen
Lustsinn annehmen würde. Dagegen spricht aber die klinische Erfahrung,
die weder eine besondere ,,Lustleitung“ noch ein Schwinden des Lust¬
gefühls bei erhaltenem Schmerz kennt, dagegen spricht, daß — abgesehen
vielleicht von den schon erwähnten Sexual-Lustempfindungen ... das
Lustgefühl bei uns niemals in solch elementarer präziser Weise aufhört,
wie etwa ein plötzlicher Schmerz, ein plötzliches Licht usw., niemals als
dann, wenn ein Schmerz plötzlich auftritt; dagegen spricht, daß es —
außer diesem letzten, dem Aufhören von Schmerz — keinen Reiz gibt,
der unter allen Umständen bei allen gesunden Menschen aller Rassen
Lust erzeugen würde, wie etwa bei allen Menschen ein Stich in die Lippe
Schmerzempfindung, die Annäherung eines glühenden Stabes Wärme¬
empfindung erzeugt“. Daß wir keine besondere Lustleitung kennen, ist
richtig, erklärt sich aber daraus, daß wir nirgends erwarten können, Nerven
des aufbauenden Stoffwechsels allein für sich anzutrefTen, da mindestens
solche des abbauenden Stoffwechsels sich überall ihnen gesellen dürften,
und daß die letzteren in den gemeinsamen Leitungswegen die Mehrzahl
bilden werden, weil nicht nur Schmerz und Unlust lebenswichtiger ist als
Lust, sondern auch die vegetativen Nebenwirkungen des abbauenden
Stoffwechsels, die ich in seiner Verminderung und in der Wegschwemmung
seiner Produkte sehe, für die Erhaltung des Stoffwechsels größere Be¬
deutung haben als die Nebenwirkung des aufbauenden Stoffwechsels,
drh. seine Herabsetzung im gleichen und seine Förderung in andern
Körperteilen. Goldscheider bemerkt (1. c. S. 23): „Wenn man erwägt,
daß ein schmerzhafter Nadelstich in die Haut nur einem unendlich kleinen
Teile 'des Querschnittes des innervierenden Nervenstammes entspricht,
so müßte man bei gleicher Empfindlichkeit von der mechanischen Läsion
des letzteren einen viel erheblicheren Schmerz erwarten, als er in der
Tat eintritt“. Diese Abschwächung der Schmerzempfindlichkeit im gemein.
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Laebr,
sannen Nervenstamm könnte wohl auch von der Reizung der in ihm ent¬
haltenen Nervenfasern des aufbauenden Stoffwechsels herrühren. Daß
aber in der Haut bisher keine „Lustpunkte“ — gleich den Schmerz
punkten — gefunden sind, läßt sich auf Grund meiner Anschauung mit
der Annahme erklären, daß eine in der Haut besonders geringe Anzahl
der Nervenfasern des aufbauenden Stoffwechsels und deren damit zu¬
sammenhängende tiefere Lage, die ohne stärkeren Druck oberflächlicherer
Epidermiszellen den Reiz nicht an sie gelangen läßt, ihre Auffindung
erschwert. Der zugleich eingeleitete abbauende Stoffwechsel im gleiches
Bezirk würde die Lustwirkung abschwächen. In der Tat beschränkt sich
der aufbauende Stoffwechsel in der Epidermis, dessen in die Augen fallen¬
des Ergebnis ja die Zellvermehrung ist, im wesentlichen auf die tief gelege¬
nen Zellen der Malpighischen Schleimschicht, während der abbauende
Stoffwechsel, der zur Verhornung führt, hauptsächlich oberflächliehete
Lagen betrifft, so daß auch auf Grund dieser Überlegung der Ursprung
der „Schmerznerven“ der Oberfläche näher erwartet werden muß, als der
Ursprung der „Lustnerven“. Der gemeinsame Ursprungsbezirk und die
gleichen Leitungswege würden ferner begreiflich machen, daß die klinische
Erfahrung kein Schwinden des Lustgefühls bei Erhaltung des Schmerzes
kennt. Der zweite Einwand, daß das Lustgefühl bei uns niemals in solch
elementarer, präziser Weise auftritt wie etwa ein plötzlicher Schmerz,
außer wenn ein heftiger Schmerz plötzlich aufhört (so muß es offenbar
heißen, während in dem Forsterschen Satz, den ich oben wörtlich anführte,
„auftritt* und „aufhört“ wohl beim Abdruck vertauscht sind; vgl. auch
S. 316), verliert auf dem Boden meiner Anschauung^sein Gewicht durch
die Erwägung, daß ein plötzliches Einsetzen starken aufbauenden Stoff¬
wechsels, das in Wirklichkeit nirgends erfolgt, in dem angeführten Falle
dadurch vorgetäuscht Vfrird, daß das allmähliche Anschwellen des auf¬
bauenden Stoffwechsels, das gerade durch den vorhergehenden starken
abbauenden Stoffwechsel zum Ersatz der Schädigung bewirkt wurde, von
diesem bis zu dessen Aufhören verdeckt ward und nun plötzlich in voller
Stärke hervortritt. Und wenn Förster drittens anführt, daß es außer dem
Aufhören von Schmerz keinen Reiz gibt, der unter allen Umständen bei
allen gesunden Menschen aller Rassen Lust erzeugen würde, so will ich
dem nicht entgegenhalten, daß die Sättigung oder die freie Atmung nach
Beeinträchtigung derselben wohl allgemein als lustvoll empfunden wird,
auch wenn kein Schmerz vorangegangen ist, da Förster hier (wie S. 317
unten) offenbar auch bloße Unlust unter Schmerz mitversteht, wohl aber,
‘ daß z. B. Süß ganz allgemein als angenehm gilt, wenn auch beim einzelnen
die Lust- und Unlustschwelle für diese Empfindung sehr verschieden hoch
sein und durch Gewöhnung sich weiter verändern kann. Im übrigen be¬
trachte ich die Lust mit Förster in den meisten Fällen als durch Vorstel¬
lungen vermittelt, so daß auch sein dritter Einwand gegen besondere
„Lustl^itung“ auf meine Anschauung nicht zutrifft.
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Die physiologischen Korrelate der Lust and Unlust.
629
Dagegen kann ich, wenn ich statt Schmerz Gefühl (Lust und Unlust)
einsetze, der Ausführung Försters in bezug auf Wernickes Organgefühle
der Hauptsache nach zustimmen: „In sämtlichen Organen des Körpers
beßnden sich Endapparate der Schmerznerven. Diesen fließen sowohl in
den Eingeweiden — durch die Verdauung usw. — als auch an der Körper¬
oberfläche — durch äußere Einwirkungen — geringe Erregungen zu, die
nicht in unser Bewußtsein gelangen, aber doch ihre (reflektorischen)
Wirkungen ausüben. Das sind die Organgefühle Wernickes. Werden diese
Erregungen stärker, so werden sie bewußt, und wir nennen diese Emp¬
findungen, die heftigen Organgefühle, Schmerz“ (S. 317). Besonders aber
halte ich die Erörterungen über Gefühlston und Aufmerksamkeit (S. 385
bis 388) für einleuchtend, die zum Ergebnis führen, daß der Gefühlston
nicht von vornherein mit der Sinnesempfindung verknüpft ist. Nur be¬
weisen sie nicht, daß die ZieÄensche Anschauung falsch ist, da diese nur
aussagt, daß der Gefühlston an dieselben Gehirnelemente geknüpft ist
wie die Empfindung, nicht aber, daß er an denselben Vorgang in diesen
Gehirnelementen geknüpft ist.
Über das Verhältnis des Gefühls zum Handeln schreibt Förster im
Gegensatz zu einer Ausführung Storchs: „Ich wollte einen Kreis zeichnen —
es gelingt nicht; ich habe so lange Unlustgefühle, bis es gelingt“, bedeutet:
ich verfolgte mit dem Zeichnenwollen des Kreises irgendein Ziel — dadurch,
daß ich den Kreis nicht richtig zeichnete, kam ich dem Ziele nicht näher,
ich dachte an die verlorene Zeit, an die Folgen, die. daraus entstehen
könnten, wie ich es machen müsse, um dem Ziele näher zu kommen, usw.
Alle diese Vorstellungen fasse ich zusammen unter dem Namen Unlust¬
gefühl. Ein Teil dieser Vorstellungen aber veranlaßt mich, weiter zu
zeichnen. Wenn wir also sagen, daß das Unlustgefühl Bewegungen auslöse,
so ist dies nur dann richtig, wenn wir uns davon bewußt bleiben, daß das
Unlustgefühl nichts anderes ist als eine Reihe von Vorstellungen, von
denen ein Teil die gewollten Bewegungen veranlaßt. Ist der Kreis ge¬
glückt, so habe ich die Vorstellungen, daß das Ziel erreicht ist, daß ich
jetzt faulenzen kann, daß eine Zigarette jetzt gut schmecken würde usw.,
diese Vorstellungen bedingen ein Lustgefühl, an eine Gruppe davon
werden durch irgendwelche Ursachen neue Vorstellungen in ihrem Sinne
angeknüpft werden, es entsteht eine neue (Initiativ-) Bewegung, etwa
das Anzünden der Zigarette. — Es hätte nun aber auch sein können, daß
das Zeichnenwollen des Kreises nur eine flüchtige Idee bei-mir war, daß
ich einen bestimmten Zweck nicht damit verfolgte, dann wird der mi߬
glückte Kreis kein ,,Unlustgefühl v , sondern andere Vorstellungen in mir
wachrufen, er wird mich etwa an das Gesicht eines Freundes erinnern,
ich werde ein Lustgefühl haben, und andere hinzukommende Vorstellungen
werden irgendwelche andere Initiativbewegung verursachen. — Wir sehen,
alles kommt auf die Empfindungen, ihre Erinnerungsbilder, ihre assoziative
Verknüpfung an, andere „Spannungs- oder Elastizitätsverhältnisse“ in
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•630
L aehr
irgendeiner „Psyche“ brauchen wir zur Erklärung nicht heranzuziehen“
(395—396). Daß Unlustgefühl nicht dasselbe ist wie eine Zusammen¬
fassung oder eine Reihe von Vorstellungen, führte ich schon aus, aber
ebenso mißlich ist die Behauptung, daß ein Teil der Vorstellungen, die die
Unlust zwar nicht darstellen, aber hervorrufen können, die gewollten Be¬
wegungen veranlaßt. Mit Recht beginnt Förster seine Umschreibung mit
•dem Satze: „Ich verfolgte mit dem Zeichnenwollen des Kreises irgendein
Ziel“; erst dadurch, daß eine Vorstellung das Ziel des Wollens bildet,
mithin nicht als bloße Vorstellung, sondern als Zielvorstellung, veranlaßt
sie Bewegungen. Wir kommen hier mit Empfindung und Vorstellung
auch unter Hinzunahme des Gefühls nicht aus, sondern müssen auf den
jetzt meist als überwunden und veraltet angesehenen Trieb zurückgreifen,
der die Vorstellung erst zdf Zielvorstellung macht. Es ist nur bedingung¬
weise richtig, daß ein Teil der Vorstellungen: „dadurch, daß ich den Kreis
nicht richtig zeichnete, kam ich dem Ziele nicht näher, ich dachte an die
verlorene Zeit, an die Folgen, die daraus entstehen könnten, wie ich es
machen müsse, um dem Ziele näher zu kömmen, usw.“, das Weiterzeichnen
verursacht. Denn alle diese Vorstellungen führen zum Weiterzeichnen
nur dann, wenn eben ein Ziel vorhanden ist, dieses aber setzt den Trieb
dazu voraus, und daß hier der Begriff der Assoziation den des Triebes nicht
ersetzen kann, glaube ich andernorts (1. c. S. 222) gezeigt und dort (Seite
246 ff.) auch die Beziehung des Triebes zu Lust und Unlust soweit be¬
leuchtet zu haben, daß ich hier darauf nicht zurückzukommen brauche.
Förster hat sich diese Verhältnisse durch den doppelsinnigen Ausdruck
verdunkelt: „ein Teil dieser Vorstellungen veranlaßt mich, weiter zu
zeichnen“. Das soll, wie sich aus dem Folgenden ergibt, heißen: „ein Teil
dieser Vorstellungen ist die Ursache des Weiterzeichnens“, bringt aber
etwas Weiteres, das Ich oder den Willen oder den Trieb, hinein, von dem
die Bewegung ausgeht, und dem die Vorstellung nur die Richtung weist.
„Alles kommt auf die Empfindungen, ihre Erinnerungsbilder, ihre assozia¬
tive Verknüpfung an“ ist nur richtig, wenn ich ergänze: „zur Bestimmung
der Triebrichtung durch ein Ziel“, nicht aber, wenn ich mit Förster darin
allein die Ursache des Handelns finde.
Zum Schluß fasse ich kurz die wichtigsten Züge der hier darge¬
legten Theorie zusammen.
Es erscheint mir als Vorzug meiner Anschauung, daß sie die Kor¬
relate der Lust und Unlust auf Stoffwechselvorgänge zurückführt, die
im Sinne von Verworn s Biogenhypothese die wesentlichen Lebens-
erscheinungen darstellen. Eine Auffassung, nach der das Verhältnis,
das in der Zelle oder im Leibe zwischen Aufbau und Abbau besteht,
auf seelischem Gebiete ursprünglich durch Lust und Unlust angezeigt
wird, setzt die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust in so
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlast. 632
innige Beziehung zur Erhaltung des Lebens, wie keine andere, und
übertrifft hierin auch die Försters, die sich mit ihr berührt, aber einseitig
nur den Schmerz ins Auge faßt und die Lust nicht als selbständigen
Ausdruck des Ziels gelten läßt. Entspricht die sinnliche Lust, dem
*Überwiegen des aufbauenden, die sinnliche Unlust dem Überwiegen
des abbauenden Stoffwechsels, so ist darin das Verhältnis begründet,
in dem Unlust — als etwas zu Fliehendes — und Lust — als etwas zu
Erstrebendes — stehen müssen, wenn Schädigungen vermieden werden
sollen. Denn überwiegt der abbauende Stoffwechsel, so muß der
Verlust, den der Organismus an dieser Stelle erleidet, zum Ersatz durch
den aufbauenden Stoffwechsel führen, wenn der Bestand erhalten
werden soll. Zeigt also Unlust das Überwiegen des abbauenden, Lust
das Überwiegen des aufbauenden Stoffwechsels an, so ist darin be¬
gründet, daß die Triebrichtung von Unlust zu Lust geht (S. 598), zumal
ich gezeigt zu haben glaube, wie auch die Schädigungen, die dem
Körper von außen zustoßen, mit einem Überwiegen des abbauenden
Stoffwechsels einhergehen.
Das Verhältnis von Lust und Unlust zur Stärke des Reizes ent¬
spricht einem bestimmten Verhalten der durch den Stoffwechsel sich
bildenden chemischen Verbindungen. Die Zwischenerzeugnisse des
aufbauenden Stoffwechsels, die ich als Reizquelle der „Lustnerven“ —
wenn mir dieser abkürzende Ausdruck gestattet ist — ansehe, geben,
weil sie ungesättigte und deshalb stärker auf ihre Umgebung ein¬
wirkende Verbindungen darstellen, einen kräftigeren Nervenreiz ab
als die Abfallstoffe des gewöhnlichen Stoffwechsels. So lange daher der
Aufbau mit defrri Abbau gleichen Schritt hält, d. h. also nicht bloß im
gewöhnlichen Gleichgewichtszustände, sondern auch bei der Vergröße¬
rung seines Umfangs durch schwache oder mittelstarke Reize, über¬
wiegt der Reiz des aufbauenden Stoffwechsels. Überschreitet der
. Stoffwechsel eine gewisse niedere Grenze, so tritt daher Lust auf* und
wächst mit der Zunahme des Stoffwechsels so lange, als das Gleich¬
gewicht zwischen Abbau und Aufbau erhalten wird. Überwiegt der
Abbau, so kann er nicht sofort his zu den chemischen Enderzeugnissen
durchgeführt werden, es bleiben stärker reizende Verbindungen übrig,
die erst allmählich in andern Teilen völlig abgebaut werden, und diese
Zwischenprodukte, die Abbaustoffe im engeren Sinne (d. h. die beim
Überwiegen des Abbaus auftreten), wirken als starker Reiz auf die
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„Unlustnerven“. Dem Überhandnehmen des abbauenden Stoff¬
wechsels und dem Auftreten solcher stark reizenden Zwischenprodukte
entspricht also der Umschlag von Lust in Unlust bei Zunahme des
Reizes und ihrer Vermehrung das Anwachsen der Unlust bei fort¬
gesetzter Reizerhöhung.
Lust und Unlust und das Streben, aus unlustbetonten Empfindun-
gen heraus und zu lustbetonten Empfindungen zu gelangen, sind aber
nicht'die einzige Wirkung des abbauenden Stoffwechsels, sondern nur
diejenige, die ins Bewußtsein fällt. Die andere, für die Erhaltung des
Lebens ebenso wichtige Wirkung vollzieht sich unbewußt und besteht
in Veränderungen der Blutversorgung und des Stoffwechsels selbst,
aber sie führt ebenso wie die erstgenannte, nur ohne Beteiligung des
Bewußtseins und der willkürlichen Muskulatur, zur Ausgleichung von
Schwankungen des Stoffwechsels. Sie genügt für gewöhnlich, und nur
unter besonderen Umständen, zur Ergänzung verbrauchter Stoffe oder
zur Abwehr äußerer Schädigungen kommt die Wirkung des Stoff¬
wechsels auf die Korrelate des Gefühls und des Triebes zur Geltung.
Daß die sinnliche Lust und Unlust als bloßer Gefühlston der Emp¬
findung erscheint, ergibt sich daraus, daß die Erregung, die zur Emp¬
findung, und die Erregungen, die zu Lust und Unlust führen, zwar
durch verschiedene Nervenleitungen zur Großhirnrinde gelangen, aber
durch denselben Reiz erzeugt werden und daher nahezu gleichzeitig
der Hirnrinde Zuströmen, so daß das Gefühl sich mit der Empfindung
• regelmäßig nach Art der Ideenassoziation verbindet und nicht ohne
sie auftritt.
Die Gefühlstöne der Vorstellungen fordern jedoch eine andere
Erklärung. Ihre physiologischen Parallelvorgänge müssen ebenso wie
die der Vorstellungen selbst von andern Teilen der Hirnrinde aus erregt
werden. Da sie aber nicht Vorstellungen von Gefühlen, sondern
lebendigen Gefühlen entsprechen, so müssen sie andrerseits vom Körper¬
stoffwechsel veranlaßt werden, und dieser muß demnach stets die
Möglichkeit gewähren, auf Anregung von der Hirnrinde aus die Parallel¬
vorgänge der Lust sowohl wie der Unlust hervorzurufen. Daher meine
Annahme, daß ein Zentrum des auf bauenden Stoffwechsels, d. h. ein
solches, das die Reize des aufbauenden Stoffwechsels aus dem Gesamt¬
körper in sich vereinigt und den aufbauenden Stoffwechsel im ganzen
Körper fördert, und ein Zentrum des abbauenden Stoffwechsels, das
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Die physiologischen Korrelate der Lust und Unlust. 633
die Reize des abbauenden Stoffwechsels aus dem Gesamtkörper in sich
vereinigt und den aufbauenden Stoffwechsel hemmt, die Sammel¬
becken sind, aus denen jederzeit, sobald sie in den Erregungsablauf
der Hirnrinde eingeschaltet werden, dieser die der Lust oder Unlust
entsprechenden Erregungen Zuströmen.
Auch hier steht also neben der Wirkung auf die Hirnrinde, d. h. der
Hervorrufung von Rindenerregungen, die den Gefühlstönen der Vor¬
stellungen entsprechen, eine Wirkung auf den Körpcrstoffwechsel, und
ich nehme an, daß auch hier diese Wirkung durch Beeinflussung der
Gefäße von den gleichen Zentren aus unterstützt wird.
Da alles dafür spricht, daß die von mir angenommenen Stoff¬
wechselzentren in der Sehhügelgegend vorhanden sind, stimmt diese
Theorie der Lust und Unlust gut zu den neueren Anschauungen, nach
denen die Tätigkeit der Hirnrinde vom Hirnstamm aus gelenkt wird
( Reichardt , Berze).
+
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Kleinere Mitteilungen
Deutscher Verein für Psychiatrie, E. V. — Kassenabschlnß
. für das Jahr 1918 (abgeschl. am 30. 4. 19).
A. Eassenbestand aus dem Jahre 1917 (vgl. Allg. Zeitschr.
Bd. 74, S. 631) ... M. 19511,46
B. Einnahmen:
a) Mitgliederbeiträge zu 5 M. '
3 nachträglich aus 1915. M. 15,—
4 * „ 1916. 20,-
107 „ ‘ „ 1917 . 535,15
672 für 1918... 2861,23
6 schon für 1919. 25,05
1 „ „ 1920 . 5,— =3461,43
b) Zinsen 1. von Wertpapieren
Von 2600 M. 3°/ 0 Pfandbriefen. M. 76,—
„ 3000 „ 37,°/o * . 105-
„ 6600 „ 4% Reichsanleihe. 220,—
Dazu Aprilzins 1919 v. 500. 10,—
„ 10000 M. 6°/o Kriegsanleihen. 600,—
Dazu Aprilzins 1919 v. 1500 . 37,50
(Von 2000 M. sind die Zinsen erst später
fällig)
2. Von Depositen und Spargeldern. 26,05 ■= 973,55
Gesamtsumme der Einnahmen 23946.44
1918 sind an Kriegsanleihe gezeichnet
3500 M., gezahlt. M. 3374,40
C. Ausgaben. Für Geschäfte des Vorstandes:
Unkosten bei der Kriegstagung Würzburg. 41,—
Auslagen des Schriftführers .. 126,25
Kosten der Kassenführung, Drucksachen, Porti... 163,74
Für einen Kranz auf Kreusers Sarg. ' 26.— = 346,99
bleibt Bestand 23600,45
Der Bestand ist vorhanden in Wertpapieren, Ankaufswert 22297,20
(Die Wertpapiere befinden sich im Depot der Landschaf t!.
Bank für die Provinz Pommern in Stettin) in bar 1303,25
und zwar Guthaben bei der Bank 1229,—
bar in der Kassette 74,26
Stettin, den 30. April 1919.
Der Schatzmeister:
Geh. Med.-Rat Dr. Siemens.
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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR 1
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BLEULER BONHOEFFER FISCHER KLEIST MERCKLIN PERETTI 8TRANSKY
ZÜRICH BERLIN WIESLOCH ROSTOCK TREPTOWA.R.GRAFENBERG WIBN
DURCH
HANS LAEHR
ZEHLENDORF WANNSEEBAHN, TELTOWER STR. 19
FÜNFUNDSIEBZIGSTER BAND
SECHSTES HEFT
AUSGEGEBEN AM 14. ACGT'ST
fV]
w
IvJ
BERLIN UND LEIPZIG
VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER
WÄRTER DE GRUYTER & Co.
VORMALS G.J.GÖSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG : J. GUTTENTAG,VERLAGS¬
BUCHHANDLUNG : GEORG REIMER : KARL J. TRÜBNER : VEIT & COMP.
1919
Preis des Bandes von 8 Heften (6 Hefte Originalien und 2 Hefte LiteratarbericLt) 40 Mark.
Hierzu eine Beilage der Firma C. F. Boehringer & Söhne in Mannheim.
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F MFC HI GAN
Über die Form der Psychosen bei der Land¬
bevölkerung in Livland, während der Jahre
1903-1917.
Von
Dr. Albert Behr-Stackeln.
Die Geisteskrankheiten, welche in einer Landesirrenanstalt
mit vorwiegend bäuerlicher Irrenbevölkerung beobachtet werden,
gestatten keinerlei Schlüsse über die tatsächliche Verbreitung und
Verteilung der einzelnen Krankheitsformen im Lande. Bei der
Einlieferung eines Geisteskranken in die Anstalt spielen medizinisch-
psychiatrische Erwägungen die allergeringste Rolle. So lange ein
Geisteskranker nicht schreit oder Feuer anlegt oder die Nahrung
verweigert, nicht gar zu unsauber ist, so wird derselbe von seinen
Angehörigen in den breiteren ländlichen Verhältnissen nicht als
so störend und lästig empfunden, wie in einer städtischen Miet¬
wohnung, in welcher zahlreiche Nachbaren und und die Enge
der Räume den Aufenthalt eines Geisteskranken zu Hause un¬
möglich machen. Dazu kommt, daß die Verköstigung eines
Geisteskranken in einer bäuerlichen Wirtschaft nicht so schwierig
ist wie in der Stadt. Die notwendigen Lebensmittel sind immer
vorhanden und beanspruchen keine Barmittel. So lange ein
Geisteskranker noch zu irgendeiner Handleistung fähig ist, wird
derselbe zu Hause gehalten und beschäftigt, oder aber, wenn er
keine Angehörigen hat und allein dasteht, an den „Mindestbieten¬
den“ versteigert. Alljährlich um die Jahreswende findet die Ver¬
steigerung der Gemeindekranken statt, und zum Georgitermin
(24. IV.) verbleibt der Kranke bei seinem bisherigen Brotherrn
oder er wechselt den Platz. Für den Fall, daß niemand gewillt
ist, einen Kranken für das Mindesbot zu erwerben, und daß
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. ‘ 43
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Original from
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B e h r,
gegen die Überführung des Betreffenden in das Gemeindearmen-
häus zwingende Gründe vorliegen, Fesseln und Stricke versagen,
wird der Kranke vorübergebend einer Anstaltbehandlung über¬
wiesen und bei der geringsten Besserung unbedingt in die alten
Verhältnisse zurückversetzt. Ohne zu übertreiben, darf man be¬
haupten, daß die Glieder der Landgemeinden nur im äußersten
Notfälle, in vielen Fällen nur auf Veranlassung der Polizei- oder
der Versicherungsbehörden, welche Brandschaden fürchten, ihre
Kranken in der Anstalt unterbringen, um dieselben, sobald es
nur irgend angeht, wieder der Behandlung zu entziehen. Die
Landgemeinden sind von der Notwendigkeit einer Heil- und Pflege¬
anstalt für Geisteskranke bisher in keiner Weise überzeugt. Die
Irrenanstalt ist ein Übel und zwar ein teures. Jede Ausgabe für
unsoziale und unproduktive Kranke wird nach Möglichkeit ver¬
mieden. Alle humanen charitativen Bestrebungen, die Fürsorge
für Schwache und Kranke gelten wenig und finden keine Resonanz.
Das Bildungsideal und die Hoffnung, vermittelst der Bildung eine
höhere soziale Stufe zu erreichen, überwuchern. Das Bestreben,
sein „Menschenrecht“ auf Bildung 1 ) zu erwerben, beherrscht das
bäuerliche Denken und Trachten. Derselbe Mann, welcher ängst¬
lich jeden Groschen für die Behandlung eines Geisteskranken
wägt, opfert ohne Bedenken unverhältnismäßige Summen für
Bildungszwecke, um seinen Kindern das Aufsteigen in eine höhere
soziale Stufe zu ermöglichen und den Bauernstand anfzuheben.
Die Pflege der Geisteskranken beansprucht Mittel, welche nach
der allgemeinen Meinung eigentlich bessere Verwendung finden
könnten, ah Krüppel und Schwache zu erhalten. Die Arbeit an
den Geisteskranken ist daher unpopulär und wenig geschätzt.
Die Fürsorge für Geisteskranke will im Grunde genommen niemand
tragen. Die Familie beansprucht die Hilfe der Gemeinde, die
Gemeinde wälzt nach Möglichkeit die Kosten auf die Familie,
und in diesem Kampf der Interessen verblödet der Kranke, sinkt
von Stufe zu Stufe und verliert im Laufe der Jahre jede Aus¬
sicht auf eine soziale Wiederherstellung. Die Landgemeinden
stehen auf dem Standpunkt, sie wären nur moralisch verpflichtet.
x ) Jakob Bunkhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 68.
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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 637
für heilbare oder gemeingefährliche Kranke zu sorgen, sie seien
berechtigt, die Fürsorge für chronische Geisteskranke nach Mög¬
lichkeit von sich fernzuhalten. Daher gestatten die Geistes¬
kranken, welche in der Landesirrenanstalt Aufnahme finden, nur
.den Schluß, daß unabhängig von der Form der geistigen Er¬
krankung in einem gegebenen bestimmten Zeitabschnitte gewisse
Gruppen von Geisteskranken aus äußeren Gründen den Land¬
gemeinden aufnahme- und pflegebedürftig erscheinen. Welche
Formen der Geisteskrankheiten tatsächlich im Lande vorherrschen,
ist nur annähernd zu erschließen.
In der Literatur begegnet man der Auffassung ( Gaupp ), als ob die
Hauptbevölkerung der Anstalten, welche vorwiegend Geisteskranke der
ländlichen Bevölkerung aufnehmen,, sich aus endogen bedingten Geistes¬
krankheiten zusammensetze. Das manisch-depressive Irresein, zumal
beim männlichen Geschlechte, sei in den städtischen Anstalten überaus
selten und nur gelegentlich anzutrefTen. In den städtischen Aufnahme¬
bezirken beobachte man in erster Reihe exogen bedingte Geistesstörungen,
organische Gehirnkrankheiten, alsdann die Epilepsie und endlich die
übrigen Formen des Irreseins. Die Häufigkeitsquote der Frühdemenz
sei in den städtischen und in den ländlichen Aufnahmebezirken annähernd
die gleiche. In der psychiatrischen Klinik zu Freiburg beobachtete Stern 1 ),
daß die mittleren und höheren Kulturkreise, die Lehrer, Beamten und '
Kaufleute am manisch-depressiven Irresein häufiger erkrankten als die
niederen Kulturkreise, Arbeiter, Landwirte und Tagelöhner. Die Epilepsie
überwog bei den Tagelöhnern und Handarbeitern. Die Melancholie trat
häufiger bei den Landleuten, die Manie häufiger bei den Städtern auf.
Die exogen bedingten organischen Geisteskrankheiten nahmen mit dem
Ansteigen der Kulturkreise zu und befielen vorherrschend - Kaufleute
und freie Berufe, dagegen sank die Häufigkeit der Frül^demenz mit der
Höhe des Kulturkreises. „Die Dementia praecox nimmt fast stufen¬
förmig mit dem Steigen des Kulturkreises ab.“
Obwohl Stern und Gaupp nicht in allen Einzelheiten über¬
einstimmen, so erscheint doch in bezug auf die Form der Geistes¬
krankheit unter allen Umständen der Gegensatz von Stadt und
Land unverkennbar. Bevor wir diesen Gegensatz weiter verfolgen,
dürfte es notwendig sein, festzustellen, was man unter einer länd¬
lichen bäuerlichen Bevölkerung zu verstehen habe, und welche
*) Stern, Kulturkreis und Form der geistigen Erkrankung (da¬
selbst die gesamte einschlägige Literatur), 191H.
4 : 1 *
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638
Hehr,
Eigenschaften die charakteristischen des bäuerlichen Kulturkreises
darstellen.
Unter einem Bauern verstehen wir denjenigen, welcher mit seiner
Hände Arbeit den Boden bestellt und die Früchte seiner Arbeit als Ernte
erwartet. Der Bauer ist bodenständig und kann den Boden, die Scholle
nicht verlassen, weil die Art seiner Arbeit, sei er Besitzer oder Knecht,
mit dem Ertrage des Bodens innig zusammenhängt. Der Handwerker,
auch’ wenn er auf dem Lande lebt und bäuerlicher Herkunft ist, bildet
doch ein wesentlich anderes Element als der Ackerbauer. Der Hand¬
werksberuf ist nicht an die Scholle gebunden, die Art der Arbeit wird
nicht durch den Boden, sondern durch die Kundschaft bestimmt. Jede
Arbeit, jeder Beruf entwickeln eine Summe von Anschauungen und Er¬
fahrungen, erzeugen einen ,,Kollektivgeist“, ein „Kollektivbewußtsein'*,
welches die Eigenart dieses Berufes ausmacht und die Glieder des gleichen
Berufes auch unter sonst ungleichartigen Bedingungen vereinigt. Man
denke beispielweise an das Gemeinschaftsbewußtsein der Seeleute bei
den verschiedenen Nationen oder an die Gemeinsamkeit der militärischen
Anschauungen bei den verschiedenen Völkern. Die Anschauungen und
Sitten der bäuerlichen Bevölkerung gleichen einander unter den ver¬
schiedenen Himmelsstrichen in einem höheren Maße als die verschiedenen
Berufs- und Kulturkreise innerhalb des eigenen Volkes. Die immer¬
währende Notwendigkeit, seinen Boden zu beaufsichtigen, der stete Kampf
mit der Natur halten die Aufmerksamkeit nach einer bestimmten Richtung
gefangen und erzeugen eine Einseitigkeit des Denkens und des Empfindens.
Dagegen erzeugt die Arbeit in der Stadt in geschlossenen Räumen und
in der Stube den lebhaften Wunsch, die Enge zu übeminden, das Be¬
dürfnis nach Abwechselung und den Drang ins Freie. Aus diesem Grunde
finden in den Städten Darbietungen und Vergnügungen aller Art soviel
Beifall und Zuspruch, während der Bauer auf dem Lande nach der schweren
Arbeit unbedingt der körperlichen Ruhe und Erholung bedarf und nur
ausnahimveise und mehr gelegentlich exzediert und umherschweift. Im
Gegensatz zu der einförmigen Gleichmäßigkeit des Landlebens trägt das
Leben in der Stadt eine gewisse Unruhe. Der berechtigte Drang nach
Abwechselung beansprucht Barmittel, verstärkt die Hast des Erwerbes,
die Jagd nach dem Gelde und bereitet den Boden für unbefriedigte Wünsche
und Hoffnungen. Dazu kommen das erleichterte Genußleben, die Ver¬
zögerung der Eheschließung und die selbstverständliche Gelegenheit zu
zahlreichen Vergiftungen (Alkohol, Morphium, Lues \isw.). Innerhalb
der städtischen Bevölkerung nimmt der Kleinstädter noch eine gewisse
Sonderstellung ein. Der Kleinstädter steht geistig und kulturell der bäuer¬
lichen Bevölkerung nahe. Die Kleinstadt mit ihren Gärten und Höfen
erzeugt noch eine gewisse Bodenständigkeit, während die Großstadt und
die Industrie den Menschen vom Boden entfernen und durch die Art der
Arbeit dem Boden völlig entfremden.
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Ober die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 639
Die Verschiedenheit der Lebensweise in der Stadt und auf
,dein Lande spiegelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach' in der
Form der Geisteskrankheiten wieder. Es ist daher kein Zufall,
daß in den Anstalten, welche großstädtische Aufnahmebezirke
versorgen, die Geisteskranken durch äußere Schädlichkeiten vor¬
wiegen, während in den Landesanstalten die endogenen Seelen-
Störungen vorherrschen.
In der Livländischen Landesirrenanstalt wurden Geisteskranke,
welche an der progressiven Paralyse litten, bei den Gliedern
der ackerbautreibenden Bevölkerung nur in verschwindender An¬
zahl beobachtet. Die paralytischen Kranken entstammten mit
wenigen Ausnahmen der großstädtischen Bevölkerung (Riga) und
bildeten etwa 5—7 °/ 0 der Aufnahmen. Diese Kranken gehörten
nur politisch zu den Landgemeinden, in Wirklichkeit waren die¬
selben dem flachen Lande längst entfremdet und ganz in der
Stadtbevölkerung aufgegangeij. Der städtische Umschmelzungs¬
prozeß war bei diesen Kranken vielfach schon so weit vor sich
gegangen, daß dieselben nicht mehr die lettische oder estnische
Volkssprache benutzten, sondern sich der städtischen Idiome des
Deutschen resp. der Staatssprache, des Russischen, ^ls Umgangs¬
sprache bedienten.
Im Jahre 1908 wurden 6 Paralytische (5 M. 1 Fr.) behandelt, welche
den städtischen Berufskreisen angehörten. 1909 wurden 15 Paralytische
(13 M. 2 Fr.) aufgenommen. Es handelte sich mit Ausnahme eines be¬
rüchtigten Diebes und Raufboldes ausschließlich um Glieder der städtischen
Bevölkerung (Arbeiter, Handwerker). 1910 wurden 14 Paralytische auf¬
genommen, darunter ein Landmann, welcher aber „aus der Stadt“ geheiratet
hatte und von seiner Frau infiziert worden war. 1911 wurden 5 Paralytische
der höheren Kulturkreise, 1912 15 Paralytische (12 M. 3 Fr.) aufgenommen.
Die männlichen Kranken gehörten den freien Berufskreisen an und hatten
ausschließlich in den Städten gelebt. Von den weiblichen Kranken hatte
die eine von Jugend auf eine vagierende Lebensweise geführt, die zweite
war mit einem „berühmten Diebe“, der alle „schlechten Krankheiten“
an sich hatte, verheiratet und kam aus der Stadt, die dritte, welche bäuer¬
lichen Verhältnissen entstammte, war von ihrem Ehegatten nachweislich
infiziert. 1913 wurden 12 Paralytische ausschließlich aus städtischen
Aufnahmebezirken aufgenommen, 1914 9 Paralytische (8 M. 1 Fr.); von
diesen gehörten 7 m. Kr. zu den freien Berufskreisen und hatten ein be¬
wegtes Leben hinter sich, 1 entstammte dem ländlichen Berufskreise und
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Be hr,
war während seiner Dienstzeit infiziert worden. 'Die w. Paralytische war
eine Städterin. 1915 wurden 7 Paralytische der städtischen Berufskreise-
aufgenomnien, 1916 2 und 1917 3. Die Zahl der Paralytischen verringerte
sich nach dem Falle Rigas und nach dem Abzug eines Teils der städtischen
lettischen Bevölkerung ins Innere Rußlands. Es handelte sich bei diesen
Beobachtungen um kein zufälliges Zusammentreffen, sondern die hier
mitgeteilten Ergebnisse entsprachen durchaus den Erfahrungen, die auch
aus anderen Landen vorliegen. Um nur ein Beispiel aus neuerer Zeit
anzuführen, sei auf die Mitteilungen Joachims aus Lothringen l ) ver¬
wiesen. In den rein agrarischen Gegenden Lothringens bildete die pr. P.
eine seltene Erkrankung, dagegen begegnete man zahlreichen Fällen in
den Industriegebieten und in den Weinberggegenden. Nach der z. Z.
herrschenden Lehre ist die Ursache der pr. P. eine vorausgegangene Sy¬
philis, und die syphilitische Ansteckung bildet eine unerläßliche Vor¬
bedingung für das Auftreten dieser Erkrankung. Darf man null aus dem
Fehlen der pr. P. bei den bäuerlichen Geisteskranken in Livland den
Schluß ableiten, daß die Syphilis im Lande nicht vorhanden sei, oder aber
waren irgendwelche unbekannte Umstände wirksam, welche die Para¬
lytischen nicht in die Anstaltbetfandlung führten, oder endlich hängt
nicht das Ausbleiben der pr. P. doch mit irgendwelchen Faktoren zu¬
sammen, welche die Lebensweise auf dem Lande mit sich bringt und die
Landbevölkerung vor dieser Geißel bewahrt? Bei den nichtparalytischen
Geisteskranken waren Anzeichen der Lues höchst selten, und man mußte
unbedingt den Eindruck gewinnen, daß die luischen Erkrankungen Aus¬
nahmen bilden. Nach den Ermittelungen von Truhard *) über die Ver¬
breitung der Lues in Livland betrug die Zahl der gezählten Syphilisfälle
1892 in Dorpat 8,45 :1000, in Riga 6,05 :1000 Einwohnern und auf dem
Lande 1,53 : 1000 und 1893 1,46. Soweit zuverlässige Ziffern öiTentlich
vorliegen, muß inan in Livland eine steigende Tendenz der Verbreitung
der Lues annehmen. Die Zunahme der Lues ist unbedingt eine Begleit¬
erscheinung des Anwachsens der Städte, der Industrialisierung des Landes,
der Erleichterung des Verkehrs und der allgemeinen Wehrpflicht dureh
die aus dem Militärdienst heimkehrenden Soldaten. Bekennt man die
Anschauung, daß die Syphilis die Paralyse bedingt, so befremdet die Tat¬
sache, daß zahlreiche Völker, die noch in primitiven Verhältnissen leben,
trotz endemischer Lues von der Paralyse befreit sind. Kraepelin vertritt
die Auffassung, daß die Kulturvölker Schutzeinrichtungen verloren
hätten, die diejenigen Völker, welche noch unter einfacheren Verhältnissen
leben, vor der pr. P. bis zu einem gewissen Grade bewahren. Sichel geht
noch weiter und vermutet, daß derartige Schutzeinrichtungen auch noch,
bei den Landleuten vorhanden seien und dieselben vor der Paralyse
*) Joachim , Allg. Zeitschr. Bd. 69.
2 ) Truhard, St. Petersburger Med. Wochenschr. 1895, Nr. 11.
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Cber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 641
schützen. Zur Zeit, als die syphilitische Ätiologie in bezug auf die Ent¬
stehung der Paralyse noch unbekannt war, beschuldigte man als auslösende
yrsache den Exzeß. Man verwies auf die bequeme Gelegenheit zum
Exzedieren bei den höheren Gesellschaftsschichten und erklärte aus diesem
Gesichtspunkte heraus das Freibleiben der ackerbauenden Bevölkerung
und der Handwerker. So schreibt Neumann (Psychiatrie 18811): ,,Wenn
der Handwerker, der Bauer seltener an der Paralyse erkranken, so bedenke
man, daß diese Art von Individuen am Tage arbeiten muß und abends
noch lieber die Schenke aufsucht und, da auch der Beischlaf meistens
Geld kostet, sich gar nicht in der Lage befindet, dauernd zu exzedieren.“
Auf welche Weise man sich die Immunität gegenüber der progressiven
Paralyse erklären möge, so viel steht fest, daß diese Erkrankung bei der
bäuerlichen Bevölkerung in der Landesirrenanstalt nur ausnahmweise
beobachtet wurde. Wie es sich mit der Tabes verhält, ist zurzeit unbekannt.
Die organischen Nervenkrankheiten, welche in der Landesanstalt in immer
steigendem Maße behandelt wurden, gehörten zu dem Kreise der endogenen
Nervenkrankheiten (multiple Sklerosen, Bulbärparalyse usw\). Für
die innere Wahrscheinlichkeit der Tatsache, daß die progressive Paralyse
bei der Landbevölkerung in Livland fehlt, spricht folgendes: Im Jahre
1902 untersuchte Luiga 1 ) 761 bäuerliche Geisteskranke des Dorpater
Kreises an ihren Wohnorten, in den Gemeinden und Armenhäusern und
zählte unter diesen drei Paralytische, eine ehemalige Prostituierte, einen
Schneider und einen Mann, der aus einer Gegend stammte, in welcher
die Lues endemisch war. — Die paralytischen Kranken zeigten bei ihrer
Einlieferung in die Anstalt in den meisten Fällen expansive Zustände.
Die rein dementen Formen waren nur ausnahmweise zu beobachten.
Mendel hatte seinerzeit die Vermutung ausgesprochen (1898), das Bild
der pr. P. hätte sich im Laufe der letzten 30—40 Jahren vollständig ver¬
ändert *). Die dementen Zustandsbilder seien vorherrschend, während
die expansiven und agitierten Formen nicht mehr so häufig zu beobachten
wären. Es ist eine schwere Zumutung für. das ärztliche Denken, sich
vorzustellen, daß eine derart auffallende und ausgeprägte Krankheit
wie die pr. P. in einer verhältnismäßig so kurzen Zeitspanne, 40—50 Jahren,
sich in ihrer Verlaufsform in diesem Maße von Grund aus hätte ändern
können. Die Hinweise auf analoge Beobachtungen bei gewissen Infektions¬
krankheiten, bei der Pest, derCholera, der Diphtherie, sind Analogieschlüsse
und können kaum als endgültige Beweise voll gelten. Sollte das syphi¬
litische Virus sich tatsächlich transformieren, oder aber gestatten die an¬
geführten Beobachtungen eine andere Deutung? ln erster Reihe ist der
Umstand zu berücksichtigen, daß infolge des Anwachsens der Städte
*) Luiga, Dissertation: Jurjew' 1904, Russisch.
*) Vgl. auch Fels, Monatsschr. f. Psych. Bd. 28; ferner Greidenhef-g,
Neurol. Zentralbl. 1898.
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642
B e h r.
aus den schon mehrfach erwähnten Gründen mehr Menschen von der
pr. P. befallen werden als in früheren Jahren. Das Beobachtungsmaterial
wächst, und es erkranken in den Städten Konstitutionen, welche noch
vor Dezennien in kleineren Verhältnissen oder auf dem Lande unter
günstigeren Lebensbedingungen von dieser Seuche verschont blieben.
Alsdann ist zu erwägen, daß die Verpflegung Geisteskranker in den Gro߬
städten in der Familie von Tag zu Tag teuerer wird, und daß ökonomische
Gründe die Überführung des Geisteskranken in die Anstalt diktieren.
Es unterliegt daher gar keinem Zweifel, daß in den städtischen Aufnahme¬
bezirken das Bild der dementen Form der Paralyse überwiegt und die
Anschauung Platz greift, das Bild der Paralyse hätte sich geändert. Die
These, die Paralyse wäre eine ausschließliche Erkrankung des männlichen
Geschlechtes, und die Diagnose sei nur in solchen Fällen gestattet, welche
„klassisch“ verliefen, d. h. unter dem Anfangsbilde des Größenwahns,
läßt sich nicht mehr aufrechterhalten, da eben heutzutage durchaus
andersartige Elemente den Anstalten Zuwachsen als vordem und mehr
Grenzfälle und die verschiedenartigsten Varietäten Berücksichtigung
finden. Die Syphilis ist dieselbe wie vordem, aber die sozialen Verhältnisse
der europäischen Kulturvölker haben sich in den letzten Dezennien von
Grund aus geändert, die Schnelligkeit, mit der die Städte anwachsen,
die unheimliche Verödung des flachen Landes in vielen Gegenden erzeugen
neue Bedingungen, welche sich in der Form der Psychosen als Zustands¬
änderungen widerspiegeln, und die pr. P. aus einer „aristokratischen“
Krankheit, die bisher nur in bestimmten Gesellschaftsschichten mit
klassischen Symptomen zu Hause war, in eine „demokratische“ Krankheit
verwandeln, welche weitere Volkskreise ergreift. Da es sich bei den Para¬
lytischen in der Landesanstalt fast ausschließlich um Stadtbewohner
handelte, so war es eigentlich selbstverständlich, daß eine luische Infektion
bei der größten Mehrzahl der Kranken nachzuweisen war. Ein Paralytiker
mit allen „klassischen“ Symptomen dieser Krankheit trat mit einem
frischen UlcüS durum in die Behandlung. Die erste Infektion lag etwa
22 Jahre zurück und es bestand somit keine Immunität gegen die Lues.
Das Ulcus wich einer spezifischen Behandlung, jedoch die Paralyse pro-
gredierte. Reinfektionen bilden äußerst seltene Vorkommnisse, ja gelten
sogar als unbekannt. So schreibt beispielweise Steiner 1 ): „Wir kennen
bis jetzt noch keine Beobachtung, wonach ein Tabiker oder Paralytiker
mit frischer Syphilis sich infiziert hätte, während doch gerade bei dein
durch die Psychose bedingten, häufig sehr ungehemmten Lebenswandel
der Paralytiker die Bedingungen der Übertragung des syphilitischen Virus
durchaus vorliegen.“ Krafft-Ebing behauptete die Immunität der Para¬
lytiker gegen das frische luische Virus und erklärte die Paralyse als eine
latente syphilitische Erkrankung. Krafft-Ebing stützte sich auf die Impf-
*) Steiner, Arch. f. Psychiatrie Bd. 52.
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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 643
versuche eines Anonymus, weicherb Paralytiker mit Syphilisvirus geimpft
hatte und in keinem einzigen Falle eine spezifische Reaktion beobachtete. •
Kiernnn berichtet über 10 Fälle 1 ) von frischer Syphilisinfektion bei be¬
stehender Paralyse. Bei den meisten dieser Infizierten war eine frühere
Lues auszuschließen. Kiernan zog aus seinen Beobachtungen keinerlei
Schlüsse weder für noch gegen die Syphilistheorie. Auf alle Fälle lehren
die vereinzelten Reininfektionen, daß es nicht angeht, die pr. P. als latente
Form der Syphilis aufzufassen und die Resultate der Impfungen zu ver¬
allgemeinern. Die Lues als solche erzeugt keine Paralyse. Es müssen
noch andere Faktoren vorhanden sein, welche dem luischen Gifte die
Erzeugung einer paralytischen Geistesstörung ermöglichen. Die äußeren
Umstände, welche das Auftreten der Paralyse begünstigen, die Lebens¬
bedingungen, der Gegensatz von Stadt und Land mit all seinen Begleit¬
erscheinungen sind zu evident, um nicht aufzufallen, während die indi¬
viduellen Faktoren, welche der Paralyse den Boden bereiten, noch dunkel
bleiben. Warum erkranken beispielweise die Periodiker nicht an der
Paralyse, obwohl dieselben während ihres Exaltationsstadiums so häufig
Gelegenheit zur Ansteckung haben. Mit Recht schreibt Reichardt *): „Auch
•die Wassermannsclie Reaktion und der Nachweis von Spirochäten im
Gehirn der Paralytischen bringen für das eigentliche Wesen der Hirn¬
krankheit keine Aufklärung. Weshalb die Paralyse tödlich ist, weshalb
so außerordentlich verschiedene körperliche und psychische Symptome
auftreten, bleibt dunkel trotz Wassermann und Spirochäten.“ Einen
wichtigen Schritt zur Erforschung der endogenen Faktoren, welche die
Paralyse befördern, bilden die Feststellungen Rieger-Reichardts über die
Häufigkeit der frontalen relativen Mikrozephalie bei den Paralytischen.
Die Tatsache, daß die paralytischen Schädeldächer einen höheren Prozent¬
satz relativer Mikrozephalie aufweisen als die übrige Bevölkerung, ist eine
beachtenswerte. In gleicherweise dürften auch die Forschungen Xäckes *)
bedeutungvoll werden, welcher an der Hirnoberfläche der Paralytischen
Abweichungen der Furchen und Wendungen nachwies. Die frontale
Mikrozephalie und die Windungsanomalien der paralytischen Gehirne
bilden greifbare Substrate und liefern Fingerzeige für die Richtung des
zukünftigen Studiums der endogenen Faktoren und der Ätiologie der
pr. P. Mit gewissen Einschränkungen hat der Satz von Benedikt noch
immer seine Gültigkeit: Paralyticus nascitur, sed non fit. Die Forschungen
über die Rolle der erblichen Belastung als ätiologischen Faktors der pr. P.
sind bisher resultatlos geblieben. Die Zahlenangaben der Autoren in betreff
der Belastung schwanken zwischen 5—75 % und können daher in keiner
*) Kiernan, Refer. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1907, S. 152; ferner
Kraepelin, Psychiatrie II 1, S. 493.
2 ) Reichardt, Arbeiten aus der Würzburger Klinik Bd. 8, ferner Ar¬
beiten Bd. 4.
3 ) Näcke, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 65.
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Weise zur Entscheidung einer derart wichtigenFrageherangezogenwerden 1 ).
Die Auffassung, daß die Lues an sich keine Paralyse erzeuge, lehren ferner
die Erfahrungen in denjenigen Ländern, in welchen trotz endemischer
Lues die Paralyse unbekannt bleibt. Rüdin *) fand in Algier nach vielen
Nachforschungen nur zwei Paralytische, einen Fremdenführer lind eine
ehemalige Prostituierte, obwohl an manchen Orten 60 von 100 Personen
luisch befallen waren. Rüdin leitete der gleiche Gedanke, welchen Kraep^lin
seinerzeit aussprach, daß diejenigen Völker, welche noch auf einer niedrigen
Kulturstufe verharren, von der Paralyse verschont bleiben. Die Ansicht
Kraepelins in betreff des völligen Fehlens der Paralyse bei der eingeborenen
Bevölkerung der Insel Java scheint sich nicht zu bestätigen, denn in der
neuerbauten javanischen Landesirrenanstalt zu Lavany wurden während
der Jahre 1902—1905 5—3 % Paralytische beobachtet, und zwar ge¬
hörten die paralytischen Javaher nach dem Beruf mit Ausnahme von
drei Landwirten zu den kommerziellen und industriellen Berufskreisen.
Allem Anschein nach waren es mehr-zufällige Momente, welche zur Zeit
der Anwesenheit von Kraepelin die Paralyse in Java vermissen ließen *).
Ähnlich dürften auch die Angaben von Rüdin nicht absolut zu werten sein,
denn Meilhon 4 ) zählte unter 253 Araberaufnahmen in den Jahren 1877
bis 1890 — 13 Paralysefälle (5,13 % der Aufnahmen). Trotz dieser Korrek¬
turen muß man aber als feststehend annehmeh, daß alle diejenigen Völker
und Nationen, welche noch nach alter Väterart ein primitiveres, natür¬
licheres Leben unter ländlichen Lebensbedingungen führen, von der
Paralyse verschont beiben. Sobald Einzelpersonen oder ganze Völker
ihren Beruf aufgeben und die natürliche Lebensweise mit einer zivilisierten
vertauschen, beobachtet man als Reaktion die pr. P. Die Araber, von
denen Meilhon berichtete, hatten alle mit ihrer früheren Lebensweise
gebrochen, waren Stadtbewohner und hatten europäische Berufe an¬
genommen. Unter den javanischen Paralytikern finden wir •Händler,
Soldaten, Marinematrosen usw. Sobald man die soziologischen Faktoren
als maßgebend für die Entstehung der pr. P. betrachtet, so erklärt sich
auch, daß noch vor 50—60 Jahren die pr. P. bei den älteren Ärzten als
Seltenheit galt, denn die soziale Umwälzung beginnt erst in den letzten
Jahrzehnten und vollzieht sich mit Riesenschritten. In Deutschland
lebt bereits die Hälfte der Einwohner in den Städten und hat das Land
verlassen. Es ist daher auch kein Zufall, daß die Lehrbücher der inneren
Medizin der Gegenwart die pr. P. mitberücksichtigen, während die be¬
liebten alten Handbücher die Schilderung dieser Krankheit den SpeziaL
») Vgl. Schröder, Neurol. Zentralbl. 1910, S. 565; ferner Arch. L
Psych. Bd. 44, Arndt u. Junius, S. 508 f.
2 ) Rüdin, Allg. Zeitschr. 1910.
8 ) van Brero, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 69.
4 ) Krafft-Ebing, Jahrb. f. Psych. Bd. 13, S. 137.
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L'ber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 645
werken überließen. Die Anschauung Westhoffs, die Paralyse sei eine
Rassenkrankheit, ist derart phantastisch, daß es schwer hält, dieselbe zu
diskutieren. Ein klassisches Beispiel für den Umstand, daß die veränderte
Lebensweise den Boden für das Auftreten der pr. P. vorbereitet, bilden
die Westjuden. Der Zug der Westjuden in die Stadt, speziell in die Gro߬
städte, wächst von Jahr zu Jahr, und Hand in Hand mit der Abwanderung
aus den kleinen natürlichen Verhältnissen verändert der Jude Sitten und
Anschauungen. Er lebt freier, er beobachtet nicht mehr die peinlichen
Riten, er genießt Alkohol und verfällt der Lues. Die Zeiten, da die Juden
alkohol- und luesfrei waren, gehören in Westeuropa der Geschichte. Nach
den Arbeiten von Sichel 1 ) scheint die Zunahme der pr. P. bei den Juden
unbestreitbar und der soziale Faktor als vorbereitendes Moment für die
Auslösung der pr. P. erwiesen.
Außer der Lues erzeugt die Lepra ein schweres Nervengift,
und bei der weiten Verbreitung. dieser Endemie in Livland lag
die Frage nahe, ob nicht das Lepragift analog der Lues spezif.
Psychosen hervorrufe. Allem Anscheine nach scheint aber das
Lepragift das Gehirn wesentlich anders zu beeinflussen, als die
Lues. Trotzdem die Lepra schwere degenerative Veränderungen
an den Nervenzellen und an den Nervenfasern erzeugt, sind
spezifische Lepra-Psychosen unbekannt. Ein Lepröser, welcher
Aufnahme fand, litt an der Nervenlepra und zugleich an einer
manischen Seelenstörung, welche in kurzer Zeit einem geordneten
Verhalten Platz machte.
Die chronische Alkoholentartung und die alkoho-
logenen Erkrankungen wurden in geringer Anzahl beobachtet.
Delirante Alkoholiker wurden nicht eingeliefert. Gewöhnlich
hatten sich die Kranken auf den weiten Wegen zur Anstalt be¬
reits beruhigt. Die Fälle alkohologener Entartung betrafen in
der Mehrzahl Kranke, welche viel in den Städten gelebt hatten
oder den freien Berufen auf dem Lande angehörten. Es wäre
nun durchaus verfehlt, aus der Seltenheit der Alkoholpsychosen
(3% der Aufnahmen) irgendwelche Schlüsse in bezug auf die
Verbreitung des Alkoholismus in Livland zu ziehen. Aller Wahr¬
scheinlichkeit nach hält man es in bäuerlichen Kreisen nicht der
Mühe wert, Trunksüchtige zu behandeln und für dieselben Geld
auszngeben, man versucht eben so lange als möglich eine morali-
*) Sichel, Arch. f. Psych. Bd. 52.
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646
Behr.
sierende Behandlung und verwendet ihre Arbeitskraft bis zum
Äußersten. Die Seltenheit alkohologener Psychosen bei der Land¬
bevölkerung Livlands hatten bereits Michelson und Tschesch 1 )
hervorgehoben. Trunkexzesse und Rauschzustände sind bei der
bäuerlichen Bevölkerung gewöhnliche 'Vorkommnisse, dieselben
dürfen aber in keiner Weise als Index für die Häufigkeit alke-
hologener Psychosen herangezogen werden und erlauben gleich¬
falls keinerlei Schlüsse über die Verbreitung des Alkoholismns.
Der Landmann sucht den Exzeß und den Rausch. Der Alkohol
dient weniger geselligen Zwecken, als Rauschzwecken.
Der Alkohol wird mit vollem Bewußtsein seiner Wirkung als Rausch -
mittel, nicht als Medium der Geselligkeit genossen. Es besteht geradezu
das Bedürfnis nach schnell rauschenden Getränken und der Wunsch,
für wenig Geld möglichst schnell sich zu berauschen. Im gewissen Sinne
liegt in dem Exzeß, wenn er sich nicht täglich häuft, ein gewisser Schutz
gegen die chronische Alkoholentartung. Ist der Rausch vorüber, so geht
der Landmann an die Arbeit, während in den Städten der beständige
Alkoholgenuß und das Sitzen in den Wirtshäusern unaufhaltsam die
Entartung befördert. Trotzdem in den letzten Jahren von allen Seiten
der Kampf gegen den Alkoholismus geführt wird und eine große Propa¬
ganda gegen den Alkohol im Gange ist, so beobachten wir nun zu unserem
größten Erstaunen die Ausbreitung eines neuen bisher unbekannten
Rauschmittels, welches den Alkohol ersetzt. Es handelt sich um den
Mißbrauch von Äther oder „liquor, liqua“, wie derselbe hierzulande genannt
wird. Die Propaganda gegen die berauschenden Getränke darf nicht bei
dem Alkohol haltmachen, sondern mit allem Nachdruck müssen die
weitesten Kreise vor den billigen Ersatzmitteln des Alkohols, dem Äther
resp. dem Methylalkohol, gewarnt werden. Im Baltikum wurde der Äther¬
mißbrauch zuerst bei der litauischen Bevölkerung in Ostpreußen in den
durchaus ländlichen Kreisen Memel und Heydekrug beobachtet a ). Im
estnischen Sprachgebiet Livlands ist der Äthermißbraüch besonders
heimisch, und es läßt sich feststellen, daß in Gegenden, in welchen der
Alkoholgenuß anscheinend beschränkt ist, der Verbrauch an ,,liquor“
zunimmt. Von der Stadt Werro aus verbreitete sich der Ätherhandel über
ganz Livland, und bei dem Einholen von Anamnesen stößt man immer
mehr und mehr auf die Angaben über den Gebrauch oder den Mißbrauch
dieses Mittels sowohl bei Alkoholischen als auch bei den anderen Geistes¬
kranken. Ein jugendlicher Kranker, welcher anscheinend an einem ein-
x ) Michelson u. Tschesch, Die Dorpater Psychiatrische Klinik 18X1
bis 1891 (russisch). Westnik Psvch. Bd. 9, S. 280.
2 ) Sommer, Neurol. Zentralbl. 1899.
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Über die Form der Psychosen* bei der Landbevölkerung in Livland usw. 647
fachen Verblödungszustände litt, hatte bereits seit seinem 10. Lebens¬
jahre täglich Äthertropfen getrunken. Die Alkoholiker, welche in den
letzten Jahren aufgenommen wurden, waren fast alle kombinierte Alkohql-
und Äthertrinker. Ein lettischer Äthertrinker verstarb unter dem Bilde
der progressiven Paralyse. Die Autopsie ergab eine fettige Entartung
aller inneren Organe, eine Atrophie der Magenschleimhaut, Leptomenin-
gitis ehr., Hydrocephalus intern., Pachymeningitis ehr. externa. Eine
Esthin, welche jahrelang Äther mißbraucht hatte, wurde in einem schweren
Erregungszustände eingeliefert und verstarb schnell. Bei der Autopsie
fand man eine sklerotische Entartung sämtlicher Hirngefäße, eine Er¬
weichung im Parietallappen und eine kleine Narbe in der rechten Capsula
'tnterna. Obwohl ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Äthermi߬
brauch und diesen Befunden nicht absolut nachweislich ist, so besteht
doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, diese Befunde auf den Äthermi߬
brauch zu beziehen. Die Folgen des Äthermißbrauchs unterscheiden
sich nicht wesentlich von den Folgen der alkoholischen Entartung und
bieten nichts Spezifisches. H. Sieben J ) berichtete neuerdings über litauische
Äthertrinkerinnen in Libau und betonte gleichfalls die schweren seelischen
und körperlichen Veränderungen infolge dieses Rauschmittels. Um sich
eine Vorstellung von dem Äther verbrauch in Livland zu verschaffen,
seien folgende Angaben des Dr. Luhs erwähnt: Auf der Eisenbahnstation
Werro wurden im Jahre 1908 1202 Pud, in der ersten Hälfte des Jahres
1909 1231 Pud = 20 164 kg Äther unter der Marke Kollodium eingeführt.
In Geldwert berechnet, betrug die Ausgabe für Äther 100 000 Mark.
Es ergibt sieb aus diesen Darlegungen, daß die exogenen
Geisteskrankheiten eine geringe Aufnahmequote bilden, und daß
die Landleute noch immer vor gewissen Kulturschäden bewahrt
sind. Dagegen überwiegen endogene Geisteskrankheiten. Das
Landleben als solches und die Arbeit auf dem Lande an sich
bieten keinerlei Schutz vor Geisteskrankheiten.
Geisteskrankheiten sind in Stadt und Land weit verbreitet. In
Bayern hatte Mayer 2 ) im Jahre 1877 festgestellt, daß auf 10 000 in den
Geburtsbezirken Geborenen sich in den unmittelbaren Städten 13,65
Blödsinnige und 18,54 Irrsinnige fanden. In den Bezirksämtern wurden
15,53 Blödsinnige und 8,81 Irrsinnige gezählt. Aus diesen Zahlen folgt
einmal ein Gegensatz von Stadt und Land in bezug auf „Irrsinnige und
Blöde“. In den Städten gab es mehr Irrsinnige, auf dem Lande mehr
Blöde. Zweitens schien die Häufigkeit für den „Irrsinn“ in den Städten
*) H. Sieben , Zeitschr. f. Psych. Bd. 73.
2 ) Realenzyklopädie Bd. 7, S. 288; ferner Moll , Der Einfluß des
großstädtischen Lebens auf* das Nervensystem, 1902.
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648
Behr
zu überwiegen. Ob diese Zahlen den. tatsächlichen Verhältnissen ent¬
sprechen, läßt sich schwer entscheiden. Aus allgemeinen Gründen muß
man jedoch an der absoluten Gültigkeit dieser Statistik zweifeln, denu
zur Entscheidung dieser Frage, ob Irrsinnige und Blödsinnige in Stadt
und Land quantitativ differieren, wäre unbedingt eine genaue Kenntnis
aller im Lande freilebender Geisteskranken notwendig. Eine derart genaue
Statistik ist in Mitteleuropa erst im Werden und daher die Entscheidung
dieser Frage zurzeit unmöglich. In Livland verdanken wir Luiga Angaben
über die Verbreitung von Geisteskranken auf dem Lande. Luiga (a. a. O.)
zählte persönlich im Kreise Dorpat in 11 Kirchspielen 761 Geisteskranke
bei einer Gesamtbevölkerung von 98 083, d. h. einen Geisteskranken auf
128 Einwohner resp. 7,9 : 1000. Obwohl diese Zahlen nur im Kreise Dorpat
gewonnen wurden, so ist doch .kaum anzunehmen, daß der Dorpater Kreis
andersartige Bedingungen darböte, und man darf die Zählungen von Luiga
ceteris paribus für ganz Livland als maßgebend ansehen. Ob sich in der
Häufigkeitsquote der Geisteskrankheiten ein Gegensatz von Stadt und
Land beobachten läßt, ist aus dem Luigaschen Material nicht ersichtlich.
Die angegebenen Zahlen stimmen jedoch durchaus überein mit den
Zählungen, welche aus anderen Ländern vorliegen, und lassen nur den
Schluß zu, daß, obwohhdie Form der Psychosen in der Stadt und auf dem
Lande eine verschiedene ist, die Gesamtquote der Geisteskranken im großen
und ganzen dieselbe bleibt. Unabhängig von dem Gegensatz Stadt und
Land in bezug auf die Häufigkeitsquote der Geisteskrankheiten, beobachtet
man in der ganzen europäischen Kulturwelt ein starkes Anschwellen der
verpflegungsbedürftigen Geisteskranken. Alle Irrenanstalten sind an¬
dauernd überfüllt. Nach den sorgfältigen Untersuchungen von Wilmanns x )
im Großherzogtum Baden muß man schließen, daß die Zahl der Geistes¬
kranken nicht nur relativ, sondern auch absolut wächst. Die Annahme,
als ob die Zahl der Geisteskranken in England im Abnehmen begriffen sei.
war irrtümlich und beruhte nur auf Schwankungen in der Häufigkeits¬
quote der Jahre 1904—1906. In den folgenden Jahren machte sich erneut
ein Anwachsen von Geisteskrankheiten in England bemerkbar. Aller
Wahrscheinlichkeit nach dürfte auch in unseren Landen die Zahl der
verpflegungsbedürftigen Geisteskranken anwachsen, da wir unter ähn¬
lichen Bedingungen leben wie die übrigen Kulturvölker des Westens.
Wir sind Zeugen eines geschichtlichen Umwälzungsprozesses,, Wir sehen
vor allem in Südlivland im lettischen Sprachgebiet den Übergang und
die Umwandlung des lettischen Landvolkes in eine städtische Bevölkerung.
Das lettische Landvolk drängt zur Stadt und trägt nicht nur zur Bildung
eines Mittelstandes, sondern vor allem zur Verstärkung der Arbeiter¬
bevölkerung bei. Ohne Übertreibung darf man behaupten, daß bei dem
Andauern dieser Bewegung das lettische Landvolk einem unaufhaltsamen
1 ) Wilmanns, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Bd. 4; ferner Kraepclin I, S. 162.
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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 649
Untergang entgegentreibt. Auf dem Lande dürfte nur eine dünne lettische
Oberschicht verbleiben, während die Masse der landarbeitenden Bevölkerung
durch Einwanderung fremder Völkerschaften ersetzt werden müßte. In
Mittellivland verbreitet sich das estnische Volkselement, und die estnische
Sprachgrenze schiebt sich alljährlich weiter nach Süden. Die Bewegung
zur Stadt wuchs nach der Revolution des Jahres 1905 zusehends und ist
, nur durch den Krieg zu einem vorläufigen Stillstand gelangt. Niemand
will recht auf dem Lande leben, a% erwarten in der Stadt das soziale
Paradies und die Befreiung vom grundbesitzenden Herrn, sei er Bauer
oder Edelmann. Auffallend häufig begegnet man bei den bäuerlichen
Geisteskrankeri den Spuren einer abgelaufenen Rachitis. Es handelte
sich vorwiegend um die Veränderungen des Kopf Skelettes, des Gesichts¬
schädels und des Brustkorbes. Rachitische Stigmata der Extremitäten
(X-Beine usw.) waren nur vereinzelt zu verzeichnen. Da die Vergleichs¬
zahlen über die Verbreitung der Rachitis bei der gesunden bäuerlichen
Bevölkerung in Livland fehlen, so ist es nicht zu entscheiden, ob die
Rachitis der Irrenbevölkerung als Teilerscheinung einer allgemein ver¬
breiteten Erkrankung aufzufassen oder aber ob die rachitischen Stigmata
als singuläre Erscheinungen zu bewerten sind. Die Tatsachen der ver¬
gleichenden Pathologie 1 ) lehren, daß Tiere, z. B. Affen, welche im Natur¬
zustände niemals an rachitischen Knochenveränderungen leiden, in der
Gefangenschaft, in den Zoologischen Gärten unter dem Einfluß gänzlich
veränderter Nahrung und Lebensbedingungen rachitisch werden. Nach
Analogie der tierischen Pathologie dürfte man in diesem gehäuften Auf¬
treten der rachitischen Knochenveränderungen bei der Irrenbevölkerung
Livlands einen Fingerzeig dafür vermuten, daß der livländische Bauern¬
stand nicht mehr unter natürlichen Lebensbedingungen dahinlebt, sondern
sich in einem sozialen Übergangstadium befindet und alle Lebensverhäli-
nisse sich von Grund aus verändern. Obwohl es zweifellos feststand, daß
die größte Anzahl dieser rachitisch Befallenen Muttermilch erhalten hatte,
so fehlte doch der Schutz gegen die Störungen des Wachstums im osteo¬
genen Gewebe. Ob die Ansicht von Moll (a. a. O. S. 21) zutrilTt, daß in
Deutschland auf dem Lande die Rachitis deshalb so häufig angetroffen
werde, weil die Landleute ihre Wohnungen nicht genügend lüfteten, und
die respiratorische Theorie der Rachitis ( Kassowilsch) recht hat, soll
hier nicht weiter untersucht werden.
Wie bereits hervorgehoben, bildeten die einfachen chroni¬
schen Geisteskrankheiten den Hauptbestandteil der Irren-
bevölkerung der livl. Landesirrenanstalt. Scharf umrissene Krank¬
heitsbilder waren nur ausnahmweise zu beobachten. Die Mehrzahl
der Fälle zeigte ein buntes Gemisch der verschiedenartigsten
1 ) Hansemann, Rachitis des Schädels, 1901.
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Beh r,
Symptome, katatone Erscheinungen, hebephrene Züge, halluzina¬
torische und paranoische Zustände. Depressive Zustande, Me¬
lancholie, das manisch-depressive Irreseim in all seinen Varianten
waren Seltenheiten. In den meisten Kranken, welche bei ihrem
Eintritt in die Anstalt das Bild einer heiteren oder der traurigen
Erregung darboten, ergab doch über kurz oder lang die Beob¬
achtung die Spaltung des psychischen Zusammenhanges, die
schizophrene Erkrankung, die vorzeitige Demenz der Autoren.
Ich bin daher geneigt, an der Hand der bisherigen Erfahrungen
in betreff der Häufigkeitsquote des manisch-depressiven Irreseins
den Angaben fstems (1. c.) beizupflichten und Qaupp zu wider¬
sprechen. Hebephreniem nach dem Typus Kahlbaum-Hecher
waren selten, Katatonien mit charakteristischem Verlauf wurden
bei der bäuerlichen Bevölkerung nicht beobachtet. Die wenigen
typischen Katatonien betrafen Städter. Diese Erfahrung entspricht
durchaus den Anschauungen eines der ersten Schilderer der
Katatonie, Jemen, welcher ausdrücklich hervorhob, die Katatonie
sei bei jungen Leuten vom Lande, „die offen und ehrlich sündigen",
selten, dagegen häufiger in den Städten 2 ). Krampfkranke
wurden nur in den Fällen der Anstalt überwiesen, in welchen es
sich um schwere gemeingefährliche Individuen handelte, oder
sobald die Krampfanfälle sich häuften (3%). Diese Tatsache ist
durchaus begreiflich, da der Landmann den Krampfkranken in
der anfallfreien Zeit nicht missen möchte und seine Arbeitskraft
ausnutzt. Anders in den Städten, in welchen die Krampfkranken
so leichte Gelegenheit zum Alkoholgenuß haben und das Bild
der gewöhnlichen Krampfkrankheit sich mit den Alkoholfolgen
mischt und die Komplikation dazu zwingt, die Kranken so schnell
als möglich in den Anstalten unterzubringen. In betreff der
Klassifikation galt der Gesichtspunkt, nicht das unendlich mannig¬
faltige Detail der Krankheitsbilder zu sichten, sondern nach
Möglichkeit die Wege der Entstehung dieser Zustände klarzulegen
und zu erfassen.
Da es sich uni bäuerliche Geisteskranke handelte, so darf es nicht
weiter wundernehmen, daß der Inhalt der Psychose ein dürftiger war.
2 ) A. Enzyld. d. W. u . K., Bd. XXXIV (1881).
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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 651
..Der philosophische Aufputz“ fehlte, und die Einförmigkeit der bäuer¬
lichen Umwelt spiegelte sich in der Wiedergabe ihrer Erfahrung. Selbst¬
vorwürfe, Selbstanklagen hörte man selten, komplizierte religiöse Skrupel
waren unbekannt. Trotzdem die Kirche scharf bekämpft und als „Herren¬
kirche“ gescholten wird, besteht doch in den weiten Kreisen der bäuer¬
lichen Bevölkerung eine tiefe unmittelbare Religiosität und die Furcht
vor dem Unglauben. Die Höllenvorstellungen, das Braten in der Hölle,
die Schlange als Symbol des Bösen spielen eine große Rolle. Mit der Erotik
haben „die Schlangen“, welche die Menschen peinigen und verfolgen,
bei der bäuerlichen Bevölkerung nichts zu tun. Das Denken des Land¬
mannes ist zu primitiv, um derart verfeinerte Gedankengänge zu bilden.
Ein Kranker ruhte nicht eher, als bis er 12 giftigen Schlangen, welche
er in den Anstaltsmooren eingefangen hatte, die Köpfe abbiß. Er war
sichtlich stolz, „das Böse“ zu bekämpfen. Erotische Wendungen und
Bilder, Anspielungen aus dem Brunstleben der Tiere sind bei den erregten
Frauen gewöhnlich, bei den Männern selten. Die anstößigen Reden und
Gebärden entspringen zum großen Teil der Abwehr. Die geisteskranke
erregte Frau lebt in beständiger Sorge um ihre geschlechtliche Ehre, und
das Denken und Reden ist nur darauf bedacht, abzuwehren und die lüsternen
Männer durch Worte zu bannen. Immer wieder überrascht hinter der
Flut der Unflätigkeiten der sittliche Kern der Persönlichkeit, die Sehn¬
sucht nach der Keuschheit des Lebens im Gegensatz zu den sittenlos
dahinlebenden Geschlechtsgenossen, deren Unzucht und Liederlichkeit
ein Greuel ! Sexuelle Perversitäten sind in der bäuerlichen Welt völlig
unbekannt. Eine gewisse Rolle spielt die Angst vor der sodomitischen
Unzucht, welche durch biblische Vorstellungen genährt wird. Okkultische
Vorstellungen, telepathische Einflüsse, Spiritismus und Hypnotismus
sind dem arbeitenden Landvolke fremd, dagegen lebt der Teufel und der
Glaube an die Besessenheit *).
Alljährlich werden der Anstalt Kranke zugeführt, welche jahrelang
in den Armenhäusern oder in den Zellen der Gemeindehäuser unter den
allerungünstigsten Verhältnissen gelebt hatten. Man begegnete unter
denselben wahren Caspar-Hauser-Figuren, und es kostete die größte An¬
strengung, diese Vertierten von neuem an Menschen zu gewöhnen. Sie
reagierten auf jeden Hinzu tretenden mit angstvollem Heulen und Schreien.
In einem Falle gelang es, den Unglücklichen verhältnismäßig schnell in
einigen Tagen zu beruhigen, indem man denselben überrumpelte und ihm
Speisen in der Nase verrieb und seine Geschmacksorgane reizte. Häufig
litten die Kranken an Kontrakturen der Kniegelenke. In einigen Fällen
handelte es sich um periartikuläre Veränderungen geringeren Grades,
und die Kontrakturen waren einer gewissen Therapie zugänglich, in anderen
Fällen erwiesen sich die Kontrakturen als unheilbar, ln zwei Fällen waren
*) A. Behr, AUg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 63.
Zeitschrift für Psychiatrie, LXXV. 6. 44
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Bein .
die Sehnenschrumpfungen und die Muskelatrophien beider Kniegelenke
derart entwickelt, daß die Kranken nur in sitzender Stellung durch Dreh¬
bewegungen des Rückens und mit den Händen sich fortbewegen konnten.
Die Kontrakturen verliefen völlig schmerzlos und prozedierten in keiner
Weise. Bei der Autopsie des einen Falles fand man die Gelenkknorpel
und die Knochen völlig gesund, dagegen waren die Flexorensehnen ver¬
dickt, geschrumpft und die Muskeln des Gelenkes atrophisch. Cullerre *),
der ähnliche Fälle beschrieb, deutete diese Kontrakturen nach Analogie
der Dupuytrenschen und glaubte, sie kämen durch einen dauernden
inneren Reiz zustande. Die Kontrakturen sind unbedingt auf die un¬
günstigen Lebensbedingungen zurückzuführen und wahrscheinlich die
Folge des beständigen Kauerns auf der Diele und der ungenügenden
Bewegungsfreiheit. Es sei ausdrücklich bemerkt, daß diesen Kranken
katatone Symptome fehlten. Die Kontrakturen in dauernd gekrümmten
Gelenken, welche sich bei den Katatonischen entwickeln, z. B. in den
Fingergelenken, sind in bezug auf ihre Entstehung aus anderen Ursachen
herzuleiten. Auffallend häufig dominierten bei den Kranken Kleinhirn-
symplome, Taumeln, zerebellarer Gang, Ataxie, Adiadochokinese, Hypo¬
tonie, nystaktische Erscheinungen usw. Die Kleinhirnsymptome waren
so hervorstechend, daß man durchaus an die zerebellöse Form der Dementia
praecox von Dufour u. a. erinnert wurde. Geschwisterpsychosen bildeten
etwa 11 % der Aufnahmen und zeigten in der Krankheitsform eine weit¬
gehende gleichartige Vererbung. Puerperalpsychosen wurden nicht be¬
obachtet, Laktationspsychosen waren Ausnahmen. Abgesehen von einigen
Fällen, welche während der Beobachtung schnell und dauernd verblödeten,
zeigte die größte Mehrzahl der Kranken nur ein Befallensein gewisser
Teilgebiete des Seelenlebens, so daß es immer noch möglich war, 50—60 %
zur Arbeit heranzuziehen und ersprießlich zu beschäftigen. Bei der Unter¬
suchung dieser Gruppe bildete das wesentliche in die Augen springende
Symptom die kindliche Geistesstufe, auf welcher diese Personen ver¬
harrten. Die einen erschienen launisch, eigensinnig, läppisch, wider¬
strebten bei dem geringsten Widerspruch, waren reizbar und heftig, wenn
man ihrem Eigenwillen begegnete. Die anderen waren gleichgültig, willen¬
los, gutmütig, hilflos und schwach usw. Die Nachforschungen ergaben,
daß während der Jugend und noch in der Schule niemand bei diesen
Personen an die Möglichkeit eines Versagens dachte, jedoch bei zunehmen¬
den Jahren und wachsenden Ansprüchen fehlte die Fähigkeit, sich in
andere Verhältnisse zu schicken, und es erfolgte ein Zusammenbruch der
Persönlichkeit in Form einer psychischen Erkrankung. Nach der seelischen
Katastrophe verblülTte die Geringfügigkeit der Dauersymptome, die Ein¬
förmigkeit der Krankheitsbilder und vor allem das kindische Gebaren.
Einzelne Schriftsteller deuten dieses jugendliche Wesen der Kranken
*) Cullerre, Neuro!. Zentralbl. 100i, S. 1116.
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Uber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 653
<lahin, daß der Beginn der Psychose in das Jugendalter falle und die
jugendlichen Züge als Residuen des Lebensalters der Erkrankung aufzu-
fassen wären ( Tschisch, Krainski 1 )). Diese Auffassung dürfte kaum zu
Recht bestehen, denn es ist nicht angängig, einen Zeitfaktor für die Form
der Psychosen als maßgebend hervorzuheben. Die Zeit spielt im Leben
dieser Menschen die geringste Rolle, wohl aber liegt es in ihrer Anlage
fest begründet, als „ewige Kinder“ ihre Tage zu beschließen und in ihrer
seelischen Entwicklung auf einer Jugendstufe zurückzubleiben. Während
ihrer Jugendjahre sind diese psychisch infantilen Konstitutionen schwer
gefährdet und beanspruchen in der Erziehung eine große Sorgsamkeit.
Der unbedeutendste Vorfall, irgendein unerwartetes Ereignis wirft sie
aus dem Geleis und erzeugt pathologische Reaktionen. Ist man auch
geneigt, die Angaben der Angehörigen in betreff der Ursachen der psy¬
chischen Erkrankung noch so gering zu werten, so läßt es sich andererseits
nicht in Abrede stellen, daß im Leben vieler Geisteskranken von einem
bestimmten Zeitpunkt an eine Art Riß eintritt, welcher die Persönlichkeit
in der Zeit gleichsam teilt und einen kranken Zeitabschnitt von eJnem
relativ gesunden scheidet. Immer wieder erstaunt man über die Gering¬
fügigkeit der Anlässe, welche nach der Meinung der Angehörigen derart
schwere Defektzustände hervorrnfen. Ein junges Mädchen geht in die
Stadt, um einen Dienst anzutreten, und wird beim Antritt ihrer Stelle
geisteskrank. Eine Herdenhüterin begegnet im langvertrauten Revier
einemOrtsfremden und kommt geisteskrank nach Hause usw. Soll man
diese Angaben in Bausch und Bogen verwerfen, oder aber liegt, diesen
Erzählungen ein wahrer Kern zugrunde ? Prüft man alsdann die angeblich
plötzlich Erschütterten, so findet man seelisch-infantile Individuen von
kindlicher Art und kindlichem Gebaren. Aus einer Affektschwankung
entwickelt sich ein Dauerzustand. Sie waren nicht imstande, ihre Erleb¬
nisse rücksichtlich der Folgen einzuschätzen, und erlagen äußeren Ein¬
wirkungen. Die Gemütsbewegung, der Affekt wirkt auf diese wahrhaft
Armen im Geist vernichtend, denn ihre kindliche Artung verträgt keinerlei
unvorhergesehene Ereignisse. Für diese Konstitutionen besteht die Auf¬
fassung von der Bedingtheit der Psychose durch seelische Einwirkung
zu Recht und entspricht der Erfahrung. Die psychogene Entstehung
der Geisteskrankheiten ist ein Stigma des seelischen Infantilismus und
für denselben charakteristisch. Offenbar hatte Legrand du Saulle in seinem
bekannten Werk über die erbliche Geistesstörung seelisch-infantile K 011 -
situtionen vor Augen, wenn er Persönlichkeiten schildert, welche auf
unbedeutende Ursachen ungewöhnlich reagieren, und bei denen in betreff
der Auslösung der Psychose ein Mißverhältnis bestand zwischen Ursache
und Wirkung. Welche Bedeutung die Gemütsbewegungen im Leben der
l ) Tschisch, Krainski, Psychiatr. Zeitschr. (russisch) Nr. 7, S. 164,
1917; vgl. ferner Rizor, Arch. f. Psych. Bd. 4:1, S. 766.
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ßehr,
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chronischen Geisteskranken von seelisch-infantiler Artung besitzen, lä:;
sich während ihres Anstaltaufenthaltes handgreiflich beobachten. In
pathologischen Reaktionen, welche sich vor unseren Augen abspielen, e
statten durchaus einen Rückschluß auf die Möglichkeit der Entstehungv-
Geisteskrankheiten im Anschuß an seelische Erlebnisse. Ein typis:
seelisch-infantiles Mädchen, welches mehrere Jahre ruhig und gleichmaLc.
in der Anstalt dahinlebte, traf unerwartet auf dem Anstaltshofe ihr-:
gestrengen Vater. Sie reagierte augenblicklich mit einem schweren A».*
tationszustande. Derartige Zustände, welche bisher nicht beobacht¬
waren, traten von nun ab in gewissen Zeiträumen immer wieder her
und komplizierten das Krankheitsbild. Ein seelisch-infantiler Mar
begegnete seiner Mutter, nach der er sich innig sehnte und von der er ü
E rfüllung seines Wunsches, die Anstalt zu verlassen, erhoffte. Als a
Mutter seinem Wunsche nicht nachgab, veränderte er sich in wenig:
Stunden. Er stürzte sich aus dem Fenster und verfiel in einen vorüb:
gehenden Traumzustand., Bis zu diesem Vorfall hatte der Kranke p
arbeitet, nach diesem Vorfall war für mehrere Jahre die Arbeitslust ue
das Können erloschen. Ein freundliches, schweigsames, kindliches Inrf
viduum geriet beim Wiedersehen seines herrischen Vormundes undOnk-:
in einen schweren Zornzustand, aus dem sie sich nur langsam erhol:
Wiederholt konnte man es erleben, daß emsige, fleißige Kranke nach d-,
Wiedersehen der Ihrigen die Beschäftigung aufgaben und es nicht mögt':
war, dieselben von neuem an eine geordnete Arbeit zu gewöhnen. Ander¬
seits ließ sich beobachten, daß tiefe Stuporzustande nach dem Wiedersehn
lieber Angehöriger schwanden und die Kranken sich arbeitfähig erwieset
Aus diesen Beispielen, welche sich ja noch unendlich vermehren ließ-
ersieht man die Rolle, -welche Gemütsbewegungen spielen. Teilwe;-
verschlimmern die Affekte vorhandene Zustände, andererseits lösen >
Hemmungen und erleichtern gewissen Individuen das Verhalten zu-
Außenwelt. Die Bedeutung der Gemütsbewegungen im Leben der mar
sehen Konstitutionen ist ja so sinnfällig wie nur möglich und seit jeh
bekannt. Bei einem zirkulär veranlagten Manne wich die depressive Ph.v
plötzlich in wenigen Stunden bei der Nachricht, ihm sei die Ehrenmitglh ’
schalt eines Sängerbundes zuteil geworden. Der psychische Infae
tilismus ist im Gegensatz zu dem körperlichen Infantilismus nicht -
genau bekannt, wie er es seiner Bedeutung nach verdiente. In d<-
Tat, es ist schwierig, die Kennzeichen des psychischen Infantilismi
objektiv und einwandfrei darzustellen und den psychischen Infantilismi
gegenüber der Norm abzugrenzen. Die Schilderungen der Autoren üb-
diese „lebenslänglichen Kinder“ mit ihrer „artfremden JugendbestAndii
keit“ und ihrer eigenartigen Reaktion auf das „äußere Lebensprobien
gelten immer nur für sehr prägnante charakteristische Fälle. In pra\
ist man jedoch gezwungen, die Grenzen dieser Gruppe weiter zu steck- ■
und vor allem diejenigen psychisch Infantilen festzustellen, bei denen
Go^ 'gle
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Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 655
kein Parallelismus zwischen somatischen und psychischen Kennzeichen
äußerlich festzustellen ist 1 ). Das Stehenbleiben auf einer kindlichen Geistes¬
stufe, der Stillstand der geistigen Entwickung, die mangelhafte Aus¬
bildung derjenigen geistigen Funktionen, welche zum Lebenskämpfe
befähigen, charakterisieren den seelischen Infantilismus. Um diesen Kern
gruppieren sich die verschiedenartigen klinischen Bilder, welche zum Teil
durch die Umwelt, zum Teil durch die individuelle Anlage bestimmt
"werden. Der Infantilismus ist der Gattungsbegriff, zu dem sich die ein¬
zelnen klinischen Formen verhalten wie Arten. Vor allem scheint das
Gefühlsleben der Infantilen der Regsamkeit zu entbehren und zeigt einen
geringen Umfang, eine gewisse Enge, wie man nach Analogie der Bewußt¬
seinsenge sagen dürfte. In einigen Fällen gewinnt ein Unlust- oder Lust.-
komplex schnell die Oberhand und verharrt, ohne daß eine Lösung ein-
tritt, in anderen Fällen erschöpft sich das Gefühlsleben in kurzer Lebens¬
frist und ist nicht imstande sich zu regenerieren. Der Gemütszustand der
Stimmungskranken und der Psychisch-Infantilen ist nahe verwandt,
bei den Stimmungskranken fehlt das innere Gleichgewicht, bei den In¬
fantilen die Möglichkeit einer Umstimmung. Unbedingt muß diesen
schweren Störungen des Gefühlslebens ein anatomisches Substrat ent¬
sprechen, sei es im Zentralapparat, sei es in den Bahnen. Es hat manches
für sich, für einzelne Fälle eine Verkümmerung der HeÜweg&cYien Bahnen
.anzunehmen und die Gedankengänge von Thalbitzer*) weiter zu ver¬
folgen. In anderen Fällen weisen die funktionellen Infantilismen auf die
Schwäche des zentralen, spinalen Systems, wie z. B. das häufige Auftreten
-des Babinski -Reflexes als Schutzreflex, bei völlig intakter motorischer
Bahn, oder die „rhythmische Betonung“ gewisser Bewegungen, auf welche
Fauser 8 ) verwiesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehören auch die
Fälle der Dementia praecox, w r elche nach Jung A ) auf psychogenem Wege
zustande kommen, zu der Gruppe der Psychisch-Infantilen und sind von
dieser Voraussetzung aus zu bewerten. Dieses Stehenbleiben auf einer
kindlichen Stufe'hatte schon Hecker für die Hebephrenen gefolgert, und in
neuerer Zeit wurde dieser Gesichtspunkt für die Darstellung des Jugend¬
irreseins von Cramer und seiner Schule eingehend erörtert 6 ). Der Index
der Persönlichkeit, das Maß der seelischen Konstitution bildet die Reaktion
auf äußere Erschütterungen und die Fähigkeit der Anpassung an das
Leben mit seinen Nöten und Qualen.
*) Mathes, Der Infantilismus (daselbst die ganze Literatur), Berlin
1912; ferner wichtig Anton, Entwicklungsstörungen beim Kinde, 1908,
und Digaspero, Arch. f. Psych. Bd. 43.
*) Thalbitzer , Arch. f. Psych. Bd. 47.
3 ) Fauser, Allg. Zeitschr. Bd. 64.
4 ) Jung, Psychologie der Dementia praecox, 1907.
3 ) Jtizor, a. a. O., und Pförringer, M. f. Psych. u. Neurol. Bd. 29.
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Behr,
6:j()
Abgesehen von der individuellen pathologischen Reaktion auf
Gemütsbewegungen, beobachtet man in den verschiedenen Kulturkreisen
einen deutlichen Unterschied in bezug auf das Verhalten gegenüber den
AITekten. Die Psyche der Landleute, die Psyche aller derjenigen Menschen,
welche noch auf einer einfachen Lebensstufe stehen und eine monotone
Lebensarbeit verrichten, unterliegt an sich leichter einer AfTektwirkung
als die Psyche der Menschen der höheren Kulturkreise. Die Persönlich¬
keiten der niederen Kulturkreise sind nicht imstande, ihre Erlebnisse und
Eindrücke schnell und sicher zu verarbeiten und rücksichtlich des Kommen¬
den richtig einzuschützen, und es währt stets längere Zeit, bis dieselben
die Dignität zweier aufeinander folgender Ereignisse beurteilen und aus¬
einanderhalten. Dagegen spielen in dem Seelenleben derjenigen Personen,
welche durch Erziehung, Disziplin oder durch den gesellschaftlichen
Zwang, mit einem Wort durch Bildung erlernt haben, ihre Gemütsbe¬
wegungen zu beherrschen, die Affekte eine geringere Rolle als bei den¬
jenigen, welche nicht von Jugend auf dazu angehalten wurden, die Lebens¬
ereignisse zu sichten und hinsichtlich ihres Wertes zu scheiden. Die Bil¬
dung 1 ) eines Menschen besteht nicht in dem reicheren oder größeren
Vorstellungsmaterial, über welches der einzelne verfügt, sondern wesent¬
lich in der Eigenschaft, schnell von verschiedenen Gesichtspunkten aus
die äußeren Ereignisse zu betrachten, das Wichtige von dem Unwichtigen
zu trennen und die Beziehungen zwischen Innenwelt und Umwelt im
Gleichgewicht zu erhalten. Die Erziehung lehrt den einzelnen reflektieren
und erw’eckt die Befähigung, die unmittelbaren Zustände auseinander¬
zuhalten und dieselben mehr oder weniger nach der Dignität zu beurteilen.
Aus diesem Grunde erliegen so leicht Ungebildete AfTektwirkungen und
ähneln in der Reaktion Jugendlichen oder Kindern. Der Mangel an Re¬
flexion spannt die Erwartung; gläubig und hoffnungvoll erwarten die
Massen der niederen Kulturkreise immer etwas Außerordentliches und
horchen auf die innere Stimme ihrer unmittelbaren Zustände. Es ist daher
nur zu begreiflich, daß es unter Umständen leicht und schnell gelingt,
die Massen zu bewegen, wenn man es versteht, die unmittelbare Erwartung
zu erregen und die Gefühlsverkettung durch Illusionen undj.Worte zu
Taten zu leiten. Im Gegensatz zu diesen Affektreaktionen auf individuelle
persönliche Erlebnisse überrascht die völlige Gleichgültigkeit und Immuni¬
tät gegenüber allen äußeren Gewalten, sei es Krieg oder Revolution.
Obwohl in der Nähe der Front und mitten in der Revolution lebend, wurde
auch nicht ein einziger Geisteskranker beobachtet, welcher infolge dieser
schwerwiegenden Ereignisse innerlich berührt oder hierdurch geisteskrank
geworden wäre. Die Psychisch-Kranken, welche während der Kriegsereig¬
nisse an der Kriegszone eingeliefert wurden, machten auch nicht den leisesten
Versuch, Luftbomben oder Kanonaden als Ursache der Erkrankung anzu-
Vgl. J. E. Erdmann, Glauben und Wissen, 1837, S. 33.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 657
geben, sondern nach wie vor waren es persönliche individuelle Ursachen,
welche Affekte erzeugt hatten und die Psychose auslösten (Arger usw.).
Täglich rollten ganze Wagenburgen von Flüchtlingen auf den Land¬
straßen, welche Haus und Hof aufgeben mußten, welche alles verloren
hatten, aber daß im Zusammenhänge mit der Flucht irgendeiner geistes¬
krank geworden wäre, wurde hier nicht beobachtet, i Dagegen waren nach
dem Vormarsch der Deutschen an die Düna die Landstraßen angefüllt
mit Idioten, Imbezillen, schwachsinnigen Epileptikern und Debilen aller
Art, welche Aufnahme fanden. Derselbe Mann, welcher voller Ärger über
den verlorenen Groschen raste und seinen Affekten freies Spiel ließ, fügte
sich ruhig und gleichmütig höheren Gewalten, und die Gemütserschütie-
rungen unterblieben.
Die Leichtigkeit der pathologischen Reaktion auf individuelle Er¬
lebnisse wird häufig geradezu als Rasseneigenschaft angesprochen. Um
nur ein derartiges Beispiel anzuführen, schreibt Riebel x ) in einer Ab¬
handlung über nervöse Nachkrankheiten infolge eines Eisenbahnunglücks
bei Mühlheim: ,,Die ganze slawische Rasse neigt leicht zu psychischen
Zuständen.“ Dieses Urteil fußte auf der Tatsache, daß von den Ver¬
unglückten an nervösen Folgeerkrankungen eine unverhältnismäßig
größere Anzahl von polnischen Soldaten befallen waren als die deutschen •
Kameraden. Ohne auf die allgemeine Seite dieser Frage einzugehen,
sei im speziellen Falle kurz darauf verwiesen, daß bei der Gegenüber¬
stellung von Polen und Deutschen die Verunglückten nach der Rasse,
nicht aber nach ihrer sozialen Gliederung geschieden waren. Der Bildungs¬
unterschied zwischen Polen und Deutschen ist noch immer ein großer,
und cum grano salis gilt noch heute der Begriff der „polnischen Wirt¬
schaft“. Unzweifelhaft lebt die große Masse der Polen in primitiveren
Verhältnissen als die umwohnenden Deutschen, und die Assimilation
in bezug auf Sitten und Anschauungen ist nur eine äußere. In dem er¬
wähnten Beispiele wäre die stärkere Beteiligung der polnischen Soldaten
an Nervenkrankheiten weniger ein Rassenstigma als ein Kennzeichen
des geringeren allgemeinen Bildungsniveaus und der fehlenden Erziehung
in bezug auf die Reaktion bei unerwarteten Erlebnissen. Was von den
Polen gilt, gilt überhaupt von allon Völkern und Menschen, welche in
einem gewissen Sinne noch primitiv leben oder aber durch ihren Beruf
einförmige Anschauungen bew'ahren. Das gleiche Verhalten beobachten
wir auch bei den Ostjuden, deren Affektreaktionen geradezu sprichwörtlich
sind, und deren geringere Bildungstufe in dem vorhin durchgeführten
Sinn ihren Umwohnern gegenüber evident hervortritt. Die Jahrhunderte
lange Enge des Ghetto, die Abgeschlossenheit des Familienlebens erzeugte
trotz reichhaltiger intellektueller Ausbildung eine Vernachlässigung der¬
jenigen Seiten der Charakterbildung, welche vornehmlich den Bildungs-
1 ) Riebel, Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 31, Erg.-Heft.
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658
Hehr.
begrill charakterisieren. Bei den slawischen Völkern fehlte bis in die
Gegenwart hinein eine ständische Gliederung in der Form, wie sich dieselbe
in Westeuropa geschichtlich entwickelt hatte. Der Abstand zwischen
den niederen Volksschichten und den höheren Kreisen ist ein bedeutender,
und es mangelt die verbindende Mittelschicht. Die intellektuelle Aus¬
bildung gestattet jedem einzelnen einen direkten Aufstieg in die höheren
Kulturkreise, welche in bezug auf Anschauungen und Sitten den Volks¬
kreisen denkbar entgegengesetzt sind. Daher begegnet man in den so¬
genannten höheren Kreisen der slawischen Gesellschaft so überaus hoch¬
stehenden' Intellektuellen, deren übrige Bildung in keiner Weise ihrem
Vorstellungsreichtum entspricht. Aus diesen gesellschaftlichen Wider¬
sprüchen entspringen AfTektreaktionen, Lebensauffassungen und eine
Zerrissenheit des inneren Menschen, welche der westeuropäischen Gesell¬
schaft fremd sind. Die einzelnen Volkskreise in Westeuropa sind in sich
einheitlicher und geschlossener und fußen auf der Tradition, einem BegrifT,
welcher sich in seiner historischen Bedeutung bei den osteuropäischen
Kulturkreisen in dem westeuropäischen Sinne nicht vorfindet. Aus diesem
* Grunde bestehen in der osteuropäischen Gesellschaft die großen Gegen¬
sätze und das fast feindliche Gegenübertreten zweier £ Kulturkreise, der
intellektuellen Oberschicht und des Bauernstandes, welche jeder Ver¬
mittelung entbehren. Bei der Beurteilung von Rasseneigenschaften als
ätiologischen Krankheitsfaktoren wird leider oft gefehlt. Das historisch
Gewordene, das anthropogene Moment wird als endogenes Stammeserbe
bewertet und beurteilt. — Um die Frage der Affektreaktionen bei den
Gebildeten und Ungebildeten zu entscheiden, wäre es überaus wichtig zu
erfahren, wie die Naturvölker auf unerwartete Erlebnisse individuell
reagieren. Die Literatur bietet nach diesfer Richtung nicht die gewünschte
Ausbeute, und in einzelnen Fällen kann man geradezu nachweisen, daß
die aufeinanderfolgenden Autoren entweder alle aus derselben Quelle
schöpfen oder die diesbezüglichen Angaben einer von dem andern über¬
nehmen. Im Jahre 1832 schrieb Friedreich in seiner Diagnostik der psychi¬
schen Krankheiten (S. 101) im Anschluß an eine geographische Nosologie
von Schurrer über die Samojeden und Lappen: ,,Es leiden diese Völker
überhaupt an einer auffallenden Reizbarkeit des Nervensystems. Der
unbedeutende Schall, den sie nicht erwarten, das Pfeifen des Windes usw.,
kann sie in Ohnmächten und Zuckungen versetzen. Wenn man ihnen
unerwartet und plötzlich zuruft, bekommen sie Krämpfe usw.“ Emming-
haus berichtet in seiner allgemeinen Psychopathologie 1878 wörtlich
dasselbe und Byhan in seiner Monographie der Polarvölker 1909 S. 33
wiederholt wortgetreu dieselben Sätze ohne Angaben und Quellen. An
sich hat es viel Wahrscheinlichkeit, daß die Naturvölker auf unerwartete
Ereignisse ähnlich reagieren wie jugendliche Personen oder die Angehörigen
der niederen Kulturkreise, denn das Denken der Primitiven ist im Ver¬
hältnis zur Phantasie nur schwach entwickelt und träge. Der primitive
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Über die Form der Psychose» bei der Landbevölkerung in Livland usw. 659
Mensch sieht unter „der Herrschaft des Unglaubwürdigen“, und jedes
Ereignis, welches vom Gewöhnlichen abweicht, erregt seine Einbildungs¬
kraft und schafTt innere Bedrängnisse. Einerseits j^t der primitive Mensch
frei von allen geselligen Fesseln und „durchstreift als Freiherr seine Jagd¬
reviere“, andererseits aber ist er eingeschüchtert durch eine „kindische
Gespensterfurcht“ und durch „jeden tratzenhaften Traum“ (Peschei).
Dieser Mangel an Selbstvertrauen, die Unfähigkeit, die Ereignisse in ihrer
Dignität zu übersehen, erzeugt den lebhaften Wunsch nach Schutz gegen
unerwartete, unvorhergesehene Vorkommnisse und führt zur Sicherung
der Person durch magische Handlungen, Amulette usw. In gleicher Weise
ist der bäuerliche Mensch, soweit er noch tatsächlich diesen Namen ver¬
dient, beseelt von dem Wunsche, sich gegen Unvorhergesehenes zu sichern
und durch Zaubermittel zu schützen. Da es sich in praxi jedoch als un¬
möglich erweist, sich gegen alles Unerwartete zu versichern, so erzeugt
diese innere Knechtschaft zumal bei minderwertig Veranlagten nur gar zu
leicht krankhafte Reaktionen And affektive Zustände. In allen Kultur¬
kreisen stößt man auf Familien, in welchen Affektreaktionen geradezu
gezüchtet und in den folgenden Generationen nachgeahmt werden. Der¬
artige Affektreaktionen gelten hernach als Konstitutionsanomalien, ob¬
wohl es sich in Wirklichkeit durchaus um erwbrbene, nicht notwendig zur
Persönlichkeit gehörige, erstarrte Reaktionsformen handelt. Manche
Fälle von familiärem Selbstmord sind von diesem Gesichtspunkte aus zu
deuten. In zwei Arbeiterfamilien meiner Praxis wurden die Stricke, mit
welchen sich die Vorfahren erhängt hatten, in den nächsten Generationen
in der Familientruhe aufbewahrt. Die Enkel hüteten diesen Schatz und
versicherten, sie würden genau so handeln, wie Vater und Großvater resp.
Großmutter und Vater und sich unter Umständen mit denselben Stricken
erhängen wie jene ! Besteht die Auffassung zu Recht, daß die psychisch
Infantilen leichter als andere Konstitutionen auf unerwartete Ereignisse
mit Affekten reagieren, so wäre die Wirkung des Schreckes auf viele
Menschen verständlich und die Entstehung der Schreckpsychosen durch¬
aus begreiflich 1 ). Unbegreiflich und geradezu naiv berühren dagegen Er¬
zählungen wie die von Hak-Tuke in seinem bekannten Werke „Geist und
Körper“ S. 106 von einem in der Wiege liegenden Kinde, welches durch
den Flügelschlag eines Hahnes derart heftig erschrak, daß es als Idiot (!)
aufwuchs. Die Auffassung, daß psychische Ursachen Geisteskrankheiten
auslösen, ist in den bäuerlichen Kreisen festgewurzelt. Jeder einzelne
dieses Kulturkreises erwächst in diesem Glauben und erwartet unbedingt
bei unvorhergesehenen Erlebnissen die Schreckwirkung. Es ist daher
selbstredend, daß die Psychisch-Infantilen, welche diesen Kulturkreisen
*) Vgl. über die psychischen Ursachen der Psychosen die sehr
lesenswerte kritische Zusammenstellung bei Reichardt, Würzb. Abh. VIII,
S. 12:5.
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Behr,
entstammen und in einer auf den Schreck eingestellten Umwelt leben,
unter Umständen schnell reagieren und der AfTektwirkung unterliegen.
In den städtischen KuUurkreisen ist der einzelne dem Unerwarteten gegen¬
über bedeutend abgestumpfter als in den ländlichen Verhältnissen. Dem
Städter fehlt das Ahnungvolle, der Glaube an das Übersinnliche, und das
Unerwartete imponiert nicht mehr in dem Grade wie in primitiven Ver¬
hältnissen. Da die AfTektreaktionen von Kultureinflüssen und Umwelt
abhängen, so ist es nicht ausgeschlossen, durch Bildung und Erziehung
„suggestiv“ zu wirken und zahlreiche schwache Konstitutionen so weit zu
festigen, daß dieselben nicht notwendig dem Unerwarteten zum Opfer
fallen, sondern wiederstandfähiger dem Leben begegnen. Die Prophylaxe
gegen die AfTektschäden ist möglich, denn es können „selbst Personen
mit den schwächsten Seelen eine unbedingte Herrschaft über ihre Leiden¬
schaften gewinnen, wenn auf deren Erziehung und Leitung die notwendige
Sorgfalt verwendet wird“ ( Cartesius).
Die einfachen endogenen Defektpsychosen bilden gewisser¬
maßen die Urformen der Psychosen und begleiteten den Menschen
seit undenklichen Zeiten. Es ist wahrscheinlich, daß diese Ur-
Psychosen sich in gewissen Grenzen hielten, so lange die Mehrzahl
der Menschen auf dem Lande lebte und die Kulturschäden der
Städte sich nicht in dem Maße bemerkbar machten, wie in der
Gegenwart, in welcher der lebhafte Verkehr die Grenzen von
Stadt und Land aufhebt, der Gedankenaustausch durch die Presse
die Eigenart des Landes verwischt, der städtische Einfluß sich in
allen Beziehungen bemerkbar macht und die Unterschiede von
Stadt und Land mehr und mehr verschwinden. Wenn die
Missionare und Reisenden aus Ländern mit einer primitiven
Kulturstufe so wenig von Geisteskranken berichten, so ist sicherlich
nicht der Zufall allein im "Spiel, sondern die Zahl der verpflegung¬
bedürftigen Geisteskranken ist direkt abhängig von den sozialen
Faktoren des Landes. Im Jahre 1846 schrieb der Gouverneur
von Estland, daß die Zahl d$r Wahnsinnigen, welche ihrem
Zustande nach eine besondere Verpflegung bedürfen, äußerst
gering sei, und daß im Laufe mehrerer Jahre nicht ein Wahn¬
sinniger vorgekommen sei, der für Rechnung des Kollegiums der
allgemeinen Fürsorge zu unterhalten gewesen wäre. Wenn auch
ein derartiges Schreiben heute anachronistisch anmutet, es ist
trotzdem als sicher anzusehen, daß vor 60 und mehr Jahren die
Zahl der Geisteskranken in den Ostseeprovinzen weniger hervor-
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Uber die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 6(31
trat als in des Gegenwart, da das Land seinen Charakter ver¬
ändert und die primitiven Zustände verschwinden. Die stets
wachsende Zahl der verpflegungbedürftigen Geisteskranken ist
der Reflex der sozialen Umbildung und der Auflösung der histori¬
schen Struktur des Landes. Der^ neuerdings wieder hörbare Ruf:
Zurück aufs Land, kommt zu spät. Das alte Wort von Guislain
läßt sich auch auf Livland anwenden: „ln der gegenwärtigen
sozialen Erziehung liegen große Gefahren für das Gemüt, in ihr
liegen viele Leiden, solche jener Menschenklassen, welche die
Verhältnisse verlassen, auf die sie die Natur angewiesen.“ Vor¬
wiegend ist das lettische Landvolk an dieser sozialen Umwandlung
beteiligt, und in diesem Umstand liegt der Schlüssel zur Psycho¬
logie so vieler auffallender Eigenschaften dieses Volkes, vor
allem der Neigung zu extremen sozialen Strömungen und phan¬
tastischen sozialen Experimenten. Die in Westeuropa heimischen
sozialen Ideen gelangen zu einem Volke, welches sich von der
Scholle und den althergebrachten Anschauungen löste, und welches
in einer Umwälzung begriffen ist. Begierig werden mit dem
neuen Wohnsitz die neuen Ideen eingesogen und der bäuerliche
Volkscharakter verändert. Auf die noch zu Hause verbleibenden
Volksgenossen wirken die neuen Ideen magnetisch, und der
soziale Auflösungsprozeß schreitet unaufhaltsam fort. Anders die
Esten! Noch haftet der estnische Landmann in seiner Mehrzahl
am Boden, er breitet sich aus, ist fruchtbar und erobert alljährlich
neue Landstrecken. Der Este ist nicht in dem Maße der sozialen
Umschmelzung unterworfen wie der Lette. — In Livland lebten
im Jahre 1893 auf dem Lande und in den Städten 563 829 Letten
und 518 594 Esten. Die Letten gehören in bezug auf ihre
Sprache zum indogermanischen Sprachstamm, die Esten zu dem
finnisch-ugrischen Sprachstamm. Ob zwischen diesen beiden
Volksgruppen auffällige Rassenunterschiede bestehen, erscheint
fraglich, zumal wenn man erwägt, daß beide Völker seit Jahr¬
hunderten dasselbe Land bewohnen, die gleichen Schicksale teilen
und derselben Konfession angehören. Die ursprünglichen Rassen-
*) Jaspers, Psychopathologie; Kap. VII; Die soziologischen Be¬
ziehungen des abnormen Seelenlebens.
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Behr,
unterschiede sind im Laufe der Zeiten durch zahlreiche Kreuzungen
mit den Umwohnern und Zuwanderern längst verwischt, und in
der Gegenwart bildet die Verschiedenheit der Sprache den wesent¬
lichen Unterschied der Völker. Die Letten und Esten waren
bis vor einigen Dezennien ausschließlich. Landbewohner und
unterschieden sich als Bauernvölker von der städtischen Bevölke¬
rung, welche vorwiegend sich aus- Deutschen zusammensetzte.
Der Gegensatz von Stadt und Land wurde durch die Verschieden¬
heit der Sprache, dort deutsch, hier lettisch resp. estnisch, und
die verschiedene soziale Stellung wesentlich verschärft und die
Kluft zwischen Deutschen und Undeutschen tiefer als in Ländern
mit einer einheitlichen Bevölkerungsgruppe. Die Form der
Psychosen zeigt daher bei Letten und Esten keinerlei prinzipielle
Unterschiede, es sei denn in neuerer Zeit den Gegensatz Stadt
und Land. In den städtischen Kulturkreisen öberwiegen die
äußeren Schäden, auf dem Lande besteht eine größere Abhängig¬
keit von inneren Faktoren. Dort sind es mehr Kulturschäden,
hier Affektschäden, welche die Psychosen bedingen und charak¬
terisieren. H. Sichert (1. c.) beobachtete bei der lettischen Irren¬
bevölkerung des kurländischen Industriebezirkes Libau anscheinend
ein stärkeres Hervortreten katatoner Züge und ungewöhnlich
häufig das Auftreten melancholischer Störungen im Vergleiche
mit den übrigen Bevölkerungsgruppen, den Deutschen, Russen
und Juden. Ob diese Verschiedenheit auf die veränderten Lebens¬
bedingungen in der städtischen Umwelt zurückzuführen ist, oder
ob andere Faktoren diese völkischen Differenzen in der Form
der Psychosen bestimmen, ist schwer zu entscheiden. Die Meinung
russischer Irrenärzte (Mamonow, Herzenstein), welche auf Grund
der Rekrutenaushebung der Jahre 1876—1882 gewonnen war,
daß die Letten und Esten häufiger an den Formen des degene-
rativen Irreseins litten, als die übrigen Völkerschaften des Russi¬
schen Reiches, soll nur nebenher erwähnt werden. Die Resultate
der Rekrutenaushebung sind in keiner Weise ausreichend und zu
einseitig, um derart schwerwiegende völkerpsychiatrische Fragen
zu entscheiden. Die annähernd gleiche Zahl der Geisteskranken
bei den Letten und Esten (1:128. cf. Luiga 1 . c.) wie auch in
den übrigen Kulturländern Europas, beweist, daß trotz gewisser
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über die Form der Psychosen bei der Landbevölkerung in Livland usw. 663
kultureller Verschiedenheiten in der gesamten europäischen Kultur¬
welt doch gleiche Lebensbedingungen vorhanden und die gleichen
Schädlichkeiten wirksam sind. Die soziologischen Faktoren
bestimmen sowohl die Form der Psychosen als auch die Art
ihrer Verbreitung, „und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle
Gestalten mächtig zurück“ (Goethe).
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/
Die Vorgeschichte hei Neurosen und ihre Be¬
deutung für die Dienstbeschädigungsfrage.
Ein Hinweis.
Von
Stabsarzt Dr. Max Rohde in Erfurt.
Die alten Streitfragen, die sich schon seit langen Jahren an
den Begriff der traumatischen Neurose knüpften, haben durch
ddn Krieg für den Militärarzt eine besondere praktische Bedeutung
gewonnen und zwar mit Rücksicht auf die Notwendigkeit, zu
entscheiden, ob für die im Kriege hervorgetretenen Zustände dieser
Art eine Dienstbeschädigung bezw. Kriegsdienstbeschädigung an¬
zunehmen ist oder nicht.
Die sich hieraus ergebenden Fragen sind denn auch noch nicht
wieder zur Ruhe gekommen, seit sie im Kriege zuerst auf der Kriegstagung
der Gesellschaft deutscher Nervenärzte zu München am 22. und 23. 9. 16
zurjDiskussion standen, und noch immer stehen sich ziemlich unvermittelt
zwei Ansichten dabei gegenüber. Auf der einen Seite stellt Oppenheim —
freilich ohne die thymogene Ätiologie und die ideogene Entstehung von
Symptomen dabei zu leugnen — die Wirksamkeit des mechanischen
Insults in den Vordergrund und hebt aufs entschiedenste die traumatische
Neurose als eigene Krankheit immer wieder hervor, während auf der andern
Seite besonders Caupp und Bonhöffer das Hauptgewicht auf den endogenen
Faktor legen und die Folgeerscheinungen eines Traumas nur als eine in
der krankhaften Anlage, der prämorbiden Persönlichkeit begründete Re¬
aktion auffassen, die sich in kurzer Zeit wieder ausgleichen würde, wenn
nicht sekundäre, vorn Trauma unabhängige seelische Vorgänge (Wünsche.
Begehrungen) den Ausgleich hintanhielten. Demgemäß hat schon Caupp
in der Sitzung der Gesellschaft deutscher Nervenärzte vom 22. und 23. 9. 16
betont, daß die Prognose der kriegsneurotischen Zustände hauptsächlich
von der prämorbiden Persönlichkeit, ihrem Charakter und ihrer seelischen
Stellungnahme zum Kriege, vom Ort und von der Behandlung, von der
Dauer des Krieges, der Gestaltung des Arbeitsmarktes und der Lösung der
Renten- und Abfindungsfragen abhänge, und er hat im Schlußwort vor-
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 665
Jangl, daß zu den neurologischen Detailuntersuchungen der Krankheits¬
bilder die psychiatrisch-psychologische Gesamtanalyse der Persönlichkeit
und nachdrückliche Bewertung der allgemeinen Erfahrungen soziologischer
und statistischer Art hinzutreten müssen. Ich will hier nicht auf die
ganze seither entstandene Literatur zu diesen Fragen eingehen; die kürzlich
erschienenen „Anhaltspunkte für die militärärztliche Beurteilung der
Frage der Dienstbeschädigung oder Kriegsdienstbeschädigung bei den
häufigsten psychischen und nervösen Erkrankungen der Heeresa(igehörigon
(auf Grund von Beratungen des Wissenschaftlichen Senats bei der Kaiser
Wilhelm-Akademie)“ kommen auf Grund aller Erfahrungen zu folgenden
hauptsächlichsten Feststellungen:
„Bei. der psychopathischen Konstitution und den angebornen
Schwachsinnsformen liegt es im Begriff, daß der krankhafte Äustand bei
der Einstellung bestanden hat. Eine genauere Untersuchung der früheren
Persönlichkeit ergibt aber, daß auch die anscheinend durch den Krieg
verursachten neurotischen und psychopathischen Störungen nach überein¬
stimmenden Erfahrungen in der großen Mehrzahl der Fälle auf dem Boden
einer vorher bestehenden psychopathischen Konstitution erwachsen. Die
Tatsache der starken Beeinflußbarkeit der psychopathischen Konstitution
durch äußere Verhältnisse bringt hier in besonderer Häufigkeit die Frage
der Verschlimmerung eines bestehenden Zustandes zur Erwägung. Wie
man sich wissenschaftlich zur Frage der Entstehung der bei Heeresange¬
hörigen in diesem Kriege beobachteten Neurosen (sogenannte Kriegs¬
neurosen ) auch stellen mag — ob man ihre körperliche oder seelische Her¬
kunft vertritt, ob man sie als individuelle Reaktionen ansieht oder als
krankhafte Reaktionen von Psychopathen, ob man sie als thymogene oder
ideogene Krankheitserscheinungen wertet, ob man ihre episodische Natur
betont —, für die Annahme von D.B. oder Kriegs-D.B. kommt es lediglich
auf die Feststellung an, daß für die neurotischen Krankheitserscheinungeji,
die zur Zeit der gesetzlich vorgesehenen Erhebung von Versorgungenn-
sprüchen vorliegen, Einwirkungen, die mit dem Militärdienst oder mit den
besonderen Verhältnissen des Krieges Zusammenhängen, also exogene
Einflüsse als wesentlich mitwirkende l'rsache anzusehen sind. Dabei ist
es gleichgültig, ob die ursächliche Einwirkung in einer Erzeugung, Aus¬
lösung, Verschlimmerung oder Fixierung der vorliegenden Krankheits¬
erscheinungen besteht.“
Die Anweisung weist auch auf die u. l\ ausschlaggebende ursächliche
Bedeutung einer krankhaften Anlage für das Auftreten und Fortbestehen
neurotischer Störungen hin und legt dem Militärarzt die Pflicht auf, in
jedem Einzelfalle festzustellen, ob schon vor dem Einsetzen der ange¬
schuldigten exogenen Schädigungen ein endogener krankhafter Zustand
Vorgelegen und wie und unter welchen Bedingungen er sich geäußert hat.
Es wird damit die enorme Bedeutung der Vorgeschichte in
den Vordergrund gerückt, die nach meiner Ansicht gerade zur
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R o h d e,
Abwägung, ob man von einer wesentlichen Verschlimmerung
wird reden können, nicht ausführlich genug sein kann. Leider
aber wird hiergegen im allgemeinen noch viel zu sehr gesündigt,
und jgerade aus Rentenakten, die mir aus Anlaß von Nach-
Prüfungen und Nachuntersuchimgen zu Gesicht gekommen sind,
habe ich den Eindruck gewonnen, daß sehr oft nur deshalb
Leute eine Rente erhalten hahen, weil die Vorgeschichten bezüg¬
lich der ganzen Artung und der Lebensführung vor dem Kriege
gar zu dürftig sind. Und nicht viel anders ist es mit Kranken¬
geschichten zahlreicher Kranker, die oft schon wochen- und
monatelang in Lazaretten waren, und in denen kaum oder über¬
haupt nicht diese Punkte gestreift waren. Und dabei möchte ich
darauf hinweisen, daß das nicht nur für Nervöse gilt, sondern
auch für sehr viele, die als innerlich Kranke galten und im
Grunde doch nur dem Heere der sogenannten Nervösen zuzurechnen
sind. Ich möchte hier vor allem jener Kranken gedenken, die
unter der Krankheitsbezeichnung des Rheumatismus laufen, die
aber im Grunde gar nicht Rheumatiker sind, und bei denen sich
hinter den rheumatischen Beschwerden, die geklagt werden, nur
eine psychopathische Minderwertigkeit und Wehleidigkeit verbirgt.
Mir sind im Laufe meiner Tätigkeit im' Felde zahllose Kranken¬
geschichten zu Gesicht gekopimen, in denen — ich kann nicht
anders sagen — in etwas leichtfertiger Weise die Diagnose
„Gelenkrheumatismus“ oder „Muskelrheumatismus“ gestellt ist,
und bei denen es sich um Leute handelte, die nie das mindeste
Fieber gehabt hatten, bei denen nach den Krankenblättern nie
irgendein objektiver Befund festgestellt wurde, und bei denen
doch, wie es scheint, nur auf ihre Klagen hin diese Krankheits¬
bezeichnungen gewählt sind. Ich habe eine ganze Zahl solcher
Leute später nervenärztlicli untersuchen können und kann nur
sagen, daß diese Fälle fast durchgängig schwere Neuropathen.
Astheniker, Alkoholiker wäre#, bei denen sicher der Krieg nicht
im entferntesten ein rheumatisches Leiden gesetzt hat, sondern
bei denen wir es entweder mit leichten Ermüdungserscheinungen,
psychopathischer Wehleidigkeit oder einer alkoholischen, wie sich
feststellen ließ, seit langen Jahren bestehenden Neuromyositis zu
tun hatten. Woran es lag, daß diese Grundlagen übersehen wurden.
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw.
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ist meines Erachtens und nach meinen Erfahrungen immer nur
die Aufnahme einer absolut unzureichenden Vorgeschichte ge¬
wesen. Die meisten derartigen Krankengeschichten enthielten
nur die gegenwärtigen Klagen des Kranken und vielleicht An¬
gaben über ihre Laufbahn im Kriege, allenfalls noch die Angabe
über einige schwere Krankheiten des früheren Lebens, aber nie
irgend etwas, was im Sinn ihrer Konstitution zu verwenden wäre.
In außerordentlich verdienstvoller Weise hat Stier in jüngster
Zeit in zwei Arbeiten „Dienstbeschädigung und Rentenversorgung
bei Psychopathen“ und jener zweiten „Wie kann der Entstehung
von Kriegsneurosen bei der Feldarmee vorgebeugt werden?“ ge¬
rade auch auf die Bedeutung der Vorgeschichte und der kon¬
stitutionellen Momente sowohl für die Behandlung als auch für
die späteren Konsequenzen bei etwaiger Rentenversorgung hin¬
gewiesen. Er hat speziell auch auf die unter Umständen höchst
verderblichen Folgen von Krankheitsbezeichnungen wie Nerven-
chok, Nervenkrankheit oder gar Verschüttung hingewiesen und
auch bereits einen Teil jener Punkte hervorgehoben, die zur Fest¬
stellung einer endogenen, pathologischen Grundlage dienen können,
deren wesentlichstes Merkmal in der abnormen Art, auf die Lebens¬
reize zu reagieren, gelegen ist, und er hat unter anderem aus¬
geführt, wie wir oft schon aus dem, was der Betreffende im
Leben tatsächlich erreicht hat oder z. B. trotz guter Intelligenz
nicht erreicht hat, besser aber natürlich noch durch die Einsicht
in die Einzelheiten und Feinheiten der Regelung seiner Beziehungen
zur Umwelt ein Urteil über die spezielle Form seiner abnormen
Persönlichkeit gewinnen.
Wenn ich hier aufjias von Stier Gesagte hinweise, so möchte ich zu¬
gleich betonen, daß ich nach meinen Erfahrungen auch seinen sonstigen
Ausführungen dazu nur völlig beipflichten kann. Dabei möchte ich auf
jene Krankheitsgruppe hier noch kurz hinweisen, von der er auch ein¬
gehend spricht, und für die nach Ansicht Vieler gerade eine wesentliche
Verschlimmerung der konstitutionellen Minderwei tigkeit, wenn sie diese
überhaupt annehmen, vorliegen soll, die Schreckneurotiker, Zitterer,
Schülteler und Taubstummen. Ich möchte vorweg betonen, daß man
nach meinen Erfahrungen auch hier durchaus nicht immer eine so wesent¬
liche Verschlimmerung annehmen kann, daß eine Kriegsdienstbeschädigung
vorläge. Und darüber möchte ich hier einiges sagen. Ich halte es für ver¬
fehlt, wenn z. B. von Cutzeit vorgeschlagen wurde, die Zustände als akute
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. ^ 45
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Rohde.
/
Hysterie zu bezeichnen, denn einmal sind es in. E. weniger Hysterien als
Psychogenien, und endlich känn man nach den recht zahlreichen Fällen,
die ich gesehen und untersucht habe, nur in einer verschwindend geringen
Zahl von einer akuten Erkrankung auch im weitesten Sinne reden. Es
sei zugegeben, daß in diesem oder jenem, aber wie ich betonen möchte,
immer nur ganz vereinzelten Falle bei bis dahin anscheinend nerven-
tüchtigen Individuen als Schreckreaktion derart schwere Zustände sich
einstellen, die eigentlich zum ersten Male in Erscheinung treten, im allge¬
meinen ist es mir bei meinem derartigen Material ohne besondere Mühe
geglückt, in fast jedem Falle bereits für das frühere Leben schwerere
psychopathische Eigenheiten und Reaktionen festzustellen und zwai
sehr oft auch schon Reaktionen ganz ähnlicher Art. Ich möchte aber
betonen, daß auch bei Fällen, die oft schon lange Wochen in andern Laza¬
retten behandelt und beobachtet waren, in den Krankenblättern darüber
nichts enthalten war, so daß es mir verständlich ist, wenn es im allgemeinen
in der Literatur nfcht hervortritt. Durch diese Feststellung von bereits
früherem Auftreten schwerer Erscheinungen irgendwelcher und besonders
der gleichen Art aber fällt meines Erachtens auch der Begriff der wesent¬
lichen Verschlimmerung, und wir finden eigentlich nur die in der ganzen
Artung bedingte abnorme Reaktion auf äußere Lebensreize wieder. Ich
könnte dafür zahlreiche Krankengeschichten anführen, wenn sie nicht bei
der Überführung in andere Lazarette oder Genesungsheime den Kranken
mitgegeben wären. Es ist gewiß nicht ganz leicht, die schon vor dem
Kriege nicht vollwertige Anlage in vielen Fällen so klar darzulegen und den
Kranken zur Hergabe aller Einzelheiten zu bewegen. Wenn man aber
nach einem ganz bestimmten eingehenden Schema vorgeht und vor allem
auch auf die charakterologischen Eigenheiten eingeht, bin ich wenigstens
eigentlich stets zum Ziel gekommen. Über seine Charakteranlagen gibt
der Neurotiker m. E. am ehesten Auskunft, während er, besonders wenn
er schon durch Ratschläge erfahrener Kameraden gewitzigt ist, mit den
nervösen Antezedentien oft zurückhaltender ist. Und es ist m. E. ein sehr
treffender Vergleich, den Stekcl in seinen Betrachtungen über unser
Seelenleben im Kriege geprägt hat, wenn er sagt, daß es mit den Neurosen
wie mit den Preisen der Kaufleute gehe. Er führt das dahin aus: „Für
alle Steigerungen wird der Krieg als willkommener Vorwand genommen,
wundert man sich über die Höhe des Preises, so zuckt der Verkäufer mit
der Achsel und verweist auf die Schwierigkeit der Beschaffung der Waren
im Kriege. Wir sind dann wehrlos, denn es ist uns nicht möglich, den Nach¬
weis zu liefern, und es gilt auch nicht der Einwand, daß der Vorrat schon
vor dem Kriege zum alten Preis eingekauft wurde. Der Neurotiker unter¬
schlägt die Tatsache, daß er schon vor Ausbruch des Krieges an allerlei
nervösen Beschwerden gelitten hat, und betrachtet sich immer nur als
ein Opfer des Krieges.“
Wohl sicher spielen in den meisten Fällen über kurz oder lang gewisse
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 669
kaufmännische Erwägungen hinein, die aus dem Gedankengange, vielleicht
unbewußt, hervorgehen, durch eine Rente in die Lage versetzt zu werden,
noch mehr ihrer Gesundheit leben zu können, als sie es vielleicht vor dem
Kriege schon getan haben. Hierbei kollidiert nun zweifellos ihr Interesse
mit dem der Heeresverwaltung, und wenn einmal Jahre nach dem Kriege
ins Land gegangen sein werden, wird mehr weniger Jeder gerade irgend¬
welche nervöse Störungen auf den Kriegsdienst zurückzuführen versuchen.
Es wird daher der Heeresverwaltung in erster Linie darauf
ankommen, zwischen den wirklich begründeten Ansprüchen und
den unbegründeten unterscheiden zu müssen, welche letztere durch¬
aus nicht nur der Sucht nach Rente, sondern auch sehr wohl
dem Gefühl verminderten Selbstvertrauens in die allgemeine
Leistungsfähigkeit entspringen können. Die einzige Möglichkeit,
diesen Ansprüchen für später zu begegnen, bieten aber nur aus¬
führlich geführte Krankengeschichten, die im speziellen aufs ein¬
gehendste die ganze Artung des Individuums bereits vor dem
•Kriege und vor allen Dingen Ereignisse zu umfassen haben, die
etwa als Schädigungen des Krieges für' die Auslösung wesent¬
licher Verschlimmerungen in Frage kommen können. Ich habe
dabei die Erfahrung gemacht, daß die betreffenden' sehr oft auch
äußerlich ganz ähnliche Zustände schon in der Zeit vor dem
Kriege geboten haben, und zwar gilt das m. E. ganz besonders
für die hyperkinetischen Neurosen, die Zitterer, die Fälle von
Tic, von hysterischen und andersartigen Anfällen und dergl. Ich
möchte das durch einige Beispiele belegen, vorher aber bemerken,
daß ich psychopathische Eigenheiten erheblicher Art (Bettnässen
bis in die Pubertät. Nachtwandeln, Hypersensibilität z. B. für den
Anblick von Blut, leichte Debilität. Stimmungslabilität u. dergl.)
in mindestens 90°,o aller Fälle feststellen und in so manchen
der übrigen Fälle auch vermuten, wenn auch nicht immer be¬
weisen konnte. Nur in einer ganz verschwindenden Zahl sah
ich bei offenbar bis dahin Vollgesunden eine derartige Schreck¬
reaktion. In diesen recht spärlichen Fällen trat schon die Voll¬
wertigkeit der Konstitution in dem überraschend schnellen Heil¬
verlauf, ohne daß nachher irgendwelche psychopathischen Eigen¬
heiten sich geltend machten, hervor, sodaß hier irgendwelche
Folgen nie sich geltend machten. Im übrigen ist es mir auf¬
gefallen. wie wir schon die Art der jeweiligen Schreckreaktion
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Kohde,
nach der Anamnese in dem betreffenden Individuum gleichsam
angedeptet oft im früheren Leben finden. So fand ich in nicht
so seltenen Fällen von Zitterern die. Angabe, daß sie schon
immer bei jedem Schreck am ganzen Körper gezittert hätten, fand
auch gerade bei solchen Individuen, wo sich Sprachstörungen als
-Schreckreaktion einstellten, schon Angaben, wonach sie das eine
oder andere Mal schon früher im Zivilleben nach Schreck gestot-
teut oder stundenlang kein Wort herausgebracht hätten. Und endlich
verdient es m. E. besondere Beachtung, daß sehr oft gerade hier
die Angabe über Stottern in der Jugend sich fand, wenn sie z. B.
vom Lehrer getadelt wurden, so daß den Betreffenden gleichsam
die jetzigen neurotischen Erscheinungen in ähnlicher Form schon
geläufig waren, nur jetzt in größerer Intensität bei einem inten¬
siveren Reiz sich geltend machten. Selbst da aber, wo dieselben
mit solcher Intensität sich zeigten, daß man allenfalls eine
wesentliche Verschlimmerung annehmen konnte, ließen sich die
jeweiligen heftigeren Erscheinungen sofort beseitigen, so daß nur
die stets vorhandene Psychopathie und abnorme seelische Artung
blieb, die immer schon dagewesen war, so daß von einer ab¬
schätzbaren Einschränkung der Erwerbsfähigkeit für die Folge,
selbst wenn man DB. durch Verschlimmerung annahm, nicht die
Rede sein konnte. Und man kann m. E. auch nicht das Schwer¬
gewicht auf die Erschütterung der seelischen Gesamtpersönlich¬
keit legen und sagen, daß diese immerhin bleibe, wenn auch die
Äußerungen motorischer Art der Willenssperrung beseitigt seien,
wenn man nachweisen kann, daß diese seelische Gesamtpersön¬
lichkeit schon immer in der ganzen Anlage erschüttert find nicht
vollwertig war.
Ich möchte hier zunächst — nur kurz — einen Fall anführen, den
ich zurzeit auf der Abteilung habe, der bereits 1 y 2 Monate in mehreren
andern Lazaretten behandelt worden ist. Das Krankenblatt enthielt bisher
mir folgende Angaben: Leichter Streifschuß am Kopfe. Hört seitdem auf
dem rechten Ohr überhaupt nichts und auf dem linken Ohr sehr wenig,
gab auf alle an ihn gerichteten Fragen meist keine Antwort, antwortete
gelegentlich mit tonloser Stimme mit ja oder nein. In dem Krankenblatt
fanden sich weiter keine Angaben, es wurde nervöse Stummheit infolge des
Schrecks angenommen und K.D.B. angenommen.
Ich konnte seine Sprachstörung ‘durch Suggestivfaradisation sofort
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 671
beseitigen, und nur wefin man sich längere Zeit mit ihm unterhielt, trat
eine Neigung zum Ringen mit dem Worte und leichtes Stottern immer
wieder hervor. Die von mir erhobene eingehende Vorgeschichte ergab
aber noch folgendes: 20 Jahre alt. Bereits mit 11 Jahren 7 m tief herab¬
gestürzt, war damals ,‘t—4- Stunden bewußtlos, lag etwa 4 Wochen krank
und litt lange Zeit hinterher ständig an Kopfschmerzen. Von Hause debil,
verlängertes Bettnässen, auch sonst psychopathische Eigenheiten. Stets
leicht erregbar. Als Kind Skrophulose, von Kindheit an bestehende
Schwerhörigkeit infolge beiderseitigen Mittelohrkatarrhs. Er gab an, er
habe von Jugend an mit der Sprache angestoßen. Bei Aufregungen,
wenn er getadelt wurde, habe er am ganzen Körper gezittert und manchmal
sich so darüber aufgeregt, wenn ihn der Lehrer oder sein Meister tadelte,
daß er stundenlang kein Wort hervorbringen konnte.
Ich finde in diesem Fall eine schon vor dem Schreck bestehende
Schwerhörigkeit und schon vorher bestehende Sprachstörungen mit
olTenbar psychisch bedingten Steigerungen von jeher, außerdem eine
zweifellos abnorme seelische Artung, und es ist mir demnach zumindest
zweifelhaft, ob man überhaupt berechtigt ist, hier von einer wesentlichen
Verschlimmerung zu reden, da er im Grunde nach dem geringfügigen
Streifschuß nichts weiter geboten hat als vorübergehend nach einer Auf¬
regung etwas stärkere Krankheitserscheinungen, die aber im Grunde
nicht viel anderer Art sind, als wie er sie immer geboten hat, und man
wird das um so eher annehmen können, als irgendwelche stärkere Reiz¬
erscheinungen nicht bestanden. Das, was nach der Beseitigung der
stärkeren Erscheinungen blieb, muß, aber nur weil die Vorgeschichte
bekannt wurde, als Zustand aufgefaßt werden, wie er ihn schon vor der
Dienstzeit bot, und damit kommt — m. E. allein auf Grund der Vor¬
geschichte — die Anerkennung von DB. oder KDB. beim Ausscheiden
aus dem Heeresdienst nicht in Betracht.
Nicht viel anders ist es im folgenden Falle damit. Der 24jährige
Mann war bereits seit Monaten in Lazarettbehandlung, als ich ihn unter¬
suchte. Das Krankenblatt enthielt folgende Angaben: „Am 17. 4. 18
durch Luftdruck einer Granate umgeworfen, will besinnungslos gewesen
sein. Nachher aufgestanden und zum Verbandplatz gegangen. Vom
Moment {les Aufstehens ab Zittern am Oberkörper. Schon vor dem Kriege
nervös, hatte häufig Kopfschmerzen.“ Er hat dann in der ersten Zeit
seines Lazarettaufenthalts ein theatralisches Zucken in beiden Schultern
geboten, das unter bloßer Ruhe nach einigen Tagen fort war, und es
blieben nur einige hysterische Züge; einmal trat ein hysterischer Anfall
auf. Nach dem bisherigen Inhalt des Krankenblatts würde man nicht
umhin gekonnt haben, auch für diesen KDB. als Folge des Schrecks vom
17. 4. 18 anzunehmen, da von irgendwelchen schwereren Erscheinungen
vor dem Kriege in monatelanger Lazarettbehandlung nichts bekannt ge-
•worden war. Ich konnte aber folgende Angaben noch von ihm erlangen:
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R&hde,
Mutter „immer krank“. Er selbst als Kind einmal schwer krank ge wese n-
Schwer gelernt, nur 6 Klassen einer /Massigen Schule durchgemacht.
Von jeher leicht aufgeregt, händelsüchtig. Noch während der Schulzeit
Bettnässen. In der Schulzeit und in den Lehrjahren fast alle 2 Tage
Schwindel und Ohnmächten, wurde oft deshalb aus der Schule zurück-
geschickt, auch in der Fabrik nie frei von Ohnmächten, zeitweise jeden
Tag völlig bewußtlos, stets bei Hitze oder Aufregungen. Überhaupt
leicht erregbar, cli'arakterologisch ängstlich; zitterte, wenn man ihn ärgerte,
schon immer am ganzen Körper. ’’
Durch diese Angaben ist m. E. erwiesen, daß er schon immer schwerere
Erscheinungen nicht wesentlich anderer Art wie jetzt geboten hat, und es
kann — zumal nach Behebung der nur einige Tage anhaltenden Zuckungen
der Schultern, die von selbst schwanden — von einer wesentlichen Ver¬
schlimmerung, gar keine Rede sein.
Gerade frühere Anfälle werden nach meinen Erfahrungen
zunächst mit Vorliebe verheimlicht, und es liegt das m. E.'z. T.
auch daran, daß immer nur nach Krämpfen gefragt wird, da¬
gegen fast nie nach Ohnmächten oder SehWindelanfällen, die m. E..
gerade bei Hysterikern als eine schwerere Erscheinung zu gelten
haben und völlig gleichwertig sind den hysterischen Anfällen
anderer Art. Ich will hier nicht auf alle jene Zeichen degene-
rativer und psychopathischer Artung hinweisen, die mir in fast
allen meinen Krankengeschichten solcher Individuen, speziell bei
den hyperkinetischen Neurosen, den Unfallhysterien und Schreck¬
neurosen, entgegentraten und sich bei Aufnahme einer bis dahin
freilich sehr oft versäumten genauen Vorgeschichte fanden, derart,
daß die innere Anlage bei ihnen eigentlich alles ausmacht. Auf
welche Momente ich dabei besonders geachtet habe, soll die aus¬
führliche Krankengeschichte eines Falles hysterischer Gehstörung,
die ich einfügen werde, zeigen. Ich möchte nur kurz darauf
hinweisen, daß wir m. E. nicht berechtigt sind, dann eine
wesentliche Verschlimmerung anzunehmen, wenn nachgewiesen
ist, daß der Betreffende schon immer schwere Affektreaktionen
geboten hat und Zeichen einer Hypersensibilität, derart, daß*
schon der bloße Anblick von Blut bei ihm früher Ohnmächten
oder Weinkrämpfe ausgelöst hat und jetzt bei Schreck ein Anfall
hervorgetreten ist. Es ist m. E. ziemlich belanglos, ob in dem.
wechselnden Bild hysterischer Affektreaktionen, die der Kranke schon
immer geboten hat, und die die hysteropathische Artung dokumen-
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Die Vorgeschichte bei Neurosen uml ihre Bedeutung usw. 673
tieren, jetzt — selbst zum ersten Mal statt einer Ohnmacht, eines
Weinkrampfes u. dergl. — auf einmal,ein hysterischer Krampf¬
anfall vorkommt. Man wird eben die ganzen Begleitumstände
heranziehen müssen, auch die sozialen, wie seine Leistungsfähig¬
keit im Leben und im Beruf vorher gewesen ist, was leider viel
zu wenig bisher geschieht. Wenn man solche Menschen befragt,
so bekommt man zuerst eigentlich stets die Antwort, sie seien
immer völlig nervengesnnd gewesen, während dann eingehendere
Fragen sofort allerhand Zeichen geistiger Minderwertigkeit, stark
herabgesetzte Fähigkeit, im bürgerlichen Leben zu bestehen,
affektive Ubere^regbarkeit u. dergl., eigeben. So wichtig das alles
für die Erörterung der DB.-Frage ist, so selten findet sich etwas
darüber in den mir überwiesenen Krankenpapieren, so daß ich
sehr oft bezüglich der DB.-Frage zu anderen Ergebnissen kommen
mußte wie die Voruntersuchungen anderer Lazarette, die auf die
bloßen Angaben hin, daß der ^lann verschüttet sei und darauf
Krämpfe bekommen habe, ohne weiteres eine KDB.. als vorliegend
annahmen. Der Nachweis der prämorbiden Persönlichkeit ist
aber dann besonders schwierig, wenn schon der Betreffende, durch
längere Lazarettaufenthalte und vielleicht durch die Ratschläge
klügerer Kameraden gewitzigt, erst einmal zu der Überzeugung
gekommen ist, daß es zweckmäßig sei, von allen diesen früher
hervorgetretenen Erscheinungen nichts zu sagen. Dann freilich
wird man oft seine Schwierigkeiten haben, wirklich die ganze
Lebensführung klar zu übersehen. Eine wesentliche Erleichterung
ist m. E. auch die Art der Reaktion.
Ich denke hierbei z. B. an einen, soweit ich mich erinnere,
25jährigen Menschen, der auf meine Abteilung kam mit einem
ausgesprochenen Tic in der einen Gesichtshälfte, der, wie er
angab, nach einem Schreck zum ersten Male dieses ticartige
Zucken bekommen hatte, und der zunächst alle psychopathischen
Eigenheiten in Abrede stellte. Von der Annahme ausgehend,
daß der Tic jm großen und ganzen auf eine degenerative Grund¬
lage hinweise, habe ich mich damit nicht ohne weiteres zufrieden
gegeben, und allmählich gab er dann auch an, daß er bereits als
8 jähriges Kind für längere Zeit und dann noch einmal mit 15 Jahren
nach einem starken Schreck gleichfalls etwa y 2 Jahr lang einen
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674
Rohde.
ganz ähnlichen Tic gehabt hatte, sodaß er mir direkt zum Schluß
sagte, damals habe das ganz genau so ausgesehen wie jetzt, und
es kam weiter heraus; daß er von jeher alle Zeichen einer
schweren Psychopathie geboten hatte, daß er hypersensibel, beim
Anblick von Blut ohnmächtig geworden sei, daß er Linkshänder
war, daß er etwa bis zum 15. Jahre an Bettnässen gelitten hatte,
daß er von jeher vasomotorische Störungen geboten hatte und
ähnliches mehr. Daß hier keine KDB. jn Frage kommt, liegt
auf der Hand.
Es stellt eben hier die ganze abnorme seelische Artung, wie
Stiei • es nennt, das Ausschlaggebende vor, und es wurden, wenn
ich mich an den Wortlaut der amtlichen „Anhaltspunkte“ halte,
„die nach dem für die Entstehung des jetzigen Zustandsbildes
aufgetretenen neurotischen Erscheinungen in gleicher oder gleich¬
wertiger Form schon vor dem Diensteintritt bei dem betreffenden
Neurotiker beobachtet, sind ihm gleichsam geläufig“.
Ebehso ist es bei einem andern Fall, einem Manne meiner eigenen
damaligen Formation, der mir als gv. mit einer hysterischen Gehstörung
ausgesprochener Art überwiesen war, der im Anschluß an eine Zellgewebs¬
entzündung an der linken Hacke, die er beim Militär im Felde bekommen
hatte* mit diesem Bein einen hüpfenden Tritt vollführte, und der mir
ohne weiteres erklärte, das habe er nur durch diese Verletzung, die er sich
im Kriege zugezogen habe. In Wirklichkeit konnte ich nachher feststellen,
daß er erblich belastet war, bis fast zum 20. Jahr an Bettnässen litt, regel¬
mäßig Kopfschmerzen gehabt hatte, daß er einem Outsidertum von jeher
gehuldigt hatte und in keinem Bsruf lange ausgehalten hatte, und vor
allen Dingen, daß er bereits im Jahre 1906, im Anschluß an eine Periode
geschäftlicher Anstrengungen, wegen einer nahezu gleichartigen Geh¬
störung bereits monatelang in einer Nervenabteilung im Zivilleben gelegen
•hatte, nur daß damals im Anfang ein Zittern in allen Gliedern bestand
und nachdem Schwäche, daß er stets zusammenknickte, zunächst in
Krücken ging, woran sich dann die Gehstörung in dem einen Bein an¬
schloß, die erst nach einem Berufswechsel etwa nach einem Jahre sich verlor.
Außerordentlich charakteristisch ist) nach meiner Ansicht folgender
Fall, den ich hier ausführlich anführe, weil er zugleich den Gang der auf
meiner Abteilung vorgenommenen Erhebung der Vorgeschichte zeigt. Es
handelt sich hier um einen 28jährigen Sanitätssoldaten, der im August
1917 wegen akuten Trippers in einem Kriegslazarett aufgenommen wurde.
Das dort geführte Krankenblatt enthielt außer den ajif den Tripper bezüg¬
lichen Eintragungen folgende Angaben:
8. 9. Klagt über Kopfschmerzen und Nackenschmerzen. Reflexe
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 675
gesteigert. Kein Babinski Kein Fieber. Puls 80. Keine Bewußtseins¬
störungen. Kein Erbrechen. Der Kopf kann nur mit Mühe gedreht werden.
Isolierung.
Lumbalpunktion: keine Drucksteigerung. Keine Zellenvermehrung.
9. 9. Nackengegend druckempfindlich. Aspirin 8,0. Warme Um¬
schläge.
10. 9 . Beweglichkeit des Kopfes wieder freier. Behandlung wie
vordem.
22. 9. Klagt noch über Schmerzen in der Gegend des Kreuzbeins
und des Nackens. Druck auf die Halswirbelsäule sehr schmerzhaft. Be¬
weglichkeit des Kopfes ohne Befund. Wirbelsystem ohne Befund.
2. 10. Heftige Schmerzen im Rücken, geht gebückt und bewegt
dabei die Wirbelsäule kaum. Druck auf die Hals- und Lendenwirbelsäule
sehr schmerzhaft. Fieber besteht nicht. Auf Salizyl und Aspirin kleine
Besserung. Objektiv kein krankhafter Befund. Es liegt wohl sicher eine
starke Cbertreibung der Schmerzen vor. Hysterie?
Nachdem dann der Tripper abgeheilt war, wurde er am 22. 10. 17
meiner Nervenabteilung überwiesen.
Bei der Aufnahme kommt er, schwrer auf einen Stock gestützt, den
Rücken rechtwinklig nach hinten vorgewölbt, gebückt. Als ich ihm als
erstes den Stock fortnahm und ihn aufforderte, gerade zu gehen,
sank er noch mehr in sich zusammen, legte die linke Hand auf den Rücken,
ging nun tappend, dabei aber ganz sicher, wie ein völlig verwachsener
Mensch, nach vorn gebeugt, ließ sich dann schwer in einen Stuhl fallen.
Sprach dann derartig leise, daß kaum etwas zu verstehen war; auf energische
Aufforderung meinerseits, laut zu sprechen, fängt er an, laut tönend zu
schnaufen, sagt dann in erregtem, anmaßendem Ton: „Ich Jpitte darauf
Rücksicht zu nehmen, das habe ich nicht verdient, der ich so lange im
Felde stehe“, fängt dann, indem die Atmung immer lauter und keuchender
wird, mit der rechten, auf das Knie schwer gestützten Hand an, grob zu
schütteln, während in theatralischer Weise weinkrampfähnliches Schluch¬
zen einsetzt. Erklärt, ihm sei alles egal, rutscht mit dem Kopf immer
weiter nach vorn. Ausgesprochen hysterischer Erregungszustand, von
dem keine Notiz genommen wird, vielmehr erhebe ich Vorgeschichte.
Vater aufgeregt, jetzt tot. Von 13 Geschwistern 6 früh gestorben,
die älteste Schwester nervös, eine andere Schwester angeblich Basedow.
In der Schule sehr schwer gelernt, nur 4 Klassen einer 7klassigen Schule
erreicht. Als Kind kaum schreiben können, habe sich erst im späteren
Leben eigentlich das Schreiben angeeignet. Konnte nichts behalten, alles
strengte an. Bei Tadel aufgeregt: „Konnte mich mit der Zunge nicht be¬
herrschen. schlagen ließ ich mich vom Lehrer nicht, habe mich dann ge¬
wehrt“. dabei sei ihm ohne seine Absicht immer der Schaum vor den Mund
getreten. Als Kind stets, sobald er sich aufregte oder länger stehen mußte,
Ohnmächten. ,,Es war so üblich bei mir.“ Mehrmals in jeder Woche
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Rohde,
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Ohnmächten. Nach dem 16. Jahre etwas ruhiger geworden, nie frei von
Ohnmächten, später etwa alle 8 Tage bis 4 Wochen. In den Ohnmächten,
in deren Beginn ihm das Wasser im Munde zusammenlief, solle er für
Momente bewußtlos und immer „sehr lebhaft“ sein, um sich schlagen und
dergleichen. Während des ganzen Lebens gelegentlich Bettnässen. Viel
Schlafsprechen als Kind, viel Nachtwandeln, habe im Schlaf allerlei
gesucht, ohne davon etwas zu wissen, auch noch im späteren Leben habe
ihn das nie ganz verlassen. Als Kind sehr schreckhaft. Furchtim Dunkeln.
Von jeher Kopfschmerzen.
Schon als Kind und während des ganzen Lebens „Hexenschuß“,
sobald er etwas Schweres habe heben sollen. Als Kind habe er sich dann
meist ca. 3 Tage überhaupt nicht bewegen können, im späteren Leben
habe das immer 8 Tage gedauert, sei oft schon alle 4 Wochen wieder¬
gekehrt. Von Kindheit an während des ganzen Lebens Weinkrämpfe für
Stunde, wo der ganze Körper vor Weinen geschüttelt habe, so daß **r
förmlich weggewesen sei. — „Es hängt mit meiner Weichmütigkeit zu¬
sammen.“ Sei immer wegen seiner Plattfüße schlecht zu Fuß gewesen,
habe einmal 1911 beim Angeln ganz plötzlich Ischias im linken Bein be¬
kommen. Über ein Jahr lang habe er hinken müssen und vor starken
Schmerzen kaum gehen können. Dann sei es von selbst gut geworden.
Auch im linken Arm habe er vor dem Kriege, etwa 1912, solche Schmerzen
und Schwäche oft gehabt, daß er ihn kaum bewegen konnte.
Nach der Schulzeit habe er 2 Jahre Schlosser gelernt. Da sei beson¬
ders oft der „Hexenschuß“ gekommen. Dann konnte er es nicht mehr
aushalten, weil ihn der Lärm zu sehr aufregte. Er konnte im Anschluß
daran überhaupt nichts hören, ein Jahr lang, wo er zu Hause nichts tat.
Nur dann habe er für y 2 bis 1 Stunde etwas gehört, wenn ihm der Arzt
mit dem Ballon die Ohren ausblies. Hat dann bei Geschwistern in Ge¬
schäften ihr Gewerbe erlernt und ist bei den Geschwistern tätig gewesen.
Vor dem Kriege ist er auch einmal y 2 Jahr in Amerika gewesen, um sich
dort weiter auszubilden. Zur Ausbildung sei es dort aber nicht gekom¬
men — einen rechten Grund kann er dafür nicht angeben.
Mit 13 Jahren sei ihm eine Holzstange, in der ein Nagel steckte,
auf den Hinterkopf gefallen; angeblich y 2 Stunde bewußtlos. Auf die
Frage nach Erbrechen erklärt er, er habe ca. y 2 Jahr lang wegen Er¬
brechens in Behandlung gestanden!
Völlig alkoholintolerant, sofort erregt. Starker Nikotinmißbrauch
1910—12 (täglich 25 Zigaretten und ca. 5 Zigarren). Dann wegen heftig¬
ster Kopfschmerzen aufgegeben. Nicht aktiv gedient.
August 1914 eingezogen, 18. 10. 14. ins Feld, bereits am 23 10. 14
infolge eines Falles im Graben für 1 Monat im Lazarett und zum Ersatz¬
truppenteil. Angeblich einige Monate wieder im Feld, im Mai 1915 wegen
Piattfußbeschwerden nach Deutschland, blieb dort unter Verwendung in
einem Reservelazarett bis März 1917. Juni 1917 zuerst wieder in Stellung
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 677
als Sanitätssoldat. August 1917 dann wegen Tripper ins Lazarett. Im
Laufe dieser Exploration hat er sein theatralisch-hysterisches Gebaren
etwas eingeschränkt. Die Körperhaltung im Sitzen ist zusehends gerader
geworden, nur der Kopf wird nach wie vor nach vorn gebeugt gehalten.
Die Tränen sind allmählich versiegt, und wann auch immer wieder das
tiefe Mitgefühl, das er für sich selbst und seinen schweren Zustand hegt„
hervortritt, so ist sein Verhalten doch allmählich ein leidlich vernünftiges
geworden. Als er sich jetzt zur Untersuchung ausziehen soll, steht er
sofort wieder mit rechtwinklig nach hinten vorgebeugtem Rücken, geht —
nachdem er seinen Stock patzig verlangt hat, der ihm nicht gegeben wird —
schleichend, breitbeinig, jeden Halt, der sich bietet, benutzend, unter
lautem Stöhnen. Die rechte Hand schüttelt, die linke stützt die linke
Hüfte. Auf die Frage, warum er so gebückt gehe, erklärt er: ,,Ich kann
nicht anders, denn dann kriege ich Kopfschmerzen, ich hab’s schon so
oft versucht und bekomme den Rücken wohl gerade, aber-ich halte es
nicht aus, ich bekomme dann doch so wahnsinnige Kopfschmerzen.'*
Auf dem Bett liegt er völlig gerade.
Körperlich: kräftig, untersetzt. Leicht beeinflußbare Herztätigkeit.
Immer wieder laut schnaubende Atmung mit Wackelbewegungen des
Kopfes. Plattfußanlage beiderseits. Mittleres Hautnachröten. Geringe
Muskelerregbarkeit. Lebhafte Reflexe, durch willkürliche Verstärkungen
noch vermehrt. Bei leichten Berührungen Stöhnen, Zusammenfahren des
ganzen Körpers mit lebhaften Abwehrbewegungen. Kühle Hände und
Füße. Wirbelsäule o. B. Bezeichnet sämtliche Wirbeldornen vom 8. Brust-.
wirbeldorn abwärts als schmerzhaft, bei Nachuntersuchungen liegt die
Grenze jedesmal an anderer Stelle, am 4. Lendenwirbeldorn, dann 12.
Brustwirbeldorn, schließlich 6. Brustwirbeldorn. Sämtliche Druckpunkte
sehr stark +, rechts > links. Am rechten Supraorbitalpunkt abortiver,
psychogener Anfall: ihm wird, da er bei Bewußtsein bleibt, an seinem Are
de cercle demonstriert, daß die Wirbelsäule nicht nur gerade, sondern nach
vorn sogar gebeugt werden kann. Bei Prüfung der Algesie sofort wieder
gröbstes Stöhnen usw.
Beim Versuch der Elektrisation mit starken Strömen schlägt er
um sich, schreit in förmlichem, freilich arg theatralischem Tobsuchts¬
anfall: „Lassen Sie mich; daß keiner Mitleid mit mir hat.“ Schlägt mit
der Faust auf den Tisch usw. Benehmen photographisch das eines ge¬
reizten, sehr ungezogenen Kindes. Strenge Bettruhe.
29. 10. Nach fester Bettruhe seit gestern außer Bett, wird be¬
schäftigt. Hält Kopf und Oberkörper nur noch leicht nach vorn gebeugt,
geht ganz ordentlich. Kam dann in ein Genesungsheim. Während sonst
ohne diese Vorgeschichte meines Erachtens es später unmöglich gewesen
wäre, die Lumbalpunktion als Ursache eines schweren Zustandes hysteri¬
scher Art nicht anzusehen, konnte ich jetzt im Krankenblatt beimAbschluß
die DB.-Frage in folgender Weise erörtern:
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Ro hde,
Das Leiden ist zurückzuführen auf die schwere, degenerative Artung;
wenngleich die an ihm vorgenommene Lumbalpunktion die jetzt im Ab¬
klingen begriffene Gehstörung wohl mit ausgelöst haben mag, so handelt
es sich doch immerhin nur um schon früher und anscheinend in gleicher
Stärke, zum Teil auch gleicher Art, vorhandene psychopathische Reaktion
(s. seine Angaben über Hexenschuß, bei dem er sich während seines ganzen
Lebens tagelang überhaupt nicht habe bewegen können, Ohnmächten,
Weinkrämpfe, Wutanfälle, einmal Ertaubung und dergleichen). Es liegt
daher keine weslentftche Verschlimmerung dieser abnorm seelischen Artung
vor. Infolgedessen kommt DB. nicht in Frage.
Ich möchte diesen Fall für außerordentlich lehrreich halten,
möchte aber ausdrücklich hervorheben, daß er nicht vereinzelt
dasteht, und daß ich zahllose ganz ähnliche psychopathische
‘Reaktionen in der Vorgeschichte der Meisten mit schweren hyste¬
rischen Zuständen irgendwelcher Art feststellen konnte, die durch
Schreck oder- sonst irgendein den Anstoß gebendes Moment
ausgelöst waren. Ich möchte in keiner Weise die Bedeutung der
Schwere des einwirkenden, änßeren Momentes dabei unterschätzen
und'bin der Letzte, der nicht da eine wesentliche Verschlimme¬
rung einer bestehenden abnorm seelischen Artimg, welche Be¬
zeichnung von Stier vorgeschlagen ist, annehme, wo diese ab¬
norm seelische Artung bis dahin keine irgendwelche erhebliche
derartige Reaktionen ausgelöst hat. Ich meine aber, daß es nur
sinngemäß und notwendig ist, auch in jedem Falle und speziell
da, wo man eine solche abnorme seelische Artung irgendwie
feststellen ’kann, wobei ich besonders auch auf die Asthenie, die
vasomotorische Ubererregbarkeit noch hinweisen möchte, ihr in
' der Vorgeschichte genau nachzugehen, und weiter, daß man ver¬
pflichtet ist. auch bei der Abwägung des Grades der Erwerbs¬
beschränkung, falls eine Rentenfestsetzung in Frage kommt, der
ganzen Konstitution Rechnung zu tragen. Und das gilt besonders
für jene Fälle, wo kein eigentliches einschneidendes Erlebnis
vorangegangen ist und die stärkeren Erscheinungen sich gleich¬
sam ohne rechten Anlaß schleichend entwickelt haben und eine
Erkältung im Dienst oder die Aufregungen allgemein als Ursache
verantwortlich gemacht werden. Ich stehe nicht an zu erklären,
daß nach meinen Erfahrungen gerade in diesen Fällen eben meist
eine so schwere degenerative Grundlage nachweisbar war, daß
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw.
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init dem Nachweis derselben auch die DB.-Frage ihre Erledigung
findet. Außer der hysterischen find psychogenen Artung verdient
aber m. E. auch die Debilität mit einer gewissen abnormen
Reaktionsneigung »und die moralische Minderwertigkeit Beachtung.
Im übrigen ist der Standpunkt, wie ihn auch Stier und Nägeli
haben, daß selbst da, wo man eine DB. annimmt und abschätz¬
bare Folgen der wesentlichen Verschlimmerung einer abwegigen
Konstitution durch ein Ereignis des Heeresdienstes bleiben, doch
immer ein gewisser Prozentsatz der Erwerbsbeschränkung der
Konstitution zugerechnet werden muß, im Vergleich mit dem der
Franzosen noch sehr entgegenkommend. Hat doch die Pariser
neurologische Gesellschaft (La reforme, les. incapacites et les
gratifications dans les nfcvroses et psychoses de guerre. Rev.
neur. 23. 1916) nach dem Vorschläge Babinskis sich dahin aus¬
gesprochen, daß die eigentlich hysterischen (von Babinski als
pithiatische bezeichneten) Störungen des Krieges weder ent-
&hädigungspflichtig sind, noch zu entlassen sind, und auch sonst
bezüglich einer Rentengewährung für Neurosen, wie allgemein
kurz gesagt sei, sich auf einen recht ablehnenden Standpunkt
gestellt.
Ich möchte, wenn ich im vorstehenden von der Bedeutung
der Konstitution auch für die praktische Seite der Rentenzumessung
und Dienstbeachädigungsfrage gesprochen habe, aber ganz be¬
sonders auf ein ätiologisches Moment hinweisen, das meines Er¬
achtens und, soweit ich die bisherigen Publikationen übersehe,
bisher fast völlig vernachlässigt ist. Auch in Stiers Arbeiten zu
diesen Fragen findet sich über dieses ätiologische Moment nichts,
dem ich meinerseits gerade glaube eine sehr erhebliche Rolle
zuweisen zu sollen; den chronischen Alkoholismus. Wenn
ich die Krankengeschichten aller jener überblicke, die im Laufe
meiner nervenärztlichen Tätigkeit im Kriege von mir dntersucht
sind, und die gerade mit schwereren Erscheinungen auch der ge¬
schilderten Arten zur Behandlung kamen, so finde ich zwar nicht
immer eine von Hause bestehende Konstitutionsschwäche, aber
auffallend oft, teils mit angeborener Minderwertigkeit sich ver¬
gesellschaftend, teils auch ohne diese, speziell bei älteren Leuten
die körperlichen Erscheinungen des chronischen Alkoholismus und
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•680
Roh de,
damit zusammenhängend anf psychischem Gebiet die alkoholische
Charakterverändernng. Und darauf möchte ich besonders hin-
' weisen. Denn noch weniger wie der angebornen psychopathischen
Konstitution und der ganzen sonstigen Lebensführung dieser In¬
dividuen wurde im großen und ganzen in den Krankengeschichten
dieser ätiologischen Schädlichkeit Rechnung getragen, so daß sich
daraus weitere Mängel ergaben, die gerade auch bei der Beur¬
teilung der DB.-Frage eine erhebliche Bedeutung haben.
So halte ich es nicht für belanglos,, wenn ich z. B. feststellen konnte,
daß ein Fall von Alkoholepilepsie mit Rente entlassen war, wo in den ganzen
Rentenakten die Frage einer Alkoholgenese überhaupt nicht gestreift war,
obwohl das Auftreten eines ersten Anfalls im höheren Alter schon allein
eine genuine Epilepsie unwahrscheinlich hätte machen müssen. Tatsächlich
ergab sich denn auch, daß — nach anfänglichem Leugnen —der Betreffende
mir einen täglichen Genuß von ca. y 2 1 Schnaps zugab — „aber jetzt nicht
inehr“, und gerade dieses „aber jetzt nicht mehr“ erklärt es wohl auch,
weshalb dieses ursächliche Moment so besonders leicht verborgen bleiben
kann. Ich konnte eine ganze Anzahl ähnlicher Erfahrungen anführen,
die mich veranlaßt haben, beim Erheben der Vorgeschichte dem Alkohol
eine besondere Beachtung zu schenken. Und ich habe immer wieder den
Eindruck gehabt, daß leider die Symptome des chronischen Alkoholismus
iin großen und ganzen völlig außer acht gelassen werden, teils wohl auch
zu wenig bekannt sind, vor allen Dingen aber viel zu wenig je daran gedacht
wird; und darum werden sie auch so oft übersehen, daß ich kaum in irgend¬
einer Krankengeschichte auch nur die Möglichkeit des Vorliegens eines
chronischen Alkoholismus erwogen fand, wo eigentlich diese Annahme sich
bei einer Durchsicht der Lebensführung und bei Vergleich mit dem Körper¬
befunde ganz von selbst ergeben mußte. Wenn beim Fehlen eigentlicher
psychopathischer Eigenheiten in der Jugendgeschichte im Korperbefund
eine dick belegte Zunge, lebhafter statischer Tremor, starke Druck-
einpfindlichkeit der großen Nervenstämme, vielleicht manchmal auch
schwache Reflexe, vor allem aber leichte Pupillenstörungen sich fanden,
wozu eventuell noch eine Lebervergrößerung kam und die Leute angaben.
daß sie seit einigen Jahren ohne Grund leichter gereizt seien, so erfolgte
in der Regel, wenn man weiter fragte, auch sehr bald eine Angabe über sehr
starken morgendlichen Hustenreiz oder gar Erbrechen, das immer nur
morgens auftrete. Und wenn man dann in der Vorgeschichte den Lebens¬
gang durchsiehl, so wird man eigentlich immer derartige Quantitäten von
früher genossenem Alkohol feststellen können, daß an der Grundlage des
chronischen Alkoholismus für die erst im späteren Leben entstandenen
nervösen Beschwerden kaum ein Zweifel sein kann. Man wird unschwer
auch im Laufe der Beobachtung morgendliche Gereiztheitszustände und
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Cotigle
nie versäume, nämlich die nach dem Grad der Toleranz für Alkohol und
Nikotin. Hier bleibt noch etwas zu bedenken: sehr oft habe ich feststellen
können, daß diese Leute einem, wenn man nach den Quantitäten des
genossenen Alkohols fragt, zunächst ein ganz geringes Quantum angeben,
daß dann aber, wenn man fragt, ob sie in jungen Jahren auch nicht mehr
getrunken haben, welche Frage man nie unterlassen sollte, schließlich doch
erhebliche Quantitäten hervorkommen, so daß sich das Bild völlig ver¬
schiebt, und es treten dann auch sehr häufig charakteristischeAngaben in
der Art hervor, daß vor etwa 6—7 Jahren ihnen der Arzt den Alkohol
verboten habe und sie deshalb nur wenig getrunken hätten, weil sie ihn
nicht mehr so wie früher hätten vertragen können. Es ergibt sich dann,
daß unter Umständen, wie ich es in nicht seltenen Fällen habe feststellen
können, Krankenhausaufenlhaltc wegen starker Magenbeschwerden oder
rheumatischer Beschwerden vorangegangen sind, die eben bei dem Über¬
blick über die ganze Lebensführung ganz offenbar Zeichen einer schwereren
chronischen Alkoholintoxikation schon damals gewesen sind, die die Grund¬
lage abgibt für die seither nie völlig behobenen nervösen Störungen und
Zeichen allgemeiner Verbrauchtheit, wie sie derartige Individuen besonders
leicht bieten. Daß im übrigen die Angaben jüngerer Menschen, daß sie
von jeher nach Alkohol Kopfschmerzen bekamen und nie das Rauchen
hätten vertragen können, eigentlich immer ein wesentliches Zeichen einer
verminderten Widerstandsfähigkeit des Nervensystems, auch für kon¬
stitutionelle Psychopathen sind, braucht wohl kaum hervorgehoben zu
werden. Man wird aber bei bestehender Intoleranz auch mit einer ganz
andern Einwirkungsmöglichkeit rechnen können und daher dann die
Wirkung des Alkohols auf den Betreffenden ganz anders bewerten müssen,
Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, daß gerade von dieser Angabe
ausgehend es oft möglich ist, dem Betreffenden eine ganze Anzahl anderer
psychopathischer Eigenschaften zu entlocken, die wiederum das Bild des
gesamten Lebens sehr wesentlich zu ergänzen vermögen und auch für die
DB.-Frage bezüglich ihrer jetzigen Klagen nicht ohne Belang sind. Ich habe¬
schon soeben kurz auf die Bedeutung des chronischen Alkoholismus gerade
für das Zitlern hingewiesen. Außerdem habe ich auffallend oft gerade bei
solchen Individuen aphonische Störungen festgestellt, die in der Regel
oder doch sehr oft mit einem organisch bedingten Rachenkatarrh sich ver¬
binden, der gerade bei schwerem Alkohol- und Nikotinmißbrauch ja
gewissermaßen zum Krankheitsbilde gehört.
Endlich wird es mit Rücksicht auf das Gesagte ohne weiteres ver¬
ständlich, wenn die Angaben über rheumatische Beschwerden und Magen-
beschwerden zu einer Beobachtung auch dieses ätiologischen Momentes
ganz besonders herausfordern. Ich möchte das Gesagte kurz mit 2 Bei¬
spielen belegen, könnte Dutzende ähnlicher aber nennen.
In dem ersten dieser Fälle handelt es sich um einen 43jährigen Mann,
der schon in mehreren Lazaretten behandelt, schließlich bei meiner Ab-
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 683
teilung endete, und dessen Krankheitsbezeichnung „Rheumatismus und
hysterische Stummheit“ lautete. In den früheren Krankenblättern war
. von chronischem Alkoholismus oder sonstigen wesentlichen Momenten
der Vorgeschichte nichts enthalten. Es stand darin nur, daß er früher
angeblich stets gesund und 1916 als Soldat bereits wegen Rheumatismus
und hysterischer Stummheit behandelt sei, sowie ferner die Angabe, daß
er seine Krankheit auf Erkältung im Dienst zurückführe.
Das Bild, das er mir bot, war folgendes:
Vater aufgeregter Säufer. Ein Bruder mit 20 Jahren an Epilepsie
gestorben. Ein Bruder klein gestorben. Ein anderer Bruder mit 47 Jahren
an Krebs gestorben. 5 gesunde Geschwister. Er selbst litt von Kindheit an
viel an Kopfschmerzen, in der Jugend viel Schlafsprechen. War von
jeher leicht aufgeregt, schon als Kind streitsüchtig. Er hat in einer 7Massi¬
gen Schule alle Klassen durchgemacht, aber schwer gelernt. Er hat nicht
aktiv gedient, Ursache ist ihm nicht bekannt. Er hat von jeher zu Magen¬
beschwerden geneigt. Hatte in den Jahren 1903—04 stets am Morgen Er¬
brechen. Litt in den späteren Jahren auch stets morgens viel an Übel¬
keit, obwohl sein Zustand im ganzen besser war. Auch hatte er seitdem viel
rheumatische Beschwerden und ist viel erkältet gewesen.
Im Juni 1916 eingezogen, kam er sehr bald wegen Rheumatismus
und hysterischer Stummheit, die efilige Tage andauerte und ohne rechten
Anlaß kam und ging, in Lazarettbehandlung. Wurde im Herbst 1916 als
Arbeiter für den Heeresbedarf entlassen, lag dann von Mitte Juli 1917
bis November 1917 in einem Zivilkrankenhaus wegen rheumatischer Be¬
schwerden und schlechten Sprechens. Kam am 5. 1. 18 wieder ins Feld
als Armierungssoldat und am 26. 1. 18 bereits wieder wegen der genannten
-Beschwerden ins Lazarett. Er gab hier zu, von jeher den ganzen Tag zu
rauchen. Er habe regelmäßig jeden Tag etwa 3—4 1 Bier und „etwas“
Schnaps getrunken, Sonntags erheblich mehr, etwa 5—10 1 Bier. Er sprach
bei der Aufnahme mit tonloser Stimme.
Ist klein, nicht sehr kräftig. Er bot weiter dumpfe Herztöne, im
Liegen betonte II. Herztöne, ferner starkes Plätschern und Gurren in der
Magengegend, eine ziemlich kleine Leberdämpfung. Enorme Druck¬
empfindlichkeit aller großen Nervenstämme. Stark gesteigerte Muskel¬
erregbarkeit mit Querwulstbildung. Lebhafter statischer Tremor. Nicht
ganz runde Sehlöcher. Beim Beginn der Augen Untersuchung starkes
Zwünkern. Grau belegte Zunge. Starke Schmerzfurcht. Allgemeine
Uberempfindlichkeit. Er neigte dazu, mit dem betreffenden Körperteil
stets vor Berührungen auszuweichen. Grimassierte stark, angeblich vor
Schmerzen, und ähnliches mehr.
Ich glaube, daß man berechtigt ist, in diesem Falle allein einen chroni¬
schen Alkoholismus anzunehmen und irgendwelchen Einfluß des Heeres¬
dienstes auf die Gestaltung seines Krankheitsbildes abzulehnen, zumal die
wirksam gewesenen Schädigungen die des täglichen Lebens eigentlich nicht
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6 . 4(5
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684
R o h d e.
übertrafen und speziell ein bedeutsames akutes schädigendes Erlebnis nicht
nachzuweisen war. Ich meine, daß gerade das Fehlen eines schweren
akuten Erlebnisses in besonderem Maße zur Prüfung der Ätiologie und
Konstitution zwingt, weil sonst ohne dieses die Entstehung schwererer
Störungen, wie Stummheit usw r ., kaum denkbar wäre. Ich könnte eine
ganze Anzahl ähnlicher Fälle anführen, bei denen wie in diesem aber die
Möglichkeit einer Grundlage der AJkoholintoxikation nicht gestreift war.
Auch im folgenden Falle selbst war das nicht der Fall, der vielmehr
als Rheumatiker galt, der es im Kriege geworden sei, bei dem aber wohl
auch noch das Nikotin eine besondere Rolle spielt — ohne auf dessen Rolle
hier besonders eingehen zu wollen.
40jähriger Mann. Klagt über starke rheumatische Beschwerden
sowie in letzter Zeit Flimmern vor den Augen, mit allgemeiner Ermüdbar¬
keit, die er auf Erkältung in vorderster Linie im Graben zurückführte.
Ich konnte folgendes feststellen:
2 Schwestern angeblich schwer rheumatisch, nach der Schilderung
vielleicht hysterische Symptome. Er selbst hat schon vor dem Kriege
rheumatische Beschwerden, besonders in der rechten Gesäßfalte und der
rechten Schulter, seit langen Jahren gehabt. Im Oktober 1914 schlug eine
Granate nicht weit von ihm ein. Er erschrak stark, hat angeblich stark
geschwitzt und verspürte am nächsten Tage stärkere rheumatische Be¬
schwerden, so daß er in Lazarettbehandlung kam, im Anschluß eine Badekur
durchmachte. Seitdem im Etappengebiet beschäftigt.
Körperlich bot er eine ganze Reihe hysterischer Symptome; sehr
lebhaften statischen Tremor. Gesteigerte Muskelerregbarkeit. Starke
Druckempfindlichkeit aller großen Nervenstämme. Etwas dumpfe Herz¬
töne. Rachenkatarrh. Nur angedeutete Hautreflexe. Aufgehobene Fersen-,
reflexe. Kniereflexe nur mit Jendrassik ganz schwach auszulösen. Ferner
eine leichte Kropfanlage. Ich möchte erwähnen, daß die Pupillen reagierten,
das Lagegefühl absolut ungestört war, er auch sonst nichts bot, >.vas im
Sinne einer Tabes zu deuten wäre, daß er nie Lues gehabt hat, auch die
W’assermn/msehe Reaktion sowohl im Blut wie in der Spinalflüssigkeit
negativ war. Dagegen bot er, wie auf meine Veranlassung dann auch
augenärztlich festgestellt w r urde, eine starke Rötung beider Papillen und
eine kleine Blutung im linken Augenhintergrund, was augenärztlich auf
Nikotin bezogen wurde. Er gab mir auf Befragen täglichen Genuß von
20 schweren Zigarren zu und gab schließlich zu, was mir aus seiner nächsten
Umgebung bestätigt wurde, daß er allabendlich seit langen Jahren große
Mengen ,,Grog“, Schnaps, Wein trank und ohne diese Gifte eigentlich
nicht leben könne. Ich bemerke aber ausdrücklich, daß er das erst zugab.
als ich ihn darauf aufmerksam machte. Ich glaube, daß in diesem Falle
die Annahme einer Pseudotabes alcoholica in jeder Weise gerechtfertigt
war und eine DB. nicht angenommen w'erden konnte, zumal er in ruhigen,
friedensmäßigon Verhältnissen in der Etappe lebte.
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Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. 685
Ich meine, daß ebenso wichtig wie die ganze psychopathische
angeborene Artung für die Entstehung und für die Beurteilung
der Neurosen des Krieges in allen ihren Formen und speziell
auch für die Beurteilung der Dienstbeschädigungsfrage der chro¬
nische Alkoholismus und die .alkoholische Charakteränderung
ist, die aber nach meinen Erfahrungen im allgemeinen bisher
fast gänzlich außerhalb der* Betrachtungen und Erörterungen
geblieben ist. Zur Nachprüfung und eventuellen Berücksichtigung
schon jetzt bei der ersten für später so besonders wichtigen Fest¬
legung des Befundes anzuregpn, ist Zweck dieser kurzen Hinweise.
Und dabei möchte ich noch auf etwas hinweisen, bezüglich
dessen | aber, wie ich meine, möglicherweise die Verhältnisse
anders liegen. In auffallender Häufung sind mir, vorwiegend bei
asthenischen Menschen, aber daneben auch bei durchaus kräftigen
Individuen eben abgreifbare leicht vergrößerte Schilddrüsen
aufgefallen, die, ohne daß ausgesprochene Basedowerscheinungen
! Vorlagen, mit gelegentlicher leichter Tachykardie, vereinzelt auch
i mit nervösen Durchfällen und diesen oder jenen im allgemeinen
j geringfügigen nervösen Erscheinungen vergesellschaftet waren.
Sicher werden in sehr vielen Fällen auch diese Symptome schon
vor dem Kriege bestanden haben, — Angaben z. B. über Durch¬
fälle bei Aufregungen im früheren Leben halte ich in dieser
i Hinsicht für nicht unwesentlich —, es wird aber gerade m. E.
j| bei derartigen, wie ich glaube, durchaus nicht seltenen Fällen
oft schwer sein, den Nachweis zu führen und abzuwägen, ob bezw.
in welchem Maße der Krieg für die Entstehung solcher der Forme
fruste des Basedow nicht fernstehender Zustände heranzuziehen
ist. Sicher hat die Ansicht von Langelaan (Neurol. Zentralbl.
1912) sehr vieles für sich, der die asthenische Konstitution als
Äußerung einer Dysthyreosis congenita auffaßt und sich dahin
ausspricht, daß die Asthenia universalis die Vorbedingung für die
Entstehung der Formes frustes ist, die nie aus voller Gesundheit
sich entwickele, und deren Abklingen ebenso langsam und unbe¬
merkt vor sich gehe und einen Astheniker hinterlasse, der eben
durch diese konstitutionelle Anlage immer wieder zur Neu-
erkrankung prädisponiert ist, so daß die Vorbedingung zum Ent¬
stehen der Formes frustes stets die die Asthenie steigernden Ein-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN |
686
Roh de,
flüsse sind. Und es mag hier daran besonders erinnert werden, daß
er schon vor dem Kriege darauf hinwies, daß das, was diese
unvollkommenen Fälle von den chronisch verlaufenden Fällen des
typischen Krankheitsbildes unterscheide, das Beeinflußbare aller
Symptome sei: bei völliger Ruhe gingen) die meisten Symptome
ziemlich schnell zurück, um sofort wieder zum Vorschein zu
kommen bei körperlicher oder geistiger Anstrengung. Auch
träten die Hauptsymptome nicht alle zu gleicher Zeit und in
voller Entwicklung auf. Das Hervorragendste im Krankeitsbild
bildeten die. kardiovaskulären Symptome. Ich meine, das legt
uns die Pflicht auf, gerade bei derartigen Erscheinungen der
ganzen Konstitution besondere Aufmerksamkeit zu schenken, auch
im Interesse der Dienstbeschädigungsfrage. Immerhin verdient
gerade bei derartigen von mir sehr oft gesehenen Erscheinungen
auf die eigentlich nie in früheren Lazaretten geachtet war,
Beachtung, daß es sich stets um erschöpfte Leute handelte, bei
denen oft eigentlich schwerere Erscheinungen nervöser Art, speziell
psychopathischer Artiing, in der Vorgeschichte fehlten, so daß
mir in jedem Falle die Erschöpfung für das Auftreten solcher
Erscheinungen eine Rolle zu spielen nnd damit für die Annahme
einer wesentlichen Verschlimmerung oft die Vorbedingung ge¬
geben zu sein schien. Ich möchte darauf hinweisen, daß ich in
durchaus nicht seltenen Fällen nach Schreck, bei schwerer Er¬
schöpfung, auch nach Gasvergiftungen in besonderem Maße der¬
artige Symptome gesehen habe, ja, daß in so manchen derartigen.
Fällen Schilddrüsenschwelllungen, ein eigenartiger Glanz der Augen,
Tachykardie und dergl. in wechselnder Kombination gleichsam
unter meinen Augen in der Lazarettbeobachtung kamen und
gingen. Ich bemerke, daß ich der ganzen Konstitution auch hier¬
bei stets die Hauptrolle zügewiesen habe, daß es sich aber
andererseits um erschöpfte Menschen handelte und nicht in jedem
Falle, wenn es auch für die meisten wohl zutreffend war, die
Asthenia universalis vorlag. Hinweisen möchte ich auch darauf,
daß mir als Mitglied einer Fliegeruntersuchungskommission auf¬
gefallen ist, wie gerade bei Fliegern, die schon oft und in größeren
Höhen geflogen waren, derartige Befunde sich häuften, so-
daß ich. den Eindruck habe, als ob der Wechsel plötzlicher
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UNIVERStTY OF MICh'gAN
Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw. ©87
Art, Luftdruckschwankungen, verschiedene sich rasch ablösende
Luftströmungen u. dergl., wozu noch die ganze erhöhte Energie
und Anspannung solcher Menschen kommt, für die Auslösung,
■vielleicht auch in gewissen Grenzen Entstehung solcher Symptome
nicht belanglos'wäre. Ich meine, daß gerade hieraus sich für
später manche Fragen — und speziell mit Rücksicht auf die
Dienstbeschädigungsfrage — ergeben können und müssen, auf die
jetzt schon zu achten angezeigt ist. Und ich halte es für
wünschenswert, wenn . schon jetzt in den Krankenblättem mehr
als es geschieht auch darauf geachtet wird und speziell in jedem
Nervenstatus auch ein Wort über die Schilddrüse sich finden
würde und in den Vorgeschichten mehr den damit zusammen¬
hängenden Konstitutionsfragen Rechnung getragen würde.
Das Hauptgewicht bei allen nervenärztlichen Feststellungen
gerade mit Bezug auf alle im Vorstehenden hervorgehobenen
Punkte wird m. E. stets in der Erhebung einer möglichst ein¬
gehenden Vorgeschichte beruhen. Es setzt das naturgemäß ein
hohes Maß von Schreibarbeit voraus. Ich glaube aber, daß die¬
selbe nicht nutzlos ist, denn gerade durch sie wird und muß es
gelingen, besser den Kranken zu beurteilen und weiterhin —
wobei in frühzeitiger Festlegung aller dieser Punkte der Schwer¬
punkt liegen muß — die Heeresverwaltung vor unberechtigten
Rentenansprüchen zahlloser von Hause aus psychopathischer oder,
wie bei chronischen Alkoholisten. durch eigene Schuld psychopathisch
gewordener Individuen zu bewahren. Es setzt das voraus, daß den
mit dieser Aufgabe betrauten Dienststellen, wozu ja in erster
Linie die Nervenabteilungen in Frage kommen, ausreichendes
Hilfspersonal, speziell Schreibkräfte, zur Verfügung steht, das
unschwer so weit gebracht werden kann, daß es in nicht allzu
langer Zeit in der Lage ist, nach einem vom Arzt aufgestellten
Schema derartige Vorgeschichten unter Berücksichtigung auch
charakterologischer Einzelheiten durchzuführen. Wenn dann der
Arzt selbst noch auf Einzelheiten, die vielleicht nicht so klar
hervortreten, eingeht und die zum Teil bereits erhobene Kranken¬
geschichte mit dem Kranken durchgeht, läßt sich unschwer in
jedem Falle, selbst bei großer Belastung der Station, die Auf¬
nahme eingehender Vorgeschichten durchführen. Es wird damit
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UhHVERSITY OF MICHIGAN
638 Rohde, Die Vorgeschichte bei Neurosen und ihre Bedeutung usw.
nicht nur das Interesse der Heeresverwaltung gewahrt, sondern
auch die Möglichkeit gegeben, den Kranken besser psychothera¬
peutisch zur Seite zu stehen, als wenn man sich nur an die
gegenwärtigen Symptome klammert und dieselben zu behandeln
versucht, ohne die zahlreichen ätiologischen Zusammenhänge und
psychologisch wirksamen Momente, sowie auch die cbaraktero-
logisohen Eigenheiten zu entwirren.
Aus diesem Grunde halte ich es für außerordentlich wichtig,
so wie es in meinem Bezirk durch den Herrn Armeearzt an¬
geordnet war, daß bei der Einweisung jedes Nervenkranken und
Geisteskranken in jedem Falle ein Bericht des Truppenteils her¬
gereicht wird, der sich nicht nur über die zu seiner Einweisung
führenden Vorgänge, sondern auch über den Eindruck ausspricht,
den Kameraden und Vorgesetzte seit längerer Zeit von dem be¬
treffenden Mann haben. Letzteres wird natürlich nur in ruhigeren
Zeiten und ruhigerem Verhältnis möglich sein. Wenn es dann
aber wirklich durcbgeführt wird, stellt es, meines Erachtens, nicht
nur eine wesentliche Erleichterung für den Nervenarzt und ein
sehr nutzbringendes Moment auch für den Kranken dar, sondern
es kann uns auch dazu helfen, gerade bei Abwägung der für die
DB.-Frage wichtigen Momente manche Unterlagen und Erleichte¬
rungen zu geben, die für später von größerer Bedeutung sind,
als man es schlechthin zu glauben geneigt ist*).
*) Vorstehende Ausführungen sind schon vor Jahresfrist entstanden.
Wenn ich sie entgegen meiner ursprünglichen Absicht jetzt noch veröffentliche,
so ist der Grund der, daß ich gerade jetzt bei der Nachprüfung von Versorgungs- ,
angprüchen das, was ich damals niederschrieb, voll bestätigt finde. Zugleich
scheint mir die Veröffentlichung mit Rücksicht auf die nach Beendigung des
Krieges vor uns liegende Arbeit gerechtfertigt, die Rentenansprüche der Ner¬
vösen mit dem notwendigen Maß von Kritik zu prüfen und etwa Versäumtes
noch möglichst nachzuholen.
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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwach¬
sinnigen and Normalen.
Von
San.-Rat Dr. Rudolf Ganter, Worraditt (Ostpr.).
Es sind verschiedene Kunstgriffe angegeben worden zur Fest¬
stellung der Linkshändigkeit. Das erübrigt sich aber, die einfache
Beobachtung genügt vollständig. Allerdings mit der linken Hand
essen und schreiben nur wenige Linkshändige: man hat ihnen
das, als zu auffallend, von frühester Jugend an abzugewöhnen
gesucht. Doch: Naturam expellas furca, tarnen usque recurret.
Bei längerer Beobachtung der Leute, wozu ja in der Anstalt reich¬
lich Gelegenheit ist,\ entdeckt man oft ganz unerwartet, daß ein
Kranker, hinter dem man nie die Linkshändigkeit vermutet hätte,
eines schönen Tages den Hammer mit der linken Hand führt,
mit der linken Hand die Peitsche schwingt oder Brot schneidet,
Staub wischt, Teller abtrocknet. Bei andern überrascht es, daß
sie beim Kartenspiel mit der linken Hand mischen und ausgeben.
Wieder andere schälen Kartoffeln links, stricken links, fädeln
links ein, werfen den Ball links. Der linkshändige Landarbeiter
führt den Spaten, den Rechen, die Forke links. Da machen
sich aber oft Zweifel geltend: Wie muß der Arbeiter den Stiel
fassen, um als rechts- oder linkshändig angesehen zu werden?
Hier entscheidet, welche Hand die Führung hat. Hält jemand
mit dejr linken Hand den Stiel in der Mitte, während die rechte
Hand das Ende des Stieles faßt, so ist er rechtshändig, im um¬
gekehrten Falle linkshändig. Die vordere Hand ist eben nur die
‘ Stützhand, die hintere, wichtigere, ausschlaggebende die Leitungs¬
hand. Man darf sich nur zur Verdeutlichung die Lage der Hände
des das Gewehr in Anschlag bringenden Soldaten vor. Augen
halten.
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Original from
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690
Ganter.
Stier gibt in seinem Buche 1 ) noch eine ganze Reihe anderer
Hantierungen an, an denen man in' einfacher Weise den Links¬
händer erkennen kann. Mag einer noch so viele Verrichtungen
mit der rechten Hand ausführen: wo es sich um die Entfaltung
einer besonderen Geschicklichkeit handelt, wird der Linkshänder
immer die linke Hand gebrauchen. Selbstverständlich zählen alle
die nicht zu den eigentlichen Linkshändern, die aus organischen
Gründen in der Verwendung der rechten Hand behindert sind,
wie die Verletzten, Gelähmten, Spastischen. Der echte Links¬
händer wird geboren.
Zu den in der Anstalt gemachten Beobachtungen kommt
weiterhin das Ausfragen der Angehörigen, um das Vorkommen
der Linkshändigkeit in den Familien der Kranken festzustellen.
Wir haben den Eindruck gewonnen, daß hierbei brauchbare An¬
gaben zu erhalten sind, wenigstens hinsichtlich der Eltern und
Geschwister. Zum Vergleich haben wir eine Umfrage über das
Auftreten der Linkshändigkeit in normalen Familien veranlaßt.
Sektionen bei unsereq Kranken verschafften uns auch einen
kleinen Einblick in die Gehirnverhältnisse.
Wir wenden uns zunächst zu dem Vorkommen der Links¬
händigkeit :
Von 73 männlichen Epileptischen sind 21 = 28,7 % linkshändig
„ 73 weiblichen ,, „ 11 = 15,0% ,,
Von 146 Epileptischen sind 32 = 21,9% linkshändig
Von 88 männlichen Schwachsinnigen sind 16 = 18,2% linkshändig.
,, 67 weiblichen „ ,, 13‘ = 19,4% „
Von 155 Schwachsinnigen sind 29 = 18,7% linkshändig.
Rechnen wir zu den linkshändigen Kranken noch diejenigen hinzu,
die selbst nicht linkshändig sind, aber linkshändige Verwandte haben,
so ergeben sich folgende zwei Tabellen:
Von den 73 männlichen Epileptischen: 21 + 21 = 42 = 57,5 %.
,, „ 73 weiblichen ,, 11 + 14 = 25 = 34%2 %.
Von den 146 Epileptischen s 32 + 35 = 67 = 45,9%.
Von den 88 männlichen Schwachsinnigen: 16 + 25 = 41 = 46,6%.
,. ,, 67 weiblichen ,, 13 + 17 = 30 = 44,8%.
Von den 155 Schwachsinnigen 29 -t- 42 = 71 = 45,8%.
M Stier, rntcrsucliungcn über Linkshändigkeit. Jena 1911.'
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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 691
Den beiden Krankheitsgruppen, den Epileptischen und Schwach¬
sinnigen, gegenüber stellen wir eine Gruppe von Gesunden. Hier haben
wir allerdings die L'ntersuchungen und das Ausfragen nicht selbst besorgt,
sondern durch zwei Mittelspersonen ausführen lassen: Bei 93 anscheinend
normalen Familien kam in 26 Familien Linkshändigkeit vor = 27,9%.
Aus diesen Tabellen ergibt sich zunächst die Tatsache, daß die männ¬
lichen Epileptischen den größten Prozentsatz an Linkshändigen aufweisen,
nämlich 28,7% gegenüber 18,7% bei den Schwachsinnigen. Dieser Befund
stimmt mit den Angaben anderer überein, wonach unter den Epileptischen
überhaupt sich sehr viele Linkshändige befinden. So kommt bei ihnen
nach Lombroso und Tonnini 1 ) Linkshändigkeit in 23—30% vor. Stier
fand sie bei 119 epileptischen Kindern der Nervenpoliklinik der Charitö in
Berlin 17mal = 14,3% (13,2% Knaben, 15,7% Mädchen). Redlich 1 )
wies unter 125 Epileptikern in 17,5% Linkshändigkeit nach, dagegen bei
Nerven- und Geisteskranken in nur 8%. Ähnlich lautet das Ergebnis
von Stier bei den nicht epileptischen Kindern der Nervenpoliklinik: Unter
1770 Kindern 162 = 9,1 % Linkshändige. Unsere Zahl von 28,7 % stimmt
am besten zu der von Lombroso und Tonnini gefundenen, während unsere
weiblichen Epileptischen in einem geringeren Prozentsatz Linkshändige
zeigen, in 15,0 %. Diese Zahl kommt dann wieder der von Redlich und
Stier angegebenen nahe. Ob die geringere Beteiligung der epileptischen
Frauen auf einem Zufallsergebnis beruht, oder ob der Umstand auch hier
hineinspielt, wonach, wie Stier angibt, bei normalen Männern die Links¬
händigkeit doppelt so häufig ist als bei den Frauen, ist nicht leicht zu
sagen. Vielleicht ist es Zufall, denn bei den Schwachsinnigen mit ihren
18—19 % Linkshändigkeit überwiegen sogar etwas die weiblichen Schwach¬
sinnigen. Die Zahl der Linkshändigen bei den Schwachsinnigen über
.haupt (18,7 %) bleibt hinter der bei den Epileptischen überhaupt (21,9%)
nicht erheblich zurück. Von den 18,7% Linkshändigen bei den
Schwachsinnigen bis zu den von Redlich angegebenen 8% bei Nerven
und Geisteskranken ist wiederum ein großer Schritt. Der geringste
Prozentsatz wurde bei Normalen gefunden: Nach Stier waren unter 4787
Soldaten 220 Linkshändige — 4,6%, nach o. Bardeleben 2 ) unter 266000
Rekruten bis zu 6,8 %. Wenn das Vorkommen der Linkshändigkeit von
einigen, wie von Pelman, Liersch, Weber, Hyrtl 3 ), auf nur 2—4 % geschätzt
wird, so ist diese Zahl sicher viel zu niedrig. Schätzungen besagen übrigens
in diesen Fällen nicht viel, wo selbst eingehende statistische Erhebungen
noch mit Fehlerquellen behaftet sein können.
Kehren(Pir zu unserer Statistik zurück. Wir haben zu den epilepti¬
schen und schwachsinnigen Linkshändern nun auch diejenigen Kranken
1) Bei Binstvanger, Epilepsie, 2. Auf!., S. 315. 1913 u. Archiv f.
Psych., 1908, Bd. 44.
2 ) Ref. in der Münch, med. Wschr. 1913, Bd. 2, S. 2701.
3 ) Bei Stier S. 69.
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692
Ganter,
hinzugezählt, die linkshändige Verwandte haben, und einen Prozent¬
satz erhalten, der bei den männlichen Epileptischen am höchsten ist:
57,5 %, während er bei Gegenüberstellung aller Epileptischen und Schwach¬
sinnigen soviel wie gleich ist: 45,9 und 45,8%. Unser Vergleich mit dem
Vorkommen von Linkshändigkeit in den gesunden Familien ergibt 27,9 %.
Der Prozentsatz hinsichtlich des Vorkommens der Linkshändigkeit in
Familien von Epileptischen und Schwachsinnigen ist auch hier beträchtlich
hoch, wenn auch nicht so hoch, wie ihn Steiner 1 ) angibt, der in 89,5 %
Linkshändigkeit in den Familien der rechtshändigen Epileptiker und
Linkshändigkeit bei den Kranken selbst fand. Stier erfragte von 304 Sol¬
daten 154 linkshändige Verwandte = 50,6 %. Unsere Zahl von 27,9 %
bleibt hinter diesen Zahlen mehr oder weniger weit zurück. Aber gerade
diese Statistiken, die die Verwandten einbeziehen, schließen reichlich
Fehlerquellen in sich. So weiß man nicht, wie weit das Erinnerungsver¬
mögen der Befragten geht, was alles in die Verwandtschaft einbezogen
wird und dergleichen mehr. Immerhin kann man eher mit einem Zuwenig
als mit einem Zuviel der Zahl rechnen. Auch der Zufall mag eine nicht
zu unterschätzende Rolle spielen. Wie oben schon gesagt, ließ ich in
gesunden Familien durch zwei Mittelspersonen Umfrage halten: von der
einen erhielt ich 16,6%, von der andern 30,8% Linkshändige.
Suchen wir nach einer Erklärung für das häufige Auftreten der
Linkshändigkeit bei den Epileptischen, so spielen in manchen Fällen
sicher halbseitige Gehirnprozesse, wie Redlich behauptet, eine Rolle.
Eine im frühesten Kindesalter auftretende Enzephalitis kann die eine
Hirnhälfte, also z. B. die linke, in der Weise schädigen, daß die andere
Hälfte einen Teil ihrer Funktionen übernehmen muß. Dabei kann die
Störung so gering sein, daß bei der Untersuchung des Kranken keine
auffallenden Erscheinungen zutage treten. Manchmal gewinnen wir einen
gewissen Anhaltspunkt für den Sitz der AfTektion im Verhalten der Knie¬
sehnenreflexe. So fand Stier bei einem Linkshänder eine Steigerung des
rechtsseitigen Kniesehnenreflexes. Desgleichen wies Stier bei seinen 17
linkshändigen epileptischen Kindern in zwei Fällen ein Geburtstrauma
und in einem Falle Enzephalitis nach, deren dadurch bewirkte Hirn¬
schädigung sich in Spasmen, Paresen und Reflexunterschieden kundgab.
Die Untersuchungen, die wir bei einigen linkshändigen Epileptischen
und Schwachsinnigen anstellen konnten, hatten folgendes Ergebnis:
Zahl der Fälle Rnierefl. rechts stärker Knierefl. links stärker
Epil. 12 4 (1 mal sehr ausgeprägt, 7 (4 mal sehr ausgeprägt,
3 mal lebhaft). 3 mal lebhaft)
Schwachs. 15 4 (sehr ausgeprägt) 1 (sehr ausgeprägt).
Bei den Epileptischen war also 11 mal ein Unterschied in der Stärke
der Kniereflexe vorhanden, aber 7 mal waren sie links stärker und nur
J ) Bei Binswanger S. 316.
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Uber Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 693
4 mal rechts, während man rechtseitige Steigerung erwartet hätte. Bei
den Schwachsinnigen zeigte sich nur 5mal ein Unterschied in der Stärke.
Diesmal allerdings waren sie 4mal rechts stärker und nur lmal links.
Wie man sieht, ist keine bestimmte Beziehung zwischen der Steigerung des
Kniereflexes und der Linkshändigkeit festzustellen. ln einem Falle von
Epilepsie wiesen die öfters auftretenden Zuckungen im rechten Arm auf
ein ErgrilTensein der linken Hemisphäre hin, aber da war merkwürdiger¬
weise der Kniereflex links gesteigert. In einem zweiten Falle von Epilepsie
konnte die Kranke wegen des beim Schreiben sofort auftretenden Zitterns
nur mit der linken Hand schreiben — der einzige unter unsern Fällen mit
linker Handschrift —, auch konnte die Kranke Tassen und dergleichen
in der rechten Hand nicht ohne zu zittern halten. Und auch in diesem
Falle war merkwürdigerweise der Kniereflex links gesteigert. In einem
dritten Falle, der früher von uns beschriebenen linkshändigen Rechen¬
künstlern! 1 ), machte die Kranke beim Kopfrechnen unwillkürlich mit
der linken Hand eine ausfahrende Bewegung, als ziehe sie einen Strich
unter die Zahlen: eine Mitbewegung, die nach Stier zur Lokalisation einer
AfTektion verwertet werden kann. Und auch da wiederum war der Knie¬
reflex links gesteigert. Vielleicht liegt bei diesen Fällen die Ursache in
einer eigenartigen Lokalisation der Hirnprozesse. Jedenfalls kann nach
unsern Befunden der Unterschied im Verhalten der Kniereflexe nicht in
eine geregelte Beziehung zur Linkshändigkeit und ihrer Lokalisation im
Gehirn gebracht "werden.
Was von der Epilepsie gilt, .gilt in gewissem Grade auch vom Schwach¬
sinn. Auch hier mögen in manchen Fällen von Linkshändigkeit frühzeitig
aufgetretene, wenig auffallende Erscheinungen bewirkende Krankheits¬
prozesse im Gehirn, vielleicht auch Entwicklungshemmungen für das
Entstehen der Linkshändigkeit verantwortlich gemacht werden.
Wird man bei einem Teil der Fälle mit einem derartigen Erklärungs¬
versuch nicht fehlgehen, so bleibt doch noch eine große Anzahl Fälle
außerhalb des Rahmens dieser Erklärung. So fordern eine andere Deutung
alle diejenigen Fälle, bei denen Erblichkeit nachgewiesen werden kann.
Wir haben unter 120 Familien unserer Kranken 33 Familien gefunden,
in denen die Linkshändigkeit bei mehr als einem der Mitglieder vorkommt,
d. h. 27,5 %. Von den Seitenverwandten haben wir nur die Onkel und
Tanttm berücksichtigt. Sehen wir des näheren zu, wie sich die Übertragung
oder das Vorkommen in der Familie gestaltet:
Vererbung: Vom Vater auf den .Sohn 6mal; von der Mutter auf den
Sohn 1 mal; Mutter links, 3 Söhne und eine Tochter: 2 Söhne links; Mutter
und Tochter links: 2mal; 2 Brüder links: 3mal; 2 Schwestern: lmal:
Bruder und Schwester: 3mal. Was das Vorkommen bei Großeltern»
Onkeln und Tanten betrifft, haben wir etwa noch 6 Fälle zu verzeichnen.
*) Diese Zeitschrift B. 73.
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694
Ganter,
aber keineswegs irgendwelche Regelmäßigkeit gefunden. Auf welche Weise
die Linkshändigkeit in eine Familie eingeführt werden kann, zeigt am
besten die mehrmalige Verheiratung: 1. Aus der ersten Ehe der Mutter
stammen 4 Söhne, darunter der Pat. und 3 Töchter: aus der zweiten Ehe
eine Tochter und ein Sohn: der Vater und der Sohn sind links. 2. Aus der
ersten Ehe der Mutter 3 Töchter, aus der zweiten Ehe 3 Söhne und 3
Töchter, darunter die Pat. Diese letztere ist links, die Großmutter
mütterlicherseits war links. Hier ist wohl in der zweiten Ehe ein patho¬
logischer Faktor hinzugetreten, der auch die Linkshändigkeit, die in der
ersten Ehe nicht zur Geltung kam, in der zweiten zum Ausbruch brachte.
3. In dieser Familie liegen die Verhältnisse ähnlich, hur scheint die De¬
generation in der zweiten Ehe noch stärker zum Ausdruck zu kommen:
Aus der ersten Ehe der Mutter 2 Söhne und 1 Tochter; aus der zweiten
Ehe 2 Söhne und 4 Töchter, darunter die idiotische Kranke und eine links¬
händige Schwester. Alle Geschwister lernten schwer.
Im Gegensatz zu diesen Fällen stehen andere, bei denen man sich
wundern muß, daß die Linkshändigkeit sich nicht vererbte: 1. Vater
links, hat 3 Söhne und 5 Töchter, nicht links. 2. Vater links, hat einen
Sohn und 3 Töchter, nicht links. 3. Vater und Mutter links, haben 3 Söhne
und 1 Tochter, nicht links. 4. Vater des Pat. und Großvater mütterlicher¬
seits links, der Vater hat 5 Söhne und 5 Töchter, nicht links. 5. Die Mutter
des Pat. links, Großmutter mütterlicherseits links, von den 5 Söhnen und
4 Töchtern keine links. 6. Die Mutter des Pat. und deren Schwester links,
die Muttter hat 1 Sohn und 4 Töchter, nicht links.
Man könnte ja bei diesen Fällen annehmen, daß eine Generation
übersprungen wird und die Linkshändigkeit vielleicht ln der nachfolgenden
wieder zum Vorschein kommt. Jedenfalls ist es eine auffallende und für
uns bis jetzt trotz Afendefscher Regeln nicht weiter erklärbare Tatsache,
daß das eine Mal die Linkshändigkeit von den Eltern. Großeltern oder aus
einem Seitenzweig sich vererbt und manchmal bei mehreren Nachkommen
auftritt, das andere Mal wieder trotz Linkshändigkeit, auch mehrfacher,
bei den Vorfahren, auf keines der Kinder eine Übertragung stattfindet.
Um hier die schon einmal gestreifte Frage nach dem Vorkommen der
Linkshändigkeit beim männlichen und weiblichen Geschlechte wiederum
anzuschneiden, haben wir bei 88 Familien unserer epileptischen und
schwachsinnigen Kranken die Söhne und Töchter mit Linkshändigkeit
zusammengezählt und gefunden, daß unter 264 Söhnen 58 = 21,9% und
unter 246 -Töchtern 37 = 15,0% Linkshändige sich finden. Es über¬
wiegt also, wie wir schon oben einmal berechnet haben, das männliche
Geschlecht in ziemlichem Maße, wenn auch nicht doppelt so stark, wie
Stier gefunden hat.
Die Vererbbarkeit der Linkshändigkeit ist schon von verschiedenen
Autoren betont worden, so von Stier . dessen Zahlen wir aber, weil auf ande¬
rer Rechnung beruhend, nicht zum Vergleich heranziehen können. Redlich
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Uber Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 695-
sieht in dem familiären Auftreten der Linkshändigkeit ein Degenerations¬
zeichen. Dies familiäre Auftreten konnte er aber nur in 3% seiner Epi¬
leptiker naehweisen, wir hingegen in den Familien unserer Kranken
in 45,9%.
In der Tat bietet sich hier eine zweite Möglichkeit für die Erklärung
des Auftretens der Linkshändigkeit: Sie ist als ein Degenerations- *
Zeichen anzusehen. Dafür spricht das gehäufte Auftreten bei Epilepti¬
schen und Schwachsinnigen, ferner das gleichzeitige Vorkommen anderer
degenerativer Erscheinungen. So ist die Linkshändigkeit oft vergesell¬
schaftet mit Sprachfehlern, Bettnässen, Fazialisparese, Debilität. Stier
fand sie bei minderwertigen Soldaten (Festungsgefangenen) häufiger als
bei den übrigen Soldaten. Lombroso, Marro, Baer wiesen sie auch bei
Verbrechern in vermehrter Weise nach.
Eine dritte Möglichkeit, sich das Erscheinen der Linkshändigkeit
verständlich zu machen, wäre die, in ihr eine Anomalie, eine Abweichung
vom Typus zu erblicken, wie es Stier tut, der in dem heutigen Links¬
händer den Rest einer im Aussterben begriffenen Varietät der Gattung
Homo sapiens zu erkennen glaubt. Doch betreten wir hier schon das
anthropologische Gebiet % Für unsere Fälle kommen wir mit den zwei
ersten Erklärungsversuchen aus, wonach die Linkshändigkeit einerseits
bedingt sein kann durch Krankheitsprozesse im Gehirn, andrerseits als
Degenerationszeichen anzusehen ist.
Haben uns bisher die Fragen über Vorkommen, Vererbbarkeit und
Wertung der Linkshändigkeit beschäftigt, so wollen wir nunmehr einen
andern wichtigen Punkt erörtern, nämlich die Frage, ob die Linkshändig¬
keit auch morphologisch nachweisbar ist.
Im allgemeinen entwickeln die Rechtshänder in ihrem rechten Arm,
die Linkshänder in ihrem linken eine größere Kraft, die sich auch in einem
größeren Umfang des betreffenden Gliedes kundgibt. Doch gibt es nicht
wenige Fälle, in denen beim Rechtshänder die größere Kraft im linken,
beim Linkshänder im rechten Arm sitzt. Dem entsprechend verhält sich
auch der Umfang. Geschicklichkeit für feinere Arbeiten und grobe Kraft
brauchen also nicht notwendig im gleichen Arm oder der gleichen Hand
vergesellschaftet zu sein. Diese Angaben beruhen auf den Messungen
verschiedener Autoren mit Dynamometer und Bandmaß. Bei 27 unserer
linkshändigen Kranken hatte 4 mal der linke Oberarm einen 0,5 cm, 1 mal
*) Auffällig ist die Tatsache, daß Stier bei den elsaß-lothringischen
Soldaten viel Linkshändigkeit antraf. Das stimmt aber damit gut zu¬
sammen, daß ich bei den Untersuchungen auf Degenerationszeichen in
Hördt im Elsaß unter dem Pflegepersonal einen ebenso hohen Prozentsatz
von Irisfleckung fand wie sonst bei den Geisteskranken (diese Zeitschrift
Bd. 70). Es scheint demnach, daß die Mischung verschiedener Volks¬
stämme, wozu bei einer Grenzbevölkerung ja reichlich Gelegenheit ist, auch
bei Gesunden das vermehrte Auftreten von allerlei Anomalien begünstigt.
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696
Ganter.
einen t cm, 3mal einen 1,5 cm größeren Umfang als der rechte; 3mal war
der rechte Oberarm um 1 cm stärker. Andere Autoren haben auch die
Länge der Knochen gemessen und nach dem Tode das Gewicht bestimmt,
ohne, ebenso wie wir, eine geregelte Beziehung zwischen diesen Befunden
und der Linkshändigkeit feststellen zu können.
Wichtiger als diese Untersuchungen scheinen uns die über das Ver¬
halten der Gehirnhälften zu sein. Es liegt nahe, anzunehmen, daß der
mehr gebrauchten und geübten Hand eine bessere Entwicklung der ent¬
sprechenden Hirnhälfte zugrunde läge, was sich möglicherweise durch
Wägungen nachweisen ließe.
Zur Erörterung dieser Frage, stehen uns 168 Sektionen von Epi¬
leptischen und Schwachsinnigen zu Gebote, die ich in unserer Anstalt
zu machen Gelegenheit hatte. Darunter waren 151 rechtshändige und
17 linkshändige Kranke. Das Verhältnis der Hemisphärengewichte geht
aus folgender Tabelle hervor:
Bei den rechtshändigen Kranken:
Zahl der
männl. Epil. männl. Schwach«, weibi. Epil. weibl. Schwach«.
Rechte Hemi¬
sphäreschwerer: 37 21 29 15 = 102=67.1%
Linke Hemi¬
sphäre schwerer: 10 11 10 0 *= 37=24,5%
Beide Hemi¬
sphären gleich: 4 4 3 1 = 12= 7.9%
151
Bei den linkshändigen Kranken:
Hier haben wir der Kleinheit der Zahl wegen und weil eine nach Ge¬
schlechtern getrennte Aufstellung,wie schon aus der obigen Tabelle hervor -
geht, ohne Bedeutung ist, jeweils Männer und Frauen zusammengenommen.
Zahl der Epil. der Schwachs.
Rechte Hemisphäre
schwerer: 7 5 = 12 = 70,6 %
Linke Hemisphäre
schwerer: 3 1 = 4 = 23.5 %
Beide Hemisphären
gleich: — 1 = 1
17
Nach dieser Statistik ist also die rechte Hemisphäre in einem hohen
Prozentsatz der Fälle überhaupt schwerer als die linke, während man
eigentlich das Umgekehrte erwartet hätte. Der Unterschied bei Reehts-
und Linkshändigen ist dabei verschwindend klein. Am seltensten ver¬
halten sich beide Hemisphären gleich.
Von andern Autoren fand Klippel die linke Hemisphäre bei 200
Gehirnen schwerer als die rechte, Luys fand bei 26 Gehirnen 12 mal die
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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen u. Normalen. 697
linke, 8mal die rechte Hemisphäre schwerer, 7 mal gleich schwer; Braune
unter 92 Gehirnen 52 mal die rechte Hemisphäre, 34 mal die linke schwerer.
Zu ähnlichen Ergebnissen wie Braune kamen Wagner und Ecker , während
Rubel das Vorliegen eines Gewichtsunterschiedes bestreitet 1 ). Es scheinen
diese Untersuchungen an Gehirnen früher geistesgesunder Menschen vor¬
genommen worden zu sein. Nur Klippel berichtet über Untersuchungen
von 28 Gehirnen Geisteskranker, bei denen 15mal die linke, 11 mal die
rechte Hemisphäre schwerer war, und 2 mal ein gleiches Gewicht sich fand.
Reichardt fand beide gleich schwer 2 ). In dem sonst so zahlenreichen
Werke von Vierordts Daten und Tabellen steht in dieser Hinsicht so gut
wie gar nichts.
Wir sind also zu ähnlichen Resultaten gekommen wie Braune .
Wagner und Ecker.
Stier legt wenig Wert auf die Wägung der Hemisphären, weil zu viel
Fehlerquellen damit verbunden seien, als da sind ungleiche Blutverteilung,
ungleicher Wassergehalt, Ungenauigkeit der Schnittführung. Was diesen
letzteren Punkt betrifft, so läßt sich ja gewiß nicht das Gehirn mathe-
matisen genau in der Mitte trennen, nicht mathemasisch genau die Brücke
am Eintritt der Hirnschenkel abschneiden. Auch mit dem Blut- und
Wassergehalt hat es seine Bedenken. Wenn der Unterschied der beiden
Hemisphärengewichte nur einige Gramm beträgt, mag er bedeutungslos
sein, der Wert des Befundes steigt aber mit Zunahme der Gewichtsunter¬
schiede. Mehr als Worte besagen Zahlen, weshalb wir in der folgenden
Statistik die Unterschiede in Zahlen anführen wollen:
Bei den Rechtshändigen
Bei den Linkshändigen
Das Gewicht der
und zwar der
und zwar der
einen Hemisphäre
rechten Hemi-j
linken Hemi-
rechten Hemi-!
linken Hemi*
ist größer um
Sphäre
Sphäre
Sphäre
Sphäre
Zahl d. Fälle
Zahl d. Fälle
Zahl d. Fälle
Zahl d. Fälle
1-10 g
68
26
3
3
11-20 g
18
12
2
1
21-30 g
4
2
—
1
31—40 g
1
4
i
—
41—60 g
3
_
i
—
51—60 g
2 !
3
3
—
61—70 g
1
1
—
—
91—100 g
1
—
—
—
über 100 g
1 1
1
1
—
1 ) Bei Stier S. 1 *26.
2 ) Arb. aus d. psych. Kl. Würzburg. H. 1 . R. hatte die weichen Häute
entfernt, wir nicht. Doch verfügen auch wir über weitere 25 Fälle, bei denen
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698
Ganter,
Wir glauben, daß Unterschiede von 10—20 g kaum mehr mit dem
verschiedenen Wasser- und 'Blutgehalt der Hemisphären zu erklären sind,
aber auch was die kleineren Gewichtsunterschiede anbelangt, wäre es
merkwürdig, wenn dieser in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle immer
zugunsten der rechten Hemisphäre ausfiele 1 ). Das Gleiche läßt sich auch in
Beziehung auf die Zerteilung des Gehirns sagen.
Am ehesten dürfte der Unterschied im Blut- und Wassergehalt der
Hemisphären bei der chronischen Leptomeningitis zur Geltung kommen,
besonders da wir die Pia nicht entfernt haben. Unter unseren Sektionen
zählten wir 22 derartige Fälle. In 18 weiteren Fällen handelte es sich um
lokale Mikrogyrie, die aber unterschiedlos bald rechts, bald links saß und
von keinem Einfluß auf die Linkshändigkeit war. Gröbere Hirnstörungen,
wie Porenzephalie, die zu einer Unbrauchbarkeit einer Extremität geführt
hatten, haben wir hier natürlich nicht milgezählt.
Alles in allem genommen läßt sich sagen, daß die Gewichtsunter¬
schiede der Hemisphären ohne Einfluß auf die Linkshändigkeit sind. Nun
wäre es ja möglich, daß sich die größere Leistungsfähigkeit einer Hemi¬
sphäre nicht in der groben Weise zeigt, daß diese an Gewichtsunterschieden
erkennbar wäre. Es könnten Unterschiede im Bau und Verlauf der Windun¬
gen, in dem histologischen Verhalten der Zellelemente vorhanden sein.
Oder es könnte die eine Hirnhälfte sich einer besseren Blutversorgung
erfreuen, sei es, daß der Blutdruck auf der einen Seite höher ist, oder daß
die Gefäße eine größere Weite besäßen: all das ist schon untersucht, be¬
hauptet und widerlegt worden. Es bleibt demnach für die Erklärung
der Linkshändigkeit, wie überhaupt für das Oberwiegen einer Hemisphäre,
nichts anderes übrig als die Annahme, daß dieses Oberwiegen rein funktio¬
neller Natur ist, wie es Stier behauptet. In der Tat, wenn ein so feiner und
verwickelter Mechanismus, wie es die Sprache ist, im Gehirn, trotzdem
s<e genau lokalisiert ist, keinerlei histologische Besonderheiten erkennen
läßt, ist es auch schließlich begreiflich, wenn auch der Links- und Rechts¬
händigkeit' keine morphologischen Veränderungen im Gehirn zugrunde
liegen.
Zuletzt noch die Frage: Wie ist das funktionelle Oberwiegen der
einen Hirnhälfte zu erklärend Nach Stier gebrauchen die dem Menschen
am nächsten stehenden Tiere, die Menschenaffen, beim Greifen in gleicher¬
weise beide vordere Extremitäten. Der aufrechte Gang des Menschen
aber brachte es mit sich, daß er die eine Hand, und zwar die rechte, bevor-
wir die Pia vor der Wägung abgezogen hatten. Davon war 16 mal die rechte.
7 mal die linke Hemisphäre schwerer, 2 mal waren sie gleich. Die Gewichts¬
unterschiede waren auch hier teilweis erheblich, 20 — 40 — 60 g.
') Beichardt glanbt, daß die Reihenfolge der Wägnngen eine Rolle spiele,
die znlet2t gewogene Hemisphäre sei wegen des mittlerweile erfolgten größeren.
Flüssigkeitverlustes leichter geworden.
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Über Linkshändigkeit bei Epileptischen, Schwachsinnigen n. Normalen. 699
zugte. Im Kampf ums ^Dasein nämlich führte er mit dieser die WafTen,
den Speer, die Keule, das Schwert, mit dem Speer zielte er nach der ver¬
wundbarsten Stelle des Gegners, nach dem Herzen, der wiederum das
Bestreben hatte, die gefährdete Stelle durch den in der linken Hand ge¬
haltenen Schild» zu schützen. Auf diese Weise wurde die rechte Hand
immer geschickter. Derjenige, der sie gebrauchte, wird also den Kampf
ums Dasein besser bestanden haben, während der Linkshändige immer
mehr in Nachteil geriet und schließlich auf den Aussterbeetat kam. Jetzt
sind nur noch Überbleibsel von ihm vorhanden.
Kurzum, mag man die Theorie von Stier annehmen oder nicht, soviel
ist sicher, daß die Rechts- und Linkshändigkeit nur auf einem funktio¬
neilen Überwiegen der einen oder andern Himhälfte beruht. In dieser
Hinsicht bestätigen unsere Untersuchungen die Ansicht Stiers.
Zusammenfassung. — Prozentsatz des Vorkommens der
Linkshändigkeit der 7 Kranken: t
a) Geordnet nach der Häufigkeit bei den beiden Geschlechtern:
Bei den männlichen Epileptischen in 28,7 %, bei den weib¬
lichen Schwachsinnigen in 19,4 %, bei den männlichen Schwach¬
sinnigen in 18,2 %, bei den weiblichen Epileptischen in 15,0 %.
b) Geordnet nach den beiden Krankheitsgruppen:
Bei den Epileptischen in 21,9 %, bei den Schwachsinnigen
in 18,7 %.
Unter Zurechnung der linkshändigen Verwandten unserer Kranken:
Bei den männlichen Epileptischen in 57,5 %, bei den männ¬
lichen Schwachsinnigen in 46,6 %, bei den weiblichen Schwach¬
sinnigen in 44,8 %, bei den weiblichen Epileptischen in 34,2 %.
Geordnet nach beiden Krankheitsgruppen:
Bei den Epileptischen in 45,9 %, bei den Schwachsinnigen
in 45,8 %. Vorkommen der Linkshändigkeit in normalen Familien
in 27,9 %. Es ist also der Prozentsatz von Linkshändigkeit bei
unsem Kranken ein ziemlich hoher, rund 45 %, gegenüber den
27,9 % bei den Normalen.
Bei Berechnung des Prozentsatzes der linkshändigen Ge¬
schwister unserer Kranken kommen auf die Brüder 21,9 %, auf
die Schwestern 15,0 % Linkshändige. Es ist also ein Überwiegen
des männlichen Geschlechtes festzustellen, wie es auch in den
vorhergehenden Tabellen stellenweise zum Ausdruck kommt.
Was die Erklärung für das Auftreten der Linkshändigkeit
betrifft, so spielen in manchen Fällen Gehirnprozesse eine Rolle.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. 47
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700 Ganter, Über Linkshändigkeit bei Epileptischen usw.
In der Mehrzahl ist die Linkshändigkeit als ein Degenerations¬
zeichen 'anzusehen. Dafür spricht u. a. das gehäufte Auftreten
in der Familie und die Vererbbarkeit. Die Vererbung scheint
vielfach vom Vater auszugehen, doch ist das lange nicht die Regel.
Außerdem gibt es merkwürdige Fälle ohne Vererbbarkeit trotz
mehrfachen Vorkommens der Linkshändigkeit in der Aszendenz.
Eine geregelte Beziehung zwischen der einseitigen Steigerung
des Kniereflexes und der Linkshändigkeit besteht nicht. Dasselbe
gilt auch von dem größeren Umfang eines Armes.
Ebensowenig besteht eine Beziehung zwischen Linkshändigkeit
und Hemisphärengewicht. In der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle ist die rechte Hemisphäre schwerer und zwar ohne einen
großen Unterschied bei Rechtshändern (67,1 %) und Linkshändern
(70,6%).
Bestätigung der Ansicht von Stier: Rechts- und Linkshändig¬
keit beruhen rein auf einem funktionellen Überwiegen der einen
oder andern Hirnhälfte.
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Über psychische Störungen bei Tabes 1 ).
Von
Kasimir Brodniewicz.
Bei der häufigen Verbindung von Tabes und Paralyse und
bei den zahlreichen Übergängen zwischen den beiden Krankheiten
ist es klar, daß wir da, wo wir psychische Störungen bei Tabes
finden, zunächst an Symptome einer paralytischen Erkrankung
denken werden, ln vielen Fällen von Tabes mit psychischen
Störungen ist aber eine Paralyse wegen des Fehlens jeglicher
paralytischer Verblödung und wegen jahre- oder jahrzehntelangen
Stillstandes oder Besserung der psychischen Erkrankung unwahr¬
scheinlich. '
In dem Bestreben, eine Klassifizierung der äußerst mannigfaltigen
psychischen Störungen bei Tabes zu schaffen, haben wir nach Cassirer
mit 2 Reihen von Symptomen zu tun: Symptomen, die vermöge ihrer
Einfachheit oder wenig intensiven Ausbildung nicht zur Annahme einer
eigentlichen Psychose berechtigen, und andrerseits mit Symptomen einer
voll ausgebildeten Psychose irgendwelcher Art.
Ältere Autoren haben vielfach bei Tabikern auffällige Stimmungs¬
anomalien festgestellt; meist Euphorie und Selbsttäuschung über den
Emst der Krankheit. Nach Möebius ist es wiederholt bemerkt worden,
daß die Tabeskranken ihr schweres Leiden mit auffallender Heiterkeit und
HofTnungsfreudigkeit ertragen. Auch Nageotte spricht von den ,,Tabetiques
gais“ und erwähnt Kranke, die an einem Tage von einer furchtbaren
Schmerzenskrise gequält werden und am nächsten Tage vergnügt und
holfnungsfreudig er scheinen.
Nach Leyden-Goldscheider unterscheiden sich die Stimmungsano¬
malien bei Tabes nicht von denen, die man überhaupt bei chronisch Kranken
findet. Leyden beobachtete neben Tabikern mit gutem Humor auch solche,
die melancholisch, trübselig, untröstlich waren. Wieder andere bieten
*) Aus der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Rostock
(Direktor: Prof. Dr. Kleist).
47*
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702
Brodniewicz,
eine krankhafte, nervöse Reizbarkeit mit leicht wechselnder Gemüts¬
stimmung.
Oft findet man bei Tabes eine Neurasthenie oder Depression mit
Denkhemmung, Unfähigkeit zu geistiger Arbeit, Unruhe, Angstemp¬
findungen, Suizidideen. Diese Tabesneurasthenie bzw. -depression ist
weit verbreitet. Ihr Entstehen wird begünstigt durch den langen, oft recht
schmerzensreichen Verlauf der Krankheit, den Ausfall zahlreicher wichtiger
Körperfunktionen und die Angst vor dem drohenden Siechtum und der
Gehirnerweichung.
Nach Kraepelin wurden bei vorgeschrittener Tabes oft leichtere
psychische Störungen wie'Labilität der Stimmung und Gedächtnisschwäche
beobachtet. Die eigentlichen Tabespsychosen sind dagegen nach Kraepelin
teils akute, krisenartig auftretende halluzinatorisch-deliriöse Zustände»
teils länger dauernde halluzinatorisch-paranoische Formen, die bald aus¬
gesprochen chronisch verlaufen, bald nur wochen- oder monatelang an-
halten, aber zu Rückfällen neigen.
Auch Spielmeyer erkennt Tabespsychosen an, die durch halluzina¬
torische Erregungszustände mit Wahnvorstellungen und Angst gekenn¬
zeichnet sind, Zustände, die häufig schnell wieder abklingen, sich später
aber oft wiederholen, v
Von Rad hatte von 250 zur Aufnahme gekommenen Tabikern 25
mit ausgesprochenen Veränderungen auf psychischem Gebiete beob¬
achtet; von diesen waren:
Kombination mit chronischem Alkoholismus . 5
Depressionszustände.. 1
Auffallend euphorische Stimmungslage. 3
Starke Defekte auf ethischem Gebiete mit besonders gesteiger¬
ter Reizbarkeit (oft auch querulatorischer Veranlagung).. 5
Zustände starker Erregung von delirantem (nicht alkoholi¬
schem) Charakter. 3
Delirante Zustände infolge hochgradigen Marasmus.4
Halluzinatorisch-paranoische Zustände. 4
Derselbe Autor fand leichte Veränderungen der Gemütslage mehr¬
fach bei Tabikern: schwere Verstimmung bei meist seit kurzer Zeit be¬
stehender Krankheit, in andern Fällen durch nichts zu störende dauernde
Euphorie. Bei der Bewertung von Affektanomalien bei Tabes muß die
Frage, ob es sich nicht um paralytische Erscheinungen handelt, vorerst
entschieden sein. Besondere Schwierigkeiten in der Abgrenzung gegen
Paralyse bieten die Tabesfälle mit erheblichen ethischen Defekten.
Von Rad beobachtete 10 einwandfreie Fälle dieser Art, die früher
zum Teil sittlich sehr hoch standen, und bei denen die ethischen Defekte
erst im Verlauf der Tabes ohne Beeinträchtigung der Intelligenz zur Ent¬
wicklung kamen.
Brutalität gegen Angehörige, völlige Vernachlässigung der Pflichten
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Ober psychische Störungen bei Tabes.
703
3ds Familienvater und Gatte, in manchen Fallen widerlichste, perverse
Betätigung des bei herabgesetzter Potenz krankhaft gesteigerten Sexual¬
triebes wurden bei einer Anzahl von Tabikern beobachtet, die vor der
Rückenmarkserkrankung in sittlicher Beziehung nichts Abnormes zeigten.
Von akuten Geistesstörungen im Verlauf der Tabes hat von Rad
in 3 Fällen bei Tabikern ganz kurz dauernde, halluzinatorisch-deliriöse
Zustände gesehen.
Die Pat. zeigten ohne besondere Vorboten ganz plötzlich ängstliche
Unruhe, liefen erregt im Saal umher, waren dabei völlig verworren und
machten den ausgesprochenen Eindruck von Halluzinanten. Nach 1—2
Tagen war in 2 Fällen der Zustand völlig behoben.
Bei den meisten Fällen von Tabespsychosen handelt es sich jedoch
um akute und rezidivierende oder um chronische Halluzinosen bei de¬
pressiv-ängstlichem Affekt und Beziehungswahn. Meyer gibt zwar an,
-daß bei Tabes fast alle Arten von Geistesstörung zur Beobachtung kommen,
-doch konnte er unter 56 Fähen nicht weniger als 21 mal „Paranoia chronica
hallucinatoria“ nachweisen, 14 mal depressive Psychosen. Die Halluzina
tionen bei Tabes betreffen die verschiedensten Sinnesgebiete. Meist handelt
es sich um optische und taktile Halluzinationen, begünstigt durch die
Sehnervenatrophie und die Schmerzen und Sensibilitätsstörungen der
Tabiker.
Uber die Entstehung und das Wesen der Tabespsychose sind folgende
Meinungen vertreten worden: Nach Bomstein kann die Tabes durch Rück¬
wirkung verschiedener Symptome wie Schmerzen, Blindheit, Ataxie auf
-die Hirnzentren eine Psychose hervorrufen, dazu kommen psychische
Momente, Kummer, Sorge, Selbstvorwürfe, und vasomotorische Einflüsse.
Nach Neebe kann die Tabes die unmittelbare Ursache einer Psychose
dadurch werden, daß sie allgemeine Ernährungsstörungen oder lang¬
dauernde Aufregungen durch Schmerzen und Schlaflosigkeit ver¬
ursacht.
Andere Autoren, die sich mit der Frage der Tabespsychose beschäf¬
tigt haben, sind der Meinung, daß die Tabes nur ein prädisponierendes
Moment für das Entstehen der psychischen Elementarsymptome und für
das Entstehen einer Psychose bilden kann. Bornstein weist darauf hin,
•daß gewisse, von Tabikern wahrgenommene Sensationen, Schmerzen,
Parästhesien, Halluzinationen für die Bildung von Wahnideen verwertet
werden und der Psychose eine spezifische Färbung verleihen. Nach
Cassirer und Bornstein liegt kein Grund vor für die Annahme einer eigent¬
lichen Tabespsychose, doch weist Bornstein darauf hin, daß psychische
Störungen bei Tabes nicht als zufällige Komplikationen, welche mit der
Krankheit nichts zu tun haben, aufgefaßt werden dürfen.
Anatomische Befunde von Alzheimer, Sioli, Schröder zeigen dagegen,
daß viele Tabespsychosen als luische bzw. metaluische Erkrankungen zu
betrachten sind. Alzheimer fand bei manchen Verwirrtheitszuständen
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I
704 Brodniewicz,
bei alter Tabes, welche klinisch keine Anhaltspunkte für Paralyse boten,
doch den typisch paralytischen Rindenbefund.
Sioli berichtet von einem 45 Jahre alten Pat., bei dem die Tabes
sich in rapider Weise entwickelte und zugleich mit der tabischen Er¬
krankung eine Psychose paranoiden Charakters mit Verfolgungs- und
Größenideen zum Ausbruch kam. Die ungestörte Merkfähigkeit, Intelli¬
genz und Sprache machten bei dem Pat. eine Paralyse durchaus unwahr¬
scheinlich.
Die mikroskopische Untersuchung ergab im Rückenmark eine weit
vorgeschrittene Tabes, im Gehirn eine infiltrative Erkrankung der Pia,
die gering über dem Großhirn, stärker über dem Kleinhirn, am stärksten
über Brücke und Hirnschenkeln ausgebreitet war. Am stärksten waren
die Gefäße, speziell 'die Venen, von der Erkrankung befallen. In der
Gehirnsubstanz fanden sich Anzeichen einer Gefäßerkrankung, bestehend
in Veränderungen der Gefäßwandkerne und in spärlicher Infiltration mit
Plasma- und Mastzellen. Ferner als Zeichen einer Degeneration des
Nervengewebes Ganglienzellenveränderungen mit Ausfall und Schief¬
stellung einzelner Zellen, aber ohne Störung der Zellarchitektonik. Diese
Befunde-.' die starke Meningitis, die Gefäßveränderungen und die De¬
generation des Nervengewebes gehören nach Sioli , Nonne, Philippe ,
Decroly und Schmauß nicht zum Bilde der unkomplizierten Tabes. Mit
einer tpischen Paralyse, bei der sich ganz anders starke und ausgebreitete
Infiltrationen und viel erheblichere Degeneration des Nervengewebes in.
der Gehirnsubstanz finden, hat der Fall von Sioli nichts zu tun. Auch
von den histologischen Befunden, die Alzheimer bei stationären, in ihrer
Qualität atypischen Paralysen fand, unterscheidet sich der Fall von Sioli
darin, daß hier eine frische und ausgebreitete meningitische Infiltration
vorhanden war, während die Alzheimerschen Fälle wenigstens stellenweise
frische Infiltrationen oder Wucherungsformen von Gliazellen im Hirn¬
gewebe zeigten, die bpi dem Fall von Sioli ganz fehlen.
Die Veränderungen an der Pia des Siolischen Falles waren verdächtig
auf eine luische Meningitis, wenn auch ein sicherer Beweis für eine luische
Meningitis angesichts des Fehlens von Gummen und Spirochäten nicht zu
erbringen war. Sioli macht für die Psychose die im Gefolge der Gefä߬
erkrankung (mit Plasmazelleninfiltraten!) entstandene Rindenveränderung
verantwortlich. Er sieht in der Gesamtheit des histologischen Befundes
eine eigenartige Erkrankung, die Beziehungen zur stationären Paralyse
und zur Lues cerebri habe.
Schröder kommt auf Grund der klinischen Beobachtung eines von
Rydlewski veröffentlichten Falles von halluzinatorisch-paranoider Tabes¬
psychose zum Schluß, daß in diesem Falle berechtigte Zweifel an der
Diagnose Tabes bestehen, und daß mit größerer Wahrscheinlichkeit eine
zum Stillstand gekommene alte Lues spinalis angenommen werden kann.
Bedenken ähnlicher Art lassen sich nach Schröder auch bei dem von Sioli
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Über psychische Störungen bei Tabes.
705
mitgeteilten Falle geltend machen. - Die rapide Entwicklung zu einem
schweren Krankheitsbilde mit hochgradiger Ataxie, Fehlen der Sehnen-
reflexe, Blasenlähmung und reflektorischer Pupillenstarre und vor allem
die anatomischen Befunde: vollständige Degeneration der Hinterstränge
im Halsmark, ungeheure Mengen von gliogenen Körnchenzellen in den
Hintersträngen, Ausbleiben der Schrumpfung der Hinterstränge trotz
jahrelangem Bestehen des Leidens geben Anlaß zum berechtigten Zweifel
an der Diagnose Tabes.
• Bei der Sektion und mikroskopischen Untersuchung, eines zweiten,
klinisch als Tabes diagnostizierten Falles mit halluzinatorisch-paranoidei;
Psychose und Beziehungswahn fand Schröder viel übereinstimmendes mit
dem Falle von Sioli, ferner in den Vorderseitensträngen des Rückenmarks
die für die alte abgelaufene Lues spinalis charakteristischen, der Pia breit
aufsitzenden Herde und an den großen Arterien der Pia des Rückenmarks
ausgesprochene Heubneräche Endarteriitis. Im Gehirn fand sich die für
Lues charakteristische Endothelwucherung der größeren und feineren
Gefäße. In der Pia leichte Infiltration mit Lymphozyten und Plasma-
zellen, erhebliche Vermehrung der Glia — ein Befund, der eine progressive
Paralyse ausschließen mußte. Auf Grund.dieser Untersuchungen muß
nach Schröder damit gerechnet werden, daß ein Teil der sogenannten
Tabespsychosen mit der Tabes nichts zu tun hat, sondern Psychosen bei
Kranken mit Lues spinalis sind. Doch weist derselbe-Autor darauf hin,
daß es zweifellos bei Tabikern Psychosen gibt, die mit der Tabes in engen
ursächlichen Zusammenhang gebracht werden können.
Die Arbeit von Plaut über Halluzinosen bei Syphilitikern zeigt, daß
es im Sekundär- und Tertiärstadium der Lues zu psychischen Störungen
kommen kann, die viel Ähnlichkeit mit den häufigeren Formen der Tabes¬
psychose haben. Plaut scheidet die Halluzinosen bei Syphilis in akute
und chronische Formen; sie haben das Gemeinsame, daß sich meist unter
sehr lebhaften Sinnestäuschungen eine leichte, oft nur vorübergehende
ängstliche Erregung mit Verfolgungsideen entwickelt. Auch Plaut kommt
wie Schröder zu der Auffassung, daß paranoide Formen der Hirnlues
mehrfach als Tabespsychosen angesehen wurden.'
Wir haben gesehen, daß bei der Entstehung der psychischen
Störungen bei Tabes eine ganze Reihe von Faktoren beteiligt sein
können. Man könnte sie vielleicht in zwei große Gruppen teilen,
diejenigen, die unmittelbar mit der syphilitischen Infektion Zu¬
sammenhängen und primär wirken, wie Blut- und Liquorverän-
derungen, Einwirkung der Spirochäten und Toxine auf das Gehirn
und schließlich anatomische Veränderungen im Gehirn, — und
die sekundären, psychischen, die durch die lange Dauer der
schmerzhaften Krankheit, durch den Ausfall lebenswichtiger Funk-
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UMIVERSUY OF MICHIGAN
706
• Brodniewicz,
tionen, die Befürchtungen und Sorgen um die Aufrechterhaltung
der sozialen Stellung, die Angst vor dem Fortschritt der Krank¬
heit hervorgerufen werden. Bei der großen Verbreitung der Tabes
einerseits wie auch der einfachen gutartigen Psychosen anderer¬
seits muß man auch an das gelegentliche Vorkommen einer rein
zufälligen Kombination beider Krankheiten denken; endlich kann
man auch dem organischen luischen und metaluischen Prozesse
eine auslösende Rolle für das Auftreten von in der Anlage wur¬
zelnden Psychosen beimessen.
Im Anschluß an diese Ausführungen lasse ich drei Kranken¬
geschichten folgen, die innerhalb von 3 Monaten in der psychia¬
trischen Universitätsklinik zu Rostock-Gehlsheim zur Beobachtung
kamen.
I. Fall. — R. W., Kaufmann, 46 Jahre alt, aufgenommen 25.10. 17
Die von der Mutter erhobene Vorgeschichte ergab folgendes: Der
Sohn sei eine herrische und sehr empfindliche Natur, leicht aufbrausend,
wie auch sein Vater gewesen sei. Er war „feinfühlend“ und ging deshalb
oft traurig umher.Im allgemeinen war er fröhlicher und lustiger Stim'mmung
gewesen, ein jeder wollte ihn gern um sich haben. Er war „übelnehmisch“,
nahm gleich an, die Leute würden über ihn sprechen. Sie, die Mutter, sei
gerade so. In Streit sei er nur mit seiner Frau und seinem Vater gekommen,
sonst nicht. Starrköpfig, wollte er mitunter seinen Willen durchsetzen,
sein Recht ver|echten. Wenn ihm etwas nicht gewährt wurde, war er
gleich „kraudig“ und beleidigt.
Pat. selbst gibt an: Der Vater sei Trinker gewesen, Mutter streit¬
süchtig. Er habe eine strenge, lieblose Erziehung erhalten, dadurch früh¬
zeitig etwas verbittert. In der Schule gut gelernt. Bis zum 21. Lebens¬
jahre habe er leichtsinnig gelebt. 1888 oder 90 Schanker. Keine Schmier¬
kur, nur Injektionen im Lübecker Krankenhaus. Mit 23 Jahren habe er
sich verheiratet. Seit etwa 1900 rückenmarksleidend, wegen seines Leidens
sei er oft in Krankenhausbehandlung in Rostock, Wittenberge, Lübeck,
zuletzt im März 1915 in Lübeck gewesen, sei nach dieser Zeit angeblich
in keinem weiteren Krankenhause gewesen. Gibt aber schließlich zu,
vom 11. 3. 16 bis 29. 6. 16 im Katharinenstift in Rostock gewesen zu sein.
Durch seine Frau habe er „furchtbar viel bitteres Leid“ erduldet. Pat-
wurde im Juli 1916 wegen Geistesschwäche auf Grund eines Gutachtens
von Professor B .-Rostock entmündigt. Aus den Akten des Armenkol¬
legiums zu Rostock, dessen Unterstützung W. jahrelang genossen hat,
gehen folgende Tatsachen hervor: Am 8. 4. 04 bittet Frau W. für sich und
ihre Kinder um Unterstützung, weil ihr Mann nicht für sie sorge und sein
Geld für Dirnen ausgebe. W. selbst behauptet am 25. 5. 04, durch Schuld
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Uber psychische Störungen bei Tabes.
707
seiner Frau einen Monat Gefängnis erhalten zu haben. Die Frau mache
ihn bei seinen Arbeitgebern schlecht, dadurch verliere er seine Stellen.
Am 1. 6. 04 hat W. den Armenpfleger P. eines ungewöhnlichen Interesses
für die Notlage seiner Frau beschuldigt. Am 8.12.11 wirft er dem Lübecker
Gericht vor, ihn zu Unrecht bestraft und dadurch krank gemacht zu haben.
Sein Chef habe einen Meineid geschworen. Am 16. 4. 14 bittet W. das
Armenkollegium um Unterstützung, weil er durch die furchtbar anstrengen¬
den Bäder und das schlechte Eissen in Oeynhausen geschwächt worden
sei. Er hatte jum Teil auf Kosten des Armenkollegiums eine Kur in Oeyn¬
hausen durchgemacht. Am 7. 10. 14 beschwert er sich bei E. E.-Rat
über den Beschluß des Armenkollegiums, ihn ins Armenhaus zu bringen,
und erklärt dabei die Armenpfleger für befangen und gegen ihn einge¬
nommen. An seinen Beschwerden fallen die vielen Unterstreichungen auf.
Am 17. 3. 15 verlangt W. vom Katharinenstift aufs neue orthopädische
Stiefel und wünscht dabei, daß seine Frau zu den Kosten mit heran gezogen
werde. Nur aus Rücksicht auf seine Kinder habe er früher keine Ehe¬
scheidungsklage eingereicht.
Unter dem 17. 4. 15 reicht W. aus dem Katharinenstift eine Be¬
schwerdeschrift an das Großherzogliche Ministerium ein, in der es heißt:
,,Ich weiß nicht, ob ich einem Verbrechen von irgendeiner Seite zum Opfer
fallen soll, ohne mich dessen erwehren zu können, zumal mich meine Frau
schon auf verschiedene Art hat zugrunde richten wollen und mich teilweise
auch schon sogar schwer geschädigt hat, sogar Verbrechen gegen mich
beging. Ichlleide hier seelisch entsetzlich, aber auch körperlich, zumal
gegen die Insassen teils schwere Verhrechen begangen werden. Ich werde
hier ja direkt körperlich und seelisch von dem Arzt gemißhandelt und
meiner Freiheit beraubt.“
In ähnlicher Weise spricht sich W. in einem Briefe vom 30. 4. 15
über ,,die furchtbaren Zustände“ im Katharinenstift aus. Bei den Akten
des Armenkollegiums befindet sich sodann ein Strafregister, aus dem
hervorgeht, daß W. vom 14. 6. 1892 bis 3. 3. 1913 in den Jahren 1892, 93,
94, 99, 1902, im ganzen 24 mal, wegen Beleidigung, Hausfriedensbruchs,
Bedrohung, Betrugs, Diebstahls, Untreue bestraft worden ist. Unter dem
6. 6. 14 hat Professor M. die Aufnahme des der Paralyse verdächtigen W.
in Gehlsheim empfohlen. Auch die Akten des Vormundschaftsgerichtes
über die elterliche Gewalt des W. enthalten zahlreiche Eingaben und Be¬
schwerdeschriften. Unter dem 12. 9. 14 beschuldigt W. seine Frau der
gewerbsmäßigen Unzucht. Frau W. behauptet unter dem 25. 2. 15, sie
und ihre Kinder seien von ihrem Manne mißhandelt worden, jetzt verfolge
er sie, belästige Gerichte, Ärzte, Pastoren usw. mit Zuschriften. Die Akten
der Staatsanwaltschaft zu Lübeck enthalten auf Seite 11 eine Angabe
der Schwester des W., daß ihr Bruder ihrer Meinung nach nicht zurech¬
nungsfähig sei. Prof. D. in Lübeck diagnostizierte am 21. 12. 14. das
Bestehen einer progressiven Paralyse. Derselbe bezeichnet unterm 8. 1. 15
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708
Brodniewicz,
die Entmündigung des W. als wünschenswert. Die Entmündigungsakten
des Großherzoglichen Amtsgerichts enthalten besonders zahlreiche und
maßlose Beschwerden des W. Unter dem 26. 7. 15 schreibt er: „Ich habe
gegen furchtbare Machinationen gewisser Personen hier zu kämpfen, die
mich vernichten wollen, weil ich in Prozessen, die ich führe, und in welchen
mir schweres Unrecht geschah durch die Verfügungen, daher mein Recht
durch Beschwerden pp. zu erreichen suchte und hierbei rücksichtslos ver¬
schiedene Vorkommnisse erklären mußte, diesen Personen wohl unbequem
nun bin.“ Man hätte sich einfach über Gesetz und Recht hinweggesetzt
Auslassungen sowie Veränderungen der Schrift enthielten die Ein¬
gaben des W. nicht. Am 6. 4. 16 lehnt W. die Gutachten von Prof. D.
und Dr. S. als ihm feindlich gesinnter Ärzte ab. Er lehnt auch den Landes¬
gerichtsarzt Dr. J. wegen Befangenheit ab. In den Entmündigungsakten
befinden sich zahlreiche Beschwerden des W. gegen die Armenbehörden»
gegen die Direktoren des Katharinenstiftes gemeinste Beschuldigungen.
Die Aufnahme in der Klinik Gehlsheim erfolgte auf Veranlassung der*
Armenbehörde in Rostock.
Der körperliche Befund bei der Aufnahme am 25-. 10. 17 ergab
folgendes: Pupillen stecknadelkopfgroß,-antworten nicht auf Lichteinfall.
Mun<jfazialis r. etwas schwächer, Zunge leicht nach r. abweichend. Keine
artikulatorische Sprachstörung. Radiusperiostreflex r. wie 1. lebhaft.
Kältehyperästhesie an der Brust und am Bauch. Sehnenreflexe an den
Beinen aufgehoben, starke Hypotonie und Ataxie der Beine, starker
Romberg. Unterschied von spitz und stumpf kann im unteren Peroneus-
Gebiet nur fehlerhaft angegeben wessen. Blut-Wassermann bei 0,1 und
0,4 positiv. Lumbalpunktion verweigert. Muß beim Wasserlassen sich
setzen und die Bauchpresse gebrauchen. Klagt über Schmerzen in den
Füßen. Beklagt sich über die „Intrigen und die Schlechtigkeit“ seiner
Frau: „Meine Frau beschuldigt mich immer mit Unrecht. Wenn ich
abends um 9 oder 9 y 2 Uhr nach Hause kam, beschimpfte sie mich, dabei
habe ich in der Zeit für meine Versicherung gearbeitet. Ich bin zu den
Reflektanten in die Wirtshäuser und Kaffees gegangen, und meine Frau
beschimpfte mich nachher.“ Stimmung etwas gereizt, gut orientiert.
Gedächtnisbesitz intakt, weiß bei allen seinen'Angaben genaue Einzel¬
heiten und Daten. Merkfähigkeit gut.
Abstrakta: Raubmord — richtig. Meuchelmord — richtig. Heuche¬
lei — „H. ist Falschheit. **■
Unterschiedsfragen: borgen — schenken, Lüge — Irrtum, richtig.
Satzbildung: Himmel — rot, richtig. Mörder — Spiegel — Umkehr:
„Der Mörder spiegelt sich in dem fehlerfreien Leben der andern und
kommt dadurch zur Umkehr.“
Verstandesfragen werden richtig beantwortet.
28. 10. 17. Will an den Großherzog schreiben, um seine ganze Lage
klarzumachen. „Keine Behörde hat ein Verfügungsrecht über mich-
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Über psychische Störungen bei Tabes.
70£
Ich habe mich gut in Rechtssachen orientiert Ich habe damals einen
Brief an den Eitel Friedrich geschrieben, dies Gesuch wurde aber von dem
Sanitätsrat S. damals unterschlagen. Da habe ich mich an das Mini¬
sterium gewandt. Ich bin immer benachteiligt werden.“ Hält sich in
keiner Weise für geisteskrank. Er sei psychisch überhaupt nicht geschädigt.
Das Gedächtnis habe vielleicht etwas nachgelassen. Bei der ^Erzählung
gerät er in Rededrang, ist sehr umständlich, weitschweifig, querulierend.
In das Katharinenstift zu Rostock sei er 1916 gegen seinen Willen ge¬
bracht worden. Er habe vergeblich versucht, in Berlin unterzukommen'.,
habe dann eine Eingabe an das Ministerium in Schwerin gemacht, um
aus dem Stift entlassen zu werden.
5. 11. Klagt darüber, daß er noch in der Anstalt gehalten wird.
Bei der Zusicherung, daß er bald entlassen werde, treten ihm die Tränen
in die Augen. „Vielleicht habe ich durch schroffe Briefe an die Behörde
veranlaßt, daß die Leute gegen mich gehässig wurden. 1915 hat Prof. I).
bei mir Tabo-Paralyse festgestellt — das ist die Wut gewesen, weil ich
klagen wollte, daß er mich mit Quecksilber behandelt hatte. Nachdem
ihm meine Absicht hinterbracht wurde, sab er mich nicht mehr au.“
Während seines 14tägigen Aufenthaltes in der Anstalt schreibt er
einen langen (12 volle Aktenseiten), weitschweifigen Lebenslauf, 6 Briefe,
meist querulierenden Inhalts, 3 an seine Angehörigen, je einen an seinen
Vormund und die Armenbehürde, an den Großherzog und eine Eingabe
an die Direktion der Anstalt; betont in jedem Briefe das große Unrecht,
das ihm, dem tiefunglücklichen Manne, geschehen sei In seinem 8 Seiten
umfassenden Gesuch an den Großherzog, den er um Verfügung seiner
Entlassung aus der Anstalt bittet, ist er weitschweifig und querulierend,
schreibt, ausführlich ins einzelne gehend, von seiner Krankheit, seinem Ehe¬
leben, seinen Schwierigkeiten mit den Behörden usw. In dem umfang¬
reichen, selbstgeschriebenen Lebenslauf nimmt er wieder die Gelegenheit
wahr, sich in Anklagen gegen Behörden, Firmen, Ärzte usw., mit denen
er zu tun hatte, zu ergehen. In seinem Brief an die psychiatrische Klinik
(12 Seiten) bringt er wiederum zahlreiche Klagen vor gegen die Armen-
behörde, seine Frau und den Richter Dr. A, den er als befangen gegen
sich erklärt.
9. 11. 17. Es wird der Armenbehörde mitgeteilt, daß W. wohl
geisteskrank, aber nicht anstaltsbedürftig ist. Er wird entlassen.
Zweite Aufnahme 3. 5. 18.
Vorgeschichte: Er sei als Reisender tätig gewesen, da er von 6 M.
Unterstützung nicht habe leben können. Vor 4 Tagen sei er nach Rostock
gekommen einer privaten Angelegenheit halber und auch wegen Ge¬
schäfte; hatte die Absicht, nach deren Erledigung wieder abzureisen.
Sei zur Behörde gegangen, um einen Anzug zu erhalten; er habe von
Stralsund und Demmin Karten an die Behörden geschrieben. Aus einem
Schreiben geht hervor, daß er seine Verwandten mit Karten unflätigen
Inhalts belästigt hat.
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710
Bro dniewicz,
Aus den Akten geht neuerdings hervor, daß er die Behörden nach
wie vor mit seiner Angelegenheit belästigt hat. Kaum hatte man ihm
einen Schienenapparat geschenkt, als plötzlich früher erhaltene Stiefel in
ihrer Größe nicht zum Apparat paßten. Er drängte auf neue Stiefel, die
Lübecker Behörde verwies ihn an die Rostocker.
4. 5? 18. Gibt als Erklärung für die unflätigen Karten, die er ge¬
schrieben hat, an, daß er auf der Reise bei den hohen Ausgaben sich nicht
ausreichend habe ernähren können und daher auf den Gedanken gekommen
sei, an seine Angehörigen zu schreiben.
Körperlicher Befund wie bei der ersten Aufnahme.
10. 5. 18. Drängt heftig fort, schimpft über seine widerrechtliche
Zurückhaltung. Uneinsichtig, unbelehrbar, bringt er in einförmiger Weise
sehr wortreich die gleichen Verteidigungs- und Rechtfertigungsreden vor,
schimpft über seine Frau und ihre Helfershelfer, die sicher in einem ehe¬
brecherischen Verhältnis mit seiner Frau gelebt hätten. Das Weitschweifige
und Umständliche tritt jetzt beinahe noch stärker in seinen langatmigen
Ausführungen hervor als früher. Intelligenzprüfung deckt sich mit der
Prüfung der vorigen Aufnahme. Sprichworte, die anfangs nicht erklärt
werden können, werden nach längerem Überlegen schriftlich erklärt und
bei der nächsten Visite übergeben. Meint, seine Frau müsse gegen ihn was
gehabt haben, daß sie aus dem Sinn der Karten solche Schlußfolgerung
ziehen konnte. Der Sinn der Karten war angeblich in keiner Weise schlimm,
er habe vorgehabt, ein Inserat in die Presse zu setzen, worin alle Angaben
seiner Frau für unwahr erklärt wurden. Er hatte ihr geschrieben, daß er
etwas Schreckliches vorhabe, und damit das Inserat gemeint und auch, daß
er öffentlich dem Publikum die Wahrheit sagen wollte. Hält Herrn Prof. K.
nicht für sich gewogen; bis in die Wohriung der Ärzte kommt er mit
Drängen nach Entlassung, sucht in spitzfindiger Weise alles zu widerlegen.
Setzt über alles sein „Rechtsempfinden“.
20. 5.18. Teilt brieflich seinem Bruder mit, daß seine Frau wissentlich
den Inhalt einiger Karten falsch ausgelegt habe, um ihm zu schaden.
Verfaßt täglich schriftliche Erklärungen von 4—8 Aktenseiten Umfang
über seine Sache. Er schildert darin wieder umständlich und weitschweifig
seine Handlungsweise gegen seine Frau und folgert daraus die Unmöglich¬
keit eines Mordes an ihr, erneuert die alten Beschuldigungen gegen seine
Frau, beteuert, er habe keine verbrecherischen Absichten gegen seine
Familie. In einem seiner Schriftstücke bereut er, die Karten geschrieben
zu haben, bittet um „Mitleid und Erbarmen“, verspricht Besserung, er
werde sich „niemals einer solchen Tat wieder schuldig machen“.
17. 6. 18 entlassen.
II. Fall. — A. Str., 52 Jahre alt, Töpfermeister, aufgeuommen
15. 12. 17.
Vorgeschichte: Pat. gibt an: In der Familie keine Nerven- und
Geisteskrankheiten. In seiner Jugend sei er immer gesund gewesen.
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Über psychische Störungen bei Tabes.
711
zufriedener, fröhlicher Stimmung, keine Stimmungsschwankungen. Seit
1890 verheiratet Erkrankte 4 Wochen nach der Heirat an Tripper. Bekam
etwas später ein hartes Geschwür an der Eichel, im nächsten Jahre einen
Ausschlag am Körper, Seit 1907 leide er an gastrischen Krisen, die früher
sehr häufig, jetzt aber nur ab und zu einmal und dicht mehr so stark wie
früher auftreten. Mit Unterbrechungen sei er von 1907 bis 1914 in der
medizinischen Klinik in Rostock in Behandlung gewesen. Der gastrischen
Krisen wegen habe er lange Zeit Morphium bekommen, der Arzt habe
ihm unbegrenzte Mengen zur Verfügung gestellt Im September 1913
habe er sich einmal mit seiner Frau eine Pistole besehen, und seine Frau
habe dabei zwei Pistolenschüsse auf ihn abgefeuert, die ihm durch den Kopf
gingen. 8 Tage vorher wurde ihm Morphium entzogen, was ihm nach¬
träglich gesagt wurde. Angaben der Frau: Hiernach stellt sich die Schu߬
verletzung als Selbstmordversuch heraus, Str. hat sich auch nach Angabe
der Frau schon dreimal erhängen wollen. Dies geschah in der Zeit, als die
Frau ihm das Morphium abgewöhnen wollte und ihm heimlich destilliertes
Wasser statt Morphium gab. 1914 schrieb Str. auf kleine Papierreste,
der größte Wunsch seiner Frau sei sein Tod, seine Frau ließe ihn verhungern.
Schüttete oft das Essen fort, anscheinend in der Befürchtung, vergiftet
zu werden. Schon seit 4 Jahren sei Str. erheblich schwachsinnig geworden.
Seit 12 Jahren arbeitet er nicht mehr regelmäßig, lag oft stundenlang auf
dem Sofa, starrte in eine Ecke, auf Fragen sagte er nur: „So lang ist die
Reihe schon, du mußt ins Zuchthaus.“ Einmal war er auch nachts un¬
ruhig, sagte zu seiner Frau: „Eigentlich müßte ich dir den Schädel ein-
schlagen.“ In der letzten Zeit beschäftigte er sich viel mit der Lektüre
von Schundliteratur. Gleichgültig gegenüber der Erziehung und dem
Gedeihen der Kinder. Kümmerte sich um gar nichts. Größenideen traten
auf in bezug auf seine Abstammung, hielt sich nahe verwandt mit dem
Musiker Strauß. In der letzten Zeit traten auch besondere Eifersuchtsideen
auf, beschimpfte den Arzt in Warnemünde in gemeinster Weise. Moralische
Defekte machten sich bemerkbar, stellte Frauen in unanständiger Weise
nach. Sobald seine Frau Einkäufe machte, ging er zur Vogtei und zeigte
es an, oder sobald die Frau mittags den Kindern reichlicheres Essen vor¬
setzte, schimpfte er darüber mit den Worten: „So etwas kann der Staat
doch nicht dulden.“ Machte viele Anzeigen auf der Vogtei, demzufolge
fanden viele Haussuchungen statt, schließlich wurde auf die Anzeigen
von Str. nicht mehr reagiert.
Körperlicher Befund: Pupillen lichtstarr, Hirnnerven intakt.
Patellarreflex L stärker als r. Achillessehnenreflexe r. wie 1. lebhaft, L Ba-
binski. Keine Störung der Gelenksensibilität. Bei Romberg ganz geringes
Schwanken, steht auf dem r. Bein etwas unsicher. Geringe Schmerzüber-
empfindlichkeit in der Leistengegend beiderseits etwa in D. 12. — L. 1.
und an den Fußsohlen. Keine artikulatorische Sprachstörung.
Wassermann im Blut und Liquor negativ; Nonne negativ, 13 Zellen
im Kubikzentimeter Liquor, Druck des Liquors leicht erhöht.
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Original from
UMIVERSITYJDF MICHIGAN
712
Brodniewicz,
Zeitlich und örtlich gut orientiert. Kein Merkfähigkeitsdefekt.
Urteilsfähigkeit beim Bilderbeschreiben und Sprichwörtererklären leicht
herabgesetzt. '
(Viele Hunde sind des Hasen Tod?) „Das trifft auch bei mir zu,
ich habe nichts zu sagen, und meiner Feinde sind viele, meine Frau hat
schon dafür gesorgt.“
(Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht?) „Alles hat
schließlich mal ein Ende.“
(Steter Tropfen höhlt den Stein?) „Erst werden es Kleinigkeiten,
dann wird es immer größer, viele Bäche füllen ein Meer, ist ja ähn¬
lich so.“
(12 x 12?) Erst nach vielem Danebenraten richtig.
Bild Fensterpromenade: „Für Fixierbilder habe ich mich nie inter¬
essiert, ob es eine Eifersuchtsszene sein soll? oder eine Anrempelung?
2 Damen und 2 Herren sind darauf, der eine liegt auf dem Pflaster.“
Bild zerbrochene Fensterscheibe: Verkennt, daß es sich um eine
Fensterscheibe handelt, hält sie für einen Spiegel. Beschreibt sonst richtig,
aber wortreich und langatmig.
15. 12. 18. Gibt als Grund seiner Überführung an, er sei seiner
Frau im Wege, die den Kettenhandel in Warnemünde betreibe und den
er nicht mitmachen wollte. Jetzt hat man ihn mit List ins Kino gelockt
nach Rostock und von dort hierher unter Mitwirkung eines Kriminal¬
beamten. Abschweifend, ideenflüchtig.
17. 12. 18. Seine Frau habe ihn beiseite schaffen wollen, Dr. Sch.
habe ihr dabei gern geholfen, weil seine Frau für diesen dänische Butter
und 26 Stück Sunlightseife besorgt habe. Dr. Sch. habe ihn auch durch
das Morphium krank gemacht. Prof. M. habe damals auch fürchterlich
geschimpft, habe gesagt, „dieser Esel von Sch“. Die Frau lief natürlich
sofort zu Dr. Sch. und erzählte ihm dies. Frage, ob seine Frau ein Ver¬
hältnis zu, Dr. Sch. hatte: „Genau weiß ich das nicht, verdächtig ist das.“
Die Frau habe auch jederzeit Zutritt zu Dr. Sch. gehabt, andere Leute
mußten erst im Wartezimmer warten, sie konnte gleich zu ihm hinein¬
gehen. Ihn habe der Arzt bei Krankenbesuchen gar nicht beachtet, nur
mit der Frau getuschelt, die Frau habe ihn auch stets hinausbegleitet.
Frage nach weiteren Feinden. „Ja, das sind die Freunde von meiner
Frau.“
19. 12. 18. Spricht viel und abschweifend, behauptet, die'Frau
habe ihn im September 1913 erschießen wollen. Er war damals bett¬
lägerig, kurz vorher wurde ihm Morphium entzogen. Die Frau ließ sich
von ihm zeigen, wie man die Pistolen hantiere, führte ihm dann die Hand
an die Schläfe, wer abgedrückt habe, könne er nicht bestimmt sagen,
fand sich später in seinem Blute liegend vor, die Frau war fort. Er kam
nach 8 Tagen in die chirurgische Klinik, wo er angab, sich die Verletzung
selbst beigebracht zu haben. Bestreitet Suizidversuch, habe nur seine Frau
schonen wollen, als er angab, er habe sich selbst geschossen.
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Über psychische Störungen bei Tabes.
713
Gleichmäßig freundlich in der Stimmung. Keine Schwankungen.
Widerruft seine Größenideen. Bei nochmaliger Erzählung des Vorganges
■der Verletzung mit den Pistolen behauptet er, die Frau habe abgeschossen,
erzählt weinend mit ängstlichem Gesichtsausdruck: „Als die Frau mir
die Pistolen zeigte, machte sie Augen wie eine Katze; den Blick werde ich
niemals vergessen. 10 Meilen will ich der Frau aus dem Wege gehen.“
Die Frau sei immer katzenfreundlich zu ihm, sage immer „Liebling“,
dabei hätte sie ihn mit List nach dem Katharinenstift locken wollen.
4. 2.18. Keine Gereiztheit und Mißtrauen gegenüber der Umgebung.
Beeinträchtigungsideen richten sich ausschließlich gegen die Frau und
ihre Helfershelfer.
10. 4. 18. Beschäftigt sich nicht, unterhält sich viel mit Mitpatienten,
steht diesen hilfreich zur Seite, liest ihnen vor. Die Ehefrau äußert gelegent¬
lich eines Besuches, daß sie ihn nicht zu Hause haben möchte, weil, wenn
die Streitigkeiten auch unterblieben, er seinem Beruf doch nicht nachgehen
würde, sondern wie früher tagelang auf dem Sofa liegen und nichts tun
würde.
14. 10. 18 entlassen.
III. Fall. H. D., 52 Jahre alt, Milchfahrer, aufgenommen 19. 9.17.
Wird aus der chirurgischen Klinik eingeliefert, wo er wegen eines
Bruches operiert werden sollte. (Den Bruch habe er sich operieren lassen
wollen, weil derselbe mehrfach ausgetreten sei.) Bekam am selben Tage
einen Erregungszustand und wurde hierher überführt.
Macht über sein Vorleben folgende Angaben: Als Kind stets gesund.
In der Schule gut gelernt. War stets lustig. Wurde Musiker. Lehnt jede
geschlechtliche Infektion ab, das einzige, was ihm gefehlt habe, sei, daß er
manchmal plötzlich von Heißhunger überfallen werde, wenn er unregel¬
mäßig zu essen bekäme. Dann bräche ihm der Schweiß aus. Sonst sei er
immer gesund gewesen. Ist verheiratet, hat 3 gesunde Kinder. Keim-
Kinder gestorben. Keine Fehlgeburten der Frau. Nervös sei er auch nie
gewesen. Vor etwa 4—5 Jahren habe er schon einmal zu Hause einen Er¬
regungszustand gehabt. Er sei dann gewesen, als wenn er „betrunken“
gewesen sei. Diesen Erregungszustand habe er auch bekommen, weil er
plötzlich solchen Heißhunger bekommen habe. Uber das, was er in den
Erregungszuständen gemacht habe, will er nichts wissen. Er habe dann
von seiner Frau etwas zu trinken bekommen, dann sei er wieder besser
geworden. Er war dann gesund bis heute morgen. Bekam seit Montag
nur flüssige Nahrung und mußte heute vor der Operation hungern,
da habe er einen Erregungszustand bekommen. Was er in diesem gemacht,
hat, weiß er nicht.
Befund: In der Unterhaltung geordnet, örtlich und zeitlich ist er
orientiert, spricht ziemlich lebhaft, aber keinerlei Bewegungsunruhe. Die
Stimmung ist heiter, es besteht ganz leichte Andeutung von Rededrang.
Die Aufmerksamkeit ist im ganzen gut, ganz geringe Ablenkbarkeit.
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714
Brodniewicz,
Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht? „So lange
habe ich den Bruch gehabt, bis ich mich jetzt operieren lassen will.“ —
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? Witzelt: „Ich hab* Kinder, ich,
bin bösartig, dann sind meine Kinder auch bösartig. Da heißt es ebenr
der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ — Über die letzten Kriegsnach¬
richten ist er nicht orientiert, meint, er habe keine Zeit gehabt, um zu
lesen. Während der Intelligenzprüfung ist seine Stimmung dauernd
heiter, lacht öfters und schweift auch zuweilen etwas vom Thema ab.
Merkfähigkeit gut.
Körperlicher Befund: Großer, kräftiger Mann in sehr gutem Er¬
nährungszustand. Herz o. B. Lunge o. B. Gesichtszüge etwas schlaff.
Pupillen sehr eng, reagieren aber noch etwas auf Lichteinfall. Konvergenz¬
reaktion ist gut. Keine Sprachstörung. Leichte Abduzensschwäche r.,
kein Nystagmus. Patellarreflexe etwas abgeschwächt. Achillessehnen -
reflexe nicht auslösbar. Bauchdecken sehr schlaff. Die unteren und
mittleren Bauchdeckenreflexe fehlen, die oberen sind angedeutet. Trizeps¬
reflexe ziemlich lebhaft. Radius-Periostreflex normal Keine Sensibilitäts¬
störung nachweisbar. Keine Ataxie. Kein Romberg. Konjunktivalreflex
erhalten. Rachenreflex fehlt. Leichter Intentionstremor. Wassermann in
Blut und im Liquor bei 0,1 und 0,2 negativ. Keine Zellvermehrung im
Liquor, Nonne fraglich.
22. 9. auf Wunsch entlassen.
Die Diagnose Tabes dorsalis, und zwar im vorgeschrittenen
Stadium, ist in dem 1. Falle aus dem klinischen Befund mit voller
Sicherheit zu stellen. Neurologisch war folgendes vorhanden:
Pupillen lichtstarr, miotisch, leichte' Fazialisschwache r. Zunge
wich andeutungsweise nach r. ab; Patellar- und Achillessehnen-
reflexe fehlten. Positiver Romberg, erhebliche Hypotonie, Blasen¬
schwäche, Sensibilitätsstörungen an den Beinen. Ataxie. Wasser¬
mann war im Blute positiv; Lumbalpunktion verweigert.
Die luische Infektion war 1890. Wann die Tabes begonnen
hat, ist nicht sicher zu sagen, dem Kranken bewußt ist die Tabes
seit 1900, auch war sie damals schon seiner Frau bekannt. Die
psychotischen Erscheinungen haben wohl schon sehr früh (1892)
eingesetzt; seit 1892 zahlreiche Konflikte und Verurteilungen.
Steigerung der psychischen Veränderung 1904: falsche Beschul¬
digungen seiner Frau. Die umfangreichen, über 200 Schriftstücke
— wovon etwa die Hälfte Briefe des Patienten sind — um¬
fassenden Akten der Armenbehörde und die noch umfangreicheren
Akten der Staatsanwaltschaft über den W. geben ein Bild über
den Verlauf der geistigen Störung in den Jahren 1904—18.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober psychische Störungen bei Tabes.
715
Aus seinen Schriftstücken geht eine unbegrenzte Überschätzung
und maßlos einseitige Betonung seiner Interessen hervor. Er
glaubt sich durch Intrigen seiner Frau und durch die Behörden
benachteiligt, geschädigt und ins Unglück gestürzt. Allen Ein¬
wendungen setzt er vollkommene Unbelehrbarkeit entgegen. Seine
wahnhafte Auffassung führt zu einer falschen Beurteilung aller
Personen, die mit seiner vermeintlichen Benachteiligung irgendwie
in Berührung gekommen sind. In stereotyper Weise reproduziert
er immer dieselben Geschichten.
Die Weitschweifigkeit in seinen Schriftstücken, die zahlreichen
Interpunktionen und Unterstreichungen verraten die krankhafte Ent¬
stehung. Die gehässigen Schmähungen, Verdächtigungen, Beleidi¬
gungen gegen die Armenpfleger, Beamte, Ärzte, mit denen er zu tun
hatte, das Abweisen der Richter und der begutachtenden Ärzte wegen
Befangenheit lassen keinen Zweifel, daß es sich bei dem Patien¬
ten um einen querulatorisch gefärbten Verfolgungswahn handelt.
Für die Entstehung' des paranoischen Bildes dieser Tabes-
psycbose maßgebend ist wohl die Tatsache, daß W. von Hause
aus ein herrischer, streitbarer, empfindlicher, übelnehmerischer
Mensch gewesen ist, eine hypoparanoische Konstitution im Sinne
von Kleist aufwies.
Von der progressiven Paralyse unterscheidet sich die Er¬
krankung dadurch, daß in dem 13jährigen Verlauf der Krankheit
kein wesentlicher Fortschritt und keine Einbuße der Intelligenz
eingetreten ist, der Kranke vielmehr über ein ausgezeichnetes
Gedächtnis und gute Merkfähigkeit verfügt, was sich auch in der
genauen Kenntnis der Daten seiner Krankenhaus-Aufenthalte, Pro¬
zesse usw., in der Schriftgewandtheit, Belesenheit und in seinen
Rechtskenntnissen zeigt. Die Urteilsfähigkeit ist nur durch die
große Weitschweifigkeit etwas beeinträchtigt.
Die ethischen Defekte, die in den Karten unflätigen Inhaltes,
den Drohungen, den schamlos aufdringlichen impertinenten For¬
derungen an die Behörden etc. in dem Verlauf der Krankheit
zum Vorschein kommen, erinnern an die von von Rad erwähnten
Fälle von Tabespsychosen mit ethischen Defekten, starker Reiz¬
barkeit und querulatorischer Veranlagung.
Auch im II. Falle ist die Diagnose einer — milde verlau-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 48
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UMIVERS1TY OF MIC, IIGAN
716
Brodniewicz,
fenden — Tabes dorsalis durch die reflektorische Pupillenstarre,
die sensiblen Störungen und die jahrelang bestehenden gastrischen
Krisen sichergestellt: Babinski 1. positiv, der 1. Patellarreflex war
lebhafter als der r. Es bestanden keine Hirnnervensymptome.
Wasserinannsche Reaktion im Blut und Liquor war negativ, leichte
Pleozytose, Nonne. Doch sind wahrscheinlich spinale luische Ver¬
änderungen beigesellt. Die durchgemachte Geschlechtskrankheit
wird so geschildert, daß "eine luische Infektion mit Sicherheit anzu¬
nehmen ist. Gegen Paralyse spricht der negative Ausfall der Wasser-
mannschen und Nonneschen Reaktion im Liquor, das Fehlen jeglicher
Sprachstörung und die lange Dauer dör psychischen Störungen ohne
wesentlichen Fortschritt und ohne gröbere Defekte. Die Angaben der
Frau, wonach S. schon seit 1905 nicht mehr regelmäßig arbeitet,
stundenlang auf dem Sofa lag und vor sich hinstarrte, lassen
darauf schließen, daß dies die Anfänge der psychischen Erkrankung
waren. 1913 ’ist es zu einem Suizidversuoh gekommen, wahr¬
scheinlich ähnlich wie bei einem von' Otto Meyer mitgeteilten
Falle, in einem Erregungszustände im Anschluß an eine gastrische
Krise, woran Patient damals sehr oft zu leiden hatte. Aller¬
dings fiel der Suizidversuch in die Zeit der Morphiumentziehung,
was ätiologisch für die psychische Störung mit zu verwerten
wäre. Im nächsten Jahre, ohne daß Morphiumentziehung diesmal
vorlag, kam es zu ausgesprochenen Vergiftungsideen, im weiteren
Verlauf zu einem Erregungszustände, zum Eifersuchtswahn und
zur Andeutung von Größenideen, die später widerrufen wurden.
Der überaus gesteigerte Affekt beim Erzählen des Vorganges mit
den Pistolen, der Ausbruch in Tränen bei Erinnerung an den
„Katzenblick“ seiner Frau läßt vermuten, daß sich dieses Erlebnis
wahnhaft gedeutet im Kranken fixiert hat. Die gemütliche Ab¬
stumpfung, der Verlust der Initiative, die Gleichgültigkeit gegen¬
über Familienangelegenheiten, die grobe Vernachlässigung der
Pflichten als Ernährer der Familie und die ethischen Defekte auf
sexuellem Gebiet erinnern an die von v. Rad erwähnten Fälle
ähnlicher Art. Eine gewisse Ähnlichkeit zeigt die psychische
Störung bei S. auch mit einem von Otto Meyer beschriebenen
Fall mit Erregungszustand mit Selbstmordversuch, vereinzelten,
später widerrufenen Größenideen und moralischen Defekten.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber psychische Störungen bei Tabes.
717
An einer Tabes ist auch im III. Falle im Hinblick auf den
neurologischen Befund nicht ?u zweifeln. Die Pupillen waren sehr
«ng, die Reaktion auf Lichteinfall träge und unausgiebig. Die
Konvergenzreaktion war erhalten. Leichte Abduzensschwäche r.
Patellareflexe etwas abgeschwächt, Achillessehnenreflex nicht aus¬
lösbar. Die unteren und mittleren Bauchdeckenreflexe waren nicht
auslösbar, Wassermann im »Blut und im Liquor waren negativ,
keine Zellvermehrung. Es handelt sich also um eine in der Ent¬
wicklung begriffene oder stationär gebliebene milde Form von
Tabes. Der anfallweise auftretende Heißhunger ist ähnlich den
bei Tabes vorkommenden Magen- und Herzkrisen als tabisches
Symptom anzusehen. Was die psychischen Symptome anbelangt,
so ist es zweimal zu einem Erregungszustand mit Umdämmerung
und nachfolgender Amnesie gekommen. Die Auslösung der Er¬
regungszustände durch den krisenartig auftretenden Heißhunger
ist bemerkenswert und erinnert an die von 0. Meyer mehrfach
beobachtete Auslösung von Erregungszuständen durch gastrische
Krisen. Die psychische Störung« bei dem Fall Hl ist als akuter
dämmeriger Erregungszustand aufzufassen; sie hat Ähnlichkeit
mit einem pathologischem Rauschzustand, — Pat. fühlte sich
„wie betrunken“. Die Erkrankung entspricht wohl den akuten
delirjösen Zuständen, die Plaut, v. Rad tmd andere erwähnen.
Formen dieser Art kommen, wie schon v. Rad erwähnte, wegen
des kurzen Verlaufs selten zu psychiatrischer Beobachtung und
sind wohl aus diesem Grunde wenig gewürdigt.
Unsere Fälle zeigen wieder, daß die Tabespsychosen vorzug¬
weise in 2 Formen auftreten: als akute, rasch vorübergehende,
krisenartige Störungen, und als länger dauernde, paranoische Er¬
krankungen. Die krisenartige Psychose unseres Falles HI ist
darin bemerkenswert, daß sie nicht unter dem Bilde einer hallu-
zinatori8ch-deliriösen Störung verlief, wie es nach den Schilderungen
von Plaut, v. Rad u. a. zumeist der Fall ist, sondern eine ein¬
fache dämmerige Erregung nach Art eines pathologischen Rausch¬
zustandes darbot. Die beiden chronischen Erkrankungen ent¬
sprechen ebenfalls nicht den gewöhnlich geschilderten halluzina¬
torisch-paranoischen Formen, sondern zeigen eine bisher nicht
beschriebene rein kombinatorische Wahnbildung mit
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
718
Brodniewicz,
Beziehungswahn, Erinnerungstäuschungen und einheitlicher, gleich¬
bleibender Wahnrichtung, sodaß die Fälle sehr an Wahnpsychosen
mit überwertiger Idee ( Wemicke) erinnern. In beiden Fällen ist
es die Vorstellung der Untreue und der Feindschaft der Frau,
die den Psychosen das Gepräge gibt, wozu im I. Fall noch zahl¬
reiche Verfolgungsvorstellungen rechtlicher Benachteiligung hinzu-
treten, sodaß dieser Kranke eine querulatorische Färbung gewinnt.
Es liegt nahe, das heteronome Bild der dämmerigen Erregung
im Fall UI auf eine plötzliche, intensive Gehimschädigung durch
Toxine bzw. Spirochäten zu beziehen, das homonome Zustands¬
bild der paranoischen Erkrankung (Fall I und U) dagegen durch
schleichende schwächere Gehimschädigung zu erklären, ent¬
sprechend der von Specht und Kleist vertretenen Auffassung über
die Beziehungen zwischen Znstandsbild und Gehimschädigung.
Daß im Fall I von den homonomen Symptomenkomplexen gerade
der paranoische zur Entwicklung kam, ist offenbar durch die
hypoparanoische Wesensart, die dem Kranken schon vor seiner
Geistesstörung eignete, begünstigt worden.
Eine unerläßliche Voraussetzung für das Auftreten einer para¬
noischen Psychose ist diese Veranlagung aber ‘nicht, wie der
Fall II beweist, dem eine solche Veranlagung abging.
Literatur.
1Sonne, Syphilis und Nervensystem. 1917.
Alzheimer, Histologische Studien zur DifTerentialdiagnose der progressiven
Paralyse.
Bom8tein, Tabes dorsalis und Psychose. Mtschr. f. Psych. u. NeuroL
XVII., Erg.-Heft.
('assirer, Tabes und Psychose. Berlin, S. Karger, 1903.
(ioos , Uber die nicht-paralytischen Geistesstörungen bei Tabes dors.
Inaug.-Diss. Kiel 1908.
Kleist, Postoperative Psychosen. Berlin 1916.
Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl.
Meyer, Otto, Beitrag zur Kenntnis der nicht paralytischen Psychosen bei
Tabes. Mtschr. f. Psych. u. NeuroL 1903, Bd. 13.
Plaut, Über Halluzinationen der Syphilitiker. Berlin, Springer, 1913.
Bydlewski, Über Psychosen bei Tabes dorsalis. Inaug.-Diss. Greifswald
1909.
Difitized
bv Google
Original fram
UNIVERSITY OF MICHIGAN
über psychische Störungen bei Tabes.
719
zhröder, Lues cerebrospin, sowie ihre Beziehungen zur progressiven Para¬
lyse und Tabes. D. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 54.
chulze , Emst, Über Psychosen bei Tabes. MQnch. med. Wschr. 1903,
Nr. 49.
voli. Histologische Befunde bei Tabespsychosen. Ztschr. für die gesamte
Neurol. u. Psych. Bd. 3, 1910.
pecht. Zur Frage der exogenen Schädigungstypen. Ztschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psych. Bd. 19, H. 1.
uetxer, Psychosen bei Tabes dorsaüs. Inaug.-Diss. Freiburg 1904.
Rad , Uber psychische Störungen bei Tabes. Arch. f. Psych. u. Nerven-
krankh. Bd. 58, H. 1—3, 1917.
'inswanger und Siemeriing, Lehrbuch der Psychiatrie, 4. Aufl.
v
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
1
Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie»
Von
Dr. £• Rittershans, Hamburg-Friedrichsberg.
Eines der interessantesten Gebiete der Kriminalpsychologie
ist zweifellos der Zusammenhang zwischen Verbrechen *und
Hysterie. Von den hysterischen Ladendiebinnen über die hyste¬
rischen männlichen und weiblichen Affektverbrecher bis zu den
» psychopathischen Lügnern, Schwindlern und Hochstaplern ist es
eine schier endlose Fülle von Bildern, die uns hier entgegentritt.
Ein besonderes Kapitel in diesem Gebiete bieten die Ver¬
brechen im hysterischen Dämmerzustand, bei denen die Differential¬
diagnose gegenüber der Epilepsie keineswegs immer so leicht zu
stellen ist, und die durch nianche Erzeugnisse. der dramatischen
und kineraatographischen Literatur das Interesse weiter Kreise
hervorgerufen haben.
Ein sehr interessanter Fall dieser Art, bei dem die ganzen
Umstände scheinbar mit zwingender Notwendigkeit auf eine
Epilepsie hinwiesen, und der auch früher bereits einmal als
Epilepsie diagnostiziert worden war, bei dem man aber unter
Berücksichtigung der ganzen Vorgeschichte unbedingt zur Diagnose
einer Hysterie kommen mußte, sei als kasuistischer Beitrag zu
dieser Frage hier kurz mitgeteilt.
Es handelt sich um einen ungarischen Zivilisten, der, in
Belgien wohnhaft, seinerzeit, gewissermaßen aus Mitleid, von
der deutschen Eisenbahnbehörde als Schreiber angestellt wurde,
und der dann eines Tages plötzlich unter Hinterlassung seiner
ganzen Stellung und Häuslichkeit mit Unterschlagung einer größeren
Summe Geldes, die er an andere Beamte auszahlen sollte, flüchtig
geworden war. Er hat dann in den nächsten Wochen eine Reihe
ganz raffinierter Betrügereien begangen, hat unter anderm einen
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 721
Erpressungsversuch an einem belgischen Bürgermeister unter¬
nommen, indem er sich als Angestellter der deutschen Polizei
ausgab, der ihn verhaften sollte, wobei er sich aber bereit er¬
klärte, ihn gegen eine Kaution von mehreren tausend Franken
einstweilen auf freiem Fuße zu belassen. Als der betreffende
Bürgermeister sich aber nur mit Hilfe der belgischen Polizei ver¬
haften lassen wollte, verschwand der angebliche deutsche Polizei¬
beamte und ward nicht mehr gesehen. Er fertigte sich dann
einen gefälschten Ausweis mit gefälschter Unterschrift und Stempel,
indem er einen auf seinem Waffenschein befindlichen Stempel
sorgfältig herausschnitt und auf diesen neuen Ausweis aufklebte,
und sammelte nun bei Belgiern, angeblich im Aufträge der
deutschen Behörde, milde Gaben für belgische Kriegsgefangene.
Bei seiner Verhaftung widersetzte er sich mit seinem Revolver,
der allerdings nicht geladen war. Im Gefängnis gab er dann
an, er wisse nicht, wie er zu seinen Taten gekommen sei. Es
komme plötzlich ein [unwiderstehlicher Drang über ihn, und er
habe schon öfters in seinem Leben in dieser ganz unsinnigen
Weise seine Frau und seine Stellung verlassen und sei ziellos in
der Welt umhergeirrt. Nach den glaubwürdigen Aussagen seiner
Frau hat er diese im ganzen sechsmal in dieser Weise verlassen.
Nach alledem mußte man, wie gesagt, zunächst unbedingt an
eine Epilepsie mit Dämmerzuständen und Wandertrieb denken.
Nun schrieb er aber in der Untersuchungshaft einen Lebens¬
lauf, der so charakteristisch ist, daß man daraus wohl mit Sicher¬
heit die Diagnose einer Hysterie stellen kann, und der eine der¬
artige Fülle von psychopathischem Material bietet, wie man es
wohl sonst selten vereinigt findet. Dieser Lebenslauf ist in seiner
Gesamtheit so interessant, daß er hier unverkürzt mitgeteilt sei.
Es bleibe dahingestellt, ob alles das, was er in diesem Lebens¬
laufe geschildert hat, wirklich so ganz der Wahrheit entspricht,
und ob dieses fast kinomatographen-ähnliche Schauerdrama nicht
zum Teil das Resultat einer Pseudologia phantastica ist, die sich
mit großem Geschick interessant zu machen versucht, was wohl das
Wahrscheinlichste sein dürfte. Aber ganz abgesehen davon, ob die
wesentlichsten Grundzüge richtig sind, jedenfalls hat er mit außeror¬
dentlicher Geschicklichkeit verstanden, ein Lebensbild zu entrollen,
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
722
Rittershaus.
das auf empfängliche und naive Gemfiter geradezu erschütternd
wirken muß.
Gegen die Diagnose einer Epilepsie spricht hier vor allem
die Tatsache, daß er im allgemeinen über seine sämtlichen Taten
bis ins einzelne Bescheid weiß, ja direkt mit einer gewissen
theatralischen Pose, damit renommiert.
Aus seinen mündlichen Mitteilungen seien hier noch kurz
seine Angaben-über erbliche Belastung erwähnt. Sein Vater war
äußerst jähzornig und hat stark getrunken. Einmal hat er z. B.
beim Essen, weil Patient eine Frage überhörte, voller Wut das
Messer auf ihn geworfen mit dem Kufe: „Verfluchter Bube!“ und
ihn an der Stirn getroffen. Dann sprang er auf und weinte, als
er sah, -daß Blut floß. Er hat überhaupt oft nach seinen Zorn-
ausbrüchen geweint. Ein Bruder des Vaters war oft schwer¬
mütig und endete durch Selbstmord. Ein Bruder oder Neffe der
Mutter hat sich erschossen. Die Mutter selbst ist kurz nach
seiner Geburt mit einem Offizier durchgegangen; sie ist nach den
eigenen Worten des Angeklagten „schwer hysterisch“, weint bei
jeder Gelegenheit oder fällt in Krämpfe. „Was mir meine Mutter
getan hat, hat noch nie eine Mutter getan!“ — Sie trinkt Absinth,
namentlich nach ihren Krämpfen, und hat auch ihren Sohn ver¬
führt, Absinth zu trinken.
Weiterhin kommt hier noch, wie oft bei solch degenerierten
Menschen, ein Mißbrauch aller möglichen Gifte hinzu. Er lebt
nach seinen Angaben, die von seiner Frau bestätigt wurden, oft
monatelang äußerst mäßig, dann aber trinkt er 1 Liter Kognak
in einer Stünde; zuweilen hat er sehr viel Absinth getrunken,
zeitweise auch Äther; dann hat er, während er in Algier war.
Opium geraucht, als Soldat hat er Morphium genommen. Die
Ärzte waren damals angeblich sehr leichtsinnig; er hatte sich
immer einen kleinen Vorrat von ca. 16 Pulvern zusammengespart
und -gebettelt, hatte aber nie den Mut, sie alle auf einmal zu
nehmen; er kam höchstens auf 4—6 Pulver.
ln den letzten Jahren hat er sich nicht auf ein einziges Gift
spezialisiert, und wenn seine Zeit kommt, trinkt er alles durch¬
einander, was er gerade bekommen kann, namentlich Wein,
Champagner, Kognak und Absinth. Trotzdem dieser dipsomanische
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrag zur Frage Verbrechen and Hysterie.
723
Zug gleichfalls als epileptisch aufgefaßt werden könnte, dürfte
doch wohl an der Diagnose einer Hysterie aus den oben dar¬
gelegten Gründen festzuhalten sein.
Im übrigen möge zunächst 'sein eigenhändig geschriebener
Lebenslauf für sich selbst sprechen. ,
Lebenslaufes Kunstmalers Hermann B.
I. Meine Kindheit. — Im Jahre 1872, den 19. November, kam
ich zu S. in Ungarn als zweiter Sohn des damaligen K. K. Oberleutnants
Georg B. zur Welt. Es muß ein von Gott verdammter Tag gewesen sein;
wehe allen jenen unglücklichen Würmern, die an diesem Tag in dies jämmer¬
liche Dasein einrückten. Ich trage an diesem Fluche noch heute.
Noch in der Wiege liegend, einige Wochen nach meiner Geburt,
erfuhr mein Vater schon, welche Last ich ihm werde. Meine Mutter ging
mit einem Offizier einfach durch und ließ meinem Vater die Bürde zweier
unflüggen Rangen, die ihm späterhin seine Mühe uhd aufopfernde Liebe
mit zahlloser Schande lohnten.
Ich erinnere mich ganz dunkel, als ganz kleiner Range irgendwo in
Dalmatien, einmal etwas gestohlen zu haben, und sehe heute noch meinen
Vater in seinem furchtbaren Jähzorn, den Revolver in der Hand, vor mir
stehen, wie er damals stand.
In der Schule war ich immer einer der Ersten im Lernen, aber auch •
bei den bösen Streichen. Ich kam 1882 oder 1883 in die Militär-Unterreal¬
schule nach K., von welcher ich aber wegen schlechter Aufführung verjagt
wurde. (Ich hatte dort am Schluß meines ersten Lehrjahres einige Gold¬
quarze aus dem Mineralienkabinett gestohlen, wofür meine Entlassung!)
Mein Vater war damals Hauptmann im ...ten Infanterieregiment
in G., Ungarn. Er bestrafte mich, und ich lief in der Nacht fort. Man
brachte mich zurück ins Vaterhaus, wo ich nun den Diener meines Vaters,
einen jungen, ungebildeten und rohen Rumänen, als Aufseher erhielt,
der jede Gelegenheit benutzte, um mich tätlich zu mißhandeln. Als er
eines Tages mich zu sehr würgte und bis aufs Blut schlug, da gab mich
mein Vater in die Familie des pensionierten Hauptmanns B. zur Pflege.
Dieser Herr, ein 80 jähriger Greis, versuchte nun im Verein mit seiner
70jähiigen Gattin und über 30 jährigen Tochter Maria, mich zu erziehen. —
Es gelang ihnen, aus mir einen vollendeten Heuchler zu machen. — Etwa
16—18 Monate blieb ich dort, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ein Drang,
dem ich nicht zu widerstehen vermochte, stieß mich fort, hinaus, weg von
der Stadt, in die Fremde — bis der Abend kam und mit ihm die erste
Furcht. Was tun ? — Wohin ? — Müde, erschöpft, hungrig und durstig,
saß ich da auf dem Böschungsrand der nach H. führenden Eisenbahn,
etwa 10 Kilometer von K. und weinte. —
In später Nachtstunde kam ich wieder in K. an. Bei der meinem
Vater befreundeten Familie L. fand ich Aufnahme und blieb zwei Tage
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
724
Rittershaus,
mit steifen Füßen im Bett liegen. Dies mein erster Wanderversuch; er
mißlang kläglich. Ich beklagte nur das Mißlingen.
Nach einiger Zeit brachte man mich nach K. zu einem Kunst¬
schreiner als Lehrjunge. Drei Wochen später passierte einem , Ka¬
meraden eiri Unglück, wobei ich Augenzeuge war. Seine Schürze ver¬
wickelte sich um den Achsenbaum, riß den Knaben mit sich, und ehe ich
noch um Hilfe schreien konnte, war der Arme um den in rasender Eile
sich drehenden Achsenbaum, der alle in der Fabrik befindlichen Maschinen
durch Übertragungsriemen in Gang setzte, — wie ein loser Fetzen ge¬
wickelt. Dies Bild blieb jahrelang in meinem Gehirn haften und hat mir
manchen Schlaf geiaubt. Ich ging sofort nach dem Unglück zum Fabrik¬
herrn und forderte meine Heimbeförderung, was auch geschah.
Mittlerweile wurde mein Vater .zum Major befördert und zum ...ten
Infanterieregiment versetzt. Er übernahm das Kommando des nach P.
in Slavonien detachierten I. Bataillons. Und ich ? — Ich wurde Lehrjunge
bei einem jüdischen Händler und aß zwei volle Wochen seine Zwiebelbrole,
bis mich der Ekel forttrieb.
Ein Hauptmann L. des ...ten Regiments in K. ließ mich — auf
Befehl meines Vaters, hieß es — als Militär-Eleve im selben Regiment
einkleiden und steckte mich in seine Kompagnie, wo er mich kleinen Buben
zwang, alle Übungen der Mannschaften mitzumachen. Da das Werndl-
lnfanterie-Gewehr viel zu groß für mich war, so erhielt ich einfach das
sogenannte Extra-Korpsgewehr, welches bedeutend kürzer war, mich
aber dennoch stark überragte, wenn ich daneben stand. —
Weil ich eines Tages den Mut fand, an den Regimentskomraandanten
zu schreiben, daß der Hauptmann L. vor der ganzen Front mich wegen
Fehlens eines Knopfes am Waffenrock mit dem Säbel blutig schlug, mir
ins Gesicht spuckte, mich eine Mißgeburt nannte und nach rumänischer
Art fluchte, strafte mich der über dies große Verbrechen empörte Kom¬
pagniegott mit zehn Tagen Dunkelarrest, die er mich in einem Minengang
der Bastion absjtzen ließ, wobei, nebenbeigesagt, vergessen wurde, mir in
sechs von den zehn Tagen Nahrung zu geben. Nun, all dies ist ja vorbei:
nichtsdestoweniger brausen mir heute noch so eigentümlich die Ohren,
wenn ich an diese Periode meiner ,,goldenen“ Jugendzeit zurückdenke.
Und so manche andere schöne Szene könnte ich da erzählen, w-ie
z. B. ich, kaum 13jähriger Knabe, eine Nacht und einen halben Tag in
kniehohem Schnee, bei echtem Karpathenfrost, am Plateau der unseren
Kasematten gegenüberliegenden Bastion stehen mußte, und zwar, weil
der Hauptmann die den herabführenden Weg versperrende eiserne
Gittertür hinter mir schließen ließ, nachdem ich auf seinen Befehl hinauf
mußte. Als ich am Rande der hohen Mauer stand und Miene machte,
hinabzuspringen, da lachte der untenstehende liebenswürdige Herr in
solch einer Weise, daß mir die Lust zum Sprunge verging und ich mich
heulend und zähneklappernd in eine Ecke duckte, um wenige Minuten
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
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nachher wieder wie ein Wiesel auf der Plattform herumzulaufen. Oder
jener Vorfall, da ich, Herz und Seele zum Überlaufen voll, weglief, bis
nach B. wanderte, dort, halbverhungert, durch einen barmherzigen Sama¬
riter aufgelesen, getränkt, gefüttert und — zurück nach K. verbracht
wurde, wofür mein hoch- und wohlgeborener Herr Hauptmann in edel¬
mütiger Weise mich an drei hintereinanderfolgenden Tagen je zwei Stunden
an die Wand hängen ließ, wobei es wahrscheinlich nur Zufall war, daß dies
jeweils zur Zeit des Mittagessens geschah. Um mir dann nach zweistündi¬
gem Angebundensein die üblichen Eindrücke verschwinden zu machen,
iibergoß mich ein „treuer Kamerad“ mit einem Eimer kalten Wasser auf
„Befehl des Dumnje capetani“ und lächelte dabei zartfühlend. Nur war
ich damals noch sehr dumm, denn ich bildete mir ein, der Bursche hätte
so etwas Höhnisches im Lächeln und Schadenfreude im Blick. Ich hatte
mich wahrscheinlich getäuscht, denn diese Soldaten von „dorther“ sind
ja harmlos wie Lämmei.
Endlich aber hielt ich es nicht mehr aus. Ich suchte und fand ein
Mittel, um endgültig fortzukommen. Bei einem Besuch, den ich an einem
Sonntagnachmittag meinem ehemaligen Kostherrn Hauptmann a. D. B.
machte, stahl ich eine Taschenuhr, die etwa zwei Gulden wert war, und
kehrte ruhigen Gesichtes, aber klopfenden Herzens in unsere Kasematte
zurück.
Den zweitfolgenden Tag wurde ich plötzlich in die Kompagnie-
Kanzlei gerufen, wo ich bald meinem Tyrannen gegenüberstand. Was dabei
gesprochen w r urde, kann ich heute nicht mehr angeben, es ist zu viel Wasser
darüber geflossen seit der Zeit, aber gewiß nicht soviel, wieviel ich damals
Ttänen vtrgoß. Aber keine geheuchelten, nein, — echte, wahre Schmerzens-
tränen, denn was mir der Hauptmann damals tat, hatte noch kein Hund
erdulden müssen.
Als ich dann endlich am Boden lag und kaum mein zuckte, da warf
mein gütiger Kompagniegott die Reitpeitsche in einen Winkel, — die
arme Peitsche mußte sich irgendwie weh getan haben, denn sie blutete ja
förmlich, oder, hm, war's etwa mein Blut? — bah, vorbei, vorbei ebenso
wie die Wut des Hauptmanns, der plötzlich von seinem Sessel aufsprang,
die Peitsche ergi iff (ich zuckte wieder etwas mehr) und sie in den glühenden
Ofen warf. Ein Riß an der Glocke. Der hereintretende „Korporal vom
Tag" erhielt einen Auftrag und verschwand wie ein Blitz. Plötzliches Auf¬
tauchen zweier „lieber Kameraden“, die mich elenden „Schweinehund“
hinauszerrten und am Brunnen wie ein Bündel schmutziger Wäsche
wuschen. Es war anfangs Januar, und die Eiszapfen hingen am Brunnen-
rohr. Eine tüchtige Einreibung mit Salz sollte mich wahrscheinlich wieder
erwärmen. — Und ich ging doch nicht zugrunde.
Ich wurde einige Tage danach im Militär-Transportwege nach P.
abgeschickt und meinem Vater zugestellt.
Und nun hatte ich während acht Tagen ein rosiges Leben. Ich er-
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Rittershaus,
innere mich, daß mein Vater mich sogar geküßt hat und mir sagte: ,,Armer
Bub, hätte ich nur etwas davon gewußt!“-
Nach Verlauf von acht Tagen brachte mich, mein Vater nach N.,
■der Schwesterstadt P.s, die voneinander durch die herrliche Donau getrennt
sind. In N. sollte ich nun Jeben und wirken; und zwar als der hoffnungs¬
reiche Handelslehrling bei einem serbischen Spezerei- und Südfrucht-
■Großkaufmann. Was nützte mi^ all mein Flehen, mich Kunstmaler werden
zu lassen ? — Nichts. Petroleum- und Datteln-Verkauf sind ja bekannter¬
maßen einträglicher als Farbenklexerei. Nur war ich zu jung und verstand
nichts davon.
Vier Wochen lang schmeckten mir die verschiedenen Herrlichkeiten
■des Geschäftes, wie Datteln, Feigen, Rosinen, Rops, Drops, Schokolade etc.
Da sollte ich eines Tages mit einem Paket einen Herrn an die Station der
nach vergangenem Winter wieder eröffneten Donau-Dampfschiffahrts-
gesellschaft (D. D. S. G.) begleiten. Das war ein Ereignis für mich. Das
erste Mal in meinem Leben sah ich, begreifend, solch ein Wunder. Ein
Schiff! Ein Dampfschiff! — Und als es den Herrn, dem ich am Ponton
das Paket übergab, davontrug, da war es mir, als führte es auch ein Stück
von meinem Herzen mit fort. — Helle Tränen strömten mir dabei aus den
Augen. Im Wachen und Schlafen sah ich seit dieser Zeit nichts als Schiffe.
— Mit diesen fortreisen, sei es stromaufwärts oder stromabwärts, war
nun mein ganzes Ziel, mein ganzes Sehnen und Drängen. — Nur wider¬
willig ging ich zurück, in die Stadt zurück, in den Kaufladen, der mir auf
einmal erschien, als sei es das ärgste Sklavengefängnis. — Einige Tage
darauf fand ich im Schreibtisch meines Prinzipals eine Zehnguldennote.
Wie ein Blitz durchzog mich der Gedanke: Hier hast du die Mittel, um mit
einem der schönen Schiffe bis Budapest fahren zu können. — Ich über¬
legte nichts. Ich dachte an nichts anderes als an die Fahrt. Hastig steckte
ich das Geld ein und lief, was ich konnte, zui Schiffahrtstation. Ich kam
zur rechten Zeit, um mit dem gelösten Billet noch rasch auf Deck springen
zu können, und .dann ging’s fort.-
Welch ein Glück, welch göttliches Behagen mich durchströmte, als
ich da am oberen Deck saß und vor meinen, sich mächtig weitenden Augen
all die wundervollen Bilder des Donaustrandes vorbeiziehen sah. Hah,
war ich glücklich, war ich selig! Ich hätte mit keinem Menschen auf der
Welt tauschen mögen. Daß bei all meinem Glück in meiner Tasche nur
einige Kreuzer klimperten und ich nichts anderes im Besitz hatte, als das
allerdings befriedigende Gefühl, zu reisen wie es andere, erwachsene Männer
taten, das scherte mich wenig. Ich war nun ein Mann. — Allein. — Frei! —
Vergessen, wie nie dagewesen all die Petroleum oder Stearinkerzen
kaufenden Dienstboten, die ich noch vor wenig Stunden bedienen und mit
,,Fräulein“ anreden mußte. Vergessen die Süßigkeiten des Ladens, die
Kameraden, die Sonntagspaziergänge, alles vorbei, sogar den Vater hatte
ich vergessen.-
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
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Der Abend kam. Es war empfindlich kalt geworden, und ich hatte
iur ein dünnes Gewand an. Da drückte ich’mich gegen den Maschinen-
aum uncl schlief dort wie ein Königskind im Flaumenbette.
Budapest. — Den ganzen ersten Tag lief ich staunend und gaffend
tlurch all die schönen Straßen, beguckte alles und vergaß beim Anblick
filier Herrlichkeiten, daß mich der Hunger quälte. Hatte ich doch seit mehr
als vierundzwanzig Stunden nichts genossen. Gegen Abend saß ich am
Donauufer in der Nähe der Kettenbrücke und sog mit gierigen Augen
den wundervollen Anblick fest, den mir das Panorama von Buda mit
seinem Königspalast und dem Blocksberg gewährte. — Gesättigt von der
Schönheit dieses herrlichen Bildes schlief ich auf der Bank ein. —
Eine rauhe Faust weckte mich. Erw’achend sah ich einen Konstabler
vor mir, der mich frug, warum ich hier schlafe. Es war Nacht Tiefe
Nacht. Und tausend und abermals tausend Lichter glänzten und spiegelten
sich im schwarzen Wasser der. „schönen blauen Donau“ und leuchteten
wie Myriaden HofTnungssterne. Ich aber sah nur das Wogen der schwarzen
Wellen, und plötzlich war’s mir, als käme eine solche wie ein ungeheures
Ungetüm auf mich zu, um mich zu verschlingen. Ich wehrte mich dagegen,
wollte schreien, um Hilfe rufen, da fiel mir eine harte, knochige Faust
auf Mund und Nase, — das Blut spritzte, mein Kopf brummte wie ein
Bienenkorb und dann lag ich am Boden.-Als ich zur Besinnung
kam, fand ich mich in einem dunklen Raum, in welchem eine entsetzliche
Luft herrschte. Kaum konnte ich atmen; das biß und ätzte Augen und
Kehle zum Ersticken. Brenzliche Tränen flössen mir über die Wangen,
und in meinen Eingeweiden wütete der furchtbarste Feind der Kreatur,
— der Hunger.
Ich war im Polizeiarrest eines Bezirkes Budapests.
Am nächsten Morgen wurde ich vor einen Polizeioffizier geführt,
nach Namen, Herkunft, Wohnung etc. befragt und — als heimloser Vaga¬
bund in das Schubhaus gebracht. Auf meine wahrheitsgemäßen Antworten
hatte ich nur ^öhnisch-ungläubiges Gelächter und einige wohlgemeinte
Fauststöße geerntet. Wie denn auch anders? — Legt sich da solch ein
:flisgehungertes Ungeziefer, wahrscheinlich ein längst gesuchter Taschen¬
dieb, auf eine Bank, die von der fürsorglichen, guten Stadtverwaltung
dem wohlgeehrten Publikum zu kurzer Rast gewidmet ist, und schläft
darauf, als ob es keine Polizeiverordnung gäbe, die solche Schandtat
unnachsichtlich verfolgt? — Unerhört. Na warte, — Schandbube, das
wirst^u büßen müssen, um so mehr, als du die Frechheit besitzt, einen
K. K. Offizier zu verleumden, dein Vater zu sein.
Dies geschah etwa im März oder April. Im Februar des darauf¬
folgenden Jahres bequemte sich endlich die Behörde dazu, anzuerkennen,
daß ich nach O. heimatberechtigt sei, und — ich wurde dahin mit zirka
dreißig Personen verschiedenen Geschlechts und Alters abgeschoben. Von
Pest bis zur nächsten Gemeinde ging es auf offenem „Schubwagen“ (ein-
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Ritters haus.
fachem Leiterwagen) umgeben von einer Kohorte berittener Konstabler.
Wir saßen auf querliegend^n Brettern, die Händp aneinandergefesselt.
und eine lange Kette verband uns alle zusammen.
Die Menschen, die uns vorbeifahren sahen, spuckten vor uns aus
und riefen uns verschiedene Flüche nach, wie sie nur die Ungarn aus¬
sprechen können.
Von der nächsten Gemeinde bis K. ging es dann in, zweitägigem
Marsch zu Fuß, über endlose und gründlich aufgeweichte, sehnee- uhd kot-
bedeckte Straßen und Wege. Hie und da wurde ein Mitglied aus unserer
Reisegesellschaft ausgelöst, um andere Wege einzuschlagen oder in einem
oder anderem Dorfe zu verbleiben.
Von K. bis 0. fuhr unsere stark zusammengeschmolzene Horde mit
der Eisenbahn. Sehr liebenswürdige, sogenannte Schubwärter, mit alten
Gewehren und Pistolen bewaffnet, begleiteten uns und versuchten auf alle
Arten und Weisen, uns die Zeit zu verkürzen, indem sie abwechselnd bald
den einen, bald den anderen Kameraden, bald die eine, bald die
andere Kameradin mit feinfühligen Witzen beehrten und mit sanften
Rippenstößen begleiteten. Wahrscheinlich waien wir noch nicht intel¬
ligent genug, um die harmlosen Humore zu würdigen, denn wir bil¬
deten uns ein, man mißhandele uns mit Wort und Tat. — Na, — bald
waren wir ja in O. angelangt und da hörten meine Leiden auf. Ein Onkel
nahm sich meiner an, ließ mich zuerst baden und gründlich reinigen
(Rußland hat näirilich nicht allein das Vorrecht dieser gewissen kleinen
Bicsterchen), — dann erhielt ich Wäsche und Anzug, und konnte endlich,
wie ein von der Pest genesener Kranker, der Köchin meines Onkels
vorgestellt werden. Er hat wahrscheinlich vergessen, mir seine Gemahlin
und Töchter zu zeigen, oder — dachte er aus sanitären Rücksichten nicht
anders handeln zu müssen?
Wie dem auch sei, ich speiste mit gutem Appetit in der Küche und
fuhr Nachmittags mit Onkel nach P. in Österreich, um dort eine von Wien
kommende Tante zu begrüßen. —
ln einer Villa P.s verbrachte ich in einem vorzüglichen Bett die
Nacht. Das erste Bett seit fast einem Jahr. *
Am anderen Morgen sah ich Tante Johanna.. Schüchtern begrüßte
ich sie. Als ich ihr die Hände küssen wollte, stieß sie mich zurück und
sagte mir: ,,Keine Komödie, wenn ich bitten darf!“ —
Sie nahm mich nach Wien mit und brachte mich zu ihrer Freundin,
der Flau H.-
So war ich in Wien. — Ich war wirklich ein dummer Bube gewesen,
denn ich bildete mir ein, daß meine Tante mich nur deshalb nach Wien
brachte, um mich in einer armseligen Dachkammer Dächerstudien machen
zu lassen, und daß sie sich vor meiner wichtigen Person versteckte, worin
ich bald noch mehr bestärkt wairde, da einige Tage nachher Frau H. mich
zum Bahnhof brachte, mir eine Fahrkarte III. Klasse nach P. lautend
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
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nebst einigen zwei oder drei Guldenscheinen in die Hand drückte, mich
in ein Abteil des bereitstehenden Zuges setzte und dann — kerzengerade,
ohne ein Wort zu reden, stehen blieb, bis sich der Zug in Bewegung gesetzt
hatte.. Ich Tölpel glaubte ein Lächeln über das Gesicht der alten würdigen
Dame huschen zu sehen und einen Seufzer der Erleichterung zu hören, als
die Räder zu rollen begannen Möglich, daß ich mich täuschte. Eines
war gewiß: — Ich fuhr wieder auf der Eisenbahn! — Hurrah!-
In P. angekommen, bekam ich meinen Vater nicht zu Gesicht. Ich
schlief wohl in der väterlichen Wohnung in einem kleinen Zimmerchen,
das bis dahin als Rumpel- und Sattelkammer gedient hatte, wurde
aber in der Kantine der Familie K. beköstigt und war im übrigen
frei wie ein Vogel. Tagüber streifte ich in den Schanzanlagen der
gewaltigen Festung nmher, machte Forschungsreisen in den unter¬
irdischen Minengängen oder vergnügte mich mit Baden in der von mir
so verehrten Donau.
Eines Tags sagte mir Frau K., es sei Zeit, daß ich mich entschließe,
etwas Vernünftiges zu erlernen. Ich gab zur Antwort, ich möchte Kunst¬
maler werden. Darob schlug die brave Frau über ihrem Haupte die Hände
zusammen und machte mir begreiflich, daß die Kunst im Höchstfälle nur
mit Lorbeer nähre, wogegen ein gutes Handwerk nebst Brot auch hie und
da ein Stück Speck abwerfe. Und da die Gattin des Kantiniers K- mir
nicht nur leibliche Nahrung verabreichen sollte, sondern überhaupt als
Plenipotentiaire meines Vaters auftrat, so mußte ich wohl oder übel
mich ihrem Willen beugen und meine mir zugedachte neue Lehrstelle
bei einem Buchhändler antreten. Dieser gute Mann verkaufte nebst
allerlei Pandekten auch römisch-katholische und griechisch-orientalische
Missais, Traum- und Kochbücher, die neuesten Moritaten des Rinaldo
Rinaldini, Rosa Sanders und des Schinderhannes, sowie die allempuesten
Kursbücher der Eisenbahn M. A. 'V. (d. h. Magyar Allam Vasiet) und
der D. D. S. G. in die ich rasend verliebt war. Diese unsinnige Liebe ver-
anlaßte mich auch nach ein paar Wochen einen mir anvertrauten und
der Post zu übertragenden Geldbetrag von 15 Gulden dazu zu verwenden,
mir eine SchifTfahrtskarte nach Belgrad zu lösen und mit dem nächsten
Dampfer nach dort abzudampfen. Auf Deck machte ich die Bekannt¬
schaft ei^es verwegen aussehenden Herrn, der einige Dutzend kroatische
Baumfäller und Holzarbeiter nach Serbien geleitete, um dort in den den»
Baron H. gehörenden Wäldern zu arbeiten.
Diesem Umstande verdankte ich es. Serbien betreten zu können.
Am Landungsplatz in Belgrad bei Nacht angelangt, schlüpfte ich, durch
den Schafpelzmantel des Arbeiterführers ziemlich versteckt, durch die
beiderseits des Pontons aufgestellten Grenzgendarmen und landete auf
serbischem Boden ohne Papiere, mit einer ganz geringen Barschaft.
Diese Nacht schlief ich mit dem erwähnten Herrn in einem Hotel
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Rittershaus,
am Kalimegdan, im selben Zimmer, im selben Bett. Ich habe nichts
weiter sin diesem Herrn auszusetzen, nur fand ich, daß er seine Hand zu
weit ausschweifen ließ, sonst aber ganz harmlos schlief.
Als er am Morgen mit mir frühstückte,sagte er mir mit einem seligen
Lächeln, — das mir aber sehr mephistoähnlich vorkam, — diese Nacht
hätten wir sehr gut geschlafen und Kräfte gesammelt, um dafür aber in
der kommenden Nacht uns „besser unterhalten“ zu können, und dabei
erklärte er mir, daß ihm hübsche Knaben viel besser gefallen als schöne
Mädels. Ich verstand nicht viel, oder besser gesagt, gar nichts vom Sinn
seiner Worte, aber von Minute zu Minute flößte er mir mehr Abscheu ein,
und schließlich überfiel mich die Angst, er wolle mich als Holzhauerlehr¬
ling in die Wäfder mitnehmen. Kaum gedacht, war ich aber auch schon fort.
Ich kann mich noch erinnern, daß ich nach einigen Tagen ziel- und
zwecklosen Umherstreifens in der Stadt und Umgebung auf das öster¬
reichisch-ungarische Konsulat ging,wo man mir zuerst etwas zu essen gab,
um mich Abends durch den Konsulatsdiener auf die Bahn zu bringen und
nach Semlin zu senden. In Semlin übernachtete ich bei Wirtsleuten,
die mir mitleidig ein Bett anboten. Am anderen Tage ging ich an den
Hafen und schwindelte dem Kapitän eines LastschilTes etwas vor, von
meinem Vater, den ich in Budapest habe, und der mich auf seiner Reise
an der serbischen Grenze verloren hätte usw‘ Da sein Schiff nach N-
fuhr, nahm er mich unentgeltich mit.
In N. wechselte ich im Laufe des darauffolgenden Monats drei
Lehrherren. Bei einem Photographen fing ich an, ging dann zu einem
Schuhhändler und schließlich zu einem Kutschenlackierer und Anstreicher.
Da ich hier mit Farben zu tun hatte, so gefiel mir dies Metier einige
Zeit, aber als mich mein Lehrherr einmal zu einem seiner Kunden sandte,
um dort etwa 40 Gulden einzukassieren, kehrte ich nach vollbrachtem
Aufträge nicht mehr zurück, sondern — fuhr nach Budapest mit dem
Schiff. Hier will ich nur so nebenbei erwähnen, daß die Frau meines
Lehrherrn die Tochter der Besitzerin eines Hauses in der.straße
war. Wer N. kennt, wird auch wissen, daß diese Straße aus Häusern be¬
steht, wo ältere Damen das undankbare aber lukrative Geschäft betreiben,
eine Menge in ihrem Hause wohnender Mädchen vorübergehend an Vorüber¬
gehende gegen eine gewisse Taxe zu verheiraten, um nach wenigen Minuten
wieder die Scheidung auszusprechen. ’
Ich verstand damals noch nicht viel von diesen Sachen, aber da
ich täglich dreimal bei der gnädigen Schwiegermutter speisen mußte,
erweiterte sich mein Gesichtskreis ganz gehörig. Die Familie speiste
nämlich an einem Tisch und die „Damen“ und ich an einem anderen.
Diese „Damen“ machten sich einen Spaß daraus, mich in Dinge einzu-
w T eihen, die ich besser ignoriert hätte. Auch machten sie sich manchmal
in recht unangenehmer Weise über meine Naivität lustig und erreichten
damit, daß ich aus dem einfachen Trieb, nicht „dumm“ gescholten zu
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
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werden, es oft erfolgreich versuchte, sie zu überbieten. Nur, als mir
einmal gerade die schönste, die ich heimlich als „Ideal“ liebte, mein
Kipfel nahm, dasselbe in etwas tauchte und mir zurückgab mit den Worten:
„Iß, wenn du mich lieb hast“-da konnte ich meine Tranen nicht
zurückhalten und verzichtete auf weitere Anbetung meines „Ideals“ und
auf den Genuß des Kipfels. Merkwürdigerweise erhielt ich vom Lehrherm
dafür ein paar schallende Ohrfeigen. Hatte ich also doch nicht den vollen
Wert der Handlung begriffen? — — Ach, ich war ja zu dumm.
-Nun war ich zum zweiten Mal in Budapest.-
Auf der Andrassystraße gegen Abend begegnete ich einem sehr
elegant gekleideten Fräulein, das mich fragte, ob ich ihr folgen wolle?
Dienstbereit war ich immer. Ich ging also sofort hinter der Dame her,
bis sie plötzlich umkehrte und lächelnd fragte: „Kommst du mit.
Kleiner?“
Ich gab ihr zu verstehen, daß ich ja bereits seit einigen Minuten
ihr folge, um ihr zu dienen, da lächelte sie wieder und bat mich, neben sie
zu treten und ihr die Hand zu geben, da ich zum Armreichen noch zu klein
sei. Ich folgte augenblicklich.
Wir blieben vor einem einfachen Haus in einer stillen Straße stehen,
sie zog einen Schlüssel, öffnete die Haustüre, und wir traten ein.
In einem Zimmer, in dessen einer Ecke ein riesiges Bett stand,
machten wir endlich halt. Das Fräulein lächelte wieder und-zog
sich aus. Ich mußte ein recht dummes Gesicht gemacht und mich noch
dummer benommen haben, denn trotzdem ich Röcke, Unterröcke, Hemd-
chen und Hose äußerst sanft, ja fast zärtlich auf einen Kleiderständer
hängte und schüchtern frug, wo die Bürsten seien, um ihre Schuhe zu
reinigen, lachte sie hell auf, hieß mich einen dummen Jungen, riß mir fast
^die Kleider in Fetzen, bis ich ebenso nackt wie sie dastand, was mich ver¬
dammt genierte, da dies das erste Mal war, daß ich einer weiblichen Person
gegenüber in diesem Aufzug erschien.
Sie aber ergriff mich mit einer fast wilden Hast, warf sich mit mir
auf das Bett, küßte und biß mich, als ob ich eine Puppe gewesen wäre,
dann preßte sie meinen Kopf an ihre Brust, an ihren Bauch und tiefer,
immer tiefer und rief mir dann Anweisungen zu, die ich schließlich befolgen
mußte, da sie mir den Kopf mit Beinen und Händen zum Zerspringen drückte,
als ich nicht gleich Folge leistete.-
Am anderen Morgen verlangte sie von mir 20 Gulden für das be¬
nutzte Zimmer. Ich wagte nicht, sie zu verweigern und, nachdem sie mir
ein glückliches Wiedersehen wünschte, war ich mit einem Gulden in der
Tasche auf der Straße und fühlte mich todkrank.
Ich war einige Tage in einem Spital mit Fieber und wurde dann als
geheilt — der Polizei übergeben, da ich mittellos und unterstandlos war.
Zwei Wochen später machte ich eine zweite Schubreise nach 0. mit.
Mein Onkel, den ich nicht zu Gesicht bekam, ließ mir durch die
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. 6. 49
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Köchin zwei Gulden als Reisegeld nach Wien aushändigen mit dem Be¬
merken, nie wieder seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.
So fuhr ich denn nach Wien, um Tante Johanna zu sehen.
Meine Tante wohnte in einem prächtig möblierten Haus, ich konnte
aber nicht viel davon sehen, da sie mich sofort zu ihrer Freundin brachte.
Zwei Tage nachher kam Tante Johanna und holte mich zu einer Spazier¬
fahrt ab. Ich war froh wie ein Prinz, in solch schönem Wagen neben meiner
noch schöneren und lieblich duftenden Tante durch die Straßen Wiens zu
fahren. Doch war meine Herrlichkeit bald zu Ende. An einem Hause,
über dessen Tür ein großer eiserner Doppeladler hing, hielt der Wagen,
meine Tante stieg aus, hieß mich ihr folgen, und wir traten in das Haus.
Im ersten Stockwerk mußte ich in einer Art Vorzimmer warten, während
meine Tante durch eine Tür verschwand.
Einige Augenblicke später traten einige Herren zu mir, sahen sich
eine Zeitlang an und führten mich dann die Treppe hinab, bis in die Keller¬
räume, krick — krack, und ich saß im Loch.
Abends wurde ich im Polizeigefängnis eingeliefert. Die erste Nacht
lag ich, wie hx Budapest, in einem Raume, da über dreißig Männer und
Buben auf halbgefüllten Strohsäcken lagen und-Läuse
suchten, so lange es Licht gab. Dann wurden Geschichten erzählt, die
aber keil) Viktor Hugo, kein Zola, kein Maxim Gorki erfunden hatte.
Und ich weinte, denn ich konnte es nicht begreifen.-
Am nächsten Tag führte man mich in eine Zelle, in welcher ein von
der Zollbehörde in Haft genommener Tabakdefraudänt sich häuslich ein¬
gerichtet hatte und in aller Seelenruhe Zigaretten drehte. — Es war ein
gebildeter Herr, der ungemein viel Bücher besaß,, die ich reichlich in
Anspruch nahm. Noch nie hatte ein Mensch so zu mir gesprochen, wie
dieser Herr: er behandelte mich, als wäre ich sein Sohn. Und als ich nach
vier monatlich er Haft krank wurde, da pflegte er mich ohne Rücksicht,
auf sein eigenes Ruhebedürfnis.
Da das Fieber stärker wurde, brachte man mich in das Kronprinz
Rudolf-Spital. Eine barmherzige Schwester nahm sich meiner an und wollte
aus mir armem Ketzer absolut ein würdiges Glied der alleinseligmachenden
Kirche machen, doch trug dies wahrscheinlich viel dazu bei, mich gesund
zu machen, und so wurde ich entlassen.
Da ich mehrere Kleinigkeiten besaß, die im Polizeigefängnis in Auf¬
bewahrung waren, ich aber dieselben ungern verlieren wollte, so ging ich
denn schweren Herzens in den gefürchteten Bau, den die Wiener ,,das
graue Haus“ hießen, und fand zu meinem größten Entzücken nebst meinem
Habtum auch-meine Freiheit wieder. Man ließ mich einfach laufen.
Ein Polizeimann, den ich frug, was ich nun tun solle, fuhr mich barsch an,
ich solle zum Teufel gehen. Ein Herr, der dies hörte, faßte mich bei
der Hand, führte mich in einen Kaffeeschank, ließ mir etwas zum Essen
vorsetzen und erkundigte sich dann schlicht und teilnehmend nach meinen
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
Verhältnissen. Ich erzählte ihm denn nun auch alles der Wahrheit ent¬
sprechend.
Im Wiener Adreßbuch fand, ich nun die Wohnung einer Schwester
meines Vaters, zu welcher er mich brachte.
Nachdem diese sich ebenfalls meine Geschichte erzählen ließ, dankte
sie dem Herrn, der sich dann mit vielen wohlgemeinten Ratschlägen von
mir verabschiedete. ,
Hier erfuhr ich nun aus dem Munde dieser Tante, daß Tante Jo¬
hanna eigentlich keine Tante, sondern-meine Mutter sei.-
Nach einigen Tagen war ich wieder, von meiner .wirklichen Tante
mit allem Notwendigen versehen, im Eisenbahnzuge auf dem Wege nach P.,
nachdem ich meiner Tante heilig versprechen mußte, brav zu werden und
etwas Ordentliches zu erlernen. Meines Vaters Verzeihung wollte sie mir
schon verschaffen, ich sollte nur ruhig zu ihm gehen.
Ich traf in P. ein und-streifte hier und in N. so lange herum,
als mein Geld (einige Gulden) dauerte, und dann verdingte ich mich bei
einem — Fischer auf der Donau gegen einen Tagelohn von einem Gulden
nebst freier Verpflegung. Den ganzen Sommer verblieb ich denn auch bei
diesem Metier.
Wir fuhren auf der Donau bis Semendria und kehrten oft, reich
beladen, an stromaufwärts fahrende Schiffe gekettet, zurück. Das war ein
Leben voll Arbeit, Strapazen, Mühen, aber auch voll von Abenteuer und
Freiheit. Wenn manchmal mein Lehrherr etwas Besonderes an der serbi¬
schen Küste zu tun hatte, dann war dies mein köstlichstes Vergnügen, ob¬
wohl wir dann oft die Kugeln der serbischen Grenz- und Zollwächter um
unser Boot herum ins Wasser schlagen hörten.
Aber das verfluchte Fieber packte mich wieder, und so sehr ich mich
auch volle zwei Monate dagegen wehrte, mußte ich doch den mir lieb
gewordenen Beruf aufgeben. Vierzehn Tage lang pflegte mich die Frau
meines Brotherrn, bis ein Radikalmittel einer alten Zigeunerin mir wieder
auf die Beine half.
Dann verließ ich P.-N. und ging nach E., wohin mein Vater mit
seinem Bataillon versetzt worden war. Und da nahm ich meinen Mut
zusammen und wollte Vätern um Verzeihung und Hilfe bitten.
Ich war sechszehn Jahre alt.
Mein Vater ließ sich nicht sehen. Ich erhielt durch seinen Diener
den Befehl, zum Oberst-Regimentskommandeur zu gehen, was ich auch
befolgte, und da-wurde ich einfach in den Soldatenrock gesteckt,
als Eleve einer Kompagnie übergeben, und---nach einigen
Tagen mit einem Mannschafts-Nachschub nach der Herzegowina geschickt.
Und so endete meine Jugendzeit, meine „goldenen Kinderjahre“.
II. Im Militär. — Unser Transport unter dem Kommando eines
Unteroffiziers fuhr an einem schönen Herbstmittag von E. ab. Die Reise
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ging via Agram nach Fiume mit der Bahn und von dort mit Schiff bis
nach M. in Süddalmatien. Als wir in Fiume eingeschifft wurden, war all
mein Kummer über meine neue Zwangslage wie weggeblasen. Es war
vielleicht der Einfluß der Bora, diesem Herbstgast Dalmatiens, der all¬
jährlich das Adriatische Meer aufpeitscht. Alle waren seekrank, nur ich
nicht. Ich saß während der ganzen Fahrt ganz vorne an der Spitze des
Schiffes auf einer Rolle Taue und sah mit Entzücken in die lebende Flut
Gierig saugte ich die Hafenbilder von Zara, Spalato, Gravosa und Ra-
gusa ein.
Als wir von M..mit der schmalspurigen Militärbahn in das Okkupa¬
tionsgebiet und beim Auswaggonieren in P. durch die krummen türkisch-
herzegowinischen Gassen marschierten, um naffch dem Übersetzen der
Darenta mittels Fähre die nachD., unserm Bestimmungsort, führende Land¬
straße zu'erreichen, da klopfte mir das Herz höher, und ich war von ganzer
Seele bereit, meinem Vater zu verzeihen, daß ej mich zwäng, Soldat zu
werden. Jeder Schritt durch dies Land erinnerte mich an die Märchen
von Tausend und eine Nacht. Da fand ich ja Ali-Baba mit seinem bunten
Rock, Pluderhose, Turban und magerem Esel. Dort wieder einen Hussam
Bey in farbenprächtigem goldstrotzendem Gewand, auf reich gezäumtem,
tadellosem Schimmel, hier, eine alte vermummte Zigeunerin, deren Fetzen
lose am Leibe hingen und die welken Brüste unbedeckt ließen, während
ein schmutziger Lappen die Gesichtshälfte unterhalb der Augen verhüllte,
wahrscheinlich um das Abstoßende des Antlitzes zu mildern, dort wieder
einen schwarzen sonderbaren Sack, der mit wackelnder Grazie über das
holprige Pflaster schwebte und deutlich erkennen ließ, daß die unten herVor-
guckenden Füße eine holde, junge Gestalt trugen. Kurz, ich war im Lande
des Zaubers, der Scheherezaden, im Lande der Feigen, des KafTees — (um
zwei Kreuzer die Tasse), — im Lande der unnahbaren Schönen und der
zudringlichen Läuse. Was diese letzteren betrifft, so ist deren unmäßiger
Nachwuchs daraus zu erklären, daß der Landmuselmann sie nicht tötet,
sondern einfach wegwirft. O Land der vielen Gegensätze, o Land der heißen
Sommer und der noch heißeren ungarischen Kulturträgerinnen in den
verschiedenen Garnisonen, o Land der endlosen Märsche und Patrouillen¬
gänge und der langweiligsten Sonn- und Feiertage; dein Boden hat mich
zum Manne reifen sehen, und deine Sonne hat mir mein bißchen Gehirn
zerkocht, so daß, was übrig blieb, ein scheußliches Gerinnsel ist, dessen
einzige Kraft war, den trägen Körper bis in den tiefsten Schlamm
menschlicher Verderbtheit zu wälzen. — Tatsächlich gibt es niemand,
der ein zartfühlenderes, mitleidigeres, gemeineres und verdorbeneres Herz
besitzt als ich. Oder, liegt das nicht im und am Herzen? —
Ich habe von 1888 bis 1889 in D. und J. als Eleve bei der 7. Kom¬
pagnie des ... Infanterie-Regiments gedient. Oberstleutnant von L. war
mein Bataillonskommandeur. Gegen Mitte 1889 bekamen wir zum Kom¬
pagniechef den von der Gendarmerie zu uns versetzten Hauptmann
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Original fro-m
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 735
•
I ohann V. Er war der böse Geist unserer Truppe, — mir aber war er der
Satan selbst.
Im November 1889 nach erreichtem 17. Lebensjahr mußte ich auf
Wunsch meines Vaters den Fahneneid ablegen und wurde infolgedessen
l nfanterist. An dem Tage sagte mir Herr Hauptmann V. unter anderem,
ich sollte mich lieber gleich erschießen, es wäre mir und meinem Vater
förderlicher.
Ich wundere mich heute darüber, dies nicht getan zu haben. War es
ans Feigheit? — Wer vermag dies richtig beurteilen zu können?-
Anfang Dezember 1889 wurde ich durch Bataillonsbefehl zum Ge¬
freiten befördert. Als mein Hauptmann mir dies verkündete, sagte er in
Gegenwart der übrigen Kompagnieoffiziere, nicht eher ruhen zu wollen,
bis er mir den Stern wieder vom Kragen gerissen haben würde. So kam
das Jahr 1890 und mit ihm ein junger Mann zu unserer Kompagnie, der
zwar im Jahre 1886 stellungspflichtig war, sich aber durch Flucht nach
Serbien der Dienstpflicht entzogen hatte. Der Tod seiner Mutter führte
ihn in seine Heimat zurück, um an ihrem Grabe zu beten, wobei er durch
— von seiner^ Vater abgesandte—Gendarmen verhaftet wurde.-Der
arme Teufel mußte eine sechswöchige Garnisonarreststrafe verbüßen und
mit drei Jahre Nachdienen zu unserer Kompagnie einrücken. Da er sehr
schwächlich von Körper war, anderseits aber eine gewisse Intelligenz besaß
und sehr schön schreiben konnte, was bei unserer Truppe sehr mangelte
(70—80% Analphabeten), so wurde er mit mir zur Führung der Rech¬
nungsgeschäfte der Kompagnie bestimmt. So waren wir immer beisammen,
lernten uns kennen, wurden Kameraden und späterhin Freunde, zum
Schluß aber — Mitschuldige! — Einmal verhinderte er mich durch zu¬
fälliges Hinzutreten, mich zu erschießen. Ich lag abends im Bett (in der
Kanzleistube), legte das geladene Gewehr zwischen meine Füße, den Kopf
mit dem Kinn an die Mündung und suchte mit dem rechten Fuß abzu-
drücken, als er plötzlich hereinstürrate, lachend und jauchzend mir die
Decke wegriß und mich zum Aufstehen und Mitkommen aufforderte.
Mit der Schnelligkeit eines Affen entwaffnete er mich, entlud das Gewehr,
sah mich an und sagte nur zu mir, plötzlich ernst werdend:
„Pfui, — schäme dich!“ — dann ging er fort.
Ich blieb am Bettrand sitzen und weinte.
Ich glaube, ich habe einen zu großen Vorrat an Tränen, denn der
geringste Anlaß macht mich flennen wie ein altes Weib über ihre
Sünden.-
Seit dieser Zeit sind wir Freunde geworden. Meine Lage bei der
Kompagnie wurde von Tag zu Tag schlechter. Mein Hauptmann verging
sich so weit, mich sogar zu schlagen. Da war das Maß voll.-
Am 31. Oktober 1890 (wir waren in K. stationiert), mittags, reiste
unser lieber Herr Hauptmann auf einen 4 tägigen Urlaub ab. Abends
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736
Rittershaus,
i
ging mein Freund Milan P. mit mir zu dem uns bekannten Offiziersdiener
des Hauptmanns, wie so oft, um ein Stündchen zu verplaudern. Nach
einer geraumen Zeit forderte uns P. auf, aus einem Gasthof auf seine Rech¬
nung Speisen und Getränke zu holen, während er rasch am Schnellkoch«
einen guten Kaffee bereiten wolle. Wir taten dieses gerne. Als wir mit
dem Gewünschten zurückkamen, ließen wir es uns sehr gut schmecken und
schieden nach acht Uhr vom Offiziersdiener mit dem Versprechen, morgen
wiederzukommen. Auf der Straße faßte mich P. am Arme und frug mich,
ob ich sein Freund sei. Ich frug ihn, ob das bißchen Wein ihn berauscht
hätte, worauf er mir antwortete, dies sei nicht der FaU, im Gegenteil, «
sei nüchterner denn je, aber er könne so nicht mehr weiter leben und sei
fest entschlossen, sofort zu deserti«en, forderte mich aber auf, mitzu¬
kommen, da ich ja ebenfalls nichts zu verlieren, jedoch Freiheit und
besseres Leben zu gewinnen habe.
Auf mein Bemerken, daß wir ohne genügende Mittel nicht weit
kommen würden, behauptete er, genügend Geld zur Reise und zur Ver¬
kleidung zu besitzen.
Da ging ich mit.- : -
In einem Han (Einkehrwirtshaus) fanden wir einen Fiaker, der am
nächsten Morgen leer nach Sarajevo zurück wollte. Auf unser Zureden
spannte er ein und fort ging’s.
In Sarajevo kauften wir uns Zivilkleider, die P. bezahlte.
Auf dem Wege zur Bahn gestand er mir dann, gestern abend unsere
kurze Abwesenheit mit dem Diener dazu benutzt zu haben, um den Koffer
unseres Herrn Hauptmanns zu erbrechen und daraus etwa 3- oder 400
Gulden zu entwenden.
So wurde ich Deserteur und Dieb, da mitgefangen, mitgehangen
heißt.--
In einigen Tagen waren wir in Serbien. Um ungehindert üb« die
Grenze kommen zu können, wiesen wir den Grenzjägern gefälschte Militär¬
pässe vor, die anstandlos visiert wurden.
Einige Wochen darauf fuhr ich vonSemendria (Smederevo) in einem
Fischerkahn in Gesellschaft zweier alten Fisch« nach d« ungarischen
Seite. Warum kam ich zurück?-Ja, wenn ich das wüßte!-
Ich ging eben, weil ich gehen mußte, weil mich etwas Ungreifbares, Un¬
sichtbares stieß und z«rte und ich diesem Drang gehorchen mußte, ob
ich wollte oder nicht.
In P. meldete ich mich bei d« dort stationierten Husaren-Eskadron
und wurde in Begleitung eines Wachtmeisters nach Esseg transporti«t,
wo man mich sofort in den Garnison-Arrest steckte.
Ich wurde zur Degradierung und zu schw«em und verschärftem
K«ker auf die Dauer von 2 Jahren nebst einem Jahr Nachdienen v«-
urteilt und in das Festungsstrafhaus nach P. gebracht.-So sah ich
als gefesselter Sträfling, umgeben von vier Soldaten mit aufgepflanztem
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
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Bajonett, diese Stätte wieder, in dei ich vor kaum drei Jahren als privi¬
legierter Faulenzer umherstrich und die Bürger durch allerlei Schabernack
beunruhigte.
Was ich innerhalb dieses Festungsstrafhauses während der zwei
Jahre erlebte und mitmachte, ist ja so gräßlich banal und so furchtbar
erschütternd, daß ich noch heute mit Schaudern daran denke.
Dies Mummenspiel, dem wir Sträflinge als willenlose Figuranten
dienen mußten, um die alten Jahre des Kommandanten, eines längst in
den Ruhestand versetzt gewesenen Oberstleutnants, etwas abwechslungs¬
reicher zu gestalten, diese Parodie des Militärstraf- und Disziplinargesetzes,
diese mißlungene Übersetzung der mehr als hundertjährigen Zopftheorie
in eine vollkommen entartete Praxis, wird zeitlebens in meinem Gedächtnis
eingraviert bleiben. Heute, nach fünfundzwanzig Jahren noch, werde
ich durch Erinnerungen daran geäfft und verfolgt und bis in die Träume
hinein gepeinigt, denn selten habe ich andere Träume als aus dieser elend¬
sten Periode meines Lebens.
Ich erhielt da die ersten Briefe meiner Tante-Mutter Johanna, und
da ich nicht wußte, wie und was ich ihr schreiben sollte, so unterblieben
meine Antworten. Da wurde ich dem Oberstleutnant W., dem Allein¬
herrscher in unserem Reiche, auf dessen Befehl vorgeführt und erhielt die
Mahnung, während fünf Tagen in dunkler Zelle darüber nachzudenken,
welche Pflichten einem jungen Burschen seiner sich für ihn aufopfernden
Mutter gegenüber obliegen.-
Da fing es an. In einer Kasematte untergebracht, wo ich als Stuben¬
genossen einen Meuchelmörder, zwei Raubmörder, zwei Straßeriräuber
und vier diebische Matrosen der Kriegsmarine hätte, wurde ich bald in
alle Mysterien der „hohen Schule“ eingeweiht.
Ich hatte jeden dritten Monat in Einzelhaft zuzubringen, was mir
das Gericht bei meiner Verurteilung wahrscheinlich deshalb zuerkannte,
damit bei einer solchen Isolierung all das von der Gemeinschaftshaft an¬
gewachsene Schmarotzergewächs wieder abmodere. . Dies war aber eine
weise Vorrichtung, die ich nicht genügend zu würdigen verstand. Mir war
dies das Unerträglichste meiner ganzen Strafe.
Während ich nun bei Beginn meines zweiten Strafjahres einen Monat
in Einzelhaft zubrachte, ereignete es sich, daß meine Stubengenossen aus
der Kasematte V einen Fluchtversuch verübten, der aber durch die rasche
und lose Zunge des jüngsten der vier Diebe vereitelt wurde. Noch ehe sie
das Weite finden konnten, trieb man sie in die Enge und belastete sie mit
Fußketten und den sonst üblichen Strafen. Als ich wieder zurück in die
Kasematte kam, war ich der einzige Genosse, dessen Füße kein klirrendes
Anhängsel trugen. Dies ertrug mein kameradschaftliches Gefühl nicht.
Ich fingierte daher einen geplanten Ausbruch und hatte nun das stolze
Gefühl, auch für die Gemeinschaft etwas getan zu haben und leiden zu
können. 21 Tage Einzelhaft mit neuntägigem Fasten, täglich sechs-
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Rittershaus,
i
stündigem Schließen in Fuß- und Handspangen und Tragen von 48 cm
langen Fußketten bis auf •weiteres war mein Lohn.
Um nun zu zeigen, daß ich „Mann“ bin (aus dummer Bravour),
führte ich mich so auf, daß ich aus den Disziplinarstrafen nicht mehr
hinauskam. Mein Strafenregister wurde eines der längsten, und die Ketten
trug ich fast elf Monate lang.
Es war mir wie eine stolze Genugtuung, wenn ich meine Kameraden
von mir sagen hörte; „Ja, das ist ein ganzer Kerl!“
Endlich war ich entlassen und rückte wieder nach Bosnien ein. Ich
war um zw r ei Jahre älter geworden, war aber psychisch und moralisch
ein Skelett.
Und nun folgten meine Desertionen etc. Schlag auf Schlag.
Ich hatte Montenegro durchquert um mich dann in Cattaro zu
melden. Neun Monate Kerker, wovon mir vier Monate durch den Festungs¬
kommandanten geschenkt wurden. Wegen Diebstahls und Subordina¬
tionsverletzung 15 Monate schweren Kerker. Abgebüßt in P. Wegen der
dritten Desertion und Diebstahls zwei Jahre schweren Kerkers, wieder
abgebüßt in P.
Und endlich im Jahre 1898 in E. lernte ich die zweite Frau meines
Vaters kennen. Er war als Oberst in den Ruhestand versetzt worden und
zog sich nach V. zurück. Dort lernte er Fräulein F. kennen und heiratete
sie. Nun hatte ich doch eine Mutter (!).-
Ich kam ins Spital. Eines Abends verließ ich dasselbe mit Erlaubnis
des Chefarztes und spazierte in der Stadt herum bis gegen Mitternacht.
In einem Weiberlokal trank ich mir einen derartigen Rausch an, daß ich
auf dem Rückweg zur Kaserne, statt in die Festung zu gehen, zur’Drau
ging, mich in einen Kahn setzte und stromabwärts trieb.
Als ich am Morgen halberfroren erwachte (es war im Januar oder
Februar), da befand ich mich an der Mündung der Drau in die Donau.
An einer Schiffmühle setzte ich an und bettelte um ein Stück Brot und
Gelegenheit mich zu wärmen. Inzwischen verständigte Gendarmen holten
mich ab und brachten mich nach E. zurück.
Vierte Desertion -- Resultat: Tod durch Erschießen.
Ach, hätte man doch das Urteil vollstreckt!-
Ich wurde durch den stellvertretenden Korpskommandanten K. H.
Erzherzog Salvator begnadigt und zu fünf Jahren schweren Kerkers
verurteilt. Ein Jahr für je eine Stunde Abwesenheit!
Ich kam in die Militär-Strafanstalt nach A.
Hier war ich'magenleidend geworden. So hatte ich nun zwei Übel.
Ein von meiner (wirklichen) Mutter ererbtes Herzleiden und nun
noch der Magen. Ich war fast immer in ärztlicher Behandlung. Eines
Tages hatte ich den ganzen Kram satt. Ich lag in der Krankenkasematte.
Unweit von meinem Bett stand der Verband- und Medikamentenkasten.
Ich sah darinnen hinter der Glasscheibe unter anderen Fläschchen besonders
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
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•zwei, die die Aufschriften „Opium“ und „Atropin“ trugen. Abends, nach¬
dem alles ruhte, öffnete ich mit einem Drahthaken die Glastüre des
Schrankes, nahm beide Fläschchen, legte mich zu Bett und leerte sie auf
einen Zug. Was weiter geschah, weiß ich nicht-Nach
einigen Tagen wer ich so weit hergestellt, um aus der Kranken-Kasematte
entlassen zu werden. Zwei Tage später kam ich wieder zurück: ein Mit¬
gefangener hatte mir in der Schreinerwerkstätte ohne Grund, ohne Streit,
ohne ein Wort zu sagen zwei Hiebe mit einem schweren Schraubenschlüssel
über den Kopf versetzt.
Ich habe mehrere Male Ausbrüche von Wut, Resultat eines un¬
bändigen Jähzornes, gehabt und staune heute noch, dem Menschen, der
mich verletzt hatte, nichts getan zu haben; im Gegenteil, ich wurde beim
Kommandanten bittlich, den armen Teufel nicht zu bestrafen. Und dann
blieb ich über zwei Wochen, ohne auch nur ein Wort zu reden. War es
Trotz, Ekel, Abscheu, Menschenscheu? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur,
daß ich mich lieber hätte in Stücke hacken lassen, als ein Wort zu reden.
Und doch litt ich darunter wie kein Mensch leidet.-
Im Jahre 1903 wurde ich begnadigt, rückte zum Regiment nach E.
ein, wurde superarbitriert und vom Militär entlassen.
III. 1903—1913. — In V. ist die Familie Sch.-F. bekannt. Die
Brüder Sch. heirateten die zwei ältesten Schwertern der Familie F., und
zwar Wilhelm die Marie, Vinzenz die Therese. — Später heiratete dann
mein Vater die Jüngste, Giselia.-
Beide Sch. sind Weingroßhändler und K. K. Hoflieferanten.
Therese Sch.-F. konzipierte mit meiner Stiefmutter einen Plan, uni
meinen Vater für mich zu gewinnen, damit ich endlich auch einmal „lebe“.
Denn bisher hatte ich nur vegetiert.
Ich wurde also im Hause Vinzenz Sch. untergebracht. Das erste
Mal in meinem Dasein ein echtes Familienleben! „Er“ „Sie“ und „Tochter“
(16 Jahre alt), wetteiferten miteinander, mir durch Liebe und Güte meine
Vergangenheit vergessen zu machen, mich zu liebkosen und zu verzärteln.
Abends kam dann meine Stiefmutter zu mir, und dann saßen wir denn
Hand in Hand oft bis in späte Nachtstunde, vom Vater und von meiner
Zukunft redend.-
Hier muß ich einiges verschweigen, um nicht unnütz Kot aufzu¬
wühlen. Schwamm darüber!-Aber es drückte mich erbärmlich,
und als ich kurze Zeit nachher vor meinem V ater in die Knie sank und
weinend seine Hände küßte, und gar, als er, Tränen , in den Augen, sich
niederbückte und mich mit den Worten „Armer Bub“ zu sich zog und
mich küßte, ach, — da hätte ich sterben mögen vor Seligkeit und Reue.
Ich wurde nun von Wilhelm Sch, als Korrespondent eingestellt und
war bald Vertrauensmann. Meine freie Zeit brachte ich abwechselnd
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Rittershaas,
„oben“ (bei Vinzenz Sch.) und „unten“ (bei Vater) zu. Oben war am
Berg, und unten war im Tal.-
Und dann kam eine Zeit, — eine Zeit voll widerstrebender Gefühle,
ewiger Kampf zwischen Dankbarkeit und Liebe, Pflichtgefühl und Sehn¬
sucht, ein Hin- und Herschleudern meines Herzens, und je mehr ich mich
sträubte, desto tiefer sank ich.
Eine Heirat mit einer Postinspektors-Tochter wurde geplant und
von „zwei“ Seiten bekämpft. Sie war zu schön und zu arm.
Ein anderes Projekt mit einer Gutsbesitzers-Tochter wurde auf’s
Tapet gebracht von „zwei“ Seiten und von mir bekämpft. Sie war zu alt
und zu häßlich trotz allen Reichtums.
„Zwei“ gegen „eine“? — zu viel. „Drei“ für mich? nein, nein, ich
wäre zugrunde gegangen.
Da kam das Unheil geschlichen, Dieser Lindwurm, der in meinem
Innern .nur scheinbar schlummerte, mein Gespenst, mein Phantom, mein
Fluch erwachte!
Ich sollte eine Summe Geldes für Wilhelm Sch. auf die Post tragen.
Hörte ich da das Wort „armer Bub“!? — Nein. Ich sah nichts, hörte
nichts, wi£ wenn Peitschenhiebe mich zur Bahn trieben und fort jagten.
In Wien stürzte ich mich in jedes Vergnügen; Theater, Weiber, Wein und
schließlich der Schnaps taten ihr Möglichstes, um Reue zu ersticken, Sehn¬
sucht zu erwürgen. Umsonst. Erst als ich auf der Landstraße nach Linz
mittellos dahinwanderte und auf einem Steinhaufen sitzend meinen
schönen Traum beweinte, dann ward es ruhiger in mir, und ich hatte meinen
Weg zur Hölle mit den besten Vorsätzen gepflastert.-
In Linz arbeitete ich einige Zeit als Hilfsschreiber bei einem Fabri¬
kanten, lernte ein Dienstmädchen kennen und entlockte dem armen
Geschöpf ihre Ersparnisse (etwa 60 Gulden), die hinreichten, um über
München, Lindau, Romanshorn, Zürich nach Basel und Beifort zu fahren.
Da die französische Gendarmerie mich zu viel mit der „Fremdenlegion“'
belästigte, fuhr ich nach Kolmar. Von hier zu Fuß nach Neu- und Alt-
Breisach und nach dem Kaiserstuhl, wo ich bei einem Ortsvorsteher Arbeit
für zwei Monate fand. Ich hatte hier Möbel, Wände, Türen, Fenster und
Wagen anzustreichen, erhielt dafür meine Kost, Logis und jeden Sonnabend
eine Mark für Tabak etc.
Als ich eines Tages allein im Hause war, stahl ich aus dem versperrten
Kasten der Hausmutter einige 60 oder 70 Mark und ging davon. Ich
fuhr dann nach Breisach über die Schweiz und Tirol nach V.-
Was wollte ich dort ? — Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich ge¬
storben wäre, wenn ich nicht dorthin gekommen wäre. Nach einem ge¬
heimen Wiedersehen mit meiner Stiefmutter fuhr ich nach N. Besuchte
i P., lag stundenlang im Gras und schaute auf die Donau.-Wozu
erzählen, was in mir vorging? Ich könnte es ja doch nicht wahrheitsgetreu
wiedergeben und wenn auch, — niemand würde es verstehen.
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 741
In Franzfeld traf ich eirfe wandernde Schauspielertruppe, der ich
mich als Komiker und Liebhaber anschloß.-
Von Dorf zu Dorf, von Ort zu Ort zogen wir und lebten in einer
Freiheit ohnegleichen. Wenn nach der V orstellung die Honoratioren des
Ortes uns „Künstler“ einluden, einigen Flaschen Wein den Hals zu brechen,
dann traf uns gewöhnlich noch der Morgen beim Saufgelage, und da er¬
innere ich mich, an einem Orte eines Morgens im Verein mit der Gattin
des betrunkenen Ortsvorstands in der nahen Kirche die Glocken zur Früh¬
messe gezogen zu haben, während der Küster mit Aufgebot all seiner
Kräfte den Pfarrer zu Bett brachte, um dessen plötzliche „Erkrankung“
dem Vikar zu melden, der dann auch die Messe hielt und zwar die kürzeste,
seines Lebens. Es fror ihn nämlich ungeheuer, da er in der Eile nur die
Soutane umwarf, ohne Hosen etc. anzuziehen, da diese am Bette der
Pfarrersköchin hingen und — von mir mitgenommen worden waren.-
Und so weiter, und so weiter.
Als im Winter der Theater-Direktor unserer Truppe eines Tages
sein Gepäck in einem „Hotel“ zurücklassen mußte als Gage für unbe¬
zahlte Zeche, und wir „Künstler“ für unbezahlte „Tantiemen“ uns in seine
Perücke teilen mußten, da flog die Bände auseinander.
Ich kam nach Budapest, da mir meine Wirtsfrau zehn Gulden borgte,
die ich noch nie zurückgab.-
Und endlich war ich in der Landesirrenanstalt Lipotmezö (Leopolds¬
feld) bei Budapest. Ich hörte durch Wärter und barmherzige Schwestern,
daß ich mich bei der Polizei eines schweren Verbrechens bezichtigt und
dann keine oder nur konfuse Antworten gegeben hätte.
Nach zwei Monaten wurde ich auf meine Bitten hin entlassen. Ich
fuhr nach Wien und stellte mich der Polizei.
15? Monate schweren Kerkers wurden mir zuteil, die ich in G. (Ober
Österreich) abgebüßt habe.
Hier erhielt ich Briefe von meiner Mutter, die in Paris lebte. Nach
Ablauf meiner Strafzeit sandte sie mir das nötige Geld und ich fuhr nach
Paris.-
Sie erwartete mich auf der Bahn. Wir trafen uns, und dann lebte
ich bei ihr in Le Perreux. Da habe ich die Bekanntschaft meiner Frau
gemacht, mit welcher ich dann wohnte. Durch Intrigen meiner Mutter
kam ich nach Straßburg, wohin meine Frau mir folgte. In einem kleinen
Dorfe ließ ich dieselbe sitzen und fuhr mit ihrem Gelde (etwa 40 Franken)
nach Stuttgart.
Bei einer Heilsarmeeversammlung soll ich geweint und unverständ¬
liches Zeug geschwatzt haben, weshalb man mich zur Polizei und von da
in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses brachte.
Nach einigen Wochen auf eigene Bitten entlassen, ging ich zur
Heilsarmee zurück, um mich nach dem Verbleib meiner Papiere und nach
den näheren Umständen meiner Internierung zu erkundigen. Man konnte
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Rittershaus.
mir aber nichts erklären. Wohlwollende Personen nahmen sich meiner an, <
verhallen mir zu einem kleinen Erwerb und verschafften mir Gelegenheit,
mit Fräulein Pauline F. aus D. bekannt zu werden.
Eine Liebschaft entspann sich. Frl. Pauline gab mir Geld, um mich
als Kunstmaler einzurichten. Nach wenigen Tagen verkaufte ich an das¬
selbe Geschäft die gekauften Sachen um die Hälfte des gezahlten Preises
und — fuhr nach London. Von hier schrieb ich an Frl. F. einen Erpres¬
sungsbrief, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern fuhr nach Man¬
chester, Liverpool, zurück nach London und wieder nach Paris.-
Hier vereinigte ich mich wieder mit meiner Frau und machte mit ihr
eine Fußreise nach Marseille. Wir fuhren nach Algier, Oran, kamen nach
Algier zurück, fuhren nach Marseille, Nizza, Genua, Paris und kamen
endlich nach Brüssel am 31. Dezember 1908.-
Ein inzwischen verstorbener Verwandter meiner Frau verschaffte
mir hier einen Kreis guter Kundschaften. Ich wurde als Zeichenprofessor
an der städtischen Gewerbeschule für die Schneider! nnung angestellt, gab
viele Privatstunden und hatte außerdem einmal einen sehr lohnenden'
Auftrag.
Als ich nach Ablieferung eines Teils meiner Arbeit hierfür den Lohn
«inkassierte,-einige hundert Franken,-fuhr ich wieder
davon, nach‘Berlin, wo ich in einer Nacht in der Friedrichstraße und
Unter den Linden das Geld verjubelte. Am andern Abend hatte ich gerade
so viel, um nebst einem kleinen Imbiß ein Stübchen im Lokal der Heils¬
armee für die Nacht zu mieten. In derselben Nacht wurde ich verhaftet
auf Grund eines Stuttgarter Steckbriefes. Nach Stuttgart gebracht,
wurde ich wegen versuchter Erpressung zu vier Monaten Gefängnis ver¬
urteilt, die ich zur Hälfte in Stuttgart durch die Untersuchungshaft, die
andere Hälfte in Rothenburg abbüßte.- 9
Und meine Frau? — Sie verzieh mir und schickte mir das nötige
Geld, um nach Brüssel zurückzukommen.
Noch einmal verließ ich sie für wenige Tage und kam "zu Fuß von
Roermond über Maeseyck, Diest und Löwen zurück.
Der Verwandte meiner Frau starb. Wir übersiedelten nach H. im
März 1914.
IV. Letzte Zeit. — Es hat auf dem ganzen Erdboden keinen glück¬
licheren Menschen gegeben, als mich im Jahre 1914.
Mit meiner Hände Arbeit verdiente ich viel Geld. Aber am liebsten
war mir mein Garten, mein Haushalt, meine Geflügel und Kaninchen und
Schafe und Vögel, mein Haushund und mein kleiner Griffon Bruxellois
„Pousset“.
Da lebte ich froh, zufrieden und von meiner armen lieben, lieben
Frau förmlich vergöttert, ohne den geringsten Schatten. Aus Mitleid
nahmen wir die ehemalige Brüsseler Wochenfrau mit ihrer Tochter und
ihren zwei erwachsenen Söhnen, wahren Lümmeln, zu uns ins Haus, um
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie. 743
ihnen zu helfen, da ihr Gatte sie mit Erschießen bedrohte. Sie sollten
unentgeltlich bei uns wohnen, sich Arbeit suchen und für die Nahrung
uns dann einen kleinen Betrag zahlen. Doch fand die werte Familie es
wahrscheinlich viel behaglicher, auf fremde Kosten ein Schlaraffenleben
zu führen, denn sie taten nicht das geringste, um Verdienst zu finden.
Und da brach der Krieg aus.-
In H. mied man mich wie einen Pestkranken, nur hie und da hörte ich
hinter meinem Rücken Drohungen aussprechen, wobei ich etwas wie „in
den Kanal werfen“ verstand. Nun, die Zeit bis zum Einmarsch der Deut¬
schen in H. war sehr schwer und sehr böse.-
Mit einem Schlag verlor ich nicht nur meine Kundschaft, sondern
auch Geldsummen, die man in der Eile vergaß, mir zu bezahlen. Ich ver¬
diente nichts mehr. Wir mußten unsere zwei Schweine um einen wahren
Spottpreis verkaufen, um doch etwas zum Essen zu haben, und als so
ziemlich auch dieses Geld zur Neige ging, flogen auch unsere Aasgeier fort,
da ja bei uns Schmalhans Küchenmeister geworden war. Sie haben unsere
ganze Kartoffelernte aufgegessen, bis zu 15 ja 18 Kilo im Tag.-
Nach einiger Zeit wurde ich als Magazin-Aufseher in dem Etappen-
Magazin am Bahnhof angestellt. Ich erhielt zwei Mark vierzig Taglohn
und war nun nicht gezwungen, die Armensuppe zu erbetteln, die man
mir ja doch verweigert hätte.
• Am 2. Dezember kam ich als Hilfsschreiber zur Bahnmeisterei in H.
Ich tat meine Pflicht bis zum 11. Mai 1915. Und da brach mein altes
Übel wieder los. Wie ich es diesmal geschehen ließ, verstehe ich ebenso¬
wenig, als ich mein ganzes übriges Leben nicht verstehe.-Ich habe
in einem Moment alles, alles, vergessen, und was darauf folgte, waren ja
nur Folgen des ersten Schrittes. Ein Schritt bringt den andern mit
sich.-
Ich habe in meinem Leben einige Male dem Tode ins Auge geschaut,
ja selbst mehrere Male versucht, mich selber zu vernichten, und verdankte
es jedes Mal besonderen Umständen, daß es mich nur streifte, hatte aber
nie gezuckt, nie Furcht gezeigt.
Dieses Mal hatte ich eine gute geladene Waffe bei mir. Ich bin vier¬
mal in H. gewesen, ohne Anstand gehabt zu haben,-schlich mich in
den Garten und sah stundenlang zum Fenster hinauf, um meine Frau
noch einmal zu sehen, und hatte diesmal den festen Willen gehabt, mir
dann eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Es geschah nicht. Warum nicht? — Ich weiß es nicht. —
Heißt es Feigheit oder wie?-
Ich zitterte an Leib und Seele, wenn ich über die Felder wieder
die nach Brüssel führende Landstraße erreichte. Es war jedesmal dunkle
Nacht. Wenn ich über den Bahndamm schlich, um mich wieder nach
rechts gegen die Gasfabrik zu halten, da dachte ich: zeig’ dich dem Posten,
der schießt dich nieder, und aus ist’s!-Nein, es ging nicht. Wie
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
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Rittershaus,
von Furien verfolgt, jagte ich dann über Gräben und Gärten und Felder
fort, — weg, als griffen des Teufels Krallen nach mir.-
Ach, du elender Schandbube, sagte ich mir dann, und-war froh,
heiler Haut davonzukommen.
Wer will mich verstehen, wenn ich Selbst es nicht kann? —
Und jetzt?-Alles mit Füßen getreten, Glück, Zufriedenheit,
die so schwer errungene Ehre, Heim,, Zukunft, Achtung meiner Vorge¬
setzten und Aussicht auf ein ruhiges frohes Alter.-
All dies durch meinen bösen Geist, der hie und da in mir die Oberhand
gewinnt, und den ich deutlich fühle, wenn auch alle Welt ihn leugnen möchte.
Ich habe als einziges Gut von meiner Mutter diesen unseligen Cha¬
rakter, oder besser gesagt, diese Charakterlosigkeit nebst dem Herzleiden
geerbt.
Ein Bruder meiner Mutter hat sich erschossen, und ein anderer Ver¬
wandter soll in ewige Schwermut verfallen sein. Meine Mutter selbst hat
sonst alle Übel und nur ein Gutes an sich: gegen Fremde und gegen Tiere
hat sie ein mitleidiges Herz, und ich auch. —
Sie ist eine riesige V erehrerin von narkotischen Mitteln, ich auch
und habe all diesen Kram schon mitgemacht. Wenn ich mir keines ver¬
schaffen konnte, so stahl ich es direkt aus dem Apothekerladen.-
Und ich gäbe heute mein Leben dafür, könnte ich dagegen einige Unzen
dieser Mittel erlangen, die einzig V ergessenheit bringen.
Was ich getan, bereue ich aufrichtig und tief, aber mit freiem Wissen
und Willen tat ich es nicht. Hermann B.
Diese hintertreppenromanartige Fülle von Scheußlichkeiten
und erschütternden Erlebnissen, vermischt mit raffinierten Be¬
trügereien und mit der oben bereits erwähnten posenhaft-theatra¬
lischen Selbstgefälligkeit ist so charakteristisch, daß man wohl
daraus allein schon die Diagnose einer degenerativen Hysterie
mit Sicherheit stellen kann.
Es sei ohne weiteres zugegeben, daß, wenn auch nur der
zehnte Teil von alledem wahr ist, was er nach dieser Auto¬
biographie angeblich erduldet hat, dies genügen würde, auch
einen leidlich gesunden Menschen aus dem seelischen Gleich¬
gewicht zu bringen. Hier liegt aber zweifellos doch mehr vor
als das, nämlich eine schwere endogene Entartung; denn so oft
er in ruhige Verhältnisse und in eine manchmal sogar äußerst
günstige Lebenslage hinein versetzt worden war, immer wieder
hat ihn sein krankhafter Trieb, wie er selbst sehr charakteristisch
schildert, daraus verjagt, allerdings unter häufiger Mitwirkung von
sexuellen und andren Affektkomplexen.
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
Beitrag zul Frage Verbrechen und Hysterie.
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Die gleiche Ätiologie spielt offenbar auch bei dem Stupor¬
zustand mit Mutismus und dem Ganserschen Dämmerzustand in
<ler Heilsarmeeversammlung eine Rolle.
Man könnte selbstverständlich auch an die Möglichkeit einer
Kombination der Hysterie mit epileptischen Erscheinungen denken,
jedoch scheint für diese Annahme keine zwingende Notwendigkeit
■vorzuliegen, da sowohl der oft nachweisbar psychogen ausgelöste
Wandertrieb wie auch die Bewußtseinstrübungen sich zwanglos in
das Krankheitsbild der Hysterie einreihen lassen. Höchstens könnte
man sein sinnloses Darauflostrinken als ein epileptisches Symptom
auffassen, im circulus vitiosus hervorgerufen und verschlimmert
durch den Alkoholmißbrauch.
Die Angaben übrigens, die seine Frau hier machte, bestätigen
die Diagnose einer Hysterie durchaus.
Er ist nach diesen Angaben zwar zuweilen deprimiert, spricht
nichts und weiß selbst nicht warum. Diese Zustände dauern
manchmal einige Tage, manchmal einige Wochen. Während er
sonst sehr nüchtern ist, trinkt er dann plötzlich sehr viel, alles
was er bekommt, Schnaps, Absinth etc., wie oben bereits erwähnt.
Zu anderen Zeiten ist er wieder sehr ausgelassen und heiter;
diese Heiterkeit dauert aber nur wenige Tage; oft springt er
plötzlich um, „als ob er eine kalte Dusche erhalten habe“, und
wird wieder traurig. Man könnte bei dieser Schilderung, abge¬
sehen von der Möglichkeit epileptischer Stimmungsschwankungen,
zunächst auch an ein manisch-depressives Irresein denken, ins¬
besondere auch unter Berücksichtigung der temperamentvollen
Stilistik seines Lebenslaufes, und auch wieder dem Alkohol eine
gewisse Rolle zuerkennen, und zwar sicherlich mit einem gewissen
Recht; bei derartig degenerierten Menschen können sich bekannt¬
lich ja die Züge der verschiedensten Psychosen in der willkür¬
lichsten Weise miteinander mischen.
Dies alles sind jedoch gewissermaßen nur kleine Schattie¬
rungen bzw. sekundäre Symptome, denn der Wandertrieb z. B.
und die zahlreichen psychopathischen Erscheinungen hatten schon
in einem Alter bestanden, in dem er noch keinen Alkohol etc.
in größeren Mengen zu sich nahm. Der Grundzug des ganzen
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746
Rittershaas,
Krankheitsbildes bleibt eben doch wohl im wesentlichen eine
schwer degenerative Hysterie.
Nach Anssage seiner Frau ist er nämlich weiterhin sehr
launisch und aufbrausend und hat auch einmal gedroht, sie mit
einem Rasiermesser zu töten. Sie kennt ihn jedoch zu gut, um
ihn dabei ernst zu nehmen; sie hat selbst dabei immer die
Empfindung, als ob er ein gewisses Theater spiele. Sie hat stets
viel Geduld mit ihm, aber wenn es zu schlimm wird, sagt sie:
„Jetzt ist es genug!“ Dann.hört er auf.
Diese Schilderung ist äußerst charakteristisch.
Weiterhin bekommt er nach ihrer Angabe manchmal „Herz¬
krämpfe“, er setzt sich hin, krümmt sich, schreit vor Schmerzen
und krallt die Hände zusammen. Eigentlich bewußtlos wird er
jedoch dabei nicht. Die Zustände dauern 1—2 Stunden lang.
Auch in seinem Lebenslaufe sucht er sich ja mit seinem „er¬
erbten“ Herzleiden interessant zu machen. Auch hierbei dürfte
es sich um hysterische Zustände handeln. Objektiv fand sich
am Herzen natürlich nicht der geringste krankhafte Befund.
Zweifelhafter scheint das hysterische Moment vielleicht bei
einem Sturz von einer Leiter; er soll damals bewußtlos gefunden
worden sein. Bei dem gesamten Krankheitbilde wird man aus
dieser Einzelheit jedoch nicht den Schluß auf eine Epilepsie
ziehen können. Es kann sich hier selbstverständlich auch um
einen hysterischen Anfall gehandelt haben, denn Verletzungen
hat er sich dabei nicht zugezogen. Leichte Schwindelanfälle
sollen nur auftreten beim Bücken, nicht von allein, kommen hier
also ebenfalls wohl nicht in Betracht.
Mehrmals hat er auch, wie in seinem Lebenslauf geschildert.
Selbstmordversuche unternommen; oft wollte er als Soldat Mor¬
phium nehmen, fand aber nicht den Mut; einmal versuchte er
sich in der Gefängniszelle zu erhängen, wurde aber wieder recht¬
zeitig abgeschnitten, einmal wollte er sich erschießen, wurde aber
im letzten Moment daran verhindert; ein ander Mal trank er
Opium und Atropin. Es widerspricht jedenfalls der Diagnose
einer Hysterie nicht, daß er fast jedesmal „rechtzeitig“ gerettet
wurde und das eine Mal ausgerechnet zwei Gegengifte gleich¬
zeitig nahm, wenngleich er jede Absichtlichkeit dabei ganz ent-
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Original fro-m
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Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
747
schieden in Abrede stellt. Auch in mehreren Briefen äußerte er
sich in einer derartig posenhaften Weise zu dem Gedanken des
Todes, daß man auch das als ziemlich charakteristisches Symptom
heranziehen kann; und schließlich hat er sich, wie er selbst
schildert, in der letzten Zeit häufig erschießen oder den Tod von
deutschen Patrouillen suchen wollen, ohne es zu tun. — Dieses
fortgesetzte Spielen mit dem Tode und dem Selbstmorde «kann
wohl gar nicht anders als hysterisch gedeutet werden.
Eine lange Strafliste findet sich in seinem Leben, höchst¬
wahrscheinlich viel länger, als sie bis jetzt aktenmäßig bekannt
geworden ist, wenngleich er auch in seinem Lebenslauf in etwas
auffallender Offenheit mit seinen zahlreichen Verbrechen gewisser¬
maßen kokettiert.
Während der Beobachtung auf der psychiatrischen Abteilung
des Kriegslazaretts I, Brüssel, bot er psychisch und körperlich
nichts besonders Auffallendes dar nnd beschäftigte sich ziemlich
fleißig mit Zeichenarbeiten, die er mit leidlichem Geschick aus¬
führte, ohne etwa eine besonders überragende malerische Be¬
gabung darzutun.
Uber das ihm jetzt zur Last gelegte Vergehen seien noch
einige Ausführungen aus dem über ihn erstatteten Gutachten
nachgetragen:
„Er hat bei seiner ersten V ernehmung ein umfassendes Geständnis
unter Schilderung zahlreicher Einzelheiten abgelegt. Es kann sich dem¬
nach unmöglich um einen epileptischen Dämmerzustand mit Bewußtseins¬
trübung gehandelt haben. Wenn man auf Einzelheiten näher eingeht,
wird dies immer deutlicher. So erzählte er hier z. B., er sei mit vollem
Bewußtsein nach Brüssel gefahren, um eine Angelegenheit zu besorgen,
habe dann auf dej Straße ein Mädchen angesprochen und habe mit diesem
ein paar Glas Bier getrunken. Soweit fand er also selbst alles noch ganz
in der Ordnung. Infolge dieses Alkoholgenusses nun sei es dann „plötzlich
wieder über ihn gekommen“, und er habe immer weiter getrunken, an dem
einen Abend in verschiedenen Lokalen dann noch Absinth, 2 Kognaks,
eine Flasche Champagner, einige Flaschen Wein, dann wieder jnehrere
Kognaks, mindestens 10 Stück, und schließlich wahrscheinlich nochmals
Wein. Er sei 2 Tage lang mit diesem Mädchen zusammen gewesen und
habe in dieser Weise weitergetrunken, sie vielleicht noch mehr als er,
ja er behauptet sogar, was nicht ganz unglaubwürdig erscheint, er habe
sie während dieser beiden ersten Tage nicht berührt. Er hat ihr auch
Zeitschrift für PsychUtrie. LXXV. 6. 50
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Original fro-m
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748
Rittershaus,
späterhin allerhand teure Toilettengegenstände gekauft, und als dann
sein Geld ausgejjangen war, die in seinem Geständnis geschilderten, z. T..
sehr raffinierten Betrügereien begangen. Daß er bei alledem bei vollem
Bewußtsein gehandelt hat, geht auch aus seinen bei den Akten befind¬
lichen Notizbuchresten hervor, in dem er über seine ganze seitherige Tätig¬
keit fast pedantisch Buch geführt hat; auch ein geschäftlicher Eintrag '
vom 11. 5.15 befindet sich noch darin, dann kommt nochmals das Datum
II. 5.45 und die Worte: „Von H. weg — Aus —“, dann am 15.5.15: „Mit
einer anderen zusammengekuppelt, ein Sch.“ — unleserlich —•
„Das ist doch wahr, um einige lumpige Fetzen“ — unleserlich — „alles
verlassen! — Pfui!“ —
Nach dem glanzvollen Schluß seiner auch stilistisch interessanten
Autobiographie stellt er noch einmal in geschickter Weise alles zusammen,
was zu der von ihm sicherlich ersehnten Exkulpierung führen könnte:
die erbliche Belastung, seinen Mißbrauch von narkotischen Mitteln; er
kokettiert mit dem Selbstmord und äußert tiefe und aufrichtige Reue
— unter wiederholtem Hinweis jedoch, daß er nicht mit freiem Wissen
und Willen gehandelt habe. —
Dieses ganze, so unendlich vielseitige Krankheitbild, das so ziemlich
alles umfaßt, was an Degeneration möglich ist, dieses ganze Leben voll
Flucht und wildem Wandertrieb, voll Verbrechen, grausigen Erlebnissen,
sexuellen Exzessen — in dem Gift, Verbrechen und Selbstmord eine fast
alltägliche Rolle spielen, das ist alles zwar nicht epileptisch, aber immerhin
zweifellos krankhaft genug, um die Voraussetzungen des § 51 StGB, zu
erfüllen. Auch die Hysterie ist eine psychische Erkrankung, und wenn sie
in einer derartigen Intensität auftritt und derartig mit degenerativen Zügen
verknüpft ist, wie in dem vorliegenden Falle, so wird man sie wohl ohne
weiteres als Geisteskrankheit im Sinne des Gesetzes ansehen können und
wird sie praktisch ebenso bewerten wie eine Epilepsie, die ebenfalls nach
langen, freien Intervallen ganz plötzlich zu schweren, fast unbegreiflichen
Exzessen und zu Konflikten mit dem Strafgesetzbuch führt.
Wegen seiner Neigung zu diesen Delikten, wegen seiner häufigen,
zum Teil so raffinierten Betrügereien muß man nun aber die weitere Kon¬
sequenz ziehen und den Patienten als einen gemeingefährlichen Geistes¬
kranken ansehen, der zur Sicherung der menschlichen Gesellschaft auf
lange Zeit, vielleicht für die Dauer seines Lebens, in einer geschlossenen
Irrenanstalt interniert werden muß, da man nie vor einem neuen Ausbruch
dieser Erkrankung und vor neuen asozialen Handlungen sicher ist. Auch
in diesem Falle ist also, wie so oft, die Exkulpierung nach § 51 StGB,
keine Humanitätsduselei, sondern in ihren notwendigen Konsequenzen
eine bei weitem härtere, aber auch sicherer eingreifende Maßregel als eine
im Verhältnis doch nur kurze Freiheitstrafe.
Ich fasse also mein Gutachten dahin zusammen:
B. ist ein erblich sehr schwer belasteter, schwer degenerierter Mensch,
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UNIVERStTY OF MICHIGAN
Beitrag zur Frage Verbrechen und Hysterie.
749
wohl zur Gruppe der Hysterie gehörig, und befand sich zur Zeit der Be¬
gehung der ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen wohl mit Sicher¬
heit in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch
den nach § 51 StGB, die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.
Er ist wegen der beständigen Gefahr erneuter Rückfälle und erneuter
Verbrechen als gemeingefährlicher Geisteskranker anzusehen.“
So tiefes Mitleid man vielleicht auch nach der Lektüre seines
Lebenslaufes mit dem Patienten fühlen mag, auch wenn, wie
gesagt, nur der kleinste Teil davon wahr sein sollte, so mußte
man doch logisCherweise diese letzte Konsequenz aus den Tat¬
sachen ziehen, da er durch eine Bestrafung, wie die Erfahrung
zeigt, nicht gebessert werden kann, und da er andererseits durch
einen glatten Freispruch nach § 51 StGB, gewissermaßen einen
Freibrief für stets erneute Schwindeleien und Hochstapeleien
erhalten hätte, von dem er, seinem ganzen Charakter nach,
sicherlich weitestgehenden Gebrauch gemacht haben würde.
Auf Grund des obigen Gutachtens wurde das Verfahren ein¬
gestellt und B. einer *österreichischen Irrenanstalt überwiesen.
Hoffentlich hat ihm nicht die Revolution, wie so manchem anderen
Verbrecher, seine Freiheit wiedergegeben, die er ja doch nur zu
neuen Verbrechen mißbrauchen würde.
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Ein Fall von posttraumatischer Demenz nach
Schrapnellschnßyerletznng: des Schädels.
Von Medizinalrat Dr. Helnlcke,
Direktor der sächsischen Landes-Heil- und Pfleganstalt Waldheim.
Bei der nach meinen Erfahrungen immerhin seltenen post¬
traumatischen Demenz halte ich es für nicht unangebracht, den
folgenden' Fall zu veröffentlichen:
Th. X. stammt von einem geisteskranken Vater; auch ist er von
seiten der Mutter, die als unordentlich, kopfleidend, asthmatisch und
gichtisch geschildert wird, offenbar belastet. Des weiteren sind auch
einzelne Geschwister des Pat. psychisch nicht auf der Höhe, in der Haupt¬
sache wohl imbezill.
Diese erbliche Belastung drückt sich bei dem' Kranken selbst in der
Kindheit schon dadurch aus, daß er in derselben in glaubwürdiger Weise
an Kopfschmerzen gelitten haben will; diese Belastung stempelt ihn auch
von Jugend auf zu einem moralisch Minderwertigen; er stahl frühzeitig,
auch war er Fürsorgezögling. Seine jugendliche abirrende Lebensweise
führte schließlich dazu, ihn auf seinen Geisteszustand in einer Irrenanstalt
beobachten zu lassen. Dortstellte man die Diagnose auf mäßigen Schwach¬
sinn; er neigte auch dort zu Diebereien und Tätlichkeiten; ohne rechte
Andauer bei der Arbeit war er doch von seiner Leistungsfähigkeit durch¬
aus überzeugt. Aus einem späteren Polizeibericht geht noch hervor, daß
X. auch stark getrunken haben soll. Immerhin war sein Gesamtzustand so,
daß er während des Weltkrieges zum Heere eingezogen werden konnte; bei
der Ausbildung fiel er keinem seiner Vorgesetzten auf, er unterschied sich
in seinen Leistungen in keiner Weise von andern Rekruten; dabei darf
nicht unerwähnt bleiben, daß seine Vorgesetzten seinen früheren Irren¬
anstaltsaufenthalt kannten und ihn deshalb besonders im Auge behielten:
auch führte er sich im Rekrutendepot straffrei. 1915 erlitt er eine Schrap¬
nellschußverletzung des Schädels mit angeblichen Kommotioerscheinungen,
die scheinbar ohne Folgen heilte. 1916 wurde er beim Militär kriminell; er
erhielt Mittelarrest; während der Verbüßung desselben wurde er psychisch
auffällig und der Lazarettbehandlung überwiesen. Dort äußerte er, daß sich
seine Kopfschmerzen seit dem Schrapnellschuß verschlimmert hätten; es
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Gin Fall von posttranmatischer Demenz usw.
751
sei ihm ferner die letzten Tage im Kopfe so komisch gewesen. Bei ruhigem
und geordnetem Verhalten während der Untersuchung und bei erhaltener
Orientierung brauchte er auffallend lange Überlegung, bis er die richtige
Antwort fand. Diese erfolgte mit etwas weinerlicher Stimme in mono¬
tonem Ton. Seine Haltung hatte etwas Starres an sich. Hinsichtlich des
somatischen Zustandes sei nur erwähnt, daß X. Herabsetzung der Schmerz¬
empfindlichkeit zeigte und spitz und stumpf nur ungenau unterscheiden
konnte. Es bestanden also auf Hysterie verdächtige Zeichen, die, worauf
hier besonders hingewiesen werden soll, bdi der früheren Irrenanstalts-
beobachtüng fehlten.
In noch ausgeprägterem Maße wurden hysterische Stigmata bei
späterer Behandlung in einem Nervenlazarett festgestellt. X. wurde wegen
seines Zustandes als U. entlassen.
Im Juni 1918 wurde er erneut kriminell; er beteiligte sich an einem
mit Einbruch verbundenen schweren Nahrungsmitteldiebstahl, der zu
seinter Verhaftung führte.
Während der Untersuchungshaft fiel er dem Untersuchungsrichter
deutlich auf, und es kam schließlich, da der Gerichtsarzt kein abschließen¬
des Urteil hinsichtlich des Geisteszustandes des Angeschuldigten gewinnen
konnte, zu einer Beobachtung desselben nach § 81 der StrPO. in der
hiesigen Anstalt.
Bei der mit ihm vorgenommenen körperlichen Untersuchung stellte
ich zunächst deutliche Unterernährung fest; die Haut war rein, trocken
bis auf deutliches Achselhöhlenschwitzen; rechts oberhalb des Nabels
fand sich ein Mal. Die Kopfbehaarung erschien dünn; etwa auf der Höhe
des Schädels rechts von der Längsnaht fand sich eine eingedellte, schmerz¬
hafte Narbe mit Knocheneindruck, die annehmbar identisch mit dem
aktenmäßig belegten Schrapnellschuß war, sonst ließen sich nur neben¬
sächlichere Narben am Körper feststellen. .Die sichtbaren Schleimhäute
waren mäßig blutreich. An Drüsen bestanden geringe Leistendrüsen.
Neben dem Mal fanden sich als Entartungszeichen noch: leicht degenerierte
Ohren, fliehende Stirn, etwas breite Nase, unregelmäßiger Zahnstand,
ein Spalt über dem Nabel und flache Fußgewölbe. Über den sonst normalen
Lungenspitzen wurde beiderseits Nonnensausen gehört. Der nicht beson¬
ders volle Puls zeigte 64 Schläge in der Minut.e. Bei der Untersuchung
des Leibes wurde links befundlos gelegentlich Schmerz angegeben. X.
klagte weiter über Polyurie, der Urin war aber o. B.
Die Untersuchung des Zentralnervensystems förderte folgendes zu¬
tage: Die runden, untermittelweiten Pupillen reagierten auf Licht, Nahe¬
sehen und konsensuell, doch waren letztere zwei Reaktionen wenig aus¬
giebig. Die belegte Zunge wurde mit gröberer Unruhe hervorgestreckt.
Die Uvula hing nach links. Die Sprache war schwerfällig, aber nicht para¬
lytisch gestört. Die Schriftprobe fiel andeutungweise zittrig aus, eigent¬
licher Tremor bestand aber nicht. Der Austritt des oberen und mittleren
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752
Heinicke,
rechten Quintusastes war auf Druck besonders schmerzhaft: links war
diese Veränderung nur angedeutet. Der Schädel war klopfempflndlich.
Die Hörfähigkeit erschien anfangs beiderseits herabgesetzt, bei späterer
Nachprüfung aber besser. Die Trommelfelle erwie&en sich dabei frei,
anscheinend aber chronisch verändert. Ob die wechselnde Hörschärfe
darauf oder auf nervöse Einflüsse zurückzuführen war, muß dahingestellt
bleiben.
Hinsichtlich des Sehorganes klagjte der Angeschuldigte über Flim¬
mern. Die Prüfung des Geruchs und Geschmacks förderte eine deutliche
Herabsetzung dieser Sinnesfunktionen zutage; zum Teil waren diese Aus¬
fallerscheinungen vielleicht auch durch psychische Schwerfälligkeit bedingt.
Die Berührüngsempfindung erwies sich am Brustkorb und den Armen
erloschen; in wechselnder Stärke war sie am sonstigen Stamm und am
Kopf erhalten; hier spielten vielleicht auch Aufmerksamkeitstörungen
eine Rolle.
Entsprechend der Zone der erloschenen Berührungempfindung war
auch die Schmerzempfindung dort gleich null; am besten war diese-am
Gesäß erhalten, um dann weiter abwärts wieder weniger zu werden.
Eine ausgesprochene Schmerzüberempfindlichkeit ließ sich an der
rechten Kopf hälfte und da besonders im Gesicht feststellen, wie auch Druck
auf oder in die Nähe der Schrapnellschußnarbe sonst geklagte Schmerzen
deutlich verschlimmerte. Die Erkennung bei geschlossenen Augen in die
Hände gegebener Gegenstände war nur einwandfrei für grobe Sachen.
Der Bindehautreflex fehlte beiderseits, der Hornhautreflex war rechts
geringer als links, der Gaumen- und der Würgereflex fehlte vollständig.
Der Sehnenreflex des Oberarmstreckmuskels war beiderseits erhöht, das¬
selbe galt von dem Knochenhautreflex der Speichen und den Bauch¬
deckenreflexen. Der Kremasterreflex fehlte. Dieser Befund soll aber
keine Verwertung finden, da das Skrotum zusammengezogen war. Die
Patellarreflexe wurden auf das stärkste ausgelöst, es kam fast zum Klonus;
der Achillessehnenreflex war beiderseits erhöht, aber ungleich, rechts
stärker; Dermographie bestand in geringem Maße; bei Fußaugenschluß
trat nach einiger Zeit ungekünsteltes Schwanken ein; es bestand Lid¬
flattern. Kontrolluntersuchungen des nervösen Status förderten an¬
nähernd denselben Befund zutage, dabei wurde auch noch Gesichtsfeld -
einengung, und zwar rechts mehr als links, festgestellt.
Bei der körperlichen Hauptbefundserhebung kam X. den Aufforde¬
rungen meist zwar prompt nach, er fiel &ber dabei durch gelegentliches
Grimassieren und eigentümliche unmotivierte Bewegungen der Hände auf.
Hinsichtlich des psychischen Befundes will Verf. nicht auf die eingehende
Exploration genauer eingehen, sondern nur in kurzen Zügen das wieder¬
geben, was X. während der Beobachtung und der Untersuchung dies¬
bezüglich Wichtiges bot. Er zeigte sich während ersterer im allgemeinen
äußerlich voll geordnet, auch war er meist ruhig; seine Ruhe war charak-
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Ein Fall von posttraumatischer Demenz usw. 753
terisiert einmal durch eine unverkennbare Indolenz, zuin andern durch
eine gewisse Gemütsdepression; dazu gesellten sich ausgesprochene Denk
hemmung, Störung der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses, Erscheinun¬
gen, die ihn blöder erscheinen ließen, als er es in Wirklichkeit war. Hin
und wieder schien es auch zu vereinzelten Sinnestäuschungen gekommen
zu sein. Dieses deprimiert-gehemmte, teilnahmlose Dahinleben machte
aber auch Zeiten Platz, in denen X. lebhafter war, sich gesprächiger zeigte,
zum Teil recht reizbar wurde, ja es kam sogar gelegentlich zu sichtlich
gehobener Gefühlsbetonung. Das Verhalten war also wechselnd. Dabei
wurde Kopfschmerz in verschiedener Stärke geklagt. Der Schlaf war im
allgemeinen gut. Hinsichtlich der Tat bestand angeblich vollständige
Erinnerunglosigkeit. Verschiedenes sprach aber dafür, daß dies nicht
stimmte; möglich aber war es durchaus, daß die Erinnerung an die Tat
eine lückenhafte war, bedingt einmal'durch die Krankheit an sich und
dann vielleicht durch Alkoholgenuß am Abend vor der Tat. Hier, aber
auch sonst, zeigte der Angeschuldigte eben Neigung zur Aggravation, die
nicht wundernehmen kann, da er ja deutlichste Zeichen von traumatischer
Hysterie auch sonst bot.
Die mit X. vorgenommene eingehende psychiatrische Prüfung deckte
sich im großen und ganzen mit der obigen Schilderung. Bei derselben
zeigte der Angeschuldigte so gut wie ständig eine auffallende Hemmung
seiner psychischen Funktionen, deren Grad wechselte. Daneben bestand
auch ein deutlicher Schwachsinn. Die Gefühlsbetonung war eine labile.
Von der einfachen indolenten Verstimmung gab es Übergänge b|s
zum heftig in Erscheinung tretenden Weinausbruch; auch wurde ausge¬
sprochene unmotivierte Reizbarkeit beobachtet. X. selbst gab an, daß
seit der Schädelverletzung eine Veränderung mit ihm vorgegangen sei;
abgesehen von den wesentlich gesteigerten Kopfschmerzen, sprach, er von
tourenweise auftretender Gemütsdepression, besonders betonte er auch
seine Intoleranz gegen Alkohol; der Genuß desselben rufe bei ihm starken
Kopfschmerz und länger anhaltendes übelbefinden sowie Apathie hervor,
was die Ablehnung des geplanten Alkoholversuches gerechtfertigt erschei¬
nen ließ. •
Vergleichen wib die Symptome, die X. hier bietet, mit denen,
die z. B. Köipin -Bonn für die posttraumatische Demenz fordert,
als: stumpfes, apathisches Wesen, Verlangsamung aller psychischen
Vorgänge, Schwäche des Urteilsvermögens, Herabsetzung der Merk¬
fähigkeit etc., Krankheitserscheinungen, denen hinsichtlich ihrer
Stärke eine deutliche Neigung zum Wechseln innewohnt, berück¬
sichtigen wir ferner die Tatsache, daß die posttraumatische De¬
menz häufig mit Pupillarstörungen und traumatisch hysterischen
Symptomen verquickt ist, so dürfen wir nicht anstehen, mit Sicher-
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754 \ Heinicke, Ein Fall von posttrautnatischer Demenz usw.
heit anzunehmen, daß das vorliegende Krankheitsbild unbedingt
als posttranmatische Demenz aufzufassen ist,
Zudem wissen wir ja durch Krankengeschichtsnotizen und
Beobachtungen, daß X. vor dem Schädeltrauma psychisch gan&
anders, viel besser dastand als nach demselben, wenngleich er
sicher ein Mensch ist, der von jeher die Zeichen angeborener
Minderwertigkeit in Form eines leichten Schwachsinns darbot.
Wichtig erscheint es ferner, auch darauf nochmals aufmerksam
zu machen, daß die hysterischen Zeichen ebenfalls vor dem Trauma
nicht beobachtet wurden. Erstmalige Notizen über Symptome,
die unzweifelhaft als posttraumatische zu deuten sind, finden wir
zur Zeit der Lazarettbeobachtungen im Anschluß an die Unter*
brechnng des militärischen Mittelarrestes im Jahre 1916.
Da die posttraumatische Demenz weiter einen bleibenden
Defektzustand darstellt, mußte sie auch zur Zeit der Tat im Jahre
1918, um derentwillen X. hier zur Beobachtung war, vorhanden
gewesen sein. Dem Angeschnldigten war daher der Schutz des
§ 51 des StrGB. zuzubilligen.
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Kleinere Mitteilungen.
Um die Erforschung psychopathischer Konstitutionen sowie die
praktische Fürsorgearbeit an jugendlichen Psychopathen in Deutschland
anzuregen, auszubauen und zusammenzüfassen, hat sich ein Deutscher
Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen gebildet.
Vorsitzender: Liz. S. Schulze, Leiter des Jugendamtes; Schriftführerin:
Frl. v. d. Leyen, Leiterin der Berliner Jugendgerichtshilfe; unter den
Beiräten: Prof. Kramer u. Prof. Stier. Geschäftsstelle Berlin N 24, Mon¬
bijouplatz 3. Jährlicher Beitrag mindestens 10 M.
Die Heil- und Pflegeanstalt Schöneberg, bekannter unter
ihrem früheren Namen Maison de Santö, wird am 1. 7. 19 geschlossen.
1862 von dem späteren Geh. Sanitätsrat Dr. Eduard Levinstein als-Brunnen-
und Badeanstalt eröffnet, wurde sie bald auf den Rat Griesingers in eine
Privatanstalt für Geisteskranke umgewandelt. Seit 1895 leitet sie der
Sohn des Begründers Sanitätsrat Dr. T Valter I^evinstein, der in der Über¬
zeugung, daß unter den jetzigen politischen und wirtschaftlichen Ver¬
hältnissen eine gedeihliche und auf persönlicher Verantwortung des An¬
staltleiters beruhende Fortentwicklung der Anstalt unmöglich geworden
ist, Grundstück und Gebäude der Stadt Schöneberg übereignet. Nament¬
lich zwei Assistenten der Anstalt haben später Bedeutung erlangt: Hecker
und der le'der nun auch gestorbene Hermann Oppenheim.
Sanitätsrat Joh. Bresler, jetzt Direktor in Kreuzburg, beginnt eine
wissenschaftliche Sammlung herauszugeben: Abhandlungen zum
Ewigen Frieden, in Heften von 2 — 4 Bogen, Neberts Verlag, Halle.
Diese Sammlung soll mitarbeiten an der ,,Lösung der Aufgabe, die Kant
dem Menschengeschlecht gesetzt: den Ewigen Frieden herbeizuführen“.
Personalnachrichten.
Dr. Ferdinand Hegemann , Oberarzt in Marienthal bei Münster, ist zum
Direktor in Suttrop ernannt worden.
Zeitschrift fUr Psychiatrie. LXXV. 6. 51
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756
Kleinere Mitteilungen.
Dr. Alfred Schmidt, Oberarzt, ist von Suttrop nach Mariental bei
Münster,
Dr. Grabow, Oberarzt, von Schleswig nach Neustadt (Holstein),
Dr. Straub, Oberarzt, von Neustadt (Holstein) nach Schleswig,
Dr. Leonhard Rosen, Sanitätsrat, Oberarzt, von Görden nach der Idioten -
anstalt Lübben,
Dr. Kurt Gaüus, Sanitätsrat, Oberarzt, von Potsdam an die Anstalten in
Treuenbrietzen,
Dr. Paul Schmidt, Oberarzt, von Sorau nach Potsdam,
Dr. Erich Noack, Oberarzt, von Teupitz nach Neuruppin,
Dr. Joh. Hoff mann, Oberarzt, von Eberswalde nach Görden,
Dr. /. P. Claus, Oberarzt, von Neuruppin nach den Anstalten bei
Treuenbrietzen, \
Dr. Behrendt, Oberarzt, von Sorau nach Teupitz',
Dr. Curt von Leupoldt, Oberarzt, von Teupitz nach Görden versetzt
worden.
Dr. Wolfgang Günther und
Dr. Franz Maurer, Abt.-Ärzte in Suttrop, wurden zu Oberärzten be¬
fördert.
Dr. A. H. Hasche-Klünder, Oberarzt in Hamburg, wurde zum Physikus
daselbst,
Dr. Wilh. Eccard, Direktor in Frankental, wurde zum Medizinalrat
ernannt.
Dr. Georg Paul, Oberarzt in Neuruppin, ist am 17. März,
Dr. Alfred Fickler, Oberarzt in Obrawalde, am 31. März auf der Reise nach
der Anstalt Dziekanka, deren kommissarische Leitung ihm über¬
tragen war, in Wronke (Posen) an Herzlähmung,
Dr. Hermann Engelken, früher Direktor der Privatanstalt Rockwinkel bei
Bremen, im Alter von 75 Jahren nach langer, schwerer Krankheit
am 2. Mai,
Dr. Friedrich Tauscher, Oberarzt in Dösen, am 4. Mai infolge Schlag¬
anfalls,
Dr. Hermann Oppenheim, Prof., der bekannte Neurologe in Berlin, am
22 . Mai im 62. Lebensjahre und
Dr. Alfred Richter, Geh. Sanitätsrat, Direktor der Städtischen Heilan¬
stalt in Buch, am 24. Juni nach kurzem schweren Leiden
gestorben.
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[ ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
i UND PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
I HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
LITERATURBERICHT ZU BAND LXXV
t
)
t
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Original fro-m
UMIVERSITY OF MICHIGAN
ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
; FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BLEULER BONHOEFFER FISCHER KLEIST MERCKLIN PERETTI STRANSKT
ZÜRICH BERLIN WIESLOCH ROSTOCK TREPTOW A.R. GRAFRNBBRO 4 WIEN
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HANSLAEHR
ZEHLENDORF-WANNSEEBAHN, TELTOWER STR. 19
FÜNFUNDSIEBZIGSTER BAND
i. Literaturheft
BERLIN UND LEIPZIG
VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER
WALTER DE GRUYTER & CO.,
VORHALS G. J. GOSCHEN’SCHE VERLAGSHANDLUNG - 3 . GUTTENTAQ, VERLAGS.
BT CHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL 3 . TRÜBNER - VEIT * COMP.
1919
Digitized by
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BERICHT
ÜBER DIE
PSYCHIATRISCHE LITERATUR
IM JAHRE 1917
REDIGIERT
VON
OTTO SNELL
DIBBKTOR DBB HEIL- D. PFLBGKAW8TALT LL’SEBURO
I.
1. LITERATURHEFT
ZUM 76. BANDE
DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
BERLIN UND LEIPZIG
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WALTER DE GRUYTER & CO.
VORMALS G. J. GÖSCHEN’SCHE VEBLAGSHANDLUNG — J. GCTTENTAG VERLAGS-
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMEK — KARL J. TRUBNER - VEIT * COMP.
1919
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1. Anstaltswesen und Statistik.
Ref.: 0. Sn eil-Lüneburg.
I. Allgemeines.
1. Arnemann, 0. (Hubertusburg), Die Weiterentwicklung weib¬
licher Pflege auf Männerabteilungen der Irrenanstalten,
mit besonderer Berücksichtigung der im Königreich
Sachsen gemachten Erfahrungen. Allg. Ztschr. f.
Psych. H. 4, S. 341.
2 a. Cox, W. H., Ideale in der Irrenpflege, auch im Zusammenhang
mit der Institution Schuurmans Stekhoven. Psych.
en neurol. Bl. vol. 21, p. 53.
2 b. Dehio (Zschadraß), Beobachtungen über die Anstaltsruhr.
Psych.-neurol. Wschr. Nr. 49/50 u. Nr. 51. (S. 3*.)
3. Dietrich, Das Beobachtungshaus. Ztlbl. f. Vormundschafts¬
wesen Bd. 8, S. 238.
4. Förster, Ed. (Berlin), „Die staatlichen Heil- und Pflege¬
anstalten sind doch nur bessere Strafanstalten und Ge¬
fängnisse.“ Eine öffentlich ausgesprochene richterliche
Ansicht. Mtschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 41, H. 6,
S. 385.
5. Hanhart, E. (Zürich), Die amtliche Totenschau auf Grund der
Verhältnisse in den verschiedenen Ländern mit besonde¬
rer Berücksichtigung der Erfahrungen im Kanton
Zürich. Zürich 1916. Speidel u. Wurzel. 116 S. —
2,50 M.
6. Henkel, 0. (Hadamar), Über die Notwendigkeit systematischer
Durchsuchungen von Irrenanstalten zur Auffindung von
Typhusbazillen trägem. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 49.
(S. 2*.)
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. a
tajdtj
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2*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
7. van der Kolk, H. J., Kleine Pavillons auf der „Willem Arntsz-
Hoewe“ zu den Dolder. Wilhelminagids vol. 2, p. 68.
8. Lindner, K ., Die Methode Prof. Kortewegs medizinisch-statisti¬
scher Untersuchungen. Tijdschr. v. Ongevallengeneesk.
vol. 2, p. 199.
9. Low, H. (Bedburg-Hau), Über Tuberkulose in Irrensantalten.
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, H. 5, S. 443.
10. Ollendorf, Kurt (Berlin), Beitrag zur russischen Irrenpflege
auf dem Lande. Ein Kulturbild. Berl. klin. Wschr.
Nr. 24, S. 584.-
11. v. Olshausen (Reg.-Rat in Berlin), Über die Haftung der
Leiter von Heilanstalten für Gemütskranke. Med. Klin.
Nr. 24, S. 670.
12. le Rütte, J. L. C., Plan für Observationspavillons für Un¬
ruhige auf Brinkgreven. Wilhelminagids vol. 2, p. 61.
13. le Rütte, J. L. C., Die Reorganisation des Irrenwesens. Het
Ziekenhuis vol. 8, p. 30.
14. Schuurman-Stekhoven, J. H., Familienpflege unabhängig vom
Anstaltskomplex. Wilhelminagids vol. 2, p. 73.
15. Siebert, Harald (Libau), Bericht über eine Ruhrepidemie in
der Libauer Städtischen Irrenanstalt. Psych.-neurol.
Wschr. Nr. 3/4, S. 17. (S. 4*.).
16. Sighart, A. (Günzburg a. D.), Der Röntgenapparat in den
Heil- und Pflegeanstalten. Psych.-neurol. Wschr. Nr.
37/38, S. 239. (S. 4*.)
17. Thomalla, Kurt (Breslau), Zivildienstpflicht und Irrenhaus.
Zukunft Nr. 19 v. 10. II. 1917, S. 161. (S. 4*.)
18. van Trotsenburg, J. A., Familienpflege. Wilhelminagids vol.
2, p. 4.
Henkel (6) greift in seiner Arbeit auf die kritische Übersicht von ScAu/te-Jena
(Vierteljschr. f. ger. Med. 1915, H. 2) zurück, nach der die Maßnahmen gegen
Typhusbazillenträger in Irrenanstalten in 3 Punkten festgelegt werden: I. Frei¬
haltung typhusfreier Anstalten, 2. Feststellung der Keimträger in infizierten An¬
stalten. 3. spezielle Maßnahmen gegen die erkannten Keimträger und ihre Um¬
gebung. H. ist in seiner Anstalt, Hadamar, woselbst seit 1913 Typhus aufgetreten
war, nach diesen Gesichtspunkten vorgegangen. Die Durchuntersuchung wurde
nach Vorschlägen von Hilgermann, und mit dessen dankenswerter Unterstützung,
auf Grund der IVidal-Reaktion vorgenommen. Blutproben wurden von sämtlichen
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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik.
3*
Anstaltsinsassen, Beamte und Pflegepersonal inbegriffen, entnommen und der
Untersuchungsstelle eingeschickt. Bei positiver Reaktion sind dann in zwei- bis
dreiwöchentlichen Zwischenräumen 5 Stuhl- und Urinproben eingeschickt. Von
227 Blutproben fiel die lf7da/-Reaktion II7mal positiv aus. Unter den Aggluti-
nanten (86 w. 31 rr. Pers.) waren 18 Bazillenträger (16 Frauen 2 Männer), darunter
wurden bei 12 Typhus-, bei 6 Paratyphusbazillen nachgewiesen. Die große Zahl
der Bazillenausscheider ist auffallend, und es ist zu verwundern, daß verhältnis¬
mäßig wenig Erkrankungen vor gekommen sind. Um die Weiterverbreitung der
Infektion zu verhindern, wurde möglichste Absonderung der Bazillenträger durch¬
geführt und regelmäßige Typhus-Schutzimpfung des — besonders dfes weiblichen —
Personals angeordnet (1915). Von einer Durchimpfung der Anstaltsinsassen wurde
abgesehen. Versuche, mit inneren Mitteln Heilerfolge bei den Typhusbazillen¬
trägem zu erzielen, waren vergeblich, so führten die Natr. salicyl .-Therapie von
Hilgcrmann, Behandlung mit Thymolkohle nach Geronne-Lenz , Verabreichung von
Jod und Tierkohle nach Kalberlah zu keinem Resultat. Der Versuch nach t'e-
truschky, Typhusfälle im Frühstadium aktiv zu immunisieren, erscheint H. mit
Schultz aussichtsreich. Neues hat, wie H. selbst betont, die Durchuntersuchung
nicht erbracht, das von Hilgermann vorgeschlagene Verfahren erscheint ihm aber
zweckmäßig und unschwer durchführbar. Seines Erachtens haben alle Unter¬
suchungen von Neuaufnahmen, des Personals sowohl als auch der Kranken, keine
Aussicht auf Erfolg, wenn nicht vorher die Anstalt auf vorhandene Bazillenträger
durchuntersucht ist und diese abgesondert sind.
Die Ausbreitung der Ruhr in den Anstalten Zschadraß und Colditz gibt
Dehio (2b) Veranlassung zu seiner Veröffentlichung. Zschadraß ist seit der Er¬
öffnung, 1894, bis zum Jahre 1913/14 von der Ruhr verschont geblieben. Wahr¬
scheinlich hat dann Verschleppung von Sonnenstein und von Colditz, woselbst
schon Ruhr herrschte, stattgefunden. In den Jahren 1913 bis 1917 erkrankten dann —
im Januar 1917 flammte die Epidemie mächtig auf — 1913 = 21 Pers., 1914 =
36 Pers., 4 Todesfälle, 1915 = 31 Pers., 3 Todesfälle, 1916 = 58 Pers. 13 Todesfälle,
und zwar bis auf die 21 Erkrankungen im November/Dezember 1913 und einen Fall
1916, die auf der Männerseite vorkamen, sämtlich Erkrankungen auf der Frauenseite.
Dann ändert sich das Bild: 1917 — 59 Erkrankungen, 35 Todesfälle auf der Männer-
seite, Frauenabteilung: 159 Erkrankungen 51 Todesfälle. Pflegepersonal erkrankte
selten (in den ges. Jahren 9 Fälle). Die Monate der zweiten Hälfte des Sommers
und die Wintermonate schienen besonders bevorzugt. Die geringe Zahl von Er¬
krankungen des Personals spricht für die Annahme, daß für den Krankheitserreger
eine besondere Veranlagung vorhanden sein muß. Besonders häufig erkranken
die Siechen, Bettlägerigen und Unsauberen. Kotanstauung scheint keine besondere
Veranlassung zu sein, Hochzüchtung und Selbstansteckung findet bei denen statt,
die „mit ihrem Kot nicht umzugehen verstehen“. Ob Tuberkulose dabei eine Rolle
spielt, wie Low in Bedburg-Hau es für wahrscheinlich hält, ließ sich ohne eingehende
statistische Untersuchungen noch nicht erweisen. Der körperliche Zustand steht
im Vordergrund, und zweifellos spricht bei dem rapiden Anwachsen der Epidemie
gegen Ende 1916 und im Jahre 1917 die Unterernährung mit. Es scheinen aber
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4* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
noch andere unbekannte Bedingungen bei der Entstehung der Krankheit mitzu-
wirken. Ganz besonders bösartig trat die Ruhr in Colditz auf; dort erkrankten
und starben an Ruhr 1914 = 1 * 1915 = 34 mit 26 Todesfällen, 1916 = 5 mit 1 Todes¬
fall, 1917 5 mit 5 Todesfällen; an anderen Darmkrankheiten litten 1914=22,
1915 = 61, 1916 = 52, 1917 = 84 mit 1 Todesfall. Auf den Zusammenhang mit
den Todesfällen an Tuberkulose weist Verf. besonders hin. Weitere Ausführungen
finden sich in eingehender Form in dem Aufsatz niedergelegt.
Auch Siebert (15) befaßt sich mit der Ruhr und veröffentlicht Beobachtungen
aus der Libauer Anstalt. Für die Entstehung der Epidemie hält S. unter Bezug¬
nahme auf eine hygienisch-fachmännische Ansicht interessanterweise die Über¬
tragung durch Fliegen für sehr wahrscheinlich, Fliegen halten sich infolge übler
sanitärer Verhältnisse in der Nähe der Anstalt in großen Mengen auf. Allerdings
kann auch an Einschleppung von außen gedacht werden, da in Libau fast ständig
Dysenterie herrscht. Es erkrankten von 38 Anstaltsinsassen 14. Untersuchungen
wurden nach Shiga-Kruse vorgenommen. Bemerkenswert war, daß bei einem völlig
gesunden Individuum Dysenterieerreger gefunden wurden, es handelte sich um
einen Bazillenträger. Dieser wurde mit Kalomel behandelt, wonach die Stuhlproben
negatives Resultat ergaben. Der Verlauf der Dysenterie war im allgemeinen leicht,
nur ein Todesfall. Bolus*alba schien sich bei der internen Therapie zu bewähren.
Siebert s Beobachtungen erstreckten, sich auch auf den Einfluß der Erkrankung, be¬
sonders der fieberhaften Zustände, auf das Seelenleben der Geisteskranken. Seiner
Beobachtung nach schädigt die Infektion durch Auftreten somatisch-psychischer
Vorstellungen gewisse Erkrankungsformen in hohem Maße.
Sighart (16) schreibt über den Röntgenapparat als diagnostisches und thera¬
peutisches Hilfsmittel in den Heil- und Pflegeanstalten, dem er eine weitere Ver¬
breitung wünscht. S . selbst arbeitet in der Heil- und Pflegeanstalt Günzburg mit
einem solchen. Er weist auf den Wert der Röntgenuntersuchungen bei Lungen¬
erkrankungen und Verletzungen des Knochensystems hin, auch bei der Auffindung
von Veränderungen des Gewebes bei Tuberkulose leiste das Röntgenbild wertvolle
Dienste. Die Verwendung der Röntgendurchleuchtung bei Epileptikern (Redlich
und Schuller f Fortschritte der R. F. XIV) zur Feststellung traumatischer Schädel¬
defekte und dergleichen, der Form- und Größenanomalien des Schädels führt er an
und geht auf die event. therapeutische Verwendung ein, worüber auf psychiatrischem
Gebiet allerdings noch keine Erfahrungen gesammelt sind. Er denkt an eine Ein¬
wirkung auf die pathologisch veränderte Zelle, auf die Drüsen mit gestörter und
veränderter innerer Sekretion, an die Vernichtung oder Abschwächung der Virulenz
der Spirochäte im Paralytikergehirn durch Röntgenstrahlen. Praktisch käme zurzeit
für Röntgen-Therapie in Betracht höchstens das weite Gebiet der Lungen- und
Knochentuberkulose und die Strahlenbehandlung der Strumen mit Basedowerschei¬
nungen. Zweifellos würde in den Laboratorien modern eingerichteter Heil- und
Pflegeanstalten der Röntgenapparat für serologische und klinische DetaOunter-
suchungen nicht fehlen dürfen.
Im Hinblick auf die Zivildienstpflicht und die Ausnutzung aller verfügbaren
Kräfte bricht Thomalla (17) in der „Zuknuft“ für die Psychopathen eine Lanze.
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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik.
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für „diese Schmerzenskinder der Juristen und der arzdichen Sachverständigen,
diese Unglücklichen, die zwischen Gefängnis und Irrenhaus hin» und hergezent
werden.“ Th. erörtert das Wesen der Psychopathen nach Weyganit (Jahreskurse
1916). Viele sind sozial verwertbar, leisten sich zwar oft Ausschweifungen, sind
vielfach vorbestraft, machen aber sonst ihre Arbeit gut. Werden sie eingezogen —
Rittenhaus bezeichnet sie als felddienstfähig, aber nicht gamisondienstfähig — so
sind sie unter der Truppe, trotz oft erstaunlichem Wagemut, eine stete Gefahr,
begehen, vollends wenn sie der Alkoholwirkung ausgesetzt sind, Straftaten, Achtungs¬
verletzung, Gewalttätigkeiten u.a., erleiden schwere Bestrafung und landen schlie߬
lich im Irrenhause, das ohnehin zahlreiche Psychopathen beherbergt. Um ihnen zu
helfen, sie vor dauerndem Anstaltsaufenthalt zu bewahren und ihre Arbeitskräfte
nutzbar zu machen, schlägt Th. die Errichtung von „Psychopathenheimen“ vor,
eine Vereinigung von Irrenanstalt und Fabrik, deren Leitung in Händen von Ärzten
liegt, woselbst die Unterhaltung aus der Arbeitsentlohnung bestritten wird. Th.
führt die Idee der Organisation einer solchen Anstalt aus. Kracpclin ist dieser Ge¬
danke sympathisch, er gibt seine autoritative Ansicht in einem kurzen Nachwort
zu erkennen, unter Betonung dauernd aufrechtzuerhaltender Enthaltung vom Al¬
kohol, diesem gefährlichen Feinde der Willenskraft, an der die Psychopathen vor
allem kranken.
- II. Anstaltsberichte.
1. Alsterdorfer Anstalten in Hamburg-Alsterdorf. Bericht für
das Jahr 1916. Dir.: Prof. Dr. Kellner. (S. 14*.)
2. Bayreuth, Oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1916. Dir.: Dr. Hock. (S. 20*.)
3. Bergmannswohl, Unfall-Nervenheilanstalt der Knappschafts-
B.-G. Schkeuditz (Bez. Halle a. S.). Dir.: Prof. Dr.
Quensel. (S. 16*.)
4. Berlin, Bericht der Deputation für die städtische Irrenpflege.
Berichte über die Irrenanstalt Dalldorf und die Heil-
und Erziehungsanstalt der Stadt Berlin, Irrenanstalt
Herzberge, Irrenanstalt Buch und die Anstalt Wuhl-
garten. Verw.-Bericht des Magistrats zu Berlin. Etats¬
jahr 1916. (S. 8*.)
5. Bernische kantonale Irrenanstalten. Berichte der Anstalten
Waldau, Münsingen und Bellelay für das Jahr 1916.
(S. 21*.)
6. Breslau, Städtische Heilanstalt für Nerven- und Gemüts¬
kranke. Bericht für 1916. Dir.: Primärarzt Dr. Hahn.
(S. 10*.)
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6*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
7. Burghölzli, Zürcherische kantonale Heilanstalt. Bericht für
1916. Dir.: Prof. Dr. Bleuler. (S. 21*.)
8. Cery, Rapport de Tasile. 1916. Dir.: Dr. Mahaim. S. 24*.)
9. Eglfing bei München, Oberbayer. Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1916. Dir.: Dr. Vocke. (S. 17*.)
10. Eichberg im Rheingau, Landes-Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1916/17. Dir.: Dr. Wachsmuth. (S. 12*.)
lla. Ellen (Bremen), St. Jürgen-Asyl für Geistes- und Nerven¬
kranke. Bericht für 1916. Dir.: Prof. Dr. Delbrück.
(S. 14*.)
llb. Ellikon a. d. Thur, Trinkerheilstätte. Bericht für 1916.
(S. 22*.)
12. Friedmatt (Basel), Kantonale Heil- und Pflege-Anstalt.
Bericht für 1916. Dir.: Prof. Dr. G. Wolff. (S. 23*.)
13. Gabersee, Oberbayer. Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1916. Dir.: K. Med.-Rat Dr. Dees. (S. lg.)
14. Herborn , Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1916.
Dir.: San.-Rat Dr. R. Snell. (S. 12*.)
15. Herisau, Appenzell-Außerrhodische Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1916. Dir.: Dr. A. Keller. (S. 22*.)
16. Hördt, gemeinsame Irrenpflegeanstalt. Bericht für 1916/17.
Dir.: Dr. Haberkant. (S. 17*.)
17. Kaufbeuren, Heil- und Pflegeanstalten. Bericht über die
Jahre 1914, 1915 und 1916. Dir.: K. Medizinalrat Dr.
Prinzing. (S. 18*.)
18. Königsfelden (Aargau), Kantonale Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1916. Dir.: Dr. Frölich. (S. 24*.)
19. Kreuzburg O.-Schl., Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Be¬
richt für 1916. Dir.: Dr. Linke. (S. 10*.)
20. Lewenberg, Kinderheim zu Schwerin. Großherzogi. Heil- und
Pflegeanstalt für geistesschwache Kinder. Bericht für
1916/17. Dir.: Dr. Rust. (S. 14*.) /
21. Lindenhaus bei Lemgo, Fürstl. Lippische Heil- und Pflege¬
anstalt. Bericht für 1916. Dir.: Med.-Rat Dr. W. Alter.
(S. 16*.)
22. Luzern, Hilfsverein für arme Irren des Kantons. Bericht
für 1916. (S. 25*.)
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S n c 11, Anstaltswesen und Statistik.
23. Mariaberg, Kgl. Württemberg. O.-A. Reutlingen, Heil- und
Pflegeanstalt für Schwachsinnige. Bericht für 1916/17.
Anstaltsarzt: Med.-Rat Dr. Burkarth. (S. 20*.)
24. Münsterlingen, Thurgauische Irrenanstalt. Bericht für 1916.
Dir.: Dr. H. Wille. (S. 23*.)
25. Neustadt in Holstein, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1916/17. Dir.: San.-Rat Dr. Dabeistein.
(S. 10*.)
26. Niedernhart in Linz, Oberösterreichische Landes-Irrenanstalt. x
Bericht für 1915/16. Dir.: San.-Rat Dr. Schnopfhagen.
(S. 20*.)
27. Rheinprovinz, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten. Bericht
für 1916/17. Düsseldorf: Der Landeshauptmann der
Rheinprovinz. (S. 13*.)
28. Rockwinkel bei Bremen, Sanatorium für Nerven- und Gemüts¬
kranke. Bericht für 1916. Dir.: Dr. Walter Benning.
(S. 15*.)
29. Roda, Genesungshaus und Martinshaus. Berichte für 1916.
Dir.: Med.-Rat Dr. Schäfer. (S. 15* u. 16*.)
30. Schleswig (Stadfeld), Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt
Bericht für 1916/17. Dir.: Prof. Dr. Kirchhoff.
(S. 10*.)
31. Schleswig (Hesterberg), Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt
für Geistesschwache. Bericht für 1916/17. Dir.: Dr.
Zappe. (S. 11*.)
32. „Steinmühle ,t Obererlenbach, Arbeitslehr-Kolonie und Beob¬
achtungsanstalt. Bericht für 1916/17. (S. 12*.)
33. St. Getreu zu Bamberg, Städtische Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1914, 1915 u. 1916. Dir.: Dr. A. Bott .
(S. 19*.)
34. St. Pirminsberg, Heil- und Pflegeanstalt b. St. Gallen.
Bericht für 1916. Dir.: Dr. Haeberlin. (S. 23*.)
35. Stephansfeld, Bezirksheilanstalt. Berichte für 1915/16 und
1916/17. Dir.: San.-Rat Dr. Ransohoff. (S. 17*.)
36. Strecknitz-Lübeck, Anstalt des Lübischen Staates für Ner¬
vöse und Geisteskranke. Dir.: Dr. Wattenberg. (S. 15*.)
37. Tannenhof bei Lüttringhausen (Rheinland), Evangelische
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8* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Heil- und Pflegeanstalt für Gemüts- und Geisteskranke.
Bericht für 1916/17. Leit. Arzt: Dr. Beelitz . (S. 14*.)
38. Valeriusplein te Amsterdam, Geneeskundig Verslag van de
Psychiatrische en Neurologische Kliniek over het Jaar
1916. Dir.: Dr. Bouman. (S. 24*.)
39. Waldhaus (Chur), Kantonale Irren- und Krankenanstalt.
Bericht für 1916. Dir.: Dr. Jörger. (S. 21*.)
40. Wehnen , Großherzogi. Oldenburgische Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1916. Dir.: Ober-Med.-Rat Dr. Brümmer.
(S. 16*.)
41. Weilmünster , Landes-Heil- und Pflege-Anstalt. Bericht für
1916/17. Dir.: San.-Rat Dr. Lantzius-Benniga. (S. 11*.)
42. Wernigerode-Hasserode, „Zum guten Hirten “, Erziehungs¬
anstalt für schwach- und blödsinnige Mädchen. Bericht
für 1916/17. (S. 16*.)
43. Westfalen, Allgemeiner Bericht über die westfälischen An¬
stalten für Geisteskranke. Geschäftsjahr 1916. (S. 11*.)
44. Wil, St. Gallen, Kantonales Asyl. Bericht für 1916. Dir.:
Dr. Schiller. (S. 22*.)
45. Zürich, Schweizerische Anstalt für Epileptische. Bericht für
1916. Ärztl. Dir.: Dr. Ulrich. (S. 22*.)
' Die Städtische Irrenpflege zu Berlin (4) hatte im Etatsjahre 1916zu
verzeichnen einen Gesamtanfangsbestand von 7961 (3973 m. 3988 w.) Pat., Gesamt¬
schlußbestand 7211 (3430 m. 3781 w.), bei einer um 185 P. geringeren Durchschnitts¬
zahl als im Vorjahre.
Im einzelnen ist dem Berichte zu entnehmen für:
Dalldorf: Anfangsbestand 2628 (1242 m. 1386 w.). Zugang 754 (380 m.
374 w.). Abgang 978 (494 m. 484 w.). Bleibt Bestand 2404 (1128 m. 1276 w.),
davon in der Hauptanstalt 1161 (620 m. 541 w.), Heil- und Erziehungsanstalt 186
(129 m. 57 w.), Privatanstalten 761 (230 m. 531 w.), Familienpflege 2% (149 m.
-147 w.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 362 (107 m. 255 w.), para¬
lytischer 165 (115 m. 50 w.), Seelenstörung mit Epilepsie 16 (9 m. 7 w.) und mit
Hysterie 12 (3 m. 9 w.), Idiotie, Imbezillität 156 (79 m. 77 w.), chronischem Al¬
koholismus 33 M., Morphinismus 2 M.; zur Beobachtung 38 (32 m. 6 w.), davon
12 Heeresangehörige. Mit dem Strafgesetz in Konflikt 37 m. 9 w. Unter den Neu¬
aufnahmen gewohnheitsmäßig dem Alkohol ergeben 33, gegen 62 i. J. 1915 und 144
i.J. 1914. Entlassen geheilt, gebessert 284 (157 m. 127 w., ungeheilt 155 (70 m.
85 w.), davon an Straf- und Besserungsanstalten abgegeben 5 m. 1 w., zur Unter¬
suchungshaft zurück 16 m. 3 w.; aus der Beobachtung entlassen insgesamt 35 (3t m.
4 w.). Gestorben 504 (236 m. 268 w.), davon an Altersschwäche 15 (4 m II w.).
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9*
Erschöpfung 185 (96 m. 89 w.), Schwindsucht 52 (25 m. 27 w.). Todesfälle 1915 =
547 (185 m. 162 Fr.).
Herzberge: Anfangsbestand 1661 (837m.824w.). Zugang991 (628m.363w.)
Abgang 1192 (779 m. 413 w.). Bleikt Bestand 1460 (686 m. 774 w.) t davon in Privat¬
anstalten 266 (39 m. 227 w.), Familienpflege 114 (70 m. 44 w.). Vom Zugang litten
an einfacher Seelenstörung 570 (296 m. 274 w.), paralytischer 156 (98 m. 58 w.) f
Seelenstörung mit Epilepsie 48 (32 m. 16 w.), und Hysterie 12 (7 m. 5 w.), Idiotie,
Imbezillität 51 (46 m. 5 m.), chron. Alkoholismus 120 M. 1 Fr.; zur Beobachtung 33
(29 m. 4 w.), davon 23 Heeresangehörige. Mit dem Strafgesetz im Konflikt 340
(307 m. 33 w.) t gewohnheitsmäßiger Alkohol mißbrauch bei 232 M. Entlassen
geheilt, gebessert 650 (572 m. 78 w.) # ungeheilt 142 (39 m. 103 w.), davon an Straf-
und Besserungsanstalten abgegeben 27 (22 m. 5 w.). Gestorben 364 (139 m. 225 w.),
davon infolge Altersschwäche 58 (10 m. 48 w.), Erschöpfung 53 (20 m. 33 w.), Herz¬
schwäche 124 (86 m. 38 w.).
Buch: Anfangsbestand 2274 (1108 m. 1166 w.). Zugang 724 (432 m. 292 w.).
Abgang 946 (609 m. 337 w.). Bleibt Bestand 2052 (931 m. 1121 w.), davon in Privat¬
anstalten 681 (355 m. 326 w.) f Familienpflege 244 (133 m. 111 w.). Vom Zugang
litten an einfacher Seelenstörung 367 (157 m. 210 w.), paralytischer 105 (73 m
32 w.), Seelenstörung mit Epilepsie 14 (12 m. 2 w.), und Hysterie 8 (2 m. 6 w.) f
Idiotie, Imbezillität 103 (64 m. 39 w.), chronischen Alkoholismus 122 (120 m.
2 w.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt 235 (219 m. 16 w.), gewohnheitsmäßiger
Alkoholmißbrauch bei 122 (120 m. 2 w.). Geheilt, gebessert entlassen 355 (235 m.
120 w.), ungeheilt 92 (50 m. 42 w.), an Straf- und Besserungsanstalten abgegeben
4 M., zur Untersuchungshaft zurück 5 M.; nach Beobachtung entlassen 6 (5 m.
1 w.). Gestorben 475 (311 m. 164 w.), davon infolge Altersschwäche 25 (13 m.
12 w.) # Erschöpfung 13 (10 m. 3 w.), Herzschwäche 344 (226 m. 118 w.).
Wuhlgarten: Anfangsbestand 1398 (786 m. 612 w.). Zugang 469 (339 m.
130 w.). Abgang 572 (440 m. 132 w.). Bleibt Bestand 1295 (685 m. 610 w.), davon in
Privatanstalten 9 Fr., Familienpflege I M. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstö¬
rung 3 M., paralytischer 7 (4 m. 3 w.), Seelenstörung mit Epilepsie 402 (285 m. 117 w.)
und Hysterie 31 (26 m. 5 w.). Idiotie, Imbezillität 9 (4 m. 5 w.), chron. Alkohol ismus
17 M. Bestraft waren von 339 aufgenommenen Männern 218 = 697 S v. H., davon
mit Arbeitshaus 15= 6 g / 9 %, Haft I7V*%, Gefängnis 145 = 667«%» Zuchthaus
20 = 9 3 /,%. Unter den 285 aufgenommenen an Epilepsie leidenden M. = 177
Trthker, an 23 Hysterie leidenden = 7, an Hystero-Epilepsie leidenden = 2 Tr.,
insgesamt 186 Trinker. Unter den 117 epileptischen Frauen = 2 Trinkerinnen.
Erbliche Belastung der an Epilepsie, Hysterie und Hysteroepilepsie leidenden,
hauptsächlich Abstammung von trunksüchtigen Eltern, bei 155 M. = 51*4%,
40 Fr. = 25 3 / 4 % f 5 Kn. I9 l 4%, 4 Md. = 30V 4 %. Erbliche Belastung durch
Trunksucht eines oder beider Erzeuger bei 64 M. = 21%%. 9 Fr. = 8%, 1 Md. =
7 ,/ *%, anßerdem Familienanlage bei 95 M. = 31 4 /?%, 18 Fr. = 16%, l Md. =
7V 0 . Entlassen geheilt, gebessert 361 (274 M. 87 Fr.). Gestorben 211 (166 m.
45 w.), davon infolge Altersschwäche 3 (I m 2 w.), Erschöpfung 42 (38 m. 4 w.),
im epileptischen Anfall 19 (15 m. 4 w.), Zustand 7 (3 m. 4 w.), Lungenentzündung 64
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
(46 m. 18 w., Lungentuberkulose 20 (17 m. 3 w.). — Gesamtmortalität der An¬
stalten 14,26% der Verpfl. — Gesamtausgabe für sämtliche Anstalten: 8638098,49
M., davon Kriegsausgaben: 331 407,80 M.
Breslau (6): Anfangsbestand 151 (68 m. 83w.). Zugang 532 (256 m. 276 w.).
Abgang 587 (287 m. 300 w.). Bleibt Bestand 96 (37 m. 59 w.), hiervon in Familien¬
pflege 14 P. Poliklinik seit Kriegsausbruch geschlossen. Vom Zugang litten an einfach
erworbenen Psychosen 202 (98 m. 104 w.), konstitutionellen Psychosen 167 (127 m.
40 w.), epileptisch-hysterischen Formen 124 (87 m. 37 w.), alkoholischen u. a. toxi¬
schen Psychosen 92 (67 m. 25 m.), an Delir, pot. wurden überhaupt behandelt 58,
an paralytischen, senilen und sonstigen organischen Geisteskrankheiten litten vom
Zugang 177 (104 m. 73 w.). Entlassen geheilt sind 63= 10,7% des Abgangs,
gebessert 191 = 32,05%, ungeheilt 208 = 35,4%, davon nach andern Anstalten
überwiesen 120; gestorben sind 110= 18,8%. — Gesamtausgabe: 294 420,06 M.
Kreuzburg, 0.-Schles. (19): Anfangsbestand 618 (344 M. 274 Fr.). Zugang
108 (56 M. 52 Fr.). Abgang 185 (105 M. 80 Fr.). Bleibt Bestand 541 (295 M.
246 Fr.), davon in Familienpflege 24 (6 M. 18 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 76 (32 M. 44 Fr.), paralytischer 12 (10 M. 2 Fr.), Epilepsie mit Seelen¬
störung 9 (5 M. 4 Fr.), Idiotie, Imbezillität 6 (5 M. 1 Fr.); zur Beobachtung 4 M.
Mit dem Strafgesetz in Konflikt II M. 2 Fr.; erbliche Belastung nachweisbar bei
19 M. 17 Fr.; Trunksucht Krankheitsursache bei 2 M., Syphilis 8 M. 3 Fr. Krank¬
heitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 13 (5 M. 8 Fr.) 3—6 Monate 24 (II M.
13 Fr.). I Jahr 14 (8 M. 6 Fr.), 2-5 Jahre 15 (8 M. 7 Fr.), mehr als 5 Jahre 17 (9M
8 Fr.), seit Kindheit 7 (5 M. 2 Fr.). Entlassen aus der Beobachtung 3 P., geheilt
17 (10 M. 7 Fr.), gebessert II (5 M. 6 Fr.), imgeheilt 75 (43 M. 32 Fr.), davon
nach andern Anstalten 58 (33 M. 25 Fr.). Gestorben 79 (43 M. 36 Fr.) = 14,02%
der Verpfl. (im Vorj. 7,9%). davon an Tuberkulose 18, Gehirnerweichung 12, Epi¬
lepsie 9, Altersschwäche 11, Erschöpfung, Entkräftung 9. Reservelazarett 80 Betten.
Neustadt i. Holstein (25): Anfangsbestand 1033 (582 M. 451 -Fr.). Zugang
236 (149 M. 87 Fr.). Abgang 358 (245 M. 113 Fr.). Bleibt Bestand 911 (486 M.
425 Fr.), hiervon in Familienpflege 55 (13 M. 42 Fr.). Von den Aufgenommenen
litten an einfacher Seelenstörung 118 (75 M. 43 Fr.), paralytischer Seelenstörung 33
(25 M. 8 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 50 (25 M. 25 Fr.), Epilepsie mit
und ohne Seeienstörung 17 (13 M. 4 Fr.), Hysterie 6 Fr., Neurasthenie 1 Fr., Al¬
koholismus 7 M. Zur Beobachtung aufgenommen 4 (3 M. I Fr.). Von den Auf¬
genommenen waren Vorbestrafte 18 M. = 12%, Unruhige M. 4%, Fr. 3,4%,
Unreine 2,8 u. 3,4%, Erblichkeit vorliegend bei 10 u. 10,4%, Potus 18 M. = 12%,
1 Fr. Im festen Haus verpflegt 36 Kr., davon 1 M. als nicht geisteskrank begut¬
achtet, 5 M. zur Feststellung der Strafvollzugsfähigkeit, davon 3 nicht strafvollzugs¬
fähig. Entlassen geheilt 7 (4 M. 3 Fr.), gebessert 49 (27 M. 22 Fr.), ungeheilt 34
(22 M. 12 Fr.), davon nach andern Anstalten 14 (9 M. 5 Fr.). Gestorben 267
(191 M. 76 Fr.), davon an Lungenschwindsucht 5, Lungen- und Darmtuberkulose 3
Gehirnerweichung 29, Herzmuskelentartung 59, Erschöpfung 45, Altersschwäche 20,
Darmkatarrh 46. — Gesamtausgaben: 848 737,46 M.
Schleswig, Stadtfeld (30): Anfangsbestand 1236 (603 M. 633 Fr.). Zugang
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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik.
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523 (305 M. 218 Fr.). Abgang 690 (403 M. 287 Fr.). Bleibt Bestand 1069 (505 M.
564 Fr.). Von den Aufgenommenen litten an einfacher Seelenstörung 382 (205 M.
177 Fr.), paralytischer Seelenstörung 43 (39 M. 4 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie
24 (13 M. 11 Fr.), Imbezillität, Idiotie 71 (46 M. 25 Fr.), Delir, potat. 1 M., nicht
geisteskrank 1 M. I Fr. Unter den Krankheitsursachen Familienanlage bei 147
(55 M. 92 Fr.), deprim. Gemütsaffekte (Krieg) 77 (55 M. 22 Fr.), Alkoholismus 19
(18 M. 1 Fr.), Lues 40 (37 M. 3 Fr.). Zur Beobachtung von Zivilbehörden einge¬
wiesen 4 M. 4 Fr. Aus der Kieler Klinik aufgenommen 46 M. 18 Fr., aus den Privat¬
anstalten 22 M. 25 Fr., an diese wieder abgegeben 27 M. 29 Fr. Entlassen gebeilt
72 (36 M. 36 Fr.), gebessert 149 (77 M. 72 Fr.). Gestorben 278 (161 M. 117 Fr.),
davon infolge tuberkulöser Erkrankung 47, Paralyse 31, Darmkatarrh, Herzschwäche,
allgemeine Erschöpfung 104, Altersschwäche 23. Unter den Aufnahmen 119 Militär¬
personen, davon 13 Kriegsgefangene. — Gesamtausgaben 1 173 099,07 M.
Schleswig, Hesterberg (31): Anfangsbestand 441 (252 M. 189 w.). Zugang
66 (48 m. 18 w.). Abgang 116 (74 m. 42 w.). Bleibt Bestand 391 (226 m. 165 w.).
davon in Familienpflege 5 männi. Zöglinge. Vom Zugang litten an Idiotie 34 (24 m.
10 w.), Schwachsinn 28 (21 m. 7 w.), Epilepsie 2 (1 m. 1 w.), Kretinismus 2 m.
Entlassen gebessert 9 (6 m. 3 w.), nicht gebessert 61 (36 m. 25 w.). Gestorben 46-
(32 m. 14 m.). Schulbesuch am Ende des Berichtsjahres 55 Kn., 43 Md. — Gesamt¬
ausgaben 337 695,27 M.
Heilanstalten der Provinz Westfalen (43): Gesamtanfangsbestand 5651 Kr.
Zugang 1850. Abgang 2205. Bleibt Bestand 5296, weniger gegen das Vorjahr
um 355. Gestorben 889 = 11,85% (mehr gegen das Vorjahr 4,9%) der Verpflegten.
Krankenbewegung in den einzelnen Anstalten:
| Anfangs- !
j bestand !
Zugang
Abgang j
1 Bleibt
Bestand
in Familien
pflege
Entlassen
*» heüt bessert
[ Gestorben:
i 0 o der
Anzahl | verpfl.
Marsberg
; 624
119
152
591
i. Vorj.
; 14(16)
! 22
27
80
10,77
Lengerich
1 882
217
284
815 ]
[ 196 (196)
1 27
88
106
9,83
Münster
676
539
553
662
22(19)
1 50
213
71
5,84
Aplerbeck
724
282
357
649
! 19(20)
46
77
128
12,72
Warstein
1447
3%
373
1470
109(105)
70
75
194
10,53
Eickelborn
! 1298
297
486
1109
! 100(91)
36
73
308
19,31
Unterhaltungskosten p. a. und pro Kopf eines Kranken (ohne die Ausgaben
für Verzinsung, Tilgung, landwirtschaftliche und Werkstättenbetriebe usw.) in
Marsberg 638,68 M. (i. Vorj. 625,32 M.), Lengerich 605,45 M. (580,08 M.), Münster
670,80 M. (684,34 M.), Aplerbeck 840,06 M. (656,26 M.). Warstein 588, 33 M.
(551,50 M.). Eickelborn 485„54 M. (456,79 M.).
Weilmünster (41): Anfangsbestand 879 (430 M. 449 Fr.). Zugang 132
(67 M. 65 Fr.). Abgang 281 (170 M. 111 Fr.). Bleibt Bestand 730 (327 M. 403 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 87 (38 M. 49 Fr.), paralytischer-
Seelenstörung 7 (5 M. 2 Fr.), Epilepsie 13 (8 M. 5 Fr.), Hysterie I M. 1 Fr., Im¬
bezillität, Idiotie 17 (9 M. 8 Fr.), Alkoholismus 4 M.; nicht geisteskrank 2 M. (be-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
obachtet). Krankheitsdauer vor der Aufnahme unter 3 Monaten 39 (20 M. 19 Fr.)
von 3—6 Monaten 17 (8 M. 9 Fr.), über 6 Monate 74 (37 M. 37 Fr.). Erblich
belastet 69 (29 M. 40 Fr.), durch Trunksucht der Eltern 2! (13 M. 8 Fr.). Alkohol -
mißbrauch bei II M. Mit dem Strafgesetz Konflikte 21 (19 M. 2 Fr.). Entlassen
109 (73 M. 36 Fr.), davon geheilt 16 (10 M. 6 Fr.), gebessert 54 (32 M. 22 Fr.)
ungeheilt 38 (30 M. 8 Fr.); nicht geisteskrank 1 M. Gestorben 172 (97 M. 75 Fr.)
davon infolge Tuberkulose 65 (34 M. 31 Fr.), Altersschwäche 26, Kräfteverfall 19.
Herborn (14): Anfangsbestand 538 (248 M. 290 Fr.). Zugang 145 (73 M
72 Fr.). Abgang 255 (137 M. 118 Fr.). Bleibt Bestand 683 (321 M. 362 Fr.). Vom
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 79 (30 M. 49 Fr.), paralytischer Seelen¬
störung II (6 M. 5 Fr.), Imbezillität, Idiotie 16 (10 M. 6 Fr.),'Seelenstörung mit
Epilepsie 12 (9 M. 3 Fr.), Hysterie 8 (2 M. 6 Fr.), Alkoholismus 18 (15 M. 3 Fr.);
nicht geisteskrank (zur Beobachtung) I M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme
bis 3 Monate 15 (6 M. 9 Fr.), 3—6 Monate 23 (11 M. 12 Fr., mehr als 6 Monate 95
(50 M. 45 Fr.), Dauer unbekannt bei 11 (5 M. 6 Fr.). Erbliche Belastung durch
Nerven- oder Geisteskrankheiten in der Familie 45 (24 M. 21 4*Y.), Alkoholismus
der Eltern 15 (9 M. 6 Fr.), früherer Alkoholismus zugegeben bei 18 (15 M. 3 Fr.)
Unter den Ursachen für Ausbruch der Geistesstörung an erster Stelle wiederum
erbliche Belastung, dann Greisenalter (Zuführung zahlreicher seniler Erkrankungen
aus der Frankfurter Anstalt), psychische,, mit dem Kriege zusammenhängende Ur¬
sachen, Alkoholisten erheblich zurückgegangen (Zeitumstände). Mit dem Straf¬
gesetz Konflikte 31 M. = fast die Hälfte der Aufgenommenen, 5 Fr. Entlassen
genesen 3 Fr., gebessert 36 (21 M. 15 Fr.), ungebessert 43 (30 M. 13 Fr.). Gestorben
173 (86 M. 87 Fr.), davon infolge Altersschwäche 16, Erschöpfung 73, Paralyse 51.
Tuberkulose 6.
Eichberg (10): Anfangsbestand 696 (353 M. 343 Fr.). Zugang 133 (87 M.
46 Fr.). Abgang 243 (157 M. 86 Fr.). Bleibt Bestand 586 (283 M. 303 Fr.), davon
in Familienpflege 57 (26 M. 37 Fr.), verpflegte Militärpersonen 22. Vom Zugang
litten an einfacher Seelenstörung 86 (49 M. 37 Fr.), paralytischer Seelenstörung 11
(10 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie 9 (7 M. 2 Fr.), Epilepsie 7 (3 M. 4 Fr.), Hysterie
1 Fr., Alkoholismus ‘9 M., psychopath. Konstitution, postapopl. Demenz je 2 M
Morphinismus I Fr.; nicht geisteskrank 5 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme
bis zu 3 Monaten 26 (12 M. 14 Fr.), 3—6 Monate 17 (13 M. 4 Fr.), mehr als 6 Monate
77 (52 M. 25 Fr.), Dauer unbekannt bei 8 (5 M. 3 Fr.). Erbliche Belastung durch
Nerven- und Geisteskrankheiten in der Familie bei 46 (27 M. 19Fr ), Alkoholismus
der Eltern 10 (8 M. 2 Fr.); Alkoholmißbrauch bei 9 M. Mit dem Strafgesetz Kon¬
flikte 32 (28 M. 4 Fr.). Beobachtungen auf Grund Gerichtsbeschlusses 5, davon
unter § 51 StGB, gestellt 3. Entlassen genesen 3 Fr., gebessert 50 (27 M. 23 pr.),
ungebessert 50 (35 M. 15 Fr.), nicht geisteskrank 5 M. Gestorben 135 (90 M.
86 Fr.), davon infolge Paralyse 5 (4 M. 1 Fr.), Tuberkulose 22 (10 M. 12 Fr.), Lungen¬
entzündung 27 (19 M. 8 Fr.), Marasmus, Altersschwäche 42.
r„Steinmühle“-Obererlenbach (32): Anfangsbestand36 Zögl.(i.Vorj.26)
Zugang 58 (39). Abgang 55 (29). Bleibt Bestand 39. Unter den Aufnahmen 76
im Alter von 12—16 J. Zweck der Anstalt: Beobachtung und Arbeitserziehung
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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik.
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Von 286 seit 1908 in der Anstalt verpflegten Zöglingen zum Heeresdienst eingezogen
und bewährt ca. 45. — Gesamtausgaben 87 150.11 M.
Rheinprovinz (27): Gesamtanfangsbestand 7567 Kr. Zugang 4252. Ab¬
gang 5138. Bleibt Gesamtbestand 6681.
In den einzelnen Anstalten:
Andernach: Anfangsbestand 623 (346 M. 277 Fr.). Zugang 384 (246 M.
138 Fr.). Abgang 549 (368 M. 181 Fr.). Bleibt Bestand 458 (244 M. 234 Fr.
Bedburg-Hau Anfangsbestand 1786(953 M. 833 Fr.). Zugang 369 (198 M.
171 Fr.). Abgang 599 (357 M. 242 Fr.). Bleibt Bestand 1556 (794 M. 762 Fr.).
Bonn: Anfangsbestand 987 (519 M. 468 Fr.). Zugang 878 (511 M. 367 Fr.)
Abgang 972 (594 M. 378 Fr.). Bleibt Bestand 893 (436 M. 457 Fr.).
Düren: Anfangsbestand 708 (353 M. 355 Fr.). Zugang 189 (100 M. 89 Fr.).
Abgang 253 (103 M. 150 Fr.). Bleibt Bestand 644 (350 M. 294 Fr.).
Galkhausen: Anfangsbestand 849 (425 M. 424 Fr.). Zugang 637 (350 M
287 Fr.). Abgang 683 (381 M. 302 Fr.). Bleibt Bestand 803 (394 M. 409 Fr.).
Grafenberg: Anfangs bestand 887 (499 M. 388 Fr.). Zugang 979 (678 M
301 Fr.). Abgang 1015 (710 M. 305 Fr.). Bleibt Bestand 851 (467 M. 384 Fr.).
Johannistal: Anfangsbestand 906 (484 M. 422 Fr.). Zugang 364 (173 M.
191‘Fr.). Abgang 487 (256 M. 231 Fr.). Bleibt Bestand 783 (401 M. 382 Fr.).
Merzig: Anfangsbestand 765 (402 M. 363 Fr.). Zugang 445 (289 M. 156 Fr.)
Abgang 570 (393 M. 177 Fr.). Bleibt Bestand 640 (298 M. 342 Fr.).
Brauweiler: Anfangsbestand56 M. Zugang7. Abgang 10. BleibtBestand53.
Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 2939 (1640 M. 1299 Fr.),
paralytischer Seelenstörung 461 (347 M. 114 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 435
(283 M. 152 Fr.), Epilepsie 72 (37 M. 35 Fr.), davon waren in Johannistal unterge-
gebracht 59 (27 M. 32 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 199 (120 M. 79 Fr.),
Delirium potat. 40 (38 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank waren 106 (87 M. 19 Fr.)
Vererbte Anlage bei 407 M. 498 Fr. = 21,2% der Aufgenommenen (im Vorj.
17,9%); Mißbrauch geistiger Getränke in 309 Fällen (200 M. 109 Fr.) = 7,2%
des Zugangs (im Vorj. 7,1%). Mit dem Strafgesetz in Konflikt gewesen 340 (291 M.
41 Fr.) = 8% des Zugangs (im Vorj. 6,2%). Unmittelbar aus Strafhaft eingeliefert
124 P. (im Jahre 1908 = 300, 1909 = 247. 1910 = 191,1911 = 166, 1912 223,
1913 = 211, 1914=161, 1915=112). In den'3 Bewahrungshäusern wiederum
fast alle Plätze besetzt, in Bedburg-Hau sogar Oberbelegung: 62 Kr. bei 58 Plätzen.
Von den Verpflegten geheilt oder gebessert entlassen in Andernach 23,4% bei
38,1% Aufnahmen, Bedburg-Hau 7,3% : 17,1%, Bonn 22,6% : 473%. Düren
17,32% :31,6%, Galkhausen 21,2% :42,9%, Grafenberg 20,05% :51,4%, Jo¬
hannistal 15,3% : 29,1%, Merzig 17,7% : 36,7%, Brauweiler 4,5%: 11,1%
Vorstehende Prozentsätze durchweg höher als vor dem Kriege. Prozentsatz der
Aufnahmen gewachsen durch Zuweisung zahlreicher geisteskranker Soldaten, da
bei diesen hauptsächlich akute Störungen, stieg der Prozentsatz an Heilungen und
Besserungen entsprechend der Heilungstendenz; größte Steigerung in Düren und
Andernach: 7 bzw. 10%. Selbstmordfälle mit tätlichem Ausgang 2 (im Vorj. 9).
Entweichungen 118. Nicht geisteskrank 124 Verpflegte. An Tuberkulose litten
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von den in den Anstalten Verpflegten 189 (80 M. 109 Fr.) = 2,5% (1,7% M.
2,7% Fr.) gegen 0,9% (0,5% M. 1,6% Fr.) im Vorj. Höchster Prozentsatz Ander¬
nach mit 57%, geringster = Grafenberg, 0,4% (im Vorjahre Galkhausen mit
0,3%). Von den Tuberkulosen und Tuberkuloseverdächtigen i. g. 223 (98 M.
125 Fr.) starben 144 =1,1% der Verpflegten. Höchste Zahl der Tuberkulosen in
Bedburg-Hau (19,8%) und Merzig (20,2%), niedrigste Grafenberg (1,9%). Ins¬
gesamt starben von II 918 in den 9 Anstalten Verpflegten 1785 = 15,1% (im Vorj.
von 12851 Verpfl. 1156 = 9%, mehr demnach gegen das Vorjahr = 6.1%), davon
starben infolge Paralyse 17% = 6,6% Paralytiker weniger als im Vorjahre. Typhus
in Andernach (2 Todesfälle) und Bonn. Ruhr wiederum epidemisch in Galkhausen
(erkrankt 49 M. ,16 Fr., 7 Pflegefr., 11 M. starben). In den Anstalts- und neueinge¬
richteten Reservelazarettabteilungen wurden aufgenommen 1060 verwundete, 1264
körperlich kranke, 3990 geisteskranke Soldaten einschl. 432 Kriegsgefangener.
Gestorben 62. Am Schluß des Berichtsjahres noch in Verpflegung insgesamt 1605
Mil.-P.— Gesamtausgaben: 7 677474,41 M. Verpflegungs- und Unterhaltungskosten
pro Kopf und Kranken 2,50 M., im Vorj. 1,95 M.
Tannenhof b. Lüttringhausen (37): Anfangsbestand 521 (257 M. 264 Fr.).
Zugang 211 (73 M. 138 Fr.). Abgang 263 (124 M. 139 Fr.). Bleibt Bestand 469
(207 M. 262 Fr.). Entlassen genesen 35 (II M. 24 Fr.), gebessert 45 (19 M. 26 Fr.),
ungeheilt 39 (14 M. 25 Fr.), davon zurückgenommen 28 (11 M. 17 Fr.), überführt
nach anderen Anstalten 9 (2 M. 7 Fr.), entlassen nicht geisteskrank 2. Gestorben 142
(78 M. 64 Fr.) = 19,4% der Verpflegten (in normalen Zeiten 5—7%). Infolge
Paralyse starben 24 (22 M. 2 Fr.), Lungen- und Darmtuberkulose 9 (4 M. 5 Fr.).
Typhus, epidemisch, 20 Erkr. 4 .Todesfälle. — Im Kriegslazarett 80 Neuaufnahmen
zum Bestand von 27, Entlassungen 81, davon dienstfähig 40.
Lewenberg, Schwerin (20): Anfangsbestand 262 (155 m. 107 w.), Zugang
24 (13 m. II w.). Abgang 27 (18 m. 9 w.). Bleibt Bestand 259 (150 M. 109 w.).
Entlassen geheilt 6 (5 m. 1 w.), ungebessert 8 (5 m. 3 w.). Gestorben 27 (18 .9 w.) =
9,44% der Verpflegten (im Vorj. 9,66%), davon an Tuberkulose 4. Tuberkulose¬
verdächtig fast die Hälfte der Kinder (Untersuchung nach V. Pirquet). Schulunter¬
richt 26,92%, Handfertigkeitsunterricht 27,41% der Verpflegten.
Alsterdorfer Anstalten (I). Anfangsbestand 981 (533 m. 448 w,). Zugang
114 (64 m. 50 w.), davon Minderjährige 75 (45 m. 29 w.). Abgang 124 (88 m. 36 w.)
Bleibt Bestand 971 (509 m. 462 w.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie,
Kretinismus 77 (40 m. 37 w.), Epilepsie 36 (23 m. 13 w.), Chorea 1 m. Vom Gesamt¬
bestand behaftet mit Erbsyphilis 18 (12 m. 6 w.), Lungen- und Unterleibsschwind¬
sucht 40 (33 m. 7 w.). Gestorben 69, davon infolge Tuberkulose 27. Durchschnitt¬
liche Sterblichkeit der Schwachsinnigen öM-mal größer als die geistig Normaler.
Ellen (Bremen), St. Jürgen-Asyl (11): Anfangsbestand 582 (292 M. 290 Fr.).
Zugang 490 (311 M. 179 Fr.). Abgang 429 (257 M. 172 Fr.). Bleibt Bestand 643
(346 M. 297 Fr.), davon in Familienpflege 174 (93 M. 81 Fr.). Vom Zugang litten
an Imbezillitas 27 (14 M. 13 Fr.), konstitutionellen Formen 27 (23 M. 4 Fr.), manisch-
depressiven Formen 76 (23 M. 53 Fr.), Schizophrenie und paranoiden Formen 125
(76 M. 49 Fr.), Hysterie 37 (31 M. 6 Fr.), akuten hysterischen Störungen nach Kriegs-
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erlebnissen 7 M., Fuguezuständen (bei Soldaten) 6 M., Fieber- und Inanitiorts-
delirien 4 M., alkohol. Geisteskrankh. 14 (12 M. 2 Fr.), Morphinismus I M. I Fr.,
Epilepsie 37 (25 M. 12 Fr.), davon 3 mit Alkoholismus, senilen und arterioslder.
Formen 51 (23M. 28 Fr.,) apoplekt. Irresein 5(4 M. 1 Fr.), Paralyse 62 (53 M. 9 Fr.),
• Lues cerebri 3 (2 M. I Fr.), multipl. Sklerose 2 M., Basedow, Chorea degen. je I M.;
nicht geisteskrank 3 M. Entlassen aus der Beobachtung 20 = 4,66% der Verpfl.,
geheilt 10,72%, gebessert 33,33%, ungeheilt 24,71%. Gestorben 114 = 26,57%.
Reservelazarett mit 60 Betten.
Rockwinkel b. Bremen (28): Anfangsbestand 36 (18 H. 18 D.). Zugang 77
(23H.54D.). Abgang 75 (25 H. 50 D.). Bleibt Bestand 38 (15 H. 23 D.). Von
den Aufgenommenen litten an manisch-depressivem Irresein 2 H. 8 D., Dementia
praecox 3 D., Melancholie 2 H. 12 D., Paranoia I H. 5 D., Amentia 1 H., Hysterie
I H. 7 D., Neurasthenie 2 H. 8 D., Alkoholismus I H. 2 D., Dementia senilis 3 D.,
Dem. paralytica 4 H., Dementia arteriosclerotica 3 H., Taboparalyse, Lues cerebri
je I H., Apoplexie 1 D., Epilepsie, Chorea I H. 1 D., Degeneratio, Imbezillitas 2 H.
1 D., Diabetes 1 H.; nicht krank 3 D. Entlassen geheilt, gebessert 47. Gestorben
12, in eine andere Anstalt überführt 6 Kr.
Strecknitz-Lübeck (36): Anfangsbestand 332 (170 M. 162 Fr.). Zugang
135 (75 M. 60 Fr.). Abgang 170 (96 M. 74 Fr.). Bleibt Bestand 297 (149 M. 148 Fr.)
Von den Aufgenommenen litten an Psychosen bei gröberer Hirnerkrankung I M.
1 Fr., Psychosen bei körperl. Erkr. 2 M. 4 Fr., Lues cerebri und Tabespsychosen
2 M., progr. Paralyse 13 M. 2 Fr., senile und präsenile Psychosen 2 M. 8 Fr., Hebe-
phrenie 26 M. 26 Fr., epiiept. Psych. 2 M. 3 Fr., Melancholie 4 Fr., man.-depr.
Irresein 1 M. 1 Fr., Hysterie 4 M. 2 Fr., Neurasthenie 2 Fr., Paranoia, paranoide und
querulatorische Pers. I M. 2 Fr., psychopathische Pers. 11 M. I Fr., Debilitas und
Imbezillität 2 M. 2 Fr., Idiotie 1 Fr.; nicht geisteskrank bzw. psychopathisch 3 M.
Erblich belastet von den Neuaufgenommenen 26,26%, vom Bestände 46,38%
Krankheitsursachen der Neuaufgen. erbliche Belastung überhaupt bei 14 M. 22 Fr.,
Trunksucht 10 M. 1 Fr., Syphilis 4 M. 1 Fr., Verletzung 3 M. 1 Fr., nicht nach¬
weisbar bei 44 M. 35 Fr. Entlassen geheilt 18 (8 M. 10 Fr.), gebessert 45 (35 M
10 Fr.), ungeheilt 27 (10 M. 17 Fr.), nicht geisteskrank 6 M. Gestorben 74 (37 M
37 Fr.), davon infolge Paralyse 9 M. 2 Fr. — Gesamtausgaben: 405 041,69 M.
Roda, Genesungshaus (29): A. Abt. f. Geisteskranke: Anfangsbestand 439
(231 m. 208 w.). Zugang 189 (93 m. 96 w.). Abgang 262 (152 m. 110 w.). Bleibt
Bestand 366 (172 m. 194 w.), davon in Familienpflege 35. Vom Zugang litten an
einfacher Seelenstörung 129 (52 m. 77 w.), paralytischer Seelenstörung 23 (18 m.
5 w.), Imbezillität, Iditoie, Kretinismus 16 (II M. 5 w.), Epilepsie 14 (8 m. 6 w.),
Hysterie 2 m. 2 w., andern Krankheiten des Nervensystems 2 m., Alkoholismus I w.
Erblichkeit nachgewiesen bei 101 (48 m. 53 w.). Alkoholmißbrauch 28(24 m. 4 w.).
Als Ursachen der Erkrankung erbliche oder familiäre Disposition bei 14 (9 m. 5 w.),
angeborene 13 (10 m. 3 w.), psychische 40 (14 m. 26 w.). Entlassen 106 (55 m. 59 w.).
Gestorben 156 (97 m. 59 w.), davon infolge Paralyse 6 (4 m. 2 w.), Tuberkulose 47
(33 m. 14 w.), Lungen- und Brustfellentzündung 34 (21 m. 13 w.), Darmkatarrhen
28 (8 m. 20 w.). B. Abt. f. körperl. Kranke: Verpflegt 223 Kr., davon geheilt ent¬
lassen 59,19%, verstorben 4,48%.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Roda, Martinshaus (29): Anfangsbestand88 (47 m.41 w.). Zugang23 (15 m
8 w.). Abgang 10 (6 m. 4 w.). Bleibt Bestand 101 (56 m. 45 w.). Von den Verpflegten
litten an Epilepsie 21 (15 Kn. 6 Md.), Chorea 2 Kn., Lähmungen der Hirn nerven 14
(8 Kn. 6 Md.), der Gliedmaßen 9 (3 Kn. 6 Md.), beider 1 Md., Epilepsie und Lähmun¬
gen 4 (3 Kn. I Md.). Erbliche bzw. familiäre Disposition zu Nerven- und Geistes¬
krankheiten bei 51 (32 m. 19 w.), Alkoholismus 24 (13 Kn. II Md.), Syphilis 1 Kn.
2 Md., Tuberkulose 6 (5 Kn. 1 Md.). Schulbesuch von 78 (47 Kn. 31 Md.), Ge¬
storben 4, davon infolge Tuberkulose 3.
Lindenhaus-Lemgo (21): Anfangsbestand 392 (193 M. 199 Fr.). Zugang
142 (101 M. 41 Fr.). Abgang 193 (106 M.87 Fr.). Bleibt Bestand 341 (188 M. 153
Fr.). Von den Verpflegten litten an einfacher Seeeinstörung 221 M. 200 Fr., Seelen¬
störung nach Syphilis 14 M., Imbezillität, Idiotie 20 M. 24 Fr., Epilepsie 14 M.
11. Fr, Alkoholismus 15 M. 1 Fr., Hysterie 4 M. 2 Fr., Neurasthenie 3 M. 1 Fr., Ge-
himkrankheit 1 M.; nicht geisteskrank 2M. I Fr. Durch Erblichkeit zu Geisteskrank¬
heiten und Nervenleiden veranlagt38,4%,Trunksucht 17%,Syphilis 2,6%, Tuber¬
kulose 6,1 %. Vorbestraft44 M.24 Fr. = 12,7%, aus Fürsorgeerziehung 14 M.6 Fr. =
3,8%, als Trinker bekannt 75 M. 17 Fr. = 17,2%, tuberkulös 19,2%. Zur Beob¬
achtung 2 M. u. 11 Militärpersonen. Entlassen erwerbsfähig 33, gebessert 63, unge-
heilt 44, entwichen 7. Gestorben 46 = 8,6% der Verpflegten, davon infolge Lungen¬
schwindsucht 6, allg. Tuberkulose 1, Selbstmord 1. — Gesamtausgaben der Haupt-
anstatt 342 326 M.
„Zum guten Hirten“ Wernigerode-Hasserode (42): Eingetreten 9 Pfl.
verstorben 2, Gesamtzahl der Pflegl. 50. Von 43 am Jahresschluß anwesenden Zögl.
beschäftigt 12 Md., Schulbesuch 8, nichtbeschäftigungsfähig 23. — Gesamtausgabe:
22224,93 M.
Wehnen (40): Anfangsbestand-351 (190 m. 161 w.). Zugang 120 (62 m. 58 w.).
Abgang 148 (80 m. 68 w.). Bleibt Bestand 323 (172 m. 151 w.). Vom Zugang litten
an angeborenem Schwachsinn 3 (2 m. I w.), psychopath. Minderwertigkeit 8 (3 m.
5 w.), Dementia paralytica 17 (14 m. 3 w.), epilept. Irresein 4 (3 m. 1 w.), Hirn¬
erkrankung 5 (2 m. 3 w.), senilem Irresein 6 (I m. 5 w.), man.-depr. Irresein 29
(11 wm. 18 .), Schizophrenie 37 (18 m. 19 w.), Alkoholismus 5 M., erworbener
Nervenschwäche, psychogenem, thyreogenem Irresein je I P., syphilitischem, in¬
fektiösem Irresein 2 m. 1 w. Zur Beobachtung I m., imbezill, begutachtet 4 P.
Entlassen geheilt 32 (19 m. 13 w.), gebessert 31 (16 m. 15 w.), ungeheilt 23 (12 m.
II w.). Gestorben 61 (32 m. 29 w.), davon infolge Lungentuberkulose 11, Para¬
lyse II. Sterblichkeit: 12,9% der Verpflegten. Militärpersonen in der Anstalt:
Anfangsbestand 7. Zugang 12. Entlassen 12. — Gesamtausgaben: 421 022,83 M.
Bergmannswohl (3).: Anfangsbestand 20 (II Beobachtungs-, 9 Behand¬
lungsfälle). Aufnahmen 800 (662 u. 138). Entlassungen 801 (664 u. 137). Bleibt
Bestand 19 (9 u. 10). Zahl der Verpflegungstage auf einen Kr. durchschnittl. 11,7
(10,05 im Vorj.), bzw. auf einen abgeschlossenen Beobachtungsfall 5,82 (631 im
Vorj.), Behandlungsfall 39,21 (4332 im. Vorj). Unter den Diagnosen Nervens-
schwäche mit 132, Kommotionsneurose 161, Starkstromverletzung 6, Dementia
traumatica 7, Hysterie 88, Melancholie 3, Hypochondrie 6, Debilitas 14, Epilepsie 19,
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UMIVERS1TY OF MICHIGAN
9*nell, Anstallswesen und Statistik.
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Dement, paralytica 6, Lues cerebrospin. 4, Tabes 7, multiple Skleroae II, Syringo¬
myelie 8, progressive Muskelatrophie 3, Einzelfälle von Seelenstörung, man.-depr.
Irresein, Imbezillität, Idiotie, Dementia praecox, Poriomanie, Alkoholismus (I)
usw., 1 Rentenkampfneurose, Querulanten 2. Außer den Beobachtungs- und Be¬
handlungsfällen erstattete Gutachten 108. — Bergmannswohl als Vereinslazarett:
Übernommen aus dem Vorjahre 109 Militärkranke. Neuaufnahmen 382 (376 im
Vorj.). Entlassungen 401 (368 im Vorj.), meist zu den Ersatztruppenteilen.
Stephansfeld (35): Anfangsbestand 1915 = 1000 (436 M. 564 Fr.). Zugang
365 (228 M. 137 Fr.). Abgang 344 (211 M. 133 Fr ). Bleibt Bestand für 1916 =
1021 (453 M. 568 Fr.). Zugang 329 (159 M. 170 Fr.). Abgang 375 (205 M. 170 Fr.)
Bleibt Bestand 975 (407 M. 568 Fr.). Vom Zugang 1915 litten an einfacher Seelen¬
störung 221 (112 M. 109 Fr.), paralytischer Seelenstörung 49 (42 M. 7 J*Y.), sonstigen
organischen Psychosen 13.(8 M. 5 Fr.), Epilepsie, Hysterie 40 (31 M. 9 Fr.), Idiotie,
Imbezillität 26 (20 M. 6 Fr.), Alkoholismus 10 M.; nicht geisteskrank 6 (5 M. 1 Fr.),
davon zur Beobachtung 3 M. 1 Fr. Unter den Aufgenommenen 92 Heeresangehörige,
2 russische Gefangene, 4 Kr. aus den besetzten Gebieten, Zur Beobachtung im
Strafverfahren 7 M. 1 Fr. Entlassen genesen 37 (23 M. 14 Fr.), gebessert 124 (79 M
45 Fr.), ungeheilt 16 (9 M. 7 Fr.), in andere Anstalten überführt 61 (37 M. 24 Fr.),
aus der Beobachtung und nicht geisteskrank 12 (11 M. I Fr.). Gestorben 94 (in den
Vorjahren 84 und 85), davon infolge Tuberkulose 25 (8 M. 17 Fr.), Paralyse 26
(23 M. 3 Fr.). — Im Jahre 1916 befanden sich unter den Aufnahmen 29 Heeres¬
angehörige, 2 russische Kriegsgefangene, 1 M. 2 Fr. aus besetzten Gebieten. Zur
Beobachtung im Strafverfahren eingewiesen 4 M. 2 Fr. Entlassen genesen 53 (25 M.
28 Fr.), gebessert 108 (67 M. 41 Fr.), ungeheilt 111 (53 M. 68 Fr.), davon nach
anderen Anstalten 93, nach Frankreich 10. Gestorben 98 (57 M. 41 Fr.)= 7,3%
der Verpflegten, davon an Tuberkulose 19 (3 M. 16 Fr.), infolge progr. Paralyse 27
(25 M. 2 Fr.). Kruppöse Lungenentzündung epidemisch (22 Todesfälle an Er¬
krankungen der Atmungsorgane). — Gesamtausgabe 1915: 777154,88 M.; 1916:
975463,63 M.
Hördt (16): Anfangsbestand 483 (292 M. 191 Fr.). Zugang 164 (100 M.
64 Fr.). Abgang 176 (109 M. 67 Fr.). Bleibt Bestand 473 (285 M. 188 Fr.), davon
im Verwahrungshaus 41 M. Krankheitsformen der Aufgenommenen: Dementia
praecox bzw. paranoides bei 88 (48 M. 40 Fr.), einfache Melancholie 9 (5 M. 4 Fr.),
manisch-depressives Irresein II (4 M. 7 Ff*), angeborener Schwachsinn 11 (4M.
7 Fr.), Idiotie 5 M., epil. Demenz 16 (14 M. 2 Fr.), traumat. Epilepsie, hyster.Seelen¬
störung je 1 M., chron. Alkohol ismus 8 M., senile Demenz 2 M. 2 Fr., Demenz bei
mult. Sklerose 1 M., Hirnlues 2 Fr., progr. Paralyse I M., Paranoia 2 M., psychop.
Zustände 3 M.; nicht geisteskrank I M. Entlassen 4 M. Gestorben 170 (103 M.
67 Fr.), davon infolge tuberkulöser Erkr. 29 M. 23 Fr., Lungenentzündung 25 M.
9 Fr., Herzschwäche 12 M. 10 Fr., Darmkatarrh 6 M. 2 Fr., 2 Typhusbazillen¬
träger. — Gesamtausgaben 339 904,59 M.
Eglfing(9): Anfangsbestand 1239 (611 M. 628 Fr.). Zugang 433 (192 M.
241 Fr.). Abgang 489 (256 M. 233 Fr.). Bleibt Bestand 1183 (547 M. 636 Fr.).
87,52% der Aufn.aus München, aus der Psych. Klinik überführt 169 (71 M. 98 Fr.),
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. b
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
von dort polizeilich eingewiesen 179 (70 M. 109 Fr.), sonst polizeilich eingewiesen 5
(I M. 4 Fr.), gemäß § 81 StrPO. 3 M. 2 Fr., § 656 CPO. 2 M. 5 Fr. Vom Gesamt¬
zugang litten an traumat. Hirnerkr. 2 M., Morph. I M., Alkoholismus 12 (10 M.
2 Fr.), Lues, Tabopsychose 1 M. 1 Fr., progr. Paralyse 63 (49 M. 14 Fr.), senilen,
präsenilen Erkr. 12 (I M. II Fr.), arterioskl. Erkr. 12 (4 M. 8 Fr.), Dem. praecox
144 (57 M. 87 Fr.), paranoiden Schwachsinnsformen 2f (8 M. 13 Fr.), Epilepsie
16 (10 M 6 Fr.), man.-depr. Zuständen u. Psych. 100 (29 M. 7l F.), Haftpsychosen
3 M., paranoide, querulat. Pers., Paranoia 4 (2 M. 2 Fr.), Psychopathie 6 M. 1 Fr.,
Imbezillität, Debilität 11 (3 M. 8 Fr.), Idiotie I M. 2 Fr.; nicht geisteskr. 3 M.
Entlassen genesen 1 M. 1 Fr., gebessert 161 (47 M. 114 Fr.), ungebessert 105 (87 M.
18 Fr.), davon nach anderen Anstalten 83 (66 M. 17 Fr.). Gestorben 252 (117 M.
100 Fr.) = 12,98% des Gesamtbestandes, davon infolge Tuberkulose 59 (31 M.
28 Fr.), Paralyse 49 (39 M. 10 Fr.). Durchschnittsbestand des R.-L. Eglfing 134 M. —
Gesamtausgabe: 1 739 779,69 M., davon für gemeinsam-techn. Betneb Eglfing und
Haar 308 674,40 M.
Gabersee (13): Anfangsbestand 828 (426 M. 402 Fr.). Zugang 213 (88 M.
125 Fr.). Abgang 191 (78 M. 113 Fr.). Bleibt Bestand 850 (436 M. 414 Fr.). Vom
Zugang] litten an einfacher Seelenstörung 161 (50 M. III Fr.), paralytischer Seelen¬
störung 17 (11 M. 6 Fr.), Imbezillität, Idiotie u. Kret. 11 (8 M. 3 Fr.), Epilepsie 8
(6 M. 2 Fr.), Alkoholismus 8 (6 M. 2 Fr.). Erblichkeit nachgewiesen bei 79 (29 M
50 Fr.), Alkohol mißbrauch 9 (7 M. 2 Fr.). Polizeilich wegen Sicherheitsgefährdung
eingewiesen 44% des Zugangs (im Vorj. 32%). Heeresangehörige aufgenommen 13,
davon entlassen zur Heimat 3. Entlassen vom Gesamtbestand genesen 21 = 11%
des Abgangs, gebessert 30,4%, ungebessert zum Teil nach andern Anstalten 12,1%,
nicht geisteskrank 1%. Gestorben 87 (39 M. 48 Fr.) = 10,3% des Durchschnitts¬
bestandes, 8,4% des Gesamtbestandes (im Vorj. 10,7 u. 8,8%), davon infolge Tuber¬
kulose 27, Paralyse 11. — Gesamtausgabe 920 332,87 M.
Kaufbeuren (17): Anfangsbestand 1914 = 791 (401 M. 390 Fr.). Zugang
453 (248 M. 205 Fr.). Abgang 440 (229 M. 211 Fr.). Bleibt Bestand 804 (420 M.
384 Fr.). Zugang 1915 = 424 (227 M. 197 Fr.). Abgang 497 (287 M 210 Fr.).
Bleibt Bestand 731 (360 M. 371 Fr.). Zugang 1916 = 345 (175 M. 170 Fr.). Abgang
440 (220 M. 220 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1916 = 636 (315 M. 321 Fr.). Durch¬
schnittliche Belegung: 1914 = 811 Kr., 1915 = 799,2, 916 = 650,9. Zur Beob¬
achtung eingewiesen 1914 = 10 M. 5 Fr., 1915 = 10 M. 3 Fr., 1916 = 3 M. 2 Fr.;
aus Strafanstalten 3,2 u. 2 Gef., als gemeingefährlich eingewiesen 65,66 u. 55 Pers.
Heeresangehörige aufgenommen insges. 107, noch in der Anstalt 5. — Von den Zu¬
gängen 1914—16 (Anstaltskranke) litten an traumat. Hirnerkr. 3 P., Psychosen bei
gröberer Hirnerkr. 5 P„ Alkoholismus 1914 = 40 M., 1915 = 26 (24 M. 2 Fr.),
1916= 15 (14 M. 1 Fr.), Psych. bei körperl. Erkr. 1914—16= 14 P., Lues- u.
Tabespsychosen 5 P., progr. Paralyse 1914 = 23 (19 M. 4 Fr.), 1915 = 37 (28 M.
9 Fr.), 1916 = 31 (21 M. 10 Fr.), senilen, präsen. Erkr. 1914 = 29 (15 M. 14 Fr.),
1915= 19(11 M. 8 Fr.), 1916= 16 (8 M. 8 Fr.), arterioskl. Erkr. 1914-16= 12 P.,
Kretinismus 2 P., Dem. praecox 1914= 118 (76 M. 42 Fr.), 1915 = 97 (48 M.
49 Fr.), 1916 = 97 (38 M. 59 Fr.), paranoiden Schwachsinnsformen 1914= 15
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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik.
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(3 M. 12 Fr.), 1915 = 8 (5 M. 3 Fr.), 1916 = 7 (4 M. 3 Fr.), Epilepsie 1914 = 8
(6 M. 2 Fr.), 1915 = 8 (5 M. 3 Fr.), 916 = 9 M., man.-depr. Veranlagungen u.
Psych. 1914= 117 (28 M. 89 Fr.), 1915= 115 (29 M. 86 Fr.). 1916 = 80(18 M.
62 Fr.), Hysterie 1914 = 11 Fr., 1915 = 20 Fr., 1916 = 1 M. 15 Fr., Haft- u. Emo-
tionspsychosen insges. 8 P., paranoide, querulat. Pers., Paranoia 10,5 u. 4 P., Psycho¬
pathie 17,4 u. 9 P.. Imbezillität. Debil. 1914 = 22 (11 M. 11 Fr.), 1915 = 11 (7 M.
4 Fr.),' 1916 = 10 (6 M. 4 Fr.); unklar insges. 3 P.; nicht geisteskrank usw. 86 M.
4 Fr. 'Von den 107 aufgen. Heeresangehörigen litten an Paralyse 8, man.-depr.
Irresein 16, Dem. praecox 41 — 383% —, Hysterie 7, Alkoholismus 2, Psycho¬
pathie 13, Imbezillität 4, Epilepsie 4 usw. Von den Anstaltskranken entlassen ge¬
nesen u. gebessert 1914 = 21,5%, 1915=17,5%, 1916=15,8% des Gesamt¬
bestandes, von den Heeresangehörigen 73 M. Gestorben 1914 = 6,1%, 1915 =
7,4%, 1916 = 73% des Gesamtbestandes, Heeresangehörige 2 M n infolge Lungen¬
tuberkulose starben insgesamt 21, Paralyse 54; 1 Selbstmord,. 2 Unglücksfälle in den
3 Berichtsjahren. — Pflegeanstalt Irrsee Anfangsbestand 1914 = 270 (125 M.
145 Fr.). Zugänge 13,24 u. 21 P. Schlußbestand 1916 = 239 (102 M. 137 Fr.)
Gestorben 14,16 u. 28 P., davon i. J. 1916 an Ruhr und Tuberkulose 43%. — Nach
der 1915 eröffneten Anstalt. Günzburg bis Ende 1916 überführt 224 (HO M.
124 Fr.). — Gesamtausgaben: Kaufbeuren 1914 = 810339,85 M., 1915 =
88220034 M., 1916 = 960518,52 M.; Jrrsee 1914 = 258143,93 M.; 1915 =
281 922,88; 1916 = 309499,46 M.
Bamberg, St. Getreu (33): 1914 = Anfangsbestand 152 (67 M. 85 Fr.)
Zugang 65 (32 M. 33 Fr.). Abgang 75 (36 M. 39 Fr.). Bleibt Bestand 142 (63 M
79 Fr.). Zugang 1915 = 58 (25 M. 33 Fr.). Abgang 64 (28 M. 36 Fr.). Bleibt Bestand
136 (60 M. 76 Fr.). Zugang 1916 = 60 (21 M. 39 Fr.). Abgang 57 (20 M. 37 Fr.).
Bleibt Bestand Ende 1916 = 139 (61 M. 78 Fr.). Von den Aufgenommenen litten
i. J. 1914 an Tumor des Gehirns I M., Alkoholpsychosen 1914 = 6 (5 M. 1 Fr.)
1915 = 3 M., 1916 kein Pat., Kollapszustand 1916 = 1 Fr., Psychosen bei körperl.
Erkr. 1914 = 1 M. 1 Fr., progr. Paralyse 1914 = 1 M. 2 Fr., 1915 =1 M. 2 Fr,
1916 = 2 M. I Fr., senilem Schwachsinn 1914 = 1 M. I Fr., 1915 = 1 Fr., 1916 =
2 M., arterioslder. Erkr. 1914 = 2 M., senilem Verfolgungswahn 1915=1 M.
Dementia praecox 1914 = 11 (6.M. 5 Fr.) v 1915= 10 (5 M. 5 Fr.), 1916 = 7 (3 M.
4 Fr.) paranoiden Schwachsinnsformen 1914 = 5 (1 M. 4 Fr.), 1915 = 6 (2 M.
4 Fr.), 1916 = 9 (2 M. 7 Fr.), genuiner Epilepsie 1914 = 3 Fr., 1915 = 5 (2 M.
3 Fr.), 1916 = 3 (1 M. 2 Fr.), manisch-depr. Psychosen 1914 = 19 (8 M.
11 Fr.), 1915= 12 (I M. 11 Fr.), 1916 = 20 (3 M. 17 Fr.), hyster. Erkr. 1914
= 4 (I M. 3 Fr.), 1915 = 5 (2 M. 3 Fr.), 1916 = 4 (1 M. 3 Fr.), traumat.
Neurosen 1914= 1 M., 1916= 1 M, Einotionspsychosen 1914= 1 M. 2 Fr,
1915 = 1 M. 2 Fr, 1916 = 2 M. 1 Fr, Haftpsychosen 1915 = 1 M, Paranoia
1915= 1 M„ 1916= 1 Fr, Psychopathie 1914 = 2 M, 1915 = 5 (4 M. I Fr.).
1916 = 4 M, Imbezillität 1914= 1 M, 1915 = I M. 1 Fr, 1916 = 2 Fr, Erb¬
liche Belastung 1914 = in 19 Fällen, 1915 = 19, 1916 = 19, Lues 1914 = 4,
1905 = 3, 1916 = 3, Alkoholmißbrauch 1914 = 9, 1915 = 3, 1916 = 0. Entlassen
geheilt, gebessert 1914 = 45, 1915 = 37, 1916 = 35. Gestorben 1914=16, 1915
b*
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20*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
= 13,1916= 17 = ca. 7% der Verpfl.— Gesamtausgaben: 1914= 14200,91 M*
1915 = 157 942,07 M.. 1916 = 201 240,86 M.
Bayreuth (2): Anfangsbestand 662 (364 M. 296 Fr.). Zugang 282 (209 M. —
165 Heeresangehörige — 73 Fr.). Abgang 330 (230 M. — 163 Heeresangehörige —
100 Fr.). Bleibt Bestand 614 (343 M. 271 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 189 (142 M. 47 Fr.), paralytischer 14 (12 M. 2 Fr.), Seelenstörung
mit Epilepsie u. Hysteroepilepsie 33 (31 M. 2 Fr.), anderen Krankheiten des Nerven¬
systems 31 (14 M. 17 Fr.), Imbezillität 11 (6 M. 5 Fr.), Alkoholismus 3 M.; nicht
geisteskrank 1 M. Erbliche Belastung bei 55,5% (52,8% M. 63% Fr.). Alkohol
mißbrauch 17,78%. Zur Beobachtung und Begutachtung eingewiesen 7 M. I Fr,
'distriktspolizeilich 39 (17 M. 22 Fr.). Entlassen genesen 22,18%, gebessert 36,47%
ungebessert 17,62%; hiervon nach andern Anstalten (Kutzenberg 25) überführt 45.
Gestorben 23,7% des Abgangs (78 P. — 33 M. 45 Fr. —), davon an Tuberkulose
25,6% (23% im Vorj.). — Gesamtausgabe 640433,90 M.
Mariaberg (23): Bestand vom 1.7. 16= 181 (131 m. 50 w.). Eingetreten
sind 10 (7 m. 3 w.), somit verpflegt 191. Ausgetreten sind 5 m. Gestorben 4(3 m.
1 w.). Bleibt Bestand 182 Pfl. Am Schulunterricht nahmen teil 54; arbeitsfähige
Erwachsene 68; bildungs- u. arbeitsunfähige Pfl. 60. Gesundheitszustand wiederum
sehr günstig. — Gesamtausgaben: 16624136 M.
Niedernhart i. Linz (26): Anfangsbestand 1915 = 953 (444 M. 509 Fr.)
Zugang 353 (180 M. 173 Fr.). Abgang 386 (204 M. 182 Fr.). Bleibt Bestand für
.1916 = 920 (420 M. 500 Fr.). Zugang 1916 = 400 (210 M. 190 Fr.). Abgang427,
247 M. 180 Fr.). Schlußbestand Ende 1916 = 893 (383 M. 510 Fr.). Vom Zugang
m den beiden Berichtsjahren litten an Idiotie, Imbezillität 22 (20 M. 2 Fr.) u. 22
12 M. 10 Fr.), einfacher Geistesstörung: Melancholie 13 (2 M. 11 Fr.) u. 28 (15 M.
13 Fr.), Manie 7 (1 M. 6 Fr.) u. 11 (4 M. 7 Fr.). Amentia 12 (9 M. 3 Fr.) u. 27
(22 M. 5 Fr.), Paranoia 27 (13 M. 14 Fr.) u. 22 (12 M. 10 Fr.), Psychosis peri-
odica) 40 (14 M. 26 Fr.) u. 47 (14 M. 33 Fr.), Dementia 116 (51 M. 65 Fr.) u. 126
(57 M. 69 Fr.), progressive Paralyse 50 (42 M. 8 Fr.) u. 47 (33 M. 14 Fr.), kom¬
plizierte Geistesstörung: mit Epilepsie 23 (19 M. 4 Fr.) u. 34 (21 M. 13 Fr.), Hysterie
17 Fr. u. 11 (2 M. 9 Fr.), Neurasthenie 7 (4 M. 3 Fr.), mit Herderkrankung 3 (1 M.
2 Fr.) U. 2 (1 M. 1 Fr.); Alkoholismus 10 (9 M.4 Fr.) u. 14 (13 M. 1 Fr.); nicht
geisteskrank 6 (4 M. 2 Fr.) u. 2 (I M. I Fr.), zur Beobachtung 1916 = 1 M. Erb¬
liche Belastung 1915 bei 110, 1916 bei 108, Alkoholmißbrauch 14 (13 M. 1 Fr.) u.
17 (16 M. 1 Fr.), Syphilis-Krankheitsursache bei 38 (34 M. 4 Fr.) u. 27 (22 M. 5 Fr.).
Aus Strafhaft aufgenommen 34 u. 29. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu
I Monat bei 76 (30 M. 46 Fn) u. 66 (23 M. 43 Fr.), bis zu 3 Monaten 64 (15 M.
39 Fr.) u. 83 (43 M. 40 Fr.), 6 Monate 33 (23 M. 10 Fr.) u. 55 (40 M. 15 Fr.),
I Jahr 44 (23 M. 21 Fr.) u.45 (24 M. 21 Fr.). 2 Jahre 15 (6 M. 9 Fr.) u. 16 (10 M.
6 Fr.) mehr als 2 Jahre 115 (69 M. 46 Fr.) u. 132 (68 M. 64 Fr.). Geheilt entlassen
31 (9 M. 22 Fr.) u. 41 (4 M. 37 Fr.), nach anderen Anstalten 13 (9 M. 4 Fr.) u.
33 (22 M. 11 Fr.), sonstige Eptlassung 178 (99 M. 79 Fr.) u. 167 (114 M. 53 Fr.).
Gestorben 164 (87 M. 77 Fr.) u. 186 (107 M. 79 Fr.), davon infolge Lungentuber¬
kulose 31 (II M. 20 Fr.) u. 53 (22 M. 31 Fr.), progressiver Paralyse 50 (34 M.
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S n e 11, Anstaltswesen und Statistik.
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16 Fr.) u. 39 (33 M. 6 Fr.). Typhuserkrankungen 1915 : 39 (34 Pfl., 4 Personal),
1916: 41 (37 Pfl. 4 Schwestern), darunter 7 Paratyphusfälle, an Typhus verstorben
16 u. 7 Pfl.
Bernische Anstalten (5): Waldau, Anfangsbestand 858 (427 M. 431 Fr.)
Zugang 191 (98 M. 93 Fr.). Abgang 193 (107 M. 86 Fr.). Bleibt Bestand 856
(418 M. 438 Fr.). Krankheitsformen der Auf genommenen: Angeborene Störungen
4 (3 M. 1 Fr.), konstitutionelle 6 (2 M. 4 Fr.), erworbene einfache Störungen 128
(52 M. 76 Fr.), darunter Verblödungsformen 98 (43 M. 55 Fr.), paralytische, senile,
organische Störungen 23 (15 M. 8 Fr.), epileptische Störungen 8 (7 M. 1 Fr.),
Intoxikationspsychosen 18 (16 M. 2 Fr.); nicht geisteskrank 4 (3 M. 1 Fr.) Ge¬
richtlich begutachtet 10 M.; davon 5 für die Militärgerichte. Entlassen genesen 25
(13 M. 12 Fr.) — 12,95% der Entlassungen, 2,38% des Gesamtbestandes. Ge¬
storben 59 (32 M. 27 Fr.) = 5,62% des Gesamtbestandes, davon infolge Tuber¬
kulose 13. — Münsingen: Anfangsbestand 857 (406 M. 451 Fr.), Zugang 183
(94 M. 89 Fr.), Abgang 172 (92 M. 80 Fr.). Bleibt Bestand 868 (408 M. 460 Fr.),
davon in Familienpflege'53 (18 M. 35 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen
Störungen 8 (6 M.2 Fr.), konstitutionellen 31 (16 M. 15 Fr.), erworbenen einfachen
Störungen 102 (42 M. 60 Fr.), paralytischen, senilen, organischen Störungen 20
(12 M. 8 Fr.), epileptischen 2 M., Intoxikationspsychosen 6 (4 M. 2 Fr.); nicht
geisteskrank 14 (12 M. 2 Fr.). Erblich belastet 53,6% der Aufnahmen (53,2% M.
54% Fr.) durch Trunksucht der Eltern 32,7% der Belasteten. Entlassen genesen
oder wesentlich gebessert 49,6% der Entlassungen, 8,2% der Verpflegten. Gestorben
56 “(33 M. 23 Fr.) = 5,38% der Verpflegten, seit Eröffnung der Anstalt (1895)
starben 16% der Verpflegten (4634). Gerichtlich begutachtet 18 Fälle, davon 6 mit
Zurechnungsfähigkeit. — Bellelay: Anfangsbestand 327 (132 M. 195 Fr.). Zugang
41 (17 M. 24 Fr.). Abgang 38 (18 M. 20 Fr.). Krankheitsformen der Aufgenomme¬
nen: Idiotie, Imbezillität bei 10 (6 M. 4 Fr.), konstitutionelle Psychosen 6 (2 M.
4 Fr.), erworbene einfache 15 (3 M. 12 Fr.), organische Störungen 7 (4 M. 3 Fr.),
Alkoholismus chron. 1 M., epileptische Störungen 2 (I M. 1 Fr.); nicht geisteskrank —.
Entlassen geheilt I M. I Fr., gebessert 3 Fr., ungebessert 1 M. 1 Fr. Gestorben
31 (16 M. 15 Fr.) — 9 der Verpflegten. — Gesamtausgabe, Waldau: 782 971,05 Frs.,
Münsingen: 728 217,60 Frs., Bellelay: 265 668,67 Frs.
Waldhaus (39): Anfangsbestand 313 (159 M. 154 Fr.). Zugang 104 (68 M.
36 Fr.). Abgang 98 (67 M. 31 Fr.). Bleibt Bestand 319 (160 M. 159 Fr.). Vom
Zugang litten an angeborenen Störungen 8 (7 M. 1 Fr.), erworbenen Störungen,
einfachen Psychosen 60 (29 M. 31 Fr.), paralytisch-senilen-org. Störungen 12 (II M
1 Fr.), erworbenen Störungen mit Epilepsie 6 (3 M. 3 Fr.), Intoxikationspsychosen
9 M.; nicht geisteskrank 6 M. Erblichkeit anzunehmen bei 41 (25 M. 16 Fr.) Ent¬
lassen geheilt 14 (10 M. 4 Fr.) — 15,2% des Abgangs, 3,4% der Verpflegten, ge¬
bessert 31 (22 M. 9 Fr.), ungebessertl8 (12M. 6 Fr.). Gestorben 29 (18 M. 11 Fr.) =
6,9% des Gesamtbestandes, l / 3 der Todesfelle: Tuberkulose. — Gesamtausgabe:
288648,71 Frs.
Burghölzli (7): Anfangsbestand 399 (194 M. 205 Fr.). Zugang 641 (350 M.
291 Fr.). Abgang 612 (329 M. 283 Fr.). Bleibt Bestand 428 (215 M. 213 Fr*
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22* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
•Diagnosen der (rischen Aufnahmen: 480 (272 M. 208 Fr.): Angeborene Psychosen
bei 23 (12 M. II Fr), konstitutionelle 41 (23 M. 18 Fr.), erworbene idiopathische
Psych. 229 (92 M. 137 Fr.), davon manisch-depr. Formen 6 (1 M. 5 Fr.), Ver¬
blödungsformen 208 (79 M. 129 Fr.); organische Störungen bei 73 (55 M. 18 Fr.),
epileptische 18 (9 M.9 Fr.), Intoxikationspsychosen 69 (57 M. 12 Fr.), unklar 1 Fr.
nicht geisteskrank 26 (24 M. 2.Fr.). Entlassen geheilt 30 M. 8 Fr., gebessert 158 M
168 Fr., ungebessert 91 M. 89 Fr., davon nach anderen Anstalten usw. überführt
75 M. 113 Fr. Gestorben 44 (28 M. 16 Fr.). Militärpersonen wurden aufgenommen
24 (im Vorj. 33), Kriegsinvalide 4, davon waren Schizophrene 5, Schwachsinnige I,
Psychopathen 5, Alkoholiker 3, geistig gesund 10, Simulanten 3. Gutachten a. d.
Anstalt und der Poliklinik abgegeben 172, davon strafrechtlich 54. Poliklinik besucht
von 450 neuen Patienten (110 mehr als imVorj.). — Bleuler rügt im Bericht dringlich,
daß die Anstalt gezwungen ist, jährlich Dutzende von verbrecherischen Kranken
aufzunehmen, trotzdem sie für derartige Internierte nicht eingerichtet ist! — Ge¬
samtausgaben 755 424,87 Frs., davon wirkliche Betriebsausgaben 529 950,70 Fr.;
Kosten des Verpflegungstages 352,03 R. gegen 329,83 R. im Vorjahre.
Zürich, Epileptiker-Anstalt (45): Anfangsbestand 285 (164 m. 121 w.).
Zugang 159 (102 m 57 w.) Abgang 157 (98 m. 59 w.). Bleibt Bestand 287 (168 m.
119 w ) Genesen 16 (7 m. 9 w.), gebessert hat sich der Zustand bei 36 (18 m. 18 w.),
davon nach Hause oder anderen Anstalten entlassen 25. Gestorben 4 (2 m. 2 w.).
Zur Beobachtung waren aufgenommen 75 (54 m. 21 w.), davon litten an Epilepsie
31, traumatischer Neurose 13, Hysterie 9, Dementia praecox 9, Imbezillität 6,
Idiotie 2, Melancholie 2, Kretinismus 1, Arteriosklerose, AIkoholismu$ je 1. — An
Legaten und Gaben sind eingelaufen 64 730,55 Frs. — Betriebsausgaben: 457097,07 Frs.
Ellikon (11 a): Anfangsbestand 18 Pfl. Zugang33. Entlassungen 26. Schluß-
bestand 25. An chronischem Alkoholismus litten 15, mit Delirium tremens 3, ab¬
ortivem Delirium tremens 1, bei Imbezillität 1, leichter Imbezillität 2, mit Korsa-
koff 1, schwer disziplinierbarer Charakter 1; periodische Trunksucht mit Delirium I,
Trunksucht mit pathologischem Rausch 1, mit Dementia praecox 1, schwachem
Charakter 2, Senilität 1; einfache Trunksucht 2. Von 33 Aufgenommenen erblich
belastet 13. Die Kurzeit haben durchgeführt 14 Pfl. Aufenthaltsdauer 12 Monate
bei 13, 9 Monate 1, hiervon abstinent geblieben 12, rückfällig 1, fraglich 1. — Ge¬
samtausgabe: 30 275,53 Frs.
Herisau (15): Anfangsbestand 305 (148 M. 157 Fr.). Zugang 146 (69 M.
77 Fr.). Abgang 129 (56 M. 73 Fr.). Bleibt Bestand 322 (161 M. 161 Fr.). Vom
Zugang litten an angeborenen Psychosen 4 (3 M. 1 Fr.), konstitutionellen Psychosen
15 (10 M. 5 Fr.), idiopathischen Psychosen, a) manisch-depressivem Irresein 14
(5 M. 9 Fr.), b) Schizophrenie 80 (31 M. 49 Fr.), c) anderen Formen 2 M. 1 Fr., an
organischen Psychosen 10 M. 10 Fr., epileptischen Psychosen 7 (6 M. 1 Fr.), In¬
toxikationspsychosen 2 M. I Fr. (letztere Pantoponsucht). Geheilt, gebessert ent¬
lassen 59,7% der Entlassenen. Gestorben 6% der Verpflegten. — Gesamtausgabe:
304664,85 Frs.
Wil (44): Anfangsbestand870 (433 M. 437 Fr.). Zugang 349 (167 M. 182 Fr.).
Abgang 322 (161 M. 171 Fr.). Bleibt Bestand 897 (449 M. 448 Fr.). Von den Auf-
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Snell, Anstaltswesen und Statistik.
23*
genommenen litten an angeborenen Störungen 27 (14 M. 13 Fr.), konstitutionellen
23 (14 M. 9 Fr J, einfachen erworbenen Störungen der paralytischen, senilen und
organischen Gruppe 64 (26 M. 38 Fr.), auf Grundlage der Epilepsie 13 (6 M. 7 Fr.),
Intoxikationspsychosen 33 (31 M. 2 Fr); nicht geisteskrank 2 M. Körperlich
Kranke und Altersschwache 66 (34 M. 32 Fr.). Erblichkeit nachweisbar bei 60%
der aufgenommenen Männer, 43% Fr.; übermäßiger Alkoholgenuß Krankheits¬
ursache bei 25 M. 2 Fr. Mit den Strafgesetzen in Konflikt 26 M. = 20% der männl.
Aufnahmen. 8 gerichtliche Gutachten, davon Anerkennung der Zurechnungs¬
fähigkeit in vollem Umfange 2. Entlassen geheilt 34 (II M. 23 Fr.), gebessert 78
(40 M. 38 Fr.), ungebessert 61 (32 M. 29 Fr.). Gestorben insgesamt 147 (66 M.
81 Fr.) — 12% der Verpflegten, davon Geisteskranke 10% ihres Bestandes, körper¬
liche Kranke und Altersschwache 21% ihres Bestandes; von der Gruppe der paralyti¬
schen, senilen und organischen Psychosen entfielen an Todesfällen 44% des Be¬
standes dieser Gruppe. — Gesamtausgabe 643 275,80 Frs.
St. Pirminsberg (34): Anfangsbestand 312 (157 M. 155 Fr ). Zugang 110
(49 M 61 Fr.). Abgang 105 (43 M. 62 Fr ). Bleibt Bestand 317 (163 M. 154 Fr.).
Krankheitsformen der Aufgenommenen: Angeborene Psychosen bei 4 (3 M. 1 Fr.),
konstitutionelle 5 (4 M. 1 Fr.), erworbene einfache Psychosen 88 (33 M. 55 Fr.),
epileptische — organische Psychosen 7 (3 M. 4 Fr.), Intoxikationspsychosen 6 M.
Erbliche Belastung der erstmals Aufgenommenen (78) bei 56 = 72%. Kriminelle
Kranke 1 M. 1 Fr., 2 mit dem Strafgesetz in Konflikt geratene Kr. (1 Querulant,
I Alkoholiker) bedingt entlassen. Krankheitsdauer vor der Aufnahme, frische Auf¬
nahmen (78) bis 1 Monat 35 (14 M. 21 Fr.), 1—3 Monate 12 (3 M. 9 Fr.), 3—6
Monate 5 (2 M. 3 Fr.), 6-12 Monate 9 (2 M. 7 Fr.), 1-2 Jahre 6 (2 M. 4 Fr.),
2—5 Jahre 7 (6 M. 1 Fr.), über 5 Jahre 15 (10 M. 5 Fr.). Entlassen genesen 24
(10 M. 14 Fr.), gebessert 39 (19 M. 20 Fr.), ungebessert 27, davon nach anderen An¬
stalten 16. Verhältnis der Genesenen zum Gesamtabgang = 23%, zur ‘Gesamt¬
zahl der Verpflegten = 5,9%. Gestorben 15 (4 M. 11 Fr.) = 3,6% des Gesamt¬
bestandes. — Gesamtausgabe: 305 642,56 Frs.
Münsterlingen (24): Anfangsbestand 418 (176 M. 242 Fr.). Zugang 185
(76 M. 109 Fr ). Abgang 169 (80 M. 89 Fr.). Bleibt Bestand 434 (172 M. 262 Fr.).
Vom Zugang litten an angeborenen Psychosen 19 (10 M. 9 Fr.), konstitutionellen
Psych. 15 (7 M. 8 Fr.), erworb. einfachen Psych. a) manisch-depr. 12 Fr., b) Ver¬
blödungsformen 80 (30 M. 50 Fr.), c) anderen Formen 5 (2 M. 3 Fr.), organ. Psych. 19
(8 M. 11 Fr.), davon progr. Paralyse 3 M. I Fr., epilept. Störungen 10 (5 M. 5 Fr.),
Intoxikat.-Psych. 23 (14 M. 9 Fr.), davon rein alkohol. 20 (12 M. 8 Fr.); nicht geistes¬
krank (zur Beobachtung) 2 Fr. Krankheitsdauer vor Aufn. bis 3 Monate bei 48
(18 M. 30 Fr.), 6 Mor. 10 (4 M. 6 Fr.), bis 1 Jahr 14 (8 M. 5 Fr.). 2-5 Jahre 35
(18 M. 17 Fr.), über 5 Jahre 46 (23 M. 23 Fr.), angeboren 17 (11 M. 6 Fr.). Ent¬
lassen geheilt 14, gebessert 99. Gestorben 10 M. 16 Fr. = 431% der Verpfl., davon
an Tuberkulose 1 P. — Gesamtausgaben: 354 359,24 Frs.
- Friedmatt (Basel) (12): Anfangsbestand 292 (135 M. 157 Fr.). Zugang 187
(90 M. 94 Fr.). Abgang 205 (103 M. 102 Fr.). Bleibt Bestand 274 (122 M. 152 Fr.).
Vom Zugang litten an Idiotie, Imbezillität 14 (II M. 13 Fr.), konstitut. Psych. 40
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
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(28 M. 12 Fr.),* erworb. einf.'Psych. 87 (23 M. 64 Fr.), paralyt. 15 (10 M. 5 Fr.),
senilen 8 (5 M. 3 Fr.), anderen organ. Psych. 2 Fr., epilept. 9 (4 M. 5 Fr.), alkohol.
Psych. II (9 M. 2 Fr.): nicht geisteskrank 1 Fr. Erblichkeit bei 33 M. 55 Fr„ zu
Trunksucht veranlagt II M. 22 Fr. Krankheitsdauer vor Aufn. bis 1 Monat bei 37
(14 M. 23 Fr.). 2-3 Monate 19 (4 M. 15 Fr.), 3-12 Monate 16 (4 M. 12 Fr.),
1—5 Jahre 19 (4 M. 15 Fr.), über 5 Jahre 30 (14 M. 16 Fr.), Dauer unbekannt 66
(50 M. 16 Fr.). Geheilt entlassen 24 (13 M. 11 Fr.), gebessert 69 (33 M. 36 FrJ.
Gestorben 28 (14 M. 14 Fr.), davon infolge Tuberkulose 1 M- — Gesamtausgaben:
498402,80 Frs.
Königsfelden (18): Anfangsbestand 815 (370 M. 445 Fr.), Zugang 244
(135 M. 109 Fr.). Abgang 223 (128 M. 95 Fr.). Bleibt Bestand 836 (377 M 459 Fr.).
Vom Zugang litten an Idiotie, Kretinismus 31 (13 M. 18 Fr.), konstitutionellen,
originären Formen 12 (8 M. 4 Fr.), einfachen Störungen 125 (62 M. 63 Fr.), organi¬
schen Störungen (paralyt., senilen) 29 (17 M. 12 Fr.), epileptischen Störungen 14
(9 M. 6 Fr.), Intoxikationspsychosen 30 (25 M. 5 Fr.); nicht geisteskrank 1 M I Fr.
Dauer der Krankheit vor der Aufnahme bei 89 = 1 —3 Monate, bei 15 = 4—6
Monate, 3 = 7—12 Monate, 35 = I —3 Jahre, 17 = 3—5 Jahre, bei 82 über 5 Jahre,
2 unbestimmte Dauer. Ursächliches Moment der Erkrankung Alkoholismus bei
25,9% der Männer, 2,7% Frauen. Erbliche Belastung nachweisbar in 68%. Geheilt
entlassen 29 M. 14 Fr. Genesung trat ein bei 46% im ersten Vierteljahre, bei 38%
Dauer der Heilung 4—6 Monate, 3% ein halbes bis ein Jahr, 13% länger als 1 Jahr;
entlassen gebessert 59 M. 46 Fr., unverändert 20 M. 12 Fr., davon in ein anderes
Asyl 20 (15 M. 5 Fr.). Gestorben 58 (35 M. 23 Fr.), hauptbeteiligt Lungen- u.
Darmtuberkulose. Typhusepidemie plötzlich auf getreten, erkrankt 24 Insassen,
gestorben 4. — Gesamtausgabe: 608 79031 Frs.
Cery (8): Anfangsbestand 536 (270 M. 266 Fr). Zugang 405 (243 M. 162 Fr.).
Abgang'423 (252 M. 171 Fr.). Bleibt Bestand 518 (261 M. 257 Fr.). Vom Zugang
litten an Idiotie 40 (25 M. 15 Fr.), konstitutionellen Psychosen 35 (20 M. 15 Fr.),
einfachen erworbenen 208 (105 M. 103 Fr.), organischen 63 (42 M. 21 Fr.), epi¬
leptischen Psychosen 10 (7 M. 3 Fr.), Alkoholismus und anderen Intoxikationen 41
(38 M. 3 Fr.); nicht geisteskrank 7 (6 M. I Fr.). Von den aufgenommenen Trunk¬
süchtigen litten an akuter Erkrankung 2 M., chronischer 18 (16M. 2 Fr.). Korsakoff-
psychose 1 M., Delirium tremens 16 M. Erblichkeit nachweisbar unter den erst¬
mals Aufgenommenen (290 P.) bei 195, davon auf alkoholistischer Basis 91. Vom
Gesamtbestand entlassen geheilt 90 (50 M. 40 Fr.), gebessert 127 (77 M. 50 Fr.),
ungebessert 118 (69 M. 49 Fr.). Gestorben 80 (50 M. 30 Fr.), davon an Tuberkulose
6 M. 4 Fr. — Gesamtausgabe 780 981,05 Frs.
Valeriusplein, Amsterdam (38): Neuaufnahmen 435 (229 M. 206 Fr.)
12 P. mehr als im Vorj. Höchstbezifferte Krankheitsformen: Man^depr. Zustande
99 (33 M. 66 Fr.), psychopath. Konstitution 25 (18 M. 7 Fr.), Dementia paraiytica
21 (19 M. 2 Fr.), Dem. praecox 59 (25 M. 34 Fr.), senilis 10 (8 M. 2 Fr.), Hystene
57 (17 M. 40 Fr.), Neurasthenie 7 M., Epilepsie 11 (5 M. 6 Fr.), Luespsychosen,
Lues cerebri 9 (5 M. 4 Fr.), Arteriosclerosis cerebri 7 M., Psycbasthenie 11 (5 M,
6 Fr.), traumat. Neurosen 14 M., alkoholistische Erkr. 5 M. Von 445 Verpfl. geheilt.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie.
25*
gebewert 202. Gestorben 27 (14 M. 13 Fr.). Die Poliklinik von Valeriusplein wurde
besucht von 334 P. (1915 = 235), die von Ter Haarstraat von 236 P. Anzahl der
Konsultationen 621. Vorträge im April- und Oktoberkursus.
Hilfsverein des Kantons Luzern (22): Der Mitgliederbestand hob sich
gegen das Vorjahr um 249. An Jahresbeiträgen ist mit 11,529 ein Mehr zu verzeichnen
von 488 Frs- Legate und Gaben gingen ein 23,184 Frs. (im Vorj. 5,525). Unter¬
stützungsbeträge wurden verausgabt 18,164 Fr. (im Vorj. 17,638 Frs.). Der Ver¬
mögensbestand ist angewachsen auf 238312 (mehr gegen das Vorj. 21337) Frs.
2. Gerichtliche Psychiatrie.
Ref.: Karl Wendenburg-Bochum.
1. Adler, Alfred (Wien), Das Problem der Homosexualität.
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gentätigkeit auf dem Gebiete des Ersatzwesens und der
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
26*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
militärischen Versorgung. I. Teil. 10 Vorträge, ver¬
anstaltet unter Förderung der Med. Abt. des Kriegs¬
ministeriums, vom 30. Oktober bis 18. Dezember 1916,
gehalten von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Bonhoeffer, Prof.
Dr. R. Gaupp, Prof. Dr. Kurt Goldstein , Generaloberarzt
Prof. Dr. A. Köhler , Geh. Med.-Rat Dr. Krückmann,
Oberstabsarzt Dr. Martinek , Prof. Dr. H. Oppenheim,
Generalarzt Dr. Schultzen, Oberstabsarzt Prof. Dr.
Ewald Stier, Stabsarzt Dr. Wätzoldt. Herausgegeben
vom Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen
in Preußen, in dessen Auftrag redigiert von Prof. Dr.
C. Adam, Generalsekretär. Jena 1917. Verlag Gustav
Fischer. 320 S. — 5 M.
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I
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27
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rgk
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&
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Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie.
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72. Ruhemann, Konrad (Berlin), Über den Selbstmord eines
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des Christian Binggeli. Schweiz. Ztschr. f. Strafrecht
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Psych. Orig.-Bd. 37, H. 3/4, S. 219. (S. 36*.)
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
32*
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im Kriege. Jahreskurse für ärztl. Fortbildung. (Schrift¬
leiter: Sarason , Verleger: J. F. Lehmann-München.)
Maiheft S. 22. (S. 35*.)
88. Weygandt, W. (Hamburg), Diensttauglichkeit und Dienst¬
beschädigung bei psychischer Störung. (Demonstra¬
tion.) Sitzungsbericht: Berl. klin. Wschr. Nr. 27, S. 667.
89. Zeller, Das Strafrecht in seinen Beziehungen zur Individual¬
psychologie. Ztschr. f. Individualpsychol. Nr. 6—9.
Hoche(31) bespricht das Berufsgeheimnis des ärztlichen Sachverständigen.
(§ 300 StGB. § 52, StPO., § 383 CPO., § 385 CPO.). Schwierigkeiten körmen beson¬
ders dann entstehen, wenn dem Gutachter von dem Angeschuldigten Bekenntnisse
abgelegt werden, die sich auf eigene Schuld oder auf Mittäterschaft beziehen, dem
Gericht aber unbekannt sind. Er beklagt, daß das Berufsgeheimnis von den Ärzten
noch nicht immer genügend gewahrt würde und führt das darauf zurück, daß die
Ärzte mit den einschlägigen Bestimmungen ebensowenig vertraut wären, wie das
Publikum. Er macht darauf aufmerksam, daß der Sachverständige weder Staats¬
anwalt noch Verteidiger sein darf, sondern unparteiisch sein Gutachten zu erstatten
hat. Die ärztliche Schweigepflicht wird durch die Sachverständigentatigkeit nicht
ohne weiteres aufgehoben.
Die Erstattung von'Gesundheitszeugnissen durch staatliche Ärzte behufs
Ehebewilligung ist der Gegenstand einer kleinen Arbeit von Anton (3). Er stellt
12 Leitsätze auf, nach denen der Arzt seine Zustimmung zur Ehe zu geben dat.
Anton (2) bespricht die Anforderungen, welche an den Arzt gestellt werden
müssen, wenn er als Berater des Jugendgerichts zugezogen wird. Die einzelnen
Leitsätze müssen im Original nachgelesen werden.
Horstmann (33) befaßt sich mit den schon oft erörterten Begriffen der Gemein-
gefährlichkeit. Er teilt einigeFälle mit, welche die Schwierigkeiten der Behand¬
lung und die große Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters gegenüber gemeingefähr¬
lichen Kranken in das rechte Licht rücken. Ein Fortschritt in der Beandlung der
Gemeingefährlichen ist nur von einer genauen Umschreibung der Kriterien der
Gemeingefährlichkeit zu erhoffen. Vor allem müßte den Gemeingefährlichen auch
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie. 33*
im Interesse unserer Rasse.vor allem im Interesse der geistig gesunden Menschen,
schärfer entgegengetreten werden.
Hemk.es (29) beschreibt eingehend 5 psychopathische Persönlichkeiten, welche
die Schwierigkeiten der Sachverständigenbegutachtung bei ihrer Straffälligkeit
beleuchten.
Hübner (35) berichtet kurz über einen 30 Jährigen Studenten, bei dem es sich
um eine seltene Kombination von Homosexualität, Farbenfetischismus, Kopro-
phagie und Masochismus handelt. Über die Zurechnungsfähigkeit waren die Meinun¬
gen der Gutachter geteilt. Verf. trat daiür ein, daß die Voraussetzungen des § 51
gegeben wären, denn diese Kranken bleiben ihr ganzes Leben hindurch Sklaven
ihrer abnormen geschlechtlichen Neigungen. Der Entwicklungsgang des Ange¬
klagten hätte deutlich gezeigt, daß die Rücksicht auf seine krankhafte Vera nlag ung
bei allen wichtigen Entschließungen (Lebensberuf, Verkehr, Auftreten) ausschlag¬
gebend gewesen sei.
Über den seltenen Fall einer Grab- und Leichenschändung durch Geistes¬
kranke berichtet E. Meyer (50). Es handelte sich upi einen Halluzinanten, der von
Stimmen getrieben, das Grab seiner vor 5 Jahren verstorbenen Frau geöffnet hatte,
und im 2. Falle um einen schweren Psychopathen in Zwangszuständen.
Kobudzituki (42) beschreibt einen geisteskranken Tapezierer, der wiederholt
das Grab seiner vor langer Zeit verstorbenen Frau geöffnet hatte. Die Ursache der
Öffnung des Grabes sah der Sachverständige in einer geistigen Erkrankung, einer
Dementia paranoides. >
König (44) bringt ausführlich mitgeteilte kasuistische Mitteilungen zur Simula¬
tionsfrage. Die interessanten Fälle müssen im Original nachgelesen werden.
Flora Boenheim (8) beschäftigt sich mit der Frage der Dissimulation. Sie
erwähnt zunächst den Begriff. Der Kranke muß, abgesehen von seinen Erklärungen
durch sein ganzes Gebahren den Versuch machen, gesund zu erscheinen, und zwar
absichtlich. Sie geht dann auf die Mittel der Dissimulation ein und berücksichtigt
dabei sowohl die Literatur wie praktische Beobachtungen und beschreibt zum Schluß
einige selbst untersuchte Fälle.
Mezger (52) teilt einige praktische Strafrechtsfälle aus dem Gebiete der Sexual-
Psychologie mit.
Herschmann (30) berichtet über einen Totschlag im pathologischen Rausch,
ausgeführt von einem Soldaten (Matrose) an einem kleinen Mädchen.
von Speyr (75) berichtet ausführlich über einen Brandstifter und vierfachen
Mörder, der seit Jahren an Jugendblödsinn litt, wiederholt in-Anstalten gewesen
war, aber trotzdem zunächst auf Grund eines ärztlichen Gutachens für gesund
erklärt und verurteilt war.
Einen reichhaltigen Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der
Brandstifter liefert Heinrich Többen (81). Er verfügt über 101 Fälle, die er getrennt
nach ihren Beweisgründen eingehend schildert. Unter den Antrieben zur Brand¬
stiftung spielt Rache und Haß die Hauptrolle. Habsucht und Neid stehen an zweiter
Stelle. In weiten Abständen folgen dann mit 11% die durch Geistesstörungen aus¬
gelösten Brandstiftungen und eine noch geringere Rolle spielt der Alkoholismus,
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. C
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34*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
das Heimweh, der Mutwille und das Bestreben, vom Militär, aus Erziehungsanstalten
oder sonstigen Gewahrsamen sich zu befreien. Seinen Beobachtungen schickt er
eine eingehende Einleitung, eine sehr gründliche Übersicht über die medizinische
und kriminalistische Literatur sowie statistische Mitteilungen über die volkswirt-
sthaftliche Bedeutung der Brandstiftung voraus. Den Beschluß bilden Untersuchun¬
gen über den Geisteszustand der Täter sowie Bekämpfungsvorschläge für die Brand¬
stiftung. Unter diesen Vorschlägen spielt die Bekämpfung der Trunksucht, der
Obdachlosigkeit, die Verwahrung der Geisteskranken und geistig Minderwertigen
ensprechend dem Vorentwurf zum neuen Strafgesetzbuch eine Hauptrolle. Eine
eingehende Kritik der Vorschläge des Vorentwurfs bringt beachtenswerte, praktische
Hinweise auf die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Abänderungsvorschläge
Das klar und verstän^ch geschriebene Buch wird für alle Richter und Sachver¬
ständigen und Kriminalisten eine Quelle dar Belehrung sein, zumal es sich duych
wohltuende Kürze auszeichnet.
Die Aschaffenburg'sehe Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Straf¬
rechtsreform bringt nach längerer Pause die Schlußhefte des 11. und 12. Jahrgangs.
Der Band enthält eine Reihe von interessanten Aulsätzen, so von Jacobsohn (37)
über die Kriminalität der Jugendlichen und ihre Verhütung und Metzgerei)
über die Bedeutung der Blutuntersuchung in einem Falle zur Beurteilung des
Geisteszustandes und andere kriminalpsychologische, wertvolle Beiträge.
L. W. Weber (85) bringt neue Beiträge zum Kapitel des Familienmordes.
Er faßt ihn als einen* erweiterten Selbstmord auf, der häufig auf ausgesprochene.
Geisteskrankheiten zurückzuführen ist. Man darf aber nicht außer Acht Jassen, daß
auch psychologische Ursachen, Reue und Verzweiflung Anlaß zum Familienmord
geben können. Diese Ursachen fallen nicht unter den § 51 StGB.
Kampschulte (39) gibt einen Überblick über die in den Jahren 1900—1915
in der Irrenabteilung der Strafanstalt zu Münster beobachteten Geistesstörungen
Es handelt sich um 1724 Aufnahmen aus Strafanstalten, Gefängnissen und aus der
Untersuchungshaft. Die Aufnahmeziffer stieg von Jahr zu Jahr, erreichte im Jahre
1914 mit 159 Kranken ihren Höhepunkt und sank im Jahre 1915 auf 87. Unter den
zur Beobachtung gekommenen Geistesstörungen standen die degenerativen Psychosen
mit 37,2% an erster Stelle, es folgt das Jugendirresein mit 20%, die Epilepsie mit
11% und die chronische Wahnbildung mit 14,8%. Angeborene Schwachsinns¬
formen waren in 6%% die Ursache zur Aufnahme. Es folgen dann Einzelfälle.
Eine gemeinverständliche Darstellung der Beziehungen zwischen Verbrechen
und Geisteskrankheit für das Pflegepersonal der Heilanstalten bringt Raeke (65) in
der Irrenpflege. Der Aufsatz ist für Laien gedacht.
Einen Beitrag zur Kenntnis des Querulantenwahns liefert Max Nebendahl (55).
Die Beobachtung stammt aus der Kieler Klinik.
Puppe (64) macht kurze und genaue Mitteilungen über die Psychologie und
Prophylaxe des Kindesmordes. Danach sind die Zahlen der Bestrafungen wegen
Kindesmordes von Jahr zu Jahr zurückgegangen, aber wohl nur deswegen, weil das
Gericht auf fahrlässige Tötung, nicht auf Kindesmord erkannt hatte. Er selbst hat
140 gerichtliche Obduktionen von Neugeborenen gemacht, bei denen in 49 Fällen
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Wendenburg, Gerichtliche Psychiatrie.
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Anklage erhoben wurde, während in 23 Fällen die Obduktion Totgeburt ergab.
Puppe berichtet eingehend über die' Todesursache, die angewandte Methode, die
Ursache der Totgeburten und erörtert dann die anzuwendenden Methoden der
Vorbeugung und Abhilfe.
Alfred Adler (I) untersucht in einer kleinen Schrift das Problem der Homo¬
sexualität.
Siegfried Sediger (74) bespricht in einer Doktorarbeit aus der Kieler Klinik
die Literatur über die gerichtsärztliche Beurteilung der Sexualverbrechen und
berichtet über 3 Fälle, deren erster einen Schwachsinnigen mit epileptoiden Zu¬
ständen, deren zweiten einen vollkommenen Idioten betraf, während im drtten
Falle chronische Verrücktheit die Ursache des Verbrechens war.
Hensehel (28) knüpft an den Fall eines Schwachsinnigen mit degenerativen
Zügen, der wiederholt wegen Sittlichkeitsverbrechens unter Anklage stand, Be¬
trachtungen über die irrenrechtliche Bedandlung derartiger krankhafter Menschen.
Die strafrechtliche Begutachtung Heeresangehöriger macht dem Psychiater
nicht selten große Schwierigkeiten. Wie überall machen auch bei Militär die Gren-
zustände die Hauptarbeit. Hübner (34) teilt aus dem reichen Schatz seiner Er¬
fahrung kurz und knapp viele praktische Fälle mit, welche sich auf militärische Ver¬
gehen beziehen. Unerlaubte Entfernung, Fahnenflucht, Feigheit, Selbstverstümme¬
lung, Vergehen gegen die Unterordnung und die Simulationsfrage werden kurz
und übersichtlich geprüft.
Eine eingehende Darstellung der Beziehungen der Geistes- und Nervenkrank¬
heiten zumKriegsdienst liefert Weygandi (87) in einer Arbeit, die als Jahreskurs
für ärztliche Fortbildung erschienen ist.
E. Meyer (49) stellt Betrachtungen über die Frage der Dienstbeschädigung
bei den Geisteskrankheiten der Soldaten an. Es kommen hauptsächlich Jugend¬
irresein, dann manisch-depressives Irresein und die Epilepsie in Beracht. Bild
und Verlauf dieser Krankheiten ist hauptsächlich bei den Soldaten das Gewöhnliche.
Meist bestehen Erscheinungen schon vor dem Kriegsdienst. Äußere Schädigungen
sind verhältnismäßig selten festzustellen. Der Vergleich mit den Friedenserfahrungen,
wie die bisherigen Kriegsbeobachtungen sprechen dafür, daß Kriegsdienstbeschä-
digung bei den genannten Geisteskrankheiten nur angenommen werden kann, wenn
die Kranken über die Masse der Kriegseinwirkungen hinausgehende Einzelschädi¬
gungen erlitten haben, nicht aber deshalb schon, weil sie überhaupt im Kriegsdienst
gestanden haben. 4
M. Rosenfeld 70) tritt dafür ein, daß man bei der großen Zahl von Fällen mit
leichteren, nervösen Ausfalls- und anderen Beschwerden der Kriegsteilnehmer bei der
Anerkennung ihrer Erwerbsbeschränkung durch Dienstbeschädigung viel strenger
verfahren müßte als bisher. In allen leichten Fällen wäre es gerechtfertigt, eine
Dienstbeschädigung ganz abzulehnen. Die Geringfügigkeit der subjektiven Be¬
schwerden und objektiven Symptome und die völlige Harmlosigkeit der Störungen,
■die sich nie zu verschlimmern pflegen, rechtfertigen dieses Verfahren. Ein solches
Verfahren würde etwa in 65% aller Falle eines Lazaretts gerechtfertigt gewesen sein.
Bostroem (11) vergleicht die Wahrnehmungen des Truppenarztes an der Front
mit den Beobachtungen in den neurologischen psychiatrischen Kliniken des Inlandes.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
36*
E. Meyer (47) (and bei den Kriegsteilnehmern hauptsächlich psychogene
Neurosen, während die neuras thenischen und traumatischen dagegen zurück traten.
Der neurasthenische Typus kommt für die Frage der Kriegsdienstbeschädigung
weniger in Betracht, während diese bei den psychogenen und traumatischen Formen
eher anzunehmen ist. Eine Kriegsparalyse im Sinne Weygandt s gibt es nach Meyer
nicht.
Wagner (83) hat 1700 nervenkranke Soldaten eines Lazaretts beobachtet, die
zum Teil an vorübergehenden Erschöpfungszuständen, zum andern Teil an neur-
asthenisch-hypochondrischen Symptomenbildern litten. Er untersucht an der Hand
zahlreicher, teils ausführlich, teils kurz mitgeteilter praktischer Fälle die Frage der
Dienstbeschädigung. Die Hauptsache ist die Heilung der nervösen Kriegsteil¬
nehmer.
Otfried Möller (54) bespricht den Einfluß der Konstitution insbesondere
der Diathesen auf den Kriegsdiensrt.
Goldslein (18) beschäftigt sich hauptsächlich mit der militärischen Versorgung
der Hirnverletzten und ihrer Bedeutung auf dem Gebiete des Ersatzwesens.
Die Gehimverletzten müssen von eifern doppelten Gesichtspunkt aus beurteilt,
werden: 1. von dem der Gefahr, in der sie infolge der Verletzung selbst auch nach
Abheilen der äußeren Wunde noch eine längere Zeit schweben; 2. von dem der
Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit. Die Beurteilung erfordert eine Berück¬
sichtigung des Gesamtverlaufes sowie eine genaue Untersuchung, die bei den meisten
Fällen nur nach einer mehrtägigen Lazarettbeobachtung möglich sein wird.
Pest (60) hat insbesondere das Material der Breslauer Nervenklinik daraufhin
untersucht, ob zwischen luetischen Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems und dem Heeresdienst Zusammenhänge bestehen. Es stellte sich
heraus, daß die Inkubationszeit bei den Militärpersonen vom Zeitpunkte der In¬
fektion bis zum Zeitpunkte des Ausbruchs einer Lues cerebrospinalis fast 3 Jahre
kürzer war als wie bei den Zivilkranken. Es schien so, als ob die frische Lues durch
die Anstrengungen des Krieges besonders ungünstig beeinflußt würde. Er bringt
dann 2 Falle, die beide nach einem leichten Kopfstreifschuß wenige Tage später
mit einer Meningitis cerebrospinalis luetica erkrankten. In einem Falle betrug die
Inkubationszeit nur 3 Monate. Bei den tabischen Kriegsteilnehmern ließ sich keine
Verkürzung des Zeitpunktes zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit fest¬
stellen. Die Zahlen waren bei dem Kriegs- und Friedensmaterial gleich. Dasselbe
gilt für die Paralyse. Dementsprechend darf man die Frage der Dienstbeschädigung
bei Ausbruch von Lues cerebrospinalis leichter bejahen als bei Paralyse und Tabes.
Pönitz (62) berichtet aus der Halleschen Klinik über die psychologischen und
psychopathologischen Ursachen der Fahnenflucht im Kriege. Er unterscheidet
3 Gruppen, Die erste wird aus allgemein verständlichen Motiven fahnenflüchtig,
die zweite umfaßt die Psychopathen, die dritte die Leute mit sogenannten Fugue-
zuständen.
Hahn (24) beobachtete einen 18 jährigen Soldaten, dessen Vater an Tabes litt
und der selbst infolge hereditärer Lues eine Pupillenstarre ohne andere Erschei¬
nungen seitens des Nervensystems hatte und einen 45 jährigen Landsturmmann,
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Grimme, Allgemeine Psychiatrie.
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4er auch an Pupillenstarre, wohl auf Grund einer früher erworbenen Lues, litt.
Während der erste Soldat bei seinem jugendlichen Alter unbedenklich als k. v.
angesehen werden konnte, mußte der zweite für d. u. erachtet werden, denn bei ihm
war auf Grund des Blut- und Lumbalbefundes mit einer beginnenden Paralyse
zu rechnen.
Spliedt (76) beschäftigt sich mit den geistigen Erkrankungen der feindlichen
Kriegsgefangenen in Deutschland. Er verfügt über 114 Fälle, von denen das Jugend-
Irresein mit 77 Fallen den Hauptanteil hat. An zweiter Stelle folgt die Paralyse mit
11 Fällen. Spliedt hat auf Grund seiner Tätigkeit nicht den Eindruck gewonnen,
daß die Kriegsgefangenschaft an sich den Ausbruch von geistigen Erkrankungen
bei den Gefangenen fördert.
Ruhemann (72) erstattete über den Selbstmord eines Unfallverletzten
■ein Gutachten, dessen Hauptfragen lauteten: 1. Ist nach Lage der Akten anzu¬
nehmen, daß der Verstorbene den Selbstmord durch Erhängen infolge geistiger
Gestörtheit in willenlosem, unzurechnungsfähigem Zustande begangen hat? 2. Be¬
jahendenfalls, steht diese Geistesstörung mit dem vor 17 Jahren erlittenen Betriebs¬
unfall in ursächlichem Zusammenhang? Er verneinte auf Grund seiner eingehenden
Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Selbstmord
und sprach sich dahin aus, daß eine Unzurechnungsfähigkeit infolge geistiger Ge¬
störtheit nicht Vorgelegen hätte.
Über einen ähnlichen Fall wie Ruhemann berichtet Engel (12). Auch er nahm
<bei seinem Falle keinen Zusammenhang zwischen Selbstmord und Betriebs¬
unfall an, da Lebensüberdruß nach der Entscheidung des Reichsversicherungs¬
amtes nicht als Unfallfolge anerkannt wird. Es muß der Beweis der Unzurechnungs¬
fähigkeit erbracht sein. Wenn jemand aber einen lange geplanten und öfter vor¬
bereiteten Selbstmord ausführt, so kann von einer im Zustande krankhafter Geistes¬
störung unter Ausschluß der freien Willensbestimmung vor genommenen Handlung
keine Rede sein.
3. Allgemeine Psychiatrie.
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(S. 69*.)
226. Zsaskö, St., Pupillenreaktion in bewußtlosem Zustande.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Orig.-Bd. 35, H. 5,
S. 539.
Allgemeines.
Adam (3). Dies in zwei Teilen erschienene Werk gibt die Vorträge wieder,
die das Zentralkomitee für das ärztliche Fortbildungswesen in Preußen im Oktober-
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Gr irnme, Allgemeine Psychiatrie.
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Dezember 1916 im Kaiser -Fr iedr ich-Haus in Berlin veranstaltet hat. Der erste Teil
umfaßt ln erster Linie die militärärztliche gutachtliche Tätigkeit auf dem Gebiete
der Nerven- und der psychischen Krankheiten, zu der Bonhoefler, Gaupp, Stier,
Oppenheim, Goldstein die Beiträge geliefert haben. Während der zweite Teil die
übrigen für die Begutachtung der Militärpersonen in Frage kommenden Krankheiten
behandelt. Diese Zusammenstellung der Vorträge ist mit Freuden zu begrüßen,
denn ihr Wert ist nicht für die militärische Begutachtung erschöpft, sondern geht
durchweg weit über sie hinaus, so daß auch jeder praktische und Facharzt sie als
Nachschlagewerk benutzen kann.
Becker (18) beobachtete bei einem soeben gestorbenen Paralytiker ein leichtes,
vibrierendes Zucken in der lateralen Hälfte des linken Augenlides und stellt fest,
daß die Zeichen des Lebens nacheinander aufhören, daß Atmung und Herztätig¬
keit fast nie gleichzeitig aufhören, und daß sie nicht die alleinigen Zeichen des Lebens
sind. Vitale Erscheinungen können Atmungs- und Herzstillstand überdauern (Mund¬
öffnungsbewegungen bei den Köpfen Hingerichteter).
Becher (19). Becken Schrift kann jedem Anfänger sehr empfohlen werden
Ebenso eignet sie sich aber auch für das Pflegepersonal; denn sie gibt in recht ver¬
ständlicher Form einen guten Überblick darüber, wie man mit Geisteskranken ve: -
kehren soll und wie nicht.
Beckers (20) „Briefe an Angehörige von Geisteskranken“ können den An¬
fängern im Fach empfohlen werden. Denn sie zeigen, wie man aufklärend und
beruhigend die zum Teil überaus unglücklichen und zum Teil uns nicht gut ge¬
sinnten Angehörigen beeinflussen soll. Wenn solche Briefe auch nicht geschrieben
werden, so kann man sich doch in den mündlichen Besprechungen mit den Ange¬
hörigen nach ihnen richten.
Becker (22). Schilderung der Unterschiede zwischen den Psychosen bei
Männern und Frauen. Dieser Unterschied ist größer, als es beim ersten Hinschauen
der Fall zu sein scheint. Es ist einmal die Art der Erkrankungen eine verschiedene;
denn bei den Männern kommen mehr Alkohol- und Luespsychosen, bei den Frauen
mehr Erkrankungen an manisch-depressivem Irresein vor. Ferner weist die Aus¬
gestaltung der Psychosen und das Verhalten der Kranken im Verkehr mit der Um¬
gebung Unterschiede auf.
Bleuler (25). Unter dem Titel „unbewußte Gemeinheiten“ hat Bleuler einen
Vortrag erscheinen lassen, in dem er mit herzerfrischender Deutlichkeit die Sünden¬
geiß eit, die sich der eine gegen den andern zuschulden kommen läßt. Es bekommt
ein jeder sein Teil ab, der einzelne, die Gesellschaft und der Staat mit seinen Ge¬
setzen. Die Schrift hat schon die dritye Auflage erlebt, ein Beweis, wie sehr Bletders
Worte gezündet haben. Ein jeder lobt solche Bücher; aber ob sich jeder nach ihnen
richten wird? Im allgemeinen begnügt man sich damit, die Splitter im Auge des
lieben Nächsten zu sehen.
Freud (53). Von Freuds Psychopathologie des Alltagslebens ist eine fünfte,
vermehrte Auflage erschienen. Sie umfaßt jetzt 232 Seiten. Die Einteilung ist
die gleiche geblieben; stark erweitert sind aber die Ausführungen und die Belegung
der Ausführungen durch Beispiele. Die Aufgaben sind ziemlich schnell hinterein-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
ander gefolgt, ein Beweis, wie sehr das allgemeine Interesse sich den Fretsi sehen
Deduktionen zugewandt hat. Es ist eben ein Werk, an dem niemand vorüber gehen
kann, der überzeugt ist, daß es „nichts Willkürliches, Undeterminiertes im Psychi¬
schen gibt“, und der bestrebt ist, dem mancherlei Auffälligen und anscheinend auch
Unbegreiflichen in unserem alltäglichen Denken, Tun und Lassen genauer nach¬
zuspüren. So ist das Buch für jeden psychologisch Interessierten und nicht allein
für Psychiater bestimmt. Es ist zwar vieles der Ausführungen Freuds je nach der
Stellung, die der einzelne der psychoanalytischen Forschung entgegenbringt, auf
Widerspruch gestoßen, und wird auch fernerhin Widerspruch erregen; doch bleibt
das Buch in seiner Gesamtheit ein Fortschritt in der Erkenntnis unseres psycho¬
logischen Wissens.
Friedländer (54) gibt seine Erfahrungen über die durch den Krieg bedingten
psychischen und nervösen Störungen Seine Voraussage, daß auch die gesund ge¬
bliebenen Kriegsteilnehmer längere Zeit brauchen werden, bis sie sich wieder an
die gleichmäßige, bürgerliche Arbeit gewöhnt haben, ist leider eingetroffen, auch
wenn man von dem Einfluß der Revolution absehen will. Er befürchtete auch eine
gewaltige Zunahme der Nervenstörungen nach dem Kriege und redet deshalb einer
energischen Prophylaxe, die sich zunächst auf die Geschlechtskrankheiten und den
Alkoholismus zu erstrecken hat, das Wort. Ausführliche, mit Beispielen belegte
Hinweise schildern den Gang der Untersuchung und die Behandlung, namentlich
ihre psychologische Seite. Ein besonderes Kapitel wird der Begutachtung gewidmet.
Fuchs (56). Allgemeine Bemerkungen über Schädel- und Gehirngröße und
über das Wachstum vom Schädel und Gehirn. Schädelsynostose und Wachstums¬
kümmerlichkeit des Gehirns können beide primär sein. Bei der Beurteilung der
Kopfgröße sind einwandfreie Grenzzahlen nicht zu verlangen. Ebenso kann das Ge¬
hirnmindestgewicht in gewissen Grenzen schwanken.
Fuchs (57) hat seit Jahren persönlich nach eigener Methode Messungen an
den Schädeln der Kranken vorgenommep und nach ihrem Tode die Gewichte der
Gehirne festgestellt, um Beziehungen zwischen Intelligenz und Schädelgröße und
* Gehirngewicht aufzudecken. Er hat solche 'Beziehungen zwischen der Schädelgröße
und Gehirngröße festgestellt; doch handelt es sich nur tun Wahrscheinlichkeiten.
Ebenso bestehen Beziehungen zwischen Kopfgröße und Intelligenz; die soziale Pro¬
gnose der Psychosen soll bei größeren Schädelmaßen besser sein; gute Stirnschädel¬
maße sollen auf gute intellektuelle Anlagen im Sinne der Lebhaftigkeit, des Eifers,
der Phantasie hindeuten, während gute (Jinterhauptmaße für Zähigkeit, ruhiges
Wollen und Energie sprechen sollen.
Fuchs (58). Unter den Ursachen des Weltkrieges hat als Folge des zu lang
ausgesponnenen Friedens eine zugespitzte, fast blutdürstige seelische Spannung mitge¬
wirkt. Deshalb erzeugte der Kriegsausbruch, von jeher von abnormer Erregung
begleitet, diesmal eine besonders abwegige Mentalität. Die Anfangsbegeisterung war
ebenso ephemer, wie es .die Abspannung sein wird, die jetzt z.B. in den ewigen
Friedensangeboten sich symptomatisiert. Die Pazifisten sind Querulanten oder
psychisch Minderwertige.
Jene Stimmungsextreme sind beide ungeeignet als Basis für politische Maß-
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Grimme, Allgemeine Psychiatrie.
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nahmen, die die Zukunft festlegen. Die Weltgeschichte warnt vor romantischer
Psychologie. Der Staatsmann darf kein* Momentmedium sein. Ein voller Tropfen
Psychiatrie mangelt der Achse unserer Politik.
Dem Fürsten geben Tradition und Intuition die Fähigkeit, klarer zu sehen
als seine Beamten: die Farbe des Purpurs ist für die politische Netzhaut gesunder
als die Farbe des grünen Tisches.
Gaapp (59). Im Anschluß an die Bestimmung des Begriffes Konstitution
durch J. Bauer und Tandler gibt Gaapp eine klinische Schilderung des Begriffes
psychopathische Konstitution. Die individuelle Körperverfassung wird gebildet
durch die Summe der durch das-Keimpla9ma übertragenen Eigenschaften und der
Summe der intra- und extrauterinen Erwerbungen, Beeinflussungen und Anpassun¬
gen des Organismus. Die Konstitution ist angeboren, in ihrem Grundwesen unab¬
änderlich und im Leben nur wenig modifizierbar. Klinisch ist von Bedeutung, daß
die angeborene Konstitutionsanomalie keineswegs eine Krankheit ist, daß sie sich
oft erst recht spät unter den Einwirkungen besonderer Umstände bemerkbar macht,
daß man also von einer latenten Disposition sprechen kann. Ferner ist sie bisweilen
durch das ganze^Leben hindurch stationär. Sie ist vererbt oder durch Keimfeind¬
schaft entstanden; doch ist die Unterscheidung zwischen vererbter und der ange¬
borenen, aber intrauterin erworbenen Krankheitsanlage nicht immer möglich. Bei
schwer erblicher Belastung kommt es nicht selten infolge periodischer Steigerungen
zur Psychose. Die Symptomatologie läßt bestimmte Typen und Unterformen unter¬
scheiden.
' Gereon (60). Ausführliche psychologische Untersuchung über die Entstehung
und das Wesen von Schmerz und Schreck. Die Bewegungen, die bei lebhaftem
Schmerz ausgeführt werden, sind Abwehrbewegungen, die unbewußt und unwill¬
kürlich ausgeführt und durch einen nervösen Mechanismus erzeugt werden, der
Schmerzmechanismus genannt wird, weil er durch schmerzhafte Reize ausgeführt
wird und mit dem Schmerzgefühl verknüpft ist. Der Mensch hat ihn von den Tieren
ererbt. Auch der Schreck beruht auf einem nervösen Mechanismus, der sogar Be¬
wußtlosigkeit herbeiführen kann. Auch er ist ein Erbe unserer tierischen Vorfahren.
Er wird wie bei den Tieren ohne vorstellendes Bewußtsein ausgeübt. Die Erscheinun¬
gen, die der Schreckmechanismus bei den Tieren hervorruft, gleichen auffällig denen,
die beim Menschen auftreten. Schmerz und Schreck stehen in ursächlichem Zu¬
sammenhänge miteinander. Der Schreckmechanismus hat sich in aufsteigender
Tierreihe durch das Angstgefühl als Bindeglied im Anschluß an den Schmerzmecha¬
nismus entwickelt. Die Tiere, die den Schreckmechanismus bes i tzen, sind auch fähig,
den Schmerz bewußt zu fühlen. Man kann annehmen, daß von den Anthropoden an
der Schmerz bewußt gefühlt wird.
Die genaueren Ausführungen müssen im Original nachgelesen werden.
Gereon (61). Der Verf. hat sich 'die Aufgabe gestellt, die wechselseitigen Be¬
ziehungen der Geschlechter zueinander und das Verhalten jedes Teiles zur Zeit der
Geschlechtsreife und des Begattungsaktes zu beleuchten und phylogenetisch zu er¬
klären. Besprochen werden »der Kampf der Geschlechter", „die Brunstreflexe“,
„das Geschlechtsgefühl“, „das Weinen und Lachen". Zu den Brunstreflexen werden
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
die unbewußten und unwillkürlichen Bewegungen gerechnet, die Geschlechtsreize
bei Tieren und«Menschen hervorrufen, also das, was an Stelle der Kämpfe getreten
ist, die Scheinkämpfe, das Liebesspiel, die Balzbewegungen. Auch der Kuß und.
der Tanz, ferner der Ursprung der Musik und der Sprache werden mit dem Brunst¬
reflex in Beziehung gebracht. In dem Kapitel über das Geschlechtsgefühl wird die
Entstehung der Wollust aus dem Liebesschmerz zu zeigen versucht. Auch das
Weinen und Lachen wird als Brunstreflex erklärt, und es wird geschildert, wie das
Lachen aus einem dem Weinen ähnlichen Brunstreflex entstanden sein soll.
Graudcnz (64). Allgemeine Übersicht über die Entartungszeichen unter
Schilderung eigener Fälle.
Grünbaum (66). Psychologische Bemerkungen zu einem Erlebnis, in dem
eine komplizierte Wahrnehmung trotz der peripheren Empfindungskomponente nur
als Vorstellung bewußt wurde.
Szymon Hern (75) hat Tintenkleckse in ihren verschiedensten Formen Schul¬
kindern, normalen Erwachsenen und Geisteskranken vorgelegt und sie zu Deutungen
der Kleckse veranlaßt, um auf diese Weise einen Einblick in das Walten der Phantasie
zu bekommen. Die verschiedenartige Beeinflussung der Phantasie je nach dem Alter,
dem Geschlecht, dem Charakter und der ganzen Lebensauffassung, der sozialen
Stellung, dem allgemeinen Gedankenkreise, dem Beruf usw. tritt deutlich hervor.
Hinrichsen (76). Dieses Schriftchen des Schweizer Psychiaters gehört zu den
besseren von all den vielen Schriften, die den Seelenzustand der kämpfenden Völker
zum Inhalt haben. Es ist gewandt und temperamentvoll geschrieben und schildert
die Massensuggestion, und wie die Volksstimmungen entstehen, recht anschaulich’
'Magnus Hirschftlch (78) Sexualjjtathologie dürfte berufen sein, den Platz von
Kraft Ebings .Psychopathie sexualisr einzunehmen. Es ist ein aus der ganz außer¬
ordentlich reichen Erfahrung des Verf. entstandenes Werk; es ist, wie er in der Ein¬
leitung selbst sagt, nicht in der Schreibstube, sondern im Sprechzimmer entstanden.
Dies merkt man dem Buche bei der Lebendigkeit der Darstellung auf jeder Seite an;
dazu kommt, daß das Buch infolge der Einteilung des Stoffes, der ein systematisches
Vorgehen zugrunde liegt, einen überaus einheitlichen Eindruck macht. Die innere Sekre¬
tion, die nicht nur in ihrer Bedeutung, sondernauch tatsächlich zu Kraft EbingsZtitien
noch unbekannt war, oder vielmehr die Störung dieses inneren Chemismus durch¬
zieht als Leitmotiv das ganze Buch. Zuerst wird der angeborene und erworbene
Geschlechtsdrüsenausfall behandelt. Dann folgt der Infantilismus, d.h. das Stehen¬
bleiben auf kindlicher Entwicklungsstufe. Hieran schließt sich die Frühreife. Im
4. Kapitel werden die Störungen in dem Entwicklungsjahre behandelt; im 5., einem
groß angelegten Abschnitt, die Onanie in ihrem Wesen, ihrer Erscheinungsform und
ihrer Behandlung, und endlich im 6. Kapitel das Verliebtsein in den eigenen Körper,
der sogenannte Automonosexualismus. Abbildungen und Krankengeschichten ver¬
vollkommnen die Darstellung, die durchweg so gehalten ist, daß der Wunsch, es
möchte auch der andere Teil des Werkes bald erscheinen, sehr rege wird.
Horstmann (84) kommt in seinen Untersuchungen über die psychologischen
Grundlagen des Negativismus zu folgenden Ergebnissen. Als disponierend wirken
eine Herabsetzung der Urteilsfähigkeit, ferner gewisse Einflüsse der Stimmung, die
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Grimme, Allgemeine Psychiatrie.
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Gegensätzlichkeit im Ablauf der Bewußtseinsvorgänge und die Neigung des Gefühls
zum Invertieren. Dagegen sieht er in dem Kontrasthunger ein aktiv wirksames
Prinzip. Der Negativismus mäßigen Grades ist physiologisch und hilft die Persönlich¬
keit bilden; er ist aber ein Ausdruck einer Störung im Ausgleich der Strebungen und
Kontraststrebungen und findet sich bei allen psychischen Schwächezuständen, die
eine intrapsychische Ataxie zeigen.
Jentsch (88). Es ist immer ein sehr anerkennenswertes Unterfangen, psychi¬
schen Störungen hervorragender oder nach irgendeiner Richtung ihrer Veranlagung
hin auffallender Persönlichkeiten nachzugehen; doch ist die Aufgabe aus leicht be¬
greiflichen Gründen vielfach eine äußerst schwierige und muß häufig eine unvoll¬
kommene bleiben. Man wird auch die Untersuchungen Jentschs über Linggs Krank¬
heit dankbar begrüßen; es bleibt aber zweifelhaft, ob man seiner Auffassung über die
Erkrankung als ein neurasthenisches Irresein überall zustimmen wird.' Doch soll
eine solche Verschiedenheit in der Auffassung die Beurteilung der Arbeit nicht
beeinträchtigen.
Jentsch (89). Ausführlicher geschichtlicher und klinischer Überblick über die
Lehre von den Degenerationszeichen, ihre Beziehungen zu anatomischen Varietäten,
zu den Mißbildungen, zur Pathologie. Viele Entartungszeichen äußern sich als
Störungen in der morphologischen Entwicklung; es liegt ihnen eine „Gleichgewichts¬
störung der Trophik“ zugrunde. Diese können $ich als Ähnlichkeiten vererben,
insofern als nur die abnorme Anlage als Prinzip bleibt und ihre Äußerungen bald
diesen, bald jenen Körperteil befallen und verschiedene Formen annehmen können.
Auch über das morphologische Gebiet hinaus ist der Entartungsbegriff auf Vorgänge
übertragen, die in das physiologische Gebiet gehören, z. B. auf die Linkshändigkeit,
Stottern und Schielen, weiter auf die Tics, die Reflexanomalien, das Zittern. Die
Beziehungen zwischen den Degenerationszeichen und der Nervenpathologie sind
noch zu wenig erforscht, um allgemeine' klare Einblicke zu gewähren. Sichere Schlüsse
auf spezielle Diagnose und Prognose der Nerveg- und Geisteskrankheiten können
noch nicht gezogen werden.
v..Kemnitz (96) greift mit einem tief angelegten Werke in die Frauenbewegung
ein. Sie will der Frau zu ihrem Rechte verhelfen und die für die Allgemeinheit
nützlichen Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts für den Staat auch benutzt wissen.
Doch erblickt sie einen Fehler der bisherigen Bestrebungen darin, daß das wirkliche
Können des Weibes, wie es sich aus der besonderen geistigen Veranlagung, aus den
Eigentümlichkeiten des Intellektes, des Affektes, der Phantasietätigkeit, des Inter¬
esses, des Urteilens, des Gedächtnisses, des Gefühlslebens, des Willens usw. ergibt,
nicht zug unde gelegt ist. Das Weib ist nicht minderwertig und auch dem Manne
nicht gleich, sondern es bestehen große Unterschiede zwischen männlicher und
weiblicher Veranlagung. Bis jetzt sind wenige Fähigkeiten des Weibes verwertet^
und dadurch hat sich Staat und Familie viel entgehen lassen; andrerseits würde es
aber auch zu einem Mißbrauch der-Frauenkraft kommen, wenn bei der Erweiterung
der weiblichen Arbeitsgebiete nur von der Gleichberechtigung der Geschlechter
ausgegangen würde. Deshalb gibt v. Kemnitz in dem ersten Hauptteil „Die Ergeb¬
nisse der wissenschaftlichen Forschung über weibliche Eigenart“ wieder, bespricht
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60* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
in dem zweiten Hauptteile „Die Anwendung der Forschungsergebnisse zur Erklärung
der Vergangenheit“ und kommt zuletzt auf die Forderungen, die sieb hieraus auf
die „Entwicklung und Betätigung der Frau* ergeben, v. K. sucht sich einer gerechten
Würdigung der physiologischen Tatsachen zu befleißigen, und das Werk wird gerade
in dieser Zeit, die der Frau wenigstens die politische Gleichberechtigung gebracht
hat, fraglos größten Anklang finden.
Loevoenfdd (120) schildert den enormen Einfluß, den die Suggestion, mit deren
Hilfe es unseren Feinden gelang, die ganze Welt gegenuns*aufzuhetzen, gehabt hat,
und zeigt das Wirken der Suggestion an vielen Beispielen. Nach einer Veranschauli¬
chung des Wesens der? Suggestion und der Suggestibilität wird die Suggestion in
der Politik, unter den Kriegsursachen, im Verlaufe des Weltkrieges, ferner in der
Antwortnote des Verbandes auf das deutsche Friedensangebot und in dem, was die
Gegner von dem deutschen Imperialismus und Verwandtem zu sagen wußten,
geschildert. U. a. lernt man erkennen, welche suggestive Kraft die Benennung Wilsons
als den Friedenspräsidenten, ferner für Frankreich die Revancheidee und für England
der Glaube, von Gott zur Weltherrschaft berufen zu sein, und für Rußland die angeb¬
liche Notwendigkeit, Konstantinopel zu besitzen, gehabt hat. Außerordentlich zahl¬
reich und zutreffend sind ferner die Beispiele für die Suggestion im Verlaufe des
Krieges. So bringt das Werk durchweg ein volles Verständnis für so viele Erscheinun¬
gen, die zunächst nicht erfaßt werden können. Es ist aber nicht nur die interessante
Wissenschaft, die den Leser an das Buch fesselt, sondern auch die überall durch¬
klingende Vaterlandsliebe, die die Gefahren der feindlichen Suggestion und die uns
zugefügte Schmach richtig und rechtzeitig erkannt hat. Hätten wir Deutschen uns
doch dieses Mittels bedient und bedienen können.
Lubarsch (122). Kurzer Überblick über die Bedeutung Virchotos und Orths
für die pathologisch-anatomische Wissenschaft. Die wesentliche Aufgabe der Patho¬
logie wird für die Zukunft sein, die Beziehungen zwischen Krankheiten, den Krank¬
heitserscheinungen und den krankhaften Verändei ungen des Organismus festzu¬
stellen. Es ist dies eine Aufgabe, die sowohl grundsätzlich als auch für den Einzelfall
erhebliche Schwierigkeiten machen kann, denn die Ansichten über die pathologische
Bedeutung ganzer Gruppen krankhafter Veränderungen gehen noch auseinander und
haben im Laufe der Zeiten erhebliche Wandlungen erfahren. Lubarsch weist hierfür
auf die Lehre von den Verfettungen und Amyloidablagerung hin. Zur Erreichung
dieses Zieles müssen alle Hilfswissenschaften und Methoden der biologischen For¬
schung herangezogen werden. Inniges und vertrauensvolles Zusammenarbeiten
zwischen Klinikern und Pathologen ist nötig. Auch die Fragen der Disposition und
Konstitution spielen eine große Rolle. Eine weitere Aufgabe der pathologischen
Forschung ist die nach der Gewinnung eines zuverlässigen Urteils über die Richtig¬
keit des ärztlichen Handelns aus dem Leichenbefund.
E. Mojer (129). Voraussetzung für die Entstehung der psychischen und
nervösen Krankheiten ist die Krankheitsanlage.
Märchen (137) faßt die nach einer spezifischen Schockwirkung im Schützen¬
graben auftretenden Innervationsstörungen unter der Bezeichnung „Innervations¬
schock** zusammen und unterscheidet einen primären und einen sekundären Innerva-
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Grimme, Allgemeine Psychiatrie.
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tionsschock. Den primären vergleicht er mit dem Zustande, in dem sich ein unter
dem Zwange einer posthypnotischen Suggestion stehender Mensch befindet. Es
handelt sich um einen krankhaft veränderten Geisteszustand, bei dem man auch
häufig psychische Defekte der Merkfähigkeit, des Auffassungsvermögens und der
Ansprechbarkeit festgestellt hat. Diese Zustände werden von den Kranken selbst
häufig als ein Gefühl unwiderstehlichen Zwanges empfunden. Eine Mitwirkung des
bewußten und unterbewußten Denkens spielt bei ihrer Entstehung keine Rolle.
Unter dem Einfluß solchen Denkens entwickelt sich der sekundäre Innervations¬
schock. Beide Fdrmen können ineinander übergehen; die sekundäre Form kann
aber auch ohne vorangegangene primäre Störungen oder längere Zeit nach ihrer
Abheilung entstehen. Ihr Wesen ist eine psychogene Fixierung der Schockwirkung,
bei der weniger bewußte Strebungen und Wünsche als Verdrängungen eine Rolle
spielen. Deshalb wird auch der Ausdruck „Zweckneurose“ vermieden.
Placzek s (146) „Freundschaft und Sexualität“ erscheint in der dritten und
erweiterten Auflage. Es ist also innerhalb Jahresfrist eine neue Auflage nötig geworden,
ein Zeichen, daß die Schrift Anklang gefunden hat. Die Erweiterung besteht in der
Aufnahme der Kapitel „Freundschaft, Lehrer und Erzieher“ und „Sokrates und
Alcibiades“. Namentlich das erste dieser beiden Kapitel wird von allen in der Jugend¬
erziehung tätigen Personen mit Interesse gelesen werden, denn es läßt mit einer
wortgetreu wiedergegebenen Abhandlung einen im Kriege gefallenen Lehrer zu Worte
kommen. Dbnit wird ein neues Gebiet menschlichen Zusammenlebens, in dem
freundschaftliche und sexuelle Beziehungen eine Rolle spielen, berührt.
Raeckfi (150). Eine Entgegnung auf Jtmgs Schrift „Der Inhalt der Psychose“,
in der Jung etwas einseitig die psychologische Forschungsmethode gegenüber den
anatomischen Bestrebungen in den Vordergrund stellt.
Ribbert (153). Man ist nicht in der Lage, die Entstehung der erblichen, krank¬
haften Veränderungen, der scharf umgrenzten sowohl wie der konstitutionellen
Anomalien, zu erklären. Die Menschheit ist im weitesten Maße mit ihnen durch¬
setzt; sie sind wahrscheinlich nicht durch nachteilige Einflüsse auf Keimzellen
irgendwelcher Entwicklungsstufen entstanden, sondern haben sich unmerklich wie
alle normalen Eigenschaften allmählich herausgebildet. Es ist eine über ungezählte
Generationen sich ununterbrochen erstreckende Vererbung.
Schaffer (159). Nach einer literarischen Übersicht über die Theorien der
Furchenbildung des Gehirns kommt Schaffer zu'dem Schluß, daß infolge von Wachs¬
tum im Hemisphäreninneren eine Spannung auftritt, die abwechselnd in saggitaler
bzw. transversaler Richtung wirkt, als lokaler Reiz dient, die lokale Randschleier¬
veränderung entstehen ließe, die ihrerseits zunächst zur Grübchen-, dann zur Furchen¬
bildung führt und so das Entstehen der konstanten Furchen bewirkt. Die inkon¬
stanten Furchen werden daneben durch Vererbungsmomente bestimmt. Der Fur¬
chungsprozeß muß als Einkerbung und nicht als Fältelung aufgefaßt werden.
Schaffer (160). Nach einer kritischen literarischen Übersicht schildert Schaffer
am Gehirn eines fünfmonatigen Fötus die normale Hirnfurchung. Im zweiten Teile
wird im Anschluß hieran die pathologische Rindengestaltung unter Beschreibung
von zwei Fällen von Mikrogyrie geschildert und wiederum_eine kritische Übersicht
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
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über die Pathogenese und Histogenese der Mikrogyrie gegeben. 16 Textfiguren
und 11 Tafeln veranschaulichen das Gesagte. Einzelheiten müssen im Original nach¬
gelesen werden.
Schroeder (167) bestreitet, daß die Psychiatrie in der Diagnostik so weit hinter
der inneren Medizin zurück sei, da die innere Medizin, sobald nur die Erkrankungen
einzelner Organe in Frage kommen, auch nur sehr wenige scharf abgrenzbare Krank¬
heiten kenne und in vielen Fällen, z. B. bei den Erkrankungen der Nieren, mindestens
die gleiche, wenn nicht gar sehr viel mehr Unsicherheit und Unbestimmtheit erkennen
lasse wie die Psychiatrie.
J. H. Schultz (170) gibt eine kritische Einführung von Freuds Sexualpsycho¬
analyse, die für Gerichtsärzte, Arzte und Laien bestimmt ist; sie soll den Weg zur
selbständigen Beurteilung und zum näheren Studium der Psychoanalyse erleichtern.
Man muß es Schultz zu Dank anrechnen, daß er sich dieser Mühe unterzogen hat,
denn er gibt in knapper Form das Wesentlichste aus diesem für jeden Fernerstehenden
schwierigen Gebiete, so daß die Schrift jedem empfohlen werden kann, der sich mit
den psychoanalytischen Forschungen beschäftigen Will. Sie ist nicht nur ein Auszug
aus der Literatur, sondern stützt sich auf eine reichhaltige eigene Erfahrung.
Siebert (174) hat in der vom Verlag J. F. Lehmann in München herausgegebenen
Sammlung „Bücherei deutscher Erneuerung“ als drittes Heft unter dem Titel „Der
völkische Gehalt der Rassenhygiene“ ein 214 Seiten umfassendes Buch herausgegeben,
das allen denen sehr empfohlen werden kann, die sich über die Grundlagen unter¬
richten wollen, auf denen unser Vaterland wieder aufgebaut werden muß. Da die
Rassenbygiene oder die Stammespflege weitgehend von medizinischen und auch
psychiatrischen Gesichtspunkten bestimmt wird, ist die Besprechung des Buches
hier angezeigt. Der erste Teil, betitelt „Volkstum und Rassenpflege“, behandelt die
allgemeinen Fragen. Erfreulich klingt die Scheidung, die Siebert macht zwischen der
Weltanschauung, wie sie die französische Revolution mit der Predigt von der Gleich¬
heit aller Menschen bis heute noch herrschend gemacht hat und der, wie sie jeder
Stammespflege zugrunde liegen muß. Weiter wird besprochen „die Blutsgemein¬
schaft und die Auslese" in ihren Arten und Wirkungen, die Volkszahl und die Folgen
der Geburtenbeschränkung. In dem zweiten Abschnitt ,Die Stammespflege eine
völkische Aufgabe“ werden die praktischen Forderungen behandelt, wie sie die „Ge¬
sundheitspflege“ und „die aufbauende Stammespflege“ verlangen, und zwar besonders
die Mittel zur Hemmung des Sinkens der Geburtenzahl und die Mittel zur Rein¬
haltung des Blutes. Durch das ganze Buch geht das Bestreben, jedem einzelnen die
völkische Gemeinschaft wieder als das kostbarste Stammesgut erkennen zu lassen
und die Lehren der gleichmacherischen Demokratie in ihrer Schädlichkeit zu zeigen.
Siemens (177). Kurze, gemeinverständliche Darstellung der experimentdien
Erblichkeitslehre und Rassenforschung. Die Ergebnisse der vererbungswissen¬
schaftlichen Forschungen sollen weiten Kreisen zugänglich gemacht werden. Eine
Vorbedingung hierzu ist von Siemens damit erfüllt, daß er die fremdsprachlichen
Ausdrücke durch deutsche ersetzt hat. Wenn irgendwo diese Eigentümlichkeit, nur
fremdsprachliche Ausdrücke zu gebrauchen, zu Hause ist, dann ist es in der Erblich¬
keitsforschung der Fall. Das Studium wird dadurch für weite Kreise außerordentlich
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Grimme, Allgemeine Psychiatrie.
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erschwert. Die Siiemenssche Schrift liest sich sehr leicht und wird deshalb fraglos
<lazu beitragen, die Lehre der Rassenforschung weit im deutschen Volke zu verbreiten.
Sommer (185). In sehr interessanten Ausführungen untersucht Sommer im
Anschluß an die Gesamtausgabe der Schriften Friedrichs des Großen dessen schrift¬
stellerische Fähigkeit vom Standpunkt der Vererbungslehre; und zwar wird nicht nur
die Begabung selbst genetisch verfolgt, sondern es wird auch gezeigt, wie die be¬
sonderen Eigentümlichkeiten seines schriftstellerischen Ausdrucks auf einzelne Per¬
sönlichkeiten unter seinen Ahnen zurückgehen, von denen eine jede ihre besondere
Ausdrucksform gehabt hat. Friedrich der Große war für seine schriftstellerische
Begabung wesentlich aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg beeinflußt. Auf diese
Abstammung lassen sich aber auch noch weitere Charaktereigenschaften zurück¬
führen, z. B. sein Mißtrauen.
Stuchllk (195) demonstriert an dem Psychotherapie betreffenden Inhalt der
Reihehen „Rhapsodien“, wie die heute als besondere Formen der Psychotherapie
bekannten Lehren schon diesem alten Arzt bekannt und von ihm praktisch angewendet
wurden; auch Elemente der modernsten Psychoanalyse lassen sich konstatieren.
Die Grundlage der Tatsachen — trotzdem anderen wissenschaftlichen Jargons — und
-die Auffassung derselben ist damals die gleiche gewesen wie heute.
Jar. St uchllk (Rot-Kostdec).
Wienma (218) hat an Schulkindern Untersuchungen über die psychische
Nachwirkung, die dem Gedächtnis und der Übung zugrunde liegt, angestellt. Er
konnte den Einfluß der Übung feststellen und die Abhängigkeit des Gedächtnisses
von der psychischen Nachwirkung beweisen. Stärker anstrengende Arbeit beein¬
trächtigt die Nachwirkungen vorangegangener leichterer Arbeit. Ausführliche Ta¬
bellen veranschaulichen das Ergebnis der Untersuchungen. Die Einzelheiten müssen
im Original nachgelesen werden.
Ziehen (223). Von dem Ziehenschen Werke „Die Geisteskrankheiten des
Kindesalters“ ist jetzt die zweite Hälfte erschienen, die die Psychosen ohne Intelli¬
genzdefekt behandelt. Die Einteilung der Psychosen ist die gleiche wie in dem Lehr¬
buch von Ziehen, in I. einfache und II. zusammengesetzte Psychosen mit ihren be¬
kannten Unterabteilungen. Die Schilderung der einzelnen Krankheitszustände ist
«ine ausführliche, so daß sie dem nicht medizinisch und besonders nicht psychiatrisch
vorgebildeten Lehrer und Erzieher ein klares, verständliches Bild der Krankheiten
gibt. Der Hinweis auf praktische Fälle und die Wiedergabe kurzer Krankheits¬
geschichten erleichtern das Verständnis nöch mehr. Bei der großen Bedeutung für
das Kindesalter ist das, was Ziehen unter den Dämmerzuständen und unter Begleit-
-delirien zusammenfaßt, ferner die Geistesstörung aus Zwangsvorstellungen und die
mannigfachen Bilder der psychopathischen Konstitutionen besonders eingehend be¬
handelt. Der Arzt wird die Anführung der Literatur, die sogar durch einen Anhang
noch vervollständigt ist, dankbar begrüßen.
Das Werk umfaßt 274 Seiten und kostet 11,50 M.
Diagnostik.
Auerbach(8). Gordonsche Zehenphänomen. Tiefer Druckmitden Fingern II—V
«iner oder beider Hände auf das distale Drittel der Wadenmuskulatur erzeugt bei
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Affizierung des Tractus cortico-spinalis eine träge, isolierte DorsaHkktion der großen
Zehe. Sie wurde gefunden bei multipler Sklerose, Lues cerebrospinalis, Meningo¬
myelitis luetica, multiplen Karzinommetastasen, Luxation der unteren Dorsal- und
oberen Lendenwirbelsäule, Granatsteckschuß im rechten Stirnlappen u. a.
Bäumler (11). Beschleunigung des Pulses in der Hypnose und sofortige Rück¬
kehr der normalen Pulszahl nach Aufhören des hypnotischen Zustandes. Keine
affektive Beeinflussung.
Böhme (27). Es handelt sich um einen Reflex, der in Seitenlage des Kranken
geprüft wird. Das unten liegende Bein wird-in Strecksteilung, das oben liegende
in Beugestellung gebracht und mit der Hand ein wenig unterstützt. Wird jetzt'die
Sohle des unten liegenden, gestreckten Beines durch Stechen oder Streichen gereizt,
so daß es reflektorisch in'Beugestellung gerät, so streckt sich gleichzeitig oder etwas
später das oben liegende, in Beugestellung befindliche Bein. Der Reflex!tritt"auf 4 bei
Erkrankung der Pyramidenbahn.
Bonhoeffer (31). Entgegnung auf die Kritik an der von ihm aufgesteilten
exogenen Reaktionstypen. Specht gegenüber hält B. daran fest, daß das Vorkommen
einfacher Depressionen aus exogener Ursache zum mindesten eine Seltenheit ist.
Bei den Dämmerzuständen nach Alkohol und bei Delirien bei Fieber, die nach
Spechts Meinung wohl exogen ausgelöst, aber endogen begründet sind, ist B. in teil¬
weiser Anerkennung des Specfaschen Standpunktes bereit, als Erklärung für die
innere Konstellation ein autotoxisches Agens anzunehmen, das exogen in seinem
Sinne wirken könne. Doch räumt B. ein, daß sich bei solchen Zuständen die Ab¬
grenzungsmöglichkeit des Exogenen und Endogenen verwische. Auch die Specht -
Anschauung, daß die exogenen Reaktionstypen nur Steigerungen des endogenen
Krankheitsprozesses beim manisch-depressiven Irresein sein sollen, bestreitet B.
unter Hinweis darauf, daß solche Zustände nur nach arteriosklerotischen Insulten
und nach somatischen Störungen anderer Art aufgetreten sind. Es kann sich auch
nicht bei jeder endogenen Psychose jedes beliebige exogene Zustandsbild einschieben.
Auch der Auffassung Knauers, der durch die Aufstellung einer Gelenktheumatismus-
psychose, die Ansicht Bonhoeßers, daß bestimmten Noxen ein spezifischer psychoti¬
scher Typus nicht entspräche, widerlegen zu können glaubt, wird widersprochen.
. Fließ (52) hat beobachtet, daß ein Symptomenkomplex, bestehend aus Hinter¬
hauptsschmerz und Schmerzeri in den Beinen, die auf den Ischiasnerven zu beziehen
sind, anfallsweise auftretendes Mattigkeitsgefühi und Störungen des Denkens im
Sinne vermindertet Konzentrationsfähigkeit auf eine Hypofunktion der Hypophysis
zurückzuführen sind. Diese Störungen finden sich namentlich bei Frauen und
schließen sich vielfach an Schwangerschaften an. Gelegentlich stehen sie auch in
Verbindung mit Störungen, die von der Funktion der Schilddrüse abhängig sind.
Zuführung von Hypophysentabletten Ix achten die Beschwerden zum Verschwinden.
Gregor (65) macht unter Hinweis auf sein ausführliches, noch im Erscheinen
begriffenes Werk Mitteilung von den Ergebnissen seiner mehrjährigen Beobachtung
von annähernd 1500 Fürsorgezöglingen, die in dem Heilerziehungsheim Kleinmeus¬
dorf bei Leipzig beobachtet waren. G. hebt dabei zwei verschiedene Typen unter
seinen Zöglingen hervor; einmal solche Fälle, bei denen djpVerwahrlosung ziemlich
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Grimm e, Allgemeine Psychiatrie.
65*
plötzlich mit einer förmlichen Umwandlung des Individuums einsetzt und einen
mehr episodischen Charakter hat, und im Gegensatz hierzu Fälle, in denen die Ver¬
wahrlosung sich aus kleinen Anfängen langsam entwickelt und die tief angelegte
Neigung zu unmoralischem Handeln allen Erziehungsversuchen zum Trotz erhalten
bleibt. Die ersten nennt er die moralisch Schwachen und die anderen die moralisch
Minderwertigen. Bei den moralisch Schwachen setzt die Verwahrlosung vielfach
in den kritischen Entwicklungsphasen, nämlich in der Zeit der Vorpubertät im
12. Lebensjahre oder in der Pubertät ein und ist von auffälligen Änderungen der
psychischen Persönlichkeit, die an Symptome der Dementia praecox erinnern, be¬
gleitet. Ferner spielen bei ihnen exogene Einflüsse eine große Rolle, während bei der
Gruppe der moralisch Minderwertigen endogene Einflüsse in den Vordergrund treten.
Diese beiden Typen werden nach der einen Seite hin ergänzt durch Fälle, die G. als
moralisch intakt bezeichnet, und nach der anderen Seite hin durch sogenannte asoziale
Typen. Endlich unterscheidet G. noch Fälle mit moralischer Indifferenz, bei denen
die Vergehen die Folge eines krankhaften psychischen Mechanismus sind und bei
denen die Verantwortlichkeit infolgedessen aufgehoben ist.
Hoche (79) gibt die Beobachtungen wieder, die er an der Bevölkerung der
Stadt Freiburg bei den wiederholten Fliegerangriffen machen konnte. Bemerkens¬
wert ist die Gewöhnung, die alsbald bei einem großen Teil der Bevölkerung eintrat
Schwer wirkt die Passivität des Erduldens, namentlich dann, wenn die Spannung
und Erwartung durcn Hören des Herankommens der Bombe verschärft wird. Psychi¬
sche Schädigungen, die zur Aufnahme in die Klinik hätten führen müssen, sind nicht
aufgetreten. Mit zunehmendem Alter wurde die Widersiandsfähigkeit gegen die
nervösen Eindrücke besser, im höheren Alter wohl deshalb, weil die mit dem Altern
verbundene Unerregbarkeit einen Schutz bildete. Der Einfluß auf die Kranken der
Klinik war gering. Gewisse psychopathische Persönlichkeiten durchlebten die Er¬
eignisse in einer gewisäen Freudigkeit. Beträchtlich waren unter den Nachwirkungen
die Schlafstörungen vertreten. Die mit der Explosion verbundenen Luftdruck¬
schwankungen wurden wenig empfunden.
Hübner (85) bespricht die funktionellen Störungen, die bei der Beobachtung
von Kriegsteilnehmern und Unfallverletzten in der psychiatrischen Klinik Bonns
gemacht sind, ohne eine zusammenfassende Bearbeitung des reichen Materials geben
zu wollen. Eine Differenzierung der Krankheitsbilder nach Ursachen ist nicht
möglich. Bei der Entstehung von Neurosen wirken nicht allein Wunschvorstellungen
mit, sondern auch andere Faktoren. Man muß zwischen der Entstehung eines Sym-
ptomes und seinem Fortbestehen unterscheiden. Bei der Entstehung wirkt in erster
Linie die individuelle Reaktion des Betroffenen mit. Die bei den Kranken beob¬
achteten Erscheinungen haben auch Ähnlichkeit mit den Erscheinungen des Traum¬
lebens. Auch die „Einstellung“, die Situation, in der sich die Kranken vor Eintritt
des Geschehnisses befinden, spielt eine Rolle; ferner die „Hysterisierung“. Das Fort¬
bestehen der Symptome hängt von einer Unsumme von Einzelfaktoren innerer und
äußerer Art ab. Bei den Psychoneurosen werden eingehend die Schlafstörungen und
ähnliche, am Tage bei vollem Wachen eintretende Störungen geschildert, ferner die
episodisch sich einstellenden Schlafzustände und die Zwangserscheinungen. Von
Zeitschrift iflr Psychiatrie. LUV. Lit 6
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66* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Psychosen werden zunächst Dämmer- und Hemmungszustände geschildert und das
Hailuzinationsproblem, die Eigentümlichkeit, daß die gleichen Vorstellungen als
Halluzinationen, als Pseudohalluzinationen, als Träume und als Wachträumereien
auftreten können, besprochen. Weiterhin Krankheitsfälle, die gegenüber der Hebe»
phrenie mit ihrem läppischen Verhalten und der Paraphrenie und dem manisch»
depressiven Irresein abzugrenzen sind.
Isserlin (90) bespricht die psychischen und nervösen Erkrankungen, die er als
Stabsarzt im Reservelazarett München L beobachtet hat. Die Neurasthenie be¬
schränkt Isserlin auf die Erscheinungen, die in einer langer dauernden Übermüdung
und Erschöpfung körperlicher und seelischer Art ihre Begründung haben, während
er Krankheitszustände, die auf übermäßig starke Gefühlsvorgänge und Gemüts¬
erschütterungen zurückzuführen sind, von der Neurasthenie abtrennt und sie den
Schreck- oder Schockneurosen zurechnet, zu denen die Krankheiten zusammengefaßt
werden, deren Symptomatologie den Erscheinungen des normalen Ausdrucks starker
Gemütsbewegungen entspricht. Audi die einfachen Zittererscheinungen werden
hierher gerechnet. Die hysterischen Symptome werden aber deshalb von dieser
Gruppe abgetrennt, weil sie gänzlich T abnorme Bahnen des Ausdrucks dar stellen.
Bei dieser Einteilung handelt es sich nicht nur um Fragen der Nomenklatur, sondern
auch um solche der Prognose und um praktische Erfordernisse. Bei der Erörterung
der hysterischen Symptome wird in kurzer, aber verständlicher Form der Unter¬
schied zwischen thymogener’und ideagener Entstehungsweise klar gemacht. Die
Leh e Oppenheims von der traumatischen Neurose wird von /. nicht angenommen,
sondern es wird auf die oft recht deutliche ideagene und sich als Schutzmaßnahme
kennzeichnende Entstehungsweise hingewiesen. Unter den Depressionszuständen
konnte I. von den echten Depressionen manisch-depressiver Art solche abgrenzen,
deren gedanklicher Inhalt gänzlich von dem Kriegserleben'bestimmt war, und die er
als psychogene aufhißt. Eine Reihe von ihnen hatte paranoide Züge. Bei der Epi¬
lepsie konnte in einer Reihe von Fällen festgestellt werden, daß eine epileptische An¬
lage durch den Krieg geweckt wurde. Den Schluß der Arbeit bildet die Wiedergabe
der Ergebnisse psychologischer Untersuchungsmethoden und ein kurzes Eingehen
auf die Therapie.
Kohnstamm (106) berichtet über einen Soldaten, der nach einer Verschüttung,
der eine Bewußtlosigkeit gefolgt war, bei vollkommenem Fehlen aller Zeichen, die
auf Erkrankung bestimmter Bahnen oder peripherischer Nerven deuten könnten,
eine schwere Schädigung des retrograden Gedächtnisses und der Merkfähigkeit
erlitten hatte. Auch alle im engeren Sinne intellektuellen Funktionen waren erhalten.
Eis war wesentlich mehr das spontane als das lernende Merken gestört. [ Die alltäglich¬
sten Vorkommnisse wurden sofort wieder vergessen; nichts von dem alltäglichen
zufälligen Erleben wurde behalten. Dagegen wurden Merkprobleme, die ihm zum
Merken vorgelegt waren, besser behalten. Eine Hypnose brachte keine Besserung.
Wahrscheinlich handelte es sich um Kohlenoxydvergiftung, und es wird eine ähn¬
liche ausgedehnte Rindenschädigung angenommen, wie beim Korsakoff.
Mendel (128). Berichte über eigene, während des Feldzuges beobachtete, im
allgemeinen seltener vorkommende Fälle: 1. Motorische Amusie nach einem Kopf-
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Grimme, Allgemeine Psychiatrie.
67*
schuß in der Gegend des rechten Scheitelbeines und Obersicht über die bisher be¬
kannten Falle dieser Erkrankung. 2. Narkolepsie bei einem Grenadier; seit dem
18. Jahre bestehend. Der} Mann ist trotz seiner Erkrankung in vorderster Front
verwandt. 3. Hemianopsia inferior nach Kopfschuß. Einschuß auf der Hohe des
Schädeldaches in der Mitte und Ausschuß nach hinten und rechts davon. Lähmung
des linken Beines. 4. Polyneuritis nach Enteritis. 5. Poliomyelitis chronica lateralis.
6. Intermittierendes Blindwerden nach Fall auf den Hinterkppf. Es wird ein funktio¬
nelles Leiden angenommen. 7. Zerebellarer Symptomenkomplex + Hysterie.
•8. Chorea electrica (hysterische Form). 9. Besprechung der Kaufmannschen Methode.
E. Meyer (130). In dem großen Sammelwerke „Diagnostische und thera¬
peutische Irrtümer und ihre Verhütung** hat E. Meyer das zweite Heft „Psychiatrie“
bearbeitet. Der Überblick über unser Fach auch einmal von dieser Seite war geradezu
zu einem Erfordernis geworden. Die Bearbeitung durch Meyer wird jedem, auch dem
Fachkollegen, von größtem Nutzen sein. Namentlich sollte man seine Verbreitung
in den Kreisen der praktischen Ärzte wünschen; denn für diese sind unsere größeren
Lehrbücher oft zu lang und die kleineren meistens zu knapp gehalten; vor allen
•Dingen bieten sie aber nicht in dem Maße den Vergleich mit den andern Krank¬
heiten und den Hinweis auf die vielfachen diagnostischen Schwierigkeiten, wie sie
.dies Werk gibt, das in jedem Kapitel von der praktischen Erfahrung des Verf. Zeugnis
.ablegt. Eingeteilt ist der Stoff in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. In
diesem hat Meyer folgende Unterabteilungen: Dementia praecox. Originär para¬
noische Veranlagung. Manisch-depressives Irresein. Neurasthenie. Hysterie
(Psychogenie). Andere Formen der psychopathischen Konstitution. Imbezillität.
Alkoholische Psychosen. Morphinismus und Kokainismus. Symptomatische Psy¬
chosen bei körperlichen und Infektionskrankheiten. Traumatische Psychosen. Hirn¬
krankheit. Senile und arteriosklerotische Prozesse.
Oppenheim (143). Unter Wiedergabe ausführlicher Charakteristiken von
Neuropathen und Psychopathen beweist Oppenheim, daß es nicht nur eine psycho¬
pathische Minderwertigkeit, sondern auch eine psychopathische Höherwertigkeit
gibt. Seine Beispiele betreffen Persönlichkeiten, die mit vielen neuropathischen und
■psychopathischen Zügen behaftet sind, die aber nicht das sonst so vielfach vorhandene
Unausgeglichene 'in ihrem Seelenleben zeigen und intellektuell und namentlich
ethisch entschieden über dem Durchschnitt stehen; es sind Menschen mit einem
stark ausgeprägten Rechtssinn und Altruismus ohne egoistische Färbung un d mit
einem starken Gefühlsleben, die ihr eigenes Empfindungsleben nicht mit harten
Tatsächlichkeiten der Umwelt in Einklang bringen können und hierauf mit psycho¬
pathischen Erscheinungen antworten.
Peretti (144). Allgemeine Übersicht über die von ihm in dem ihm unterstellten
Vereinslazarett beobachteten 800 Nervösen und von 300 in der Anstalt Grafenberg
untergebrachten geisteskranken Soldaten. Nur 14 manische Zustände; 72 Depres¬
sionszustände, von denen aber mindestens ein Drittel psychogener Natur waren. Bei
diesen ist die Selbstmordgefahr nicht geringer anzuschlagen wie bei den Melancholien
im engeren Sinne. 160 Fälle von Dementia praecox, die nichts besonderesr^boten.
Kriegsdienstbeschädigung darf nicht von vornherein abgelehnt werden. Für die Er-
e*
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68*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
krankungen an hysterischen und psychogenen Störungen muß eine Disposition an¬
genommen werden. Eigentliche Erschöpfungspsychosen kommen nicht vor. Die Para¬
lyse tritt bei Kriegsteilnehmern nicht früher auf als bei der Zivilbevölkerung. Von
123 Epileptikern hatten 88 schon vor dem Kriegsdienst Anfälle gehabt.
Scheffer (162) bespricht die Entstehung der Verstimmungszustände bei Fugue
und Dipsomanie. Es ist zuweilen schwer, zu einem sicheren Anhaltspunkte über die
Ursachen der Verstimmungen zu kommen. S. belegt die9 mit zwei „negativen“
Fällen, d. h. Verstimmungszuständen, die nicht zum Trinken und Fortlaufen geführt
haben. Bei den anderen Fällen war der inaktive Charakter der Verstimmungen deutlich
nachweisbar; sie Werden von ihm nicht zur Epilepsie gerechnet.
Sighart (181) redet der Einführung eines Röntgenapparates in den Heil- und
Pflegeanstalten das Wort, indem er auf die Erleichterung der Diagnostik bei Lungen-
erkrankungen, bei Magen-Darmerkrankungen und bei Verletzungen am Skelett¬
system hinweist.
Stargardt (188) bringt eine Zusammenstellung der bisher in der Literatur zer¬
streuten Fälle von familiärer progressiver Makuladegeneration mit und ohne psychische
Störungen, denen er die von ihm selbst beobachteten Fälle anfügt, und gibt eine zu¬
sammenfassende Darstellung des Krankheitsbildes. Der Beginn fällt bei denFällenohne
psychische Störungen in das 12.—14. Jahr und bei den mit psychischen Störungen
um das 6. Jahr. Das Sehvermögen kann sich verschlechtern, ohne daß Veränderungen
in der Makulagegend zunächst nachweisbar sind. In der Regel langsames Fortschreiten
bis zu einem Zentralskotom für Weiß und alle Farben. Die psychischen Störungen
bestehen in zunehmender Verblödung. Lues kommt nicht in Betracht.
Strümpell (194). In einer außerordentlich flüssigen und feinstilisierten Schrift
schildert Strümpell nach einer kurzen, aber äußerst verständnisvollen Darlegung über
das Bewußtsein und die Bewußtseinsvorgänge die mannigfachen Schädigungen, die
das Nervensystem und seelische Leben im Kriege erlitten haben, von den grobana¬
tomischen Verletzungen des peripheren Systems und des Gehirnes an bis zu den
psychischen Störungen, bei denen der Schreck, die Furcht und Angst die bedingende
Ursache spielen, und die durch Granatexplosionen, Verschüttungen und dergl. zur
Auslösung gebracht werden. Schwieriger sind die neurasthenischen Zustände zu
beurteilen, bei denen sich körperliche und seelische und auch toxische Krankheits¬
ursachen miteinander mischen. Wirkliche Geisteskrankheiten sind nicht durch die
seelischen Schädlichkeiten entstanden. Für das Heimatsgebiet spielen andere psychi¬
sche Einflüsse eine Rolle. Hier tritt der einzelne zurück und die Masse tt itt in Wirkung.
Sie wird beherrscht von gemeinsamen Vorstellungen und Empfindungen, deren Rolle
als „überwertige Ideen“ von Strümpell eingehend geschildert wird.
Szasz u. Podmanicxky (197). Das Stirnhirn steht mit dem Zeigeversuch in
einem bestimmten Zusammenhänge. Bei Verletzungen des Stirnhirnes zeigten die
Kranken Spontan richtig. Durch vestibuläre’^Reize konnte Vorbeizeigen nach der
Seite der Verletzung hervor gerufen Werden. Die Abkühlung des Stirnhirndefektes
erzeugte ein Vorbeizeigen beider oberen Extremitäten nach der entgegengesetzten
Seite.
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Gr im me. Allgemeine Psychiatrie.
69*
L. W. IVttier (211). Weben Aufsatz in der ärztlichen Sachverständigen-Zeitung
kann nur dankbar begrüßt werden; denn dem Mißbrauch mit der Diagnose Hirn¬
erschütterung mußte einmal entgegengetffeen werden. Unter Zugrundelegung der
//braschen Begriffsbestimmung der zerebralen Kommotionsneurosen wird das, was
man unter einer Hirnerschütterung und ihren Folgen zu verstehen hat, geschildert
und an Beispielen die jn ihren Folgen oft so weittragende falsche Diagnostik gekenn¬
zeichnet.
A. Wcstphal, Bonn (215). .Ausführliche Mitteilung eines Falles von vorüber¬
gehender reflektorischer Pupillenstarre, links und recht geringer Lichtreaktion, rechts
mit vorübergehend fehlenden Kniesehnenreflexen und starken Schmerzen in den
Beinen bei Diabetes. Lues war anamnestisch und serologisch ausgeschlossen. Nor¬
maler mikroskopischer Befund.
Zimmermann (224) hat bei Epileptikern und Paralytikern die Temperatur und
den Blutdruck untersucht und glaubt feststellen zu können, daß Anfälle die Tempera¬
tur nach einer anfänglichen Steigerung herabsetzen. Tiefe und plötzlich sich voll¬
ziehende Temperaturstürze faßte er als Ausdruck einer schweren parenteralen Eiwei߬
spaltvergiftung auf. Nach vereinzelt auftretenden Anfällen der Epileptiker kommt es
meistens zu geringen Temperatursenkungen. Der Blutdruck sinkt nach schweren
Anfällen oder gegen das Ende eines Status epilepticus. Bei Paralytikern und Epi¬
leptikern findet man post mortem Lungenerscheinungen, die an den anaphylaktischen
Schock erinnern und in einer fleckigen und diffusen Rötung und in einer Blähung
bestehen.
Zimm e rm ann (225). Bei Epileptikern, Paralytikern und Schizophrenen läßt
sich ein vermehrter Eli weiß zerfall, der sich in der Erhöhung des antitryptischen
Nenners ausdrückt, biologisch häufig nach weisen. Ebenso können bei Epileptikern
häufig nach Anfällen im Harn Eiweißausscheidungen nachgewiesen werden.
Therapie.
Anton und von Schmieden (7) berichten über den Subokzipitalstich, eine neue,
druckentlastende Hirnoperationsmethode, die sehr viel schonender und auch un¬
gefährlicher als der Balkenstich ist und eine intrakranielle Liquorstauung beseitigt,
ohne eine nach außen mündende Öffnung zu schaffen. Das Gehirn selbst wird nicht
durch die Operation freigelegt, sondern es wird durch einen in der Mittellinie zwischen
Protuberantia occipitalis externa und dem Dornfortsatz des IV. Halswirbels geführten
Schnitt das Ligamentum nachae gespalten und damit die Cisterna cerebello-medul-
laris eröffnet.
Becker (17) berichtet von einer Art Pruritis nach Narkolicis.
Cohn (40) gibt eine Übersicht über die Bedingungen zur Einleitung eines
künstlichen Abortes bei Neurosen und Psychosen. Die künstliche Abtreibung ist
nur gestattet, wenn durch Unterlassen dieses Eingriffes, d. h. durch Fortdauer der
Schwangerschaft, das Leben der Mutter bedroht und nichts als dieser Eingriff zur
Beseitigung der Lebensgefahr geeignet ist. Aus anderer Rücksicht als der für das
Leben der Mutter gibt es keine Indikation. Auch muß das Leben der Mutter in der
Tat gefährdet sein. Es gibt keine Nerven- oder Geisteskrankheit, die an sich in allen
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70* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Fällen eine künstliche Schwangerschaftsunterbrechung rechtfertigt; aber es gibt
relative Indikationen. Zu den als solche anerkannten Indikationen können die Chore»
und die Epilepsie gehören, ferner gewiss^ Ynelancholische und katatonische Zustände.
Bei den Verstimmungen darf es sich nicht um die „Graviditätsverstimmung der
Psychopathen“ handeln, sondern um echte endogene Depressionen im manisch-
depressiven Irresein. Manische Erregungszustände bieten praktisch kaum besondere
Veranlassung zum Eingreifen. Auch bei der Katatonie wird eine Berechtigung zum
Eingreifen, aber keine Verpflichtung anerkannt. Bei Angst- und Zwangsneurosen
und bei der Hysterie erscheint ihm die Berechtigung zweifelhaft.
Enge (44) berichtet über die Behandlung gynäkologischer Erkrankungen mit
Spuman Styli. Es ist dies ein von den Luitpold-Werken in München hergestelltes
. Präparat, das in Stangenform in den Handel kommt, aus Thymolresorzin-Formal-
dehyd, Bismut. subgallicum, Alum. acet. tart., Hexamethylentetramin, Acid. tart u.
Natron bicarb. besteht, durch das Scheiden-Uterussekret zergeht und einen Schaum
erzeugt, der in alle Schleimhautwinkel einzudringen bestrebt ist, so daß die dem
Präparat beigegebenen spezifischen Arzneimittel (Argent. nitric., Ichtyol, Protargol
u. a.) tatsächlich auch alle krankhaften Stellen erreichen und in sie eindringen.
können. Diese Behandlungsart macht alle Scheidenspülungen unnötig und erleichtert
die Behandlung geisteskranker Frauen nach jeder Richtung hin.
Jacob Kläsi (102) bespricht die in der psychiatrischen Universitätspoliklinik
gebräuchlichen Behandlungsmethoden bei den mancherlei Formen der Psychopathie
und bei der Neurasthenie. Seine Ausführungen machen in erster Linie den Eindruck
des Niederschlags persönlicher Erfahrungen und gewinnen dadurch noch mehr an
Wert.
Er bespricht die Arbeitstherapie, gewisse suggestive Methoden, die Charakter¬
erziehung und widmet ein eigenes Kapitel der Behandlung der Neurasthenie. Klm
schreibt in einem sehr leicht lesbaren und manchmal sogar etwas humorvoll klingen¬
den Stile, und seine Darlegungen klingen zum Teil als etwas ganz selbstverständ¬
liches; doch geht es hiermit wie mit manchen andern Selbstverständlichkeiten,
die nur nicht jeder findet.
Mehr (134). Aus der Praxis der Psychotherapie. Energische Befürwortung
der Psychotherapie bei allen Neurosen und in vielen Fällen körperlicher Erkrankungen,
interner und chirurgischer Art. Natürlich müssen die psychologischen Mechanismen,
die den augenblicklichen Zustand bedingt haben, aufgeklärt sein, wenn eine kausale
Therapie betrieben werden soll. Hierher gehören u. a. die körperliche Komponente,
ihre assotiativ und affektiv falsche Bearbeitung und das, was man unter „Flucht in.
die Krankheit“ zusammengefaßt hat
Wiesenack (219). Es* wurden mit einer lOproz. Lösung von Alt-Tuberkulin
7 Fälle von Schizophrenie und eine als Erschöpfungsamentia auf gefaßte, im letzten
Schwangerschaftsmonat entstandene und die Geburt überdauernde Psychose be¬
handelt. Diese und eine der Schizophrenieerkrankungen werden als durch die Tu¬
berkulinkur geheilt bezeichnet.
Winterstein (220) hat in vielen Fällen bei Tieren, die durch Erfrierung, Nar¬
kose, Erstickung, Kohlenoxydvergiftung, Gehirnerschütterung „getötet“ wurden.
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Grimme, Allgemeine Psychiatrie.
71*
selbst nach einem Zeitraum von 1% bis 2 Stunden durch intraarterielle Infusion
von adrenalinhaltiger Ringerlösung die Herztätigkeit wieder in Gang bringen können
und so unter Umständen vollkommene Wiederbelebung des Gesamtorganismus
erzielt.
R. Wellenberg, Strafiburg i. E. (221) -engt die Berechtigung zur Unterbrechung
einer Schwangerschaft recht ein. Für die Dementia praecox und das manisch-
depressive Irresein, wie überhaupt für echte Psychosen erkennt er die Berechtigung
nicht an. Sie kann aber unter bestimmten Umständen bei gewissen psychoneuroti-
schen Zuständen, die sich bei psychopathischen Persönlichkeiten finden und unter
der Form einer schweren Angstneurose verlaufen, eine schwere Erschöpfung mit
Schlafmangel infolge Unterernährung bedingt haben und Selbstmordneigung hervor-
rufen, erforderlich sein. Doch sind auch dies nur seltene Fälle.
Ätiologie.
E. Meyer (131) hat zur Klärung der Frage nach exogenen Ursachen bei
Psychosen die Fälle von Dementia praecox und manisch-depressivem Irresein seiner
Klinik aus den letzten zwei Jahren vor dem Kriege untersucht und auch an der Hand
dieses Materials nachgewiesen, dafi die Bedeutung exogener Ursachen für diese
Psychosen nur eine recht geringe ist.
Schopen (166). Beschreibung einer'Katatonie, die nach einer akuten Nephritis
entstand. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Geisteskrankheit und Ne¬
phritis tritt nicht klar hervor. Es kann sich auch um ein zufälliges Zusammentreffen
handeln.
Schabte (169) 'gibt eine ausführliche Übersicht über die Erkrankungen des
Gehörorgans, soweit sie zur Taubheit führen, wobei er drei Zeitabschnitte unter¬
scheidet: die intrauterine Periode, die ersten 6 Lebensjahre und die Zeit nach dem
7. Jahre. Nach diesem Jahre spielen Gehörstörungen für psychische Erkrankungen
nur eine geringe Rolle; die Zeit vorher ist charakterisiert*durch den nach erworbener
Taubheit eintretenden Verlust der bis dahin erlernten Sprache; in der ersten Periode
mufi unterschieden werden zwischen Personen, bei denen der Defekt nur im Gehör¬
organ liegt und Personen, die daneben noch eine entwicklungsgeschichtlich bedingte
oder auf hereditätere Basis entstandene Gehirnschädigung erlitten haben. Es folgen
4 Krankengeschichten von Taubstummen, die geistig erkrankt sind.
Siebert (175) berichtet über Psychosen, die bei Geschwistern auftraten* und
die von ihm mit äußeren Schädigungen in einen gewissen ursächlichen Zusammenhang
gebracht werden. Er bezieht auch das Erkranken von drei Geschwistern im Laufe
von 10 Jahren in seiner Zusammenstellung ein. Als exogene Schädigung berück¬
sichtigt Siebert Kopferysipel, fieberhafte Angina, Kopftrauma, eitrige Mastitis,
septischen Abort, Wochenbett; ferner chronischen Alkoholismus und anhaltendes
religiöses Sektirertum. Es handelt sich um endogene Erkrankungen katatoner Form,
um eine mit amentiaartigem Verlauf, Delirium tremens und um den KoTsakpwsdxen
Symptomenkomplex. Die endogene Anlage wird von Siebert mit als das Ausschlag¬
gebende bei diesen Erkrankungen vorgebracht.
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72* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
F. Siemens, Stettin (178). Überblick über die Anschauungen vom Wesen und*
der Entstehung der Geisteskrankheiten bis zu der jetzt immer mehr m den Vorder¬
grund tretenden Lehre von den Störungen der inneren Sekretion.
Spliedt (187) bestätigt den Satz, daß die Kriegsgefangenschaft, wie sie in
Deutschland vollzogen wird, keine geistige Schädigung der Gefangenen darstellt
oder imstande ist, eine Geisteskrankheit auszulösen. Die Erkrankungen betrafen mit
einer Ausnahme, die eine Hysterie bei einem bereits vor dem Kriege krank gewesenen
russischen Studenten bildete, nur die gewöhnlichen Psychosen. Sie boten auch in
ihrem Verlaufe nichts Besonderes; nur der Inhalt der Wahnvorstellungen hing viel¬
fach mit den Eigenheiten des Lagerlebens zusammen, bezog aber häufiger seine
Färbung aus dem Kulturzustande des betreffenden Volkes.
Wdchbrodt (212). Bei den verschiedensten Infektionskrankheiten sind Größen-
ideen beobachtet. W. führt sie'auf die Wirkung der Toxine zurück und glaubt, daß
auch bei der Paralyse die Toxine der in das Gehirn^ eingedrungenen Spirochaeta
pallida die Größenideen verursachen. Die Spirochaeta pallida soll die Toxine nur
in geringer Menge erzeugen, so daß sie nur lokal wirken können.
4. Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung.
Ref.: F. S c h o b - Dresden.
1. Bauer, Über Zwergwuchs, Infantilismus und verwandte Vege¬
tationsstörungen. Med. Klin.
2. Bloch, Zwei Fälle von Anenzephalie. Inaug.-Diss. München.
3. Böcker, Das Denken mit besonderer Berücksichtigung des
Denkens beim Hilfsschulkind. Die Hilfsschule 10. Jg.
4. Bolten, Over juveniele dementia paralytica. Nederl. Tijdschr.
v. Geneesk. 61.
5. de Bruin, Ein Fall von Muskelhypertrophie bei Kretinismus.
Ned. Tijdschr. v. Geneesk. 61.
6. Carrie, Statistik über sprachgebrechliche Schüler in den Ham¬
burger Volksschulen. Die Hilfsschule 10. Jg.
7. Cassel, Über Mißbildungen am Herzen und an den Augen
beim Mongolismus der Kinder. Berl. klin. Wschr.
(S. 85*.)
8. Cerny, Das schwer erziehbare Kind. Jahrb. f. Kinderheilk. 35.
9. Coenen, Mongolismus beim Kinde und Myxödem bei der
* Mutter. Ned. Maandsc. v. Verlosk., Vrouwenz. en Kinder-
geneesk. 6.
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Schob, Idiotie, Imbezilität, Fürsorgeerziehung.
73*
10. Cornils, Kasuistischer Beitrag zur Lehre vom Eunuchoidismus.
Inaug.-Diss. Kiel. (S. 83*.)
11. Doesseker, Über einen Fall von atypischen tuberösen Myx¬
ödem. Arch. f. Derm. u. Syph. 73. Bd.
12. v. Dziembowski, Dystrophia adiposo-genitalis mit Myopathie.
D. med. Wschr. (S. 83*.)
13. Engler, Über Analphabetia partialis (kongenitale Wortblind¬
heit). Mtschr. f. Psych. u. Neurol. 42. (S. 77*.)
14. Erlich, Ein Fall von Eunuchoidismus. Gaz. lekarska 24. poln.
Ref. Neurol. Ztlbl. 1918, Nr. 20.
15. Ganter, Ein epileptisches Mädchen als Rechenkünstlerin.
Allg. Ztschr. f. Psych. 73. Bd. (S. 77*.)
16. Ganter, Über einen Fall von Hydrocephalus maximus. Allgem.
Ztschr. f. Psych. 73. Bd. (S. 81*.)
17. Gaumnitz, Eine Intelligenzprüfung zur Feststellung Schwach¬
sinniger. Ztschr. f. dt Behandlung Schwachsinniger
37. Jg.
18. Gerhardt, Der Einfluß des Krieges auf das Seelenleben unserer
Pflegebefohlenen. Ztschr. f. d. Behandl. Schwachs.
37. Jg.
19. Good, Zur Behandlung und Verhütung des psychischen Mi߬
wuchses. Ztschr. f. d.. Behandl. Schwachsinn., 37. Jg.
20. Gregor, Über kindliche Verwahrlosung. Jahrb. f. Kinderheilk.
85. Bd. (S. 85*.)
21. Gregor, Verwahrlosungstypen. Mtschr. f. Prych. u. Neurol.
42. Bd. (S. 85*.)
22. Graf Haller, Anatomisch-physiologische Studien und Be¬
trachtungen über den kongenitalen Hydrozephalus.
Virchows Arch. 223. Bd.
23. Heine, Über angeborene Wortblindheit. Sitzungsber. Münch.
med. Wschr.
24. Herfort, Beiträge zur Pathologie des Wachstums bei den
Schwachsinnigen. Öas. öesk. lek. (Tschechisch.)
(S. 75*.)
25. Heuer, Definitionsaufgabe als Intelligenztest. Die Hilfsschule
10. Jg.
26. Higier, Ein Fall von angeborener Akromegalie und Im-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
74*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
bezillität und sogenannter Cutis laxa. Annalen der
Warschauer ärztl. Ges.
27. Hübner, Über kongenitale Lues. Arch. f. Psych. 57. Bd.
(S. 79*.)
28. Hussels, Beiträge zur Kenntnis der juvenilen Paralyse mit
besonderer Berücksichtigung der Augensymptome. Allg.
Ztschr. f. Psych. 73. (S. 80*.)
29. Kellner, Neuere Untersuchungen über die Ursache des en¬
demischen Kopfes und Kretinismus. Ztschr. f. d. Be-
handl. Schwachsinn. 37. Jg. (S. 84*.)
30. Kraus und Rosenbusch, Kropf, Kretinismus und die Krank¬
heit von Chagas. Wiener klin. Wschr.
31. Kretschmer, Über eine familiäre Blutdrüsenerkrankung.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 36. Bd. (S. 83*.)
32. Lommel, Über Infantilismus und Störungen der Geschlechts¬
reifung. Sitzungsber.^Med. Klin.
33. Naville, Etüde anatomique du nävraxe dans un cas d’idiotie
familiale amaurotique de Sachs. Schweizer Arch. f.
Neurol. u. Psych. I.
34. Naville, L’idiotie amaurotique de Tay-Sachs. Ebenda I.
35. Neukirchner, Zum Intelligenzproblem. Ztschr. f. d. Behftndl.
Schwachsinn. 34. Jg. ,
36. Nilsson, Blutzuckerbestimmungen bei einem Fall von in¬
fantilem Myxödem. D. med. Wschr. (S. 84*.)
37. Ranschburg, Die Leseschwäche (Legasthenie) und Rechen¬
schwäche (Arithmasthenie) der Schulkinder im Lichte
des Experiments. Zwanglose Abhandlungen aus den
Grenzgeb. der Pädagogik u. Med. Berlin. J. Springer.
1916. H. 7. (S. 75*.)
38. v. Rohden, Über die Pathologie der Paralytikerfamilie.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 37. Bd. (S. 78*.)
39. Sauerbrey, Über den Wert der Intelligenzprüfungsmethode
nach Binel-Simon für klinische Zwecke. Inaug.-Diss.
Leipzig.
40. Sebald, Vier Fälle von progressiver Paralyse beim Kinde mit
besonderer Berücksichtigung der pathogenetischen Fak¬
toren. Inaug.-Diss. München.
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Schob, Idiotie, Imbezilität, Fürsorgeeiziehung.
75*
41. Seelert, Untersuchungen der Familienangehörigen von Para¬
lytikern und Tabikern auf Syphilis und damit zusammen¬
hängende nervöse Störungen unter besonderer Berück¬
sichtigung des Infektionstermins dieser Paralytiker und
Tabiker. Mtschr; f. Psych. u. Neurol. 41. Bd. (S. 79*.)
42. Stargardt, Über familiäre Degeneration in der Maculagegend
des Auges mit und ohne psychische Störungen. Arch.
f. Psych. 58. Bd. (S. 82*.)
43. Westphal, Zur Lehre von der amaurotischen Idiotie. Arch. f.
Psych. Bd. 58. (S. 81*.)
44. Weygandt, Fall von sporadischem Kretinismus. Sitzungsber.:
' Neurol. Ztlbl. Nr. 24.
45. Weygandt, Über Degeneratio adiposogenitalis. Sitzungsber.:
Arch. f. Psych. u. Nervenkr. 57. Bd. (S. 84*.)
46. Weygandt, Turmschädelratige Mißbildung. Hamburger Ärzte-
Korr. (Sitzungsber.) 19. Jg. (S. 80*.)
47. Winkler, Amaurotische Idiotie. Typus Tay-Sachs. Nederl.
Tijdschr. v. Geneesk. 71.
Herfort (24) basiert seine Ausführungen auf der Grundidee der parallelen
Entwicklung des Körpers und der Seele. Zeigt auf Grund seines Materials und der
großen Literatur, daß die geistig Minderwertigen, Schwachsinnigen, auch in der über¬
wiegenden Mehrzanl der Fälle körperlich verkrüppelt waren; ihr Körpergewicht und
ihre Körperlinge waren bedeutend unter der Norm. Ebenfalls die Formierung des
Körpers erleidet manche Mängel, namentlich Assymmetrien kommen sehr häufig
vor; der Infantilismus, d. i. das Erhaltenbleiben einiger oder mancher Merkmale
(körperlicher sowie seelischer) auf der Höhe des Kndesalters bis in spätere Zeit ist
aber nicht als einfaches Stehenbleiben des Wachstums aufzufassen. Es ist eine
Äußerung sehr komplizierter Prozesse, die manchmal schon in pränataler Zeit an¬
setzen, andersmal mit der Dysfunktion bestimmter Drüsen einhergehen oder als
Folge äußerlicher Einflüsse und chronischer Katarrhe auhufassen sind. Die ver¬
schiedenen Klassifikationen zahlreicher Autoren genügen in keinem Falle, um den
Reichtum der Infantilismusformen erklären zu können. Bei den Schwachsinnigen
kombinieren sich dazu die verschiedenen seelischen Anomalien mit den ebenso zahl¬
reichen körperlichen, so daß jede Klassifikation, die bestrebt ist, vollständig zu sein,
unübersichtlich ist, viele Ausnahmen und unklassifizierte Fälle zuläßt und deshalb
nur als Hilfemittel, nicht aber als Ausdruck bestehender Verhältnisse aufzufassen ist.
Jar. StuchUk, (Rot-Kostelec).
Ranschburgi 37.) hat experimentelle, tachistoskopische Untersuchungen der Lese¬
fertigkeit bei Schulkindern angestellt, einer Methode, die es erlaubt, Normalwerte
festzustellen und die Abweichungen von denselben innerhalb einiger Minuten zuver-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
76*
Bericht über dis psychiatrische Literatur 1917.
lässig zahlenmäß ig zu fixieren. Ais Normalwerte eignen sich besonders d ie an Schülern
der zweiten Klasse durch Auffassung einsilbiger Worte bei 0,1 Sek. erhaltenen
Treffer zahlen. Die Trefferzahl um mehr als 75%, die mehr als zwei Drittel der
7- bis 8jährigen normalen Schüler (die schwächsten mit eingerechnet) zukommt,
daher als'Nor mal wert derselben bezeichnet werden kann, wird von den pathologisch
Schwachbefähigten (Hilfsschulkindern) im Alter von 8 Jahren in keinem einzigen
Fall, mit9bis 10 Jahren in6%, mit 11 Jahrenin6,7%, mit 12b!s 14 Jahren in25,7%
der Fälle erreicht. Andrerseits kommt diejenige geringe Trefferzahl, die bei mehr
-als 90% der Hilfsschüler das Normale %t. bei keinem einzigen Normalschüler vor.
Die Feststellung der Lesefertigkeit gehört zu den geeignetsten Tests zur Fest'
Stellung der pathologischen Natur der Schwachbefähigung und ihrer Abgrenzung
von der normalen Schwachbegabung. Auch innerhalb der normalen Begabung
kann man verschiedene Fähigkeitsgruppen der Lesefertigkeit abgrenzen; sie zeigen
einen durchschnittlichen Parallelismus mit den Stufen der allgemeinen Begabung.
Ein untrügliches]Mittel zur Feststellung des Grades der Begabung ist die Lest'
fertigkeit nicht; denn es scheinen doch auch Fälle von verbaler Ataxie bei sonst
leidlicher oder guter Begabung vorzukommen. Für die schwächsten Grade
der pathologisch J^eseschwachen hätte der Unterricht sich möglichst bald mit ihrer
Feststellung abzufinden und den Schwerpunkt auf den sonstigen, des geläufigen
Lesens weniger bedürfenden Unterricht zu verlegen.
Weiter hat Ranschburg Untersuchungen über, die Rechenschwäche angestellt
Die Schwierigkeiten auf dem Gebiete des Rechnens, die zur Rechenschwäche führen,
sind zweierlei Art; die erste Art von Schwierigkeit liegt im Rechenstoffe selbst, die
zweite in der Anlage der Schüler. Selbst dem elementarsten Rechenvorgang kommt
eine spezifische Schwierigkeit zu, die gemäß der zunehmenden, inneren Kompliziert'
heit der Aufgabe wächst und sich vornehmlich in der nachweisbaren Verlängerung
der Dauer ihrer Lösung kundgibt, so ist z. B. nicht bloß 3 + 6 schwieriger als 6 + 3,
sondern schon 3+5 schwieriger als 3 + 4, Auch den einzelnen Rechenarten ent¬
sprechen verschiedene Schwierigkeitsgrade, dieselben sind größer bei den reziproken
als bei den direkten Funktionen. Diese inneren Schwierigkeiten der Rechenauf¬
gaben geben sich am leichtesten bei den noch ungeübten Schülern der unteren Klassen
kund- Zur raschen Orientierung eignen sich infolge ihrer relativ ansehnlichgn
inneren Schwierigkeiten am besten Reihen aus 20 unbenannten Subtraktionen des
Zehner- bzw. Zwanzigerkreises, wobei die mittlere Rechendauer aus den mittels einer
Fünftelsekundenuhr bestimmten Einzelwerten der richtigen Lösungen berechnet
wird. Nach den Rechenleistungen lassen sich die normalen Schüler ohne Zwang
in Gruppen von guter, mittelmäßiger und schwacher Anlage einreihen.’J Die schwache
Anlage zum Rechnen, Rechenschwäche oder Arithmasthenie, tritt sowohl in der
größeren Zahl der falschen oder unsicheren, spontan oder erst auf Aufforderung
berichtigten oder überhaupt entfallenden Lösungen als insbesondere und am kon¬
stantesten in der auffallenden Langsamkeit des Prozesses der richtigen Lösungen
zutage. Diese schwächere Anlage unterscheidet sich aber noch ganz wesentlich von
der pathologischen Rechenschwäche. Unter 117 Normalschülern, darunter mehr als
ein Drittel der schwächsten Rechner, fand sich keiner, der aus den’20 Aufgaben
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Schob, Idiotie, Imbezilität, Fürsorgeerziehung.
77*
weniger als 15, d. h. weniger als 75%, richtig gelöst hätte. Dagegen lösten von den
untersuchten pathologisch Schwachbefähigten 20% weniger als 25% und 16,4%
weniger als 50% die Aufgaben; es läßt sich daher ein pathologisches Intervall auf-
sfellen, in welches kein normaler Rechenschwacher hineingehört. Bei Betrachtung
des zeitlichen Verlaufes der Rechenleistung gewinnt man auch eine Zone der Nor¬
malität, die keinem oder nur einem Bruchteil der pathologisch Schwachbefähigten
zugänglich ist. Während z. B. die Subtraktionszeiten der Normalen bei mehr als % der
Schüler zwischen 1—2 Sek. schwankten, gab es unter 17 Schülern der zweiten Hilfs¬
schulklasse keinen einzigen, unter 18 Schülern der dritten Klasse 5% und unter
30 Schülern von 12—17 Jahren insgesamt 26%, die in das Intervall von 1—2 Sek. *
entfielen. Die Bestimmung der Normalwerte und der Grenzen der Schwankungs¬
breite der Normalität ist aus pädagogischen, heilpädagogischen, psychologischen,
medizinischen und forensischen Gründen noch durch ausgedehnte Untersuchungen
festzulegen. Schon jetzt sind von Ranschburg und seinen Schülern Jahre hindurch
Fälle von Verwahrlosung und jugendlicher Kriminalität mit bestem Erfolge auch
auf ihre Rechenfähigkeit geprüft worden.
Die 24jährige Patientin Ganters (15) stand seit ihrem 12. Jahre in Anstalts¬
erziehung und litt seit ihrer frühenjugend an typischen Anfällen, die etwa aller 3 Wochen
meist mehrmals hintereinander auftraten. Während die Intelligenzprüfung im all¬
gemeinen einen ziemlich beträchtlichen Grad von Schwachsinn ergab, zeigte sie
Rechenleistungen auf, die weit über den Leistungen anderer Rechenkünstler standen.
Sie vervielfältigte z. B. drei- mit zweistelligen Zahlen in 2% Minuten, drei- mit drei¬
stelligen in 18 bzw. 10 Minuten, vier- mit vierstelligen m 35 Minuten usw.; auch ihr
Gedächtnis für Zahlen war außergewöhnlich, so behielt sie große Aufgaben tagelang
im Kopfe, während ihre Merkfähigkeit für andere Dinge, z. B. auch Kalenderdaten,
unter dem Durchschnitt blieb. Das ganze Verhalten der Patientin bei der Ausführung
der Aufgaben sprach dafür, daß die Patienten mit dem Gehörs- und Gesichtssinn,
mit dem motorischen Apparat der Sprachwerkzeuge und des Armes (sie machte Be¬
wegungen nach Art der Schreibbewegungen) arbeitete, also mit all den Sinneswerk¬
zeugen, den Wegen, auf denen beim Lernen die Eindrücke dem Gehirn übermittelt
werden.
Nach Engler (13) wird als „kongenitale Wortblindheit“ oder „kongenitale
Alexie“ das isolierte Fehlen der Lesefähigkeit auf Grund eines angeborenen Defektes
beschrieben. Wolff hat dafür den Namen Analphabetia partialis vorgeschlagen;
der Name kongenitale Wortblindheit ist zu verwerfen; es besteht keine Veranlassung,
eine als Produkt mangelhafter Schulbildung zu betrachtende Unfähigkeit mit dem¬
selben Namen zu belegen wie einen durch Hirnschädigung entstandenen, äußerlich
gleichwertigen Leistungsausfall. Die in Betracht kommenden Individuen sind zwaf,
weil sie abschreiben können, keine vollkommenen Analphabeten, aber ihr Unvermögen
beruht auf einer durch psychische Schwäche verursachten mangelhaften Schulbildung.
Als anatomische Grundlage Aplasie der Rinde des Gyrus angularis anzusprechen,
wie das namentlich englische Autoren tun, hat keine Berechtigung; denn wenn es
sich um einen herdförmigen Defekt handelte, so würden sicher andere Stellen des
Gehirns kompensatorisch eingetreten sein. Engler teilt selbst einen einschlägigen Fall
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78* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
mit: Ein 19jähriger Rekrut machte in der Rekrutenschule im Lesen und Schreiben
last keine Fortschritte; im Lesen brachte er es nur zum Lesen von Buchstaben und
einigen kleinen Wörtern; Spontanschreiben war, abgesehen vom Namen, unmöglich;
auf Diktat schrieb er unverständlichste Wörter; dagegen erfolgte Abschreiben ziemlich
fehlerfrei, wenn es sich um deutsche Vorlagen handelte. Die Intelligenzprüfung
ergab, daß der Patient ein imbeziller Mensch mit einer besonders ausgeprägten In*
suffizienz im Lesen und Schreiben war. Verfasserin bespricht die einschlägige Literatur,
insbesondere auch die englische; sie bezweifelt, daß die sogenannte kongenitale Wort*
blindheit bei intellektuell vollkommen intakten Individuen vorkommt, wie das in der
Literatur mehrfach behauptet worden ist.
Die Untersuchungen o. Rohden» (38) erstrecken sich auf Ehegatten und Kinder
von 70 in die Landesanstalt Nietleben aufgenommenen Paralytikern. In 54 von
70 Familien, also in 77%, bot mindestens einer der Angehörigen serologische oder
klinische Veränderungen dar. 62 Paralytikerehegatten gelangten zur Untersuchung,
davon waren 70% pathologisch und 30% normal. Die quantitativen Geburtsver¬
hältnisse in Paralytikerfamilien sind schlecht. Ein Viertel der Graviditäten sind Fehl¬
und Totgeburten, ein weiteres knappes Viertel stirbt im Laufe der ersten Jahre. Die
Fruchtbarkeit der paralytischen Ehen bleibt mit 1,7 pro Ehe fast um die Hälfte hinter
der Norm zurück. Paralytikerfamilien zeigen damit Tendenz zum Aussterben. Von
208 untersuchten Kindern bieten über 19% organische Erkrankungen des Nerven¬
systems, über 29% somatische oder psychische Degenerationszeichen, über 6%
positive Wassermannreaktion bei negativem Nervenbefund. Die Gesundheitsverhält'
nisse der Paralytikerkinder sind demnach nicht ganz so schlecht wie die der Para¬
lytikerehegatten. Der Paralytiker ist für seine Angehörigen nur gefährlich, solange
er noch die Syphilis übertragen kann, ebenso der Tabiker. Gegen die A/aedfeesche
Theorie von der originären Disposition der Paralytikerdeszendenz spricht der Um¬
stand, daß sämtliche vor der syphilitischen Infektion der paralytischen Eltern gebore¬
nen Kinder gesund sind. Die Gefährdung der Paralytikerkinder ist um so größer,
je näher dem Zeitpunkt der syphilitischen Infektion sie geboren sind. Die Gesund¬
heitsverhältnisse bessern sich, je mehr der Zeugungstermin sich dem Ausbruch der
Paralyse nähert. Diq relativ günstigsten klinischen und serologischen Befunde liefern
die unmittelbar vor und nach Beginn der Paralyse geborenen Kinder. Über ein Drittel
sämtlicher sicher syphilitischen Kinder stammt aus einer Zeit, wo die Infektion des
paralytischen Elters länger als 8 Jahre zurückliegt. In der Nähe des 13. Jahres nach
dem Primäraffekt scheint eine gewisse Grenze zu liegen, über die hinaus die Infek¬
tiosität des latenten Syphilitikers, einerlei, ob er paralytisch wird oder nicht, nur
ausnahmsweise in Erscheinung tritt. Es besteht jedoch kein Grund zur Annahme,
daß die ein Jahrzehnt und länger zweifellos wirksame Infektiosität in dem Augen*
blicke plötzlich verschwindet, wo die latente Form der Lues in ihre paralytische
Manifestation übergeht. Die Theorie von der Paralyse als einer nicht infektiösen
syphilitischen Nachkrankheit kann nicht mehr aufrecht erhalten werden, nachdem
der Nachweis virulenter Spirochäten sowohl im Gehirn als auch im Blut der Para-
ytiker gelungen ist. Der klinische Beweis dafür, daß die Paralytikerspirochäte ebenso
wie die des noch nicht paralytischen Luetikers auch unter natürlichen Bedin g u n gen
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Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung.
79*
auf die Angehörigen übertragen wird, steht noch aus. Die bisherigen Ergebnisse
lassen sich schwer mit der Annahme eines Virus nervös, in Einklang bringen; diese
wäre erst erwiesen, wenn gezeigt werden könnte, daß die Kinder der Paralytiker und
Tabiker sicher häufiger an organischen Nervenleiden erkranken als die Kinder anderer
•Luetiker.
Seelert (41) faßt die Ergebnisse seiner Untersudhungen an Familienangehörigen
von 30 Paralytikern und 10 Tabikern dahin zusammen: Syphilis und namentlich
syphilogene Nervenkrankheiten wurden bei Familienangehörigen der Paralytiker und
Tabiker, die sich während der Ehe oder nur wenige Monate vorher infiziert hatten,
wesentlich häufiger gefunden als bei den Angehörigen der andern, deren Infektion
drei oder mehr Jahre vor der Heirat erfolgt ist; die Schädigung der Nachkommen-
schaft durch die Syphilis ist in Jenen Fällen am schwersten gewesen, in denen der-
Vater sich während oder kurz vor der Ehe infiziert hat. In allen fünf Familien mit
syphilitischen Kindern, in denen der Infektionstermin bekannt ist, hat sich der Vater
während oder kurz vor der Ehe infiziert. Es ist anzunehmen, daß in diesen Familien
die Infektion beider Eltern gleichzeitig oder mit nur kurzer Zwischenzeit stattgefunden
hat, die Infektion der Mutter also aus frischer, noch nicht durch Abwehraktion
des Organismus in der Virulenz geschwächter Infektionsquelle stammt. Daraus
ergibt sich die Frage, ob ein Syphiliskranker, der sich seine Infektion aus frischer
Infektionsquelle, d.h. von einem erst kurz vorher infizierten Menschen zugezogen
hat, hinsichtlich der Entstehung syphilogener Nervenkrankheit mehr gefährdet ist
als ein anderer, der durch einen schon lange an Syphilis leidenden Kranken infiziert
worden ist. Weitere Untersuchungen, die diesen Gesichtspunkt berücksichtigen,
sind notwendig.
Während die meisten Autoren bei dem gleichzeitigen Nachweis von nervösen
und psychischen Erkrankungen und kongenitaler Lues ohne weiteres auch einen
ätiologischen Zusammenhang zwischen beiden Affektionen annehmen, glaubt Hübner
(27), daß in dieser Frage wohl zu oft lediglich nach dem Grundsatz post hoc, ergo
propter hoc verfahren wird. Er untersucht daher in seinem eigenen Material von
30 Fällen in kritischer Weise, wieweit ein Zusammenhang von Erbsyphilis und Er¬
krankungen des Nervensystems besteht. Bei dem Befund von psychischer Minder¬
wertigkeit und allgemeiner Nervosität braucht durchaus nicht immer die Syphilis
zur Erklräung herangezogen werden; vielfach erklären sie sich aus'der sonstigen Be¬
lastung. Von seinen Patienten konnte nur bei 30% die Syphilis für das Bestehen
«fieser Erscheinungen verantwortlich gemacht werden; diese Fälle zeigten als Besonder¬
heiten ‘oft unmotivierte Verschlechterungen, häufig auch somatische Erscheinungen,.
also Symptome florider Lues. Ähnlich verhält es sich mit dem Zusammenhang
zwischen Erbsyphilis und Schwachsinn; die echten syphilitischen Schwachsinns¬
formen weisen meist nebenher Symptome auf, die erkennen lassen,'“daß die Syphilis
noch nicht zur Ruhe gekommen ist, daß es sich um progrediente Erkrankungen
handelt. Echte Chorea als Folgeerscheinung von Erbsyphilis gibt es nicht, dagegen
in seltenen Fällen choreatische Zuckungen, die aber mit der echten Chorea nicht
identifiziert werden; ein ätiologischer Zusammenhang zwischen Dem. praecox und
Erbsyphilis ist abzulehnen. Das Gebiet der Psychosen bei kongenitaler Lues ist
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80* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
noch wenig durchforscht; sowohl die Frage des geologischen Zusammenhanges mit
der kongenitalen Lues als auch die Symptomatologie der luetischen Psychosen bedarf
noch weiteren Studiums. Verf, teilt zunächst einen Fall von ganz ungewöhnlichem
Verlauf mit, der sich schließlich doch als juvenile Paralyse herausstellte: Beginn der
Erkrankung im 19. Jahre; anfargs Depression, dann rasch Größen- und Verfolgungs¬
ideen, später katatone Symptome mit Stupor und Erregungszuständen, so daß die
Diagnose Lues cerebri mit katatonen Symptomen in Erwägung gezogen wurde.
Möglicherweise handelte es sich in diesem Falle nicht um kongenitale, sondern um
eine erst am Ende des ersten Lebensjahres erworbene Lues. In einem andern Falle,
wo Taubstummheit und Schwachsinn auf der Basis kongenitaler Lues bestanden,
entwickelten sich im 12. Jahre Angstzustände, vereinzelte hypochondrische Wahn¬
ideen, Sinnestäuschungen ängstlichen Inhalts von zeitweise delirantem Charakter,
Verfolgungsideen, episodische Erregungszustände zur Zeit der Menses. Da dem
Auftreten der psychischen Störungen eine Schilddrpsenvergrößerung vorangegangen
war, da die Pat. stark belastet war, da menstruelle Steigerungen zu beobachten
waren, nimmt H. an, daß neben der Syphilis auch endogene Faktoren eine Rolle
gespielt haben. Eine juvenile Tabes kann sich bei kongenitaler Lues noch seht
spät entwickeln. Von den Fällen kongenitaler Lues, die H. gesehen hat, waren 26%
überhaupt frei von gröberen nervösen Störungen. Die Frage der Lebensdauer und
der Schicksale kongenitaler Luetischer in nervöser Beziehung muß noch weiter
studiert werden, ebenso die Frage nach den Folgen der Lues in der zweiten
Generation.
Husscls (28) teilt 4 Fälle von juveniler Paralyse mit. In dem einen Falle, bei
dem außerdem chronischer Hydrocephalus internus bestand, waren Zeichen eines
fortschreitenden Hirnprozesses bereits mit 5 Jahren aufgetreten. In allen Fällen
bestanden absolute Pupillenstarre und Mydriasis; diese Erscheinung ist deshalb
v on Bedeutung, weil erfahrungsgemäß bei juveniler Paralyse gerade im Hirnstamm,
wohin der Sitz der absoluten Pupillenstarre verlegt wird, der anatomische Prozeß
der Paralyse am ausgeprägtesten zu sein pflegte. Auffallend ist die Tatsache, daß
der paralytische Prozeß bei der juvenilen Paralyse nur die Funktion der inneren
Augenmuskeln zu schädigen scheint, während die Funktion der äußeren intakt
bleibt. Von Bedeutung ist weiter, daß bei der juvenilen Paralyse die so häufige
Opticusatrophie nicht wie bei der Tabes mit Hinterstrang-, sondern mit Seitenstrang-
symptomen (Spasmen, Steigerung der Sehnenreflexe) verbunden ist.
Weygandt (46) beschreibt einen Fall, in dem die turmschädelartige Mi߬
bildung des Schädels auf Erbsyphilis zurückzuführen ist. Der Vater des 16%Jährigen
Pat. war Potator; der Pat. lernte mit 3 Jahren laufen, lernte in der Schule mangelhaft;
im Alter von 10 Jahren trat binnen 4 Monaten Erblindung ein. Mit 14% Jahren
las er noch Blindenschrift; mit 15% Jahren begann er zu zittern; es kam zu geisti¬
gem Rückgang mit Wahnvorstellungen, Lähmungsei scheinungen traten hinzu.
Befund: turmschädelartige Kopfbildung, Pupillen lichtstarr, Mydriasis, Papillen
atrophisch, Schwerhörigkeit, Skoliose der Wirbelsäule, rechtsseitige spastische Arm¬
lähmung, Erhöhung der Sehnenreflexe, Fußklonus. 4 Reaktionen positiv. Die Dif¬
ferentialdiagnose schwankte zwischen juveniler amaurotischer Idiotie und Geistes-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
I
Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 81*
Störung auf hereditär-luetischer Grundlage, auch anjuvenile Paralyse wurde gedacht
(nach einer persönlichen Anmerkung des Verf. im Besprechungsexemplar anatomisch
als ju\ enile Paralyse festgestellt).
In dem Falle von Hydrocepbalus maximus, über den Ganter (16) berichtet,
handelt es sich um einen 44 Jahre alten Patienten; der Schädelumfang betrug 74 cm.
Eingereiht in die Tabelle von Glüh, würde der Fall nach dem Alter der vierte, nach
dem Umfang der sechste sein. In den Beinen bestanden hochgradige Spasmen,
in den Armen etwas schwächere. Psychisch war er meist euphorisch, zeigte wenig
Antrieb zum Sprechen; die Intelligenz war stark herabgesetzt, immerhin besaß e f
ein gewisses Auffassungs- und Erinnerungsvermögen für die alltäglichen Vorgänge
seiner Umgebung. Bis zum 4. Monat war Pat. gesund gewesen, dann wurde er
krank; im Anschluß entwickelte sich der Hydrocephalus. Der Tod wurde durch ein
Durahämotom (Psychomeningitis) herbeigeführt; das Gewicht des ganz abgeplatteten
Gehirns betrug ohne Liquor immerhin noch 1129 g. Als Ursache kommen wahr¬
scheinlich angeborene Anlage, Rhachitis und ein entzündlicher Prozeß, worauf die
Pachymeningitis hinweist, in Frage.
Der Fall von Westphal (43) bot klinisch die ausgeprägten Symptome der
Tay-Sachsscben Form der amaurotischen Idiotie bei einem jüdischen Kinde: Beginn
im Alter von 4—5 Monaten mit Schwäche der Halsmuskulatur, später der Extremi¬
täten. Apathie, Schlafsucht, Schreckhaftigkeit. Progressive Abnahme des Sehver¬
mögens mit charakteristischer Makulaveränderung; später Anfälle, erst vom Jackson-
sehen Typus, zuletzt allgemeine. Tod nach 1%jähriger Krankheitsdauer. Patho¬
logisch-anatomischer Befund: An den Ganglienzellen Volumenzunahme des Plasmas
mit Veränderungen der Nißl- Körper, Bild der wabigen Zellerkrankung, in manchen
Zellen auch das Wabennetz zerfallen, an den Vorderhornzellen vielfach Bild der
perinukleären Homogenisation. Starke Beteiligung der Dendriten am Schwellungs¬
prozeß. Zugrundegehen der Fibrilleninnennetze, besseres Erhaltenbleiben der
Außenfibrillen. Vereinzelt zweikernige Zellen. Pigmentablagerung fehlt im Nißl- Bild,
im Bilde nach May-GrümüalJ und bei Färbung mit Scharlachrot; dagegen bröcklige I
Schollen im Zelleib bei Färbung nach der fPefeerfschen Markscheidenmethode.
Starke Ausfälle im Markfaserbild, besonders im Rinden-, aber auch im tieferen Mark.
Im Gliabild zahlreiche progressive Veränderungen; Bildung protoplasmareicher
Zellen, Spinnenzellen, Monstragliazellen, Gliavasenbildung; im Kleinhirn hoch¬
gradige Wucherung der Bergmannschen Stützfasern mit Bildung eines mächtigen
Randfilzes. Am mesodermalen Gewebe, abgesehen von Ansammlung intensiv rot¬
gefärbten Substanzen in den Adventitialscheiden, keine Veränderungen. Der Befund
ist für die Tay-Sachssche Form charakteristisch. Als Besonderheiten sind der Nach¬
weis zweikerniger Ganglienzellen und die Bildung der mächtigen Randschicht am
Kleinhirn hervorzuheben, die letzteren besonders deshalb, weil den Erkrankungen
des Kleinhirns bei den verschiedenen heredodegenerativen Erkrankungen eine be¬
sondere Bedeutung beizulegen ist. Bei Vergleichung der Befunde mit denen bei der
juvenilen Form bildet besonders das Studium der Abbauprodukte große qualitative
und quantitative Unterschiede: im Falle Westphals ein durch WetgerHcP.es Mark-
scheidenhämatoxylin und Ehrlichsches Hämatoxylin intensiv schwarz bzw.blau färb-
Zeitschrift für Psyohiatrie. LXXV. Lit. {
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UNIVERS1TY OF MICHIGAN
82*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
barer Detritus, davon bei Spielmeyer nichts; andrerseits in Spidmeyen Fallen Bildung
eines grünlichen Pigmentes, typische Granulierung im Bilde nach May-Grünwald,
davon bei Westphal nichts. Obereinstimmung, soweit es sich um die Resultate der
Scharlachrotfärbung handelt. Auch Westphal hält die Abbauprodukte in den Gan¬
glienzellen für myelinoide Vorstufen des Fettes. Weitgehende Unterschiede bestehen
. auch hinsichtlich des Glia- und Markbildes. Im Gegensatz zu den Befunden West-
phak treten bei der Spidmeyerschen Form Gliaveranderungen stark zurück; dasselbe
gilt vom Markscheidenbilde. Beide Formen sind Gruppen einer Krankheit Die
Differenzen im Gesamtbilde sind aber so eigenartige, daß gefragt werden muß, ob
nicht außer der verschiedenen Intensität des Prozesses bei beiden Formen noch
andere besondere Momente zur Erklärung herangezogen werden müssen. Die
außerordentlich starke Erkrankung der Markfasern im Westphalschen Falle legt den
Gedanken nahe, daß dieser Erscheinung besondere Ursachen zugrunde liegen müssen.
Nach seinen eigenen früheren Untersuchungen bestehen weitgehende Unterschiede im
Markscheidenbilde des jugendlichen und erwachsenenNerver.kranken,sie zeigen durch¬
aus abweichendes Verhalten gegen verschiedene Reagentien, z. B. Osmiumsäure usw.,
auch Flechsig weist darauf hin, daß den physikalischen Differenzen zwischen fötalem
und ausgereiftem Mark auch chemische entsprechen. Die Unterschiede im Mark¬
faserbilde der infantilenund juvenilen Form sind wohl zum größten Teil durch Diffe¬
renzen in der Markentwicklung bedingt; die jugendliche Nervenfaser ist gegenüber
Schädlichkeiten endogener wie exogener Art weniger widerstandsfähig, daher gröbere
Störungen des Markbildes bei der infantilen Form. Vielleicht sind auch die bisher
konstant nachweisbaren Unterschiede im mikroskopischen Verhalten der in den
Zellen angehäuften Abbauprodukte auf die chemische Verschiedenheit des unent¬
wickelten und des reifen Nervenmarks zurückzuführen.
Bei der großer Bedeutung, die unter den heredodegenerativen Erkrankungen
den mit Augenstörungen einhergehenden familiären Erkrankungsformen zukommt
sei diä Arbeit von Stargardt (42) ebenfalls etwas ausführlicher wieder gegeben
Bietet doch wahrscheinlich das Material der Idiotenanstalten sehr viel Material zum
Studium der einschlägigen Fragen. Stargardt unterscheidet 4 Formen: 1. die präsenile
Makuladegeneration (Tay): Auftreten heller Fleckchen in der Gegend der Makula
und der Papille, daneben eventuell noch strahlige Pigmentherdchen. Über nervöse
und geistige Störungen bei där Erkrankung nichts bekannt. 2. Die familiäre, honig-
wabenähnliche Makuladegeneration (Honeycomb or family choriodites Doyne).
Entwicklung in frühester Jugend/Auftreten zahlreicher weißet Flecke in der Gegend
der Papille und Makula, in honigwabenartiger Anordnung. Möglicherweise dabei
Verblödung; in einem Falle vielleicht Epilepsie. 3. Die familiäre angeborene Makula¬
degeneration Best. Angeboren, nicht progressiv; bei 8 Mitgliedern einer Familie
von 59 Personen. Makulaherde von verschiedener Größe und Form; bisweilen Ver¬
änderungen, die an abgelaufene Chorioiditis erinnern; weiße Herde mit mehr oder .
weniger Pigment. Nervöse oder psychische Erkrankungen dabei nicht beobachtet.
4. Die familiäre progressive Makuladegeneration mit und ohne psychische Störungen.
Anfänglich zarte, gelblichgraue Flecke, dann Unregelmäßigkeiten in der Pigmen¬
tierung, dann zusammenfließender Fleck in Makulagegend, liegendoval von 2 Pa-
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung.
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pillendurchmessergroße: eigenartig schmutziggrau bis bleigrau, im Herd gewöhnlich
noch einige Aderhautgefäße, Pigmenthäufchen, in der Umgebung weißliche, fleckige
Trübungen. Die erkrankten Geschwister erkranken entweder alle psychisch oder
bleiben alle frei. Bei Fallen ohne psychische Störungen Beginn im 12.—14. Lebens¬
jahre, bei Fällen mit psychischen Störungen zwischen 3% und 6 Jahren, Beginn
gleichzeitig mit den Sehstörungen; mehr oder minder schnelle Verblödung; in einem
Falle epileptiforme Anfälle. In der Ätiologie der Fälle mit psychischen Störungen
spielt Konsanguinität möglicherweise eine Rolle.
Kretschmer (31) konnte bei einem Soldaten folgenden Symptomenkomplex
. feststellen: eunuchoider Habitus und partieller akraler Riesenwuchs; überlange Glied¬
maßen, offene Epiphysenfugen, kleiner Schädel mit flachem Hinterhaupt, mangel¬
hafte Behaarung des Körpers, kleine Hoden, akromegale Verhältnisse an Nase,
Händen und Füßen; daneben möglicherweise als Nebennierenerscheinungen aufzu¬
fassende Befunde: abnorme Hautpigmentierungen, Dermographie, Tachykardie,
Krampfaderbildung; außerdem Arthropathien der Wirbelsäule und Kniegelenke,
psychische Minderwertigkeit und intellektuelle Schwäche, lokale Pse6dohypertrophie
der Muskulatur. Der Vater zeigte ähnliche Symptome, und auch Großvater und
Geschwister des Vaters sollen ebenfalls ähnliche Erscheinungen geboten haben.
faßt den Zustand als polyglanduläres Syndrom auf, in dessen Mittelpunkt ein Hoden-
Hypophysenkomplex steht, zu dem sidi wahrscheinlich noch Nebennierensymptome
gesellen.
Comils (10) teilt die Krankengeschichte eines Falles von Eunuchoidismus mit:
49 jähriger Mann, Vater und 5 Brüder ebenfalls von riesenhaftem Wuchs; beschränkt;
schon in Schule auffallend groß; in der Ehe große Libido, aber langdauemder Koitus
und geringe Ejakulation. Nach einem Unfall neurotische Symptome, 2 Monate
später keinerlei Geschlechtsverkehr mehr. Riesenhafter Wuchs, Extremitäten abnorm
lang, teigige Schwellung der Haut, besonders am Mons veneris, mangelhafte Be¬
haarung im Gesicht, in Achselhöhlen und Schamgegend, Penis mäßig entwickelt;
Genu valguae, geringe Intelligenz. Verf. gibt keinerlei Erklärung für das auffällige
Verschwinden der Libido nach dem Unfall.
In dem Falle von Dziembowsltf (12) bestanden von Geburt an in den rechts¬
seitigen Extremitäten mäßige Schwäche und krampfartige Erscheinungen (zerebrale
Kinderlähmung); im 5. Jahre längere Zeit starke Kopfschmerzen, anschließend
rapid zunehmende Fettsucht, nach 3 Jahren stationär; denn Jahre hindurch Poly-
-dipsia und Polyurie als Erscheinungen von Diabetes insipidus, weiterhin Schwinden
der Libido, Verkleinerung der Hoden. Soldat. Im Felde wiederum im Anschluß an
Kopfschmerzen stärkeres Hervortreten der Schwäche in der rechten Körper hälfte.
Typisches Bild der Dystrophia adiposogenitalis: Fettwülste besonders an Brüsten,
Schultern, Bauch, dürftige feminine Behaarung, leichte bitemporale Hemianopsie,
Lymphozytose, niedriger Blutdruck; daneben jedoch auffallende Schlaffheit der
Muskulatur, stellenweise an Erb sehe Dystrophie erinnernd, keine Entartungsreaktion,
.aber etwas langsame und träge Zuckung, Tachykardie, die wahrscheinlich auf eine
Herzmuskelschwäche zu beziehen ist. In der Literatur ist nur selten Myopathie in¬
folge Hypophysenerkrankung beschrieben worden. Da bei dem 26jährigen Manne
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
durch Darreichung von Pituitrin und Hypophysia bereits nach 14 Tagen über¬
raschende Besserung erzielt wurde, vor allem Gewichtsabnahme, Steigerung und
Kräftigung des Muskeltonus und der Herztätigkeit, schließt Verf., daß die Myopathie
in seinem Falle zweifellos eine Folge der Erkrankung und Unterfunktion der Hypo¬
physe gewesen ist.
Weygandi (45) teilt mehrere etwas atypische Fälle von Degeneratio adiposo-
genitalis mit: Fall 1. Schwach beanlagtes Mädchen mit Parese des linken Beines,
Menses mit 15 Jahren, Cessatio mensium mit 16% Jahren, gleichzeitig Kopfschmerz,
Schwindel, Hinfallen, krampfartige Bewegungen in der 1. Hand, Schlafsucht, Amau¬
rose. Von 17% Jahren an rapide Gewichtszunahme von 35 auf 70 kg. Rückkehr
der Menses. Zustände von Somnolenz mit Erbrechen und epileptiformen Anfällen,
zeitweise läppisch, heitere Stimmung. Gliasarkom der Hirnbasis, Hypophyse knopf-
artig plattgedrückt; zeigte überwiegend nur noch Drüsengewebe, Neurohypophysen-
gewebe nur noch als kleiner Randstreifen. Bemerkenswert ist, daß trotz schwerer
Kompression der Neurohypophyse die genitale Komponente wenig ausgeprägt war.
Untersuchung des Blutes nach Abderhalden ergab Abbau der Hypophyse. Der hypo¬
physäre Schwachsinn bietet insofern ein ganz eigenartiges Bild, als es sich um eine
Demenz von ausgesprochen erethisch-euphorischem Gepräge handelt.
Fall 2. Männlicher Patient; mit 1% Jahren Krämpfe, epileptischer Anfell mit
19 Jahren. Sehr schwachsinnig, wild und zergtörutigssüchtig. Schon früh sehr dick,
mit 30 Jahren 151,5 kg, sank wieder auf 122 kg. Exitus mit 35 Jahren. Neurohypo-
physe faserreiches Gewebe mit wenig Kernen, Drüsenteil und Pars intermedia gut
ausgebildet. Schilddrüse hypoplastisch-infantil. Ursache wahrscheinlich Enzepha¬
litis. Ähnliche Erscheinungen finden sich bisweilen bei Porenzephalie, Epilepsie,
Hydrozephalie, auch bei Mikrozephalie, Lues hereditaria.
Fall 3. Sekundäre Adipositas bei hochgradigem Hydrocephalus mit Chondro¬
dystrophie. Mädchen mit Mißbildung des Schädels geboren, links blind, mit 1 Jahre
Laufen und Sprechen gelernt, mit 14 Jahren Stillstand der geistigen Entwicklung,
immer Euphorie, geistiger Rückgang. Stirnhöcker stark aufgetrieben, horiontaler
Umfang in Höhe der Stirnhöcker 42 cm, in Höhe der stark auscinandergetriebenen
Schläfenschuppen 58 cm. Mißbildungen an Händen und Füßen. Starke Adipositas.
Tod mit 16% Jahren. 1150 g Hirnwasser; Hypophyse offenbar durch Drude ge¬
schädigt.
Kellner (29) gibt eine kurze, ansprechend geschriebene Darstellung der neueren
Untersuchungen, die über die Ätiologie des endemischen Kropfes und Kretinismus
angestellt worden sind, und über die hauptsächlichsten, zurzeit erörterten Theorien.
Nilsson (36) hat bei einem Falle von infantilem Myxödem Blutzucker Bestimmungen
gemacht. Bei der Aufnahme vertrug der Pat. 300 g Glykose, ohne daß Glykosurie
auftrat; es wurde nun der Blutzuckergehalt nach 100 g Glykose bestimmt und dann
nach etwa zweimonatiger Thyreoidinbehandlung nochmals. Bei einem Vergleich
zwischen der Blutzucker kurve nach 100g Glykose vor und nach Thyreoidinbehandlung
zeigte sich, daß nach der Behandlung die Werte des Blutzuckers und ebenso die Dauer
der Blutzuckersteigerung wesentlich erhöht. Diese Veränderung in der Gestaltung
der Blutzuckerkurve steht mit der Behandlung offenbar in direktem Zusammenhang,
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Fürsorgeerziehung. 85*
tun so mehr, als eine Veränderung der Blutzucker kurve durch Einwirkung der Thyre¬
oidea mit dem schon bekannten Unterschied in der Zuckertoleranz bei Hyper- und
Athyreoidismus in voller Übereinstimmung steht. Vor und während der Thyreoidin-
ibehandlung sind auch Versuche mit Adrenalininjektionen gemacht worden. Während
bei den ersten Versuchen eine deutliche Steigerung des Blutzuckergehaltes auftrat,
zeigte der Blutzucker bei den letzteren Versuchen kaum eine sichere Reaktion. Das
ist auffällig, denn nach der Theorie von dem steigernden Einfluß der Thyreoidea auf
<die Funktion des chromaffinen Systems hätte man bei den letzteren Versuchen eine
noch stärkere Reaktion erwarten müssen.
Cassel (7) hat 60 Fälle von Mongolismus beobachtet, und zwar 35 Knaben und
25 Mädchen. Die Kinder stammten meist aus kinderreichen Familien; einer 14. Kind;
ein Fall 1. Kind einer 15jährigen Mutter, zweimal handelte es sich um einen mongo-
listischeaZwilling, einmal Knabe, einmal Mädchen, der andere Zwilling war jeweils
differenten Geschlechts und gesund. 52 waren noch nicht I Jahr alt, einer 6, einer 8.'
16 sind nachweislich an Erkrankungen der Atmungs- oder Veidauungsorgane ge¬
storben. Von Mißbildungen hat Cassel gesehen Palatum fissum, Atiesia ani, Hydro-
cephalus congenitus, ausgebliebenen Descensus testiculorum, 8 mal angeborene Herz¬
fehler. Die Diagnose dieser Herzfehler gründete sich auf die bekannten Symptome:
Blausucht ohne Odem, öfters vergesellschaftet mit Trommelschlägelfingern, überlaute
Herzgeräusche. In 3 Fällen wurde doppelseitiger angeborener Katarakt gefunden,
ein Symptom, auf das in Deutschland bislang wenig geachtet worden ist, wie über¬
haupt den Augenveränderungen bei Mongolismus in der deutschen Literatur noch
wenig Beachtung geschenkt worden ist, während in der ausländischen Literatur mehr
Gewicht da.auf gelegt worden ist.
In zwei Arbeiten beschäftigt sich Gregor (20.21) auf Grund seiner Erfahrungen
über 1500 im Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf beobachtete Fälle mit der Frage der
Verwahrlosung. Die erste handelt von der Aufstellung von Verwahrlosungstypen
(20). Eine Gliederung des Materials lediglich nach medizinisch-klinischen Gesichts¬
punkten ergibt keine befriedigende Lösung; Verf. hat daher eine weitere Einteilung
nach der moralischen Haltung und Entwicklung der Fürsorgezöglinge vorgenommen.
Er gelangt so zur Abgrenzung von 5 Gruppen: 1. Moralisch Intakte. Bei ihnen
handelt es sich um Individuen, die eine normale Anlage zeigen oder nur unwesentlich
innerhalb einer auch hier anzunehmenden physiologischen Breite von moralisch ein¬
wandfreien Individuen abweichen. 2. Moralisch Schwache. Hier setzt die Ver-'
wahrlosung. oft in der Pubertät oder Vorpubertät, ziemlich plötzlich ein, ist begleitet
von einer auffälligen Änderung der Persönlichkeit, trägt mehr episodischen Cha¬
rakter, klingt wieder ab, um wieder einer korrekten Lebensweise Platz zu machen.
An Dementia praecox erinnernde Züge, eigenartige somatische Befunde, namentlich
Choreasymptome, weisen auf das Pathologische des Gesamtprozesses hin. Exogene
Momente spielen eine größere Rolle. 3. Im Gegensatz dazu treten bei den moralisch
Minderwertigen endogene Momente, namentlich Belastung durch Verbrechertum,
in den Vordergrund. 4. Asoziale, bei denen es sich um die sogenannten schweren
Fälle mit tiefen moralischen Defekten handelt. 5. Moralisch Indifferente. Sie
bilden jene Gruppe von moralischer Verwahrlosung, bei der die Delikte die Kon-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
sequenz eines pathologischen psychischen Mechanismus bilden, dessen Träger im
strafrechtlichen Sinn für die Störungen der Rechtsordnung nicht verantwortlich
sind. — Von den klinischen Gruppen sind Psychosen unter dem Material sehr gering
vertreten, ebenso Epilepsie; in einem größeren Prozentsatz angeborener Schwach¬
sinn, namentlich in seinen leichteren Formen; im Vordergrund steht die Psycho¬
pathie. Bemerkenswerte Unterschiede weisen Schulpflichtige und Schulentlassene
auf; bei den Schulentlassenen kommen doppelt soviel Asoziale, weitaus mehr Psycho¬
pathen vor, dagegen fast keine moralisch Intakten. Bei den schulpflichtigen Mädchen
fehlen Asoziale ganz,-moralisch Intakte sind ’n größerem Umfang vorhanden. Ist
mit der erwähnten Bestimmung ein wesentlicher und praktisch wichtiger Zug der
Persönlichkeit festgestellt, so bezweckt die Aufstellung von Verwahrlosungstypen
eine anschauliche Vorstellung der im besonderen Falle vorliegenden Verwahrlosung
nach der Struktur der Persönlichkeit und deren Handeln. Die weitgehende Überein¬
stimmung, welche die Verhaltungsweise Verwahrloster zeigt, ist in der gleichzeitigen
psychischen Struktur begründet, durch welche Entwicklung, Form und Verlauf der
Verwahrlosung bestimmt werden. Gregor kommt hierbei zur Aufstellung folgender
Typen;
I. Exogener Typ. Fälle, die lediglich infolge äußerer Ursachen verwahrlosen.
Erziehungsmangel, körperliche und geistige Vernachlässigung, Anstiftung zu
Vergehen.
II. Triebhaftigkeit (kindliche Individuen).
1. harmlos' gutartig,
2. bösartig asozial,
3. niedrig organisiert,
Dieser Typ wild durchaus von Kindern und infantilistisch gearteten Jugend¬
lichen vertreten. Das in frühester Jugend überwiegende Triebleben erfährt bei ihnen
im späteren Kindesalter keine Beherrschung durch intellektuelle und gemütliche
Hemmungen.
a) neurasthenisch,
b) phantastisch-hysterisch,
c) sexuell erregt.
III. A. Haltsloigkeit.
1. lebhaft (erethisch),
2. gleichgültig-stumpf (torpide),
3. brutal,
4. exzentrisch-phantastisch,
5. triebhaft.
B. Sexuelle Verwahrlosung.
1. gutmütig, schwach beschränkt.
2. sexuell triebhaft,
3. sinnlich-arbeitsscheu,
4. niedrig organisiert,
5. bewußt-absichtlich.
Die von anderer Seite behauptete Beziehung von Kriminalität und Sexualität
besteht nicht; ein Übergang von kindlichem Diebstahl zu sexuellen Ausschweifungen
ist nicht vorhanden. Die Zahl sexuell triebhafter und bewußt absichtlich sexuell ver¬
wahrloster Mädchen steht hinter den anderen Formen zurück.
IV. Kriminelles Handeln.
1. Verbrecherische Neigungen.
2. (Pathologische) Schwindler und Lügner
3. Geborene Verbrecher.
Die zweite Veröffentlichung (21) ist speziell der kindlichen Verwahrlosung
(bzw. der Schulpflichtigen) gewidmet. Was zunächst die Frage der Ätiologie anlangt.
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Schütte, Intoxikations-Psychosen.
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so zeigen die schulpflichtigen Zöglinge eine sehr starke Belastung namentlich durch
Trunksucht und Verbrechertum; es läßt sich daraus schließen, daß bei den Schul¬
pflichtigen endogene Momente eine große Rolle spielen, während man äußeren Mo¬
menten gewöhnlich nur eine die Verwahrlosung fördernde Wirkung zuerkennen kann.
Frühzeitiger Beginn der Verwahrlosung ist nicht selten. Die Delikte, die von dem
aus der Leipziger Kreishauptmannschaft stammenden Material in der Hauptsache
begangen worden sind, sind Diebstahl, Vagabundage, Verlogenheit, während Roheits¬
delikte zurücktreten. An der Hand von Beispielen werden die klinisch-medizinischen
Gruppen und ihre Beziehungen zur Verwahrlosung besprochen. Die psychisch
Intakten zeigen eine etwas niedrigere psychische Organisation; bei den Psychopathen
tritt eine ungleichartige Anlage und Entwicklung der psychischen Funktionen zutage;
sie weisen einen Gegensatz von Intellekt und Gefühl, starke Reizbarkeit, Schwankun¬
gen, Anomalien der sexuellen Entwicklung, gemütliche und -moralische Defekte,
Neigung zu Phantastik, Gefühlsübertreibung, Schwindeleien und Lügenhaftigkeit
auf; bei den Epileptikern stehen bisweilen poriomanische Zustände im Vordergrund;
geisteskranke Individuen sind selten; in Frage kommen vor allem Dementia praecox
und manische Erregungszustände. Bei den Schwachsinnigen*gibt sich die Geistes¬
schwäche in dem triebmäßigen, aber auch unberechenbaren Charakter, des Handelns
kund-. Die Verwahrlosung stellt im allgemeinen keine Funktion einer bestimmten
klinischen Gruppe vor, trägt aber bei den einzelnen klinischen Gruppen einen be¬
sonderen Charakter, so daß im einzelnen Fall ein Verständnis der Verwahrlosung nur
durch die Kenntfiis der klinischen Form möglich wird. Für die Prognosestellung
beim normalen Individuum ist die moralische Artung fast allein ausschlaggebend,
während in pathologischen Fällen in erster Linie die Krankheitsprognose zu berück¬
sichtigen ist. Sie ist beim kindlichen Individuum oft besonders schwierig. Unter
den -Gegenmaßnahmen erwähnt Gr. an erster Stelle die Schutzaufsicht, deren Wirk¬
samkeit sich durch Begründung poliklinischer Sprechstunden noch steigern ließe, in
denen sich z. B. Eltern von dem mit der Natur der Verwahrlosung vertrauten Arzt
Rat holen könnten. Ist Anstaltsbehandlung nötig, so kommt als erste Einlieferungs¬
stelle eine Beobachtungsstation in Frage, wo die Fälle zu sichten sind, bevor sie in
die entsprechenden Anstalten (Heilerziehungsanstalten, pädagogische Anstalten,
Idioten- und Schwachsinnigenanstalten) überwiesen werden. Die Erfolge auf dem
Gebiete der Verwahrlosung sind immerhin erfreulich, wenn auch zugegeben werden
muß, daß namentlich bei den Psychopathen ein voller Erfolg schwer erreichbar ist,
und ein sehr beträchtlicher Teil als hoffnungslos gelten muß.
5. Intoxikations-Psychosen.
Ref.: Schütte -Langenhagen.
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Original fro-rri
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Schütte, Intoxik&tionstPsychosen.
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geheilter Fall von Botulismus. Münch, med. Wschr.
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
90*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
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kliniic zu Kiel. Inaug.-Diss. Kiel. 14 S. (S. 91*.)'
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RVO, insbesondere im Hinblick auf die gleiche Fürsorge
für alkoholkranke Krieger. (Vgl. Kuhn, Phil., Fürsorge
für alkoholkranke Krieger, in Berl. klin. Wschr. Nr. 27,
S. 732.) Berlin W. 15. Mäßigkeitsverlag. 1916.
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Grundlagen des Antialkoholismus. I. Halbband. Berlin.
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Alkoholismus während des Krieges. Mtschr. f. Psych.'
u. Neurol. Bd. 42, H. 4, S. 258.
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logie der perniziösen Anämie. Berl. klin. Wschr. Nr. 53,
S. 1253.
.a) Alkoholismus.
Dresel (9) (and, daß unter 151 Trinkern 43 einen trinkenden Vater, 13 eine
trinkende Mutter hatten; in 7 Fällen tranken beide Eltern. 5 Trinker waren als
Kinder in Zwangserziehung. Vielfach zeigte sich eine auffallend niedrige Schul¬
leistung, die für die geistige Minderwertigkeit eines Teiles der späteren Trinker
spricht. Von den 151 Trinkern stiegen 12 auf einen fcozial höheren Beruf, 20 blieben
auf derselben Stufe stehen, 51 sanken in eine tiefere Schicht und 63 blieben auf der
tiefsten sozialen Stufe stehen. 70 von 148 Männern dienten beim Militär; im August
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Schütte, Intoxikations-Psychosen.
91*
1914 standen 70 in militärpflichtigem Alter, doch waren nur 12 von ihnen für den
Dienst brauchbar. Unter 640 Geburten waren 83 Totgeburten, von den 357 Lebend-
geborenen starben 123 als Kinder. Die Ernährungsverhältnisse waren vielfach un¬
genügend. Tuberkulose konnte bei 69 Trinkern oder ihren Frauen festgestellt werden.
Die behördlichen Maßnahmen bestanden im Wirtshausverbot für 37 Trinker,
von denen nur 6 geheilt oder gebessert wurden, weil die Verordnung zu spät kam.
Dasselbe gilt für 14 Entmündigte, von denen nur einer geheilt wurde. In 7 Fallen
bewährte sich die Umwandlung einer Rente in Sachleistung gut. Trinkerheilstätte
und Arbeitshaus hatten keine Erfo.ge. 107 Trinker stellten sich als psychopathische
Persönlichkeiten heraus, von denen 72 schon vor dem 21. Lebensjahre dem Alkoholis-
mus verfallen waren. Diese letztere Gruppe gibt die schlechteren Heilungsaus¬
sichten. Sehr wichtig ist, daß die psychopathischen Anlagen möglichst früh von einem
erfahrenen Arzte festgestellt werden. Alle Personen, die vor dem 21. Lebensjahre
trunksüchtig wurden, sind nach Ansicht des Verf. geistig abnorm. Die Kriminalität
der Trinker sieht er nicht als Folge der Trunksucht an, sondern vielmehr als neben¬
einanderhergehende Folgeerscheinung abnormer Veranlagung.
Bonhoeffer (2) führt aus, daß die Zahl der alkoholistischen Erkrankungen in
der Charitd seit dem zweiten Drittel des Jahres 1914 erheblich zurückgegangen sind,
und zwar auf der Männerseite bis auf den vierten Teil gegenüber dem Jahre 1913;
auf der Frauenstation wurde 1916 überhaupt keine Alkoholistin aufgenommen.
Schon seit Beginn des Jahrhunderts hatten die Deliriumerkrankungen allmählich
abgenommen, im Kriege trat ein besonders starker Abfall bis auf 9% der alkoholisti¬
schen Aufnahmen bei den Männern ein; bei den Frauen fehlten Delirien völlig.
Dagegen stiegen die Zahlen über den pathologischen Rausch von 12% im Jahre 1912
auf 40% im Jahre 1916, eine Erscheinung, die vor allem durch das Manifestwerden
der psychopathischen Konstitutionen im Gefolge der Kriegsverhältnisse zu erklären
ist. Die Erfahrung des Krieges bestätigt, daß eine eigentliche Trunksucht im Gegen¬
satz zur Morphiumsucht kaum je gefunden wird. Zum Schluß bemerkt Verf., daß
die Zahlen der schizophrenen Prozesse eine gleichmäßige Erkrankungsziffer zeigen,,
da sie von äußeren Einflüssen unabhängig sind.
Robert (35) hat sich mit der Abnahme des Alkoholismus unter den Kranken
der psychiatrischen Klinik in Kiel während des Krieges beschäftigt. Das Fallen der
Alkoholismusziffer im Jahre 1914 trotz Zunahme der Gesamtzugänge erklärt er durch
ide zahlreichen Einberufungen und die verbesserte Arbeitsmöglichkeit für Männer
und Frauen, ferner durch die Erschwerung des Konsums und die erhebliche Preis¬
steigerung. Eine Steigerung der akuten Alkoholerkrankungen während des Krieges
geht aus seiner Tabelle nicht deutlich hervor, ebensowenig der Einfluß der erhöhten
Alkoholbsteuerung im Jahre 1909.
Kuhn (29) schlägt vor, ebenso wie es jetzt schon bei tuberkulösen Lungen¬
kranken und Geschlechtskranken geschieht, auch die alkohol kranken Kriegsteil¬
nehmer der bürgerlichen Fürsorge zu überweisen, und zwar sowohl diejenigen,
welche ohne Versorgung, als auch die, welche mit Rente entlassen sind. Er weist
darauf hin, daß erfahrungsgemäß viele Soldaten erst nach ihrem Ausscheiden dem
Alkoholismus verbdien, und daß es vielfach gerade die Kriegsverletzten sind, denen
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Bericht Ober die psychiatrische Literatur 1917.
die Gefahr der Trunksucht droht. Besonders wichtig ist es, daß der § 120 der RVO*,
betreffend die Gewährung von Sachleistungen an Stelle der Rente, auch auf Kriegs¬
teilnehmer ausgedehnt wird. Leider besteht die Absicht, diese Bestimmung nur
auf Kriegsbeschädigte anzuwenden, die bereits vor dem Kriege trunksüchtig waren;
auch will man nur in Ausnahmefällen mit dieser Maßnahme Vorgehen. Durch solche
Einschränkungen würde natürlich der Zweck der ganzen Einrichtung vereitelt werden.
Linnt (30) beschreibt in einer Dissertation drei Krankheitsbilder der Alkohol-
Halluzinose, die sich durch große Verschiedenheiten des Verlaufes auszeichnen.
Ef bezeichnet die Halluzinose einfach als die schwerere, kompliziertere Form des
Delirium tremens.
Die Dissertation von Hofius (21) bringt eine Reihe von Krankengeschichten,
die chronischen Alkoholismus, akutes Irresein und Alkoholepilepsie betreffen.
Specht (40) bespricht die akute Halluzinose der Trinker und bringt 5 Kranken¬
geschichten aus der Psychiatrischen Klinik in Kiel. Er kommt zu dem Resultat,
daß bei den Sinnestäuschungen der Gehörsinn zwar sehr im Vordergründe steht,
daß aber auch Gesichtshalluzinationen fast niemals fehlen. Auch Gefühlstäuschungen
kommen nicht selten vor. Dagegen sind Geruchs- und Geschmackshalluzinationen
sowie hypochondrische Sensationen selten; wenn sie vorhanden sind, bedeuten sie
meist eine üble Prognose. Im übrigen ist die Vorhersage als gut zu bezeichnen, die
Dauer der Erkrankung beträgt höchstens zwei Monate. Die chronische Alkohol-
halluzinose gibt nur selten ein gut abgegrenztes Kranhkeitsbild.
Die Symptomatologie der Polyneuritis alcoholica ist von Brtmzema (3) in einer
Dissertation bearbeitet und durch drei Beobachtungen erläutert. In einem Falle
handelte es sich um eine Kombination von Alkoholismus und Diabetes, in einem
zweiten schloß die Polyneuritis sich' an ein Delirium tremens an, der dritte Pal. war
plötzlich mit polyneuritischen Erscheinungen erkrankt. Der zweite Fall bot das
schwerste Krankheitsbild mit starker Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit und
Beteiligung der Hirnnerven. Die Prognose ist hier im Gegensatz zu den beiden
andern Beobachtungen ungünstig
b) Andere Gifte.
Sieben Erkrankungen an Botulismus hat Doreniorf (8) in einem Kriegslaza¬
rett des Ostens beobachtet. Er fand, daß die ersten Krankheitserscheinungen —
Übelkeit, Druck oder Schmerz in der Magengegend — unmittelba oder einige
Stunden nach Genuß des Giftes auftraten. Dann folgte Erbrechen, Schwindel,
nach frühestens 24 Stunden Lähmungserscheinungen, besonders an den inneren
Muskeln des Auges. Regelmäßig kommen Parese des Magens und Darmes vor, auch
Blasenlähmung. Bei zwei Kranken bestanden Gehörstörungen. Die Erkrankung
verläuft fieberlos, falls nicht Komplikationen eintreten. Die Sektion eines Falles
ergab Hyperämie der inneren Organe. Im Gehirn zeigten die Ganglienzellen der
Vierhügelregion, der Brücke und Medulla obl. sehr ausgedehnte chromolytische Ver¬
änderungen. In den Kerpen des Vagus, Oculomotorius und Abduzens erschienen
die Zellen zerfressen und besenförmig aufgelöst. Auch die Ganglien des Großhirns
waren leicht verändert. Rückenmark und Kleinhirn waren intakt. Gl «Veränderungen
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UNIVERSITÄT OF MICHIGAN
Kafka» Serologie.
93*
fanden sich nur spärlich in Medulla obl. und Brücke. Hamorrhagien fehlten. Ursache
der Erkrankung ist der Bacillus botulinua, der allerdings in den hier beschriebenen
Fallen nicht nachgewiesen werden konnte. Die Therapie besteht in Magenspülung,
da wegen der Parese des Magens Reste des Giftes noch lange Zurückbleiben, ferner
Aderlaß und subkutane Infusion. Sehr anzuraten ist die Anwendung des Botulismus^
serums, welches in einem Falle anscheinend lebensrettend wirkte. Eine Wirkung von
Diphtherieserum auf die Lähmungserscheinungen konnte nicht beobachtet werden.
Einen sehr interessanten Fall von Veronalvergiftung bei einem 19jährigen
neuropathischen Offizier konnte Oppenheim (34) beobachten. Es trat anfangs ein
soporöser Zustand von etwa dreitägiger Dauer ein, der mit Oligurie, Pulsverlang¬
samung und subnormaler Temperatur verbunden war. Die Reflexe waren bis auf
den Bauchdeckenreflex erhalten. Eine Ptosis sowie Nystagmus bildeten sich bald
zurück, es blieb aber eine Augenmuskellähmung zurück sowie als hervorstechendstes
Symptom eine der Amaurose nahekommende Amblyopie und eine ungewöhnliche
Form der Gehstörung. Das Krankheitsbild gleicht sehr der Polioencephalitis haemor-
rhagica sup.; man geht wohl nicht fehl, wenn man den Hauptangriffsort der Veronal¬
vergiftung im Grau des Zwischen- und Mittelhirnes sucht. Die Gehstörung bei dem
Pat. wurde durch das Kaufmannsche Verfahren behoben. Verf. halt es für wahr¬
scheinlich, daß sie' ursprünglich toxisch bedingt war und auf psychogenem (unter¬
bewußtem) Wege einen starken Auftrieb und eine Fixation erfahren hat. Die Am¬
blyopie, welche nach einjähriger Beobachtung noch fast unverändert fortbestand,
ist schwer zu deuten. Der ophthalmoskopische Befund war dauernd normal, die
Pupillenreaktion lebhaft. Von der hysterischen Sehstörung unterschied sich die hier
vorliegende Amaurose in vielen Punkten, so daß man sich mit der Diagnose einer
nichtorganisch bedingten Form begnügen mußte, deren psychogene Grundlage sich
nicht beweisen ließ.
6. Serologie.
Ref.: V. Kafka-Hamburg.
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I. Blut.
Gegenüber einer Reihe von Angriffen auf die Wassermanmdit Reaktion, be¬
sonders jenen von Heller, Frendenberg und Saalfeld, veröffentlicht ü. Wassermann (61)
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Kafka, Serologie.
99*
eine Reihe von Ergebnissen der Wa.-R., die unter strengen Bedingungen an den
gleichen Seren bei zwei verschiedenen Instituten erhoben wurden (Kaiser'Wilhelm-
Akademie und Kaiser-Wilhelm-Institut). Sie zeigten vollkommen Übereinstimmung.
v. W. führt daher alle Resultate, die, von verschiedener Stelle erhoben, bei demselben
Serum different erscheinen, auf ungleichmäßiges Arbeiten oder auf Verwendung
ungleichmäßig eingestellter Reagenzien zurück.
Hdler (15) bringt dazu eine Reihe von Entgegnungen und Richtigstellungen.
Kaup (28) kritisiert ebenfalls die Zuverlässigkeit der Wa.-R. Er hat trotz sorg¬
fältigster Beobachtung der Vorschriften der Waaerman nschen Originalmethode und
bei Kontrolluntersuchungen an verschiedenen Untersuchungsstellen in einem erheb¬
lichen Prozentsatz der Fälle unter sich widersprechende Resultate erhalten; die Er¬
gebnisse wurden nicht bessere, wenn staatlich geprüfte Reagenzien verwendet wurden.
Auch sei die Originalmethode in ihrer heutigen Form nicht empfindlich genug.
Wesentlich sei vor allem die Anwendung der richtigen Methodik. Diese könne sich
aber nur aufbauen auf der Erkennung der Gesetzmäßigkeit der Wirkung zwischen ,
Immunambozeptor (und den andern Reagenzien) einer- und dem Komplement
andrerseits. Dadurch werden unspezifische Hemmungen vermieden und die Emp¬
findlichkeit erhöht.
Kaup und Kretschmer (29) sowie Kaup (28 a) besprechen ausführlich die neue
Methode der Bestimmung der Komplementeinheit. Es wird vor allem in zwei Unter¬
suchungsreihen der Titer des Immunambozeptors bestimmt, und zwar mit 0,5 und
' 0,1 einer Komplementverdünnring 1 :10, dann wird das Komplement in absteigenden
Dosen austitriert, und zwar 1. im hämolytischen System allein, 2.-unter Zusatz von
Normalserum, 3. unter Zusatz von Extrakt, 4. unter Zusatz von Extrakt und Normal-
serym. Auf diese Weise wird die Komplementeinheit bestimmt. Es werden nun
im Hauptversuch mit jedem Serum in den Extraktröhrchen die 1-, 1/4-, 2-, 3- und
4 fache Komplementeinheit an gesetzt, in der Serumkontrolle wird ebenfalls mit
der Komplementeinheit gestiegen. So läßt sich die Bindungskraft des Serums allein
wie auch des Serums mit Extrakt exakt feststellen. Kaup hat auf solche Weise sehr
günstige und empfindliche — aber spezifische Ergebnisse erhalten. ‘Auf die näheren
Einzelheiten der Methodik kann hier nicht eingegangen werden.
Blanck (2) empfiehlt die Kaupsche Methode der quantitativen Messung der
Komplementbindung. Er hat 1292 Fälle vergleichend mit der Wassermannachen
Originalmethode und Kaup untersucht; es ergab sich ein Mehr von 53 positiven
Fällen für die Kaupsche Methodik. Mit dieser läßt sich auch die jeweilige Ver¬
mehrung oder Abnahme der Luesreagine bestimmen.
Sonntag (57) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Wa.-R. mit be¬
sonderer Berücksichtigung der Praxis.
Poehbnann (50) gibt eine kurzgefaßte Anleitung zur Ausführung der Wa.-R.
Stäling (58) stellt an einer Reihe von Versuchen fest, daß die Reaktionsfähigkeit
desSerums für die Wa.-R. bei länger dauerndem Erhitzen abnehme, dabei verminder¬
ten sich aber auch die die Hämolyse begünstigenden Einflüsse, so daß die Ergebnisse
eine Resultante beider Faktoren darstellen. Eine Inaktivierung von 5 Min. führt
nicht zu einer Erhöhung der Empfindlichkeit, wenn sie auch die Unspezifität be-
g*
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Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
100* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
seitigt. Für die Praxis erscheint es nicht erwünscht, die Dauer der Inaktivierung
unter 34 Stunde herabzusetzen.
Trinchese (60) hat als Ergebnis klinischer Erfahrungen und zum Teil auch
des Tierversuches festgestellt, daß mit Ausnahme der „Metaluiker“ positiv nach
Wassermann reagierende Individuen infektiös sein können, und daß umgekehrt alle
infektiösen Syphilitiker eine positive Wa.-R. bieten.
Bruck (6) fügt zu 03 inaktiv. Serum 2 ccm destilliertes Wasser, hierauf genau
03 ccm Add. nitric. pur., dann wird geschüttelt, es bildet sich ein weißer Nieder¬
schlag, man läßt nun 10 Min. bei Zimmertemperatur stehen, dann gibt man 16 ccm
destilliertes Wasser von Zimmertemperatur zu, schüttelt gut und wiederholt dieses
nach 10 Minuten, dann läßt man 34 Stunde bei Zimmertemperatur stehen. Bei
normalen Seren geht der gebildete Niederschlag in Lösung, und es resultiert eine
wasserklare oder durchsichtig opaleszierende Flüssigkeit. Bei Luesseren bleibt eine
deutliche feinflockige weiße Trübung bestehen. Laßt man 2—3 Stunden, besser
12 Stunden, weiter stehen, so bleiben die Normalsera völlig Idar und durchsichtig
und zeigen keine Spur von Bodensatz, während sich bei den Syphilisseren eine
größere oder kleinere gelatinöse Niederschlagskuppe am Boden des Glases findet.
Es ergab sich Obereinstimmung mit der Wa.-R und dem klinischen Befund.
In einer, zweiten und dritten Mitteilung gibt Bruck (7) zu. daß seine sero¬
chemische Reaktion praktisch zur Luesdiagnose noch'nicht verwendbar sei, wegen
der unspezifischen Resultate bei andern Erkrankungen. Er zieht aus der Reaktion
den Schluß, daß nicht die Menge der Globuline im Luesserum vermehrt ist, sondern
ihre Fällbarkeit. Er kommt im Verlauf weiterer Versuche zu interessanten Ergeb¬
nissen bezüglich der Erscheinungen bei der Inaktivierung der Sera und der Fällbar¬
keit der Globuline.
H. Sachs (53) bespricht, angeregt durch die ßrtic&schen Untersuchungen, seine
früheren Studien über die Komplementinaktivierung im salzarmen Medium und
meint, daß diese in Verbindung mit neueren Theorien geeignet seien, den Vorgang des
Komplementschwundes bei der Wa.-R. auf eine Globulinveränderung bestimmten
Grades zurückzuführen, für die bei der Wa.-R. die Extraktwirkung das physikalisch
aufschließende Moment bildet.
Mandelbaum (44) hat Studien über das Eigenkomplement des Serums gemacht
und- gefunden, daß der Komplementgehalt in iedem Menschenserum der gleiche ist
und im gesunden Serum im Eisschrank während mehrerer Tage erhalten bleibt;
eine Reihe von pathologischen, vor allem Luessera, verlieren ihr Komplement inner¬
halb 24 Stunden im Eisschrank vollkommen. 65% sämtlicher nach dieser Methode
positiv reagierenden Sera stammte von Syphilitikern; von den nach Wassermann
positiv reagierenden Fällen zeigten 55% Komplementschwund. M. kommt zu dem
Schlüsse, daß bei Ausschluß von chronischer Tuberkulose, chronischen Eiterungen,
Scharlachrekonvaleszenz ein positiver Ausfall des Komplementschwundes auf eine
wahrscheinlich vor längerer Zeit erworbene syphilitische Infektion bzw. auf eine
kongenital erworbene Syphilis hinweist.
Kafka und Haas (27 a) gehen im Anschluß an Mandelbaums Untersuchung
auf die Geschichte der Forschungen über die He absetzung der hämolytischen Kom-
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Kafka, Serologie.
101*
ponenten bei Lues ein und betonen, daß Weil und Kafka zu gleicher Zeit mit Elias¬
berg häufiges Fehlen des Eigenkomplements bei der Paralyse nachgewiesen haben,
daß ferner Kafka oft auch eine Herabsetzung der. Reaktionsfähigkeit des Normal¬
ambozeptors festgestellt hat, andrerseits den Komplementsschwund neben der Para¬
lyse oft dann gefunden hat, wenn die Lues mit Erscheinungen von seiten des Zentral¬
nervensystems einherging. Alle diese Punkte sind bestätigt worden. Die neuerlichen
Ergebnisse Mandelbatam, daß auch die Syphilitikersera im frischen Zustand genügend
Komplement enthält, der Schwund des Alexins daher erst außerhalb der Bhit-
bahn erfolge, haben die Autoren nachgeprüft. Es ergab sich Fehlen von Kom¬
plement in 16% der wassermannpositiven Fälle; in frischem Zustande war meist
Komplement vorhanden, zwei Fälle zeigten aber auch da schon Komplementver¬
minderung, so daß eine vollständige Bestätigung der Befunde von Mandelbaum nicht
möglich war. Bezüglich des hämolytischen Normalambozeptors wurde gefunden,
daß er fast immer vorhanden, daß aber bei den Luesseren seine Reaktionsfähigkeit
durch den Prozeß der Inaktivierung oft schwer geschädigt wird.
Halbey (12) hat die Gold-Zyan-Aldehyd-Essigsäure-Reaktion nach Torday und
Wiener in ihrer Bedeutung für die Diagnose der Lues untersucht. Das Prinzip der
Methode ist das, daß alle Blutsera durch Zugabe von einem Gold-Zyan-Aldehyd-
Gemisch starke Niederschläge bilden, während diese sich aber nach Zugabe von
Essigsäure bei nicht syphilitischen Seren nicht nennenswert klären, beobachtet man
bei Syphilitikerseren schwächere und stärkere Klärung, ja Aufhellung der Nieder¬
schläge. Die Deutung der Reaktion ist nach H. nicht immer ganz leicht. Bei der
Untersuchung von 180 Fällen ergab sich in 80% eine Übereinstimmung mit der
Wa.-R. In einzelnen Fällen war die T.W.-R. bei vorhandener Lues positiv, bei
negativer Wa.-R.
Kißmeyer (40) hat Agglutinationsversuche der Spirochaeta pallida mit 19 Seren
und 1 Liquor Syphilitischer sowie mit 10 Normalseren und 2 normalen Liquorse
gemacht und gefunden, daß das Serum der Syphilitiker in spezifischer Weise die
Spirochaeta pallida agglutiniert. Die Reaktion ist bei Syphilis nicht konstant vor¬
handen, aber in allen Stadien nachgewiesen.
König (41) hat das Luetin Noguchis bei einem Material von 100 Kranken intra¬
kutan geimpft; 75 Fälle ließen sich ätiologisch auf Lues zurückführen. Die Lues
cerebrospinalis ergab die höchste Prozentzahl an positiven Reaktionen, so daß man
mit einer gewissen Vorsicht den positiven Ausfall für Lues cerebri und gegen Paralyse
verwenden kann. Es ergibt sich auch auf Grund von K .s Zusammenstellungen ein
größerer Zusammenhang zwischen Luesreaktion und Lues cerebri.
Abderhalden (1) stellt die bisherigen Methoden v zum Nachweis der Abwehr¬
fermente zusammen. Als Richtlinien für die Zukunft haben zu gelten: erstens Ver¬
suche, aus Organeiweiß spezifische Substrate herzustellen, zweitens, mit dem Eiweiß
einen leicht nachweisbaren Stoff chemisch oder physikalisch zu verknüpfen, wobei
die Bindung im Zusammenhang mit dem kolloidalen Charakter des Substrates stehen
müsse. Geht diese beim Abbau verloren, so muß der aufgenommene Stoff zur Ab¬
gabe gelangen, sein Nachweis müßte also das Zeichen des Abbaus sein. Zu diesem
Zwecke wurden Versuche mit kolloiden Metallen, Beladung mit Eiweiß u. ä. versucht;
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102* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
letzteres war erfolgreich. Der Versuch wurde auch mit guten Ergebnissen von
Thocncn ausgeführt
Runge (52) hat das Dialysierverfahren bei einer Reihe von Seren Geistes- und
Nervenkranker angestellt. Er findet die Ergebnisse interessant, spricht aber nicht
für eine praktische Anwendung der A.-R.
Rautenberg (51) hat an der Hand von 300 Militärfällen den Wert des Dialysier-
verfahrens nach Abderhalden für die Kriegspsychiatrie erörtert. R. hatte sehr günstige
Ergebnisse zu verzeichnen, die im Original nachgelesen werden müssen. Er sieht sich
daher berechtigt, die A.-R. zur Klärung der Fragen der Diensttauglichkeit, Dienst»'
Beschädigung und Zurechnungsfähigkeit heranzuziehen.
Kafka (22, 23) hat Versuche über die Vorgänge beim Ablauf des Dialysier-
versuches nach Abderhalden angestellt. Er hat vor allem gefunden, daß dem Kom¬
plement eine funktionelle Bedeutung beim Zustandekommen der A.-R. nicht zuzu¬
sprechen ist. Auf die andern theoretischen Ergebnisse kann hier nicht eingegangen
werden; für die Praxis wurde geschlossen, daß es bei Anstellung der A.-R. notwendig
ist, auch die Menge Außenflüssigkeit genau abzumessen und möglichst gleichmäßige
Hülsen und Kölbchen zu verwenden, daß ferner als Hülsenprüfung auch jene mit
einer abgemessenen Menge 0,9% Na Q-Lösung als Hülseninhalt empfohlen werden
muß; die Kochsalzlösung muß nach Ablauf des Versuches genau gemessen werden
und die gleiche Probe mit verschiedenen Kölbchen wiederholt werden.
Zimmermann (65) hat Messungen des Alkaligehaltes des Blutes Geistesgesunder
und Geisteskranker mit Hilfe der Titrationsmethode von C. 5. Engel angestellt. Er
fand bei den meisten Psychosegruppen kaum ein Abweichen von der Norm, doch war
die Menge der titrierbaren Alkalis bei Dementia praecox am größten (5,6 mg), hierauf
folgten die Geistesgesunden (4,5 mg), dann die Paralytiker (3,87 mg), schließlich die
Epileptiker (3,05 mg).
de Crinis (8) hat den Serumeiweißgehalt refraktometrisch im physiologischen
und psycho-pathologischen Zustande gemessen. Er fand bei Schwangeren Werte
an der unteren Grenze des Normalen und darunter; im Schlafe zeigte sich Abnahme
des Eiweißgehalts, und zwar doppelt so groß, als jene in der Ruhe. Bei motorischer
Unruhe fanden sich immer höhere Werte, und zwar unabhängig von der Art der Er¬
krankung des Gehirns, bei melancholischen Symptomenkomplexen fanden sieb
Werte an der obersten Grenze der normalen, die aber häufig überschritten wurden.
de C. sieht dieses Phänomen als Teilerscheinung des melancholischen Stoffwechsels
an; der hierbei oft gefundene Leberabbau kommt ursächlich nicht in Frage» Ist der
Serumeiweißgeha’t bei Me’ancholie vermindert, so beruht er auf komplizierenden,,
zur Kachexie führenden Erkrankungen.
Zimmermann (64) konnte auf Grund von Untersuchungen über die antitrypti-
sche Kraft des Blutserums feststellen, daß bei Epileptikern, Paralytikern und Schizo¬
phrenen ein vermehrter Eiweißzerfall vorhanden ist, der sich in Erhöhung des anti-
tryptischen Titers äußert. Z. führt eine Reihe von Ursachen für diesen Eiweißzerfall
an. Im Harn von Epileptikern hat er oft Eiweiß nach weisen können, nach Anfalls¬
reihen fast immer; bei Paralytikern sah er Eiweißausscheidung im Urin nicht selten,,
vermißte es aber meist bei Dementia praecox.
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Kafka, Serologie.
103*
II. Liquor.
Herrenschnäder-Gum prich und Herrenschneider (16) haben die Reaktion nach
andy und Phase I bei einer größeren Reihe von Spinalflüssigkeiten Nervenkranker
igestellt und von bemerkenswerten Ergebnissen gefunden, daß Phase I auch bei
llgemeinen funktionell nervösen Beschwerden ohne organischen Befund vorkomme.
Edel und Piotrowsltf (9) haben eine Reihe von beginnenden Paralysen mit den
vier Reaktionen“ untersucht. Hieibei war oft die Luesanamnese negativ, die Wa.-R.
m Blute negativ, ebenso Phase I und Pleozytose; den diagnostischen Ausschlag
ab die Wa.-R im Liquor, die bei 0,1 ccm positiv war. Sie sehen daher dieses Phä-
omen als das früheste an, es kommt heute im präparalytischen Stadium vor. Sie
«tonen fernen, daß auch negativ Wa.-R. im Blute nicht gegen die Diagnose Para-
yse sprechen dürfe.
Hauptmann (14) macht kritische Bemerkungen zu den Arbeiten von Herren-
chneider-G umprich und Herrenschneider sowie Edel und Piotrounitf. Er kommt zum
Irgebnisse, daß das Vorkommen von Phase I bei nichtorganischen Nervenkrank-
leiten bisher nicht erwiesen ist, daß ferner die bei „Metasyphilis“ zuerst auftretende
:rankhafte Liquorveränderung nicht die positive Wa.-R. im Liquor, sondern positive
5 h. I-Reaktion sei.
Weichbrodt (63) teilt eine neue Liquorreakt'on mit: 3 Teile einer Vioos Sublimat-
ösungen werden zu 7 Teilen Liquor hinzugefügt. Normaler Liquor bleibt Idar,
>aUnlogischer trübt sich Diese Reaktion war bei allen durch Lues bedingten Psycho¬
sen positiv, bei allen nichtsyphilitischen negativ.
Hupe (18) tritt an der Hand ihres Materials dagegen auf, daß die von Weich-
irodt angegebene Sublimatreaktion für syphilitische oder metasyphilitische Er-
crankungrn des Zentralnervensystem* spez fisch sei. Sie kommt zu dem Schluß,
laß die Sublimatreaktion nur eine einfache Reaktion auf Eiweißkörper im Liquor sei.
Bürberg (5) hat den Zuckergehalt einer größeren Reihe (165) von Spinalflüssig-
ceiten mit der Bangschen Mikromethode bestimmt. Er beträgt normalerweise
3,5—0,75%o» In sonst normalen Flüssigkeiten, die aber von kranken Individuen
itammten, wurden Werte hinunter bis 0,4 und hinauf bis 1,0%o gefunden. Bei allen
Formen der infektiösen Meningitis fand sich eine Verminderung des Zuckergehaltes;
die Abnahme stand im proportionalen Verhältnis zur Intensität der meningitischen
Symptome. Bei eitriger Meningitis waren die Werte Spuren 0,l3°/oo> bei tube-
kulöser durchschnittlich 0,2 %o* bei syphilitischer durchschnittlich 0,41 0 /oo, bei
Paralyse durchschnittlich 0,48 °/oo» bei Tabes wurde die untere Grenze der Normal¬
werte erreicht. Bei Gehirnerkrankungen nicht infektiöser Natur zeigte sich, auch wenn
Pleozytose vorlag, keine Verminderung des Zuckergehalts. Die Zuckerbestimmung
spielt daher bei der Diagnose einer infektiö\en Erkrankung des Zedtralnervensystems
eine Rolle.
Lcschkc und Pinctmohn (42) konnten im Liquor Normaler sowie än Tabes,
Lues cerebri, Paralyse, Neurasthenie, Tuberkulose. Arteriosklerose Erkrankter
glykolytisches Ferment nachweisen (Drehungsabnahme 0,04%); es hält sich nur kurze
Zeit im Liquor und ist bei Diabetes nicht nachzuweisen. In allen untersuchten Fällen
war das diastatische Ferment in geringen Mengen in der Spinalflüssigkeit vorhanden.
Abwehrferraente wurden im Liquor nicht gefunden.
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104*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917
Kafka (21) hat gegenüber Leschkfi und Pincmsohn betont, daß er schon 1911
die Rückenmarksflüssigkeit auf diastatisches Ferment untersucht und gefunden
habe, daß von Liquor Nervennormaler keine oder nur geringe Diastasemengen vor¬
handen seien; höhere Werte fanden sich bei der Paralyse, Dementia praecox, dem
Alkoholismus sowie bei senilen und arteriosklerotischen Prozessen. Ferner erwähnte
K., daß er kurz nach Fausers Veröffentlichungen den Liquor auf Abwehrfermente
untersucht und solche nie gefunden habe.
Lindig (43) .stellte fest, daß er bereits 19(2 und 1913 die Rückenmarksflüssigkeit
auf Abwehrfermente untersucht habe und bis auf zwei Fälle, die aber mit Vorsicht v
zu verwerten sind, negative Ergebnisse erhalten habe.
Boas und Neve (3) haben die Hämolysinreaktion nach Wed und Kafka an
einem großen Material, speziell bei Lues II und Tabes, angestellt. Sie fand sich,
positiv bei I von 9 Patienten mit Induration und positiver Wa.-R.; ferner zeigte sie
sich bei 12 von 82 Patiehten mit Lues II sowie bei 2 von 10 Kranken mit Lues III
(hiervon eine Lues cerebri). Zweimal wurde sie unter 27 Patienten mit latenter
Syphilis gefunden, einmal bei kongenitaler Lues. Bei Paralyse fand sich die Reak¬
tion positiv in 73% der Fälle, bei Tabes in 47%, mit überwiegender Häufigkeit bei
frischen Fällen. 32 Kontrollfälle zeigten die Reaktion nicht. In einer Reihe von
Fällen war die Hämolysinreaktion die einzige positive im Liquor. Sie war — bei
quantitativer Anstellung — bei Paralyse stärker als bei andern Formen.
G. Salus (54) hat die Hämolysinreaktion nach Weil und Kafka, bei 284 Proben
von 206 Fällen zur Klärung der Meningitisdiagnose angestellt. Er zieht den Schluß»
daß diese Reaktion einen wertvollen Beitrag zu den diagnostischen Ermittlungen bei
Meningitisverdacht darstellt und wert wäre, Gemeingut der Kliniker zu werden.
Kirchberg (30) hat die Spinalflüssigkeiten von Geisteskranken nach Wassermann^.
Zellgehalt, Pandy und Phase I, Hämolysinreaktion, Goldsolreaktion, Mastixreaktion
und einer neuen Kolloidreaktion untersucht; mit dem Blute hat er neben der Wa.-R.
auch die A.-R. ausgeführt. Die Ergebnisse bringen nichts wesentlich Neues; von
Interesse ist die neue Kolloidreaktion, die Berlinerblaureaktion. Er hat, angeregt
durch Bechhold, eine kolloidale Berlinerblaulösung hergestellt (I g Berlinerblau wird
rfiit 3 ccm 5%iger Oxalsäure auf 100 ccm in destilliertem Wasser in der Kälte gelöst).
Zum Versuche wurde diese Stammlösung 1:10 mit destilliertem Wasser verdünnt..
Die weitere Versuchsanordnung war wie bei der Goldsolreaktion. K. nahm auf
Grund seiner Versuche an, daß die Berlinerblaureaktion auch in bezug auf die Er-
gebnisse mit der Goldsolreaktion parallel geht.
Kafka (27) hat untersucht, wieweit gewisse Blut- und Liquorreaktionen die
praktische Beurteilung der Nerven- und Geisteskrankheiten der Kriegsteilnehmer
unterstützen körnten. Bezüglich der Beantwortung der Frage der Simulation verhält
sich K. vorsichtig. Bei Kriegsneurotikern, zumal Zitterern, fand er durchwegs eine
deutliche relative Lymphozytose (meist über 40 bis 60 %) unabhängig vom Stadium
und der Dauer der Erkrankung; er schließt daraus auf die konstitutionelle krankhafte
Anlage des Zentralnervensystems der betreffenden Kranken. Bei thyreotoxischen
Symptomenkomplexen, zumal solchen auf dem Boden der Erschöpfung, hat sich
nie die Bestimmung der Blutgerinnungszeit, des Blutbildes und der A.-R. bewährt.
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Kafka, Serologie.
105*
Besonders wichtig aber erwiesen sich die neueren Untersuchungsmethoden des
Blutes und der SpinaHlüssigkeit (Wa^R., Pleozytose, Phase I, Hämolysinreaktion,
Mastixreaktion) zur Erkennung und Beurteilung der Lues des Zentralnervensystems,
zumal in einer Reihe von Fällen ohne serologische Untersuchung vorher Paralyse
oder Gehirnsyphilis angenommen wurden, bei denen aber die serologischen Probendie
klinische Ablehnung dieser Diagnosen unterstützten; in einer anderen Reihe von
Fällen waren vorher aus einer negativen Blutreaktion diagnostische Fehlschlüsse
gezogen worden; die Liquoruntersuchung brachte Klarheit. In anderen Fällen
wieder war die positive Blutreaktion nach Wassermann vorher übersehen und
waren Fehldiagnosen gestellt worden. Ferner gelang die Abgrenzung innerhalb
der Luesgruppe sowie jene von nichtsyphilitischen organischen Nervenkrankheiten.
Dergestalt konnte die serologische Untersuchung die Beantwortung der Frage nach
Dienstfähigkeit und Dienstbeschädigung ebenfalls mit unterstützen helfen.
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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
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BERLIN UND LEIPZIG
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BERICHT
ÜBER DIE
PSYCHIATRISCHE LITERATUR
IM JAHRE 1917
*
REDIGIERT
VON
OTTO SNELL
DIREKTOR DER HRIL* C. PrLEORAS8TA.LT LÜNEBORO
II.
II. LITERATURHEFT
ZUM 76. BANDE
DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
BERLIN UND LEIPZIG
VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER VERLEGER
“ ' WALTER DE GRUYTER & CO.
VORMALS G.J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHAXDLUNG — J.GCITENTAG VERLAGS¬
BUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT A COMP.
1920
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UNIVERSITY OF MICtHfiÄN I
7. Funktionelle Psychosen.
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Pneumonie. Fall von Fieberdelirium bei Pn • ; t .
Inaug -Dt&s. Kiel.
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Paralysis agitmts und den bei ihr vorkommetKteu
Psychosen. Irtaug - Di sh. Kiel.
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Kriegsteilnehmern, insbesondere bei Hebephreoikern
und Psychopathen. 20» Vers, mitteldeutscher .Psyi-Iuarcr
und Neurologen In Dresden, Januar 1917.
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•;;::vk k ; 'ine<b' : Ws(;hr* Nr. 64, S. 186»
% 'Oustair (Cöln), Öie Pseudologia pbao (esUea
im Kriege. Simwgsber. Neuro!. Zentralb! Nr jö.
S. 734.
V*/j.
wfrw tu*:*
6. Bagins/ä, Adolf (Ber Im), Fälle von neuropathisc* 1 - ’
rungen (einschließlich Psychosen und Sprächt•>■ . - ce»
nach akuten fieberhaften Erkrankungen i.m > . !
alter. Arch. h Kinderheilk. Bd. 65, H, 5 u. 6.
7. BallerBmü (0‘winsk}. Krieg und krankhafte Geistes-•
im Fixere*; Atlg. Ztschr. f. Psych. Bd. 73, S. hi:
8. Becker, W. H. (Weilmünster), Männliche und >v\0 '>'
'Geisteskranke. Ztschr. f. Sexual vvissenscb. U :: •
a-äö : ■
, \
■ ■ .
-
Go gle
ÜNlV EpSfP^'' 6|
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
120*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
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e ment. vol. 19, p. 11.
a) Manisch-depressives Irresein.
Fuchs (46) hat die bisherigen Arbeiten über die Pupfllenstör ungen bei De¬
mentia praecox zusammengestellt und laßt alle Beobachtungen dahin zusammen:
Von der großen Anzahl dir Pupillenstörungen bei Dem. praecox kommen von
den Störungen als solchen eine diagnostische Bedeutung nur zu djm Bumke sehen
Symptom und der A. Westphals chen katatonischen Pupillenstarre. Inwieweit
die Pupillenstarre auf Iliakaldruck (E. Meyer) für die Krankheit pathognomonisch
ist, läßt sich heute noch nicht mit Bestimmtheit behaupten. Der isolierten reflek¬
torischen Pupillenstarre kommt ein diagnostischer Weit in negativem Sinne zu.
Wenn auch die andern Pupillenstörungen, wie die durchschnittlich größere
Weite der Pupillen, die Pupillendifferenz, die Änderungen der Pupillenfarm, die
Trägheit der Lichtreaktion, an sich, wie schon erwähnt, diagnostisch nicht verwertbar
sind, so zeichnen sie sich doch in ihrer Gesamtheit durch ein gemeinsames Merkmal
ans: das ist ihre Unbeständigkeit, ihr rascher Wechsel. Hierin scheint nun ihr
differentialdiagnostischer Wert gegenüber der Abgrenzung des manisch-depressiv«
Irreseins zu liegen, bei dem derartige Störungen nicht zur Beobachtung kommen.
Schließlich wird man wohl auch berechtigt sein, eine pathologische Herab¬
setzung der Pupillenunruhe, der psychischen und sensiblen Reflexe als differential-
diagnostisches Hilfsmittel für die Erkennung der Dementia praecox heranzuriefaen*
Denn eine Herabsetzung der genannten Reaktionen wird bei Gesunden nur äußerst
selten, bei Dementia praecox-Fällen dagegen sehr häufig gefunden.
Gaupp (47) zeigt hier an einigen Krankheitsfällen, wie irrig die Ansicht ist,
laß psychische Krankheiten psychischen Ursachen entspringen müssen, da das
manisch-depressive Irresein eine endogene Krankheit ist Unter anderem erkennt
man es daran, daß z. B. schmerzliche Erlebnisse unter Umständen die Genesung
eines Melancholikers nicht stören, sondern die Krankheit nimmt ihren natürlichen
Verlauf weiter.
Gutstein (52) fand bei einer allerdings nur kleinen Zahl von Kranken, bei
Männern in 75%, bei Frauen in etwa 60% mit manisch-depressivem Irresein
Arteriosklerose, also in sehr viel höherem Maße als bei geistig Gesunden. Stacke
Gemütsbewegungen verursachen Blutdruckschwankungen und somit Arterio¬
sklerose. Psychische Erregungen und Blutdruckschwankungen vermehren die
Abgabe von Adrenalin in den Nebennieren. Tierexperimente haben gezagt, daß
Adrenalin Arteriosklerose hervorrufen kann. Auch andere endokrine Drüsen und
Organe könnten durch Affekte beeinflußt werden. So sei es wahrscheinlich, daß
die das manisch-depressive Irresein begleitenden körperlichen Veränderungen
sekundär durch das veränderte Affektleben bedingt sind. In seltenen Eällen gibt
Arteriosklerose den Anstoß zum Ausbruch der manisch-depressiven Psychose.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Urapfenbach, Funktionelle Psychosen.
121*
b) Dementia praecox.
Bornstein (20) stellt hier, mit eingehender Analyse, einen Fall von Schizo¬
phrenie im Sinne Bleulers zwei Fälle gegenüber mit wesentlichen Abweichungen
vom typischen schizophrenischen Typus. Persönlichkeitsspaltung ist vorhanden,
doch fehlten die charakteristischen Assoziationsstörungen (Spannungen), es fehlen
ausgesprochene Halluzinationen und es fehlen Verfolgungsideen. Die Wahnvor¬
stellungen tragen einen spezifischen Charakter; sie stellen einzig die direkte Ver¬
wirklichung derjenigen Verlangen dar, die in der gesunden Zeit unerfüllt geblieben
sind und somit zur Grundlage der Psychose geworden sind. Entgegen der soge¬
nannten „milden Paranoia“ ( Friedmann ) hat die Psychose in den beiden Fällen
einen akuten Verlaut „Sie stellen einen spezifischen Typus von einem „psychi¬
schen Prozeß“ dar (Jaspers), dessen spezifische Merkmale in akutem Beginn, Re¬
aktivität und Zirkumskriptheit bestehen. Wir haben es folglich mit einem akuten,
reaktiven und zirkumskripten psychischen Prozeß zu tun.“ B. schlägt vor, den
Jasperschen Terminus „psychischer Prozeß“, weil die Persönlichkeitsspaltung prin¬
zipiell und in erster Linie die affektive Seite umfaßt, die intellektuelle unberührt läßt,
durch Schizothymie zu ersetzen. Die Spaltung entsteht auch meistens in engem
Zusammenhang mit einem gewissen affektiven Erlebnis. Seine 2 Fälle bezeichnet er
als Schizothymia acuta reactiva circumscripta. B. schlägt die folgende Klassi¬
fikation der Dementia praecox vor:'
1. Schizothymie. Der Kraukheitstypus kommt dadurch zustande, daß sich
ein einziger, vorwiegend mit einem wirklichen Erlebnis verbundener Komplex von
der gesamten Psychik abspaltet, und stellt somit meistens eine Reaktion gegen jenes
Erlebnis dar. Das klinische Bild besteht in direkter Verwirklichung des in diesem
Komplex enthaltenen, im Leben aber unerfüllt gebliebenen Verlangens. Dieser
Typus von Persönlichkeitsspaltung weist weder Assoziationsstörungen, tiefgreifende
Affektivitätsänderungen noch Halluzinationen auf; trotzdem hinterläßt er eine
andauernde Umwandlung der Persönlichkeit, wobei gleichzeitig eine allgemeine
Besserung im praktischen Lebenssinne möglich ist und häufig vorkommt
2. Schizophrenie (Bleuler). Vermag ebenso wie Typus I als Reaktion gegen
ein schweres wirkliches Erleben zu entstehen, kann aber unabhängig von den Lebens¬
angelegenheiten spontan zum Ausbruch kommen, als ein Schub des zur Grundlage
liegenden Prozesses. Klinisch unterscheidet sie sich dadurch vom I. Typus, daß
sie spezifische Assoziationsstörungen, eine meist primäre affektive Verkümmerung
oder Disproportion der Affekte zu den Vorstelungen aufweist; weiter kommen
öfters Verfolgungsideen, Halluzinationen vor. Dieser Spaltungstypus pflegt sonst
ebenfalls eine dauernde Umwandlung der Persönlichkeit herbeizuführen, doch
kann derselbe auch mehrmals im Leben des Individuums wiederkehren, ohne zu
endgültigem Blödsinn zu führen; im Gegenteil, er kann jedesmal in gutartiger Weise
verlaufen, sehr lange und gute Remission geben. Je nach dem Überwiegen dieser
oder jener Symptome lassen sich verschiedene Abarten dieses Typus unterscheiden
(Schizophrenia catatonica, paranoides etc.).
3. Dementia schizophrenica. Es sind dies Fälle von psychischer Spaltung,
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122*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
die einen progressiven Verlauf haben und schweren Blödsinn von spezifischem
Charakter herbeiführen.
In dieser Weise würde sich der Terminus „Dementia praecox* 1 als völlig über'
flüssig erweisen, da er tatsächlich nichts ausdrückt.
Boven (21) unternimmt es hier, seine Landsleute bekannt zu machen mit
Rüdins Studien über Vererbung und Entstehung geistiger Störungen. L Vererbung
und Neuentstehung der Dementia praecox, Berlin 1916, und Weinbergs: Weitere
Beiträge zur Theorie der Vererbung, Archiv für Rassenbiologie und Gesellschafts¬
hygiene 1910—1912, wie er hinzufügt, in der Hoffnung, dadurch beizutragen zur
Wiederanknüpfung der Beziehungen zwischen den Ärzten der verschiedenen Natio¬
nen. La psychiatrie reste un domaine commun!
Elmiger (37) fand in den Familien mit schizophrenen Kindern auf 2,6 gesunde
Geschwister ein schizophrenes, dagegen bei den Geschwistergruppen mit andern
Psychosen auf. 6,3 gesunde ein krankes. Direkte schizophrene Heredität in 15%
sämtlicher Fälle, indirekt sogar in 67,7%. Ohne schizophrene Belastung 26%,
darunter 7% ohne jede Belastung. In 16% war allein die indirekte schizophrene
Belastung verantwortlich zu machen, in den übrigen Fällen war sie kombiniert mit
Charakteranomalie oder Trunksucht des einen oder andern Elter. Die indirekte
schizophrene Heredität ist etwa 4 mal so groß als die direkte. Auffällig ist auch die
geringe Rolle der schizophrenen Heredität bei den nicht schizophrenen Psychosen;
E. konnte hierbei nur 4% nachweisen.
Daß auf 2,6 gesunde Geschwister ein schizophrenes kommt, spricht dafür,
daß die Vererbung sich nach der Mendel&chen Regel vollzieht. Dies Resultat ist
der zahlenmäßige Ausdruck dafür, daß die indirekte Vererbung die Hauptrolle
spielt, und daß die Schizophrenie sieb rezessiv vererbt Die indirekte Belastung
läßt sich meistens nur auf einer Seite nachweisen. In etwa 30% der Falle von E.
waren Vater und Mutter als auffällig bezeichnet Die Schizophrenen sind in 27%
verheiratet die nicht schizophren Erkrankten in 42%, — gegen ca. 60% der Normal-
bevölkerung (Schweiz). Die Ehen mit einem schizophrenen Elter stehen an Kinder¬
zahl weit unter der Normalbevölkerung, 3 gegen 6,4 Kinder. 26% der Ehen mit
einem schizophrenen Elter waren kinderlos, in der Normalbevölkerung nur 10%.
Herman (67) gibt 11 Fälle von Dementia praecox an, die durch Hautein¬
spritzungen mit Natrium nudeinicum behandelt wurden. Indem er diejenigen Fälle,
in welchen er eine bedeutende Besserung erlangte (27,2%), analysiert, sowie die
„ verschiedenen Resultate, welche andere Autoren erzielten, vergleicht (es erzielten
keine Resultate: Lepme in 76%, Lundwall in 16,6%, Donath 21,7%, Uten 100%,
Haüber 58,9%, Kruze-Paiotowska 41,8%, Kielhole 22,4%), gelangt er zum Schluß,
daß diese Unterschiede in den Resultaten von der Dauer der Krankheit abhängen«
In den Fällen, wo er Besserung erzielte, dauerte die Krankheit ca. 3—4 Monate,
in andern bis einige Jahre. Er macht auch aufmerksam, daß bei Beurteilung der
Resultate eine längere Beobachtung nach Beendigung der Behandlung, sowie eine
genaue psychologische Untersuchung von Wichtigkeit sind.
Auf Grund eigener bereits angeführter und anderer Fälle kommt er zu folgen¬
den endgültigen Schlüssen:
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
123 *
1. Die Behandlung der Dementia praecox mit Natrium nucleinicum ist für
geboten, gewissermaßen für notwendig zu betrachten.
2. Zur Behandlung eignen sich frische Fälle von Dementia praecox.
3. Die Einspritzungen sind in kurzen Zeiträumen, sofort nach dem Fallen
der Wärme bis zur Norm, vorzunehmen. (Die Serie besteht aus 10 Einspritzungen.)
4. Nach einer gewissen Zeit (nach einmonatiger Unterbrechung) ist eine Wieder*
aufnahme der Behandlung geboten.
5. Das Quantum des gegebenen Mittels hat auf die Resultate keinen Einfluß,
6. Die Höhe der Wärm esteigerungen entscheidet nicht öber die Resultate der
Behandlung. (Selbstbericht.)
Herzig* (68) kritische Bemerkungen betr. Differenzierung gleichartiger Zu»
standsbilder, insbesondere der Stupor- und Erregungszustände, deren Ursache eine
verschiedene ist, eignen sich nicht für ein kurzes Referat. Man wird sie stellen¬
weise mit großem Interesse studieren.
Hinrichsena (69) ausführliche Analyse des Wesens der Dementia praecox
und ihrer einzelnen Symptome eignet sich nicht für ein kurzes Referat Er betont
als Schlußresultat seiner Erörterungen, daß jede Analyse von Erscheinungen wie
Krankheitseinsicht, 'Wahnideen, Manieren usw. deshalb so schwierig bleiben
muß, weil es nicht möglich ist, die Einzelerscheinungen eigentlich zu scheiden. Das
Ganze bleibt uns seinem eigentlichen Wesen nach unklar, wie können wir uns also
Aber das Einzelne, worin das Ganze in individueller Form in Erscheinung tritt,
klar werden? Es ist einfach zu konstatieren, Wahnideen seien inkorrigibel, und
aus dieser „Tatsache“ dann Schlüsse zu ziehen. Sie sind eben nur unkorrigierbar,
. solange ein bestimmter Zustand, eine bestimmte seelische Konstellation besteht,
welche Wahnbildung bewirkt und das Auftreten dieser bestimmten Wahnideen,
welche aber eine Umformung oder Korrektur erfahren, wenn sich dasjenige ändert,
was wir eben nicht zu erfassen vermögen.
Krause (82) fand, nach Ausschaltung aller zurzeit erregten Dementia praecox-
Kranken, in 76% der Fälle durch Steigerung des Viskositäts-, in geringem Grade
auch des Refraktionsgrades, eine Globulinvermehrung im Blutserum, darunter bei
vielen das Globulin prozentlich überwog. Es ließ sich bis 96% Globulingehalt
feststellen, das Refraktometer zeigte Werte bis 73,6°. In einem geringen Prozentsatz
lagen abnorm niedrige Viskosimeterwerte vor, denen die Refraktometerwerte an¬
nähernd parallel gingen. Ein ausführlicher Bericht folgt nach Abschluß der Unter¬
suchungen.
Meyer (99) hat die Versuche von Pötzl, Eppinger, Heß und Willy Schmidt über
die pharmakodynamische Ansprechbarkeit des sympathischen und antonomen
Nervensystems bei bestehender Psychose fortgesetzt. Schmidt hat bei seinen Ver¬
suchen an Katatonikern und Hebephrenen die Injektionen von Adrenalin immer
ohne .Einfluß auf den Blutdruck gefunden im Gegensatz zu Gesunden und andern
Geisteskranken. Seine 10 normalen Versuchspersonen reagierten alle auf Adrenalin
mit Pulsbeschleunigung und bis auf eine mit Blutdruckzunahme. Dasselbe fand
er bei Neurosen, Psychopathen und Epileptikern und Psychosen, die nicht dem
Zustandsbilde der Dementia praecox angehörten. Bei letzteren fehlte in der Hälfte
Zeitschrift fttr Psychiatrie* LXXV. Lit. i
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124* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
der Fälle die Pulsbeschleunigung. Bei den 30 Fällen der Dementia praecox-Gruppe
sind nur katatonische, stuporöse und paranoide Zustandsbilder, — erregte Formen
nicht. In 7 Fällen fand sich eine Unempfindlichkeit in bezug auf Pulsircquenz
and Blutdruck. In ungefähr 50% der Fälle fand sich keine Veränderung oder eine
Senkung des Blutdrucks, in 12 Fällen eine Senkung bis zu 25 mm, in 2 Fällen bis
46 resp. 55 mm Hg. Bei ruhigen Imbezillen fand M. sogar in 60% der Fälle die
Unempfindlichkeit. Die Adrenalin-Unempfindlichkeit ist demnach nicht charak¬
teristisch fyr die Dementia praecox-Gruppe. M. verspricht eine •weitere Mitteilung
über Versuchsergebnisse des Einflusses von Adrenalininjektonen auf Zusammen¬
setzung und Veränderungen des Blutbildes.
Pilcz (111) macht hier nochmals auf das im Kapitel Dementia praecox seines
Lehrbuches, III. Aufl. S. 181, erwähnte Symptom aufmerksam. Bei an Dementia
praecox Erkrankten, speziell der katatonen Form, findet man sehr häufig folgende
Erscheinung: Bei Druck auf die Augäpfel lebhafte Unlustgefühle, sich äußernd in
entsprechender mimischer Schmerzreaktion, Abwehrbewegungen, gleichzeitig häufig
verbunden mit Rötung des Gesichts, vertiefter Inspiration und exquisiter Vagus¬
pulswirkung, d. h. Langsamer- und Kleinwerden des Pulses. Das Pilcz - t>on
Wagenmche Baibusdruckphänomen wird häufig bei katatonem Stupor beobachtet,
dagegen nicht bei depressivem Stupor, epilept Stupor, hysterischer Analgesie.
Pilcz traf das Phänomen häufig bei Dementia praecox auch unabhängig vom stupo-
rösen und katatonen Zustandsbildem.
Zimmermann (169) beschäftigt sich hier hauptsächlich mit Psychosen, die mit
Krämpfen verlaufen. Für uns ist von Interesse die Tatsache, daß man mitunter
bei Schizophrenen die fleckige rote Lunge findet. Bei Katatonikem, die in einem
schweren Verwirrtheitszustand, einem Delirium acutum verstorben, sind die Lungen
stark gebläht und blaß zyanotisch. Auch Ödeme kommen vor.
c) Paranoia.
Krueger (84) beginnt seine ziemlich umfangreiche Monographie mit einer
Geschichte der Paranoia, die einen Zeitraum von etwa 60 Jahren umfaßt Nach
K. ist die Paranoia „charakterisiert durch die Ausbildung eines Systems von Wahn¬
vorstellungen der Beeinträchtigung und der Selbstüberschätzung, das logisch aufgebaut
und weiter entwickelt wird, im wesentlichen aus dem Rahmen normaler Möglich¬
keiten nicht heraustritt und bei unbegrenzter Dauer die psychische Gesamtpersönlich¬
keit des erkrankten Individuums bis zu dessen Tode, abgesehen von einer durch die
mehr oder weniger weitgehende Einengung des Interessenkreises hervorgerufene
Einbuße an psychischer Anpassungsfähigkeit, nur im Sinne des Wahnes verändert,
ohne daß % auf außerhalb des wahnhaften Vorstellungskreises liegenden Gebieten
bei Fehlen von Komplikationen zu beständigen Störungen kommt — Der Paranoiker
wird geboren; er ist meistens nur mäßig intellektuell begabt, wenn auch tätig und
fleißig. Seine Eigenschaften machen es ihm schwer oder unmöglich, sich in den
Rahmen seines Gesellschaftskreises einzufügen. Die Krankheit selbst entwickelt
sich meist nur langsam.
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 125*
Kr. spricht von Paranoia corabinatoria, hallucinatoria und querulatoria, doch
gibt es fließende 'Übergänge. Die halluzinatorische Form schließt sich meist an
die Involutionen an, beginnt auch oft mehr oder weniger akut. Nach
langjährigem Bestehen der Krankheit werden übrigens die Erscheinungen der Unter-
form der Paranoiaeinander immer ähnlicher. Es kommt im ganzen nicht zu einem Defekt
auf einem der verschiedenen Gebiete der Intelligenz. „Die Paranoia — in der von
Krueger angenommenen Umgrenzung — ist als eine prämature Alterserscheinung
zu betrachten, entstanden durch eine mangelhafte Fähigkeit des Organismus, den
durch die gewöhnlichen Lebensvorgänge entstandenen Aufbrauch an Gehirnsub¬
stanz durch regenerative Prozesse auszugleichen, die ihrerseits wieder auf einer
angeborenen fehlerhaften Anlage des Zentralnervensystems, die eine geringere
Widerstandskraft im Kampfe ums Dasein mit sich bringt, beruht.
Den Schluß des Werkes bildet die Differentialdiagnose. Mit Krnepelin will
Krueger von einer akuten Paranoia nichts wissen; denn milde und abortiv verlaufende
Psychosen gehören zur paranoischen Konstitution. Die Paraphrenien Kraepelvns
werden auf die Dementia paranoides und die Paranoia verteilt. Schwierig ist die
Unterscheidung der Paranoia von den wahnbildenden Psychosen, die auf dem Boden
des chronischen Alkoholismus erwachsen.
Siebert (130) dringt darauf, paranoische Erkrankungen als funktionelle Psycho-*
sen von homologen psychischen Störungen, die vermutlich anatomische Abbau- 1
prozesse darstellen, zu scheiden. Unter Paranoia kann nur eine Seelenstörung ver¬
standen werden, die im Gegensatz zum Jugendirresein bzw. dem ihm eigenen Ver¬
blödungsprozesse, im reiferen Alter zutage tritt und unter Wahnbildung mit- und
ohne Sinnestäuschungen in chronischer Form verläuft, ohne daß eine Verblödung
eintritt. Siebert gibt dann ausführlich 2 Fälle, die er wohl mit Recht als paranoische
Erkrankungen auffaßt. Auch Siebert betont die Seltenheit der echten Paranoia.
Wickel (164) bringt hier einige Krankengeschichten, bei denen es sich dem
Scheine nach um echte Paranoiafälle handelt, deren Periodizität aber beweisend ist
für ihre Zugehörigkeit zur manisch-depressiven Gruppe. Abgesehen von manischen
Zustandgbildern, spricht eine interkurrent einsetzende melancholische Phase für
die Richtigkeit der Diagnose.
Wigerts (165) Studien über die paranoischen Psychosen sind auch als Sonder¬
abdruck im Verlag von Julius Springer in Berlin, 151 S., erschienen. Sie sind wohl
hervorgegangen aus der Psychiatrischen Klinik des KaroUnischen Mediko-Chirurgi¬
schen Instituts in Stockholm (Krankenhaus Konradsberg, Direktor: Prof. Brov
Godelius). W. beginnt seine Studien mit einem Bericht über die Stellungnahme der
führenden Kliniker des vergangenen Jahrhunderts zur Paranoiafrage, um die Um¬
wälzungen zu beleuchten, welche die Anschauungen bezüglich dieser Frage im
Laufe der Zeit durchgemacht haben. W. beherrscht die Literatur in ganzer Aus¬
dehnung. Bei Besprechung der affektiven Genese der paranoischen Wahnvorstellun¬
gen und des paranoischen Syndroms, die jetzt außer allem Zweifel gestellt seien,
nimmt IV. in interessanter Weise Stellung zu den verschiedenen Autoren; gegen
Bleulers Behauptung, daß durch die Affekte alle diejenigen Assoziationen gehemmt
werden, die ihnen entgegen3tehen, die entsprechenden aber gefördert werden, sagtW:
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126* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Durch die Affektbetonung der Vorstellungen werden alle diejenigen Assoziationen
gehemmt, die ihnen entgegenstehen, die entsprechenden aber gefördert Gegen Kraepelin
betont IV., daß ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem Glauben und dem
Wissen nicht durchführbar ist. Die paranoischen Wahnvorstellungen entwickeln
sich im Prinzip auf dieselbe Weise wie die affektiv bedingten Irrtümer. Eine ratio¬
nelle Grenze zwischen paranoischen Wahnvorstellungen und paranoisch gefärbten
Irrtümem läßt sich ebensowenig ziehen wie sonst zwischen Wahn und Irrtum.
TV. weist auf seine frühere Untersuchung (Paranoia som karaktärogen psykos) bin ,
worin er nachzuweisen versuchte, daß die verschiedenen Eigenschaften, die das
paranoische Syndrom auszeichnen, sämtlich auf einen affektiven Ursprung hinweisen.
Ausführlich, in psychologischer und psychiatrischer Hinsicht, immer mit
Hinzuziehung der diesbezüglichen Literatur, spricht sich dann TV. über Wahn¬
bildung und die Genese der paranoischen Wahnideen aus. „Die ab origine vor¬
handene individuelle Konstitution, die der paranoischen Entwicklung zugrunde
hegt, muß eine minder gute Ausrüstung für das Leben in sich schließen, muß ab
eine minderwertige Variation von der Norm betrachtet werden. Die paranoischen
Zustände müssen hier ab degenerative Krankheiten betrachtet werden und wegen
der gleichartigen Grundlage, des gleichartigen pathopsychologischen Entstehungs¬
mechanismus und der gleichartigen Symptomatologie iniferhalb derselben eine
natürliche Gruppe bilden. In dieser Gruppe fließen also Querulantenwahn, Kraepe-
lins Paranoia, Friedmanns milde Paranoia und andere psychogene paranoische
Psychosen nebst andern Zuständen zusammen.“ Innerhalb dieser Gruppe sind
die paranoischen Wahnbildungen die dominierenden Krankheitssymptome. Da es
wesentlich zwei Faktoren sind, die genetische Bedeutung für die paranoische Psychose
haben, nämlich die äußere Situation und der individuelle Charakter, und die Holle
dieser Faktoren in verschiedenen Fällen stark variiert, schlägt TV. vor, je nachdem
der eine oder der andere Faktor dominiert, von paranoischer Situationspsychoee
und paranoischen Charakterpsychosen zu reden. Paranoia und manisch-depressives
Irresein gehören zu den degenerativen Zuständen und zeigen deshalb zahlreiche
Verbindungen miteinander. Nach W. soll aber auch ein analoges Verhältnis zwischen
der Paranoia und den schizophrenen Psychosen bestehen.
Als Kasuistik bringt TV. 12 ausführliche Krankengeschichten. Den Schluß
des Werkes bilden therapeutische Gesichtspunkte.
Die Paranoia hat zwei Ursachen, die psychische Konstitution und die äußere
Situation. Die erstere kann der Arzt nicht beeinflussen, wohl die letztere. Also
Milieuwechsel, event. Krankenhausbehandlung, auch bei Abwesenheit antisozialer
Neigungen. Im übrigen psychische Beeinflussung durch einen Sachverständigen,
einen Irrenarzt, Arbeit, unter Umständen, den Kranken die Dissimulation lehren
nach Tanzt s Ausspruch: Le paranoiaque ne gudrit pas, il d&arme.
d) Sonstiges.
Bleuler (16) glaubt, daß Rüdvn den Versuchen, die Vererbung der Psychosen
nach Mendels eben Gesichtspunkten zu studieren, ein Ende gemacht hat. Den
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
127 *
technisch-mathematischen Teil hat Rüdin mit Weinberg nach einer Richtung hin
zum Abschluß gebracht In klinischer Beziehung besitzen wir noch nicht alle not¬
wendigen Voraussetzungen. Nach dem Ergebnis von Rüdin könnte die manifeste
Schizophrenie ein monohybrides Mendelsches Merkmal nicht sein. Es wäre aber mög¬
lich, daß die Schizophrenie ein dihybrides, also aus zwei Eigenschaften zusammen¬
gesetztes Material wäre, das bei den Nachkommen zweier latenten Merkmalträger im
Wertzustand von 6,25% auftritt. Aus Rüdin s Daten folgt, daß die Dementia praecox
nicht bloß Zusammenhang hat mit den Keimen der nämlichen Krankheit in der
Familie, sondern auch mit andern Psychosen und mit Trunksucht, ja daß die schizo¬
phrene Belastung kaum eine engere Beziehung zur Entstehung der Dementia praecox
hat. als die andern psychopathischen Faktoren zusammengenommen.
Was nun vererbt wird, geht aus den ßüdtnschen Untersuchungen nicht hervor.
Bestehen diese Untersuchungen zu recht, so gibt es kein einheitliches Gen der
Schizophrenie, sondern es müssen verschiedene Dinge Zusammenkommen, um die
Krankheit in Erscheinung treten zu lassen. Auch läßt sich eine polymorphe Ver¬
erbung bisher nicht ausschließen.
Die erste Grundlage einer Erblichkeitsstudie müßte die Feststellung des Be¬
griffes und des Umfanges der ^sychose geben. Die Dementia praecox eignet sich
nicht gut zu solchen Studien. Nach Bleuler ist die Dementia praecox diejenige
Psychose, deren Vorhandensein oder Fehlen mit am schwersten sicherzustellen ist.
Die soziale Untüchtigkeit, die in verschiedenen Umgebungen ganz verschieden
definiert werden müßte, ist kein Kriterium für die biologische Grenze einer Krankheit.
Es ist im gegebenen Fall unmöglich, eine Schizophrenie auszuschließen. Der Schizo¬
phreniebegriff muß weiter gefaßt werden, als es Rüdin getan hat Die familiären
Zusammenhänge der Schizophrenie mit andern Psychosen und Neurosen lassen
sich nicht unter dem Gesichtspunkte des Di- oder Polyhybridismus betrachten.
Von den Hereditätsforschungen erwartet Bleuler allein den definitiven Aufschluß
für die Abgrenzung der einzelnen Formen innerhalb der ganzen Schizophreniegruppe.
Wir haben erst zu suchen, was vererbt wird, denn die „Erbpsychose“ deckt
sich sicher in der Fülle der großen Psychosen nicht mit den sichtbaren Krankheiten;
beide sind, wenigstens bei der Schizophrenie, wahrscheinlich -durch eine längere
Kausalkette getrennt, die die manifesten Symptome aus der Anlage entwickelt. Aus
dem Vorkommen und Fehlen der Sichtpsychose kann nicht ohne weiteres auf das
Verhalten der Erbpsychose geschlossen werden. Kein Wunder, daß wir nicht auf
geradem Wege zu der Erbeinheit kommen, wenn wir von dem andern Ende, der
Sichtschizose, ausgehen. Die Erbschizose braucht direkt gar keine psychische
Anomalie zu sein, sie kann eine gehimanatomische, chemische, neurologische Eigen¬
tümlichkeit sein, die als Symptom die Krankheit zeitigt. Äußere Faktoren wirken
bei der Erzeugung der manifesten Schizophrenie mit. Auch innere Einflüsse, be¬
gleitende psychische Anlagen, die an sich nichts mit dem Gen der Krankheit zu
tun haben, können möglicherweise mitwirken. Die Kompliziertheit des vererbtem
Merkmals, der Erbschizose, bleibt offen. Gegen die Auffassung als monohybridcs
Merkmal spricht die Seltenheit der Krankheit bei Stiefgeschwistern. Die sichtbaren
Beziehungen der Schizophrenie zu andern Psychosen und zum Alkoholismus lassen
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128 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
sich nicht nur als Zeichen einer polyhybriden Genese der Krankheit deuten, sondern
auch so, daß zu einem für die Schizophrenie spezifischen Gen noch irgendeines von
verschiedenen andern Genen hinzutreten müßte, um die Krankheit zu erzeugen.
Verschiedene Teilanlagen wären dann äquivalent, indem nicht nur xy, sondern auch
xz, xl , xu die Krankheit erzeugen könnten (äquivalenthybrid). Für die Zukunft
scheint Bleuler die wichtigste und dankbarste Aufgabe die Durchforschung von Fa¬
milien in allen ihren Gliedern, aber nicht einseitig nur vom Sippen mit einer be¬
stimmten Krankheit, sondern von beliebigen Stämmen, seien sie irgendwie belastet
oder gesund.
De Crinis (33) findet, daß der Eiweißgehalt des Serums nicht nur bei den
Krankheitszust&nden mit motorischer Hyperfunktion erhöht ist, sondern auch beim
melancholischen Symptomenkomplex. Während bei ersterer die Erhöhung des
Eiweißgehalts durch die erhöhte Arbeitsleistung erklärt ist, mangelt diese Erklärung
beim melancholischen Symptomenkomplex. Der erhöhte Eiweißgehalt wird wohl
hier als eine Teilerscheinung des pathologisch verlaufenden Stoffwechsels anzusehen
sein. Er ist nicht auf Eiweißabbauprodukte der Leber zurückzuführen. Bei der
melancholischen Kranken, welche keine Erhöhung, sondern im Gegenteil eine Er¬
niedrigung des Serumeiweißwertes zeigte, konnte diese auffällige Erscheinung durch
den Nachweis einer komplizierten, zur Kachexie neigenden internen Erkrankung
(Lungentuberkulose) im Einklänge mit der bei letzterer gefundenen Erniedrigung
des Eiweißwertes erklärt werden.
Kesseler (74) beweist hier durch Gutachten von 8 Fällen von Dementia praecox,
je 6 von Manisch-Depressiven und Paranoia die absolute Seltenheit derartiger
Psychosen infolge von Trauma. Die endogenen Psychosen der drei genannten
Gruppen können im allgemeinen keine Unfallfolgcn sein. Dies lehren die Erfahrun¬
gen des letzten Krieges und die Unfallbegutachtung.
Lewin (89) spricht sich gegen die Bezeichnung degeneratives Irresein und
Degenerationspsychose aus. Die Bezeichnung ist zu unbestimmt, und schließlich
würde sie auch die funktionellen Psychosen umfassen müssen, denn wir finden
eigentlich überall eine degenerative Anlage in irgendeiner Form und in allen mög¬
lichen Übergängen. — Nicht die Anlage ist minderwertig, sondern sie macht die
Persönlichkeit als Träger dieser Anlage minderwertig. Außergewöhnliche, nicht
habituelle Reaktionen der gesamten Persönlichkeit, weil nicht partielle degenerative
Anlage, sind die Merkmale der uns hier beschäftigenden Zustände. L. möchte für
die Psychopathie die pathologische Reaktivität als Einteilungsgrund ansehen, dann
hätte man 3 Gruppen: die endogenen, die reaktiven und die Situationstypen. Bei
den ersteren entsteht die Psychose rein von innen heraus, äußere Momente spielen
nur eine geringe oder gar keine Rolle, so gewisse Fuguezustände, periodisch auf¬
tretende Verstimmungen, gewisse paranoische Bilder bei paranoiden Charakteren.
Bei der zweiten Gruppe sind die psychotischen Zustände deutliche Reaktionen auf
äußere Reize, wie reaktive Verstimmungen, reaktive tobsüchtige Erregungszustände,
manche querulatorisch-paranoische Zustände in der Haft, viele der Hysterie zuzu¬
zählende Fonuen. Bei der 3. Gruppe, dem Situationstyp, spielt das auslösende Er¬
eignis eine dominierende Rolle, derart, daß die ganze Psychose nur als eine sich
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Umpfenbach: Funktionelle Psychosen.' 129*
an das auslösende Ereignis anschließende, über kurz oder lang wieder vorübergehende
Episode im Leben des Individuums erscheint.
Über diese Situationspsychosen kommt L. zu folgendem Resultat: Es gibt
psychotische Zustände sowohl in der Freiheit wie in der Halt, die allein einer sozu¬
sagen zufälligen Kombination innerer und äußerer Momente ihre Entstehung ver¬
danken und nur eine Episode im Lebön und Schicksal der Persönlichkeit darstellen.
Sie verdienen daher zu einer gemeinsamen Gruppe der Situationspsychosen zu¬
sammengefaßt zu werden, die im übrigen verschiedene Bilder der Symptomatik
und Pathogenese, den jeweiligen Umständen und der Individualität entsprechend,
aufweisen, wenn auch im allgemeinen die Anzahl leicht Degenerierter überwiegt.
Als Untergruppe haben wir die emotionellen, hysterischen mit den ihnen nahe¬
stehenden pseudoparanoiden und die paranoiden Situationspsycbosen abgrenzen
können; kenntlich sind sie an den verschiedenen Situationsformen: der Situations¬
fixierung, der Situationsverschiebung, der Situationsumdeutung und der Situations¬
verfälschung. '
Bei ihm haben wir es also nicht mit Erkrankungen zu tun, die nach inneren
Gesetzen wie die endogenen Psychosen Verlauf und Ausgang nehmen, sondern mit
vorübergehenden Zuständen, die durch ein zufälliges Zusammentreffen von Fak¬
toren, wie degenerative Anlage, individuelle Eigenschaften, Lebensschicksale, Milieu,
psycho-physische Konstellation und emotionelle Ereignisse hervorgerufen, mit dem
Fortfall dieser Kombination auch ihren Abschluß finden. Mit der Bezeichnung
„degeneratives Irresein“ oder Hysterie wird man also der tatsächlichen Mannig¬
faltigkeit nicht gerecht. Gibt es doch Individuen, die weder vorher noch nachher
die Zeichen einer Degeneration oder hysterischen Anlage aufweisen, bzw. bei
denen die psychopathische Konstitution nicht derartig ist, daß sie die hinreichende
Ätiologie abgibt. Man wird den Satz, daß die psychogene Reaktion als solche Kenn¬
zeichen einer degenerativen Anlage sei, nicht in seiner Allgemeinheit anerkennen.
Auch die Kriegserfahrungen mancher Psychiater sprechen dagegen. Man wird
vielmehr — allgemein ausgedrückt — die Frage, ob gesunde Individuen infolge
einer unglücklichen Verkettung von Umständen transitorisch erkranken können,
einer weiteren Diskussion unterziehen müssen. Vielleicht werden uns hier die Er¬
fahrungen des jetzigen Krieges weiterhelfen.
Meyer (96) hat in dem von J. Schwalbe bei Georg Thieme in Leipzig heraus-
gegebenen Lehrbuch: Diagnostische und therapeutische Irrtümer und deren Ver¬
hütung, den psychiatrischen Teil übernommen. Das Werk, dessen Abhandlungen
über die großen Krankheitsgebiete in Einzelbänden erscheinen, hat sich die Aufgabe
gestellt, „den Praktiker in der Erkennung und Behandlung innerer Krankheiten
dadurch zu fördern, daß ihm die häufigeren Irrtümer, die nach beiden Richtungen
gemacht werden, vorgeführt und die Wege zu ihrer Verhütung gezeigt werden,...
e contrariis soll der Arzt die Krankheitsbilder richtig deuten, die zweckmäßige
Therapie wählen lernen“. *
v. Muralt (108), Schüler von Bleuler und Jung , bietet hier eine sehr interessante
Beschreibung und ausführliche Analyse eines Pseudopropheten, die sich für ein kurzes
Referat nicht eignet.
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130 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Nach Naef (104) kommt es bei den als funktionelle Neurosen angesehenen
Choreaformen au Geistesstörungen vom Charakter der Erschöpfungspsychosen:
L Psychose mit Sinnestäuschungen und traumhafter Desorientierung und Ver¬
worrenheit, die 2. in höheren Graden der Erregung zu Delirium acutum-artiger
Form führt Die Psychose hat nichts Eigenartiges, was nicht auch bei andern Er-
schöpfungs- und Intoxikationspsychosen beobachtet wurde.
Anders ist der Charakter der Geistesstörungen bei chronischen Choreaformen,
die auf dem Boden eines chronischen Hirnprozesses entstehen. L Chorea bei pro¬
gressiver Paralyse, einhergehend mit paralytischer Demenz. 2. Fälle von Chorea
chronica progressiva hereditaria ( Huntington ), mit einfacher Demenz, die bis zu
tiefster Verblödung fortschreitet. 3. Eine seltene Form mit echter Huntinglon&chec
Chorea zeigt einen paranoiden Typus mit langsamem geistigem Verfall.
Runge (119) warnt davor, jetzt bereits in dem Abderhaldemchen Verfahren
ein bestimmtes Mittel zur Unterscheidung zwischen der Dementia praecox und dem-
manisch-depressiven Irresein in klinischer und prognostischer Hinsicht zu sehen,
wenn auch zahlreiche positive Reaktionen bei Katatonie und den organischen Krank¬
heiten vorliegen gegen die meist negativen bei den funktionellen Psychosen. Es ist
noch mit zahlreichen Fehlerquellen bei der Organzubereitung, Blutgewinnung etc.
zu rechnen.
Scheffer (121) will durch 6 ausführlich beschriebene Fälle beweisen, daß Dipso¬
manie nicht, jedenfalls nicht zu einem bedeutenden Teil, zur Epilepsie gerechnet
werden muß, auch nicht in der Mehrzahl der Fälle zu den manisch-depressiven
Psychosen, sondern zu den psychopathischen Zuständen. Bei allen 6 Patienten tritt
das reaktive Element bei den Verstimmungen sehr in den Vordergrund; sie sind
dabei willenlose schwache Personen. „Die Forderung primärer autochthoner Dys-
pborie für die Diagnose echte Dipsomanie scheint mir allein vom Epilepsiestandpunkt
aus aufrechterhaltbar zu sein und wird übrigens auch von Kraepelin nicht mehr
geteilt.“
Siebert (129) verfügt über 26 Geschwisterpsychosen, deren Krankengeschichten
hier kurz beigebracht sind. Unter exogenem Ursprung versteht er nicht Schreck,
Erschöpfung, erschütternde psychische Eindrücke oder dergleichen. In seinen
Fällen handelt es sich um Kopferysipel, fieberhafte Angina nebst Kopftrauma,
eitrige Mastitis, septischen Abort, Kopftrauma mit anschließender fieberhafter
Eiterung, Wochenbett, anhaltendes religiöses Sektierertum, und in 5 Fällen um
Alkohol. — S. legt diesen Traumen nur eine untergeordnete Bedeutung beim Zu¬
standekommen der Gesamtstörung bei, der endogene Grundfaktor .wird in seinem
Wesen keineswegs ausgeschaltet Daß es sich in fast allen Fällen um katatonische
Krankheitsbilder handelt, während die exogenen Faktoren verschieden sind, läßt
vermuten, da es sich doch um Geschwister handelt, daß ungleiche zerebrale Anlage
im Spiele ist.
Siemerling (135) bringt zunächst einen Überblick über die diesbezügliche
Literatur. Unter den Aufnahmen von den letzten 14 Jahren in der Kieler Klinik
befanden sich 307 Fälle, das sind 6%, Generationspsychosen. Daran beteiligt sich
das Wochenbett mit 62,6%, Gravidität mit 29,3%, Laktation mit 8,1%. — Hier
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 131*
interessieren nur die 89 Graviditätspsychosen. Darunter sind am häufigsten die
melancholischen Verstimmungen und Depressionszustände, dann kommen der
Zahl nach die katatonischen Formen und die im Gefolge von Epilepsie und Hysterie
auftretenden Störungen. S. bringt hier 20 ausführliche Krankengeschichten,
darunter 11 Melancholien resp. Depressionszustände. Ein wesentlicher Unterschied,
zwischen den melancholischen Vorstellungen, der reinen melancholischen Depression
und den Situationsverstimmungen ist der, daß bei ersteren nur äußerst selten eine
Anpassung des Gedankeninhalts von den affektbetonten Ideen, welche an die
Schwangerschaft und bevorstehende Entbindung mit ihren Folgen anknüpfen,
beobachtet wird. Bei den Situationsdepressionen fehlen die Versündigungsideen
fast immer; der Schwangerschaftskomplex beherrscht fast immer die Szene, ln
4 Fällen von Melancholie wurde der Abort ausgeführt; ebenso in einem Falle von
Katatonie. Bei manisch-depressiven Fällen und hysterischen Psychosen nicht.
S. schließt, daß Psychose und Neurose nur selten Anlaß zur Unterbrechung der
Gravidität geben; am ersten noch die Depressionszustände. Bestimmte Symptome,
die ein- für alleihal die Einleitung des künstlichen Aborts erforderlich machen,
gibt es nicht. Die Indikation ist nur dann als vorliegend zu erachten, wenn schwerste
Gefahr für Leben und Gesundheit vorhanden ist Genaueste Erforschung und
Kenntnis der ganzen Persönlichkeit und des einzelnen Falles mit seinen S ym pt omen
und Beratung mit mehreren Ärzten ist zu jeder Entscheidung in der Frage der
Schwangerschaftsunterbrechung nötig.
Helene Friederike Stdzner (141) findet, daß nach den Erfahrungen des jetzt
länger dauernden Krieges sich gezeigt hat, daß ausgesprochene Erschöpfungs*
psychosen auch gänzlich gesunde Individuen befallen können. Die Erschöpfbarkeit
ist nicht immer ein Stigma der allgemeinen neuropsychopathischen Veranlagung.
Auch der nervengesundeste Organismus ist bis zu einem gewissen Grade erschöpfbar,
wenn nur die ermüdenden Eindrücke von genügender Stärke sind, um die Beiz*
sohwellen zu treffen. Die Form der Krankheit kann dann dieselbe sein wie bei be¬
lasteten Patienten. Verl stellt hier 15 Krankengeschichten zusammen von Kriegs¬
teilnehmern, um zu zeigen, welche verschiedenen Wertigkeiten von den physiologi¬
schen Grenzen der Ermüdung bis zur ausgesprochenen Psychose sich unter dem
Einfluß der Kriegsstrapazen entwickelt hatten. Den Anfang machen 2 Fälle von
Schlafsucht. Dann folgen einige sehr interessante Erschöpfungspsychosen, Ver-
wirrtheits- und Erregungszustände, auch mit Wahnideen und Sinnestäuschungen,
bis zu monatelanger Dauer, denn allen gemeinsam ist die Herabsetzung der Denk¬
fähigkeit. Den Schluß machen die mit Dämmerzuständen einhergehenden Er¬
schöpfungspsychosen, bei denen natürlich Epilepsie, Hysterie, Alkohol, Trauma
nicht in Frage kommen. Genesung trat ein in 2—12 Wochen. Unter den Kranken
befanden sich auffallend viele Artilleristen.
Slertz (142) hatte an einem sehr großen Material von Rekonvaleszenten von
Typhus reichlich Gelegenheit zum Studium des schädlichen Einflusses des Typhns
auf das Nervensystem. Für uns ist hier nur von Interesse seine Mitteilung, daß er
keine Gelegenheit gehabt hat, eigentliche Psychosen zu beobachten, von denen man
mit einiger Sicherheit annehmen konnte, daß sie auf Grundlage des Typhus er*
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132*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
wachsen seien. Offenbar gehören die beim Typhus vorkommenden Geistesstörungen
fast durchweg dem Fieberstadium oder dem der Entfieberung an und bleiben darum
naturgemäß von der Überführung nach dem Rekonvaleszentenheim ausge¬
schlossen. St. beschränkt daher seine Mitteilungen auf einen Fall von Residualwahn,
einige amnestische Zustandsbilder, Differentialdiagnose des postinfektiösen und
hebephrenen Stupors, 3 Fälle von Dementia praecox. »
Stiefler (143) berichtet über 342 Psychosen der verschiedensten Art aus dem
Gamisonlazarett in Przemysl. Die Fälle stammen mit wenigen Ausnahmen aus
der Kampfzone. Es handelt sich demnach nur um akut entstandene Psychosen,
die bereits wenige Stunden nach ihrem Beginn in ärztliche Beobachtung kamen.
Stransky (147) weist darauf hin, wie häufig bei nervösen Sprechstunden -
patienten die Klagen sind über besondere Ermüdbarkeit und Arbeitsunlust, Er¬
schwerung des Denkvermögens und der Entschlußfähigkeit, ein Gefühl der Minder¬
wertigkeit der eigenen Persönlichkeit, Selbstvorwürfe verschiedenen Inhalts, zu¬
weilen auch Taedium vitae, — also Symptome, die wir bei den manisch-depressiven
Kranken wiederfinden. Danach gehört ein großer Teil des Neurosenmaterials
seiner Privatklinik zur manisch-depressiven Familie. St. rechnet aus, daß ein
Drittel seiner Patienten dazu gehört Er betont daher die Wichtigkeit der psychiatri¬
schen Vorbildung bei den praktischen Neurologen für Diagnosenstellung und
Therapie in der Sprechstunde.
Traut (154) hat die Arbeiten von Hoeßle und Sauer nachgeprüft an 60 Fällen,
wo eine organische Erkrankung auszuschließen war und wo es sich nur um funktio¬
neile nervöse Beschwerden handelte. Es waren Neuro- und Psychopathen. Der
Hämoglobingehalt war in keinem Falle übernormal; der Befund deckt sich mit dem
von Huhle, 90—65%. Dagegen fand sich unter den 60 Fällen 37 mal eine Erhöhung
der Lymphozytenzahl über 30%, dann 20mal über 36%, 8mal über 40%. Also
in 13 Fällen betiug die relative Lymphozytenzahl unter 30%. Die niedrigste ge¬
fundene -Zahl war 24%, die höchste 49,6%. Im allgemeinen fand sich bei starker
Erregbarkeit der Patienten im Affekt eine Vermehrung der Lymphozyten, während
die mehr depressiven Erscheinungen niedrige Werte zeigten. T. hält eine Lympho¬
zytose von unter 30% nicht für pathologisch.
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Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. |
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156* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
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luetischen Erkrankungen des Zentralnervensystems.
Sitzungsber. Neurol. Zentralbl. Nr. 4, S. 176.
Ahlswede (1) beschreibt einen Fall von multiplem Melanosarkom des Gehirns
bei einer 77 jährigen Frau. Doch gibt Verf. weder im klinischen noclj im patho¬
logisch-anatomischen Befund Aufschluß über Sitz, Art, Größe etc. des oder der
Tumoren. In der Einleitung zählt er die verschiedenen Arten der Gehirngeschwülste
auf, in der Epikrise bringt er eine Schilderung der Allgemeinsymptome.
Alexander (3) beschreibt einen Fall von Myxödem bei einem 36 Jahre alten
Armierungssoldaten aus Ostpreußen. Aus den Symptomen ließ sich die Diagnose
einwandfrei stellen und wurde fernerhin durch den prompten Erfolg der organo-
therapeutischen Behandlung bestätigt. — Verf. ist der Ansicht, daß schon eine
hochgradige Hypoplasie der Schilddrüse genüge, um das Myxödem in Erscheinung
treten zu lassen. Unter den ätiologischen Ursachen führt A. Erkältungen
( Buschan), akute Entzündungen der Schilddrüse (de Quervain) im Verlauf akuter
Infektionskrankheiten und Morbus Basedow ( Balduin und v. Wagner) an. Auch
heftige Gemütsbewegungen, Sorge, Kummer, Schreck und Aufregungen wurden
nach Ewald als ätiologische Momente angegeben. Maßgebend sei hierbei nicht
das körperliche, sondern das psychogene Trauma. Im vorliegenden Falle beob¬
achtete A. das Auftreten der Krankheitserscheinungen nach einer Verschüttung
durch Granatexplosion. Verf. ist daher der Ansicht, daß bei dem Pat. seiner Beob¬
achtung unbedingt ein vagotonischer Einschlag als Krankheitserscheinung und
eine Herabsetzung des Sympathicustonus angenommen werden müsse. Letztere
Annahm e erhärtet er aus einer kritischen Würdigung der einzelnen beobachteten
Symptome. — Der Pat. wurde als d. u. entlassen, wobei die Krankheit als eine
Kriegsdienstbeschädigung angesehen wurde. Diese wurde in dem psychogenen
Trauma gesehen, das Pat. durch den Einschlag der Granate und die Verschüttung
erlitten hatte. Das psychogene Trauma habe zuerst eigentlich nur die Erscheinungen
einer Vagotonie zutage treten lassen; daneben sei aber schon den früher behandeln¬
den Ärzten die Pigmentation in den Achselhöhlen, am Halse und an der Kreuzbein-
gegend aufgefallen, so daß der Gedanke an Morbus Addisson aufgekommen sei.
Erst später seien die typischen äußerlichen und psychischen Erscheinungen des
Myxödems aufgetreten.
Anton und Schmieden (6) berichten über eine neue, druckentlastende Hirn-
Operationsmethode, den Subokzipitalstich, d. h. die Eröffnung der Membrana occipito-
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Brennecke, Organische Psychosen.
157*
atlantea. Die Operation wird unter bis auf die Knochenhaut reichender Lokal¬
anästhesie in Seitenlage des Pat. folgendermaßen ausgeführt: Ein genau medianer
Längsschnitt, zwei Finger breit unter der Protuberantia occip. ext. bis unterhalb
des Dornfortsatzes des 2. Halswirbels durchtrennt die Weichteile bis auf das Hinter¬
hauptsbein und die Dornfortsätze des 1. Halswirbels. Bei genau median ange¬
legtem Schnitt sei die Blutung kaum nennenswert. Halb stumpf, halb scharf werden
die Weichteile über dem Okziput auseinandergedrängt, bis man, genau median
eindringend, die hintere Umrandung des Foramen occipitale magnum und unterhalb
den knopfartigen Domfortsatz des Atlas tastet. Zwischen beiden spannt sich die
Membrana atlanto-occipitalis posterior. Nunmehr werden Wunde und Umgebung
sorgfältig von Blut gereinigt, sodann wird die Dura median durchtrennt durch
einen Messerstich, der meist sofort den klaren Liquor im Strahl herausfließen läßt.
Um die auf diese Weise hergestellte Parazentese offen zu halten, rät Verf. zur Aus-
echneidung eines viereckigen Fensters von % cm Breite und Höhe. Dieses klaffe
vollständig ausreichend und bleibend. Über der Liquorfistel werden die Weichteile
und die Haut mit möglichst vielen Schichten vernäht. — Der Beschreibung der
Technik reihen die Verf. einige Fälle derartig behandelter Patienten an. Die Opera¬
tion sei an und für sich leicht möglich und werde in den Folgen mit geringen Be¬
schwerden vertragen. '
Beyerman (12) beschreibt die Krankengeschichten von 8 Patienten mit kon¬
genitalem Kleinhirnmangel. Aus dem von ihm beobachteten Material zieht Verf.
folgende Schlußfolgerungen: 1. Bei 50% wird eine deutlich verkleinerte Schädel¬
grube röntgenologisch gefunden. 2. In 6 Fällen ließ sich Nystagmus hervorrufen,
in 2 Fällen fehlte er. 3. Bei allen Patienten war die Sprache die nämliche, langsame,
monotone, verwaschene, etwas explosive und skandierende. 4. Nur in 1 Falle
bestand Störung der Kopfhaltung. 5. In 6 Fällen zeigte sich deutliche Hypotonie
der Muskeln und Extremitäten, in einem Falle war der Tonus normal, in einem
andern in den Beinen deutlich erhöht. 6. Die Patellarreflexe waren in 2 Fällen
normal, zweimal lebhaft und viermal erhöht. 7. Störungen der Bewegungskoordina¬
tion wurden in allen Fällen beobachtet; in 1 Falle deutlich, in den andern Fällen
dabei angedeuteter ötat cataleptique spdcial. 8. Abgesehen von einer geringen
Entwicklung der Sensibilität, namentlich des Lagegefühls und der Wahrnehmung
passiver Bewegungen, waren keine stärkeren Abweichungen des Gefühls nachzu¬
weisen. 9. In einem Falle trat deutlicher Kaltwassemystagmus, in allen Fällen
typischer Nystagmus nach der andern Seite nach Drehbewegungen ein. 10. Der
Zeigeversuch nach Ba any ergab in 2 Fällen stärkere, in 2 andern geringere Koordina¬
tionsstörungen. Unter abweichenden Symptomen erwähnt B. trophische Störungen,
Sehnervenschwund, Babinskis Phänomen, Krämpfe, Imbezillität.
Bings (16) Kompendium der topischen Gehirn- und Rückenmarksdiagnostik
zeichnet sich durch eine ganz besondere Klarheit der Darstellung aus. Der Stoff
ist übersichtlich geordnet. Verf. behandelt zunächst die topische Diagnostik der
Rückenmarksläsionen, trennt scharf die Querschnittsdiagnostik von der Höhen¬
diagnostik. An die Besprechung der anatomischen und physiologischen Grund¬
lagen reiht er die Aufzählung der charakteristischen Symptome der einzelnen Läsio-
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158*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
nen (Seitenstrangaffektion, Vorderhornaffektion, Kombination beider, Sensibilitäts-
nnd Motilitätsstörungen, Affektion der Hinter- und Seitenstränge etc.). In dem
Kapitel über Höhendiagnostik erörtert Verf. eingehend, klar und faßlich die Segment¬
diagnose der motorischen Lähmungen, der Sensibilitäts- und Reflexstörungen.
Die topische Diagnostik der Hirnläsionen reiht er ebenfalls den anatomischen und
physiologischen Fundamenten an. In gesonderten Kapiteln behandelt B. die Läsio¬
nen des Hirnstammes, die des Kleinhirns und die des Großhirns, der Stammganglien
und der Hypophyse. Kortikale und subkortikale Motilitäts- und Sensibilitäts-
störnngen werden übersichtlich differentialdiagnostisch auseinandergehalten. Den
psychischen Störungen ist ein besonderer Abschnitt gewidmet. — Der Wert des für
den praktischen Arzt wie für den Spezialisten gleich wichtigen Buches wird durch
die dem Texte beigegebenen ausgezeichneten schematischen Zeichnungen noch be¬
deutend erhöht.
Die Arbeit Bimuangers und Schädels (17) bringt einen sehr wertvollen Beitrag
zur Frage nach der Bedeutung der Konstitation bei Entwicklung von Geistes¬
krankheiten. Die Verf. geben zunächst eine eingehende Schilderung der normalen
Histologie der Hirnarterien. Es Werden sodann an Beispielen die nachgewiesenen
Hypoplasien dieser Gefäße beschrieben. Mangelhafte Entwicklung, besonders der
elastischen Fasem, zeigte sieb
a) bei ausgeprägten Entwicklungsstörungen, die klinisch der Idiotie mit Epi¬
lepsie zugewiesen werden;
b) bei juvenilen, ,nervös konstituierten“ Individuen (S. Dekade), die bei dem
Anprall körperlicher und geistiger Erschütterungen unter stürmischen deliranten
Erscheinungen zugrunde gegangen sind;
c) bei jugendlichen Paralytikern;
d) bei den verhältnismäßig selteneren I äffen der präsenilen Demenz, wo sich
der konstitutionelle Faktor in einer vorzeitigen, meist jähen Beendigung der geistigen
Leistungsfähigkeit kundgibt. .
• Auch bei den „Spätkatatonien“ vermutet Binsuanger ähnliche Verhältnisse.
Der Schlußteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Beschreibung der arterio¬
sklerotischen Veränderungen der Himgefäße. (Josephy.)
du Bois-Re ,mond (20) führt einleitend über die Begriffsbestimmung, Ätiologie,
Pathologie und Therapie der Hirntumoren registrierend die wichtigsten Gesichts¬
punkte an, berührt in großen Zügen die Differentialdiagnose der einzelnen Tumor¬
arten, läßt sich dann weiter über die anatomischen Folgeerscheinungen aus, stellt
die allgemeinsten klinischen und Herdsymptome zusammen und beschreibt schließlich
die Krankengeschichte eines 46jährigen Mannes mit wenig ausgeprägten Herd¬
symptomen, die auf einen Herd im rechten Hirn (Okziput) schließen ließen. Der
Sektionsbefund ergab ein stark verfettetes und nekrotisches Gliom im rechten Hinter-
hauptslappen, hineinreichend bis in den Scheitellappen.
Brouwer (27). Bei einer 68 jährigen Frau mit spastischer Lähmung des rechten
Beins zeigte sich bei der Sektion ein Erweichungsherd im Lobus paracentralis. Die
Pyramidenbahn war deutlich degeneriert, und zwar war diese Degeneration im
vorderen Teil der Brücke eine diffuse; weiter kaudalwärta war der mediale Teil der
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Brennecke, Organische Psychosen.
159*
PyramidenbahA besser erhalten als der laterale. Von der Med. oblongata bis zum
oberen Halsmark erstreckte sich die Degeneration wieder diffus auf die ganze Pyra¬
midenbahn. Es besteht demnach in den niederen Regionen des Z.-N.-S. nicht
mehr die scharfe Lokalisation nach Körperabschnitten, wie sie sich in der Pyra¬
midenbahn des Großhirns findet (Joseph .)
Cwrschmann (34) beschreibt 14 Fälle von multipler Sklerose, die im Verlauf
und in den Symptomenkomplexen starke Variationen untereinander zeigten, ln dem
einen Falle handelte es sich um eine in Schüben und Remissionen verlaufende
benigne Form der multiplen Sklerose; in einem andern Fall um einen lumbosakralen
Typus mit Fehlen der Sehnenreflexe und Muskelatrophie und initialer Latenz von
etwa 20 Jahren. Bei einer weiteren Beobachtung fand Verf. eine atrophische Gaumen¬
segellähmung als dominierendes Symptom der multiplen Sklerose. Fall 6 zeigte
eine Hemiatrophia linguae bei raittelschwerer, sonst nicht bulbärer, multipler Skle¬
rose, Fall 7 den sakralen Typus der Scleros. multipl. mit vorwiegenden Klonus-
symptomen, Fall 8 gekreuzte Okulomotorius-Extremitätenlähmung als ersten Schub
der multiplen Sklerose, Fall 12 eine gleichzeitig mit Morbus Basedowii beginnende
multiple Sklerose, Fall 13 periodische extragraviditäre Milchsekretion mit Amenor¬
rhoe bei einem schweren Schub einer multiplen Sklerose.
Diec’,ert (37) führt außer einem ausfühlicher beschriebenen Falle von Him-
abszeß, bei dem in der Psychiatrischen Klinik in Königsberg wegen positiven Blut¬
wassermannes ein Gumma angenommen worden war, noch mehrere Fälle aus den
Beobachtungen von Nonne, Müller, Oppenheim, Herter, Fumaro'a, Marburg und
Di Her an, in denen bei Syphilitikern mit positiver Serumreaktion nicht syphilitische
Hirntumoren bei der Obduktion gefunden wurden, während die Diagnose intra
vitam infolge des positiven Wassermanns bezüglich der Art und Therapie
der betreffenden Tumoren eingeleitet worden war. Aus dem Material der Königs¬
berger Psychiatrischen Klinik beschreibt Verf. noch des weiteren: 1 Fall von Cysti¬
cercus racemosus und 1 Fall von funktionellem Nervenleiden. Beide Pat, hatten
eine frühere syphilitische Infektion überstanden und zeigten positiven Wassermann
im Blutserum.
Econonw (46) beschreibt eine Reihe eigenartiger Fälle von Enzephalitis, die
histologisch das Bild einer Polioencephalitis cerebri, pontis et medullae oblongatae
mit geringer Poliomyelitis, perivaskulärem, entzündlichem und diffus infiltrativem
aber nicht hämorrhagischem und nur schwach ausgeprägtem neurophagem Charakter
boten. Verf. glaubt, daß diese Enzephalitis leicht epidemischen Auftretens und eine
spezifische Erkrankung sui generis sei und durch ein spezifisches lebendes Virus
hervorgerufen werde, das, nach der Geringfügigkeit der „grippösen“ Allgemein-
symptome und aus der Heftigkeit der zerebralen Erscheinungen zu schließen, eine
spezifische Affinität zum zentralen Nervengewebe habe, ähnlich dem Virus der
Poliomyelitis ( Heine-Medin ).
Funkhäuser (51) fand bei einem klinisch typisch verlaufenen Falle von pro¬
gressiver ' Paralyse neben dem gewöhnlichen mikroskopischen Hirnbefund eine
eigenartige hyaline Degeneration der Gefäße, die er für luetisch hält An einigen
Stellen der Rinde war sie so hochgradig, daß Ernährungsstörungen auftraten —
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160* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Degeneration der Ganglienzellen, Wucherung der Glia, Fibrinablagerung. Makro¬
skopisch imponierten diese Partien als etwa erbsengroße, rauh und derb anzu¬
fühlende, nicht prominente Herdchen. Vereinzelt fanden sich außerdem im Gehirn
lymphozytäre, die Adventitia überschreitende luetische Infiltrationen. (Josephy.)
Fankhauser (62) beschreibt kristallisierende Substanzen (Harnsäure?), die sich
in der grauen Substanz des gehärteten Gehirns nachweisen lassen. Auf Grund ver¬
gleichender Untersuchungen an Gehirnen geistig Normaler und Geisteskranker
kommt er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zu dem Schluß, „daß wir in dem Auf¬
treten der beschriebenen Kristalle einen pathologisch anatomischen Befund vor uns
haben, der einerseits als eine Ausdrucksform der Gehirnschädigungen zu betrachten
ist, wie sieschwere körperliche (speziellinfektiös-toxische un d anämische)Erkrank ungen
begleiten, der andererseits aber mit verschiedenen psychotischen Prozessen, speziell
mit der Dementia praecox und den senilen Störungen, in .direktem Zusammenhang
steht. Bei der Paralyse finden wir Kristalle nicht häufiger als bei den körperlich
Kranken, und sie sind wohl dem Wesen dieser Krankheit fremd“. (Joseph .)
Goldstein (70) erörtert in Form eines Referates die Frage über den heutigen
Stand der Lehre von. der Rindenblindheit. Verf. glaubt nach dem heutigen Stande
unseres Wissens annehmen zu müssen, daß jedem Punkte der Netzhaut eine be¬
stimmte Stelle der Sehsphäre entspricht, und daß benachbarte Netzhautstellen auch
auf der Sehsphäre benachbar lokalisiert sind. Außerdem stehe wahrscheinlich jede
Netzhautstelle noch mit anderen Stellen in der „föderativen“ Netzsphäre in Ver¬
bindung, die event. bei Vernichtung der ersten Stelle für diese eintreten könne.
Das Sehzentrum sei hauptsächlich auf die Area striata zu lokalisieren. Das Ein-
trahlungsgebiet der Fasern der Macula lutea liege vorwiegend in einem relativ
großen Abschnitt am hinteren Ende der Calcarina; daneben finde wohl aber noch
eine diffuse Ausbreitung der Fasern statt. Wahrscheinlich sei jede Macula auch in
beiden Hinterhauptlappen vertreten. Die Form des Gesichtsfelddefektes sei ab¬
hängig von dem umschriebenen Defekt der Sehsphäre und von der mehr oder weniger
völligen Intaktheit des nicht zerstörten Gebietes, die eine mehr oder weniger weit¬
gehende Restitution ermögliche. Dasselbe gelte für die Macula. Falle das Macula¬
sehen aus, so sei nicht nur eine schwere Läsion der Sehzentren und Sehbahnen
anzunehmen, sondern wahrscheinlich noch weitergehende Defekte der Hilfszentren
und -bahnen.
In einem zweiten Teil seiner Abhandlung läßt sich Verf. über die Orientierungs-
störungen aus.
' Groddeck (76) vertritt in seiner Abhandlung den Standpunkt, daß organische
Leiden wie Angina catarrhalis, Adipositas, Ascites etc., sodann auch Erscheinungen
wie die Akne des Gesichts in der Pubertätszeit beim männlichen Geschlecht, Schutz-
und Abwehrmaßnahmen des „Ed“, des „Ubw“ seien. „Die Erkrankung, sei sie
akut oder chronisch, infektiös oder nicht, gibt Ruhe, schützt vor der kränkenden
Außenwelt oder wenigstens vor wohlbestimmbaren Erscheinungen, die unerträglich
sind.“ In der psychoanalytischen Aufdeckung und Klärung verdrängter Komplexe
des Ubw sieht Verl den gangbarsten therapeutischen Weg. Er erwähnt als „er¬
staunlichstes Ereignis seiner ärztlichen Tätigkeit“ die erfolgreiche psychoanalytische
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Brennecke, Organische Psychosen.
161*
Behandlung eines schweren Falles von Sklerodermie. „Die Psychoanalyse darf und
wird vor organischen Leiden nicht Halt machen. Wie weit ihr Machtbereich geht,
wird sich zeigen!“
Van Hasselt (82) beschreibt einen Fall von Meningo-Encephalitis tuberculosa
circumscripta, die bei einem 28jährigen Zimmermann nach einem Schädeltrauma
auftrat.
Hauptmann (84) führt in seiner Abhandlung unter Berücksichtigung der Er¬
fahrungen und des statistischen Materials auch anderer Autoren, daß nach dem
heutigen Stande der Forschung exogenen Momenten kein wesentlicher Einfluß auf
den Ausbruch und Verlauf der Paralyse zugebilligt werden könne. Verf. lehnt daher
Dienstbeschädigung bei Paralyse ab, wenn nur die allgemeinen Schädlichkeiten des
Krieges eingewirkt haben. Auch glaubt er nicht annehmen zu können, daß , .Er¬
schöpfte“ ein größeres Kontingent zu den Nervenkrankheiten im sekundären Stadium
der Lues stellten.
Heilig (85) beschreibt die Erkrankungen des motorischen Nervensystems dreier
Schwestern, Kinder polnischer Eltern aus dem Arbeiterstande. Das Alter war 24,
19 und 12 Jahre. Zwei von den Schwestern kamen ad exitum. Unter Zusammen¬
fassung des klinischen und histopathologischen Befundes handelte es sich in erster
Linie um eine Degeneration als Pyramidenbahnen. Verf. hält die beobachtete
familiäre Erkrankung für eine Entwicklungshemmung des motorischen Gesamt¬
systems.
Heveroch (90) versteht unter Anarithmetik den Verlust der Fähigkeit, zu
rechnen. Diese Fähigkeit, namentlich was ihre Komponente: das Erkennen und
Lesenkönnen der Zahlen betrifft, geht nicht parallel mit der Fähigkeit des
Erkennens der Zeichen für Zahlen überhaupt; denn es gibt Aphatiker, die die Zahlen
nicht besser aussprechen können als andere Worte, aber lesen und schreiben können
sie dieselben, auch dann, wenn ihnen die Fähigkeit, Worte zu schreiben und zu lesen,
verloren gegangen ist. Unter des Autors 4 Fällen handelt es sich bei dem ersten
Pat. um plötzlichen Verlust der Sprache überhaupt, wobei er aber das Gesprochene
vollkommen versteht und selbst korrekt schreiben kann. Obgleich er gut rechnen
konnte, ist er jetzt nicht imstande, zu rechnen, die Aufgaben löst er nicht und macht
primitivste Fehler: auch die Technik und das Äußere des Rechnens ist ihm abhanden
gekommen. Außerdem beobachtete Verf. bei ihm eine Störung in den geographi¬
schen Kenntnissen. Klinisch war es Pseudobulbärparalyse. Bei dem zweiten Pat.
um einen Luetiker, bei dem seit ca. einem halben Jahre Gedächtnisschwäche zu kon¬
statieren ist und der vor einigen Wochen ziemlich plötzlich zu rechnen vergessen
hat. Hauptsächlich für Eigennamen besteht bei ihm amnestische expressive Aphasie.
Nach antiluetischer Therapie (graue Salbe) trat Besserung ein; aber das Rechnen
geht immer sclilecht. Der dritte Pat. hatte eine vorübergehende Störung des Rechen ¬
vermögens, der vierte Pat. konnte nach einem apoplektiformen Anfall mit Mühe
sehr schlecht rechnen; auch nach der Besserung sonst gestörter Funktionen (Ver¬
stehen des Gelesenen, Sprachstörungen) bleibt die Störung des Rechnenvermögens
ziemlich unverändert. Die Klassifikation der genannten Störungen läßt sich im
Sinne des Verf. Schema ebenso wie bei den schon früher referierten Funktionen
analog durchführen. Jar. Stuchltk (Rot-Kostelec).
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162*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Heveroch (91) bezeichnet den Verlost der musikalischen Fähigkeiten als
Amusie. — Diese Fähigkeiten lassen sich einteilen in: L die Fähigkeit, den Rhythmus
aalzulassen und während der Produktion einzuhalten; 2. die Höhe, Färbung und
Stärke des Tones wahrzunehmen und zu produzieren; 3. die Melodie und Harmonie
und die in denselben ruhende Schönheit begreifen zu können bzw. dieselben zu repro¬
duzieren imstande sein; 4. musikalisches Gedächtnis, d,i. die Fähigkeit, musikali¬
sche Kompositionen zu merken und auswendig wiederreproduzieren zu können. —
Außer diesen Funktionen kommt noch in Betracht, daß wir die Kompositionen durch
bestimmte Zeichen schriftlich fixieren können, die Noten schreiben, lesen, ab¬
schreiben, verstehen, den Text gleichzeitig mit den Noten lesen und singen. — Diese
verschiedensten Funktionen, die in dem Begriffe „musikalische Fähigkeiten“ ent¬
halten sind, bezeichnet Autor einheitlich fm; und nach seinen in einer früheren Arbeit
wiederholt angewandten Schemen können wir analog unterscheiden: fm l = mnestä-
sche musikalische Funktion, musikalisches Gedächtnis; /,m = meristische Funk¬
tion, d. i. das Vermögen, die Töne in Harmonien und Melodien zusammenzu¬
bringen; f,tn — die Fähigkeit, die Noten zu erkennen, sie lesen, schreiben und za
verstehen. Im Detail bezeichnet z. B.: /m“ f = die Fähigkeit, beim Anhören die
Töne zu erkennen; m t e t = die Fähigkeit, die Töne zu reproduzieren; f m t a n = die
Fähigkeit, die Namen der Noten (n) zu verstehen; fm t °n = den Ton aus den
Noten lesen zu können; fm t fn = die Fähigkeit, Noten benennen zu können;
fm t = Noten zu schreiben etc. Durch langes Üben werden bei dem Musiker
viele Funktionen automatisiert, was sehr wichtig für die Beurteilung einzelner
pathologischer Symptome sein kann und bei andern Störungen nirgends in so
großem Maße vorkommt. Wenn wir noch in Betracht ziehen, daß eine große Rolle
dem Rhythmus gebührt (/r), können wir das bekannte Schema für musikalische
Fähigkeiten folgendermaßen konstruieren:
/ fm t °n*~ f 3 o
/r»! «-- fm t «- fm t a i*~ f 3 a
/ ^ f t a
\ sfr\
fm l l 'W’ ^ —* /m, e -► fm t e t -*j a e
M* ar n-*Ugr
Das Schema für die Fähigkeit, ein Lied zu singen, fällt noch komplizierter aus,
da es sich in dem Falle um die musikalische Fähigkeit und die, den Text lesen zu
können, handelt; leicht begreiflich, wie komplizierte Störungen in diesem Falle
zustande kommen können.
Die Kasuistik des VerL enthält instruktive und seltene, vielleicht einzeln da¬
stehende Beispiele isolierter und kombinierter Störungen einzelner Funktionen (Pat.
mit dem Verluste der Fähigkeit, Töne und Akkorde erkennen zu können; Pat. mit
den gestörten: fm t W, fm t f; Pat mit Störung in /m, f, /, r, fm, <**«>,
u. a. m.) sowie eigene als auch aus der Literatur. Die Beschreibung der Fälle läßt
sich aber im Referat nicht wiedergeben. Jor. Stuchlik (Rot-Kostdeo).
Heveroch (92) setzt in dieser Mitteilung seine in dieser Zeitschrift wiederholt
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Brennecke, Organische Psychosen.
163*
referierten Studien über die Formen der Sprachstörung fort. Er beschäftigt sich
mit den Störungen der Funktion f v der phatischen Funktion im Sinne seines be¬
kannten Schemas J /, -► /„ wobei /, die meristische, /, die arthrische Funk¬
tion bezeichnet Die amnestische Aphasie, die nach dem präziseren Schema
y /, W. (a >°’ f) -
"* fl e -+ f t (f>9r) f t (f,gr)
entweder total sein oder nur die perzeptive resp. expressive Komponente
der Funktion in sich einschließen kann, ist eine solche Sprachstörung, bei welcher
der Kranke sich nicht an Worte, dejren er sich bei Äußerung seiner Gedanken münd¬
lich oder schtiftlich bedienen möchte, erinnern kann; das Wort ist ihm verloren
gegangen, es fehlt in seinem Wortschatz. Er kann auch nicht sagen, wieviel Buch¬
staben und Silben hat das betreffende Wort, ist aber imstande — wenn die Störung
nicht allzu tief liegt—beider Hilfe sich des Wortes doch zu bedienen oder es aufzu¬
schreiben. Dadurch unterscheidet sich der Aphatiker, dessen Zustand durch die
Benennung „Amnesia verbalis expressiva“ präziser charakterisiert ist, von dem an
Amerisia Leidenden, der wohl ebenfalls das Wort nicht sagen kann, aber doch auf¬
schreiben, oder umgekehrt oder -r- bei Amerisia totalis — kann es weder sagen,
noch aufschreiben, aber genau angeben, wieviel Silben und Buchstaben es enthält.
Der Ameritiker weiß beim Versprechen oder überhaupt schlechter Aussprache, wo
der Fehler sitzt, ist aber nicht imstande, denselben zu korrigieren; der Aphatiker
kann (aber braucht nicht immer) wissen, daß er Fehler gemacht hat, aber wo der¬
selbe liegt, ist ihm nicht bekannt Praktisch, bei klinischer Diagnose, die ja in
leichteren Fällen unter Umständen sehr schwierig zu sein pflegt kann noch in Be¬
tracht gezogen werden, daß Aphatiker in der Regel zuerst wenig benutzte Worte
verlieren, so daß die Worte des täglichen Umgangs nur in fortgeschrittenen Fällen
ausfallen.
Bei der Terminologie des Verfassers ist nicht zu vergessen, daß amnestische
Aphasien anderer Autoren nicht denselben Zustand zu bezeichnen brauchen, und
umgekehrt andere Termini für des Autors Störung geprägt werden. Detaillierte
diesbezügliche Angaben sind im Original zu suchen. — Bemerkenswert bleibt noch,
daß bei den meisten Kranken die Störung der phatischen (mnestischen) Funktion j 1
beide Komponenten derselben (expressive und perzeptive) betrifft, so daß die
amnestische oder pressive Aphasie resultiert (9 Fälle der Kasuistik Hjb);
die reine motorische (expressive) und sensorische (perzeptive) läßt sich im Kranken¬
material aber auch konstatieren (3 Fälle der Kasuistik; bei einigen Patienten handelt
es sich um das Überwiegen einer der genannten Komponenten).
Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec).
Heveroch (93) erörtert die Grundlage und Beschaffenheit der Surditas verbalis«
Nach seinem Schema
f t p(a) f t (a,o,t) «_
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164* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. *
ist es leicht zu begreiren, daß: 1. die Vernichtung der Funktion /,(») “ »uditiv gich
klinisch als gewöhnliche Taubheit zeigt; 2. die Störung in f t a die Unfähigkeit dar-
stellt, aus den vernehmbaren Geräuschen und Lauten einzelne Worte aufzufassen
oder aus den wahrgenommenen Vokalen und Konsonanten Worte zusammenzu¬
stellen. Die Störung muß als Surditas verbalis ameristica bezeichnet werden
(= subkortikale sensorische Aphasie Lichtheims = Surditas verbalis pura Dfyerirus);
3. die Störung in /“ dadurch gekennzeichnet ist, daß der Kranke das wahrgenommene
gehörte (er kann es gut wiederholen) Wort nicht versteht: Surditas verbalis
amnestica. Diese Störung, die auditive amnestische Aphasie, die haupt¬
sächlich darin besteht, daß der Kranke das Gesprochene, das er gut wiederholen oder
als Diktat aufschjeiben oder sogar von sich selbst gut sprechen und schreiben kann,
nicht versteht, nicht begreift, würde noch am besten der Lichtheiv, sehen transkorti¬
kalen sensorischen Aphasie entsprechen. Da aber die perzeptive / t und expressive j x
beim Menschen in der Regel sehr innig verknüpft sind, finden wir eine isolierte
Störung nur ausnahmsweise; die Kasuistik des Verf. ebenso wie die Kritik der
Literaturfälle bestätigt nur diese Behauptung. Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec).
Heverochs (94) allgemeines Schema für Sprachstörungen lautet:
j x P(a,o,t) «_ f % p{a,o,:j fjp(a,o,z)
wobei die perzeptiven (p)-Funktionen, d. i. die auditive (<*)-, optische (o)- und
taktile (i)-Funktion und die expressiven (e)-, d. i. die phonische (/)- und graphische
(yr)-Funktion durch in Klammern angeführten Buchstaben angedeutet sind. Je
nach dem Sitze der Störung kann man unterscheiden: Amnesiaverbalis = Aphasia
amnestica (gestörte /,), totalis (fi lp ’ e> ) oder partialis, und zwar: expressiva (f t e )
oder perceptiva Dasselbe gilt für die meristische (/ 2 )-Funktion, wobei die
partiellen Formen der Störung unter selbständigen Namen bekannt sind, nämlich:
die Amerisia expressiva partialis phonica (/ 2 <H/ ) = reine motorische Aphasie =
Brocasche Aphemia, und die Amerisia expressiva partialis graphica (f. e{qri ) = reine
Agraphie. Die Amerisia perceptiva (/ 2 ) partialis kann je nach der Störung dieser
oder jener der drei angegebenen Funktionen sich als reine Alexie (/ 2 ^ 0) ) oder reine
Worttaubheit = subkortikale sensorische Aphasie ( f 2 p{ai ) präsentieren; die Störung
} a P( t] dürfte nur bei Erblindeten, die mit Hilfe des Betastens lesen können, vor¬
handen sein. Bisher ist aber kein derartiger Fall bekannt. Die Störungen f 3 gehören
eigentlich nicht hierher, weil es sich nicht um Sprachstörung ss. handeln kann.
Denn die gestörte/ 8 ° ist Blindheit, / 3 ° Taubheit, f 3 Verlust des Tastvermögens;
bedeutet Lähmung, Kontraktur, Apraxie oder Ataxie der Muskeln, die dem Sprechen
dienen, / 3 e ^ r >) die Lähmung, Kontraktur, Apraxie oder Ataxie der das Schreiben
versorgenden Muskulatur. In der Terminologie II .s ist also mit dem Worte totalis
die Afunktion (resp. Dysfunktion) .sämtlicher Komponenten einer / bezeichnet, mit
dem Worte partialis nur eine von den 2—3 möglichen, und mit dem Worte
combinata = complicata die Störung der Funktionen verschiedener Etagen (/).
So z. B. Aphasia perceptiva combinata ist die Störung f x P + /,**, und dergleichen
mehr. — Die klassische kortikale motorische Aphasie = Aphasia totalis combinata.
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Brennecke, Organische Psychosen.
165*
bei welcher die Störung der motorischen Funktion im Vordergründe steht; die
kortikale sensorische Apraxie analog mit dem Hervortreten der gestörten sensorischen,
perzeptiven Funktion. — Die Kasuistik H. s enthält einen Patienten mit Störungen:
^(p,e) 4 - / a « — Aphasia amnestica totalis + Amnesia perceptiva optica; im Verlaufe
der Krankheit (apoplektische Insulte) gesellten sich noch Störungen / 8 zu. Ferner
einen mit f t K + f t ", eine Frau mit ähnlicher Störung, einen Mann mit stärker be¬
schädigtem f x * schwächer f x v , total alteriertem /,°y und beträchtlich gestörtem f 3 °l
(v = verbalis, l = literaris). Eine Frau mit gestörten //' + fi p 4- /*" + f 3 . Und
dergleichen mehr. Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec).
Hübner (105) warnt, in der diagnostischen Verwertung der kongenitalen Lues
als ätiologischem Moment allzusehr nach dem Grundsätze ,.Post hoc., ergo propter
hoc“ zu verfahren. Sicher sei wohl unter den Entarteten die Syphilis stärker ver¬
breitet als unter den geistig Normalen. Für viele nervöse und psychische Störungen
kongenital Luetischer sei die hereditäre Belastung durch die Entartung eines oder
beider Eltern ein nie außer Rechnung zu setzender, ja oft wesentlicherer Faktor für
die Erkrankung des Deszendenten als die Lues selbst. Von diesen Gesichtspunkten
aus betrachtet Verf., zum Teil an der Hand von beobachteten Krankheitsfällen, die
verschiedenen, mit ererbter Syphilis vergesellschafteten nervösen und psychischen Er¬
krankungen, z. B. Entartung, Schwachsinn, Chorea, Dementia praecox, und be¬
handelt endlich gesondert die Psychosen auf der Basis der kongenitalen Lues (Him-
syphilis, juvenile Paralyse, Psychosen ohne Komplikationen von seiten der Motilität
und Sensibilität und die postsyphilitische Demenz.
Hunstein (107) stellt, nach einer Zusammenfassung der Allgemeinerscheinun¬
gen bei Himgeschwülsten, die einzelnen Herdsymptome und die Möglichkeiten der
genaueren Lokalisation eines Tumors zusammen und beschreibt einen Fall von
Sarkom im rechten Schläfenlappen bei einem 53 Jahre alten Manne.
Die Arbeiten Jahne s (110, 111, 113, 115) beschäftigen sich mit der so
außerordentlich wichtigen Frage des Vorkommens der Spirochaeta pallida im Para¬
lytikergehirn. Die Morphologie der Pallida wird eingehend beschrieben; J. macht
besonders auf die mannigfachen Formen aufmerksam, die durch Verkürzung, Ein¬
rollung und Skelettierung zustande kommen. Die Methoden des Nachweises werden
eingehend beschrieben. Es ist ein unzweifelhaftes Verdienst J. s, ein Verfahren
ausgearbeitet zu haben, das bei völliger Unterdrückung der Fibrillenfärbung eine
gute Darstellung der Spirochäten im Z.-N.-S. ermöglicht. Er kombiniert zu diesem
Zweck die Silbermethode mit einer Vorbehandlung der Stücke in Urannitrat.
Im Paralytikergehim kommt die Spirochaeta pallida nur in der grauen Sub¬
stanz vor. Im Mark konnte ./. sie nicht nachweisen. Sie findet sich am häufigsten
und zahlreichsten im Stimhim. Nur einmal fand J. sie in dem weißen Streifen,
die den Linsenkem durchziehen. Dreimal konnte er sie in den Stammganglien
nachweisen. Auch im Kleinhirn war sie darzustellen. Theoretisch von .großer Be¬
deutung ist der Umstand, daß es ,/. nicht gelang, in andern Organen des Para¬
lytikers als im Z.-N.-S. Spirochäten zu finden.
In den Schnitten liegen die Spirochäten entweder bienenschwarmartig in
dichten Haufen oder mehr diffus verteilt. Dabei finden sie «ich nicht etwa regel-
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166’
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
mäßig im Präparat verteilt, „sondern man findet Stellen mit vielen Spirochäten, in
deren unmitttelbarer Nachbarschaft wieder ganz parasitenfreie Gegenden“. Be¬
stimmte Beziehungen zwischen den Gewerbsveränderungen einerseits und den Spiro»
chäten andrerseits waren nicht nachzuweisen. ( Josephy.)
Jahnel (112) bringt eine kurze Darstellung der Bedeutung der Lues, besonders
der Spirochätenbefunde für Paralyse und Tabes. (Josephy.)
Jendrassik (117) unterscheidet beim Verlauf der Infektion skrankh eiten die
Immunität vom Heilprozeß (Bakteriolyse). Die relative Größe dieser Reaktionen
des Körpers und eine auch bei andern Infektionskrankheiten bekannte Organaffinität
erkläre die sets wechselnde Form der Lues und ihren zyklischen Verlauf. Hierbei
entwickelte sich eine spezielle Organimmunität der einzelnen Organe, wodurch der
Übertritt der Rezidive auf andere Lokalisationen erklärt werde. Als wirkliche
Nervenlues erkennt Verf. nur die Tabes und die Paralyse an. Die übrigen Formen
seien nur luetische Erkrankungen der Hirnhäute, der Gefäße und verursachten
nur sekundäre Nervenerscheinungen. Erfolgreich sei die Behandlung der Lues nur
während des aktiven Rezidivs möglich. Letzteres trete in den inneren Organen von
Patienten unbemerkt ein, so daß diese meist zu spät ärztliche Hilfe suchten. Verf.
hält deshalb häufige Prüfung Infizierter auf ihre Wa.-R. und Beobachtung durch
Internisten für dringend notwendig. / .
Kcmkeleit (121) bespricht ausführlich die Krankengeschichten zweier Fälle
von Tumoren der Hypophysengegend. Im ersten Falle handelte es sich um einen
zystischen Tumor am Infundibulum, dessen histologische Untersuchung ein Platten -
epithelkarzinom ergab. Die Hypophyse war intakt Im zweiten Falle fand sich
ein knochenharter, zystischer Tumor in der Hypophysengegend, mit Zerstörung der
Hypophyse und Durchbruch in die Keilbeingegend.
Karl (123) untersuchte in 16 Fällen das Rückenmark von Paralytikern. Es
fand sich ein Parallelgehen der Hinterstrangserkrankung mit der Pupillenstarre,
ferner starke Inkongruenz zwischen den klinisch beobachteten spastischen Sym¬
ptomen und den anatomisch feststellbaren Seitenstrangerkrankungen. Am Rücken¬
mark von Kranken in höherem Lebensalter mit organischen Erkrankungen fanden
sich wenig charakteristische Veränderungen. Außerdem werden noch die Rücken¬
marksbefunde bei einigen Fällen sonstiger Himkrankheiten besprochen. (Josephtfy)
Kastan (125) beschreibt einen Fall von Chorea paralytica, bei dem die Sektion
einen graugrünen, sich nach hinten vergrößernden Erweichungsherd ergab, aber die
ganze innere Kapsel, den ^insenkem, die graue Substanz des Hypothalamus ein¬
nahm und nach außen von der äußeren Kapsel begrenzt wurde, während die untere
Grenze ziemlich scharf über dier Substantia perforata anterior abschloß. — Intra
vitam hatte der Kranke, ein 16 V*jähriger Laufbursche, außer den typischen choreati¬
schen Symptomen außergewöhnliche psychische Erscheinungen geboten: Unorien-
tiertheit, Ideenflüchtigkeit, Amnesie und ein eigenartig negativistisches Verhalten«
Kaupp (126) führt über die Zuverlässigkeit der Wa.-Re. folgendes aus: L Seine
trotz sorgfältigster Beobachtung der Vorschriften der Wa.-Re. bei den Kontroll-
untersuchungen an verschiedenen Untersuchungsstellen in einem erheblichen Pro¬
zentsatz der Fälle unter sich widersprechende Resultate erhalten; auch bei Ver-
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Brenn ecke, Organische Psychosen.
167*
Wendung der gleichen Extrakte und Immunsera und mit staatlich geprüften Agentien
seien die Erfolge nicht besser gewesen. 2. Übereinstimmendere Resultate dagegen
seien erzielt bei Verwendung desselben Aktivserums trotz Verschiedenheit des hämo¬
lytischen Serums und des Extraktes. 3. Von einer zuverlässigen Methode müsse
nicht allein Übereinstimmung in den Resultaten, sondern auch für den klinischen
Bedarf hinreichende Empfindlichkeit verlangt werden. ' Die Originalmethode ent¬
spreche keiner der beiden Forderungen. Die im Münchener Hygien. Institut ange¬
wandte „quantitative Methode“ beruhe auf erkannten Gesetzmäßigkeiten zwischen
hämolytischem Antiserum und Aktivserum, auf genauer Kenntnis der Wirksamkeit
der Extrakte und der Patientensera; sie lasse durch die Art der Anordnung die Ge¬
fahren unspezifischer Hemmungen vermeiden.
König (130) führt an der Hand einer großen Anzahl von Untersuchungen aus,
daß die L letinreaktion sich heute zu einer praktischen Verwertung in differential-
diagnostischer Beziehung noch nicht eigne.
Lohmeyer (147) schildert in großen Umrissen die Allgemein- und Herderschei¬
nungen bei Hirntumoren und beschreibt einen Fall von Tumor im linken Schläfen-
lappen bei einer 52 jährigen Frau. Die klinische Diagnose wurde durch den Sek¬
tionsbefund eines Gliasarkoms im linken Schläfenlappen bestätigt.
Lohmann (148) beschreibt die Krankengeschichte einer 50 jährigen Frau mit
Dystrophia adiposogenitalis, Trockenheit der Haut, fehlender Behaarung der Achsel¬
höhlen und Genitalgegend, Sehstörungen, Störungen der Reaktion der rechten Pu¬
pille, Lähmung des rechten Oculomotorius und Läsion des rechten N. opticus.
Außer diesen Herdsymptomen wurden als Allgemeinerscheinungen anfangs Kopf¬
schmerz, Übelkeit und Erbrechen, später psychische Störungen beobachtet. Die
klnische Diagnose lautete auf Hypophysentumor. Die Sektion ergab einen haselnu߬
großen zystischen Tumor, der unter dem Chiasma n. opt. gelegen, am Hypophysen¬
dach in der Gegend des Hypophysenstiels fest verwachsen war. Der rechte N. opticus
zeigte an seiner Abgangsstelle Adhäsion an den Tumor.
Maschmeyer (156) erörtert die Frage über den Zusammenhang zwischen mul¬
tipler Sklerose und Unfall Statistisch verwertbar sind nach Ansicht des Verf. nur
solche Fälle, in denen 1. der Unfall von einer gewissen Schwere und seiner Art nach
geeignet war, das Zentralnervensystem erheblich zu erschüttern; 2. zwischen Unfall
und Beginn des Nervenleidens mindestens einige Wochen, höchstens 1 Jahr ver¬
flossen sind, und 3. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein schon vor dem Unfall
vorhandenes Nervenleiden ausgeschlossen werden kann. 2 Bis jetzt blieben nach Aus¬
merzung aller, diesen Forderungen nicht genügenden Fälle höchstens 5—10% Er¬
krankungen an multipler Sklerose übrig, in denen die Möglichkeit eines ätiologischen
Zusammenhanges mit dem Unfall gegeben sei. Eine endgültige Lösung der Frage
sei erst nach Klärung der Pathogenese der multiplen Sklerose möglich. Mit der Fest¬
stellung der entzündlichen Entstehung der Erkrankung würde die Rolle des Traumas
sehr in Frage gestellt werden.
Müller , Rudolf (166) bespricht den Wirkungsmechanismus und den thera¬
peutischen Wert der parenteralen Proteinkörpertherapie. Er erklärt die therapeuti¬
sche Wirkung auf akut entzündliche Erscheinungen aus der durch die parenterale
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168*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Zufuhr artfremden Eiweißes vermehrten Hyperämie und Transsudation in Ent¬
zündungsherden des Körpers. „Auf diesem Prinzip könnte wenigstens zum Teil
der Erfolg der Behandlung von Paralytikern nach v. Wagner beruhen.“ Wenn diese
auf klinischer Bebachtung sichtbaren Entzündungsherde basierte Anschauung
richtig sei, dürfe sich ein Ausbau der Paralysetherapie als möglich erweisen.
Die kurze Arbeit Neergarda (171) enthält die Beschreibung einer — nach der
Angabe des Verf. durchaus brauchbaren — improvisierten Apparatur für Mikro¬
photographie. Außerdem bringt sie eine lesenswerte Darstellung der Theorie und
Praxis der Mikrophotographie. (Josephy.)
Oppenheim (181) stellt als differentialdiagnostische Momente zwischen mul¬
tipler Sklerose und Pseudosklerose folgendes auf: 1. Multiple Sklerose: selten in
Kindheit und Pubertät, meist später; Pseudosklerose: umgekehrt. 2. /Multiple
Sklerose: Keine RoBe der Heredität und Familiarität, Pseudosklerose: oft familiäres
Auftreten. 3. Zittern ist bei der multiplen Sklerose streng an die aktiven Bewegungen
gebunden, bei der Pseudosklerose bei Bewegungen und psychischen Bewegungen.
4. Muskeltonus beiderseits erhöht, aber bei der mult. Ski. fast stets nur in den
Beinen, bei der Pseudosklerose vom Typus der Paralysis agitans. 5. Parese bei der
mult Ski. konstant, bei der Pseudoski. keine dauernde Lähmung oder erst sub finem.
Mult SkL: selten apoplektiforme oder epileptiforrne Anfälle, Pseudosklerose: Auf¬
treten von Lähmungszuständen bes. nach apoplektiformen Anfällen. 6. Bewegungs¬
ataxien bei der mult. Ski. ziemlich häufig, bei der Pseudosklerose selten stark aus¬
gebildet. 7. Zerebellare Ataxien bei der mult. Sklerose typisch, bei der Pseudo¬
sklerose selten. 8. Adiadochokinesis bei beiden häufig. 9. Optikussymptome bei
mult. Sklerose häufig, bei der Pseudosklerose höchstens Hemeralopie. 10. Augen¬
muskellähmung, Nystagmus, Schwindel, Sensibilitätsstörungen, Blasen- und Mast¬
darmsymptome sind bei der mult. Sklerose typisch, bei der Pseudosklerose sehr
selten und wenig hervortretend. 11. Bauchreflexe bei der mult. Sklerose meist, bei
der Pseudosklerose nicht selten erloschen. Pro- und Retropulsion nie bei der mul¬
tiplen, selten bei der Pseudosklerose. 12. Psychische Störungen kommen bei der
mult. Ski. nur leicht und selten, meist sub finem vois bei der Pseudosklerose häufig
und früh in Form von Demenz und Wutausbrüchen. 13. Krämpfe in beiden Fällen
selten, Zwangslachen häufig. 14. Pigmentation der Cornea bei der multiplen Sklerose
nie, bei der Pseudosklerose oft. Der Verlauf der multiplen Sklerose erfolgt in Schüben,
nur ausnahmsweise in einfacher Progression; dagegen der der Pseudosklerose ist einfach
progredient, mit apoplektiformen Anfällen, passageren Lähmungen und ausnahms¬
weise echtem Rezidivieren und Exazerbieren.
Oppenheim (183) behandelt in einer umfassenden Arbeit (136 S.) die Kriegs¬
verletzungen des peripherischen Nervensystems. Die Symptome der Verletzungen
des Medianus und der Ulnaris werden eingehend erörtert, ebenso die Verletzungen
der Nerven der unteren Extremitäten. Ferner läßt sich Verf. unter gleichzeitiger
Berücksichtigung der Forschungsergebnisse anderer Autoren über die Frage der
Regeneration aus und bespricht dieFolgeerscheinungen gröberer Verletzungen auf
motorischem, sensiblem und trophischem, vasomotorisch-sekretorischem Gebiete.
Den theoretischen Erörterungen schließt 0. als Kasuistik die Krankengeschichten
von 63 Beobachtungen von Verletzung peripherer Nerven an.
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Brennecke, Organische Psychosen.
169*
Pde ( 186 ) beschreibt in seinen kasuistischen Beiträge^ • zur Lehre von den
Rückenmarksgeschwülsten einen Fall von völlig isolierter und dann seift ausgedehnter
Tuberkulose der Dura des R.-'M., die in ihrer Masse und in ihrer Isoliertheit wie ein
«xtraduraler Tumor imponierte; ferner einen Fall einer operativ behandelten Pachy-
meningitis oder Peripachymeningitis des R.-ä£, deren Pathogenese nicht mit
Sicherheit festzustellen war; endlich einen Fall von intramedullärem Tumor des
Lumbo-Sakralmarkes, der sich mikroskopisch als ein Angiom darstellte.
von Rad (198) beschreibt 4 Fälle von Psychosen bei Tabes und vertritt in
der kritischen Besprechung der Fälle die Ansicht, daß die zu allermeist akut, ver¬
laufenden halluzinatorisch-paranoischen Formen als Tabespsychosen anzusprechen
seien. Schwieriger sei die Bewertung der kurzdauernden, deliranten Erregungs¬
zustände. Nicht selten kämen Veränderungen der ganzen psychischen Wesensart
der Tabiker meist in Form von Veränderungen der Affektlage oder Defekten des
ethisch-moralischen Empfindens vor. Die Annahme des Vorkommens einer tau¬
schen Demenz hält Verf. für sehr schwach begründet und mehr für eine Erschei¬
nung der geisttötenden Eintönigkeit eines Kranken- oder gar Siechenhauses. Bei
Tabikern, die in der Familie verpflegt wurden, sei das Auftreten einer Demenz
überaus selten. Bei den andern im Verlauf einer Tabes vorkommenden Geistes¬
störungen’ handle es sich um zufällige Kombinationen.
Raecke (199) betont die hohe Bedeutung der neueren Spirochätenbefunde
im paralytischen Gehirn nicht nur für die pathologische Histologie und Patho¬
genese, sondern auch für die Klinik. Er glaubt aus der Feststellung, daß die Spiro¬
chäten gerade dort vorwiegend angetroffen werden, wo durch die alten Färbe¬
methoden die stärksten Gewebsveränderungen nachgewiesen wurden, ein sicheres
Anzeichen des engen kausalen Zusammenhanges zwischen Spirochätenaussaat
und paralytischer Rindenzerstörung annehmen zu können.
In einer weiteren Arbeit, speziell betreffs der Dementia paralytica (200),
führt Verf. aus: Die Spirochätenbefunde im paralytischen Gehirn machten jedoch
zurzeit keine tief einschneidende Änderung in praktischer Beziehung erforderlich.
Eine sofortige Erweiterung oder wesentliche Umgestaltung der Behandlungs¬
methoden sei nicht zu erwarten. Ein therapeutischer Einfluß auf die innerhalb
der Ganglienzellen angesiedelten Spirochäten erscheine dem Verf. ganz unwahr¬
scheinlich. Von einer Steigerung der einzelnen Salvarsandosis oder von der Wahl
eines noch kräftigeren Mittels sei eine durchschlagende Wirkung kaum zu erhoffen,
eher noch von einer häufigeren und möglichst lange fortgesetzten Wiederholung
kleiner Dosen. Ganz unberührt blieben die Spirochätenbefunde bisher von allen
therapeutischen Maßnahmen, die, wie z. B. die Tuberkulinbehandlung, bezwecken,
die Abwehrkräfte des Organismus gegen die Parasiten zu stärken.
Redlich (204) beschreibt 6 Fälle eigener Beobachtung von Encephalitis pontis
et cerebelli und streift die Ansichten anderer Autoren sowie die verschiedenen
Fragen der Differentialdiagnose und Pathogenese der Erkrankung.
Reichmann (207) berichtet über 2 Fälle von Schußverletzungen des Kleinhirns.
von Rohden (218) berichtet in einer umfangreichen Arbeit über die Pathologie
der Paralytikerfamilien, die er auf 70 Paralytikerfamilien eigener Beobachtung
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
stützt, n. a. folgendes j 1. In 77% der Fälle bot mindestens einer der Angehörigen
serologische oder klinische Veränderungen, nur bei 23% blieb der schädigende
Einfluß der Syphilis auf den primär erkrankten Ehegatten beschränkt 2. Von 62
‘Paralytikerehegatten waren 70% pathologisch, 30% normal. Unter Hinzurech¬
nung der Beobachtungen anderer Autoren ( Hauptmann , Raven, Schacherl) erhöht
sich die Zahl auf 72%. Von diesen zeigten 15% Pupillen- und Reflexerscheinungen
bei negativem serologischen Befund, 23% positive Wa.-R. bei normalen klinischen
Symptomen. Im ganzen war bei 64% die Wa.-R. +, nur 28% blieben gesund.
3. Ein Viertel der Graviditäten in Paralytikerfamilien sind Fehl- und Totgeburten,
ein weiteres Viertel starb im Laufe des ersten Jahres. 4. Die durch¬
schnittliche Kinderzahl einer paralytischen Ehe betrug 1,7. 6. Von
den öberebenden Kindern hatten 19% organische Erkrankungen • des Zentral¬
nervensystems, 29% somatische oder psychische Degenerationsstigmata, 6% posi¬
tiven Wa. bei normalem klinischen Befund. 6. Die Paralyse an sich kommt als
ursächlicher Faktor für die Schädigungen der Angehörigen nicht in Betracht. Der
Paralytiker ist für seine Angehörigen nur insoweit gefährlich, als er noch Syphilitiker
ist 7. Die Paralytikerkinder sind um so mehr gefährdet, je näher dem Zeitpunkte-
der syphilitischen Infektion sie geboren sind. Die relativ günstigsten Befunde
liefern die immittelbar vor oder nach dem Beginn der Paralyse geborenen Kinder.
8. Die von einer Paralyse bedrohten Syphilitiker verlieren während der ganzen
Dauer des paralytischen Inkubationsintervalls nicht ihre Infektiosität 9. Wahr¬
scheinlich zeigen alle „paralytischen“ Syphilitiker bis zum Beginn der Paralyse
positive Wa.-R. (100%), wie nach Ausbruch der Lues.
v. Rohden verwirft die Theorie von der Paralyse als einer nicht infektiösen
syphilitischen Nachkrankheit (Metasyphilis). Auch vermag er die Annahme eines
Virus nervosus mit dem Ergebnis seiner Untersuchungen nicht in Einklang zu bringen.
Rosenfeld (222) schildert die Erscheinungen, die bei einem 20jährigen Manne
nach Gewehrdurchschuß beider Frontallappen beobachtet wurden. Die Verletzung
an sich verlief aseptisch und kam ohne entzündliche Reaktion zur Ausheilung.
Der Pat zeigte in den ersten 3 Tagen ganz geringfügige Hirndrucksymptome,
fast 2 Monate lang psychische Störungen nach Art eines katatonischen Stupors
und endlich eine eigentümliche Störung des Gehens und Stehens nach Art der
frontalen Ataxie. Letztere und zum Teil auch den Stupor erklärt Verf. aus der
Verletzung des motorischen Assoziationsgebietes in den Frontallappen (Franz),
in dem die vorbereitenden psychischen Vorgänge der willkürlichen Bewegungen
oder die Bewegungsvorstellungen lokalisiert sind. Nach Auffassung Flechsig* ist
dieses frontale Assoziationsgebiet hauptsächlich der Sitz der Willensakte.
Schaffer* „Himpathologische Beiträge“ (234) aus dem Budapester Institut
bringen in dem zum Referat vorliegenden Heft (II, 1) zwei Arbeiten von Schaffer,
die sich mit dem Problem der normalen und pathologischen Himfurchung bei
schattigen; von demselben außerdem einen Beitrag zur Histopathologie der proto¬
plasmatischen Neuroglia. (Josephy.)
Richter (209) bringt einen Fall von atypischer multipler Sklerose —klinisch
der amyotrophischen Lateralsklerose nahestehend, ununterbrochen, ohne Schub,
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Brennecke, Organische Psychosen.
171*
verlaufend; anatomische Herdbildong, der Gefäßverteilung entsprechend und
trotz des chronischen Verlaufe mit mesodermalen Infiltraten. Er beschreibt ferner
(210) einen einzigartigen Fall von Stirnhirnschwund mit Verblödung. Bezüglich
der zahlreichen Einzelheiten muß auf das Original verwiesen werden. ( Josephy .)
Seelert (249) stellt in seiner Abhandlung auf Grund der Untersuchung von
Familienangehörigen von 80 Paralytikern und 10 Tabikern fest, daß Syphilis und
syphilogene Nervenkrankheiten bei Familienangehörigen der Paralytiker und
Tabiker, die sich wenige Monate vor oder während der Ehe infiziert hatten, wesent¬
lich häufiger gefunden werden, als bei den Angehörigen der andern, deren Infektion
3 oder mehr Jahre vor der Heirat erfolgt ist. Die Schädigung der Nachkommen¬
schaft durch die Syphilis ist in den Fällen am schwersten gewesen, in denen
der Vater sich während oder knrz vor der Ehe infiziert hat.
Die Frage, ob ein Syphiliskranker, der sich aus frischer Infektionsquelle,
d. h. von einem erst kurz vorher infizierten Menschen, die Lues zuziebt, hinsichtlich
der Entstehung syphilogener Nerve nkrankh eiten mehr gefährdet sei als ein anderer,
der durch einen schon lange an Syphilis leidenden Kranken infiziert wurde, läßt
Verl offen.
Singer (267) beschreibt in seinen kasuistischen Mitteilungen einen bemerkens¬
werten Fall von Thomsenscher Krankheit bei einem 36 jährigen Kriegsteilnehmer,
ferner einen Fall von Meningitis cerebrospinalis epidemica, beobachtet an einem
26jährigen Soldaten, und endlich einen schweren Fall von Polyneuritis dysenterica.
Steiner (266). Die Spirochaeta pallida tritt sehr früh, schon in der frühen
Sekundärperiode, im Z.-N.-S. aul Dementsprechend ist das Z.-N.-S. bei allen
Frühfällen von Lues genau zu untersuchen; bei irgendwelchen klinischen Erschei¬
nungen ist die Lumbalpunkäon vorzunehmen, und die Behandlung ist erst dann
abzuschließen, wenn die Liquorsymptome beseitigt sind Bei Frühsyphilis liegen
die Spirochäten in enger Beziehung zum Blut- und Lymphgefäßsystem, bei Spät¬
lues, besonders bei progressiver Paralyse, findet sich eine herdförmige Durch¬
setzung des Parenchyms. Die Spirochäten müssen zu irgendeiner Zeit aus der Blut-
und Lymphbahn in das eigentliche Nervengewebe eindringen. „Die Möglichkeit
liegt nahe, daß dieser Übergang sich klinisch besonders deutlich ausdrückt“ (Er¬
regungszustand, Anfälle, Manifestwerden der Geisteskrankheit nach einem neur-
asthenischen Vorstadium). Es finden sich hier Analogien zur Hühnerspirochätose.
Die Theojie von der neurotropen Spirochätenabart lehnt SL ab. Er konnte zeigen,
daß ein volivirulenter Spirochätenstamm durch Zusatz von Paralytikerliquor eine
deutliche Virulenzabschwächung erfährt; die verlängerte Inkubationszeit bei Impfun¬
gen mit spirochätenhaltigem Material aus Paralytikergehirnen ist also kein Grund
für die Annahme einer besonderen Spirochätenabart. ^ ( Josephy .)
t Stern (271) berichtet an der Hand von 4 Fällen von epidemischer Genick¬
starre über die Erfolge und Aussichten der Serumbehandlung der Zerebrospinal-
meningitis. Verf. legt in Übereinstimmung mit andern Autoren großen Vert auf
die möglichst frühzeitige Einleitung der Seruminjektionen, hält aber die Kom¬
bination der intrakameralen Anwendung des Serums mit Optochin (Friedemann)
oder Protargol (Wofff) in manchen Fällen für ratsam.
Zeitschrift für Psychiatrie- LXXV. Lit- Dl
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
172*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Taussig (278) entwirft auf Grund seiner Kasuistik folgende Einteilung der
großen Gruppe der Pseudoparalysen: luetische und nicht luetische. Unter den
letzteren kann man weiter unterscheiden: Intoxikations-, Auto in to xikations-Para
lysen und auf der Basis der organischen Zerebropathien entstandene Pseudopara¬
lysen. Diese Einteilung ist hauptsächlich für die diagnostische Praxis bestimmt;
rein systematologisch müßte man pathologenetisch einteilen, und so müßten auch
die sehr seltenen pseudoparalytischen Zustände auf der Basis der Inanitionszustände
der Amentia und noch einige andere hierher gerechnet werden. Die Intoxikations*
paralysen sind meistens alkoholischen Ursprungs; selten infolge Vergiftung, noch
seltener die Autointoxikationspseudoparalysen bei Diabetes oder Urämie. Von
organischen Zerebropathien sind die diffuse Arteriosklerose mit folgender En-
zephalomalazie, die multiple Sklerose und die Geschwülste des Frontallappens als
Grundlage des pseudoparalytischen Bildes zu nennen. Die Diagnose gegen Para¬
lyse ist meist leicht; der Pupillarreflex ist immer erhalten (Autor beobachtete nur
einen Fall mit Robert Argyllsomchem Phänomen, sonst war die Reaktion immer
erhalten); psychisch charakterisiert die stetige Abnahme und Veränderung sämt¬
licher seelischer Fähigkeiten die echte Paralyse in den meisten Fällen genügend.
Biologisch ist die Feststellung schon nicht so eindeutig, Ausnahmen sind häufig.
Die schwierigste Differentialdiagnose zwischen der Paralyse und luetischer PBeudo-
paralyse stößt oft auf unüberwindliche Hindernisse; die Inkubationszeit, die bei
der letzteren ebenso lang sein kann wie bei der Paralyse, die körperlichen und
psychischen Merkmale, die eventuellen Erfolge der antiluetischen Therapie, der
Verlauf, der Ausfall der vier Reaktionen — das alles bestimmt nicht die Diagnose.
Vielleicht gehört aber das definitive Schlußwort doch den biologischen Methoden;
ihre weitergehende Verfeinerung ist aber Voraussetzung dazu.
Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec).
Tintemann (280) beschreibt die Krankengeschichte eines Falles angeborener
Erkrankung des Kleinhirns bei einem 34jährigen Manne. Bei dem Pat war das
Hauptsymptom der Kleinhirnagenesie, die Inkoordination, in den unteren Ex¬
tremitäten und im Beckengürtel sehr prägnant ausgesprochen. Das Krankheits-
bild bot, zusammengefaßt, folgendes: Bei der Geburt Enzephalozele. Später
Zurückbleiben in der geistigen Entwicklung, spätes und unvolkommenes Gehen
und Sprechenlernen. Später Kleinhirnataxie, Sprachstörung, Idotie und Diabetes
mellitus. Dem entsprach pathologisch-anatomische Hypoplasie und partielle
Agenesie des Kleinhirns mit Beteiligung des Nucleus dentatus und Verkümmerung
der Olivenformation. Unterentwicklung der Fibrae arenatae der Medulla ob-
longata und der Querfaserung der Brücke. Mangelhafte Entwicklung der Gro߬
hirnrinde.
Treupel (281) berichtet an der Hand von 10 mit Salvarsan behandelten Fällen
von Paralyse und Tabesparalyse über den therapeutischen Wert des Salvarsan 1
folgende^: „Paralysen bessern sich unter Salvarsanbehandlung zunächst glänzend,* 1
doch sei 'der erzielte Erfolg nur ein Trugbild. Trotz guter Behandlung weiche die
Besserung einer mehr oder minder großen Verschlimmerung; nach den Erfahrun¬
gen der Jenaer Hautklinik trete gewöhnlich innerhalb eines Jahres nach Aufhören
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Laehr, Neurosen.
173*
der Behandlung der Tod ein. Eine starke Salvarsanbehandlung scheine also den
Verlauf der Paralyse eher etwas abzukiirzen. — Für Taboparalysen gelte dasselbe.
Tabesfälle dagegen würden wesentlich gebessert, und die erzielte Besserung halte an.
Verf. rät daher, Paralysen und Tabesparalysen nur mit größter Vorsicht mit Sal-
varsan zu behandeln, dagegen bei Tabes Salvarsan möglichst frühzeitig und aus*
giebig anzuwenden.
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241. Schlüter, Erich, Zur Lehre der transitorischen Psychosen
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242. Schmidt-Schwarzenberg, Richard, Die Psychose bei der Sy-
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243. Schöppler, Herrn., Eine psychogene Massenerkrankung zu
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249. Schütz, Franz (Leipzig), Die Kriegsneurosen und ihre Be¬
handlung. Deutsche med. Wschr. S. 622. (S. 204*.)
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Bd. 56, S. 1299. (S. 202*.)
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Basedowsche Krankheit nach typhöser Schilddrüsen¬
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mann geheilten Kriegshysterie. Sitzungsber.: Münch,
med. Wschr. S. 5J>8.
293. Derselbe, Hysterische Schüttelerkrankung und „Insuffi-
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La ehr, Neurosen.
195*
cientia vertebrae“ Schanz. (Zu dem Aufsatze von
Schanz in Nr 12.) Münch, nied. Wschr. S.6Q5. (S. 201*.)
294. Derselbe, Zur Behandlung der Kriegsneurosen. Mönch.
med. Wschr. S. 1234. (S. 204*.)
295. Derselbe, Über den Mißbrauch der Diagnose „Hirnerschütte¬
rung“. Ärztl. Sachverst.-Ztg. S. 145.
296. Derselbe, Neurosen. Diagnostische und therapeutische Irr-
tümer und deren Verhütung, herausgeg. v. J. Schwalbe,
H. 3, Leipzig, Thieme. 81 S. — M. 3.—. (S. 196*.)
297. Weichbrodt, R. (Frankfurt a. M.), Über eine einfache Me¬
thode zur schnellen Heilung hysterischer Störungen.
Sitzungsber. Neurol. Zentralbl. S. 175.
298. Derselbe, Zur Behandlung hysterischer Störungen. Arch.
f. Psych. Bd. 57, S. 578.
299. Wertheimer, H. (Franzensbad), Hyperthyreoidismus nach
Schußverletzung der-Schilddrüse. Wien. med. Wschr.
Nr. 16.
300. Westphal, A. (Bonn), Ein in der Schwangerschaft ex-
azerbierender, durch operative Entfernung einer Zyste
der motorischen Rindenregion wesentlich gebesserter
Fall von Rindenepilepsie. Deutsche med. Wschr. S. 996.
(S. 206*.)
301. Derselbe, a) Über progressive neurotische Muskelatrophie.
b) Über doppelseitige hysterische Amaurose. Sitzungs¬
ber. Deutsche med. Wschr. S. 1575.
302. Wexberg , E. (Wien), Eine neue Familie mit periodischer
Lähmung. Jahrb. f. Psych. u. Neurol. Bd. 37, S. 108.
303. Weygandt, W. (Hamburg), Über Degeneratio adiposo- geni¬
talis. Arch. f. Psych. Bd. 57, H. 1.
304. Derselbe, Atypische und sekundäre Fälle von Fettsucht:
a) auf Grundlage von Enzephalitis bei Störung der
Neurohypophyse; b) beruhend auf Coronardystrophie
mit Hydrocephalus. Sitzungsber. Hamburger Ärzte-
korr. S. 15.
305. Derselbe, Die Sprachbehandlungstation Friedrichsberg.
Sitzungsber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Ref.,
Bd. 14, S. 416.
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196*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
306. Derselbe, Sekundäre hypophysäre Fettsucht. Sitzungsber.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych , Ref., Bd. 15, S. 65.
307. Wilde, A. (Lübeck), Paralysis agitans. (Ärztl. Gutachten
auf dem Gebiete des Versicherungswesens, red. von
H. Engel-Berlin.) Med. Klinik S. 427.
308. Derselbe, Hysterie als Unfallfolge. (Ärztl. Gutachten auf
dem Gebiete des Versicherungswesens, red. von H.
Engel-Berlin.) Med. Klinik S. 506.
309. Williamson. R. T. Remarks of the treatment of neu-
rasthenia and psychasthenia following shell-shok. Brit.
med. Journ. Nr. 2970.
310. Wilmanns, R. (Heidelberg), Die Behandlung der Kranken
mit funktionellen Neurosen im Dienstbereich des XIV.
Armeekorps. Deutsche med. Wschr. S. 427. (S. 204*.)
310 a. Derselbe, Die Wiederertüchtigung der an funktionellen
Neurosen leidenden Kriegsbeschädigten. Kriegsbeschä¬
digtenfürsorge. 2. Jg., H. 3.
311. Winter, G. (Königsbergi. Pr.) Die künstliche Unterbrechung
der Schwangerschaft bei Stoffwechselkrankheiten und
Störung der inneren Sekretion (Morbus Basedowii und
Struma, Diabetes mellitus, Tetanie, Osteomalazie).
Med. Klinik S. 931.
312. Wolf, H. F . (New York), The treatment of the locomotoric
ataxia by Maloney. New York med. journ., July.
313. Wohlwill, Friedr. (Hamburg), AthSthose double. Sitzungs¬
ber. Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Ref., Bd. 15,
S. 56.
314. Wollenberg, Ri (Straßburg), Ein seltener Fall psychogener
Kriegsschädigung. Arch. f. Psych. Bd. 58, S. 837.
315. Derselbe, Wesen und Behandlung der Kriegsneurosen.
Sitzungsber. Deutsche med. Wschr. S. 63.
316. Derselbe, Traumatische Neurosen. Bruns Beitr. Bd. 101,
Nr. 4.
317. Derselbe, Psychopathische Persönlichkeiten im Kriege.
Straßb. med. Ztg. H. 5.
Wie bei den früheren Heften der Schwalbe sehen „Irrtümer und deren Ver¬
hütung“ werden von Weber (296) und Nägeii (182) die differentialdiagnostischen
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La ehr, Neurosen.
197*
and therapeutischen Schwierigkeiten bei den einzelnen Krankheiten behandelt.
Bemerkenswert ist, daß jede echte Chorea als Infektionskrankheit aufgefaßt werden
muß, und daß Weber in einigen Fällen, namentlich bei starkem Fieber und schweren
endokarditischen Symptomen, mit Erfolg Opsonogen oder ein anderes polyvalentes
Serum gebraucht hat. (Bresler.)
In den „Kriegsbeschädigungen des Nervensystems“ (96) hat Hezel die Schu߬
verletzungen der peripherischen Nerven, Marburg die Kriegsverletzungen des zen¬
tralen Nervensystems, Vogt die Neurosen im Kriege, Weygandt die Geisteskrank¬
heiten im Kriege bearbeitet. Die drei erstgenannten waren im Kriege neurologische
Beiräte, We gandt psychiatrischer, also in der Lage, einschlägige Erfahrungen zu
sammeln. An Einzelheiten sei hervorgehoben, daß Vogl rät, bei den Kriegsneuroti-
kem die Diagnose Hysterie nur dann zu stellen, wenn die allgemeinen Erscheinungen
eines hysterischen Zustandes gegeben sind; manche Einzelsymptome, wie z. B. die
Massigkeit motorischer Ausdruckserscheinungen, legen schon allein den Gedanken
der Hysterie nahe, aber sehr viele andere monosymptomatisch auftretende Zu¬
stände, auch die Lähmung einzelner Gliedabschnitte, berechtigen an sich keines¬
wegs zur Diagnose Hysterie. Weygandt nimmt an, daß jene Paralysefälle in der
Armee, bei denen der Verlauf schneller ist als bei Friedensfällen, ohne die Kriegs-
Schädigungen mit großer Wahrscheinlichkeit paralysefrei geblieben wären; auch
Auslösung der Paralyse durch eine Schädelverletzung könne man schwerlich als
ausgeschlossen oder als hochgradig unwahrscheinlich erachten; ähnlich bei Aus¬
bruch der Paralyse eines Kriegers in auffallend frühen Lebensjahren oder erweislich
rasch nach Infektion. Aber einer allgemeinen Annahme von Dienstbeschädigung
bei Paralyse der Feldzugteilnehmer könne nicht das Wort geredet werden. Bei Dem.
praecox hat Wyegandt den Nachweis des Organabbaus nach Abderhalden , ins¬
besondere der Hirnrinde, des Hodens und einer oder zweier anderer innersekretori¬
scher Drüsen stets als eventuelle Bestätigung der Diagnose geschätzt. Weit mehr noch
ab bei Paralyse soll man im allgemeinen zurückhaltend sein mit der Annahme
einer Auslösung der Dem. praecox durch Mobilmachung oder Kriegsereignisse,
aber die Möglichkeit läßt sich nicht von der Hand weisen, jedenfalls nicht eine
Wahrscheinlichkeit nach schwerem Trauma. Das gleiche gilt vom manisch-depres¬
siven Irresein. (Bresler.)
Nägelia Bearbeitung (181) ist Fr. Schultze (Bonn) gewidmet, „der zuerst für
die richtige Auffassung der Unfallneurosen gekämpft und seine Ansicht dezennien-
lahg bis zum schließlichen Siege verteidigt hat“, und schließt: „Die Prophylaxe
kann nur dann irgendwelchen Erfolg haben, wenn die früheren vollkommen ver¬
kehrten und sozialschädlichen Auffassungen über Unfall- und Begehrungsneurosen
in den Kreisen der Ärzte vollständig verbannt sind und die frühere Oppenheimache
Lehre in vollem Umfange als Irrlehre von A bis Z durchschaut ist.“ Dadurch ist
die Richtung gekennzeichnet. Nach Ansicht N. s ist es unter allen Umständen zu
vermeiden, daß die unheilvollen pessimistischen Anschauungen, die so lange über
dem Schicksal der Unfallneurotiker geherrscht haben, auch auf die Kriegsneurotiker
übertragen werden. „Die Fortdauer der maßlos übertriebenen Einschätzung leichter
nervöser Erscheinungen, wie sie noch vor wenigen Jahren allgemein in der Begut-
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/
198* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
achtuog üblich war, könnte geradezu katastrophale Folgen nach sich ziehen, und
zwar nicht nur für die Finanzen des Staates, sondern vor allem für das Gesund¬
werden und die Zufriedenheit der Bürger.“ Bas sehr reichhaltige Buch sei bestens
empfohlen. Besonders beachtenswert sind die Parallelen zu den traumatischen
Neurosen, bei denen ein Unfall überhaupt nicht in Rede steht. Die. Aufzählung
der Abschnittsüberschriften möge einen Hinweis auf den Inhalt geben. 1. Begriff
und Abgrenzung der Begriffe Unfall- und Begehrneurosen. 2. Einteilung der
Sammelbegriffe Unfall- und Begehrneurosen. 3. Gab es Unfallneurosen vor dem
Inkrafttreten der Unfallversicherungen, und gibt es Unfallneurosen ohne Ent¬
schädigungsansprüche? 4. Vorschlag zu einer psychologischen Bezeichnung in den
heutigen Diagnosen auf dem Gebiete der Unfall- und Begehmeurosen. 6. Paral¬
lelen zu den Unfallneurosen. 6. Fehlende Parallelen. 7. Aus der Psychologie des
Alltaglebens in Hinsicht auf die Entstehung der Begehrvorstellungen. 8. Die
spezielle Psychogenese bei den Unfall- und Begehmeurosen. 9. Historisches zur
Auffassung der traumatischen Neurosen bis zu den Monographien von Oppenheim
10. Die völlige Wandlung unserer Auffassungen über Unfallneurosen seit 1892 bis
heute. 11. Die Folgen der Überbewertung der Unfallneurosen. Die finanziellen
Lasten. 12. Die Symptome der Unfall- und Begehmeurosen. 13. Das körperliche
Verhalten und dessen Untersuchungen. 14. Vorkommen und Häufigkeit der Unfall-
und Begehmeurosen. 16. Die Prognose der Unfallneurosen. 16. Die Frage der
Simulation bei den Unfall- und Begehmeurosen. 17. Die Taxation der Erwerbs-
einbuße. 18. Therapie und Prophylaxe. Literatur (12 S. in kleinem Drude).
(Bresler.)
Gegen Nägeli wendet sich Oppenheim (202) scharf und energisch, betont be-,
sonders, daß er nie die organische Natur der traumatischen Neurose behauptet habe,
sondern nur für viele Erscheinungen eine körperliche Grundlage annehme. Hier¬
gegen sprechen auch nicht die Nonne-Kaufmannschßn Erfolge, die nicht nur hysteri¬
sche, sondern auch andere nicht organische Erscheinungen verdrängen, zwar keine
Heilung bedeuten, aber rasch arbeitfähig machen und deshalb nicht zu unter¬
schätzen sind.
. Quensel (212) und Horn (104) betonen die Notwendigkeit, die Unfall- und
Kriegsneurosen nach ätiologischen Gesichtspunkten zu sondern, wodurch größere
Klarheit gewonnen und zugleich praktischen Forderungen genügt wird.
Birnbaum (16) sucht in sehr lesenswerter Abhandlung einen gangbaren Weg
durch die Schwierigkeiten hindurch, die sich der Aufstellung und Abgrenzung der
psychogenen Störungen entgegenstellen.
Pick (207) führt das Vorbeireden im hysterischen Dämmerzustand auf eine
diesem eigentümliche, psychologisch als Abstraktion (innerhalb der Teilempfindun¬
gen) zu qualifizierende Einengung des Blickfeldes zurück.
Cimbal (32) faßt unter Zweckneurosen Krankheitsformen zusammen, die —
ausgelöst durch Vermittlung starker krankhafter Affekte, meist solcher der Abwehr,
selten des Wunsches oder der Begehrung — zwar zweckwidrig erscheinen mögen,
aber doch tatsächlichen Lebenszwecken des Kranken entsprechen. Sie treten je
nach der äußeren Lage als Kriegs- oder Unfallneurosen, Verantwortungs- oder
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Laehr, Neurosen.
199*
Haftpsychosen auf. Arbeitverstfche steigern die gereizt selbstbewußte und gekränkte
Stimmungslage zu einer Erregung, deren körperliche Zeichen (Blutdruckspannung
Pulsänderung, Schwitzen) nicht willkürlich zu erzeugen sind, und zugleich ist die
Arbeitkurve gekennzeichnet durch das Auftreten überstarker, unregelmäßiger
Schwankungen und Fehler oder durch plötzliche Unterbrechung infolge von Beiz¬
erscheinungen (Schwindel, Augenmuskel-, Herzschmerzen). — Zbgrunde liegt die
Affektspannung, deren Ausdrucksform sich dem Willen entzieht, während der
Affekt selbst in hohem Maße durch die Willensrichtung gesteigert oder unterdrückt
werden kann; Willenssperrungen und „Mätzchenbildungen“, die das Krankheits¬
bild bestimmen, gestalten sich nach Lage und zufälligen Umständen verschieden.
Selten beruht die Zweckneurose allein auf nervöser oder seelischer Unterwertigkejt,
meist besteht daneben ein tatsächlich begründetes Schwächegefühl, oft schwere
Organkrankheit oder nervöse Erschöpfung, deren Unlustaffekte die Unlustaffekte
der Zweckneurose zu verstärken geeignet sind. Der Befand beim Arbeitversuch
gestattet die Trennung der einzelnen Krankneitsformen und ihrer Beteiligung am
Krankheitsbilde.
Märchen (176) bestätigt an größerem Material seine frünere Feststellung
(s. diese Ztschr. Bd. 74, S. 90*), daß es traumatische Neurosen bei Kriegsgefangenen
fast gar nicht gibt. Himerschütte rang haben anscheinend viele Gefangene durch¬
gemacht, manche nach eigener Angabe auch zeitweise die Herrschaft über Glieder
oder Sprache eingebüßt, aber eben bald wiedererlangt. Wie man also auch die
Wirkung des Traumas sich denkt, sie heilt in der Gefangenschaft fast regelmäßig
aus. Die Gefangennahme wirkt als Entlastung, zugleich muß der Gefangene sich
der neuen Lage anpassen, ihm fehlt das Mitleid der Umgebung, es fällt die Aussicht
auf Rückkehr zur Front, die Dienstbeschädigungsfeststellung weg. Rückfälle kamen
vereinzelt nach Untersuchung zu bestimmten Zwecken. Hiernach unterscheidet M.
primären und sekundären Innervationsschock. Jener ist am meisten verwandt dem
blinden Zwange posthypnotischer Suggestion. Es sind psychisch Kranke, nicht or¬
ganisch Verletzte. Dagegen ist der sekundäre Innervationsschock oft psychogen.
Ältere Störungen werden häufig sekundär geworden sein, d. h. durch Mitwirkung
bewußten oder unterbewußten Denkens unterhalten werden, während andere noch
primär sind, indem z. B. eine Funktionseinheit durch psychische Blockierung der
Innervation dauernd ausgeschaltet ist. Andrerseits kann die Störung von vornherein
sekundär sein, wenn der durch den Schock gesetzte affektive Eindruck erst später
unter Mithilfe bestimmter psychischer Bedingtheiten (z. B. Sorge vor der Front
oder Wunsch nach Rente) zum Innervationsschock führt, womöglich nach Heilung
eines primären Innervationsschocks. „Zweckneurose“ und „Begehrungsvorstellung“-
tut den Leuten Unrecht und paßt auch nur auf sekundäre Fälle. Dagegen „Situa¬
tionspsychose“ paßt für viele. In einem späteren Aufsatze (177) berichtet M., daß
er Reflexlähmungen auch bei Gefangenen in größerer Anzahl gefunden hat, meist
als neurotische Überlagerung anatomischer Läsionen, oft zentripetal von der Ver¬
wundungsstelle. Die besondere Lage der Gefangenen, die die Entwicklung psycho¬
gener Neurosen verhindert, beeinflußt also nicht die Entwicklung solcher Reflex¬
lähmungen. Auch das zeigt deren Sonderstellung und läßt sie als unmittelbare
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200*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
somatische Schockwirkung auffassen. Zwischen organischer (pathologisch-ana¬
tomischer) Änderung und Psychogenem steht die somatisch-funktionelle Leitungs¬
änderung, die auch in bezug auf psychische Beeinflußbarkeit in der Mitte steht (vgL
M., ref. Bd. 74, S. 162*, und Bäbinskis troubles physiopathiques).
Genauer hat Rosenleld (223 und fast gleichlautend 222) solche funktionellen
Extremitätenlähmungen verfolgt Er fand bei 9 reinen (d. h. weder mit ausge¬
sprochen hysterischen oder neurasthenischen Zuständen noch mit ausgedehnten Zer¬
trümmerungen von Knochen und Muskeln verbundenen) Fällen übereinstimmend
schlaffe Lähmung auf der Seite der Verletzung, keine Störung der elektrischen
Erregbarkeit oder der Sehnenreflexe, dagegen Sensibilitätsstörungen, anfangs völlige
Anästhesie, später Störungen der Schmerzempflndlichkeit dazu angioneurotische
Störungen (blaurote, kühle, feuchte Glieder) und leichte Volumabnahme der Mus¬
keln; ganz verschieden dagegen Ort und Schwere der Verletzung; nirgends neuro-
oder psychopathische Disposition, nur mehrmals zarte, etwas weichliche Kon¬
stitution; keine hysterischen Krämpfe, wohl aber gewöhnlich handschuh- oder
strumpfförmige An- und Hypästhesien, distal am stärksten, nach dem Rumpf zu
abnehmend, anfangs stets die Verletzungsstelle einschließend. In 6 Fällen deutliche
Abhängigkeit der Intensität der Lähmung von rein psychischen Momenten, einmal
Auftreten der Lähmung 9 Monate nach der Verletzung infolge von Aufregung.
R, glaubt nicht an Entstehung der Lähmung durch mechanische Erschütterung;
Inaktivität und Fixierung des verletzten Gliedes beeinflussen die Trophik und
Motorik, Schmerzen lassen Bewegungen vermeiden, längere Abkühlung kann Be¬
wegungserschwerung nach sich ziehen, die oft sofort vorhandene, reflektorisch (z. B.
durch Schmerz) entstandene angioneurotische Störung, die häufigin ihrer Intensitätmit
den sensiblen und motorischen Störungen parallel- geht, kann den Kranken anregen,
sich mit dem gestörten Organgefühl zu beschäftigen und es psychisch weiter zu
verarbeiten. Manche Fälle sind schwer zu bessern, andere zu Rückfällen geneigt.
Besonders beim Zittern der Kriegsteilnehmer geht der Streit fort, ob somat»-
oder psychogene Entstehung. Fürnrohr (62), der dieselben Erscheinungen sah,
gleichgültig, ob die Leute sie immittelbar nach Verschüttung oder Granatexplosion
oder Wochen nach der Rückkehr aus dem Felde oder, ohne überhaupt im Felde
gewesen zu sein, nach kaltem Bad, anstrengendem Marsch oder dergleichen er¬
worben hatten, nält im Gegensatz zu Nießl v. Mayendorf das psychische Moment
für die Entstehung, namentlich aber die Fixierung der Bewegungsstörungen für
wichtig. Wunsch nach Ruhe sei nach Solchen Erlebnissen die natürliche Reaktion
jedes normalen Menschen. Im Anfang mögen gelegentlich Schreck, starke seelische
Erschütterung allein den Tremor auslösen, zu dauernder Krankheit entwickelt sioh
dieser nur, wo Vorstellungen, wie Wünsche, Angst usw., eine gewisse Intensität
erlangt haben. Nießl v. Mayendorf (187) wendet dagegen ein, daß, wie mechanische
Erschütterung oder Abkühlung .und andere Schädigungen zum Zittern führen
können, ebenso gelegentlich auch Hysterie, daß aber Begehrungsvorstellungen in
manchen Fällen ausgeschlossen und in den übrigen nicht nachgewiesen seien. Unter¬
bewußte Vorstellungen kenne nicht der Kranke, nur der Arzt Wer beweist daß
die Vorstellung des Muskelzittems vor dem Muskelzittern da war? Die Beseitigung
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in Hypnose zeigt nicht, daß das Zittern ideogen, sondern daß Pak abnorm sug-
geetdbel war.
Roihfeld (229) fand, daß 1. beim Schiitteltremor ein Tremor des Qnadrizeps
nur eintritt, wenn der Muskel willkürlich innerviert wird, daß 2. bei gleichzeitiger
Innervation der Oberschenkelbeuger und der Kniestrecker die Innervation der
enteren versagt, nnd daß 3. bei allen diesen Versuchen unwillkürliche Gegen¬
bewegungen durch die Antagonisten zustande kommen. Unabhängig davon sind
der kleinschlägige Tremor der ganzen Extremität (in Ruhe oder in Emotion) und
die Muskelkrämpfe, beides nicht konstant. Bei Schütteltremor der Beine findet sich
falsche Innervation oft auch an den Armen: bei verlangten Bewegungen wurden
die Antagonisten stärker innerviert. Auch nach Heilung des Zitterns zeigen die ersten
Bewegungen noch immer Mangel an richtiger Innervation, was nach wenigen Übungen
schwindet. Diese Erscheinungen deuten auf AÜnesia amnestica ( Oppenheim ).
Curschmann (38) fand grobe hyperkinetische oder akinetische Neurosen nach
Kriegstrauma bei Offizieren verhältnismäßig viel seltener und prognostisch viel
günstiger als bei dem Gros der Mannschaften. Dies spricht für die Psychogenie
dieser Störungen. Ähnliches bei Barth (8).
Cunckmann bekämpft ferner (37) hauptsächlich im Interesse zweckmäßiger
Behandlung die Auffassung Sarbö s, der sowohl Zitterkrankheit und Lähmungen
(234) wie die kriegstraumatische Taubstummheit (234 a u. b) auf organische Schädi¬
gung zurückführt. Noch wirksamer Bonhöffer (26), auf den Sarbö sich berufen
hatte. B. hat in den Fällen von Zittern, Taubstummheit und Astasie, die er in den
ersten 12—24 Stunden untersuchen konnte, nie zerebrale oder spinale Symptome
wie Babinski oder andere Pyramidenbahnenreflexe, Nystagmus, zerebrale Fazialis¬
paresen, Abduzensschwäche, Benommenheit mit paraphasischen Symptomen, per-
severatorischer Reaktion, Korsakousche Symptome feststellen können, während er'
andrerseits wohl organische Benommenheitszustände, Trommelfellzerreißungen,
Nystagmus, aber ohne Zitterzustände usw., gesehen hat.
Weber (293) und Räther (216) weisen die Insufficientia vertebrae (Scham) als
Ursache der Schüttelerkrankung zurück. Wenn R. zugleich darauf aufmerksam
macht, daß viele alte Fälle von sog. Ischias oder Rheumatismus sich durch die
schnelle Heilung durch die Kaufmann- Methode als rein funktionelle Störungen
erweisen, so begegnet er sich darin mit E. Meyer, der im Königsberger Verein f. wiss.
Heilk. (D. med. Wschr. Nr. 12) im Anschluß an Vorträge über Behandlung der
Ischias mit epiduralen Injektionen hervorhebt, wie häufig Ischias von psychogenen
Störungen überlagert öder vorgetäuscht wird.
Liebmann (157) beschreibt 21 Fälle von. Sprachstörung bei Kriegsteil¬
nehmern. Die Symptome sind wohl im ganzen dieselben, wie man sie auch im
Frieden beobachtet, aber doch im allgemeinen weit schwererer Natur. Es handelt
sich vorwiegend um Stotterer (10 Fälle) nnd Aphasie (6 Fälle). Auf die Behandlung
wird besonders genau eingegangen. (Bresler.)
Barth (8) gibt eine gute Übersicht über die psychogenen Lähmungen der
Stimme, Sprache und des Gehörs.
Frösehela (69) beobachtete die Entstehung tonischen Stotterns aus dem kloni-
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202* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
sehen durch Anwendung des elektrischen Stromes. Indem Pat. sich anstrengt, die
klonische Sprachstörung zu vermeiden, entsteht die tonische. Beide sind nicht
völlig unabhängig vom Willen, automatisieren sich aber bald. Heilung der Aphonie
durch den Strom ist verständlich, da Pat., der von der Großhirnrinde aus das Pho-
nieren nicht zustande bringt, den subkortikalen Schreimechanismus innerviert und,
da er den Zusammenhang nicht kennt, suggestiv beeinflußt wifd. Beim Stottern
würde, auch wenn der richtige Moment getroffen wurde, nur ein Schrei entstehen,
dieser aber nicht suggestiv wirken, da Pat. ja weiß, daß er schreien kann.
Stuchlik (273) entwirft für die Einteilung verschiedener Stotterformen folgen¬
des Schema: 1. Das Stottern ist eine hereditäre Affektion; es vererben sich psychi¬
sche Grundeigenschaften, z.B. Himzentrenanomalien. 2. Das Stottern ist eine
kongenitale Affektion; sie hängt mit der gänzlichen anomalen Entwicklung der
Psyche zusammen oder der allgemeinen körperlichen Verkrüppelung oder mit der
pathologischen Entwicklung bestimmter Zentren und Organe, z. B. der Zentren und
der Koordination ihrer Tätigkeit. 3. Das Stottern isteine erworbene Affektion, entweder
psychischen oder somatischen Ursprungs oder durch Kombination von Elementen
beiderseitiger Herkunft entstanden. Als psychische Anomalie kann sich das48tottern
entweder als Krankheit oder als vorwiegendes Symptom einer Krankheit zeigen;
' so wurde z. B. das Stottern als transitive auditive Amnesie aufgefaßt oder als Sym¬
ptom bei der Psychasthenie, Phobie, Kinesiphobie, Angstneurose, Neurose in psycho¬
analytischem Sinne, Imitation bez. psychischer Infektion, Schock. Oder als Ano¬
malie spezieller psychischer Vorgänge, so als Sprachenkonfliktresultat, Inkoordina¬
tion zwischen Bede und Denken, Folge des Bewußtwerdens und Bewußtmachens
oder als Anomalie, die durch derartige Störungen verschlimmert zu sein pflegt.
Somatischen Ursprungs kann das Stottern sein als Folge anatomisch-neurologischer
Inkoordination, von Zerebralstörungen, Zerebellar- und Bulbäranomalien, des Al¬
koholismus, adenoider Vegetationen, Skrophulose, Anomalien' der Mundhöhle,
Rhachitis, allgemeiner Unterernährung; auch als Folgeerscheinung der Imbezillität
soll es vorgekommen sein. Genaueres Eingehen zeigt, daß diese zahlreichen Theo¬
rien einerseits auf voreilige Verallgemeinerung seltener Tatsächlichkeiten, andrerseits
auf das Nichtberücksichtigen des Faktums, daß es keine Krankheit Stottern, sondern
nur ein Symptom Stottern gibt, zurückzuführen sind. Die Auffassung des Stotterns
als Symptom verschiedenster somatischer (neurologischer und anderer) und psychi¬
scher Erkrankungen erlaubt uns nicht nur eine einheitliche, logische und vollständige
Klassifikation, sondern macht auch die positiven, durch mannigfaltigste Methoden
erzielten Resultate begreiflich (Stuchlik.)
Über psychogene Störungen des Auges und des Gehörs berichtet Kehre r
(125). Eine psychogene bzw. hysterische Lähmung wurde nicht beobachtet.
K. bestreitet überhaupt das Vorkommen echter funktioneller Lähmungen am Auge
Wo das Bild einer solchen primär vorgetäuscht wird, dürfte es sich um Entgleisungen
von krampfartigen Innervationen in den Antagonisten handeln. Nur ganz aus¬
nahmsweise läßt sich bei gründlicher Erforschung von Anamnese und Organbefund
ein ursächlicher oder zeitlicher Zusammenhang der funktionellen Störungen der
Augenbewegungen mit irgendwie anatomisch begründeten optischen Störungen
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Laehr, Neurosen.
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nicht nachweisen. In dem einzigen Falle, in dem es nicht gelang, handelte es sich
um Fixierung eines seit Kindheit episodisch bzyr. periodisch anftretenden Schielens,
offenbar einer aus Spieltrieb erworbenen psychomotorischen Fertigkeit. Für die
besondere Gestaltung der Blickstörung zieht K. individuelle Differenzierungen der
Bewegungsformel der konjugierten Augenmuskeln oder eine abnorme Dissozia¬
tionsfähigkeit der Muskulatur heran, die vielfach den Charakter „dynamischer De¬
generationszeichen“ bzw. lokalisierter Symptomdispositionen haben. Häufig entsteht
aus ihnen das hysterische Symptom aus ganz verschiedenen Motiven einfach durch
Vertiefung und Fixierung der abnormen bzw. übernormalen psychomotorischen
Fertigkeit. Simulation spielt bei Augenbewegungsstörungen eine verschwindende
Rolle. Die gleichen Regeln gelten für die Lidmuskulatur. Komplizierend tritt hinzu
„die individuelle Tiefenwirkung willkürlicher Innervationen auf die sympathischen
Muskelelemente“. Echte hysterische Ptosis schien sicher vorzukommen. Das beste
Diagnostikum der komplizierteren Bewegungsstörungen der äußeren und inneren
Augenmuskeln ist der Erfolg einer „souveränen“ Psychotherapie. — Den 3 Fällen
psychogener Sehstörung war gemeinsam, daß irgendeine „Organbegründetheit“
vorhanden war, die psychogen ausgewertet oder in den Dienst „hysterischer Motive“
gestellt wurde. — Bei einer überraschend großen Zahl Schwerhöriger oder Ertaubter
deckte die eingehende psychopathologische Analyse Abweichungen des Seelen¬
lebens auf, die für die Beurteilung des Mechanismus der psychogenen Hörausfälle
Ausschlag gaben, besonders häufig einen meist durch den Erfolg der Psychotherapie
zu erweisenden Zusammenhang mit leichtem Stupor, „psychogene Anreicherung
oder Aufpfropfung auf alteingesessene organische Schwerhörigkeit“. Auf dem eigen¬
artigen psychogenen Wege des apperzeptiven Mindergebrauchs wird die Hörfähig¬
keit nicht so ausgenutzt, als es dem organischen Zustand entspricht. Schwach¬
sinnige Schwerhörige zeigten reaktiv nach Einwirkung akustischer Überreize oder
situativ im Rahmen leichter Stuporzustände psychogene, nicht hysterische Ver¬
schlechterung der Hörfähigkeit ohne andere psychogene körperliche Symptome. Es
ließ sich psychologisch affektive Absperrungstaubheit (Verdrängung der Hörfähig¬
keit) und apperzeptive Untererregbarkeit herausheben. Mißtrauen und Hypo¬
chondrie spielen als Dauermotive eine Rolle. Bei einzelnen löste Hörprüfung regel¬
mäßig Examenstupor aus, bei dem objektive Prüfung der Hörfähigkeit nicht möglich
war. Im engeren Sinne hysterische Schwerhörigkeit oder Taubheit, die Vorstellung
des Nichthörenkönnens, machte sich geltend in der psychischen Infektion eines
Ohrs durch das organisch kranke oder als Eigennachahmung (Automimesis) aus¬
geglichener früherer organischer Hörstörungen (ideogene Absperrungstaubheiten).
Auch bewußt willkürliche Nachahmung früher organisch, dann hysterisch be¬
dingter Hörausfälle (Simulationshysterie) wurde beobachtet. In dem einen Falle
reiner Simulation handelte es sich um Rekurs auf organische Schwerhörigkeit.
Bei psychogenem Hörausfall läßt sich entweder eine körperliche Grundlage oder
abnorme seelisch-nervöse Anlage oder beides zugleich nachweisen. Taubstummheit
und häufig auch Taubheit ohne Verletzung des Gehörapparats nach Explosion
oder Verschüttung bei bis dahin Ohrgesunden sind auf eigenartige abnorme Seelen-
zustande zurückzuführen und entwickeln sich regelmäßig nur auf dem Boden irgend¬
wie nachweisbarer psychasthenischer oder hysterischer Anlage. (Bresler.)
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. lat. 0
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Bericht über die psychiatrische Literatur. 1917.
Ohm (197) kommt in sehr eingehender Studie zu dem Ergebnis, daß der
Nystagmus beruflicher und nicht Jjeruflicher Art eine einheitlich zu erklärende
Innenrationsstörung ist, was ursprünglich nicht erwartet wurde. Das pendelfönnige
Zittern beruht auf einem Wechsel zwischen Rechts- und Linksablenkung; in dem
kurvenmäßigen Ausdruck dieses Wechsels müssen Unterschiede bemerkbar sein
je nach der Augenstellung unter dem Einfluß beider Labyrinthe. ( Bresler .)
Die Behandlung funktionaler Neurosen wurde weiter ausgebaut, und ihre
Erfolge wirkten wieder auf die Auffassung der Erkrankungen zurück. Auf Grund
sehr großen Materials stellt in Übereinstimmung mit Andren Wilmanns (310) fest,
daß es auf seelische Beeinflussung ankommt, ob aber diese am besten durch Iso¬
lierung, Hypnose, Zwangsexerzieren, starke Elektrizität erzielt wird, hängt von der
Person des Arztes ab, denn diese, nicht die Art der Behandlung heilt. Ähnlich
Schütz (249), der besonders darauf dringt, daß die Behandlung der Kriegsneurotiker
so früh und so aktiv wie möglich einsetze. Weber (294) hebt in Anknüpfung an
Lewandowsky (148) hervor, daß allerdings die Ursache der Kriegsneurosen nicht
in der Vergangenheit, dem Kriegstrauma liegt, sondern in der Zukunft, in dem,
was der Kranke nicht mehr erleiden will, daß aber die heilende seelische
Umstimmungebensoguterfolgenkann,wennder Arzt nicht Militär und Vorgesetzterisk t
W. empfiehlt im Anschluß an Af. Fischer die Angliederung künftiger Nervenabteilungen
als offene Abteilungen an die großen Landesanstalten, da hier genaue Aufsicht,
Regelung, Ordnung, Arbeitsgelegenheit und die Möglichkeit der Verlegung auf die
passendste Abteilung gegeben ist.
Die von Liebermeister (154) mitgeteilten Erfahrungen stützen sich auf 600
von L. untersuchte und behandelte Fälle. Das Buch ist außerordentlich reich an
scharfen Beobachtungen und nützlichen praktischen Winken, eins der besten, die
auf diesem Gebiet geschrieben, und verdient, eifrig zu Rate gezogen zu werden.
( Breskr .)
Mit der gemilderten Kaufmann- Methode erzielten Rüther (214) und Spränget
(269) vorzügliche Ergebnisse, ebenso Levy (147), der aber dadurch in der Regel
Rückfälle erlebte, daß seine „geheilten“ Kranken an die Front zurückgeschickt
wurden. Gute, mit der Zeit steigende Erfolge berichtet Nonn$ (189) sowohl mit
der Kaufmann- Methode (s. auch Paschen (205), Kalmus (120) und Wachsner (287))
wie mittels hypnotischer Suggestion. Wo eine Methode versagte, wirkte öfters die
andere. Auch N. hält es für unwesentlich, ob der Arzt Vorgesetzter ist, wichtig ist
dagegen, daß der Erfolg in der 1. Sitzung eintritt. Nachbehandlung durch Übung
und Erziehung ist unbedingt nötig.
Oehmen (194) heilt durch entschlossene Wachsuggestion mit Unterstützung
des meist schwachen faradischen Stroms, mit dem er Kontrakturen hebt, Lähmun¬
gen ausgleicht, Zittern ausschaltet, nachdem vorher die Spannung und Erregung
des Kranken aufs höchste gesteigert ist. Zuspruch und Angabe der Bewegungen
unter Vormachen ist das Wesentliche, der Strom soll nur die Wortsuggestion ver¬
decken. Ollendorf (198), Beyer (12) und L. Schüller (248) hatten mit dieser Methode
gleichfalls ausgezeichnete Erfolge.
Kehrer (123) hat, um den Willen zur Gesundung und Symptomüberwindung
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La ehr, Neurosen.
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-zu stärken, das Gewaltexerzieren erdacht: die verschiedensten Exerzier- und Frei¬
übungen in raschem Wechsel mit Lob und Tadel, eventuell mit schmerzhaftem
galvanischen Schlag als Antrieb. In Fällen, wo milde Symptombeseitigung und
'kräftige Willensstärkung wünschenswert ist, wird Hypnose mit folgendem gelinden
Gewaltexerzieren in einer Sitzung verbunden; besonders für monosymptomatisches
Stettern, Tachypnoe, Blasenstörungen sowie für interne Hysterien ist diese Kom¬
bination geeignet. Funktionelle Taubheit ward geheilt, indem bei verbundenen
Augen Kochsalzeinspritzungen ins Ohr und unter die Haut der Umgebung, dann
Stichelung und unter stärkster Suggestion einschleichend galvanische Ströme bis
zu6 M.-A. auf den Warzenfortsatz angewandt wurden, so daß, um stärkeren Schmer*
zu vermeiden, nur der Ausweg blieb, hören zu wollen. Sehr wichtig ist bei allem
die Überzeugung, daß keiner ungeheilt von dannen zieht; dann erfolgt oft Spontan¬
heilung vor der Behandlung.
Kretschmer (138) erreicht durch strenge Bettruhe und Absonderung in stillem,
-verdunkeltem Zimmer, in dem das Sehen eben möglich, Beschäftigung aber aus¬
geschlossen ist, meist in 14 Tagen Besserung, in 4—6 Wochen Heilung von Tiks
oder Zittern, oft gerade bei schwierigen Kranken, die für schroffe Methoden unan¬
greifbar sind. Nur muß der Kranke wissen, daß die Maßregel zur Beruhigung
seiner Nerven dient.
Joseph und Mann (116) heflen durch Einspritzung von Aq. dest. im Ätherrausch
nach Suggestion, daß die Einspritzung, deren Schmerzhaftigkeit die Narkose
erfordere, den Tremor beseitige. Die Suggestion wirke besonders kräftig im be¬
sonderen, psychisch aufrüttelnden Erlebnis. Dagegen läßt Goldstein (70) die
Einspritzung fort und nimmt, um jeden Schock zu vermeiden, statt des Äthers
Chloräthyl, ebenfalls mit vorzüglichem Erfolg.
Sommer (258) klärt den funktionell Tauben dadurch über seine Hörfähigkeit
auf und heilt ihn, daß der Kranke, am Apparat zur Analyse der Fingerbewegungen
befestigt, die auf Anschlag einer Glocke auftretende Zuckung seiner Hand sich
deutlich an der Registriertrommel aufzeichnen sieht.
Muck (178) brachte solche Fälle von psychogener Stummheit oder Taub¬
stummheit, in denen der Kranke willkürlich ein- und ausatmen konnte, die Glottis
aber bei der Aufforderung, zu phonieren, weit geöffnet blieb wie bei Adduktoren¬
parese, dadurch schnell zur Heilung, daß er die Kugel in den Kehlkopf einführte
und so den Stimmlaut erzwang. Das kurzdauernde Angstgefühl kam diesen
Stummen nicht recht zum Bewußtsein, sie wußten nachher nicht anzugeben, was
ihnen geschehen war.
Von fast allen Seiten wird, besonders nach Schncllheilungen, die dankbare
und freudig erregte Stimmung der eben noch mürrischen und widerwilligen Kranken
hervorgehoben, ebenso aber auch die Notwendigkeit längerer Nachbehandlung und
der Befreiung vom Felddienst, um Rückfälle zu vermeiden.
Sluchhk (272) beschreibt ausführlich Krankengeschichte und Behandlungs¬
gang bei stotternden Knaben im Alter von 11 und 15 Jahren. Beim ersten wurde
nach geeigneten Suggestionen in oberflächlicher Hypnose schon binnen weniger
Sitzungen normales Sprechen erzielt Nach einem Rückfälle, der mit einer von
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
außen beeinflußten feindlich-affektiven Einstellung gegen den behandelnden Arzt
zusammenhing, blieb nach folgender Besserung der Knabe geheilt und spricht
jetzt, d. h. ein Jahr nachher, gut. Der andere Knabe, intellektuell debil, affektiv sehr
zornig und labil, wurde früher längere Zeit pädagogisch und mit Hilfe der Atmungs¬
gymnastik ohne jeglichen Erfolg behandelt. Schon nach der ersten Hypnose einige
Tage dauerndes, vollkommen normales Sprechen. Allmählich sich einstellende
Verschlimmerung wurde wederholt durch neue Hypnosen beseitigt. Aus geistiger
Faulheit, und da ihm die Fortschritte im Sprechen nicht lieb waren (man hat an
ihn Forderungen gestellt, die früher in bezug auf seinen Sprachfehler sich nicht
stellen ließen), entzog sich der Knabe konsequenter Behandlung und verfiel in sein
früheres schreckliches Stottern. ( Stuchlik .)
Hauptmann (86) konnte unter 52 zugrunde gelegten Beobachtungen den Nach¬
weis schon vor dem Kriege vorhanden gewesener Epilepsie an nicht weniger
als 46 Fällen führen = 88%, in weiteren 6 Fällen fanden sich prädisponierende
Momente; nur in einem wurden auch solche vermißt Bei bestehender Epilepsie
konnte nur in 2 Fällen eine Zunahme ihrer Äußerungen im Krieg bezw. durch
den Krieg sicher festgestellt werden, in 3 Fällen mußte miudestens mit der gleichen
Wahrscheinlichkeit an eine spontane Fortbildung gedacht werden. Wenn der
Kriegsdienst in so geringem Maße bestehende Epilepsie beeinflußt, so darf er
auch für das Hervorrufen einer solchen auf vorbereitetem Boden nicht ohne weiteres
angeschuldigt werden. Man muß in solchen Fallen, zumal bei Jugendlichen, immer
auch an das spontane, im Entwicklungsgang der Krankheit gelegene, erste Auf¬
treten der epileptischen Erscheinungen im Kriege denken (die posttraumatische
Epilepsie wurde dabei außer Betracht gelassen). Auch die Unabhängigkeit der
einzelnen epileptischen Manifestationen von akuten exogenen Momenten ist so
groß, daß es durchaus erlaubt erscheint, ein gelegentlich beobachtetes Zusammen¬
treffen, wenn nicht andere zwingende Beweise für einen Zusammenhang vorliegeu,
als zufällig zu bezeichnen, d. h. abnorme Gehirnbeschaffenheit (epileptische Re¬
aktionsfähigkeit) ist die unbedingt notwendige und die wesentlichste Voraussetzung
für das Zustandekommen einer Epilepsie. Mit einer Zunahme der Epilepsie durch
den Krieg werden wir im ganzen wohl kaum zu rechnen haben. Spezielle, für ge¬
wisse Formen der Epilepsie etwa charakteristische Reizstoffe haben wir nicht zu
erwarten; es wird bald dieser, bald jener, vielleicht auch ein normales Stoffwechsel¬
produkt den Anfall auslösen können. Die Unabhängigkeit des Anfalls von äußeren
Momenten spricht für den epileptischen Charakter desselben im Gegensatz za
äußeren; die einzelnen Anfallsymptome epileptischer und hysterischer Anfälle
können sich außerordentlich gleichen. Einzig das positive Babinski-Phänomen-
darf als Beweis für Epilepsie angesehen werden, ist aber nicht in allen Fällen vor¬
handen. Das willkürliche Hervorrufen eines Anfalls durch Kokaininjektion gelingt
nicht immer, auch kommen unangenehme Nebenwirkungen nicht selten vor; es
ist überflüssig. — Psychogene Symptome werden erst infolge späterer Hysteri-
sierung durch Willensmomente hysterisch. (Bresler.)
Westphal (300) fand als Ursache isolierter Stereoagnosie bei intaktem Lage-
und Bewegungsgefühl und fast normaler Berührungsempfindung eine Zyste nur an
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Laehr, Neurosen.
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der vorderen Zentralwindung und nur deren Oberfläche betreffend. — Hansen (82)
beschreibt Anfälle, die er als epileptische Absenzen mit schlechter Prognose ansieht,
die aber doch wohl als pyknoleptische (T'Vtedwanwsche gehäufte kleine Anfälle) auf¬
zufassen sind. — Mendel (171) beobachtete 4 Fälle nach Art der 7?üf/schen (s. diese
Ztschr. Bd. 74, S. 94*) und hebt als gemeinsam hervor 1. die rein kortikale Natur
der Krankheitserscheinungen, 2. das völlige Erhaltensein des Bewußtseins und
das Freibleiben des Sprachzentrums, 3. das Fehlen jeglicher Hirndrucksymptome,
4. den während und außerhalb der Anfälle unbedeutenden objektiven Befund, 5. die
günstige Prognose und den Mangel an Progression des Leidens, 6. die völlig unklare
Pathogenese der Anfälle. Im Gegensatz zu Rülf nimmt er eine organische Grund¬
lage an, einen vielleicht ausgeheilten enzephalitischen Prozeß oder eine sonstige gut¬
artige Erkrankung der Hirnrinde.
Bei Basedowkrankheit erzielte Liek (158) durch ausgiebige Resektion der
Thyreoidea in 20 von 34 Fällen Heilung (Herstellung der Arbeitfähigkeit, dauernde
Beseitigung von Kropf und Tachykardie), in 6 Besserung; 3 ungebessert, 6 ohne
Nachricht. Frühzeitiger Eingriff anzuraten, wenn noch die Entartung innerer
Organe, besonders des Herzens, fehlt und das Drüsengewebe weniger brüchig, also
die Blutung leichter zu beherrschen ist Wichtig ist die Vermeidung des Schocks,
wozu Verf. eingehende Regeln angibt.
Tiling (276) führt das häufige Vorkommen von Basedow oder einzelnen Base¬
dowsymptomen bei Kriegsneurosen auf die Kriegsschädigungen des Nervensystems
zurück; es handle sich hier also um die neurogene Form. Langelaan (144), der
als Hauptursachen der Nervenkrankheiten Lues, nervöse Abnutzung und Alkohol
betrachtet, fand besonders Frauen mit empfindlichem Schilddrüsenapparat .zur
nervösen Abnutzung veranlagt und diese Empfindlichkeit des SchilddrüsenapparatB
sei fast nur im blonden Teil der holländischen Bevölkerung als erbliche Minder¬
wertigkeit verbreitet
Hofstätter, der (101) die Ergebnisse der experimentellen Zirbelforschung
kritisch und mit Heranziehung eigener Versuche zusammenstellt hat (102) mit
Pinealextrakten, zumal Epiglandol, gute Erfolge gegen Hyperlibido bei Frauen, be¬
sonders nach Kastration, dazu leichte Beruhigung der Psyche, nie aber üble Wirkun¬
gen gesehen. *
Über seltene Familienerkrankungen berichten Gebell und Runge (68) und
Kretschmer (137).
Die essentielle Enuresis nocturna infantum ist nach Kläsi( 128) meist
psychogen, in den Fällen des Verf. vorwiegend teils Folge der Angst durch ge¬
schlechtlichen Verkehr mit einem Nässer von diesem angesteckt zu sein, teils Folge
von Schuldgefühlen wegen Onanie, denen das Nässen als „Schuldersatzhandlung“
zur Äußerung verhilft d. h. als Handlung, die für die eigentliche Schuld, die nicht
verraten werden darf, eine Ersatzschuld schafft durch welche das nicht zu unter¬
drückende Unbehagen ausgelöst zu werden scheint. Auch in diesem Falle liegt
Angst zugrunde, mindestens die Angst vor Entdeckung der Onanie, oft aber auch
die Angst vor der mit ihr in Verbindung gebrachten Unterleibs- oder Blasen¬
schwäche. Daher stehen unter den psychischen Erscheinungen Aufgeregtheit,
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Schüchternheit und Menschenscheu im Vordergründe. Wo diese drei Erscheinun¬
gen fehlten, handelte es sich um familiäres Nässen, und die Kinder standen ihm wie
etwas Fremdem und Selbstverständlichem gegenüber. Dann Var therapeutisch fast
nichts zu erreichen, während sonst einfache Aufklärung oder Hypnose, Faradisa-
tion u. a. erfolgreich waren.
W. Stekel (264) bringt auf mehr als der Hälfte seines Buches Kasuistik,
darunter auch Fälle aus der Literatur, mit Eigenschilderungen einzelner Fälle.
S. betont im Vorwort mit Nachdruck, daß er sich von Freud losgelöst habe, der
einen Irrtum immer nur unter schwersten Kämpfen zugestanden habe. „Wer nicht
blindlings mit ihm geht, ist sein Gegner. Mit einer geschickten Verschiebung ver¬
steht er es dann, das Sachliche ins Persönliche zu übertragen.“ Er wolle es aber
„vermeiden, dem genialen Manne, dem er so viel Anregung verdanke, mit gleichem
zu vergelten. „Eine Psychoanalyse der Psychoanalytiker gäbe eine ergötzlich»
Satire.“ S. glaubt, viele der Übertreibungen, durch welche die Freudsehe Schule
sich so viele Gegner gemacht hat, vermieden zu haben; andrerseits gehe er weit über
Freud hinaus; Freud selbst habe ihm sogar oft vorgeworfen, daß er „den psychi¬
schen Bogen überspanne“. Aber „die Sehne hält fest, ui\d soweit die Pfeile tragen —
sehe ich Neuland“. Durch Wiedergabe einiger Hauptpunkte sei diese Perspektiv»
angedeutet
Nach S. ist frühes Erwachen des Geschlechtstriebes nicht die Ausnahme,
sondern die Regel, Koitus und Onanie im Kindesalter nicht Zeichen von Degenera¬
tion und Entartung, sondern im Gegenteil häufig die ersten Symptome eines regen
Geistes, einer starken Begabung, deren erste Anfänge immer ein gesundes, urkräftige«
Triebleben darstellen. Mit diesem Trost beruhige er Eltern, die ihn wegen Ona-
nierens ihrer Kinder um Rat fragten; es könne das Zeichen außerordentlicher Be¬
gabung und frühzeitiger Regung starker Kräfte sein. Aber, fügt S. selbst zu, das
Gegenteil ist gar nicht selten: auch abnorme Kinder, welche den Keim einer
schweren Geisteskrankheit in sich tragen, fangen auffallend früh an, stark zu
onanieren; dabei ist das hemmungslose Triebleben bereits erstes Symptom der
Krankheit, die sich auch in andern Zeichen äußere. „Manchmal ist die Diagnose
jedoch schwer zu stellen,“ betont S.; also ist es doch mit obigem Trost ein»
'schlimme Sache!
Nach S. existieren alle Schädigungen, die man der Onanie znschreibt, nur
in der Phantasie der Ärzte, sind sogar „Kunstprodukte der Ärzte und der herrschen¬
den Moral, welche seit zwei Jahrtausenden einen erbitterten Kampf gegen die
Sexualität und alle Lebensfreude führt“ (S. 11). „Meiner Erfahrung nach steht die
Onanie an Schädlichkeit (wenn wir von den sekundären seelischen Begleiterschei¬
nungen absehen) in gleicher Linie wie der sogenannte normale Akt“ (S. 12). Da
nach einigen Statistiken 90—100% der Menschen onanieren — nach *9. alle —:
wie müßte also das Menschengeschlecht aussehen, wenn dieses „furchtbare Laster“
in der Tat schädlich wäre?“ (S. 15). Die Warnungen vor Onanie haben sicherlich
viel mehr Schaden gestiftet als die Onanie selbst. Viele Lustmorde unterblieben
z. B„ weil die Onanie es den Sadisten ermöglichte, ihre Instinkte in der Welt der
Phantasien auszuleben. Also: „Die Onanie wird auf diese Weise eine Sicherung
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La ehr, Neurosen.
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der Gesellschaft gegen ihre Vergangenheit. Sie erfüllt eine bedeutsame soziale
Funktion.“ Sie bewahrt die Gesellschaft vor den asozialen Trieben des Individuums.
Beim Neurotiker muß sich alle verbotene Lust in den onanistischen Akten ent¬
laden. „Die Neurose bricht erst aus, wenn die Menschen die Onanie aufgeben“
(S. 85). Bei vielen erlischt die Lebensfreude, wenn sie die Onanie aufgeben (S. 40).
Wenn die Onanie gestattet wäre, würde sie den größten Reiz vertieren (S. 77).
Dies einige Blicke ins „Neuland“.
S .s Theorie über Homosexualität — ,4m Ausbau der Lehren Freuds ge¬
bildet“, besagt: „Alle Menschen sind ursprünglich bisexuell veranlagt. Von dieser
Regel gibt es kdine Ausnahme. Bei dem normalen Menschen zeigt sich bis zu der
Pubertät eine deutliche bisexuelle Periode. Der Heterosexuelle verdrängt dann
seine Homosexualität. Er sublimiert auch einen Teil der homosexuellen Kräfte in
Freundschaft, Nationalismus, soziale Bestrebungen, Vereinswesen usw. Mißlingt
ihm diese Sublimierung, so wird er neurotisch. Da jeder Mensch seine Homo¬
sexualität nicht gänzlich bewältigen kann, so trägt er dadurch schon die Disposition
zur Neurose in sich. Je stärker die Verdrängung ist, desto größer dann die neuroti¬
sche Reaktion, die bis zur Paranoia führt.“ Usw.
In Sa Buch liegt ohne Zweifel großer Gedankenreichtum, nur kann man
nicht zugeben, daß alle Gedanken unbestritten richtig sind. ( Bresler ,.)
In Schlußmanns (240) Material folgten den Schußverletzungen peripherer
Nerven in 40% Nervenschmerzen. Vielfach handelt es sich um lokalen Nerven¬
schock oder Fernschädigung, um eine Totalerschütterung der peripherischen Nerven .
mit stunden-, ja tagelangem Aulgehobensein jeder Bewegungsfähigkeit und Emp¬
findung in dem verletzten Güede. Die mechanischen Druckwellen, die das durch¬
schlagende Geschoß im- lebendigen Gewebe erzeugt, werden in den feinen Achsen-
zylindem, die einfache, flüssigkeitgefüllte Leitungsrohre darstellen, besonders gut
und weit fortgepflanzt. Die Dinge liegen hier ähnlich wie bei Gehirnerschütterung,
auch hinsichtlich der Erholung der erschütterten Nerven. Das sind die primären
Nervenschußschmerzen. Die sekundären (Spätschmerzen) entstehen durch Narben
(in 27% der Fälle), besonders Nerven-Innennarben. Die Nervenschußschmerzen
sind zuweilen ganz außergewöhnlich heftig, so daß die Kranken laut aufschreien;
sie steigern sich oft gegen Abend und bis Mitternacht, sind auch von der Witterung
abhängig (auch von bevorstehendem Gewitter), manchmal ist die Wärme an sich
unerträglich, selten auch Sinnes- und seelische Reize. Es gibt neben dem Narben¬
schmerz noch „verletzungsfernen Bewegungsschmerz“ (Erschütterung oder Prellung
der sensiblen Bahn). Begleiterscheinungen sind motorische und sensible Lähmun¬
gen, Druckempfindlichkeit der verwundeten und spontan schmerzhaften Nerven,
vasomotorische und trophische Störungen, Hyperhidrosis, Anhidrosis. Unter Dauer¬
wirkung der Schmerzen stellt sich auch bei nicht Belasteten und nicht Degene¬
rierten ein neurotischer Zustand ein, der, oft zum Schaden des Kranken für Hysterie
angesehen, durch rechtzeitige lokale Behandlung der Schmerzen mit letzteren
schwindet Die durch Femwirkung entstandenen Nervenschußschädigungen — die
Kommotionsschüsse — sind besonders stark zu Reiz- und Schmerzbildung dis¬
poniert die den Nerv vollkommeh durchtrennenden Abschüsse dagegen sehr wenig.
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Qrig^ral frcm
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210 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
Zur Erklärung wird an die Schußversuche von Perthes, D. m. Wschr. 1916, Nr. 28,
erinnert (mechanische Seitenwirkung). Die makroskopischen Veränderungen bei
Kommotionsschiissen, denen mit so besonderer Häufigkeit Schmerzen folgen,
sind meist auffallend gering. Bei Nervenschußschmerz handelt es sich um Neuritis,
nicht um Neuralgie; es lagen ausnahmslos organische Veränderungen vor. S. emp¬
fiehlt daher *den Ausdruck Schußneuritis als eine Vertreterin der traumatischen
Neuritis. Bei dem fließenden Übergang von Neuritis zur Neuralgie kann die Unter¬
scheidung schwer werden; beides kann auch nebeneinander Vorkommen. Audi
reflektorische Beschwerden können Vorkommen. Behandlung: Hydrotherapie,
Heißluft (versagte im allgemeinen), Diathermie (Erfolge), Morphium (in schweren
Fällen), Novokain - SuprareninlÖsung, endoneural injiziert (6—20 ccm einer 1—2proz.
Lösung: Verschwinden aller Schmerzen für 6—24 Stunden); Neurolyse, perineural
oder endoneural, oder Resektion und Nervennaht; Schmerz schwindet jedoch erst
nach einer Reihe von Wochen. (Bresler.)
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216 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917. v
Der Umfang des Gebietes, das eine Wissenschaft zu erhellen vermag, and
nicht minder die Sicherheit ihrer Ergebnisse, wird in hervorragendem Maße mit¬
bestimmt durch die ihr eigenen Methoden. In den Dienst der Psychologie sind non
die experimentellen Methoden hauptsächlich zu dem Zwecke eingeführt worden,
um das, was die Selbstbeobachtung mehr qualitativ erfaßt, quantitativ zu be-
stimmen, indem entweder die auslösenden Beize gezählt und gemessen oder die
körperlichen Reaktionen psychischer Vorgänge nach Größe und Dauer festgesteüt
werden. In der Regel werden diese „physiologischen“ Bestimmungen für sehr exakt'
und zuverlässig angesehen. R. Sommer (60) möchte sie daher zur Messung turne¬
rischer Leistungen heranziehen. Es ist daher sehr beachtenswert, daß Schütz und
Wittmann (56) in der Lage sind, gegen eine dieser am häufigsten angewendeten
Meßmethoden, die ergographische, eine Reihe von Einwendungen zu erheben.
Zwar hat Volkmann schon im Jahre 1870 geschrieben: „Betrachtet man den Inhalt
der Kurven al§ Maß der. Arbeit, so sieht man, daß ziemlich beträchtliche Ermüdung
der Größe der Arbeit nur wenig schadet, wenn man dagegen beim Bemessen der
Arbeit auch auf die Zeit, die sie beansprucht, Rücksicht nimmt, so findet sich, daß
sie dann mit der Ermüdung 'eine sehr rasche Verminderung erfährt“ Trotzdem
werden in den meisten Arbeiten mit dem Ergographen noch heute die Arbeitsgröße
gleich der Summe der Einzelhebungen, die Arbeitszeit gleich ihrer Länge gesetzt.
Schütz zeigt nun, daß eine solche Auswertung der Ergogramme ungenau ist, wefl
sie die Schwingungen unberücksichtigt läßt, die sowohl das gehobene wie das wieder
gefallene Gewicht ausführt, weil es an einer elastischen Darmsaite oder einem Draht
hängt. Diese Schwingungen können in dem Augenblick, in dem eine neue Hebung
beginnt, das Gewicht in der Richtung der lebenden Kraft bewegen, diese also
unterstützen, oder in umgekehrter Richtung gehen und die hebende Kraft um
jenen Kraftaufwand belasten, der erforderlich ist, um die Tendenz des Falles auf;
zuheben. Die eigentliche Hebung beginnt dabei bald unterhalb, bald oberhalb der
Abszisse, wie auseinandergezogene Kurven auf rasch rotierender Trommel deutlich
zeigen. Die übliche Schlittenregistrierung erweist sich, verglichen mit der Ge¬
wichtsregistrierung, als ungenau. Die zur Überwindung im Apparat selbst liegen¬
den Widerstände, besonders der Reibung aufgewendete Arbeit wird überhaupt
nicht aufgezeichnet Da der Arbeitsrhythmus ununterbrochen wechselt, läßt sich
ein Bild der effektiven Leistung nur bei Berücksichtigung der variablen Arbeits¬
zeiten gewinnen.
Von großer methodologischer Bedeutung scheinen mir Baade s Ausführungen
über „Selbstbeobachtung und Introvokation“ (8. 4) und über „experimentelle
Untersuchungen zur darstellenden Psychologie“ zu sein. Um planmäßig „im-
mediat-konsekutive“ Beobachtungen zu ermöglichen, z. B. um den unmittelbaren
Eindruck von Wahrnehmungen darzustellen, wurde der sich abspielende psychische
Prozeß durch homosensorielle oder heterosensorielle Reize unterbrochen, die der
Versuchsperson als Signal dienten, daß sie ihre Aufmerksamkeit nun sofort auf
die Selbstbeobachtung zu richten habe. Die Methode hat eine gewisse Ähnlichkeit
mit den schon früher von Baxt, Catteil, Schumann u. a. anges teilten „ Löschreiz-
versuchen“, in denen das Nachbild von Gesichtsreizen durch nachfolgende stärkere
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Hirt, Psychologie and Psychophysik.
217 *
Beize zam Verschwinden gebracht and der Erkennnngsvorgang bis zum Auftreten
der Löschreize möglichst genau analysiert wnrde. Es bestand bei diesem Unter¬
suchungen aber nicht .die Instruktion der Versuchsperson, ihre Aufmerksamkeit auf
das Signal hin umzusteuem, wie Bande sie gibt. Trotzdem ist das zweifellos in
gewissen Versuchen (denen Schumanns) vorgekommen und sind dadurch immediat-
konsekutive Beobachtungen zustande gekommen. Bande verwendet die Intro-
vokationsmethode in erster Linie zu einer „ Mikrotomierung“ des Wahrnehmungs-
prozesses, wobei sie besonders geeignet scheint, die ganze psychische Strecke auf das
Vorhandensein „isolierter Empfindungen“ abzusuchen, oder die vorsprachliche
Phase von den späteren, in denen sich Sprachvorstellungen finden, zu trennen, die
Phasen des „Noch-nicht-erkennens“ oder des „Hörens-ohne-zu erkennen“ bzw.
„Sehens-ohne-zu erkennen“ vom „unsprachlichen Erkennen“ und andern
späterenPhasen zu scheiden. Die genauere Untersuchung des Unterschiedes zwischen
originärer und progressiver Phase führt dann neben der Frage nach den isiolierten
Empfindungen noch auf die nach einer „empfindungslosen“ Phase. Kurze Be¬
sprechungen der Ergebnisse solcher Untersuchungen auf den verschiedenen Sinnes¬
gebieten schließen die interessanten Darlegungen. Seinem Titel nach könnte man
auch in Walter Hirte (29) Buch die Beschreibung einer psychologischen Methode
vermuten. Es gibt eine solche jedoch nicht, sondern ist ein mit viel Wissen und
Fleiß und mit nicht weniger Metaphysik unternommener Versuch, von einer allge¬
meinen Naturbetrachtung aus zu einer philosophischen Grundauffasssung von der
Seele und ihren verschiedenen Erscheinungsweisen zu gelangen.
Überaus reich sind die Ergebnissee der „Versuche über das Verhalten der
Auffassungsfähigkeit gegenüber verschiedenen Gruppierungen schnell nacheinander
durch das Gesichtsfeld geführter Buchstabenkomplexe“. M. H. Gehrcke hat sie
vor dem Kriege angestellt, G. E. Müller nach Gehrcke s Tod auf dem Schlachtfelde
bearbeitet (16). Der hier zur Verfügung stehende Raum erlaubt leider nur wenige
Andeutungen. Die Versuchsperson hatte beim Erscheinen einer ein a enthaltenden
Silbe jedesmal zu reagieren, bei allen andern Silben jede Reaktion zu unterlassen.
Es werden nun Fehler gemacht, indem 1. geforderte Reaktionen unterlassen,
2. unwichtige Reaktionen ausgeführt werden. Diese Fehler sind die Folge von
perzeptiverUndeutlichkeit der vorgeführten Silben einerseits, lebhafter Erwartung,
eine a-Silbe zu erblicken, andrerseits. Größe und Art der Schrift der Buchstaben
Dauer ihrer Sichtbarkeit, Verhalten der Aufmerksamkeit und der Blickbewegungen,
der Vp. sind dabei maßgebend. Der Erwartungsfaktor ist bei verschiedenen Vp.
ungleich groß. Während eines Versuches kommen sowohl Ermüdungs- als auch
Übungswirkungen zur Geltung. Die Ermüdung setzt den Erwartungseinfluß herab,
steigert den Undeutlichkeitseinfluß, die Übung steigert die Erwartung durch Er¬
höhung der Gedächtnisresiduen der a-Silben und gestaltet das Verhalten von
Aufmerksamkeit und Blickwendungen günstiger. Übungs- und Ermüdungswirkun¬
gen kombinieren sich. Steigerung der Vorführungsgeschwindigkeit erhöht die Un¬
deutlichkeit und setzt die Erwartung herab. Häufen sich in einem Versuch die
a-Silben, so sinkt die Erwartung. Länge der leeren Intervalle zwischen den einzel¬
nen Silben und deren Konstellation sind von Einfluß auf die Zahl der Fehler. Nach
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218 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
langen Intervallen werden — im allgemeinen — weniger Fehler gemacht, bei
gewissen Vp. aber und unter gewissen Bedingungen setzen allzu lange Intervalle
die Aufmerksamkeit herab. Die günstige Wirkung längerer Intervalle scheint sich
u. U. auch noch für die Auffassung der übernächsten Silbe geltend machen zu
können. Die gleichförmige Gruppierung der Silben (= gleicher Abstand von Silbe
zu Silbe) ist für die Auffassung nicht die günstigste.
An dieser Stelle sei kurz Kliens (3S) „Beitrag zur Psychopathologie und
Psychologie des Zeitsinns“ erwähnt. Bei dem 8jährigen Patienten konnte eine
widerspruchslose Erklärung seiner Zeitsinnstörung — es stellte sich anfallsweise der
Eindruck ein, als ob die Veränderungen in der Umgebung und am eigenen Körper»
z. B. das eigene Sprechen, viel rascher sich vollzögen als in der Norm — durch die
Annahme einer „krankhaften Störung des sensoriellen Mechanismus der Zeit*
Wahrnehmung“ gegeben werden. Der Fall stellt also einen Beweis für die W irksam-
keit dieses Mechanismus bei der normalen Wahrnehmung von Zeitgrößen dar*
Babäk (1) versucht nachzuweisen, daß die analytische, deskriptive Psycho¬
logie nur irrtümlicherweise unter der Bezeichnung „Empfindung“ auch eine rede
Existenz sucht, obgleich es sich in der Wirklichkeit nur um eine fiktive Größe handelt.
Denn das, was man unter dem Namen Empfindung als denkbar Einfachstes begreifen
möchte, ist immer und immer unendlich kompliziert, abgesehen dabei davon, daß
das Ansreißen eines Stückes aus dem fließenden dynamischen Prozeß zur Grund¬
lagebestimmung für psychologische Lehre wohl nicht genügt.
(Jar. SiuchHk, Rot-Kostelec.)
Daß beim Zustandekommen jeder Wahrnehmung ein unmittelbar vom Reiz:
abhängiger Empfindungsbestandteil zusammenwirkt mit Spuren früherer Erregun¬
gen, ist als allgemeine Tatsache bekannt. Das Wahmehmungsbild ist die Re¬
sultante aus Empfindungskomponente und Residualkomponente. Es waren nun
von Ranschburg gewisse Auffassungsfehler (Transformationen oder Defekte bei der
Auffassung homogener Reizreihen — Stellungsfehler bei der Auffassung heterogener
Reihen) vorwiegend auf die Reizkomponente bezogen und, wie analoge Fehler der
Gedächtnisleistung, durch ein „neuro-psychologisches Grundgesetz“ zu erklären
versucht. Das Gesetz lautet: „sich berührende Inhalte und Vorgänge der Seele
stören sich in ihrer selbständigen Entwicklung um so weniger, *je heterogener, um
so mehr, je homogener sie sind; oder auch: das Gleichartige strebt je nach den»
Grade seiner Gleichheit zur Verschmelzung in eine Einheit.“ Dieser psychologi¬
schen Verschmelzung soll physiologisch eine Art von Hemmung entsprechen. In
einer eingehenden Diskussion der grundlegenden Versuche und ihrer Interpretation
weist nun Hans Henning (2b) nach, daß die psychologischen Grundlagen sich dem
neuro-psychologischen Grundgesetz nicht fügen, daß Ranschburg sehr verschieden¬
artige Tatbestände unter dieselben Begriffe zusammenfaßt, und daß eine Erklärung
der Ranschburgschen Versuchsergebnisse, die Henning durch zahlreiche planvoll
variierte Experimente vermehrt, nur durch Berücksichtigung der Residualkom¬
ponente gegeben werden kann. Die Residualkomponente kann bei sukzessiver
Beanspruchung nicht zweimal ansprechen, und die Zeit, innerhalb der dies der
Fall ist, entspricht der physiologischen Refraktärzeit Sie nimmt in der Ermü düng»
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Hirt, Psychologie und Psychophysik.
219 *
in der Narkose usw. zu. Andrerseits bedingen Wiederholung und Übung eine größere
Bereitschaft. Es gilt dies für die Auffassungstätigkeit auf verschiedenen Sinnes¬
gebieten, insbesondere auf dem optischen und auf dem akustischen. Auf letzterem
kommt es unter den genannten Bedingungen zu Fälschungen und zu Kontamina¬
tionen; der kleinste Auffassungsausfall betrifft mindestens ein ganzes Lautelement,
der größte das ganze Wort. Das Residuensystem eines Wortes ist kompliziert
gebaut, es ist etwas anderes als das sukzessive Ansprechen der seinen einzelnen
Lautelementen angehörigen Residuen. Die Auffassung mehrerer kleiner Worte
wird leichter gestört wie die eines großen mit ebensoviel Lautelementen.
Eine Reihe von Arbeiten zeigt uns, daß die experimentelle Untersuchung in
erfolgreicher Weise zur Erforschung komplizierterer seelischer Vorgänge heran-
gezogen wurde. Seifert (58) untersuchte, ob die Eigenschaft „Fundament-Sein
für eine Gestalt“ auf die Abstraktion derjenigen Elemente, denen diese Eigenschaft
zukommt, einen Einfluß hat, und wie sich des näheren ein solcher Einfluß äußert.
Den Vp. wurden tachistoskopisch vorgeführt: a) Figuren, Quadrate, Rechtecke,
Dreiecke, Kreise, Ellipsen etc.; die Begrenzungen dieser Figuren waren dargestellt
durch „einzelne, mit kleinen Abständen nebeneinandergesetzte Elemente von ver¬
schiedener Form und Farbe; b) dieselben Elemente zu gestaltlosen Haufen und
regellosen Konglomeraten angeordnet. Bei objektiver Gestaltgrundlage wurde in
69 Versuchen 58 mal zunächst die dargebotene Figur als einheitliche Gestalt auf¬
gefaßt und erst sekundär ihre einzelnen Bestimmtheiten (analytische Gestaltauf¬
fassung); 7 mal wurde von der primären Erfassung eines einzelnen Bestandteiles
aus die Gestalt in mehreren psychischen Prozessen aufgebaut (synthetische G.-Auf¬
fassung); in 4 Fällen blieb die G.-Auffassung unentschieden. Die synthetische
G.-Auffassung kam besonders dann vor, wenn die einzelnen Elemente der Bilder
weiter auseinander lagen und deshalb „weniger deutliche Anweisungen zur Gestalt¬
bildung enthalten“. Bei objektivem Mangel jeder geläufigen Gestaltgrundlage
resultiert gelegentlich ein „reiner Unregelmäßigkeitseindruck“ ohne Richtungs-,
Geradheit«-, Krümmungseindrücke. Häufig jedoch treten aus der anfangs gestalt¬
losen Mannigfaltigkeit die letztgenannten Momente hervor, und zwar auch dann,
wenn die objektiven Anhaltspunkte für diese Eindrücke sehr geringe sind. Es
besteht nach den Aussagen der Vp. eine Art Gestaltungsdrang als Funktion
unserer im normalen Leben stets unbewußt praktischen Orientierung, völlig gestalt¬
lose Eindrücke erwecken Unlust, nicht selten erleidet das ganz regellose Kon¬
glomerat in der Auffassung durch die Vp. eine Umbildung zu einer geläufigeren
Form. Die Elemente, welche die Gestalt fundieren, brauchen nicht in gleicher
Weise bewußt zu sein wie die Gestalt selbst. Sinnlicher Reizkomplex und Gestalt
sind 2 Dinge. Der Gestalteindruck drängt sich meist vor Auffassung der Elemente
auf, umgekehrt ist fehlende oder schwache Gestaltbildung der Erfüllung der Ab¬
straktionsaufgabe günstig. Abstraktion im psychologischen Sinne ist Heraus¬
sonderung eines Einzelgegenstandes aus einer gegebenen Vielfältigkeit auf Grimd
einer Scheidung des psychisch Wirksamen vom psychisch Unwirksamen. Der
Klarheitsgrad des Aufgefaßten braucht dadurch nicht unbedingt verstärkt zu
werden. Mit vollzogener Abstraktion ist häufig ein Erfüllungsbewußtsein ver-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit. n
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220 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
bunden. IUusionsartige Umdeutungen von Farben im Sinne der Aufgabe sind
nicht selten; es werden dabei immer ähnliche Farben verwechselt. Es läßt sich
eine aktive und eine passive Abstraktion unterscheiden, letztere geht immer aus
vom Objekt, das nicht gesucht wird, sondern sich darbietet. Die aktive A. stellt
sich meist dar als ein sukzessives Durchwandern mit willkürlicher Aufmerksam*
keit. Kombinationen aktiver und passiver A. kommen vor. Ferner finden wir
positive und negative A., letztere bis zum empfindungsmäßigen Auslöschen. Selb¬
ständigkeit der Elemente ist für ihre Abstraktion vorteilhaft, ihr durch die Gestalt
bedingter Zusammenhang stört die Abstraktion.
Einen verhältnismäßig breiten Raum nehmen auch im Berichtsjahre 1917
wieder die Arbeiten über Denkpsychologie an. Rangette (61) untersucht durch
Aufgaben, die an das reproduktive, produktive und kritische Denken gestellt werden,
wie sich die elementaren Inhalte, d. h. Vorstellungen, Schemata, Lokalisationen
und Gedanken innerhalb eines komplizierteren Denkprozesses verhalten. An diesen
elementaren Inhalten betätigt sich das Denken im Meinen, Urteilen, Schließen,
und zwar unter dem Einfluß determinierender Tendenzen. Vorstellungen
treten im Denkprozeß auf 1. als Begleiterscheinungen in zeitlicher Folge nach einem
Gedanken als einordnende, dem Gedanken vorangehende und als ablösende Vor¬
stellungen; 2. innerhalb eines Denkprozesses, besonders beim mathematischen
Denken. Der Gedanke kann sich aus der Vorstellung heraus entwickeln oder die
Vorstellung bestimmen. Mit der Umgestaltung der Vorstellung ändert sich auch
der Gedanke. Eine gewisse Verwandtschaft mit den begleitenden und den einordnen¬
den Vorstellungen zeigen die Schemata, die fast ausschließlich in der Philosophie
und beim reproduktiven Denken als Stützen des Denkens Vorkommen, indem sie
Gleichheiten, Ähnlichkeiten, Gegensätze, Gedankensysteme und dergl. repräsen¬
tieren und zum Ausdruck bringen. Sie drängen sich dem Denken als ein Mittelding
zwischen Gedanken und Anschauungen auf: z. B. eine gerade Linie oder ein Kreis,
die gewisse Begriffsschemata versinnbildlichen. Das historisch-geographische
Schema bildet den Übergang vom eigentlichen Schema zur Lokalisation, d. h. zur
räumlich-zeitlichen Einordnung, durch die Zeitepochen ausgefüllt oder charak¬
terisiert werden. Vorstellungen, besonders schwache optische Raumvorstellunngen,
spielen dabei oft eine Rolle. Die Lokalisation kommt nur beim reproduktiven
Denken als Stütze vor (Stiften räumlich-zeitlicher Lok. als mnemotechnische
Hilfe!), hat also ihr Hauptgebiet beim geschichtlichen Reproduzieren. — Vor
Stellungen, Schemata, Lokalisationen bilden die anschaulichen Elemente im Denk¬
prozeß. Ihnen stehen als unanschauliches Element die Gedanken gegenüber. Ihr
Auftreten, ihre Entwicklung und ihre Gestaltung werden beeinflußt von der Auf¬
gabe, vom Willen und vom Gefühl, während sie hinwiederum Vorstellungen und
Schemata in sich aufnehmen. Der unanschauliche Gedanke oder Gedankenkreis
wird durch eine Vorstellung oder ein Schema, ein Wort anschaulich — aber unvoll¬
kommen — repräsentiert. Der ganze Gedanke kann wegen der Enge des Bewußt¬
seins nicht auf einmal erfaßt werden. Aber es gibt auch völlig unanschauliche
Repräsentationen von Gedankenkomplexen — „Gedanken, die als Teil des ge¬
samten Komplexes erscheinen und gleichzeitig Repräsentanten des ganzen Korn-
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Hirt, Psychologie und Psychophysik.
221*
plexes sind“. Solche Gedanken verkünden eine reproduktive Bereitschaft oder
regen einen weiteren Gedankenkreis an. Auch ein „allgemeines, nicht näher ana¬
lysiertes Wissen“ kann dem Denken zugrunde liegen. Diese Formen unanschau¬
licher Repräsentation lassen Klarheits- oder Deutlichkeitsstufen beobachten bzw.
gehen solche Stufen ineinander über, z. B. das „Wissen implicite“ in klares Wissen
der Einzelheiten. Die Gedanken machen eine Entwicklung durch, die im wissen¬
schaftlichen Denken längere Zeit zu erfordern pflegt als im reproduktiven Denken,
das sich auf ein Schon vertrautes Wissensgebiet erstreckt, die aber auch dort plötzlich
zum Auftreten des richtigen Gedankens führen kann (Intuition). Von dieser Ge¬
dankenentwicklung verschieden ist die Anbahnung der Gedanken im Denkprozeß,
z. B. durch die Aufgabe, durch Konstatierung von Beziehungen oder Zusammen¬
hängen, also verhältnismäßig passiv im Vergleich zur mehr aktiven Gedanken¬
entwicklung. Den elementaren Inhalten gegenüber bedeutet das Denken selbst
eine wählende und dirigierende Kraft. Durch sie werden die durch die Aufgabe,
das besondere Wissensgebiet und das bereitliegende Wissen erregten anschaulichen
elementaren Inhalte ausgesucht und in unanschauliche (Gedanken) übergeführt,
Gedanken modifiziert und kombiniert; und das Ergebnis ist nicht nur durch ob¬
jektive, sondern auch durch subjektive Momente (Willensakte, Gefühle, ästhetische
Regungen) bestimmt. Das Gedankliche ist das Wesentliche im Denkprozeß, doch
darf darüber die Bedeutung des Anschaulichen nicht übersehen werden. Hier
gewinnt die Ökonomie des Denkens praktische Bedeutung für die Ökonomie des
Unterrichts und des Lernens Die Erkenntnis der Rolle, die Schemata, Lokalisa¬
tionen und Gedankenkomplexe spielen, zeigt sich in der Erkenntnistheorie.
Schemata (Raumgestalten) und Lokalisation (Zeitgestalten) sind in uns, und
wir „sehen sie in die Dinge hinein 1- .
Geht Rangette auf experimentellem Wege auf eine Analyse der Denkvorgänge
aus, so trägt Grünbaums ( 2, 23) Arbeit über die Funktion des Denkens und des Ge¬
dächtnisses den Charakter einer vorexperimenteilen Orientierung. Die bisherigen
experimentellen Untersuchungen über das Gedächtnis bedienten sich vorwiegend
des Assoziationsschemas und übertrugen seine theoretischen Voraussetzungen aus
dem Gebiete der sinnlosen Silben — auf dem es zuerst von Ebbinghaus angewendet
worden war — ohne weiteres in das Bereich der von Michotle und Banst/ als logisches
Gedächtnis benannten Erscheinungen, indem sie intellektuelle Elemente wie as¬
soziative Zwischenglieder behandelten. Die Resultate werden durch ein solches
Verfahren gewissermaßen antizipiert. Es muß daher eine vorhergehende prin¬
zipielle Klärung der Frage verlangt werden, „inwiefern das Beziehungsbewußtsein
als ein Inhalt aufzufassen ist“, und die Beantwortung dieser Frage erfordert eine
Klarstellung der Formen des Beziehungsbewußtseins und eine Feststellung
über das psychische Wesen des Inhalts. Beziehungserlebnisse kommen in
vierfacher Form vor: 1. als konkrete Stiftung, 2. als kategoriaie Stiftung, 3. als
konkretes Meinen, 4. als kategoriales Meinen. Dabei sollen nicht nur die ent¬
sprechenden Gegenstände, sondern auch die fraglichen Akte selbst „eigentümlich
konkret und kategorial angefüllt“ sein. Die konkrete Stiftung bleibt auf der Stufe
des Ergreifens der Beziehung; Formung und Vergegenständlichung des Beziehungs-
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erlebnisses sind dabei ausgeschlossen. Dadurch, daß neben dem Ergreifen der Be¬
ziehung eine unmittelbare kategoriale Formung stattfindet und eine Vergegen-
ständlichung durch einen ausdrücklich gewollten Akt stattfinden kann, kennzeichnet
sich die kategoriale Stiftung. Beim konkreten Meinen besteht der Beziehungsakt
„letzten Endes in der Vergegenständlichung des Konkreten an dem Meinen“. Das
kategoriale Meinen wird in seinem Aktcharakter durch den schon unabhängigen
und kategorial gefaßten Gegenstand bestimmt. — Das psychische Wesen eines
Inhalts findet Gr. überall dort, „wo ein unmittelbarer Hinweis auf eine Gegen¬
ständlichkeit vorhanden ist, welche von dem Inhalt als solchem verschieden distan¬
ziert werden kann“. Beziehungserlebnisse dürfen deshalb nur in jenen Fällen zu
den Inhalten unseres Bewußtseins gestellt werden, „wo der Gegenstand unmittelbar
durch den Akt konstituiert wird.“ Das trifft insbesondere beim kategorialen Meinen
zu, wo das Beziehungserlebnis „als ein fest umrissener Inhalt, als eine Intention auf
einen bestimmten Gedanken“ erlebt wird. Im konkreten Meinen ist die Beziehung
und die konkrete Bestimmung der Fundamente ein unlösbares Ganzes, also ein
fundierter Inhalt, und erscheint als solcher auch in dom Bewußtseinszusammenhang.
Die kategoriale Stiftung dagegen wird in diesem Zusammenhang als Funktion
erlebt und erscheint nur mittelbar als Inhalt, wenn sich auf ihr eine spezielle Ver¬
gegenständlichung und ein kategoriales Meinen bildet. Die konkrete Stiftung
endlich weist niemals auf einen Gegenstand hin und wird daher niemals Inhalt.
Sie ist nur Tätigkeit. Die Gegenstände, die diese Tätigkeit, in Beziehung setzt,
sind, jeder für sich betrachtet, natürliche Inhalte. Die Tätigkeit selbst kann nur
in der rückschauenden Betrachtung des Erlebten — ,.in Gedanken an die Be¬
ziehung“ — zum Inhalt gemacht werden. Von Klarheitsgraden kann gegenüber
dem Beziehungsbewußtsein nach Gr. überliaupt nicht, gesprochen werden, da seine
Auffassung nicht graduell abgestuft und inhaltlich doch identisch bleiben kann.
Denn jede Veränderung des Beziehungsbewußtseins bringt zugleich eine Änderung
des ganzen momentanen Erlebnisses mit sich. Ganz anders als das Verhältnis der
Beziehungserlebnisse zu den Klarheitsgraden des Bewußtseins ist das zu den von
E. Westphal aufgestellten Bewußtseinsstufen. Sie werden von Gr. gekennzeichnet
als Unterschiede in der Art, wie uns determinierte Erlebnisse gegenwärtig sind.
Demnach ist das schlichte Gegebensein keine Bewußtseinsstufe im Sinne Gr. s, es
steht ja noch außerhalb jeder bewußten Beziehung zur Aufgabe. Auch das potentielle
Wissen, „der inhaltliche Abschluß des Erkenntnisprozesses“, „die eigentliche Existenz¬
weise des Inhalts“ oder, wo das potentielle Wissen unanschaulich bleibt, der Buhler -
sehe Gedanke, ist weit davon entfernt, die Gegebenheitsarteines Inhaltes zu sein
und kann deshalb auch nie t als Bewußtseinsstufe betrachtet werden. Gegebensein
und potentielles Wissen sind vielmehr „Arten der Gegenstandsbildung“, und zwar
ist das Gegebensein das Das, das potentielle Wissen das differenzierte Was des
Inhalts. Die eigentlichen Bewußtseinsstufen dagegen — Bemerken und Kon¬
statieren — sind durch ein immanentes Tätigkeitsbewußtsein ausgezeichnet, das
der Differenzierung des Inhalts durch die Tätigkeit des Ichs entspricht. Bemerken
und Konstatieren heben natürlich das Gegebensein als solches nicht auf, sondern
bedeuten bestimmte Arten des Bezogenseins auf den Inhalt, sind „Stofen der Gegen-
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Hirt, Psychologie und Psychophysik. 223*
Standsformung“ unter dem Gesichtspunkte der Aufgabe. Und zwar entspricht das
Bemerken der inneren Frage im formulierten Denkprozeß, die Konstatierung der
Bejahung. Im Gebiete der Funktionen entspricht nun dem schlichten Gegebensein
die Tatsache des Bewußtseins, daß wir eine Funktion vollzogen haben. Schon
auf dieser ersten Stufe erreicht die Funktion — im Gegensätze zu den Inhalten —
„ihren höchsten W'irklichkeitsakzent“. und zwar, wie Gr. ausdrücklich bemerkt,
nicht durch ein thetisch-anerkennendes Urteil über die Existenz der Funktion,
sondern durch die Evidenz des Erlebnisses. Es ist das ein unmittelbares
Bewußtsein im Vergleich zu dem mittelbaren repräsentativen der Inhalte, das
auf ein präsentatives sich stützt. Funktionsbewußtsein und Inhaltsbewußtsein sind
also essentiell verschieden. Auf das Gegebensein der Funktion folgt die noch
schlichte Differenzierung des Erlebnisses — ungefähr dem potentiellen Wissen
entsprechend —, sodann die Konstatierung, durch die die urteilsmäßige Bestätigung
des differenzierten Erlebnisses erfolgt. Als. Analogon zum Bemerken unter dem
Gesichtspunkte der Aufgabe führt Gr. die Bichtungsorientierung über ein ver¬
gangenes Erlebnis an, das zu wenig differenziert war, als daß man es mit der Stufe
des potentiellen Wissens vergleichen dürfte. Man kann aber nachher ungefähr die
„Richtung des Erlebnisses“ angeben. — Funktionen werden nie zur Vorlage der
Aufgaben gemacht, und darauf beruht nach Gr. letzten Endes die Verschiedenheit
der Inhalte und der Funktionen. Darauf aber, daß in der psychologischen Analyse
der Funktionen von ihnen Analoges verlangt wird, wie von den Inhalten — „daß
sie auf irgendeine "Weise als Vorlage für die analytische Orientierung einer Be¬
schreibung dienen sollen“ —, ist es zurückzuführen, daß trotzdem alle Stufen der
Funktion Analogien der entsprechenden Bewußtseinsstufen der Inhalte sind. Je
mehr ein Beziehungserlebnis sich der inhaltlichen Verselbständigung nähert, vor
allem also die zwei Formen des Meinens. desto klarer weist es Bewußtseinsstufen
auf und umgekehrt.
Noch manche andere experimentelle Arbeit aus dem Berichtsjahre zeitigte
interessante Resultate. M. Antonie Gerrirj (19) faßt die gefundenen Ergebnisse
selbst folgendermaßen zusammen: 1. Die Schätzung von Armbewegungen hängt
nicht unmittelbar von der Zeitauffassung ab. 2. Nicht nur bei kleinen, sondern
auch bei großen Strecken ist der Einfluß der Zeitdauer sehr gering, mit wachsender
Übung nimmt er ab. 3. Bei großen Bewegungen tritt im allgemeinen eine Über¬
schätzung der Strecke auf, die bei stärkerer Muskelkontraktion durchfahren wird.
Nach ungewöhnlich guter Einübung in die Versuche fällt diese Erscheinung weg.
Lmduorsky (43) wies in der geordneten Rede eine Perseverationstendenz der Vokale
nach, die bei der Mehrzahl der Vpn. einen stark betonten Vokal eher wiederkehren
läßt als einen schwach betonten, die Wortzahl beeinflußt und damit zu Vokal-
sperrungen bzw. Vokalhäufungen führt. E. Zimmemiann (73) zeigte, daß jedes
Moment, das die Konturen schärfer, deutlicher hervortreten läßt und den Eindruck
der Körperlichkeit verstärkt, den Tiefeneindruck steigert.
Von philosophischen Arbeiten, soweit solche für den Psychologen von be¬
sonderem Interesse sind, bringt das Jahr 1917 zunächst den Schloß von Karl Groos'
(21) „Untersuchungen Über den Aufbau der Systeme“, und zwar die Erörterung
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224* Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
der monistischen Lösungen. Mit Recht betont der Verf. einleitend, „daß derselbe
Philosoph, der in einer Hinsicht ein Anhänger des Monismus ist, andersartigen
monistischen Tendenzen verneinend, ja feindlich gegenüberstehen kann“, daß also
„mit dem Bekenntnis, „ich bin Monist“, nicht viel gesagt ist“. Groos unterscheidet
zunächst,,antipluralistischen und antidualistischen M.“, je nachdem eine
bloße Vielheit oder eine nach zwei entgegengesetzten Begriffen gesonderte Mehrheit
dem Gedanken der Vereinheitlichung unterworfen wird. Vereinigt sind beide Ziel¬
richtungen z. B. bei Spinoza, der lehrt, daß es nur eine einzige Substanz gebe
und sowohl den Dualismus von Gott und Welt wie auch den von ausgedehnten und
denkenden Substanzen leugnet; bei Parmenides und Schopenhauer überwiegt die
antipluralistische Richtung, während Haeclcel und der Deutsche Monistenbund,
in deren Lehren der Gegensatz „Gott — Welt“ und „Leib — Seele“ im Vordergrund®
steht, in der Hauptsache antidualistisch sind. Der M. kann ferner quantitativer
Art sein, indem er die Prinzipien des Seins der Zahl nach auf ein einziges beschränkt
(Singularismus nach Külpe, Einigkeitslehre nach Eisler) und qualitativ durch die
Lehre, daß das Sein nur von einer Art sei Weiterhin lassen sich ein M. der Sub¬
stanz und ein M. des Geschehens unterscheiden, ein M. des Ursprungs
und ein M. des Endzieles.
Descarks , der an dem Unterschied von Gott und Welt und dem Gegensatz
materieller und spiritueller Substanzen festhält, ist in diesem Sinne Dualist, er ist
aber Monist im Hinblick auf die Weltursache und auf das Ganze des bestehenden
Seins, über dessen Gegensätzen Gott als „höhere Einheit“ steht. Ähnlich
Plotin: Unter der höchsten Einheit der Dualismus des Nus und der von ihm ge¬
dachten Ideen. Ähnlich mch'Leibniz: Gott—Reich der Natur und Reich der Gnade.
*
In der höchsten Einheit (Gott) vermögen alle Gegensätze ineinanderzufallen (co-
incidentia oppositorum), aber stets befinden sich die Gegensätze nach den
entsprechenden Anschauungen hier außerhalb der Einheit, diese steht über den
Gegensätzen. Erst die Zweiseitenlehre löst den Gegensatz, indem sie die
Doppelseitigkeit Eines Wesens diesem immanent sein läßt Dabei können die
beiden Seiten des einen Wesens real oder nur Erscheinungen für uns sein. Ist dieser
Monismus nicht als solcher der Substanz, sondern als einer des Geschehens gedacht,
so wird die Zweiseitenlehre nur Zweireihenlehre. Dabei kann dann entweder
die materielle oder die psychische Seite als das an sich Reale vorgesteüt weiden.
Gegenüber dem pluralistischen Eindruck der unmittelbaren Erfahrung bedarf
das monistische Denken besonderer Motive. Groos erinnert hierbei zunächst an
den Doppelcharakter des Psychischen — „unser Bewußtsein weist ... neben der
wechselnden Mannigfaltigkeit seines Inhalte das Moment der Einheit auf*. „Von
dem allgemeinen Begriff der Bewußtseinseinheit aus** will Groos „die Motive der
monistischen Denkens mehr ins einzelne verfolgen** und erinnert dabei daran:
„Schon der einzelne Begriff hat eine monistische Zielrichtung, indem er eine Viel -
heit von Erscheinungen auf Grund von ähnlichen Zügen in seiner Einheit zusammen -
faßt“, Über- und Unterordnung der Begriffe zielt wiederum auf Einheit, ,,wie daa
Suchen nach einer Spitze der Begriffspyramide zeigt**, das bejahende Urteilen ist
ein „Verbinden und Einheitstiften“, auch das Schließen stiftet Einheiten, „dabei
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Hirt, Psychologie and Psychophysik.
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ist eine allbeherrschende Wahrheit für die Induktion Zielpunkt, für die Deduktion
Ausgangspunkt“. In der Begründung mancher .Systeme zeigt sich insofern ein
Monismus, „als die ganze gedankliche Konstruktion auf einem einzigen Funda
mentalsatz aufgebaut ist“, z. B. bei Reinhold und Fichte. So überzeugend durch
diese Erinnerungen gezeigt wird, „daß die monistische Denkweise dem inneren
Wesen unserer allgemeinsten Erkenntnismittel entgegenkommt“, so muß mau sich
doch fragen, w'as diese Tatsachen mit der Bewußtseinseinheit zu tun haben, von
der aus Groos diese Tatsachen entwickelt zu haben meint. Offenbar handelt es
sich doch bei diesem und bei jenem um ganz Verschiedenes. Letzteres ist eine nicht
weiter erklärbare Erlebnistatsache, erstere sind durch die Tätigkeit des Geistes
gestiftete Einheiten. Und nur sie sind gekennzeichnet durch jenes „Streben nach
Vereinheitlichung der gegebenen Mannigfaltigkeiten“, aus dem auch die monisti¬
schen Anschauungen und Systeme hervorgehen. Zu den genannten Tendenzen
unserer Erkenntnistätigkeit treten sodann weiter, wie Gr. nachdrücklich betont,
die „Bedürfnisse des Gemüts“ als monistische Motive hinzu. „Wendungen wie
„Ein Gott“, „Ein Gesetz“, „Ein Reich des Guten“ usw. „klingen, als ob sie die
Befriedigung“ einer tiefen Sehnsucht mit sich führten“. Gr. hätte hier vielleicht
noch besonders auf den metaphysisch-erkenntnistheoretischen Ausdiuck „Der
All-Eine“ verweisen können. Die „Einheit des Mannigfaltigen“ bildet eine wichtige
Vorbedingung der ästhetischen Befriedigung, und „so wird wohl auch das mo¬
nistisch durchgeführte Weltbild als ein Gebilde . aus einem Guß“ eine dem ästheti¬
schen Genuß“ verwandte Stimmung hervorrufen können“. „Die Einheit besitzt
das Pathos der Ruhe, des Friedens dts Abschlusses“ und erzeugt leicht die Stirn -
mung des Feierlichen und Majestätischen.
Es folgt nun eine kritische Würdigung der verschiedenen monistischen Ge¬
dankengänge, wie sie seit Spinoza in den historischen philosophischen Systemen
zum Ausdruck gekommen sind. Es liegt in der Natur der Aufgabe, die sich Groos
hier stellt, daß seine Ausführungen hierüber in der Hauptsache philosophisches
Interesse haben. An dieser Stelle soll daher nur das für den Psychologen besonders
Wichtige wiedergegeben werden.
Spinozas Lehre ist sowohl ein M. des Seins, als auch ein M. des Geschehens
und trägt an manchen Stellen mehr realistischen, an andern wieder vorwiegend
phänomenalistischen Charakter. Aber die beiden Reihen (Denken und Ausdehnung)
erscheinen in seinem System kaum als völlig gleichwertig, die Ideen sind vielmehr
nur eine passive Begleiterscheinung des physischen Geschehens. „Das Psychische
ist die Spiegelung der modi extensionis im Bewußtsein.“ Diese materialistische
Tendenz Spinozas tritt klar in seiner Stellung gegenüber den Gegensätzen von
Kausalität und Finalität, Determinismus und Indeterminismus hervor.
Wichtiger für die Psychologie ist die parallelistische Denkweise da, wo es
sich, wie bei Mach oder Wundt, um die methodologische Unterscheidung physi¬
kalischer oder psychologischer Forschung handelt.
Babdk (2) diskutiert in seiner zusammenfassenden Arbeit die psycho-
monistische, philosophische Anschauung (Heymans, Strong , Paulsen Fechnet );
hauptsächlich beschäftigt er sich mit der Kritik der gegebenen Erklärung des Zu-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917,
standekommens telephatischer und mediumistischer Erscheinungen, wobei dieselbe
als plausibel und diskutabel, wohl aber weiter Forschung bedürftig erscheinen läßt.
Jar. Sluchiik (Rot-Kostelec).
Mehr unmittelbar psychologisches Interesse bietet Sterns (62) schöne Arbeit
„Die Psychologie und der Personalismus“. Sie geht geradezu darauf aus, darzutun,
daß die wissenschaftliche Psychologie einer philosophischen Weltanschauung, im
besonderen einer] personalistischen Philosophie nicht entbehren könne. Der
Zentralbegriff des Psychischen muß zurücktreten hinter dem Begriff der Per¬
sönlichkeit. Stern führt uns in seiner Arbeit „einen aufsteigenden Weg“ „von der
Mannigfaltigkeit der psychischen Tatbestände zur Einheit der Persönlichkeit“
und stellt dabei „vier psychologische Grundkategorieu: Phänomene, Akte.
Dispositionen, Ich“ auf. „Der Mensch ist unitas multiplex.“ Die Merkmale dieser
Einheit sind physische und psychische. Bisher wurde die Wissenschaft fast aus¬
schließlich vom Gegensatz dos Physischen zum Psychischen beherrscht, Stern
sicht im Verhältnis der unitas multiplex den Schlüssel der Erkenntnis. Es gibt
für dasselbe drei Deutungen: den volkstümlichen Seelenglauben (naiven Personalis¬
mus), die Auffassung, für die das Individuum „physisch eine Summe von Atomen,
psychisch ein Bündel von Vorstellungen ist (Impersonalismus)“, endlich die Lehre,
die im Individuum trotz und über seinen Teilen eine eigenartige und eigenwertige
Einheit sieht (kritischer Personalismus). Diese letzte Auffassung „soll aus den
Ergebnissen, Strebungen und Verlegenheiten der heutigen Psychologie heraus
erarbeitet werden“.
Im Physischen wie im Psychischen führen „ganz analoge Stufenleitern von
den Elementen bis hin zum Individuum“. Dieses ist der notwendige, „über Psyche
und Physis erhäbenc“ Abschluß. Die Beachtung dieser „Viel-Einheit“ muß bei
der neuen Grundlegung der Psychologie von vornherein maßgebend sein; die
Mannigfaltigeit muß durch Einheitsprinzip verstanden, dieses Prinzip als realer
Wirkungsfaktor gegenüber dem Mannigfaltigen dargetan, das Verhältnis der
Vielheit zur Einheit als ein Schichtensystem erkannt werden, in dem „jede Schicht
zugleich eine völlig andersartige logische Kategorie“ bedeutet, und keine Schicht
auf eine andere zurückgeführt, keine auch verselbständigt werden darf.
Die unterste Schicht ist die der „psychischen Phänomene“ oder „Erleb¬
nisse“, um die ich weiß, die also bewußt, und die mir gegeben, also passiv sind.
Beim Studium ihrer Zusammenhänge hat sich die Psychologie zumeist gescheut,
auf die Persönlichkeitseinheit zurückzugehen, sondern versucht, durch Konsta¬
tierung abstrakter Gesetzmäßigkeiten, der Assoziation und Reproduktion, ihrer
Aufgabe gerecht zu werden. Aber sie hat das nicht vermocht, denn sie mußte den
Phänomenen plötzlich Aktivität zusprechen, derzufolge eine Vorstellung eine
andere „nach sich zieht“, „hemmt“, „verstärkt“, ,nachwirkt“ u. dgl. m., sie mußte
zwischen den bewußten Phänomenen hypothetische Brücken schlagen, indem sie
unbewußte seelische Vorgänge annahm, und sie kann nicht leugnen, daß die „Ge¬
gebenheiten“ einen „Jemand“ fordern, dem sie gegeben sind und der durch ein Tun
das Gegebene ergreift. Die Psychologie erst hinter diesem Tun beginnen zu lassen,
geht bei den mannigfachen und unlösbaren Beziehungen dar „Akte“ zu den Phfino-
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Hirt, Psychologie und Psychophysik.
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menen nicht an. So oft ich sage, „ich nehme wahr“, „ich denke“, „ich will“,
„ich dichte“, „ich werte“, hebe ich „eine andere Seite des psychologischen Gesarnt-
best&ndes heraus ..., die bei der bloßen Berücksichtigung der Phänomene
zu kurz kommt (Tätigkeitsbewußtsein, Spannungsempfindungen, Strebebewußt¬
sein usw.) — wiederum Erlebnisse, die zunächst für die Existenz wirklicher Taten
keinen Erkenntniswert haben. Sie bekommen ihn erst dort, „wo der Phänomen¬
psychologe die in den Phänomenen selbst liegenden Probleme nicht mehr lösen
kann, d. h. beim Zusammenhang der Erlebnisse“. Dieser Zusammenhang ist
sinnvoll, steht unter Zwecktendenzen und läßt sich nicht einfach als das Ergebnis
von Assoziationen und Reproduktionen von Erlebnissen, sondern nur durch das
Eingreifen zahlreicher Akte verstehen. Dabei ist festzuhalten, daß Akte und
Phänomene zwei verschiedenen Dimensionen angehören. „Die Phänomene sind
selbst nicht aktiv, die Akte sind nicht selber Bewußtseinsphänomene.“ Wenn
„psychisch“ dasjenige ist, „was durch Selbstwahrnehmung erfaßbar“ ist, so sind
die Akte nur in einem übertragbaren Sinne psychisch; denn sie sind aus ihren Be¬
wußtseinsniederschlägen (Tätigkeitsgefühlen, Spannungsempfindungen usw.) er¬
schlossen. Sie sind „psychophysisch neutrale Merkmale der Person“. Die zeitlich
getrennten Akte gleicher oder ähnlicher Art werden zusammengehalten durch
dauernde Wirkungsmöglichkeiten, die Dispositionen. So spröde sich die
herrschende Psychologie gegen die Anerkennung derselben zeigt, sie arbeitet be¬
ständig mit ihnen, so oft sie in der Lehre vom Gedächtnis, der Übung, in Völker-
und Kinderpsychologie tatsächlich dauernde psychische Beschaffenheiten feststellt
Zu den Phänomenen stehen die Dispositionen nur mittelbar, durch die Akte, in
Beziehung. Noch mehr wie diese sind sie also psychophysisch neutral, und wie
die Akte sind sie selbst nicht bewußt, auch nicht unbewußt im gewöhnlichen
Sinne, sondern „potentiell überbewußt“, in ihrer Einheit und Eigenart bestimmt
„durch die Einheit des personalen Teilzieles“. Zusammengefaßt wird ihre Vielheit
nach oben hin durch die Einheit der individuellen Wirkungsfähigkeit deslchs (Ich-
Disposition): „Das Ich erlebt Phänomene, vielleicht Akte, besitzt Dispositionen“.
Dieses Ich ist keine Bewußtseinstatsache, sondern Sein im Sinne der unitas
multiplex, welche alles Psychische einschließt. Zugleich ist es ein psychisches
Wesen und auch als dies physische Wesen in all seinen physischen Phänomenen,
physischen Akten und Dispositionen als Organismus eine zielstrebende unitas
multiplex. Wie verhalten sich das Ich als Träger der psychischen und der Organis¬
mus als Träger der physischen Zielstrebigkeit zueinander? Unzweifelhaft psychisch
oder physisch fanden wir nur die Phänomene. Als psychophysisch neutral wurden
Akt« und Dispositionen erkannt, ihre Scheidung in psychische oder physische ent¬
springt einer Abstraktion. Das Wesentliche am Ich sowohl wie am Organismus
ist, daß sie eine Vielheit von Erscheinungen zu einer persönlichen Geschlossenheit
zusammenfassen und der eigenen Zielstrebigkeit entsprechend lenken. Ich und
Leib sind damit zusammenzufassen im Begriff „Person“. Das ist „eine solches
Existierendes, das trotz der Vielheit der Teile eine reale eigenartige und eigen¬
wertige Einheit bildet und trotz der Vielheit der Teilfunktionen eine eigenartige
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt“. Sie ist psychophysisch-neutral „... daß
es reale Personen gibt, ist die Grundtatsache der Welt“.
Aus dem Begriff der psychophysisch neutralen Persönlichkeit sind nun „in
absteigender Untersuchung die besonderen Kategorien der Psychologie zu ent¬
wickeln“. Über der Psychologie steht die Lehre von der psychophysisch neutralen
Persönlichkeit mit ihrem System der Zwecke der Selbsterhaltung und Selbst¬
entfaltung (Autotelie) und der aus dem Verhältnis zur Familie, Volk, Menscliheit
und Gott entspringenden (Heterotelie). Für die Psychologie ist aus dieser Per¬
sönlichkeitslehre die Einsicht von Wichtigkeit, daß die entwickelten Persönlich¬
keitszwecke nicht psychische, sondern neutrale, nicht subjektive, sondern objek¬
tive sind, und daß die Bedeutung der Bewußtseinserlebnisse in ihren symbolischen
Beziehungen zu den Zwecken der Persönlichkeit liegt. Der Grad der Bewußtheit
dieser Beziehungen ist verschieden, größer bei der Selbstentfaltung als bei der
Selbsterhaltung, am größten in den abstrakten Idealen. Die Verwirklichung der
Zwecke zeigt uns die Dispositionen als Träger, die Akte als Mittel eines ..Tat¬
systems“. Dabei wirkt nicht nur die Person auf die Welt, sondern diese ist mit¬
bestimmend für das Sein und Tun jener (Konvergenz) und zwischen jedem einzelnen
Weltvorgang und jedem einzelnen Personalvorgang — sowohl der „aktuellen“ =
Aktionen, Reaktionen Handlungen, als auch der „chronischen Konvergenz“ =
Dispositionen — steht bestimmend immer das ganze Zwecksystem der Persönlichkeit.
Alle Tatsachen dieser Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Welt stehen
an sich jenseits der Psychologie, aber jede psychologische Frage muß in die per-
sonalistische Betrachtungsweise eingeordnet werden. Die Maßverhältnisse der
Psychophysik gewinnen dann die Bedeutung von Verhältnissen zwischen Welt
und Person, erhalten eine neue, teleologische Fassung. Das innere Maßsystem der
Person bestimmt die quantitative Bedeutung eines Weltvorgangs, und hieraus ent¬
wickelt sich ein neuer Schwellenbegriff innerhalb eines psychophysisch neutralen
„Projektionsgesetzes“, das an die Stelle des Fechner-W eiberschen Gesetzes tritt.
Das Projektionsgesetz ist nicht nur auf die psychische, sondern ebenso auf die
biologische, kulturelle, soziale und jede andere Zweckbeziehung anwendbar, die
ein Umweltvorgang zur Person haben kann. Es ist aber nicht, wie e6 das F.-W. G.
sein wollte, „der Ausdruck einer überall nachweisbaren empirischen Tatsächlichkeit,
sondern nur ein heuristisches Prinzip der Beurteilung des quantitativen Person-
Welt- Verhältnisses“.
Die Anschauungen Sterns kann gerade der Psychiater nur freudig begrüßen.
Ist doch die Geistesstörung — nach Schule s schon im Jahre 1896 gegebener De¬
finition — eine „Krankheit der Person“, als deren Erscheinungen nicht nur ab¬
normes Denken, Fühlen und Wollen, sondern auch krankhaft veränderte Abläufe,
das sind „psychophysisch neutrale“ Vorgänge, zutage treten und die das Person-
Welt-Verhältnis einschneidend und nachhaltig verändert. Es ist deshalb kein Zufall,
daß M. Reichhardt (52 in seinem Vortrag „Theoretisches über die Psyche“ ähnliche
Grundansichten entwickelt. „Erst der gesamte Organismus einschließlich Hirn und
Psyche bildet eine in sich abgeschlossene funktionelle . . selbständige Einheit.“
Das Reich der Psyche ist abhängig von einer „vorpsychischen Zentralstelle“, die
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Hirt. Psychologie und Psychophysik.
229*
über „unmittelbare, dem Leben selbst innewohnende“ Kräfte, über Aktivität,
Spontaneität und zweckmäßige Selbstdirektion verfügt. Zwischen Psyche und
Zentrum bestehen Wechselwirkungen. „Unmittelbar umlagert wird die Zentral¬
stelle von der individuellen Persönlichkeitsveranlagung.“ Die Psyche ist zwischen
Zentralstelle und Außenwelt eingeschaltet, aber „die gemeinsame Triebkraft ...
ist in der Zentralstelle zu suchen, d. h. in dem unmittelbaren zentralisierten Leben
selbst. Das Reich der Psyche ist nicht Selbstherrscher im Organismus. Sondern
das Leben ist der eigentliche Herrscher“, Mit Recht betont Reichardt . daß die
meisten Geisteskrankheiten keine primären Krankheiten im Reiche der Psyche
sind, sondern nur dorthin ausstrahlen. In all diesen Sätzen ist das, was Stern
ausführt, sozusagen geahnt. Die lokalisatoiischen Anschauungen Reiehardts, so
z. B. die, daß die Zentralstelle der Hirnstamm sei, werden allerdings, ehe sie all
gemein anerkannt werden dürfen, noch eine ernstliche Prüfung zu bestehen haben,
und manche seiner aus den Grundansichten abgeleiteten Sätze, z. B. der: „Je mehr
die Außenwelt Einfluß hat, um so normaler ist der Geisteszustand“, sind sehr an -
fechtbar. Sehen wir doch bei zahlreichen Kranken, daß dieser überwiegende
Einfluß der Außenwelt sie zu keiner genügenden Geschlossenheit kommen läßt,
ihre Persönlichkeit zerreißt und sie zum Spielball der Umstände macht. Doch
sind das Bedenken, die den psychologischen Kern seiner Anschauungen nicht
treffen und deshalb hier nicht weiter verfolgt werden sollen. — Eine verwandte
Grundanschauung kommt in Goldscheiders kleiner Schrift (20) zum Ausdruck.
Auch für ihn ist das Ich oder die Persönlichkeit die Einheit, welche Geist und
Körper gleichmäßig umfaßt, und die wesentliche Eigenschaft dieser Einheit ist
der Willensvorgang.
Im Gegensatz zu den zuletzt referierten Ansichten bleibt das Ergebnis von
R&visz (53)„ Geschichte des Seelenbegriffes und der Seelenlokalisation“ bemüht, für
die Beziehungen der wesenverschiedenen Erscheinungen des Psychischen und des
Physischen den treffenden Ausdruck zu finden, ohne doch entschlossen von der
Grundtatsache der einheitlichen Persönlichkeit auszugehen. Darnach ist die Ge¬
samtheit der innerlichen Tatsachen die Seele. Diese ist weder eine Eigenschaft
der Materie noch selbst eine Substanz, das Gehirn ist die Vorbedingung, aber
nicht der Ort des psychischen Geschehens.
Es ist schließlich noch kurz einiger psychopathologischer Arbeiten zu ge¬
denken, deren psycnologische Bedeutung in so verschiedenen Richtungen liegt,
daß sie an einer früheren Stelle nicht untergebracht werden konnten. Horstmann
findet in seinen Untersuchungen über den Negativismus (32) zunächst einmal
eine ganze Reihe disponierender Momente (unentschiedene Wartungen bei ge¬
schwächter Urteilsfähigkeit, verschiedene Stellungnahme je nach der Stimmung,
Ausgleich und Vereinheitlichung einander widersprechender, entgegengesetzter Be¬
wußtseinsvorgänge, Neigung der Gefühle von einem bestimmten Intensitätsgrade
an umzuschlagen). Diesen mehr passiv wirkenden disponierenden Momenten Wird
als aktiv wirksam der Kontrasthunger gegenübergestellt. Wie andere psycho-
pathologische Erscheinungen hat auch der Negativismus seine Vorstufen im Physio¬
logischen, Normalen. Die krankhaften Grade sind der Ausdruck einer Störung der
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230 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1917.
(psychologischen) Selbstregulierung, einer Störung, die ihren Ursprung haupt¬
sächlich im Affektleben hat.
Kohnstamw (41) beschreibt einen Soldaten, der durch Verschüttung und
CO-Vergiftung bei wohlerhaltener Intelligenz eine schwere Schädigung dss Ge¬
dächtnisses erlitten hatte. „Das Gedächtnis ist wie mit einem Locheisen aus der
Gesamtheit der Geistestätigkeit herausgeschlagen.“ Das spontane Merken war
in höherem Grade beeinträchtigt als das erlernende. Es sind auch Fälle bekannt,
in denen sich diese beiden Arten des Merkens gerade umgekehrt verhalten. Jeden¬
falls dürfen wir in den beiden voneinander verhältnismäßig unabhängigen Sym¬
ptomen „pathologische und auch physio-und psychologische Wesenseinheiten“ sehen.
Endlich sei auf Ohf Klinbergs treffliche „Kritische Reflexionen über die
psychoanalytischen Theorien“ (99) hingewiesen. Freuds Streben, die Ursachen
der einzelnen psychischen Erscheinungen im normalen und die der einzelnen Sym¬
ptome im krankhaft veränderten Seelenleben aufzudecken, wird als eines seiner
größten Verdienste anerkannt. Aber Freud verwechselt dabei bäußg Kausalität
und Finalität. Die Annahme eines unbewußten Ichs und Willens hinter dem be¬
wußten steht damit in Zusammenhang, und da dieses Unbewußte einer weiteren
Annahme zufolge in seiner unverkleideten Art bewußtseinsunfähig sein soll, hat
Freud seine Symbollehre und seine Symboldeutung entwickelt. In der Erfahrung
finden diese Annahmen keine Stütze. Dasselbe gilt von der allbeherrschenden
Rolle, die er der Sexualität zuschreibt, und ebenso von der Einschätzung zahl¬
reicher Erscheinungen des Kindheitslebens als Äußerungen der — als polymorph
pervers bezeichneten — kindlichen Sexualität. Die Mechanismen, die von den
verschiedenen psychischen Instanzen benutzt werden, um die erträgliche seeb'sche
Wirklichkeit zu erzielen'— Zensur, Verdrängung, Abreaktion u. dgl. m. —sind
zum Teil ebenfalls hypothetisch, zum Teil im gesunden Seelenleben ebenso wirksam
wie im neurotischen. Diese Tatsachen sind auch von einzelnen Psychoanalytikern,
z. B. von Bleuler, anerkannt worden. Bleuler hat sich auch mit Energie gegen die
exzeptionelle Bedeutung der sexuellen Traumen ausgesprochen und hat die gleich¬
artige Wertigkeit anderer affektbeladener Komplexe dargetan.
SivchUk (t>3’> versucht in seiner experimentell-psychologischen Mitteilung
zu demonstrieren, daß die Beschäftigung, der Beruf des Menschen in seiner £eele
eine solche physische Konstellation schafft, die durch ihre Affektbeladung sich
von dem seelischen Niveau erhebt, durch die Affektbetonung von andern psychi¬
schen Konstellationen bzw. Elementen unterscheidet. Nicht nur die affektiven
Gründe der Wahl eines Berufes, die Ergebenheit zu demselben oder Unzufrieden¬
heit mit ihm, sondern auch tägliche diesbezügliche Ereignisse dürfen nicht spurlos
in der Psyche vorübergegangen sein, sondern umgekehrt eine ständig existierende
umschriebene, affektbetonte (oder in bezug auf den sonstigen Inhalt der Psyche
aflektverschiedene) Vorstellungsgruppe bilden, die im Sinne des „Komplexes“
zürcherischer Psychiater wirken und infolgedessen sich auch nachweisen lassen
müsse. Die ebenfalls nach den für das Assoziationsexperiment bestimmten Regeln
der zürcherischen Schule zusammengestellten Reaktionsworte wiesen in den meisten
Fällen, soweit sie den Beruf des Untersuchenden betroffen haben, verlängerte Re-
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Hirt, Psychologie und Psycbophysik.
231*
aktionszeiten aal, d. L also präsentierten sich als zu einem ..Komplex“ zugehörig.
In verschwindender Minderzahl der untersuchten Personen konnte auf diese Art
und Weise der „Beschäftigungskomplex“ nicht nachgewiesen werden. Die dadurch
offenkundig zugestandene Gleichgültigkeit zu dem Berufe bestätigt nur die sonst
klar bewiesene obige Behauptung. Unter den Versuchspersonen befanden sich
Lehrer, Ärzte, Studierende, Ingenieure, Kaufleute und Soldaten.
Jar. Stuchlik (Rot-Kostelec).
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«Alphabetisches Inhaltsverzeichnis des Literator-
berichtes.
/
(Die Zahlen mit einem Sternchen (*) bedeuten die Seiten des Literatur¬
berichtes, die Zahlen ohne Stern die Nummern der angeführten Veröffent¬
lichungen.)
1. Sachregister.
Abderhaldensches Dialysier verfahren
96* 22, 23. 97* 61,116, 116. 116* 119.
Abmagerung 60* 166.
Abort, siehe Schwangerschaftsunter-
• brechung.
Abwehrfermente 93* 1. 97* 49.
Adrenalin 42* 71.
Ärztliches Denken 46* 105.
Agglutininbildung 96* 40.
Agrammatismus 63* 213.
Agraphie 143* 132. 164* 272.
Akroasphvxie 150* 226.
Akromegalie 73* 26. 187* 192. 192* 261.
Akustikustumor 146* 167.
Albumin: Globulin 113* 82.
Albuminosen 47* 127.
AJexie 143* 136.
Alkaligehalt des Blutes 98* 66.
Alkoholforschung 89* 26.
Alkoholhalluzinose 89* 30. 90* 40.
Alkoholismus 87* 2. 88* 6, 13, 14, 16,
18. 89* 19, 21. 90* 36, 41, 43.
Alkoholneuritis 88* 5, 10.
Alkoholparanoia 88* 3. 109* 23.
Alkohol und Tuberkulöse 88* 7. 89* 25.
Alltagsleben 41* 53.
Alopecie 41* 60.
Alsterdorfer Anstalten 5*.
Alzheim ersehe Krankheit 110* 43. 137*
56.
Amaurotische Idiotie 74* 34. 75* 43.
47.
Amentia 114* 88. 116* 102.
Amnesie 109* 27. 140* 99. 214* 54.
Amusie 140* 91.
Amyotonia congenita 140* 98.
Anämie 48* 138. 90* 44.
Anarithmetik 140* 90.
Anatomie der Gehirnarterien 134* 17.
Anenzephalie 72* 2.
Angstpsychose 114* 92.
Anstaltsruhr 1* 2 b, 15.
Antialkoholismus 90* 42.
Antitryptischer Index 64* 225. 98* 64.
Aphasie 137* 58, 59, 60. 140* 92, 93,
94. 147* 186. 163* 268, 259.
Arbeitsfähigkeit und Unfallentschädi¬
gung 28* 32.
Arbeitstherapie 194* 289.
Areflexie 153* 262.
Armbewegungen 211* 19.
Arteriosklerose 111* 52. 146* 168.
Assoziationsversuche 216* 67.
Athetose 176* 60. 186* 162, 163. 194*
282. 196* 313.
Aufbau der Systeme 212* 21.
Aufmerksamkeit 211* 17. 215* 65.
Augenzittern 187* 195, 196. 197.
Balkenstich 38* 6, 7.
Bamberg, St. Getreu 7*.
Bangs Methode 94* 5.
Bäränyscher Zeigeversuch 39* 26. 40*
37. 52* 197. 134* 18.
Basedowsche Krankheit 179* 80. 182*
130. 183* 142, 146. 184* 158, 159.
185* 170. 191* 244. 194* 291.
Bayreuth 5*.
Begehrungsvorstellime^n 186* 18. 194*
285.
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Inhaltsverzeichnis.
233*
Begriffsüberschiebungen 211* 12.
Beinfasern in den Pyramidenbahnen
134* 27.
Beobachtungshaus 1* 3.
Bergmannswohl 5*.
Beriberi 88* 17. 89* 28.
Berlin, Stadt. Irrenpflege 5*.
Bernische kantonale Anstalten 5*.
Berufsgeheimnis 28* 31.
Besehäftigungskomplex 215* 62.
Bevormundung 30* 59.
Bewegungstherapie 192* 257.
Bewußtlos Aufgefundene 31* 71.
Bingelli 31* 75.
Biochemie 44* 92. 62* 199.
Blaue Sklerae 53* 209.
Blitzschlag 45* 98. 112* 75.
Blutantitrvpsine 94* 4. 108* 18.
Blutdruck 49* 152. 54* 224. 119* 169.
Blutdrüsenerkrankungen 74* 31. 183*
137.
Blut indi kan 94* 11.
Blut- und Liquordiagnostik 95* 26.
96* 27. 112* 65, 71.
Blutuntersuchung 29* 53. 114* 100.
Bonner Klinik 41* 48.
Botulismus 88* 8. 89* 33. 90* 39.
Brandstifter 31* 81.
Breslau 5*.
Briefe an Angehörige 39J 20.
Brinkgreven 2* 12.
Brocasche Stelle 139* 87.
Bromtherapie 39* 24. 108* 12. 186*
168.
Brucksche Reaktion 94* 6, 7. 10, 13.
95* 19, 20. 97 * 46, 48. 98* 55, 59, 62.
Buchstabenkomplexe 211* 16.
Buchstabieren 212* 34.
Bulbärapoplexie 143* 135.
Bulbusdruckphänomen 115* 111.
Burghölzli 6*.
Carnegie-Institut 88* 6.
Cauda equina 154* 268.
Cery 6*.
Cholesteatom des Hirnanhangs 146*173.
Chorea 14* 125. 111* 63. 115* 104.
144* 151. 174* 18. 180* 106. 186*
180. 191* 242.
Coitus interruptus 182* 127.
Darmkrankheiten 44* 94. 112* 72, 73.
Degeneration der Maculagegend 61*
188. 154* 275.
Degenerationszeichen 44* 89.
Dementia paralvtica 134* 23. 135* 39.
151* 230.
Dementia praecox 107* 9. 109* 21, 22,
24. 29, 30. 110* 46. 111* 67, 69.
112* 67. 114* 99. 116* 127.
Demenz, angeborene und erworbene
108* 10.
Denkprozesse 214* 51. 216* 72.
Depressionszustände 116* 118.
Dercumsche Krankheit 174* 11.
Dermographismus 50* 172.
Diabetes insipidus 173* 6.
Diagnostische und therapeutische Irr-
tümer 47* 130. 114* 96. 136* 37.
186* 182. 195* 2%.
Dienstbeschädigung, D.B.-Frage 25* 9.
29* 47, 48, 56. 31* 70, 83. 110* 48.
114* 97, 98. 118* 158. 178* 66.
Diensttauglichkeit 32* 86, 88. 119* 163.
Dienstverweigerung 26* 17.
Dissimulation 26* 8.
Drama 213* 36.
Durchbrochenes Bewußtsein 48* 142.
Dyspepsie 173* 2.
Dystrophia adiposo-genitalis 73* 12.
75* 45. 176* 41, 47. 191* 260.
192* 262. 195* 303.
Echolalie 41* 55.
Eglfing 6*.
Ehe 25* 3. 38* 5.
Eichberg 6*.
Eifersuchtswahn 115* 107. 146* 172.
Einteilung der Geisteskrankheiten 40*
41.
Elektrodiagnostik und -Therapie 42* 70.
Ellen (Bremen) 6*.
Ellikon 6*.
Empfindungsstörungen 148* 202. 203.
Encephalitis 136* 45, 46. 143* 131.
145* 164. 148* 204. 162* 242. 156*
292, 293.
Endogene Krankheiten und Trauma
44* 97.
Endokrine Drüsen 179* 84. 188* 210.
Entoptische Wahrnehmung 182* 129.
Enuresis nocturna 182* 128.
Eosinphilie 45* 103.
Epilepsie 111* 55. 120* 170. 145* 165.
149* 205. 175* 28, 33. 176* 42, 48.
177* 52, 61. 178* 72. 179* 86, 88.
180* 99. 181* 119. 182* 134. 184*
152. 185* 164. 188* 204. 189* 218.
191* 24fi 247
Erblichkeit 42* 68. 49* 156.
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2S4*
Inhaltsverzeichnis.
Ergogramme 214* 55.
Erkenntniswertung 212* 24.
Ermüdung 50* 168.
Erregungszustände 110* 36. 118* 156.
Ersatzwesen, Militär. Versorgung 37* 3.
Erschöpfung 40* 32. 108* 19. 117*
141. 175* 31.
Ervsipel 117* 137.
Eukodal 49* 155.
Eunuchoidismus 73* 10, 14. 175* 35.
Exogene Reaktionstypen 40* 31.
Extremitätenlähmung 189* 223.
Fahnenfluchtr30* 62. 31* 80. 115*
112 .
Fall Adler 29* 43.
Familienpflege 2* 14. 18.
Familienmord 31* 73. 32* 84, 85.
Faradisation 180* 94.
Farbstoffablagerungen 184* 161.
Fermente der Zerebronalflüssigkeit 95*
21. 96* 42, 43.
Fettsucht 195* 304. 196* 306.
Fliegerangriffe 43* 79. 111* 61, 62.
Flechsig. Paul 48* 149. 51* 179.
Forensisch-psychiatrische Beobachtun¬
gen im Felde 31* 78. 118* 145.
Forschungsanstalt 43* 80. 48* 147.
Forschung und Lehre 46* 122.
Freisteigende Vorstellungen 40* 36.
Freshmen 215* 70.
Freud, Sigmund 214* 56. 215* 69.
Freundschaft und Sexualität 48* 146.
Friedmatt (Basel) 6*.
Friedrich der Große 51* 185.
Fugue 49* 162. 116* 121.
Funktionelle Störungen 113* 85. 176*
40. 182* 126. 186* 184. 196* 310.
310 a.
Furchenbildung 49* 160.
Fußdaumenstreckung 46* 114.
Gabersee 6*.
Gaseinwirkung 188* 213.
Gasödem 133* 4.
Geburt 46* 112. 113* 86.
Gedächtnis 212* 22, 23.
Gehäufte kleine Anfälle 179* 82.
Gehirnarteriosklerose 149* 211.
Gehirn und Rückenmark 53* 208. 133*
16. 150* 229.
Gehirnventrikeleiterung 139* 80.
Geisteskranke, männliche und weibliche
107* 8.
Geisteskrankheiten des Kindesalters 54*
223. 119* 168.
Geraeingefährlichkeit 28* 33.
Gemeinheiten 39* 25.
Genickstarre, epid. 154* 271.
Geophvsische Erscheinungen 41* 45.
43* 73.
Geschlechtskrankheiten 48* 140.
Geschlechtsleben 42* 61. 46* 100. 52*
193.
Geschwisterpsvchosen 50* 175. 116*
129.
Gesetz der abgelaufenen Bahnen 212 * 33.
Gestaltsauffassung 214* 68.
| Giftmord 51* 186.
; Gleichstromwiderstand 40* 35.
I Glioma cerebri 153* 265.
I Globulinfällung 94* 10. 97* 53.
Gordonsehes Phänomen 38* 8.
Grab- und Leichenschändung 28* 42.
29* 50. 113* 80.
Granatexplosion 118* 144. 193* 267.
196* 309. — Fernwirkung 190* 234,
234 a.
Grenzen der Erkenntnis 215* 66.
Größenideen 53* 212.
Großhirnrinde 133* 13.
Gynäkologische Erkrankung 41* 44.
110* 38.
Hämolysinreaktion 93* 3. 96* 27 a.
98* 54. 151* 231.
Haftpflicht 2* 11. 30* 67.
Haftpsychose 28* 41. 112* 76.
Hautaffektionen 39* 17.
Hauterkrankungen, artifizielle 178* 78.
Hautreflexe 174* 21.
Haut, Sinnesorgane usw. 47* 132.
Hemian6sth6sie c6r6brale 133* 6.
Hemichoreatische Rindenreizung 144*
149.
Hemicrania vestibularis 174* 20.
Hemiplegia altcrans sup. 184* 151.
Herborn 6*.
Herisau 6*.
Hermaphrodit ismus 47* 135. 52* 204.
Herzkranke 118* 151.
Herzstillstand 54* 220.
Herzstörungen, nervöse 178* 67, 79.
Hilfsschulkinder 72* 3.
Hinken 177* 53. 186* 186.
Hirnabszeß 146* 169.
Hirnaneurysmenruptur 154* 276.
Hirnerschütterung 63* 211. 195* 295.
Hirnforschung 49* 159. 161* 234.
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Inhaltsverzeichnis.
235*
Hirninvalidenfürsorge 141* 109.
Hirnprolaps 152* 243.
Hirnpunktion 49* 151.
Himrindenkrampf 145* 168. 185* 171.
Himschußverletzte 143* 140. 146* 163.
149* 208. 150* 216. 154* 270.
Hirnsyphilis 30* 60. 153* 252. 156*
282
Hirntumor 132* 1. 139* 89. 140* 101.
144* 150. 149* 206. 150* 223. 162*
260.
Hirn- und Lumbaldruck 40* 38. 134*
24.
Hirnverletzte Krieger 136* 36, 38, 40.
138* 71, 72, 73.
Hirnzystizerken 146* 169.
Hitzeempfindung, paradoxe 143* 133.
Hitzschlag 116* 127.
Höherwertigkeit 48* 143.
Hördt 6*.
Hör- und Sprachstörungen 37* 2. 181*
111. 182* 124, 125.
Homosexualität 25* 1, 7. 28* 35. 29*
46, 57. 49* 164.
Hydrocephalus 73* 16, 22. 133* 7.
137* 61, 62. 144* 141. 166* 291.
193* 271.
Hyperthyreoidismus 174* 22. 175* 30.
195* 299
Hypnose 38* 11. 186* 185. 213* 37.
Hypophysäre Dystrophie 187* 193.
Hypophysenerscheinung, neue 41* 62.
Hypophysentumor 142* 120, 121. 144*
148. 148* 201. 152* 240.
Hypophysis 177* 54.
Hysterie 173* 4, 9. 177* 66. 179* 83,
87, 90. 180* 95. 181* 117. 183*
137 a, 141. 187* 191. 193* 276.
194* 279. 195* 297, 298. 196* 308.
Hysterische Amaurose 196* 301.
Hysterische Paraplegien 146* 175.
Idiosynkrasie 45* 109.
Infantilismus 73* 19. 74* 32.
Infektionskrankheiten 107* 1.
Inhalt der Psychose 49* 150.
Innervationsschock 48* 137. 186* 176.
Inspiration 214* 48.
Insufficientia vertebrae 194* 293.
Institution Schuurman Stekhoven 1* 2 a«
Intelligenzprüfung 49* 158. 73* 17, 25.
74* 35.
Intelligenz, Schädelgröße, Hirngewicht
41* 67.
Internierung in England 26* 13.
Zeitschrift ftlr Psychiatrie. LXXV. Lit.
Difitized by Gougle
Intoxikation 109* 25.
Introvokation 210* 3.
Irrenrecht 27* 28.
Irrenwesen und -Pflege 1* 1. 2* 10,13.
39* 22.
Ischias-Rheumatismus 188* 215.
Jacksonsche Epilepsie 173* 7. 190* 230.
Jenseits der Seele 211* 10.
Jod, Schilddrüse und Arteriosklerose
182* 135.
Jugendgericht 25* 2.
Jugendgesetz, Deutsches 26* 14.
Jugendliche (Kriminalität, Zurech¬
nung) 28* 37. 29* 51. 30* 69.
Jugendpflege 40* 42.
Juvenile Paralyse 72* 4. 74* 28. 133*
14. 134* 21. 141* 108. 143* 129.
Kampfgasvergiftungen 89* 24.
Karzinoraerkrankungen 108* 13.
Katatonie 110* 44. 113* 81.
Kaufbeuren 6*.
Kaufmann-Methode 116* 115. 175* 26.
177 * 57. 183* 147. 188* 205, 214,
194* 287, 292.
Kausales Denken 213* 44.
Kind, das schwer erziehbare 72* 8.
Kindsmord 30* 64.
Kinematograph 212* 27.
Klassifizierung 211* 14.
Klassiker 42* 67.
Kleinhirnagenesie 166* 280.
Kleinhirnbrückenwinkeltumor 143*
138.
Kleinhirnstörungen, angeborene 133*
12 .
Kleinhirnverletzungen 149* 207.
Kleinhirnzysten 136* 42.
Knochen und Nerv 163* 256. 192* 254.
Königsfelden 6*.
Körperliche Erziehung 214* 60.
Kommotionsneurosen und -psychosen
46* 123. 108* 14. 174* 14.
Komplemente 97* 44.
Kompressionsmyelitis 116* 124.
Konstitution 38* 14. 42* 69. 49* 153.
Kontralaterale Behandlung 175* 36.
193* 274.
Kopfschußverletzungen 148* 197. 160*
222. 161* 238. 163* 262.
Kopfverletzungen 147* 192. 162* 241,
246.
Korsakowpsychosen 110* 45.
Korteweg- Statistik 2* 8. ■
q
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
236*
Inhaltsverzeichnis.
Kortikales Sehzentrum 149* 216.
Krampfleiden 176* 49.
Krankheitsanlagen und -Ursachen 38*
12, 13. 46* 116. 47* 129. 114* 95.
Kretinismus 72* 6. 74* 29, 30. 76* 44.
Kreuzburg, O.-Schlesien 6*.
Kriegsbasedow 186* 167. 193* 276.
Kriegsbeobachtungen 47* 128.
Kriegsbeschädigungen des N. S. 48*
146. 140* 96. 180* 96.
Kriegsdienst und Konstitution 29* 64.
Kriegsernährung 39* 21.
Kriegsgefangene 31* 76. 61* 187. 117*
138. 180* 100. 184* 166.
Kriegsherz, nervöses 188* 209.
Kriegshysterie 175* 26. 178* 69, 70,
73, 76. 179* 89. 185* 166. 188*
211. 193* 266, 281.
Kriegsmedizinisches und -psychologi¬
sches 41* 64. 177* 68. 212* 30.
Kriegsneurasthenie 179* 91.
Kriegsneurosen und -psvchosen 26* 2.
26* 11. 38* 4. 43* 74. 44* 86, 90.
46* 121. 107* 3, 4, 7. 108* 16, 17.
• 109* 35. 111* 66, 60. 112* 66, -70.
115* 109. 116* 117. 117* 143. 119*
160. 156* 289. 174* 13, 16. 176*
38. 179* 92. 180* 103, 104,- 107.
181* 109, 110, 115, 120, 121. 182*
122, 123. 183* 139, 140, 148. 184*
164. 186* 166, 172. 186* 177.
188* 202, 212. 189* 2l9, 222, 228.
191* 229, 235, 237, 239, 249. 193*
270, 277. 194* 286, 290. 196* 294.
196* 315.
Kriegsneurologisch-ophthalmologisches
194* 285.
Kriegspsychiatrie 40* 34. 73* 18.
Kriegsschädigungen 49* 157. 62* 194.
Kriegswohlfahrtspflege 177* 66.
Kriegszitterer 174* 12. 176* 51. 177*
65, 62. 180* 97. 186* 187. 188*
201. 193* 278.
Kriminalpsvchologie 27* 23, 26. 29*
52. 30* 66.
Kristallisierende Substanzen in der
Großhirnrinde 136* 62.
Kropfherz 175* 29.
Kümmelsche Krankheit 146* 178.
Kurland 50* 176. 116* 130.
Landrysche Paralyse 140* 103.
Legasthenie, Arithmasthenie 74* 37.
Leitungsaphasien 142* 128. 144* 145.
Lenau und Byron 44* 93.
Difitized
by Google
Lewenberg-Schwerin 6*.
Lindenhaus-Lemgo 6*.
Lingg, Hermann 44* 88.
Liquorbehandlung 166* 287.
Lokalisation im Großhirn 136* 47.
Lues, kongenitale 74* 27, 147* 190.
Luetinreaktion 96* 4L 143* 130.
Lumbalpunktion 48* 148. 164* 294.
166* 294.
Lust und Unlust 210* 6.
Luzern, Hilfsverein 6*.
Lymphozytenemigration 134* 29.
Lymphozytose 118* 164. 194* 280.
Magnus de Kleinsche Reflexe 134* 26.
Makuladegeneration 76* 42.
Malaien 51* 184.
Maloneysche Behandlung 196* 312.
Malum perforans 162* 247.
Mariaberg 7*.
Massenerkrankungen in Regensburg
191* 243.
Mathematik 213* 47.
Melancholie 116* 122.
Mendelsches Gesetz 40* 43.
Meningitis 134* 28. 138* 74 140* 97.
146* 176. 160* 221. 163* 266.
Meningoencephalitis 132* 2.
Menstruation, Gravidität nsw. 47* 126,
126. 114* 94. 117* 136.
Merkblindheit 133* 15.
Merkfähigkeit 113* 83. 143* 137.
Mesniörescher Symptomenkomplex 137*
66 .
Metalues 137* 63.
Mikrophotographie 48* 139. 146* 171.
Milchinjektion 151* 236.
Militär.-Sachverständigentätigkeit 26*
10, 15, 16. 27* 18. 30* 68.
Mißbildungen 42* 64.
Mitbewegungen 46* 113. 183* 143.
Mobilisierungsneurosen und -psychosen
115* 108. 188* 203.
Mongolismus 72* 7.
Moral insanity 100* 41. 118* 163.
Morbillipsvchosen 118* 150.
Morphinismus 87* l. 88* 4
Motilitätsstörungen 161* 239.
Motorische Amnesie 145* 163.
Motorische Paraplegien 145* 160.
Motorisches System, kindliches 139* 86,
Münster 28* 39.
Münsterlingen 7*.
Multipe Sklerose 135* 34. 138* 77.
142* 124 143* 139. 144* 143. 146*
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
237*
164, 166, 167. 146* 177. 147* 180,
181, 182. 149* 209. 161* 236. 162*
244. 164* 267.
Muskelatrophie 133* 8, 10. 163* 260,
261. 166* 286. 196* 301.
Mutismus 177* 60. 186* 178, 179.
Myasthenia gravis pseudoparalytica
173* 10.
Myotonia congenita 140* 96. 146* 170.
160* 219. 162* 261. 180* 106. 186*
183. 194* 288.
Myotonische Dystrophie 137* 66.
Myxödem 73* 11. 74* 36. 133* 3.
173* 3.
Nanosomie 189* 221.
Narkolepsie 174* 19. 189* 216. 192*
266.
Natr. nucleinicum 111* 67. 179* 93.
Negativismus 43* 84. 112* 64. 212*
32. *
Neosalvarsan 138* 76.
Nephritis 60* 166. 61* 189. 116* 126.
117* 139.
Nervenlues 139* 84, 86. 142*117. 147*
189.
Nervenschußschmerz 161* 237. 191*
240.
Neurasthenie 189* 224.
Neurofibromatosis 141* 104. 154* 273.
Neurosen 180* 108. 196* 2% (siehe
auch Kriegsneurosen).
Neurosenfrage 176* 27. 181* 113.
Neurotischer Persönlichkeitstypus 193*
269.
Neustadt (Holstein) 7*.
Niedernhart in Linz 7*.
Nietzsche 213* 46.
Nonne-Apeltsche Reaktion 94* 14.
Nystagmus 192* 266.
A
Objektivierung nervöser Zustände 176*
44.
ödem 176* 46. 184* 163. 192* 260.
Okzipitaltumoren 134* 20.
Onanie 43* 78. 192* 264.
Optikusatrophie 156* 283, 284.
Osteomalazie 46* 116. 47* 124.
Otogene Störungen 63* 206, 206.
Pandysche Reaktion 96* 16.
Paralyse, progressive Paralyse 31* 82.
74* 40. 134* 23. 135* 30. 136* 48,
60, 61. 138* 78. 139* 81, 83, 84.
141* 110. 142* 118, 119. 144* 142.
Difitized by Gougle
146* 162, 161. 147* 187. 148* 194,
196, 196. 160* 226. 161* 232. 162*
246. 156* 285.
Paralysis agitans 107* 2. 173* 5. 196*
307.
Paralytikerfamilien 74* 38. 76* 41.
160* 218.
Paranoia 109* 30, 31, 34.' 111* 51, 63.
113* 84. 116* 124. 118* 148. 119*
164, 166.
Pathologischer Rausch 27* 30. 29* 45.
Pellagra 89* 31. 114* 91.
Pelman 63* 214.
Periodische Lähmung 196* 302.
-Peripheres Nervensystem 147* 183,184,
188, 191. 176* 43. 184* 166.
Personalismus 216* 62.
Petit mal 191* 246.
Phänomenologie 216* 61.
Phantasieprüfung 43* 76. 212* 26.
Physiologische Chemie 37* 1.
Pinealextrakte 43* 83. 180* 102.
Pilzvergiftungen 90* 37.
Politik 42* 68.
Ponstumor 160* 228,
Postapoplektische Bewegungsstörungen
134* 19.
Postparoxysmelle Verwirrtheit 191* 241.
Potenzstörung 39* 29.
Prostitution 44* 95.
Proteinkörpertherapie 146* 166.
Pseudodemenz 111* 60. 178* 73.
Pseudohalluzination 42* 66.
Pseudologia phantastica 26* 4. 107* 5.
112* 70 a. 114* 90.
Pseudoparalyse 89* 32. 164* 278.
Pseudoprophet 116* 103.
Pseudospastische Parese 136* 36. 175*
37.
Pseudotabes traumatica 149* 214.
Psyche 4* 66. 214* 52.
Psychiatrie 45* 99, 110. 60* 164 167.
61* 178. 62* 196.
Psychiatrisches Gutachten im Felde
32* 87.
Psychische Infektion 63* 210. 64* 218.
119* 159.
Psychischer Mißwuchs 73* 19.
Psychischer Monismus 210* 2.
Psychoanalyse 61* 183. 138* 76. 211*
8. 212* 31. 213* 36, 39.
Psychogenie 116* 120. 174* 16. 190*
232. 196* 314. 210* 1.
Psychologie 44* 96. 211* 9, 11, 13, 15,
18. 214* 69.
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
238*
Inhaltsverzeichnis.
Psychomotorische Störungen 186* 220.
Psychoneurosen 43* 77. 192* 265.
Psychopathie 27* 29. 42* 69. 48* 144.
64* 222. 107* 3, 4. 196* 317.
Psychosen des Kindesalters 107* 6.
110* 39.
Psychosen, posteklamptische 116* 126.
Psychosen, postoperative 43* 72. 111*
49, 64. 114* 93.
Psychosexuelle Intuition 60* 173.
Psychotherapie 39* 19. 41* 61. 47*
134. 108* 11.
Puerilismus 181* 118.
Pupillenbahnen 46* 118.
Pupillenreaktion 52* 196. 64* 226.
Pupillenstarre 27* 24. 46* 119. 63*
215.
Querulantenwahn 29* 66. 30* 63. 110*
40. 116* 106, 113. 116* 128. «
Bassenhygiene 42* 63. 43* 81. 49* 161.
60* 174. 61* 177.
Rationelles Handeln des Kindes 215* 64.
Raumsinn, Zeit, Zahlenbegriff 216* 71.
Raynaudsche Krankheit 188* 208.
Rechenkünstlerin 73* 16. 177* 63.
Recklinghausensche Krankheit 163* 263.
155* 288.
Reflexe 39* 27, 28. 38* 9, 10. 40* 30.
136* 43.
Regeneration 163* 263.
Residuen 212* 26.
Retrograde Amnesie 46* 106. 213* 41.
RVO. § 120. 90* 36.
Rheinprovinz, Anstaltsberichte 7*.
Richterliche Ansicht 1* 4.
Rindenblindheit 138* 70.
Rindenepilepsie 142* 127. 196* 300.
Rindenverödung 136* 61.
Riesenzellen in der Hypophyse 153* 264.
Rockwinkel-Bremen 7*.
Roda 4*.
Röntgenuntersuchung 2* 16. 44* 86.
61* 181.
Rothmannsche Narkosenmethode 181*
116.
Rot- und Grünsehen 214* 67.
Rückenmark 142* 123. 147* 185. 164*
277.
Salvarsanbehandlung 151* 233. 154*
274. 155* 281.
Salvarsannatrium 140* 102.
Sarbysol 40* 33.
Schädelasymmetrie 181* 112; -Wachs¬
tum 154* 279.
Schädelverletzungen 136* 33.
Schilddrüse, ödem, Diurese 184* 153.
Schimpanse und Haushuhn 213* 40.
Schizophrenie 108* 16. 110* 37.
Schizothymie 108* 20.
Schläfenlappentumoren 136* 32. 141*
107. 144* 147.
Schlafmittelvergiftungen 88* 15. 89*
22, 34.
Schleswig 7*.
Schreckpsychosen 42* 60. 51* 182.
113* 77, 78. 119* 162.
Schrift 212* 28.
Schüle, Heinrich 47* 133.
Schülerselbstmorde 41* 46.
Schüttelerkrankungen 174* 17.
Schwangerschaftsunterbrechung 40* 40.
61* 180. 62* 198. 64* 221. 109* 32.
113* 87. 117* 133, 134, 136. 118*
149. 119* 166. 190* 233. 196* 311.
Sedobrol 177* 64.
Seele, Seelenbegriff 212* 29. 214* 53.
Seelenblindheit 133* 11.
Seelisches Leid 110* 47.
Sehen 190* 236. 210* 6.
Sehorgan 134* 26. 139* 88. 187* 200.
Sejunktionshysterie 46* 107. 182* 132.
Selbstbeschädigung 62* 191. 117* 140.
Selbstmord 26* 12. 28* 36. 31* 72.
62* 190.
Senile Demenz 118* 155, 143* 137.
Senüität 30* 61. 116* 110. 133* 9.
Sensibilität 137* 66. 138* 67. 138* 69.
143* 134. 152* 248.
Serologie 95* 24, 26. 96* 30.
Serumeiweiß 94* 8. 109* 33.
Serumkrankheit 41* 47.
Sexualpsychoanalyse 60* 170.
Sexualstörungen 148* 193. 184* 149.
Sexuelle Delikte 31* 74. 46* 101.
Simulation 25* 6. 27* 26, 27. 28* 38.
40. 29* 49. 30* 68. 31* 77. 112*
69. 190* 231.
Sinnespsvchologische Untersuchungen
214* 49. '
Sinnestäuschungen 30* 66.
Sinusitis frontalis 160* 227.
Sinusströme 40* 39. 42* 62. 183* 145.
184* 149.
Situationspsychosen 114* 89.
Soziale Fürsorge, Hvgiene 41* 49. 50*
171. 62* 200.
Spastische Spinalanalyse 148* 212.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
239*
Spieratrophie 119* 161.
Spiröchaetenbefunde 14* 111. 141* 113,
114, 115. 148* 199, 200. 153* 266,
Sprachbehandlungsstation Friedrichs¬
berg 195* 305.
Sprachgebrechliche Schäler 72* 6.
Sprachkranke 184* 157. 189* 226, 226.
227.
Sprechstunde, nervenärztliche 118* 147.
Steinmähle 7*.
Stephansfeld 7*.
Sterben, Augenblick des 39* 18.
Sterilisierung 43* 82.
St. Gallen, St. Pirminsberg 7*.
Stimmbildungslehre 185* 174.
Stimm- und Sprachstörungen 173* 8.
176* 45. 179* 81. 182* 136. 191*
251. 194* 284.
Stimulation 210* 7.
Stirnhirnabszeß 146* 174.
Stirnhimschwund 149* 21,0.
Stirnhirntumoren 136* 64.
Stottern 177* 69. 192* 263. 193* 272,
273.
Strafrecht 32* 89.
Strafrechtliche Begutachtung Heeres¬
angehöriger 28* 34.
Strecknitz-Lübeck 7*.
Streptococcemia 182* 131.
Stupor- und Erregungszustände 111*
58.
Subokzipitalstich 133* 6.
Suggestion, -behandlung 39* 15, 16.
175* 34. 178* 71. 187* 188, 189,
190.
Sukzessive Vorstellungen 213* 46.
Sulfosalizylsäure 96* 17. 112* 65. 141*
106.
Sydenhamsche Chorea 116* 123.
Syphilis des Zentralnervensystems 137*
64. 150* 220.
Syringomyelie 144* 146.
Tabakmißbrauch 90* 38. 191* 262.
Tabes 115* 114, 134. 142* 122. 148*
198; und Paraiyse 141* 112. 162*
249.
Taboparalyse 150* 224. 163* 264.
Tannenhof 7*.
Taubheit 119* 167. 180* 98. 188* 206.
192* 258.
Taubstummheit, hysterische 60* 169.
175* 37. 176* 39. 190* 234 a, 234b,
Tetaniepsychosen 110* 42. 174* 23, 24.
Therapie 44* 87. 45* 102.
Thomsensche Krankheit 144* 144. 153*
257.
Thymusdrüse 173* 1. 178* 77. 179*
86 .
Tiefeneindruck 216* 73.
Torday-Wienersche Reaktion 94* 12.
Totenschau, Zürich 1* 6.
Transitivismus 118* 146.
Transkortikale Aphasien 138* 68.
Trauma und Arteriosklerose 136* 53.
Trauma un‘d endogene Geisteskrankh.
112* 74.
Trauma und organische Geisteskrankh.
136* 49.
Traumatische Neurosen 180* 100. 185*
169, 175. 196* 316.
Traumatische Psychosen 114* 101.
140* 100.
Traumbilder 214* 60.
Trinkerfürsorge 88* 9,12. 89* 27. 90*
36.'
Troponeurose 178* 68.
Tuberkulin 64* 219. 119* 163.
Tuberkulose 2* 9. 46* 104. 52* 203.
113* 79. 118* 152.
Turmschädel 75* 46.
Turnen 187* 199.
Typhus 62* 192. 117* 142.
Unfallneurosen 186* 181, 182.
Unfall- und Militärpsychosen 193* 270,
Unstillbares Erbrechen 117* 132. 191*
253.
Unterwärme 47* 136.
Unzulängliche 52* 202.
Valeriusplein 8*.
Vegetativer Tonus und Neurosen 182*
133.
Verblödung, traumatische 155* 290.
Verhältnisblödsinn 44* 91.
Verwahrlosung 27* 19, 20, 21, 22. 42*
65. 73* 20, 21.
Vestibularapparat 139* 79.
Völkerpsychologie 43* 76. 46* 120.
63* 216. 216* 68.
Vokale 213* 43.
Vorbeireden 188* 217.
Vorgefühl 45* 108.
Vorgeschichte 47* 131.
Wachsuggestion 187* 194, 198. 191*
248.
Wachstumsstörungen 50* 163. 73* 24»
Waldhaus (Chur) 8*.
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Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
240*
Inhalts Verzeichnis.
Wahnbildung 63* 207. 118* 167.
Wahrnehmungsprozefl 210* 4.
Wassermann-Reaktion 93* 2. 94* 9,16.
96* 28, 28 a, 29. 97* 46,47,60. 98*
56, 67, 68, 60, 61.137* 67. 142* 126.
Wehnen 8*.
Weichbrodtsche Reaktion 96* 18. 98*
63.
Weilmünster 8*.
Wernigerode-Hasserode 8*.
Westfalen, Anstaltsbericht 8*.
Willem-Arntzhöve 2* 7.
Willensvorgang 211* 20.
Wilsonsche Krankheit 136* 44. 193*
268.
Wü (St. Gallen) 8*.
Wortblindheit 39* 23. 73* 13, 23.
Zeitsinn 213* 38.
Zenuwziekten 183* 144.
Zirbelforschung 180* 101.
Zivildienstpflicht 2* 17. 52* 201.
Zürich 8*.
Zwangsneurosen, -Vorstellungen 48*
141. 115* 106. 184* 160.
Zweck- und Abwehrneurosen 176* 32.
Zwergwuchs 72* 1.
Zwischenhirn und Stoffwechsel 46* 117.
Zystizerkose 136* 41. 146* 213.
Abderhalden 37* 93*.
Adam 37*.
Adler, Alfred 26*.
Adler, Leo 173*.
Ahlswede 132*..
Albrecht 37*.
Albu 173*.
Alexander, A. 133* 173*.
Alexander, G. 132*.
Allers 107*.
Alter 6* 21.
Andernach 173*.
Anders 133*.
Andree 107* 173*.
Andr6-Thomas et Ceiller
133*.
Anton 26* 38* 107*.
Anton und Schmieden
133*.
Antoni 133*.
Arnemann 1*.
Aschaffenburg 26* 107*.
Aschner 173*.
Auerbach 38*.
Baade 210*.
Baake und Vofl 133*.
Babäk 210*.
Babinski 38*.
Babinski et Froment 38*.
Bäumler 38*.
Baginski 107*.
Balassa 173*.
Baller 26* 107*.
Barth 173*.
2 . Autorenregister.
Bauer, Joachim 173*.
Bauer, Julius 38* 72*.
133* 173*.
Baxter, Jamada and
Washbum 210*.
Beck 39*.
Becker (Herborn) 39*
107* 108*.
Behm 133*.
Behr 174*.
Benning 7* 28.
Berger 210*.
Berkhan 39*.
Bemoulli 39* 108*.
Best 133*.
Beyer (Roderbirken)
174*.
Beyerman 133*.
Biach 174*.
Biberfeld 87*.
Rielschowsky 133*.
Biliki 108*.
Billström 133*.
Bing, Robert 133*.
Binswanger, L. 10* 174*.
Binswanger, O. und
Schaxel 134*.
Birnbaum, K. 26* 108*
174*.
Blank 93*.
Blencke 174*.
Bleuler 6* 7. 39* 108*.
Bloch 72*.
Blohmke und Reichmann
134*.
. Blume 108*.
Boas, Kurt 26* 174*.
Boas und Neve 98*.
Bock 40*.
Boecker 72*.
Boehme 39*.
Boenheim 26? 39* 174*.
Boettiger 134* 174*.
du Bo iS- Raymond 134*.
Bolten (Haag) 94* 108*
134* 174*.
Bonhoeffer 26* 40* 87*
108* 176*.
Bonhoeffer, Gaupp ti. a.
26*.
Borberg 94*.
Bornemann 40*.
Bornstein 108*.
Boström 26* 40*.
Bott 7* 33.
Bouman 8* 38. 134*.
Bouten 134*.
Boven 109*.
van Braam-Houckgeest
88* 109* 134*.
Brandenburg 40* 88*.
Breslau 134*.
Bresler 40* 109* 175*.
Briand 109*.
Brodsky 109*.
Brouwer 134*.
Bruck 94*.
Brückner 134*.
Brümmer 8* 40.
de Bruin 72*.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
241*
de Brun 109*.
Brunner 40*.
Brnnzema 88*.
Btising 135*.
Bumke 109*.
Bungart 40*-136*.
Bunnemann 175*.
Burkarth 7* 23.
Burnhara 210*.
Busch 109*.
Buschan 175*.
Carol 211*.
Carrie 72*.
Cassel 72*.
Cemy 72*.
Christen 40*.
Chvostek 176*.
Cimbal 175*.
Clark 176*.
v. Cölln 136*.
Coenen 72*.
Cohen 176*.
Cohn, Toby 40* 109*.
Colmers 136*.
Cornils 73* 176*.
Cowlcs 211*.
Cox 1*.
de Crinis 94* 109*.
Curschraann 136* 176*
176*.
Dabeistein 7* 26.
Dedichen 40*.
Dees 6* 13.
Dehio 1*.
Delbrück 6* 11 a.
Denis 88*.
Depenthal 136*.
Dessoir 211*.
Dieckert 136*.
Dietrich 1*.
Doernberger 40*.
Doessecker 73*.
Donath 176*.
Dorendorff 88*.
Dräsecke und Ilar.ns
135*.
Drccki 109*.
Dresel 40* 88*
Drossaers 136*.
Dub 176*.
Dück 135*.
DüU 135*.
Düring 136*.
Dumesnil 109*.
Dumolard, Rebierre et
Quellien 136*.
Duprö et Grimbert 110*.
v. Dziembowski 73*
136* 176*.
v. Economo 136*.
Edel u. Pietrowsky 94*.
Edinger 136* 176*.
Eichhorst 88*.
Elmiger 110*.
Enge 41* 110* 136*.
Engel, Adolf 110*.
Engel, Hermann 26*.
Engelen 176*.
Engelhardt 176*.
Engelmann 110*.
Engler 73*.
Eppinger 176*.
Erismann 210*.
Erlich 73*.
van Erp Taalm&n Kyp
110 *.
Ettinger 136*.
Eulenburg 41* 88*.
Evans and Thorne 136*.
Ewald 41*.
Fankhauser 136*.
Fehlinger 26*.
Feldkeller 211*.
Feldkirchner 176*.
Felisch 26*.
Fernberger 211*.
Finklenburg 41* 136*.
Finsterer 176*.
Fischer, Alfons 41*.
Fischer, Gerh. Fr. A.
136*.
Fischer, Siegfried 110*.
Fischl 41*.
Fisher, Sara 211*.
Flaig 88*.
Flatau 41* 176*.
Flath 176*.
Fleischer 137*.
Flesch 177*.
Fließ 41* 177*.
Forel 88*.
Förster 1* 177*.
Fretz 110* 137*.
Freud 41*.
Freudenberg 137* 177*.
Frey 110*. ~
Friedländer 41* 177*.
Frigerio 110*.
Fröbes 211*.
Frölich 6* 18.
Fröschels 41* 137* 177*.
Frus 88*.
Fuchs, A. 110* 137* 177*.
Fuchs, W. 41* 42*.
.Fümrohr 177*,
Gärtner 94*.
Ganter 73* 177*.
Gaumnitz 73*.
Gaupp 26* 42* 110* 177*
178*.
Gehrcke 211*.
Geigel 178*.
Gennerich 137*.
George 211*.
Gerhardt 73*.
Gerson 42*.
Giese 211*.
Gildemeister 42*.
Göbell und Rünge 178*.
Goedde 88*.
Goerrig 211*.
Goldmann 137*. '
Goldscheider 137* 138*
211 *.
Goldstein, Kurt 27* 138*
178*.
Goldstein, Manfred 178*.
Good 73*.
Gordon 42*.
Graf 178*.
Graudenz 42*.
Gregor 27* 42* 73*.
Gregory 88*.
de Gtoot 88*.
Groß 212*.
Großebrockhoff 111*
178*.
Grünbaum 42* 178* 212*J
Gruhle 27*.
Gudden 42*.
Gütermann 138*.
Gummich 110* 178*.
Gutsch 111*.
Gutstein 110*.
Gutzeit 178*.
Haas 94*i
v. Haberer 178*.
Haberkant 6* 16.
Habermann 178*:
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
242*
Haeberlin 7* 34.
Haecker 42*.
Haering jun. 212*.
Hahn (Breslan) 6* 6.
Hahn, Friedr. 111* 138*.
Hahn, R. 27*.
Haike 139*.
Halbey 94* 178*.
Graf HaUer 73* 139*.
Hammar 179*.
Hammer 42*.
Hampe imd Muck 179*.
Hanhart 1*.
Hansen (Ettelbrück)
179*.
Hansen (Kiel) 88* 89*.
Harbers 179*.
Hart 179*.
Haäkovec 42*.
van Hasselt 139*.
Haßfeldt 139*.
Haßleben 27*.
Hatiegen 42*.
Hauptmann 94* 139*
179*
Hautsch 43* 111*.
Heidsieck 179*.
Heilig 111* 139* 179*.
Heine 73*.
Heinze 179*.
Heller 94*.
Hellpach 43* 179*.
Hellwig 212*.
Helm 139*.
Henkel 1*.
Henneberg 27* 43* 111*
139*.
Henning 212*.
Hens 43* 212*.
Henschel 27*.
Henschen 139*.
Herfort 73*.
Herman 111* 139* 179*.
Hermkes 27*.
Herrenschneider 96*.
Herschmann 27* 180*.
Hertz 212*.
Herzig 111* 180*.
Hesse 89*.
Heuer 73*.
Heveroch 140*.
Heymann 140*.
Hezel, Marburg, Vogt,
Weygandt 140* 180*.
Higier 73* 140*.
Hinrichsen 43* 111* 140*.
Inhaltsverzeichnis.
Hirschfeld, Magnus 43*.
Hirschfeld 180*.
Hirt 212*.
Hoche 28* 43* 111*.
Hochheim 180*.
Hock 6* 2.
Hoeflmayr 43*.
Hörmann 180*.
v. Hoffmann 43*.
Hoffmann, Erich 140*.
Hofius 89*.
Hofstätter 43* 140* 180*.
Holmgreen 141*.
Hoppe 212*.
van der Hoop 212*.
Horn, P. 28* 180*.
Hornbostel 111* 180*.
Horstmann 28* 43* 112* -
212*.
Hovorka 212*.
Howell, Hopson and
Washburn 212*.
Hudowernig 96* 112*
141*.
v. Hueber 89*.
Hübner, A. H. 28* 44*
74* 112* 141* 181*.
Huet 213*.
Hummel 28*.
Hunstein 141*.
Hupe 96*.
Hurst 180*.
Hussels 74* 141*.
Imboden 181*.
Isserlin 44* 112* 141*
181*.
Jacobsohn 28*.
Jahnel 141* 142*.
Jamarillo 181*.
Jansen 44*.
Jansky 28* 112*.
Jeliffe 44* 89* 213*.
Jellinek 181*.
Jendrassik 142* 181*.
Jentsch 44*.
Jörger 8* 39. 44* 112*,
Jolly 181*.
Jolovvicz 181*.
Joseph und Mann 181*.
Juchtschenko 44*.
Kämmerer 96*.
Kaeß 181*.
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Kafka 96* 96* 112* 142*
181*.
Kahler 142*.
Kalmus 181*.
Kampschulte 28*.
Kanngießer 44*.
Kaplan 213*.
Karczak 142*.
Karl 142*.
Kprlbaum 44* 112*.
Karpas 44*.
Kaspar and Cannadev
142*.
Kastan 142*.
Kaufmann 181* 182*.
KaUkeleit 142*.
Kaup 96* 142*.
Kehrer 182*.
Keller 6* 16.
Kellner 5* 1. 74*.
Kemnitz 44* 182*.
Kesseler 44* 112*.
Kettelhoit 46* 112*.
Kinberg 46*.
Kirchberg 96*.
Kirchhoff 7^ 30.
Kürschner 142*.
Kisch 46* 182*.
Kißmeyer 96*.
Kläsi 46* 182*.
Klefberg 28*.
Klein 28* 112*.
Kleist 113* 142*.
Klessens 143*.
Klien 182* 213*.
Klinberg 213*.
Klinkert 46*.
Klose 182*.
Knack 89*.
Knopf 46* 113* 182*.
Koch 46*.
Kodbudzinski 28* 113*.
Köchlin 89*.
Köhler, F. 29*.
Koehler, Wolfgang 213%
König 29* 96* 143%
Kohnstamm 46* 182*
213*.
Kollarits 46*.
van der Kolk 2*.
Kopcynski 143*.
Korczynski 182*.
Kouwenaar 182*.
Kraepelin 46*.
Kraepelin und Weiler
113%
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
243*
Kramer 143*.
.Kramer and Henneberg
143*.
Kraus 182*.
Kraus und Rosenbusch
74*.
Krause 113*.
Kretscnmann 182*.
Kretschmer 74* 183*.
Krieger 113* 143*.
Krisch 183*.
Krueger 113*.
Krukenberg 89*.
Kümmel 113*.
Kuenen 89*.
Köttner 143*.
Kuhn 89*.
Kuhn und Steiner 143*.
Kuiper 183*.
Kukula 143*.
Kulcke 183*.
Kummer 183*.
Kwoczek 46* 113*.
Lackmer 46* 183*.
Landau 46*.
Lang 144*.
Langelaan 46* 183*.
Lantzius-Benninga 8* 41.
Laqueur 183*.
Laubmeister 46*.
Lautier 144*.
Leidler 144*.
Leja 113*. .
Lensberg 114*.
Lenz 183*.
Leschke und Pincussohn
96*.
Leschke und Schneider
46*.
Levy, Robert 183*.
Lewandowskv 144* 183*
184*.
Lewin, James 114*.
Lewin, Kurt 213*.
Lewinsohn 46*.
Lewy, E. 184*.
Licen 184*.
Lichtwitz 184*.
Liebenthal 114*.
Liebermeister 184*.
Liebermeister und Siege¬
rist 184*.
Liebers 184*.
Liebmann 184*.
Liek 184*.
Lindblom 184*.
Lindig 96*.
Lindner 2*.
Lindworski 213*.
Linke 6* 19.
Linne 89*.
Löhlein 213*.
Löw 2*.
Löwenfeld 46* 184*.
Löwy 46*.
'Lohmann 144*.
Lohmeyer 144*.
Lommel 74*.
Lorenz 89* 114*.
Lorenzen 29*.
Lottmann 144*.
Loy 114*.
Lubarsch 46* 184*.
Lux 144*.
Maas 144* 185*.
Mac Curdy 185*.
Mc. Gregor 47*.
Maeltzer 145*.
Mahaim 6* 8.
Mairet et Durand 46*.
Mandelbaum 97*.
Mann, L. 186*.
Mann, Max 145*.
Marburg 145*.
Marcuse, Ludwig 213*.
Marcuse, Max 29* 185*.
Marek 47*.
Markwaiden 185*.
Martinek 185*.
Maschmeyer 145*.
Maßmann 89*.
Matthaei 114*.
Mayer, A. 47* 114*.
Mayer, Wilh. 145*.
Melchior 185*.
Mandel 47* 145* 185*.
Merkel 47*.
Mezger 29* 114*.
Meyer (Königsberg) 29*
47* 114* 145*.
Meyer, Max 185*.
Mever, Walter 29*.
Meyers, F. C. 185*.
Michelititsch 145*.
Mignot 145*.
Möbius 185*.
Moeli 47*.
Möller 114* 185*.
Mörchen 48* 186*.
Mohr 47*.
Möller 47*.
Morse, St. 97*.
Morse, Mary.E. 145*.
Mott 146*.
Much 146*.
Müller, Elsbeth 115*.
Müller, Gustav 145*.
Müller, 0. 29*.
Müller, Rainer 47*.
Müller, Rudolf 97* 145*.
Müller, Walter 213*.
Müller, G. J. B. 213*.
von Muralt 116*.
Muskens 146*.
Nachmannsohn 214*.
Naef 115* 186*.
Naegeli 48* 146* 186*.
Nasher 146*.
Nathan 97*.
Nauwerk 146*.
Naville 74*.
Nebendahl 29* 115*.
van Neergard 48* 146*.
Nelson 48* 115*.
Neisser 48*.
Neu 186*.
Neukirchner 74*.
Neumann 29*.
Neutra 186*.
Niederländer 116* 146*.
Niedermayer 146*.
Niehörster 146*.
Nießl von Mayendorf
146 * 186 *
Nonne 146*’ 187*.
Nonnenbruch 89*.
Numa Praetorius 29*.
Oberndorf 187*.
Oeconomakis 187*.
Oehme 187*.
Oehmen 187*.
Ohm 187*.
Ollendorf 2* 187*.
Oloff 147* 187*.
Olshausen 2*.
Oppenheim, G. 188*.
Oppenheim, Herrn. 30*
48* 89* 147* 188*.
Overbek und Buitendijk
115* 188*.
Papirnik 30*.
Pappenheim 188*.
Paschen 188*.
Peretti 48* 115*.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXV. Lit.
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r
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
244*
Inhaltsverzeichnis.
Peritz 147*
Perko 48*
Pernet 147*«
Perthes 147*.
Pese 30* 147*.
Petz 147*.
Pfaundler 147*.
Pfeiffer 147*.
Pfersdorf 147*.
Pflug 188*.
Pick, A. 148* 188*.
Pick, J. 188*.
Pickler, 214*.
Pierre-Marie, Chatelin et
Pätrikios 148*.
Pieszcek 30* 116*.
Pilcz 116* 148*.
Pitres et Marchand 148*.
Placzek 48*.
Plaut 48*.
Plehn 188*.
Pöhlmann 97*.
Pönitz 30* 116*.
Pötzl 214*.
Poppelreuter 148*.
Popper 48*. •
Pnbram 188*.
Prinzing 6* 17.
Pr omers 188*.
Pryll 30* 116*.
Puppe 30*.
Quensel 6* 3. 48* 188*.
von Rad 116* 148*.
Raecke 30* 49* 148*
188*.
Raether 116* 188*.
Raimann 30*.
Rangette 214*.
Ranschburg 74*.
Ransohoff 7* 36.
Ranzi 148*.
Rautenberg 97* 116*.
Redlich 148* 149* 189*.
Redlich und Karplus
189*.
Reichardt 214*.
Reichel 30*.
Reichmann 149*.
Reinhardt 49*.
Reiß, E. 49*.
Reiß, H. 189*.
Repkewitz 30*.
Reuter 116*.
R4v4cz 214*.
Rhein 30*.
Ribbert 49*.
Richter, A. 189*.
Richter, Hugo 149*.
Riebold 149*
Rieder und Leeser 189*.
Rietschel 149*.
Robert 90*.
Roels 116*.
Römer 149*.
Römheld 149*.
Rönne 149*.
Röper 150*.
Rößle 189*.
v. Rohden 74* 150*.
Rohleder 49*.
Rohrer 160*.
Rorschach 214*.
Rosen 160*.
Rosenfeld 31* 160* 189*.
Rosenhagen and Bentley
160*.
Rosenthal 160*.
• Roter 189*.
Rothe 189*.
Rothenhäusler 31*.
Rothfeld 160* 189* 190*.
Rothschild 49*.
Rubensohn 160*.
Rubenson 190*.
Rudberg 160*.
Rülf 160*.
le Rütte 2*.
Ruhemann 31* 190*.
Runge 97* 116* 190*.
Rust 6* 20.
Ruttmann 49*.
Sachs, EL 190*.
Sachs, H. 97*.
Saenger 160*.
Sakobielski 161*.
Salus 98* 151*.
v. Sarbö 49* 190*.
Sauer 190*.
Sauerbrey 49* 74*.
Schacher! 161*.
Schüfer (Roda) 7* 29.
Schaffer 49*.
Schaffer und Richter
161*.
Schallmeyer 49*.
van der Scheer 31*.
Scheffer (Ermelo) 49*.
Scheffer, C. W. 116*.
Schellmann 90*.
Schelminsky 190*.
van Schelven 190*.
Scherber 161*.
Schiller 8* 44*.
Schiötz 60* 190*.
Schlayer 190*.
Schlesinger 161*.
Schlief 116*.
Schlößmann 161* 191*.
Schlomer 60*.
Schlüter 191*.
Schmidt 60*.
Schmidt-Schwarzenberg
116* 191*.
Schmitz 98*.
Schneemann 161*.
Schneider, Fritz 116*.
Schneider, J. Rudolf 164*.
Schnopfhagen 7* 26.
Schnyder 90*.
Schöppler 191*.
Schragenheim 191*.
Schreat 162*.
Schröder (Greifswald)
60* 162* 191*.
Schröder, Hans 116*.
Schrottenbach 162*.
Schüller 191*.
Schürer v. Waldheim 90*.
Schürmeyer 162*.
Schütz 191*.
Schütz und Wittmann
214*.
Schultz, J. H. S. 50*
162* 214*.
Schultz-Hencke 162*.
Schultze (Bonn) 162*.
Schultze (Göttingen)
116*.
Schultze, F. E. Otto 50*.
Schulz 214*.
Schulze 60*.
Schuster 162*.
Schuurmans-Stekhoveo
2* 60*.
Schwartz 60*.
Sebald 74* 151*.
Seelert 76* 116* 152*
191*.
Seeliger 31*.
Seifert 214*.
Seiffert 191*.
Semerau und Noack 90*.
Senf 60*.
Severin 162*.
Siebelt 191*.
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Inhaltsverzeichnis.
245*
Sichert (Libau) 2* 50*
98* 116* 163*.
Siebert, Fr. 60*.
Sieglbauer 163*.
Siemens 51*.
Siemerling 51* 117* 191*.
Sighart 2* 51*.
Simmonds 152*.
Simons 163* 192*.
Simons und Merkel 153*.
Singer 153* 192*.
Sittig 153*.
Siwinski 51* 117*.
Snell, R. 6* 14.
Snoek-Henkemans 51*.
Soesman 192* 214*.
Sokolow 153*.
Sokolowsky 61*.
Sommer 51* 192* 214*.
Sommerfeldt 153*.
Sonntag 98*.
Souques 153*.
Spangenberg 117*.
Specht 90*.
von Speyr 31*.
Spielmeyer 163*.
Spinner 51*.
Spliedt 31* 61* 117*.
Spranger 192*.
Stargardt 51* 76* 154*.
Stark 61* 117*.
Steckelberg 31*.
Stehr 192*.
Steiger 192*.
Stein, Fr. W. 153*.
Stein, Leopold 192*.
Stein, Werner 163*.
Steiner 163*.
Steiner und Kuhn 154*.
Steinigeweg 62* 117*.
Steinmann 215*.
Stekel 192*.
Stelzner 117*.
Stephan 154*.
Stern, C. 164*.
Stern, Erich 154* 192*.
Stern, W. 215*.
Sttrz 52* 117*.
Steyerthal 193*.
Stiefller 31* 117* 118*
193*.
Stier 154* 193*.
Stockleb 154*.
Storch 193*.
Stilling 98*.
Sträußler 193*.
Strafella 31* 62*.
Stransky 118*.
Straßer 193*.
Strümpell 62*.
Stuchlik 52* 193* 216*.
Stühmer 164*.
Stümpke 98*.
Stulz 193*.
Stuurmans 118*.
Suchy 52*.
Sust 193*.
Szasz und Podmanizky
s 52* 118*.
Szörody 118*.
Sztanojewit8 164*.
Szymanski 216*.
Tallquist 90*.
Tausk 31*.
Taussig 62* 164*. .
Teleky 52*.
Thiessen 118*.
Thoma 154*.
Thomalla 2* 62*.
Tiling 193*.
Tintemann 52* 165*.
Tischy 62* 118*.
Tobias 193*.
Többen 31* 196*.
van der Torren 118* 194*.
Travaglino 118*.
Traut 118* 194*.
Treupel 166*.
Trier 90*.
Trinchese 98*.
Trömner 194*.
Trotsenburg 2*.
Trüb 216*.
Trümbach 52*.
Uhthoff 166* 194*.
Ulrich 8* 46. 194*.
Urbantschitsch 53* 118*.
van Valkenburg 63* 118*.
Viegener 31**
Vilfiger 53*.
Vocke 6* 9.
Voorhoeve 63*.
Voß 194* 216*.
Yossius 166*.
Wachsmuth 6* 10.
Waehsner 194*.
Wälle und Hotz 194*.
Walke 194*.
Wagner (Gießen) 31*
118*.
Wagner, A. 194*.
Wagner v. Jauregg 194*.
Warmbt 156*.
Wassermann 98*.
Wattenberg 7* 36.
Weber, L. W. 32* 53*
156* 194* 196*.
Wedekind 63* 119*.
Weichbrodt 63* 90* 98*
195*.
Weichsel 119*‘
Weiß und Sittig 53*.
Werther 165*.
Wertheimer 195*.
Wertheim-Salomonson
119* 165*.
Westphal 53* 76* 156*
195*.
Wetzel 119*.
Wexburg 166* 196*.
Weygandt 32* 53* 76*
119* 195* 196* 216*.
White and Washburn
216*.
Wickel 119*.
Wideroe 64*.
Wiersma 64*.
Wiesenack 64* 119*.
v. Wiesner 166*.
Wigert 119*.
Wilde 196*.
Williamson 196*.
Willige 166*.
Wilmanns 196*.
Winderstein 64*.
Winkler 76* 216*.
Winter 196*.
van Woerkom 216*.
Wohlwill 196*.
Wolf, H. F. 196*.
Wolff (Friedmatt) 6* 12.
Wolff, Gustav 216*.
Wollenberg 64* 119*
196*.
Zadek 90*.
Zappe 70* 31.
Zeehandelaer 119*. •
Zeller 32*.
Ziehen 54* 119*.
Zimmermann 54* 98*
119* 216*.
Ziveri 120*.
Zsaskö 64*,
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bis 1799. Band III: Register der Bände I/Il. 8°. 3 Bände. Geh.8oMk.
In den stattlichen drei Händen liegt ein Werk vor uns, auf das stolz zu sein die deutsche
Psychiatrie ei.i Anrecht hat. Ihr Nestor hat am Abende seines Lehens den Mut gehabt,
ein solches Werk zu unternehmen, und das Glück, es zu vollenden, und was das be¬
sagen will, erhellt daraus, daß nicht weniger als 16396 Schriften von 8565 Autoren an¬
geführt sind, und hei 2778 eine Angabe des Inhaks beigefügl ist. Das Ziel, das ihm
vorgesebwebt, eine quellenmäßige Geschichte der Psychiatrie der früheren ahrhunderte
zu schreiben, bat er zwar nicht erreicht, wohl aber hat er die Bausteine zu diesem
Riesenwerke herbeigetragen und damit jedem späteren Forscher seine Aufgabe wesent¬
lich leichter gemacht. Laehr wählte in seiner Arbeit den chronologischen Weg, um
den jeweiligen Kulturzustand in einer gewissen Reihenfolge zur Kenntnis zu bringen
und eile Möglichkeit eigener Ergänzung zu erleichtern. Die Ausstattung der drei Bände
ist eine vorzügliche und, nach Art der englischen, über das bei uns Gewohnte
hinausgehende. Zeitschrift für Psychologie
HANS LAEHR, Die Heilung des Orest in Goethes Iphigenie
8°. Geheftet 2 Mark
Wer ein viclhetrctencs Gebiet von neuem durchforscht, hat nur dann ein Anrecht auf An¬
erkennung seiner Forschungen, wenn er neue Wege bahnt lind neue Ziele steckt Dies ist
Laehr in seiner Auffassung der Heilung Orests in glänzender Weise gelungen. Er schildert
die Entsühnung des Orest von seinen Gebrechen durch reine Menschlichkeit und stützt
sich allenthalben auf den Goetheschen Text. Mag auch Laehr in seiner Verteidigung des
Dichters und seines Mottos: »Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit«
an einzelnen Stellen wohl etwas zu weit gegangen sein, so bietet doch die Arbeit in ihrer
Gegensätzlichkeit zu den schon vorhandenen Studien viel Interessantes und kann des¬
halb wärmstens empfohlen werden. Beilage zur Allgemeinen Zeitung
MAX LAEHR, Die nervösen Krankheitserscheinungen der
Lepra mit besonderer Berücksichtigung ihrer Differential¬
diagnose nach eigenen auf einer Studienreise in Sarajewo
und Konstantinopel gesammelten Erfahrungen.
Mit 4 Lichtdrucktafeln und 1 Abbildung im Text. Gr. 8°. Geh. 4 Mark
Tn dieser Arbeit sind nicht nur die in der Literatur iniigetcilten Beobachtungen auf
das eingehendste berücksichtigt, sondern es hat auch der Verfasser selbst auf einer
Studienreise durch die Balkanhalbinsel eine große Zahl Lepröser in derselben gründ¬
lichen und exakten Weise untersucht, w T ie wir dies von den früheren Arbeiten dieses
Autors gewohnt sind. Daß durch diese genauen und mühevollen Untersuchungen
jetzt viel diskutierte Fragen ihrer Lösung erheblich näher gebracht wurden, ist ein
großes Verdienst des bekannten Autors. In dem Schlußkapitel ist die praktisch so un-
gemein wichtige Differentialdiagnose zwischen Lepra und Syringomyelie und der Poly¬
neuritis syphilitica ausführlich erörtert, ;nd »ind die in Betracht kommenden Momente
sehr übersichtlich angeordnet. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis ist der sehr
le senswerten Arbeit beigegeben. Zentralbl. f. d. Grenzgebiete d. Medizin u. Chirurgie
K. PANDY, Die Irrenfürsorge in Europa. Eine vergleichende
Studie. Deutsche Ausgabe durchgesehen von Dr. H. ENGELKEN JUN.
Mit 50 Abbildungen im Text. Gr. 8°. Geheftet 12 Mark
Die Ausführungen zeichnen sich durch eine frische Lebhaftigkeit aus, die doch an
keiner Stelle die Objektivität des Beobachters beeinträchtigt hat. Die einzelnen Ab¬
schnitte enthalten Übersichten über die geschichtliche Entwicklung des Irrenwesens in
den einzelnen Ländern, die durch ihre Nebeneinanderstellung lehrreich wirken, anderer¬
seits aber auch erkennen lassen, daß noch in keinem Lande die Fürsorge für die
Geisteskranken zu einem vorbildlichen Abschluß gekommen ist, sondern daß sowohl
ira Anstaltswesen wie auch in der Gesetzgebung hier noch alles in der Entwicklung
begriffen ist. Ein besonderer Vorzug des Buches liegt darin, daß der Verfasser sich
von jeder Schönfärberei fernhält. Zeitschrift für soziale Medizin
Zu obigen Preisen tritt vom Verleger ein Teuerungszuschlag von 75 %
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